Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme [2. ed.] 9783110438918, 9783110429893, 9783110429954


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German Pages 2255 [2279] Year 2017

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Alphabetisches Verzeichnis der Einträge
Einleitung zur 1. Auflage
Einleitung zur 2. Auflage
Biographien
Forschungskonzepte
Institutionen
Organisationen
Zeitschriften
Personenregiste
Sachregister
Abkürzungsverzeichnis
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Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme [2. ed.]
 9783110438918, 9783110429893, 9783110429954

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Handbuch der völkischen Wissenschaften

Handbuch der völkischen Wissenschaften 

Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme Herausgegeben von Michael Fahlbusch, Ingo Haar und Alexander Pinwinkler Unter Mitarbeit von David Hamann 2., grundlegend erweiterte und überarbeitete Auflage

Teilband 1

ISBN 978-3-11-043891-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042989-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042995-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Umschlagabbildung: bogdandreava / iStock / Getty Images Pus ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

_____________________________________________________________________Vorwort  V

Vorwort „Aber bis ans Ende der Zeiten werden wir, die wir euch nicht gleichen, Zeugnis abzulegen haben, damit der Mensch über seine schlimmsten Irrtümer hinweg seine Rechtfertigung und seinen Adel der Unschuld erlangt.“ Albert Camus, Brief an einen Deutschen Juli 1944 [in: Fragen der Zeit, Hamburg 2013] „…if the barbaric manner with which the Germans conducted their military operations shocks us today, later generations will marvel even more at how their race theory led them astray!“ Henri Pirenne, 11.11.1919

Seit mehreren Jahren unterliegen Archivalien der NS-Zeit und selbst des Bundesnachrichtendienstes der frühen Nachkriegszeit nicht mehr den strengen Regulierungen, wie sie noch vor zehn Jahren gegolten hatten. Die Archive stehen der Erforschung der noch vor dreißig Jahren als ‚dunkle Zeit‘ bezeichneten Diktatur des Nationalsozialismus – meistens uneingeschränkt – offen. Dies erscheint uns Herausgebern Grund genug, um den aktuellen Forschungsstand über die völkischen Wissenschaften zur Diskussion zu stellen. Das Buch stellt neben den Handbüchern zur völkischen Bewegung (Uwe Puschner) und dem Handbuch des Antisemitismus (Wolfgang Benz) einen weiteren gewichtigen Beitrag in der Forschung und Lehre dar. Initialisiert durch eine kleine kritische Minderheit, die die Sektion auf dem Leipziger Historikertag 1994 und dann mit großer öffentlicher Wirkung am Frankfurter Historikertag 1998 präsentierte, entwickelte sich die Thematik auch dank des damals noch neuen Mediums Internet zu einer breiten, internationalen Debatte über die Einbindung der Wissenschaften in die Machtsphäre sowie deren Ressourcenaustausch mit dem NS-Regime. Schwerpunktmäßig versuchte das Handbuch der völkischen Wissenschaften Band 1 die gesellschaftlichen Übergangsphasen vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, respektive zur NS-Zeit und zur bundesdeutschen Nachkriegszeit ebenfalls in den Fokus zu nehmen. Angeregt durch die damaligen Auseinandersetzungen und teilweise herben Kritiken an den neuen Forschungsergebnissen entstand 2014 bei den damaligen Herausgebern die Notwendigkeit, den Forschungsstand zum Thema völkischer Wissenschaften in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts interdisziplinär zu validieren, in Form eines Handbuchs zu bündeln und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.1 Anfangs waren es „nur“ 85 WissenschaftlerInnen, nun sind es inzwischen 170 (wir verzichten in den Beiträgen auf die geschlechtsneutrale Bezeichnung), die an diesem Handbuchprojekt mitgearbeitet haben. Das Handbuch dient dem Zweck, den neuen Forschungsstand der letzten Jahre zusammenzufassen und die schon existierenden Lemmata zu aktualisieren. Dies ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass die einschlägigen Rezensenten eingefordert hatten, weitere Disziplinen

https://doi.org/10.1515/9783110429893-202

VI  Vorwort

und Themengebiete zu erschließen. Es liegt auch an der gewachsenen Anzahl der MitautorInnen in diesem international rasch expandierenden Forschungsfeld. Indessen gibt es ebenso viele Auffassungen zu der Frage, was eine auf dem neuesten methodischen Stand befindliche Wissenschaftsgeschichte oder „völkische“ und NSForschung ist, wie Personen, die dazu forschen. Allein die 170 beteiligten AutorInnen zusammenzuführen, zu koordinieren und produktiv in das Projekt einzubinden, war eine editorisch zu lösende Herausforderung; eine ungleich größere war die, einen für alle tragfähigen Ansatz zu finden. Hier leistete auch das Redaktionstool ScholarOne gute Dienste. Es wurde bisher überwiegend in naturwissenschaftlichen Projekten zur Bearbeitung und Verwaltung von Texten eingesetzt. Uns half es, die redaktionellen Abläufe zu vereinfachen und das rasche Erscheinen dieser nun um einen weiteren Band ergänzten und zweiten überarbeiteten Auflage zu gewährleisten. Einigkeit bestand Anfang 2000 darin, die Frage nach der Verflechtung und Ressourcenbildung von Wissenschaft und Politik im Nationalsozialismus nicht nur auf die Zeit von 1933 bis 1945 zu begrenzen. Von Interesse waren dabei die langfristig wirksamen Milieubindungen völkischer Wissenschaftler im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, bevor sie im NS-Regime Erfolg hatten, und die Aufstiegs- und Niedergangsgeschichten ihrer Forschungsprogramme über die Systemgrenzen von 1933 und 1945 hinweg. Neben den vier sozialmoralischen Leitmilieus, dem katholischen, dem protestantisch-konservativen, dem protestantisch-liberalen und dem sozialdemokratischen Milieu2 gab es auch noch das völkische Milieu. Die völkische Bewegung war mit ihren Verästelungen in akademischen Vereinen, in Männerbünden, in Freikorps und in der Jugendbewegung, aber auch in der deutsch-nationalen Expertise im Zuge der Abwehrkämpfe gegen die Versailler Nachkriegsordnung als eine die Parteien übergreifende Bewegung historisch wirksam.3 Das Völkische wurde nach 1945 im Zuge der Westbindung und der Demokratisierung der Bundesrepublik sowie durch die Sowjetisierung der DDR kulturell marginalisiert und als politische Strömung letztlich bedeutungslos, was in den vergangenen Jahren nicht verhinderte, dass das Völkische in Form der „Identitären“ und anderer rechtsextremer Populisten wieder fröhliche Urständ feierte, und zwar in weiten Teilen Europas. Zu Recht hatte Paul Weindling in der Einleitung zum ersten Band 2008 darauf hingewiesen, dass es in der Nachkriegszeit zu einer aus heutiger Sicht fatalen Marginalisierung der Völkischen in der Wissenschaftsgeschichte und im gesellschaftlichen vergangenheitspolitischen Diskurs gekommen sei, obwohl gerade sie selbst einen wesentlichen Beitrag als Totengräber der Weimarer Republik und zur Stützung des NS-Regimes geleistet hatten.4 Alles „Bürgerliche“ der Bundesrepublik Deutschland auf liberale oder nationalliberale Traditionen zurückzuführen, dagegen die nationalistischen Verengungen und antisemitischen Dispositionen, die Kriegsbegeisterung im 19. Jahrhundert auszuklammern, war Teil der jungen bundesdeutschen Vergangenheitspolitik. Dabei warnten bereits vor 200 Jahren kritische Stimmen wie →Saul Ascher oder Sigmund Zimmern vor den Auswirkungen völkischen Gedanken-

Vorwort  VII

guts, mit solchen Paradigmen würde „in die Masse des Volks brennende[r] Zündstoff“ geworfen, was mit den Hep-Hep-Unruhen sich wenig später bewahrheiten sollte. 1890 betonte Richard Pischel im Übergang vom liberalen Kapitalismus zu Protektionismus und Imperialismus im Wilhelminischen Kaiserreich, als das völkische Denken virulent wurde: „In den Händen des Laien wird es ohne Zweifel viel Unheil anrichten.“5 Die sukzessive tiefere Erkenntnis um die völkische Bewegung, die völkische Wissenschaft und die autoritären, antisemitischen sowie imperialen Ordnungsvorstellungen in Deutschland zwischen 1890 und 1945 zog in den letzten fünfzehn Jahren einen Perspektivwechsel der Forschung nach sich. Völkische Ansätze waren nach 1945 nicht einfach ad acta gelegt worden. Das Phänomen der Ungleichzeitigkeit des Verharrens im Alten bei parallelem gesellschaftlichem Fortschritt war zu erklären. Trotz des demokratischen Wandels der westdeutschen Gesellschaft blieben die emigrierten deutschen Sozialwissenschaftler nach 1945 dem Wiederaufbau weitgehend fern oder kehrten erst nach der Restaurationsphase in die Bundesrepublik zurück. In den späten 1950er-Jahren war die Entnazifizierung der Hochschulen als Teilbereich des öffentlichen Dienstes unter dem Gesichtspunkt der „Mitläuferfabrik“ abgeschlossen, „deren Hauptzweck es nach dem unausgesprochenen Einverständnis der sogenannten ‚Betroffenen‘ und der Mehrzahl ihrer Richter war, jene unter Verabfolgung einer symbolischen Sühne zu rehabilitieren, um ihnen eine möglichst bruchlose Fortsetzung ihrer Beamtenkarriere zu ermöglichen.“6 Erst in den sechziger und siebziger Jahren wurden das Pluralismusdefizit und die Theorie- und damit auch die Methodenarmut vor allem in der deutschen Geschichtswissenschaft durch die Angleichung an internationale Wissenschaftsstandards aufgeholt. Die Aufarbeitung der Involvierung der Nachkriegseliten in den Nationalsozialismus war bis dahin ein Tabu in der Tätergesellschaft und ist teilweise noch bis in die jüngste Vergangenheit nicht unbedingt karrierefördernd. Schüler und akademische Väter einigten sich im Verlauf der Jahre auf die Devise, das Narrativ der demokratischen Integration der „braunen Eliten“ in die Bundesrepublik gegenüber den Belastungen durch NS-Seilschaften hervorzuheben. Die Erforschung der Verbrechensgeschichte im NS-Regime und seiner Eliten blieb, wie Nicolas Berg nachwies, der „jüdischen“ Forschung überlassen, und diese galt der deutschen Zeitgeschichte über lange Jahre hinweg als „unseriös“, weil sie NS-Täter, die in der Bundesrepublik Karriere gemacht hatten, beim Namen nannte.7 Diese Sichtweise findet ihre Entsprechung in folgenden Thesen: Erstens sei „ordentliches“ Verwaltungshandeln im NS-Regime unmöglich gewesen, zweitens war der Holocaust nicht das Ergebnis einer arbeitsteiligen Genozidpolitik deutscher Verwaltungseliten, sondern das Resultat von „kumulativen Radikalisierungen“ und anonymen Strukturen, und drittens sei das NS-Regime durch seine „polykratische“ Zerklüftung ohnehin nicht zu zweckrationalem Handeln befähigt gewesen, weshalb es auch der Akademiker nicht bedurfte. Allein dieses Thesenbündel ließ die Frage nach Namen und arbeitsteiligen Verwaltungsstrukturen obsolet erscheinen. Die apologetische Sichtweise sah trotz gegenteiliger

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Erkenntnisse erneut seit den achtziger Jahren über die Einbindung von Akademikern in die Verbrechensgeschichte des Dritten Reiches hinweg. Darüber hinaus wurde das NS-Regime, wie es Ernst Nolte und seine Schüler immer noch explizit oder implizit ausführten, mit dem Verweis geadelt, Hitler habe nur auf die „asiatische Gefahr“ reagiert, als er den Krieg im Osten eröffnete. Dass es sich hierbei um einen Angriffs- und Vernichtungskrieg handelte, worauf Gerhard L. Weinberg – vermittelt durch →Hans Rothfels – bereits 1953 in einer Debatte mit Hans-Günther Seraphim hingewiesen hat,8 wird mit dem Hinweis auf die Verführung der Eliten und der Ausnutzung ihres Patriotismus durch Hitler inzwischen wieder relativiert. Mit dem nun vorliegenden, überarbeiteten und im Umfang stark erweiterten Handbuch haben wir nicht nur die notwendigen und von unseren Kritikern eingeforderten Desiderata insbesondere bei den Forschungskonzepten und Biographien ergänzt, sondern wir suchten den Ausblick einerseits weiter auf die Nachkriegszeit der Bundesrepublik Deutschland auszudehnen. Andererseits sahen wir die Notwendigkeit, auf die Ursprünge des völkischen Gedankenguts bei den „Germanomanen“ zu verweisen, um das Desiderat des 19. Jahrhunderts zu ergänzen. Hier tragen wir insbesondere der Forschungsgruppe um Uwe Puschner Rechnung, die sich auf die völkische Bewegung und ihre Akteure konzentrierte. Jedoch sind die Paradigmen und Diskursmuster, Stereotypen und Forschungskonzepte deutlich früher zu verorten. Um 1800 entsteht der Korpus von ethnopolitischen Paradigmen und Stereotypen, die mit →Johann Gottfried Herder und Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann (1753–1804) in den 1780er Jahren über die imaginierte deutsche Ethnizität begonnen hatten. Sie liefern schließlich in der politischen Romantik mit den „Germanomanen“ – wie der Zeitgenosse →Saul Ascher kritisch Fichte und dessen Weggefährten bezeichnete – die Grundlage für nationalistische (Wieder-)Geburtsphantasien. Es handelt sich hierbei um einen Ethos, der typisch für diese Art von völkischem Nationalismus war. Propagiert wurde die „Restauration einer ‚organischen Nation‘ und ihre Homogenität und Verwurzelung“.9 Hierfür stehen unter anderem neue biographische Beiträge wie der über Saul Ascher, der der Antagonist von →Ernst Moritz Arndt, →Hartwig Hundt-Radowsky, →Johann Gottlieb Fichte und →Jakob Friedrich Fries war. Ferner haben wir einen Beitrag über die Ostforscherin →Hildegard Schaeder aufgenommen, aber aus einem anderen Grund. Ascher wie Schaeder sind signifikant für eine Gedächtniskultur der Marginalisierung, beide erlitten einen Rubrikentod. Saul Aschers Büchern, vor 200 Jahren auf dem Wartburgfest völkisch-nationalistischer Burschenschafter verbrannt, durch sogenannte „Germanomanen“, wird hier Rechnung getragen. Durch die gesellschaftlichen Veränderungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und die politischen Versuche, ihre soziale und religiöse Gleichberechtigung zu erlangen, veränderte sich die Position der Juden. Sie konnten teilweise ihre bisherige Randexistenz verlassen, freilich zum Preis eines massiven Aufschwungs des →Antisemitismus. Die Aufklärungsphilosophie forderte zwar auch die Judenemanzipation ein, welche die Rechtsgleichheit durch Assimilation als Ziel hatte.10 Dennoch ging

Vorwort  IX

die Verbesserung der jüdischen Lebensumstände mit einer zunehmenden Judenfeindlichkeit einher. Das Programm der Assimilation der Juden enthielt als Januskopf ihre Marginalisierung als soziokulturelle Gruppe. Johann Gottlieb Fichte veröffentlichte in dieser Zeit seine ersten anonymen Streitschriften, die sich gezielt gegen die jüdische Bevölkerung richteten. „[…] die ‚teutsche Nation‘ musste von allem „Welschen“ und Ausländischen gesäubert werden. Als vordringlich galt das Vorhaben einer rigorosen ‚Sprachreinigung‘, die den öffentlichen und den privaten Raum gleichermassen erfassen sollte.“11 Die Französische Revolution wurde zwar anfänglich von vielen deutschen Denkern begrüßt, sie wandten sich jedoch bald vom republikanischen Modell ab und bildeten im Umfeld der Patrioten Johann Gottlieb Fichte und Ernst Moritz Arndt, Joseph Görres und Friedrich Ludwig Jahn einen Volks- und Nationsbegriff als Alternative zum französischen Volksbegriff. Auf Sprache und Ethnizität abgestellt, verschob sich die Bezeichnung vom gemeinen Landvolk, dem Pöbel, zum Untertanenvolk, welche durch urtümliche Bilder deutscher und nichtdeutscher Stereotypen in den Selbstbegründungsdiskurs der Nationsgründungen des 19. Jahrhunderts mündete. Bezüglich der Überlegenheitsmerkmale der imaginären ‚ursprünglichen‘ Deutschen, ihrer (Rasse-)Reinheit und absoluten Eigenständigkeit, der preußischen Sekundärtugenden, die mit Xenophobie vermischt waren, nannte Fichte bereits 1811 als Abgrenzung zum „Fremden“: „‚Deutsch‘ heißt schon der Wortbedeutung nach ‚völkisch‘, als ein ursprüngliches und selbstständiges, nicht als zu einem Andern gehöriges, und Nachbild eines Andern.“ „Wahre Undeutschheit und Ausländerei, welche auszurotten gerade der Hauptzweck einer Verbindung“ sei, so Fichte weiter, war seine Empfehlung für Studentenverbindungen, in denen er den ritterlichen Hort allen Deutschseins zu finden glaubte.12 Während der antinapoleonischen Kriege, die im angeführten Fichte-Text als „Befreiungs- und Vernichtungskrieg“ bezeichnet wurden (Fichte S. 149), entstand im Adel und im aufstrebenden Bürgertum in Deutschland jener latente Nationalchauvinismus und Antisemitismus, die von Ascher desavouierte „Germanomanie“, die in der neuen Verortung „Deutschlands“ zwischen Frankreich und Großbritannien einen eigenen Sonderweg kreierte. Vor allem in den Jahren nach den Kriegen richtete sich der Ausgrenzungsdiskurs gegen die Juden, welche als innere Feinde bezichtigt wurden, um von den ambitionierten säkularen christlichen Revolten gegen die Obrigkeit abzulenken. Der Nationalchauvinismus und der Antisemitismus waren seit ihrer Entstehungszeit eng miteinander verknüpft, zumal sie ein Freund/ Feind-Schema enthielten, welches jederzeit zur Abgrenzung gegen äußere und innere fremde Mächte stimuliert werden konnte. Der alte Antijudaismus mutierte durch das neue deutsch-nationale Denken zu einem stringenten Antisemitismus bei Hartwig Hundt-Radowsky. Uns scheint es gerechtfertigt zu sein, die „Germanomanen“ als die völkischen Ziehväter zu bezeichnen, zumal sie in der Weimarer Zeit nicht nur medial, sondern auch von Volksforschern wie →Paul Wentzcke und →Karl Alexander von Müller erinnert worden waren.13

X  Vorwort

Ascher gehört in den Kanon, wenn wir uns mit dem Thema Völkische Wissenschaften befassen, genauso wie die Ostforscherin Hildegard Schaeder, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die „Reihe der Gerechten“ in Jerusalem aufgenommen worden ist. Einzigartig in der deutschen Historiographie und ausgeblendet ihr Wirken als Unterstützerin und Fluchthelferin von Juden im Dritten Reich, wurde ihr erst 2007 ein Werk gewidmet, deren Autorin Schaeder im Rahmen einer Untersuchung der Lebensläufe und Karrieren von Osteuropahistorikerinnen würdigte, nachdem bereits Michael Burleigh und Gabriele Camphausen Ende der 1980er Jahre auf Schaeders Schicksal aufmerksam gemacht hatten, ohne dass dies irgendein Echo in der eigenen Disziplin während zwanzig Jahren ausgelöst hätte.14 Dass auch Schaeder – neben Hans Rosenberg und anderen – keine akademische Karriere in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft machen konnte, steht symptomatisch für die Ausgrenzung von kritischen Kräften einerseits, andererseits für die feudalen und inzestuösen Strukturen und Netzwerkbildungen allgemein in der deutschen Wissenschaft dieser Nachkriegsepoche. Stattdessen hat sich die deutsche Historiographie an ihren zweifelhaften Vätern und Großvätern der sogenannten Sozialgeschichte abgearbeitet. Dass aber auch hier trotz erfolgter Beschäftigung noch einiges mehr herauszuholen ist, zeigt das neu aufgenommene Lemma →Otto Brunner. Es verdeutlicht einmal mehr die Fragwürdigkeit dieser disziplinären Ikonographie um die anderen Biographien von →Werner Conze und →Theodor Schieder. Zur Hypertrophierung völkisch-nationaler Ressentiments und Vergemeinschaftungsformen eines →Houston Stewart Chamberlain und →Julius Langbehn trugen schließlich Heinrich von Treitschke im Berliner Antisemitismusstreit 1879 ebenso bei wie Ferdinand Tönnies’ soziologisches Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft.15 Gegen diese Trivialisierung verwahrte sich nicht zuletzt Theodor Mommsen. Max Weber argumentierte, nachdem er 1899 aus dem →Alldeutschen Verband ausgetreten war, auf dem 1. Soziologentag 1910 gegen simplifizierende Typologien wie Rasse und tribalistische Erkenntnisobjekte.16 Er arbeitete zudem in seinem Grundlagenwerk Wirtschaft und Gesellschaft, welches im Hauptbestand vor 1914 entstand, unter anderem die Idealtypen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung heraus. Er verwahrte sich schließlich bis an sein Lebensende gegen ethnisch-nationale Kollektivbegriffe als objektive Wahrheiten.17 Noch auf dem 7. Deutschen Soziologentag 1930 in Berlin bestanden gegenüber den Ausführungen der völkischen Wissenschaftsvertreter →Hermann Aubin, Willy Hellpach und →Josef Nadler kritische Vorbehalte im Wissenschaftsfeld der Soziologie durch Friedrich Hertz und Werner Sombart.18 Die Geschichte der intellektuellen völkischen Denkweisen und Diskursmuster, sprich Wissenschaftsgeschichte, ist kein typisch deutsches Phänomen, sondern allen Gewaltgesellschaften inhärent. Aus der Sicht der Psychohistorie und Psychoanalyse werden interessante Fragen zur Traumatisierung der Folgegenerationen der Täter und zu deren Versuchen der Aufarbeitung gestellt. Dieses Handbuch will hierzu

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einen – wenn auch kleinen – Beitrag zur „→Transitional Justice“ leisten, das wir als eigenes Lemma aufgenommen haben.19 Das Handbuch rückt das Mitwirken von Wissenschaftlern in Politikfeldern in den Vordergrund, wo staatliche Akteure in Arbeitsteilung mit Sozial- und Kulturwissenschaftlern den Interventionsstaat nutzten, um aktiv Gesellschaftspolitik zu betreiben. Zentral verbinden wir die Wortfeldanalyse als Geschichte von Paradigmen mit sozial-, struktur- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen. Auf diese Weise werden die mitunter sehr fremd wirkenden Termini „völkischer“ Wissenschaftler verständlicher erklärt. So entstanden durch →Karl Christian von Loesch im Jahre 1925 die Begriffe „→Umvolkung“ und von →Karl Haushofer „völkische Flurbereinigung“. Eingeführt wurden sie im völkisch-nationalistischen Vokabular der deutschen Schutzvereine in deutschen Grenzgebieten und ethnisch gemischten Gebieten der Habsburgermonarchie. Termini wie „völkische Dekompostierung“, „Umvolkung“, „Durchschleusung“ oder „Siebung“ lassen sich auf diese Weise – zumindest in funktionaler Hinsicht, nicht inhaltlich – in Verbindung mit den heute noch gebräuchlichen Kategorien wie „Assimilation“ und „sozialem Aufstieg“ setzen. Michel Foucault begründete den Begriff „Biopolitik“ nicht neu, sondern dieser ist durch Louis von Kohl in der Zeitschrift für Geopolitik im Jahr 1933 eingeführt worden. Diese Termini verweisen auf semantische wie politische Felder, in denen soziale und kulturelle Hierarchien durch die Zuspitzung von Differenzkonstruktionen vertikal und horizontal neu verhandelt werden und die als Mittel einer Ethnopolitik an Aktualität gewinnen.20 Allerdings wandelte Foucault diesen Terminus in ein heuristisches Werkzeug zur Identifizierung und Historisierung biopolitischer Machtstaatspolitik um. Vor diesem Hintergrund soll nochmals betont werden, dass bereits Franz Neumann feststellte, dass das „Lebensrecht der Völker“, oder wie →Max Hildebert Boehm es formulierte, das „eigenständige Volk“, nicht mehr und nicht weniger als eine Politik von Teilen und Herrschen verfolgte. Minderheiten zu instrumentalisieren, nichtdeutsche Völker im Einflussbereich des Deutschen Reichs zu entrechten, zu versklaven oder zu vernichten, diente der Durchsetzung der Expansionspläne des Nationalsozialismus.21 Haushofer hatte nicht nur Friedrich Ratzels ‚biopolitisches Konzept‘ des organischen Wachstums von Räumen weiterentwickelt, sondern auch die „Gleichartigkeit geologischer, biologischer, kultureller und politischer ‚Grenzsäume‘“ postuliert, die als Grenzlandschaften zur „Wachstumsspitze“ eines zur Expansion gedrängten „Lebensraumes“ konvergierten. Indem Haushofer die alldeutsche Kriegszielpropaganda umging und neben Ratzels universaler Theorie der Räume internationale Ansätze – nicht nur Rudolf Kjelléns, sondern insbesondere der britischen Kolonialgeographie – adaptierte sowie dem „deutschen Volks- und Kulturboden“-Theorem einen hohen Stellenwert beimaß, wurde er auch für den völkischen Diskurs der Jungkonservativen und der Weimarer Rechten interessant, in deren Reihen er sich politisch nachhaltig engagierte. Weil er „Grenzräume“ als „Grenzkörper“ betrachtete und sie als Teil des „Volkskörpers“ aufwertete, ließen sich beliebig auch weitere rassistische und suggestive Elemente entwickeln.

XII  Vorwort

Karl Haushofer erkannte bereits 1927 in der Begriffsbildung des „Volks- und Kulturbodens“ einen geopolitischen Versuch, wissenschaftliche Kriterien für den Aufbau von Grenzen herauszuarbeiten. Das Paradigma des „Volks- und Kulturbodens“ stellte für ihn eine deutsche Monroe-Doktrin dar.22 Diesen völkischen Sozial- und Raumkonzepten liegt eine klare Wandlung zu Grunde: Eine lineare Grenze gen Osten sollte durch Sprachenstatistiken und -karten herausgearbeitet werden. Zwar wurden in Belgien, Preußen und Italien bereits seit 1840 statistische Methoden zur Spracherfassung eingeführt. Doch erst seit dem Internationalen Statistischen Kongress in St. Petersburg 1872 beruhte die Sprachenkarte ausschließlich auf der amtlichen Sprachenstatistik.23 Mit dieser identifiziert wurden Stammes- und Volkstumskarten, die sowohl in der aufkeimenden Nationalitätenbewegung im Kaiserreich Österreich Ende des 19. Jahrhunderts als auch in der Weimarer Republik in der Regel in roter Farbe für die ‚eigenen‘ Völker gehalten waren.24 Tatsächlich hatte Österreich 1923 begonnen, im Zensus nicht mehr nur Sprache, sondern auch die Rasse als Selektionskriterium einzuführen. Damit wurde frühzeitig eine vom katholisch-nationalistischen Lager geforderte Abgrenzung von Slawen und Juden versucht.25 Mit der Einführung der Sprachenstatistik durch den Preußischen- und Reichsstatistiker Richard Boeckh, dem Mitbegründer des später so genannten Vereins für das Deutschtum im Ausland, beginnt eine neue Phase der Beschreibung von nunmehr linearen Sprachgrenzen, die das Problem der bilingualen Sprachgebiete umgingen und sich nicht mehr an natürlichen Grenzverläufen orientierte. Besonders hervorgehoben wurden sogenannte deutsche Sprachinseln in Osteuropa und die Deutschen im Ausland, worunter auch die deutschsprachige Schweiz verstanden wurde. Boeckhs europäische Sprachenkarten mit ihren „Sprachinseln“ und „Übergangszonen“ wurden 1994 wieder gedruckt und gehören als völkisch-nationalistische Dokumente heute zum Kanon neokonservativer und rechtsextremer Kreise.26 Die Rekonstruktion des sozialtechnischen Bezugs erweitert die deutsche Gesellschaftsgeschichte um die Kenntnis der Ambivalenz der Moderne.27 Den alten – aus heutiger Sicht unverständlichen – Termini lag zum Teil seit 200 Jahren eine „völkische“ Vision der Gesellschaft als →Volksgemeinschaft zugrunde. Sie spitzte sich schließlich in der Praxis einer zynischen Raum- und Bevölkerungsplanung sowie in der Biopolitik, in der Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik des NS-Regimes zu. Einzelne wissenschaftliche Schulen verdankten ihre Institutionalisierung nicht nur dem immanenten Wissenschaftsfortschritt, sondern auch dem Bedarf nach wissenschaftlicher Expertise und Politikberatung, eben der politikbedingten Ressourcenbildung beider Felder. Um die Kulturbedeutung der Verflechtung von Wissenschaft und Politik für die deutsche Wissenschaftsgeschichte vor und nach 1933 sichtbar zu machen, rekonstruiert dieses Handbuch ausführlicher die Netzwerkbildung und die soziale Mobilität völkischer Akademiker im Kontext der dunklen Seite der Moderne. Es fragt nach ihrem Rückhalt in der Gesellschaft und in der NS-Bürokratie, rückt ihr gesellschaftliches Engagement in den Vordergrund und geht dem Wandel ihrer je-

Vorwort  XIII

weiligen politischen Dispositionen bei den gesellschaftlichen Systemwechseln nach. All das hat die Forschung in den letzten Jahren intensiv beschäftigt. So gehört es zu den Verdiensten gerade auch der kritischen Tsiganismusforschung, auf Grundprobleme der 200jährigen völkischen Stereotypenbildung unter der Federführung von Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann aufmerksam zu machen, wie im Beitrag über →Robert Ritter verdeutlicht wird: Der zuständige Staatsanwalt äußerte sich in einem Verfahren wegen der Beteiligung an Deportationen und den Misshandlungen gegenüber den Zeugen, die allesamt Opfer der rassistischen Politik gegen die Minderheit der Sinti und Roma gewesen sind: „[…] es erhebt sich die Hauptfrage, ob und inwieweit überhaupt den Darstellungen der Zeugen zu glauben ist. Es handelt sich um die grundsätzliche Frage, ob und inwieweit Aussagen von Zigeunern zur Grundlage richterlicher Überzeugungen gemacht werden können.“28 Selbst 1989 stellte der damalige Präsident des Bundesgesundheitsamtes zu einer Ausstellungseröffnung über die Gräueltaten an Sinti und Roma fest, dass die genaue Aufklärung der Geschehnisse schwierig sei, woraus er die Schlussfolgerung zog, „daß wir uns bei der Aufarbeitung davor hüten sollten, pauschale Schuldzuweisungen gegenüber Wissenschaftlern des damaligen Reichsgesundheitsamtes vorzunehmen. Denn die meisten leisteten Hervorragendes, verhielten sich sicherlich redlich und menschlich untadelig.“29 Ende des 20. Jahrhunderts stellte der Zeitgeist des Verschweigens und Verdrängens den Tätern noch immer „Persilscheine“ aus, wenn es sein musste. Unser Handbuch hat einen Beitrag mit dazu geleistet, die Kartelle des Schweigens aufzubrechen und neue Wege einer traditionskritisch orientierten Wissenschaftsgeschichte einzuschlagen. Das überarbeitete Handbuch ist der besseren Übersichtlichkeit wegen neu nach den Kategorien Forschungskonzepte, Institutionen, Stiftungen, Zeitschriften und Ämter und innerhalb der Kategorien alphabetisch geordnet. Wir haben uns entschlossen, die Biographien, die mittlerweile über 163 Einträge ausmachen, in einem eigenen Band und die restlichen Kategorien im zweiten Band zusammenzufassen. Schließlich tragen die Biographien, auf die das Handbuch besonderen Wert gelegt hat, der Tatsache Rechnung, dass die Paradigmen, institutionellen Lagerungen und sozialen Praktiken ihre gesellschaftliche Relevanz dort besonders zeigen, wo sie in ein gleichrangiges Verhältnis zum individuellen, lebensgeschichtlichen Wandel gesetzt werden. Ihr Sujet, Fragen der Generationalität, der Professionalisierung und des gesellschaftspolitischen Engagements, der Karrierebildung und des sozialen Aufstiegs, der Lernfähigkeit und des Scheiterns sind integraler Bestandteil dieser Wissenschaftsgeschichte. Das erleichtert dem Benutzer den Zugriff auf die einzelnen Artikel. Als übergeordnete Objekte finden nun deutlich verbreitert Forschungskonzepte von der Archäologie und Frühgeschichte über →Burgenforschung, →Pädagogik, →Rassenbiologie bis hin zu Antisemitismus, →Tsiganologie und →Volkskunde, Volk und Volksgemeinschaft, Sportwissenschaften sowie auch Pseudowissenschaften ihren Niederschlag, dann Institutionen, Stiftungen und Zeitschriften. Somit kann mit-

XIV  Vorwort

tels des Handbuches nachvollzogen werden, wie Wissenschaftler ihre Paradigmen konstruierten, Institutionen gründeten oder sich einzelner Stiftungen bedienten; wie sie in den jeweiligen Wissenschafts- und Gesellschaftssystemen agierten, wie sie diese stabilisierten oder in Folge von System- und Gesellschaftswandel wieder in Frage stellten, um sich individuell oder kollektiv neue Spielräume zu erschließen. In einigen Fällen war es nötig, einige Politikfelder, Ämter und Ministerien durch Einzelartikel abzudecken, um die politische Wirkung einzelner Wissenschaftler zu verdeutlichen. Ein weiteres Werkzeug bildet der nachgeführte umfangreiche Personen- und Sachindex mit etwa 10.000 Einträgen. Es blieb den AutorInnen überlassen, mehrsprachige Ortsnamen oder die Lebensdaten einzelner erwähnter Personen zu berücksichtigen. Auf ein Literaturverzeichnis wurde verzichtet, jedoch sind wichtige Verweise in die Fußnoten eingearbeitet. Das Handbuch der völkischen Wissenschaft hat sein Gebiet umfassend abzudecken versucht. Aber die einzelnen Desiderate sind umfangreich geblieben. Einzelne Strömungen der „völkischen Wissenschaft“ sind kaum oder gar nicht zur Darstellung gekommen. Das Ziel, das ganze Spektrum abdecken zu wollen, hätte den Rahmen dieses Projekts gesprengt. Lücken wurden deshalb in Kauf genommen, um den Erscheinungstermin des Bands rechtzeitig zu den erinnerungspolitischen Ereignissen anlässlich des Endes des Ersten Weltkriegs zu ermöglichen. Weitere Desiderate aufzuarbeiten bleibt einem Supplement-Band und der geplanten Online-Version künftig vorbehalten. Beiträge zur Germanistik und Kunstgeschichte (hier verweisen wir auf eine Vielzahl von Publikationen in den vergangenen Jahren), vor allem aber zur Frage der Kontinuität und Diskontinuität völkischen Denkens in der Nachkriegszeit und internationale Vergleiche und Erweiterungen sind immer noch als Desiderate zu betrachten. Insbesondere der Aspekt der Konversion und der Transformation dieses Zweigs der angewandten („kämpfenden“) Wissenschaft in der Zivilgesellschaft nach 1945 ist daher ein noch offenes und weiter zu bearbeitendes Feld. Die Herausgeber danken allen Autorinnen und Autoren, die die Geduld nicht verloren und während des langjährigen Entstehungsprozesses auch die kleinsten Änderungswünsche noch berücksichtigt haben. Matthias Berg für den ersten Band und dem neu zum Herausgeberteam hinzugestoßenen David Hamann in Berlin sei für die schier endlose Unterstützung in der Endphase der Redaktion gedankt. Uwe Puschner, der sich sofort bereit erklärte, die neue Einleitung zu schreiben, bestärkt uns in der Hoffnung, dass das Handbuch international auf Interesse stoßen wird. Unserem internationalen Beirat sei ebenfalls gedankt. Ihm gehören aktuell an: Mitchell Ash/Wien, Marina Cattaruzza/Bern, Christian Gerlach/Bern, Hans Henning Hahn/Oldenburg, Frank-Rutger Hausmann/Freiburg, Jeffrey Herf/College Park, Edouard Husson/Amiens, Heidrun Kämper/Mannheim, Piotr Madajczyk/Warschau, Alena Miskova †/Prag, Jan Piskorski/Stettin, Uwe Puschner/Berlin und Paul Weindling/Oxford.

Vorwort  XV

Zudem ließ sich das Unternehmen – wie eingangs erwähnt – erst in Kooperation oder Diskussion mit anderen internationalen Projekten erfolgreich realisieren: mit dem Project on Migration of Masses in Europe der European Science Foundation, Team 5, Tamas Stark/Budapest und Gustavo Corni/Trient; dem Arbeitskreis „Ostforscher Biographien“, unter Rudolf Jaworski/Kiel; dem DFG-Schwerpunktprojekt zur Geschichte der Bevölkerungswissenschaft vor, im und nach dem Drtten Reich unter Rainer Mackensen/Berlin und Jürgen Reulecke/Gießen; dem United States Holocaust Memorial Museum Washington und dem DFG-Sonderforschungsbereich „Regionenbezogene Identifikationsprozesse. Das Beispiel Sachsen“ unter Matthias Middell/Leipzig und Uwe Puschner vom Friedrich Meinecke-Institut/Berlin, der uns eine Vielzahl von Beiträgen vermittelte. Zu erinnern ist auch an die Sektionen auf den Deutschen Historikertagen oder die Panels der German Studies Association, die Winfried Schulze und Otto Gerhard Oexle in Frankfurt, Hans-Erich Volkmann und Hans Ulrich Wehler in Aachen, Charles Mayer, Volker Berghahn und Eric Weitz in Washington DC sowie Josef Ehmer in Kiel durchführten. Außerdem unterstützten das Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, Wolfgang Benz und das Zentrum für Antisemitismusforschung, Josef Ehmer und das Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, die Deutsche Forschungsgemeinschaft und der Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung der Republik Österreich das vorliegende Handbuch, indem sie Ressourcen zur Verfügung stellten. Schließlich sei besonders unserer Lektorin Julia Brauch vom De Gruyter-Verlag für die Aufnahme dieses Handbuches in das Verlagsprogramm gedankt. Ihre Begeisterung, dieses Projekt in der neuen Form zu verwirklichen und mit ihrem professionellen Team Johanna Dörsing, Jana Habermann und Mariusz Bromke die vielen Detailfragen zu „erledigen“, beflügelte uns Herausgeber.

Michael Fahlbusch/Alexander Pinwinkler/Ingo Haar Basel/Salzburg/Wien/Berlin im Januar 2017

1 Zum Forschungsstand bis 2008 vgl. Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a.M. 1997; Winfried Schulze (Hg. u.a.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1999; Doris Kaufmann (Hg. u.a.), Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, Göttingen 2000; Irene Dieckmann (Hg. u.a.), Geopolitik – Grenzgänge im Zeitgeist I: 1890–1945, Berlin 2000; Mathias Middell (Hg.), Institutionalisierung historischer Forschung und Lehre, Leipzig 2000; Plans and implementation of ethnic homogeneisation and ethnic resettlement policies by Germany and by other Axis powers during World War II, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento 27 (2001); Jan M. Piskorski (Hg. u.a.), Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, Poznan 2002; Rüdiger vom Bruch (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002; Burckhardt Dietz (Hg. u.a.), Griff nach dem Westen. Die ‚Westforschung‘ der völkisch-nationalen

XVI  Vorwort

Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919–1960), Münster 2003; Hartmut Lehmann (Hg. u.a.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Göttingen 2004; Mathias Beer (Hg. u.a.), Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches (1920–1960). Institutionen-Inhalte-Personen, München 2004; Dittmer Dahlmann (Hg.), Hundert Jahre Osteuropäische Geschichte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Stuttgart 2005; Johannes Hürter (Hg. u.a.), Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte, München 2005; Rainer Mackensen (Hg. u.a.), Das Konstrukt ‚Bevölkerung‘ vor, im und nach dem ‚Dritten Reich‘, Wiesbaden 2005; Josef Ehmer (Hg. u.a.), Bevölkerungskonstruktionen in Geschichte, Sozialwissenschaften und Politiken des 20. Jahrhunderts. Transdisziplinäre und internationale Perspektiven, Köln 2006; Jerzy Kochanowski (Hg. u.a.), Die ‚Volksdeutschen‘ in Polen, Frankreich und Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität, Osnabrück 2006; Jürgen John (Hg. u.a.), NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen ‚Führerstaat‘, München 2007. 2 M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: ders., Demokratie in Deutschland, Göttingen 1993. 3 Vgl. Uwe Puschner (Hg. u.a.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1999; ders., Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich, Darmstadt 2001. 4 Paul Weindling, Einleitung, in: Ingo Haar (Hg. u.a.), Handbuch der völkischen Wissenschaften, München 2008, S. 13–18. 5 So Sigmund Zimmern 1816; vgl. den Artikel Jakob Friedrich Fries im vorliegenden Handbuch sowie Richard Pischel 1890 in den „Göttinger Gelehrten Anzeigen“ über das völkische Weltbild von Zigeunern. Vgl. den Artikel Tsiganologie im vorliegenden Handbuch. 6 Michael Ruck, Administrative Eliten in Demokratie und Diktatur. Beamtenkarrieren in Baden und Württemberg von den zwanziger Jahren bis in die Nachkriegszeit, in: Cornelia Rauh-Kühne (Hg. u. a.), Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930–1952, München 1993, S. 60. 7 Zum vermeintlichen Gegensatz von jüdisch-betroffener und deutsch-sachlicher Forschung vgl. Martin Broszat/Saul Friedländer, „Um die Historisierung des Nationalsozialismus“. Ein Briefwechsel, in: VfZ 36 (1988), S. 339–372; zum erinnerungspolitischen Kontext dieser und anderer Debatten vgl. Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003. 8 Gerhard L. Weinberg, Der deutsche Entschluß zum Angriff auf die Sowjetunion, in: VfZ 1 (1953), S. 301–318. 9 Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann, Historischer Versuch über die Zigeuner. Betreffend die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksale dieses Volks seit seiner Erscheinung in Europa und dessen Ursprung, Göttingen 1787; Karen Hagemann, Mannlicher Muth und Teutsche Ehre. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens, München 2002, S. 231, 244–280; Roger Griffin, Völkischer Nationalismus als Wegbereiter und Fortsetzer des Faschismus. Ein angelsächsischer Blick auf ein nicht nur deutsches Phänomen, in: Heiko Kauffmann (Hg. u.a.), Völkische Bande. Dekadenz und Wiedergeburt – Analysen rechter Ideologie, Münster 2005, S. 20– 48, 42; Hanshenning Hahn u.a., Nationale Stereotypen. Plädoyer für eine historische Stereotypenforschung, in: ders. (Hg.), Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen, Frankfurt a.M. 2002, S. 17–56. 10 Hagemann, Mannlicher Muth und Teutsche Ehre, S. 255ff. 11 Ebd., S. 231. 12 Johann Gottlieb Fichte, Bedenken über einen ihm vorgelegten Plan zu Studentenvereinen, in: Johann Gottlieb Fichte’s Leben und litterarischer Briefwechsel, hg. von seinem Sohne J.H. Fichte, 2. Teil, Sulzbach 1831, S. 147, 150; vgl. Alfred Krovoza, Art. „Tacitus Germania, C Germania“, in: Christine Walde (Hg.), Die Rezeption der antiken Literatur: kulturhistorisches Werklexikon. Der neue Pauly, Suppl. Bd. 7, Stuttgart 2010, S. 977–996, 989; Fabian Link, Burgenforschung und National-

Vorwort  XVII

sozialismus. Eine Untersuchung zu Wissenschaft, Habitus und Politik, Phil. Diss. Universität Basel 2012, S. 305–310 (Manuskript). 13 Hagemann, Mannlicher Muth, S. 244ff. Zur Rezeption Hartwig Hundt-Radowskys von Volksforschern vgl. Peter Fasel, Revolte und Judenmord. Hartwig von Hundt-Radowsky, Berlin 2010, S. 180; Heidrun Kämper (Hg. u.a.), Demokratiegeschichte als Zäsurgeschichte. Diskurse der frühen Weimarer Republik, Berlin 2014. 14 Heike Anke Berger, Deutsche Historikerinnen 1920–1970. Geschichte zwischen Wissenschaft und Politik. Frankfurt a.M. u.a. 2007; Michael Burleigh, Germany turns Eastwards. A Study of „Ostforschung“ in the Third Reich, Cambridge 1988; und Gabriele Camphausen, Die wissenschaftliche historische Rußlandforschung im Dritten Reich (1933–1945), Frankfurt a.M. 1990. 15 Vgl. Klemens Felden, Die Übernahme des antisemitischen Stereotyps als soziale Norm durch die bürgerliche Gesellschaft Deutschlands: 1875–1900, Diss. Heidelberg 1965; Tönnies 1887; Heidi HeinKircher/Hans H. Hahn (Hg.), Politische Mythen im 19. und 20. Jahrhundert in Mittel- und Osteuropa, Marburg 2006; Tobias Weger, Der tschechische Keil im deutschen Körper – ein Mythos und seine Folgen, in: Edita Ivanickova/Dieter Langewiesche/Alena Miskova (Hg.), Mythen und Politik im 20. Jahrhundert: Deutsche – Slowaken – Tschechen, Essen 2013. 16 Vgl. Detlev Peukert, Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989, S. 93–97. 17 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 19725, S. 234, 549; Michael Fahlbusch, Grundlegung, Kontext und Erfolg der Geo- und Ethnopolitik vor 1933, in: Irene Diekmann (Hg. u.a.), Geopolitik. Grenzgänge im Zeitgeist. 1890 bis 1945, Bd. 1.1. Potsdam 2000, S. 116–126. 18 Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000, S. 90–95; Werner Köster, Die Rede über den „Raum“. Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts, Heidelberg 2002, S. 172–174; Karl Hering, Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890 bis 1939, Hamburg 2003, S. 169, 179. Willi Oberkrome konstatiert indes eine positive Aufnahme der völkischen Wissenschaftler auf diesem Soziologentag, was jedoch nur bei den Vertretern der völkischen Deutschen Soziologie wie Freyer und Ipsen der Fall war. Vgl. Willy Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993, S. 97. 19 Zur Diskussion in der Psychohistorie vgl. Alfred Krovoza, Die (west-)deutsche Gesellschaft nach dem Gewaltexzeß von Zweitem Weltkrieg und Judenvernichtung, in: Gewalt und Zivilisation in der bürgerlichen Gesellschaft; Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Hannover 2001, S. 124–143; Rolf Pohl, Normalität und Pathologie. Sozialpsychologische Anmerkungen zum Umgang mit der NS-Gewalt in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, in: ebd., S. 89–109. In Spanien wird die Debatte über die Verbrechen des Franquismus angeführt von Rechtshistorikern und Juristen, vgl. hierzu die beachtliche Diskussion im spanischen Internet-Forum [email protected]. ES. 20 Vgl. Thomas Müller, Imaginierter Westen. Das Konzept des „deutschen Westraums“ im völkischen Diskurs zwischen Politischer Romantik und Nationalsozialismus, Bielefeld 2009; sowie die Diskussion auf dem Kieler Historikertag Ingo Haar, Rassistische Differenzkonstruktionen und biopolitische Ordnungsinstrumente im besetzten Polen 1939–44. Raum- und Bevölkerungspolitik im Spannungsfeld zwischen örtlichen Zivilverwaltungen und zentralstaatlichen Führungsanspruch, in: Jürgen John (Hg. u.a.), Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“, München 2007, S. 105–122; Alexander Pinwinkler, Historische Bevölkerungsforschungen. Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 2014, S. 72–92. 21 Vgl. Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944, Frankfurt a.M. 1984, S. 191ff., 206f. Vgl. auch die entsprechenden Beiträge zu Loesch, Boehm, Haushofer und zum Volksgruppenrecht in diesem Handbuch.

XVIII  Vorwort

22 Vgl. Karl Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, Berlin 1927, S. 36, 124, 317. 23 Vgl. Alexander Pinwinkler, ‚Hier war die große Kulturgrenze, die die deutschen Soldaten nur zu deutlich fühlten…‘. Albrecht Penck (1858–1945) und die deutsche ‚Volks- und Kulturbodenforschung‘, in: Österreich in Geschichte und Literatur 55 (2011), S. 188. 24 Vgl. Michael Fahlbusch, „Wo der deutsche … ist, ist Deutschland!“ Die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920–1933, Bochum 1994; Peter Haslinger, Nation und Territorium im tschechischen politischen Diskurs 1880–1938, München 2010; Róbert Keményfi, Grenzen – Karten – Ethnien. Kartenartige Konstituierungsmittel im Dienst des ungarischen nationalen Raums, in: Jörn Happel (Hg. u.a.), Osteuropa kartiert – Mapping Eastern Europe, Münster 2010, S. 201–214; Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012. 25 Vgl. Alexander Pinwinkler, ‚Bevölkerungssoziologie‘ und Ethnizität: Historisch-demographische Minderheitenforschung in Österreich, ca. 1918–1938, in: ZfG 57 (2009) 2, S. 101–133; 118; Martin Stingelin (Hg.), Biopolitik und Rassismus, Frankfurt a.M. 2004, S. 55–79; Jason D. Hansen, Mapping the Germans. Statistical Science, Cartography, and the Visualization of the German Nation, 1848– 1914, Oxford 2015. 26 Müller, Imaginierter Westen, S. 90–91,104; Tobias Weger, Vom ‚Alldeutschen Atlas‘ zu den ‚Erzwungenen Wegen‘. Der ‚Deutsche Osten‘ im Kartenbild, 1905–2008, in: Jörn Happel (Hg. u.a.), Osteuropa kartiert – Mapping Eastern Europe, Münster 2010, S. 241–264. 27 Richtungsweisend Jeffrey Herf, Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1985; Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2005. 28 Vgl. den Beitrag über Robert Ritter im vorliegenden Handbuch. Zitiert nach Joachim S. Hohmann, Robert Ritter und die Erben der Kriminalbiologie, Frankfurt a.M. u.a. 1991, S. 168. 29 Vgl. den Beitrag Rassenhygienische Forschungsstelle in diesem Handbuch [ebd., S. 5].

Inhaltsverzeichnis Teilband 1 Alphabetisches Verzeichnis der Einträge  XX Einleitung zur 1. Auflage  1 Einleitung zur 2. Auflage  9 Biographien  21

Teilband 2 Forschungskonzepte  945 Institutionen  1319 Organisationen  1733 Zeitschriften  2051 Personenregister  2155 Sachregister  2191 Abkürzungsverzeichnis  2245

Alphabetisches Verzeichnis der Einträge Biographien Hektor Ammann 21 Fritz Arlt 28 Ernst Moritz Arndt 39 Saul Ascher 44 Karl Astel 50 Hermann Aubin 55 Emil Augsburg 60 Hans Joachim Beyer 63 Max Hildebert Boehm 66 Wilhelm Brachmann 71 Albert Brackmann 76 Wilhelm Brepohl 82 Arthur Moeller van den Bruck 88 Otto Brunner 93 Friedrich Burgdörfer 110 Houston Stewart Chamberlain 114 Christ(e)l Cranz-Borchers 120 Walter Christaller 123 Heinrich Claß 129 Werner Conze 132 Rudolf Craemer 144 Carl Diem 149 Eugen Ewig 153 Johann Gottlieb Fichte 156 Gottfried Fittbogen 163 Kurt Forstreuter 168 Walter Frank 173 Günther Franz 180 Egon Freiherr von Eickstedt 186 Dagobert Frey 192 Jacob Friedrich Fries 197 Karl Richard Ganzer 203 Erich Gierach 210 Herbert Grabert 216 Wilhelm Gradmann 224 Wilhelm Grau 229 Hans Grimm 236 Walter Gross 241 Hans F. K. Günther 248 Norbert Gürke 254 Hans Harmsen 259 Werner Hasselblatt 264 Hugo Hassinger 269 Jakob Wilhelm Hauer 274

Karl Haushofer 280 Adolf Helbok 285 Willibald Hentschel 288 Johann Gottfried Herder 294 Hans Hirsch 299 Hugo Höppener 302 Karl Gottfried Hugelmann 306 Alfred Huggenberger 310 Hartwig Hundt-Radowsky 313 Otto Huth 318 Gunther Ipsen 322 Viktor Kauder 334 Erich Keyser 338 Otto Kletzl 341 Hans Koch 347 Erwin Guido Kolbenheyer 359 Wilhelm Koppe 365 Gustaf Kossinna 370 Wilfried Krallert 376 Felix Krueger 380 Walter Kuhn 387 Otto von Kursell 391 Bruno Kuske 396 Julius Langbehn 400 Paul Langhans 404 Alfred Lattermann 409 Johann von Leers 414 Emil Lehmann 419 Georg Leibbrandt 424 Johannes Leipoldt 429 Philipp Lenard 433 Egon Lendl 439 Fritz Lenz 442 Karl Christian von Loesch 446 Kurt Lück 453 Herbert Ludat 457 Johann Wilhelm Mannhardt 461 Sabin Manuilă 469 Erich Maschke 477 Theodor Mayer 485 Oswald Menghin 489 Friedrich Metz 493 Konrad Meyer 500 Emil Meynen 509

Alphabetisches Verzeichnis der Einträge

Heinrich von zur Mühlen 518 Karl Alexander von Müller 525 Josef Nadler 533 Kurt Oberdorffer 541 Theodor Oberländer 547 Eduard Pant 552 Johannes Papritz 555 Rudolf Pechel 559 Albrecht Penck 570 Franz Petri 578 Ludwig Petry 588 Karl-Heinz Pfeffer 592 Josef Pfitzner 596 Kleo Pleyer 601 Waldemar von Poletika 608 Hermann Raschhofer 610 Hermann Rauschning 612 Carl Otto Reche 616 Otto Sigfrid Reuter 621 Gotthold Rhode 626 Bolko von Richthofen 631 Robert Ritter 637 Paul Ritterbusch 640 Robert Van Roosbroeck 646 Fritz Rörig 657 Hans Rothfels 662 Arnold Ruge 670 Georg-Wilhelm Sante 678 Leo Santifaller 682 Hans Heinrich Schaeder 686 Hildegard Schaeder 690 Otto Scheel 697 Peter Scheibert 704 Max Erwin von Scheubner-Richter Theodor Schieder 714 Bruno Schier 726 Friedrich Schmidt-Ott 730 Carl Schmitt 732

709

Leopold von Schroeder 737 Bruno K. Schultz 742 Wilhelm Schuster 747 Ilse Schwidetzky 751 Peter-Heinz Seraphim 763 Wolfram Sievers 767 Franz Alfred Six 773 Heinrich Ritter von Srbik 779 Wilhelm Stapel 782 Hans Steinacher 788 Harold Steinacker 795 Wolfgang Steinacker 799 Franz Steinbach 805 Lothar Stengel-von Rutkowski 811 Karl Stumpp 816 Fritz Textor 821 Alfred C. Toepfer 825 Karl Tornow 844 Wilhelm Unverzagt 850 Fritz Valjavec 854 Theodor Veiter 858 Wilhelm Volz 863 Ernst Wahle 868 Andreas Walther 873 Wilhelm Weizsäcker 877 Paul Wentzcke 881 Eugen Wildi 885 Kurt Willvonseder 890 Wilhelm Winkler 894 Eduard Winter 897 Herman Wirth 902 Reinhard Wittram 908 Hermann Wopfner 913 Wilhelm Wostry 919 Walther Wüst 925 Heinz Zatschek 934 Theodor Zöckler 939



XXI

XXII  Inhaltsverzeichnis

Forschungskonzepte Antisemitismus 945 Burgenforschung von 1918–1950 958 Deutsche Auslandswissenschaften 969 Deutsche Ostsiedlung 976 Deutsche Volksliste 998 Deutscher Wald 1007 Generalplan Ost 1016 Hanseforschung 1023 Haus-Forschung 1033 Judenforschung 1043 Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften 1055 Nationalsozialistische Hexenforschung 1063 Naturschutz als völkische Aufgabe 1073 NS-Volksgruppenrecht 1080 Ostforschung 1090 Prähistorische Archäologie 1103 Rassenbiologie 1114 Runenkunde 1127

Transitional Justice 1140 Tsiganologie 1148 Umvolkung 1158 Ungarische Volkstumsforschung 1165 Volk 1182 Völkisch Indology 1190 Völkische Islamophile-Orientalistik 1198 Völkische Religionswissenschaft 1207 Völkische Sonderpädagogik 1218 Völkisch-Esoteric and Völkisch-Religious Movements in Germany and Austria 1890–1945 1229 Volksdroge Methamphetamin 1249 Volksforschung in der Slowakei 1259 Volksgemeinschaft 1268 Volkskunde 1278 Volksnomostheologie 1288 Wald und Baum 1297 Westforschung 1305

Institutionen Akademie für Deutsches Recht 1319 Alemannisches Institut 1327 Anstalt für Germanische Volks- und Rassenkunde in Hannover 1335 Arbeitswissenschaftliches Institut 1338 Deutsche Wissenschaftliche Institute 1351 Deutsches Ausland-Institut 1356 Deutsches Auslandswissenschaftliches Institut 1367 Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands 1375 Forschungsinstitut für Geistesurgeschichte e. V. in Bad Doberan 1386 Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet 1391 Geographisches Institut der Universität Wien 1398 Institut für deutsche Ostarbeit 1406 Institut für Grenz- und Auslandsstudien 1414 Institut für Heimatforschung in Käsmark 1421 Institut für Heimatforschung in Schneidemühl 1428

Institut für Kärntner Landesforschung 1433 Institut für Rassen- und Völkerkunde der Universität Leipzig 1445 Institut für Rassenbiologie, Naturwissenschaftliche Fakultät der DKU Prag 1455 Institut für Sozialforschung in den Alpenländern an der Leopold-Franzens Universität Innsbruck 1465 Institut für Statistik der Minderheitsvölker an der Universität Wien 1472 Institut zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt am Main 1478 Institut zur Erforschung des jüdischen Einflußes auf das deutsche kirchliche Leben in Eisenach 1487 Institut zur Erforschung des jüdischen Einflußes auf das deutsche kirchliche Leben – Außenstelle Hermannstadt/Rumänien 1496 Johann Gottfried Herder-Institut und -Forschungsrat 1503 Kaiser-Wilhelm-Institute (Rassenkunde) 1508

Alphabetisches Verzeichnis der Einträge

Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung 1516 Lothringisches Institut für Landes- und Volksforschung 1527 Niederdeutsche Bewegung 1532 Oder-Donau-Institut 1543 Ostprogramm und Archivraub 1548 Publikationsstelle Dahlem 1554 Publikationsstelle Frankfurt 1565 Publikationsstelle Ost/Sammlung Georg Leibbrandt 1567 Publikationsstelle Wien 1580 Rassenhygienische Forschungsstelle 1590 Reichsinstitut für Ältere Deutsche Geschichtskunde 1595 Reichsuniversität Graz 1605 Reichsuniversität Posen 1613 Reichsuniversität Straßburg 1624 Reichsuniversität Straßburg (Phil. Fak.) 1632 Saarforschungsgemeinschaft 1644



XXIII

Straßburger Schädelsammlung 1651 Sudetendeutsche Anstalt für Landes- und Volksforschung Reichenberg 1660 Südostdeutsches Institut Graz 1667 Thüringisches Landesamt für Rassewesen 1671 Volksdeutsche Forschungsgemeinschaften 1677 Wannsee-Institut 1688 Westraumbibliothek in Metz 1693 Wissenschaftliche Forschungsinstitute der DAF 1703 Wissenschaftliche Akademie des NS-Dozentenbundes an der CAU Kiel 1713 Wissenschaftliches Institut der Elsaß-Lothringer im Reich 1721 Zentralkommission für wissenschaftliche Landeskunde von Deutschland 1727

Organisationen Alldeutscher Verband 1733 Alpenländische Forschungsgemeinschaft 1739 Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung der Universität Wien und der Wiener Hochschulen 1752 Arbeitskreis Historische Raumforschung der ARL 1759 Bund Völkischer Europäer 1769 Deutsche Akademikerschaft 1775 Deutsche Burse zu Marburg/Institut für Grenzund Auslanddeutschtum 1784 Deutsche Forschungsgemeinschaft unter Johannes Stark 1796 Deutsche Stiftung 1803 Deutsche Studentenschaft 1811 Einwandererzentralstelle Litzmannstadt 1818 Germanischer Wissenschaftseinsatz 1827 Göttinger Arbeitskreis 1833 Kampfbund für deutsche Kultur 1840 Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit 1846 Kriminalbiologische Gesellschaft 1854

Kulturkommission des SS-„Ahnenerbes“ beim Deutschen Umsiedlungsbevollmächtigten für die Provinz Laibach 1862 Kulturkommission des SS-„Ahnenerbes“ in Südtirol 1866 Luxemburg 1879 Mittelstelle Saarpfalz und Mittelstelle Westmark 1888 Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft 1894 Nordostdeutsche Akademie in Lüneburg 1908 Österreichisch-deutsche Wissenschaftshilfe der DFG 1913 Rassenpolitisches Amt der NSDAP 1921 Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung 1926 Reichsforschungsrat 1935 Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums 1940 Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete 1951 Reichsschule der Sipo und SD Prag 1958 Reichssicherheitshauptamt Abteilung VI G (Reichsstiftung für Länderkunde) 1961

XXIV  Inhaltsverzeichnis

Reichsstiftung für deutsche Ostforschung in Posen 1973 Reinhard-Heydrich-Stiftung 1981 Rockefeller Foundation 1987 Sonderkommando Dr. Stumpp 1990 SS-Ahnenerbe 1995

Stiftung FVS Hamburg und Johann Wolfgang Goethe-Stiftung Vaduz 2007 Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft 2023 Südosteuropagesellschaft 2034 Westdeutsche Forschungsgemeinschaft 2039

Zeitschriften Archiv für Religionswissenschaft 2051 Burgenlandatlas 2057 Der Auslanddeutsche/Deutschtum im Ausland 2061 Deutsche Arbeit 2065 Deutsche Forschung im Südosten 2069 Germanische Himmelskunde 2074 Grenzland 2081 Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums 2085 Jomsburg – Völker und Staaten im Osten und Norden Europas 2089 Kulturwehr 2095 Nation und Staat – Europa Ethnica 2106

Reich, Volksordnung, Lebensraum 2118 Saar-Atlas 2125 Sammlung Georg Leibbrandt (Publikationsreihe) 2130 Volk und Reich 2135 Volkstum im Südosten 2140 Zeitschrift für Geistes- und Glaubensgeschichte 2144 Zeitschrift für Volksaufartung (1926–1928) – Zeitschrift für Volksaufartung, Erbkunde und Eheberatung (1928–1930) – Eugenik, Erblehre, Erbflege (1930–1933) 2148

_____________________________________________________________________Einleitung zur 1. Auflage  1

Einleitung zur 1. Auflage Volk und Forschung: eine Wissenschaft für die Nation 1. Die Marginalisierung des Völkischen in der Wissenschaftsgeschichte nach 1945 Obwohl „Rasse“ und „Volk“ zentrale Begriffe in der deutschen Wissenschaft des 20. Jahrhunderts waren, vermieden deutsche Akademiker nach 1945 lange Zeit jegliche Kritik an dem Vermächtnis dieser völkischen Begriffe. Die Begriffe „Volk“ und „deutsche Rasse“ wurden dem Umfeld einer kleinen Gruppe Ultra-Rechter oder aber gesellschaftlichen Außenseitern wie dem jungen Adolf Hitler zugeschrieben. Selbst als George L. Mosse auf die enormen Einflüsse der völkischen Ideologie auf die Musik, auf die Kunst und auf die Architektur verwies, wurden diese noch immer als kulturelle Symbole der Ultra-Rechten abgetan und ihrem Irrationalismus sowie ihrer pessimistischen Einstellung zugeschrieben, welche außerhalb des akademischen Milieus eingeordnet wurden. Die Wissenschaft selbst erschien immun gegen völkischen Irrationalismus. Stattdessen fokussierten die deutschen Nachkriegshistoriker die deutsche Parteipolitik und die Regierung als Basiselemente einer liberal-demokratisch geprägten Geschichtsauffassung. Die Wissenschaftler zogen es vor, sich als Opfer eines manipulativen NS-Staates und seines parteipolitischen Apparates darzustellen. Sie interpretierten die Einführung der Sozialwissenschaften durch die Alliierten als Neuheit der Nachkriegsära. Selbst als Michael Burleigh und Wolfgang Wippermann den Nationalsozialismus als „Rassenstaat“ darstellten und die Rolle der akademischen Experten in der →Ostforschung herausarbeiteten, blieben die Historiker dabei, dass die Missstände primär dem Machtstaat zuzuschreiben wären und weniger jenen Wissenschaftlern oder gar bürgerlichen Kreisen, die um die Bedeutung von „Volk“ und „Rasse“ konkurrierten. Bis in die 1990er Jahre hinein finden sich in der Historiographie der Geschichte, Soziologie, Geographie oder →Volkskunde Strategien, die das völkische Erbe ausklammerten.

2. Die Identifizierung des Völkischen Es ist sinnvoll, eine langfristige Perspektive einzunehmen und bis in das 19. Jahrhundert zurückzugehen, um den völkischen Diskurs zu definieren, in dem die „deutschen“ Wissenschaften und Forschung eine formative Rolle einnahmen. Die deutsche Forschung erlangte Weltbedeutung in Disziplinen wie der Geschichte, Philologie, Theologie, den Naturwissenschaften und der Medizin. Diese wurden als vorwiegend nationale Wissenschaften angesehen. Einige Akademiker gingen einen

https://doi.org/10.1515/9783110429893-001

2  Einleitung zur 1. Auflage

Schritt weiter und stellten sich in den Dienst des völkischen Diskurses. Die völkisch-rassische Bewegung verfolgte das Ziel, die deutsch-nationale Identität zu stärken. Sie war über Deutschlands Grenzen hinaus verbreitet, und sie agierte innerhalb der deutschstämmigen Gruppierungen in Zentral- und Osteuropa, in Amerika und Übersee. Die Rolle der Deutschen in der Weltgeschichte erschien den „Völkischen“ in Hinblick auf ihre kulturelle und rassische Mission in der Welt als einzigartig. Wir müssen deshalb die „kleindeutsche“ Geschichtsperspektive beiseite lassen und uns darauf konzentrieren, wie die völkischen Ideologeme nationale Grenzen überwanden, um die in ethnischen Gemeinschaften und Kolonien lebenden Deutschstämmigen zu durchdringen. Der Aufstieg der völkisch-kulturellen Bewegung fällt mit dem Anwachsen des →Antisemitismus zusammen. Antisemitische Dispositionen und völkisches Denken überschnitten und ergänzten sich. Es bedurfte massiver wissenschaftlicher Unternehmungen, ja geradezu einer kleinen Armee von Akademikern, kulturellen Organisationen und wissenschaftlichen Strukturen, um die Begriffe der „deutschen Rasse“ und „Nation“ zu definieren, zu beschreiben, zu erhalten und zu verteidigen. Nationale Werte zu verteidigen und zu erhalten, war ein großer Anreiz deutscher Expansionspolitik. Es galt, diese Werte in eine akademische Terminologie zu übertragen. So überboten sich „akademische Enthusiasten“ in der Definition strategischer Ziele und der Definition deutscher Identität. Das vorliegende Handbuch zeigt die Entwicklung dieser Vorstellungen und – vom heutigen Standpunkt aus gesehen – ihrer historisch unterschiedlichen Bedeutungsmuster zwischen 1918/19 und 1960. Nachdem sie in der Weimarer Republik ein Rückzugsgefecht gegen die liberaldemokratischen Werte ausgefochten hatten, wurden die völkischen Erwartungen beim Aufstieg Hitlers und des Nationalsozialismus apokalyptisch. In der NS-Ideologie fanden sich viele völkische Positionen wieder, die ein Großdeutschland als Weltmacht mit sämtlichen abgetretenen und verlorengegangenen Grenzgebieten und Kolonien realisieren wollten. Obwohl die Pionierstudie von George L. Mosse über die „Krise der deutschen Ideologie“ die völkisch-kulturellen Ideale als Begründung der NS-Aktionen darstellte, war das Völkische breiter als der Nationalsozialismus, widersprüchlicher.1 Einige Denker sparten nicht mit kritischer Enttäuschung darüber, dass das ländliche Bauernutopia von den militärischen und industriellen Interessen, die den Krieg vorbereiteten, verdrängt wurde. Das breite Spektrum der völkischen Konzepte – zum Beispiel die Beschäftigung mit ländlicher Wirtschaft und Jugend – überlebte, veränderte sich und wurde nach 1945 angepaßt. Trotz Entnazifizierung und alliierter Versuche, Deutschland im Westen auf eine liberal-demokratische oder im Osten auf eine marxistisch-leninistische Basis zu stellen, fand die völkische Bewegung auch nach 1945 zu neuen Formen. Ehemalige völkische Aktivisten nutzten zumeist außeruniversitäre Institute, um sich zu rehabilitieren und an ihre einstige Karriere anzuknüpfen. Viele von ihnen waren jüngere Historiker und Sozialwissenschaftler. Die völkisch interpretierten Kategorien Nationalität und gesellschaftliche Wohlfahrt prägten lange Zeit das 1913 re-

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vidierte Staatsangehörigkeitsgesetz und die Sozialversorgung der Bundesrepublik Deutschland. Seit den 1980er Jahren wurde die Geschichte von Eugenik, Rassenkunde und Anthropologie systematisch aufgearbeitet. Geographie, Sozialwissenschaften und Regionalplanung wurden durch Wissenschaftshistoriker in ihrem nationalistischen Umfeld und ihrem Aufstieg im Nationalsozialismus untersucht.2 Seit den frühen 1990er Jahren wurde die Rolle der deutschen Historiker genauer analysiert. Das Ergebnis der neueren wissenschaftshistorischen Untersuchungen war indes eine komplett überarbeitete Herleitung der deutschen Geschichtsschreibung, im Speziellen der deutschen Sozialgeschichte. Die deutsche Sozialgeschichtsforschung wurde dabei als ein Produkt der völkischen Studien über nationales Erbe und Gemeinschaft identifiziert. Die westdeutschen Historiker hatten zuvor einen adäquaten Rahmen für die Volksgeschichte und die Interpretation des Nationalsozialismus gesucht. Jene, welche „Rasse“ und „Kultur“ zu marginalisieren versuchten, spielten die völkisch-kulturellen und akademischen Aktivitäten unter dem Nationalsozialismus und die Verbindung zum Holocaust herunter oder relativierten sie, während sie zugleich ihre eigenen völkischen Verbindungen und Ursprünge der sozialhistorischen Forschungen verschwiegen.3 Zur gleichen Zeit ermöglichte dies auch eine kritische Neuinterpretation des Nationalsozialismus, in dem „Rasse“ und „Volk“ einen zentralen Stellenwert einnahmen. Es zeigt sich dennoch, dass insbesondere die Geschichte von „Rasse“ als Wissenschaft, Ideologie und Politik für den Zeitraum des Nationalsozialismus noch immer ein Forschungsdesiderat ist. Nur ausgewählte Aspekte – etwa im Gesundheitswesen und der Demographie – sind substantiell uminterpretiert worden, während die Hauptinstitutionen, die für die Herausformung und Umsetzung der Rassenpolitik verantwortlich waren, noch immer ihrer Aufarbeitung durch Historiker harren. Die meisten Historiker betrachteten bis dahin das Völkische verkürzt als nationalistische Bewegung, welche den Weg zum Nationalsozialismus ebnete. Mosse legte die emanzipatorischen und ultra-rechten Parameter dieser „deutschen Ideologie“ dar, die der Sammlungspunkt der nationalistisch Gesinnten wurde. Seine Untersuchung über die Rolle der Monumente und der Bewegungen wie etwa der „Wandervögel“ war eine Pionierarbeit, aber es gab noch mehr. Die völkischen Ideologen entfalteten wohldosiert eine Agenda von Praktiken – anthropologische, eugenische, kulturelle und historische –, um den deutschen Nationalstolz und das Rassebewusstsein nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg als eine Form der „Wiedergeburt“ nachhaltig zu stärken. Die wissenschaftlichen Arbeiten bildeten dabei mehr als nur eine „Ressource“ für die Politik. Ihr Ziel war es vielmehr, die deutsche Öffentlichkeit zu begeistern, den Sinn für eine pandeutsche Identität und das Vertrauen in die Superiorität der deutschen Nationalkultur zu stärken. Dieses Handbuch unterstreicht die Wichtigkeit des Netzwerks der Institutionen und der Akteure dieser nationalen Konzepte.

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Wie Ingo Haar darlegt, endeten die völkischen Aspirationen eher 1968 denn 1945. Erst in den 1990er Jahren wurde das Ende dieser deutschen Geschichtsschreibung durch kritische wissenschaftliche Analysen eingeläutet. Trotzdem folgte eine Ära der Sozialgeschichte, die die kulturhistorische Bedeutung dieser völkischen Eliten und ihre Wissenschaftspolitik ausblendete.4

3. Völkische Netzwerke Die meisten deutschen Neuzeithistoriker haben es geschickt umgangen, das völkische Ideologem zu definieren und zu erschließen. Sie klammerten sich an das Theorem des Nationalstaates, der von den Vertretern der völkischen Idee abgelehnt, neu interpretiert und weitergetrieben wurde. Diese breitere völkische Vision fand große Unterstützung jenseits der Reichsgrenzen. Es fehlen Studien über das kulturelle Leben ethnischer deutscher Bevölkerungsgruppen in den Regionen Sudetenland, Siebenbürgen und Banat, der Ukraine und der Wolgadeutschen und vor allem darüber, wie Anthropologen, Eugeniker und Volkskundler deren deutsche Identität in den 1920er und 1930er Jahren herleiteten und zementierten. Es ist immer wieder erstaunlich, dass Anthropometrie, Serologie und Humangenetik darlegten, wie sich Deutschland aus einer Vielzahl von unterschiedlichsten Rassentypen zusammensetzte. Eines der Ergebnisse war die Rassenanthropologie; sie entwickelte die Obsession, physische Merkmale – blondes Haar, blaue Augen und spitzkantige Nase – als Indikatoren gefunden zu haben. Diese dienten dazu, jene auszuwählen, die über die höheren psychologischen Qualitäten eines wahren Deutschen verfügten. Das Handbuch der völkischen Wissenschaften zeigt auf, welche Personenkreise, Institutionen, Publikationsreihen und Formen von Kontakten zwischen den Grenzgebieten und den Reichszentralen bestanden, wo der Sinn für deutsche Identität und Traditionen stark war. Wir müssen die Funktionsweise dieser Verbindungen genauso verstehen wie die Wahrnehmung in den Peripherien, den grenz- und auslandsdeutschen Gemeinschaften. Jede Gruppierung war in regionalen und eigenen historisch-politischen Kontexten eingebunden. So vermochte die deutsche Kulturpolitik zwischen faschistischen Staaten mit deutschen Minderheiten wie Italien oder Rumänien und den „feindlichen“ Regimen wie Polen und der Sowjetunion zu unterscheiden, wo Okkupation, Deportation und Genozid als „Endlösung“ angesehen wurden. Ferner befand sich jede einzelne Gruppierung wiederum in einer anderen Situation, so etwa in Rumänien, wo Protestanten in Siebenbürgen über ein anderes kulturelles Erbe verfügten als die Katholiken im Banat.

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4. Anatomie der deutschen Wissenschaften Ein Charakteristikum des vorliegenden Handbuchs ist seine umfassende Abdeckung des Themas. Wir entdecken ein starkes interdisziplinäres Bestreben, die vielen Verästelungen zur Geschichte, Geographie, Philologie, Philosophie, Volkskunde, Kunstgeschichte und zu den Religionswissenschaften aufzuarbeiten. Die Bezüge waren zahlreich: So verantworteten Historiker etwa regionale und sozialgeschichtliche, ja sogar kulturgeographische Studien. Wissenschaftliche Beiträge zum Thema „Volkskörper“ lieferten besonders Anthropologie und Ethnologie („Volksforschung“), Biologie und Genetik. Die Medizin, Biologie und Naturwissenschaften öffneten sich dem völkischen Diskurs. Ebenso griffen neue Disziplinen wie die „GeoMedizin“ und „Geo-Epidemologie“, Sero-Anthropologie und Rassenpsychologie Leitbegriffe wie „Lebensraum“ auf, um die deutschen Ethnien zu unterstützen.5 Einerseits finden wir einen kulturellen und philosophischen Diskurs über die Kategorien „Volk“ und „Gemeinschaft“. Andererseits finden wir das Bemühen, die Institutionen und Organisationen der deutschen Wissenschaften – zumindest teilweise – in die völkische Richtung zu steuern. Die politische Selbstmobilisierung der involvierten Wissenschaftler, die sich in herausragenden institutionellen Neugründungen niederschlug, belegt, dass sie einflußreicher war als jene des Staates. Die Gründungen verschiedener Stiftungen und kultureller Organisationen bestätigen die umfassende Netzwerkorganisation. Auf einer kulturellen Ebene sehen wir, wie zentral die Leitbegriffe „Volk“ und „Gemeinschaft“ waren. Das Gesetz wurde durch den „Geist des Volkes“ ersetzt, wie ihn die NSDAP interpretierte. Das vorliegende Handbuch führt durch das Labyrinth von eigenartigen Kulturbegriffen: „Volkstum“, „Volksdeutsche“, „Volks- und Rassenkunde“, „Sippenforschung“ und „Raumforschung“, welche breite Forschungsunternehmungen begründeten. Diese waren regionale Großunternehmen einer breiter angelegten kulturellen Mobilisation. Der Staat, die NSDAP, die SS und eine weitere Anzahl verschiedenster rassistisch-nationalistischer Organisationen finanzierten die Aktivitäten einer Vielzahl von Akademikern.6 Es handelte sich um eine selbstmobilisierte Militanz für die nationale Erneuerung. Sie fand ihren Niederschlag in einer unüberschaubaren Zahl diverser Zeitschriften über „Volk“, „Lebensraum“ und „Auslandsdeutschtum“. Die kulturpolitischen Organisationen zielten auf ein Publikum unterschiedlichsten Alters und sozialer Gruppen wie Jugendliche, Studenten und Mütter und so weiter, um deren deutsche Identität zu stärken. Weitere Organisationen förderten die „deutschen Ideale“ in den Grenzgebieten jenseits des Deutschen Reiches. Sie alle teilten eine großdeutsche Vision und sahen Volk und Politik durch eine sehr enge Linse. Eine Reihe von Spezialinstituten wurde gegründet. Kultur- und Wirtschaftshilfen flossen reichlich zur Unterstützung der deutschen Schulen und Zeitungen. Das Auslandsdeutschtum war – obwohl oft ohne eine deutsche Nationalität – im Grunde eine spezielle Kategorie und beanspruchte kulturpolitische Unterstützung. Die deutsche

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Auswärtige Politik der Zwischenkriegszeit unterstützte diese ethnische Kulturpolitik. Die nationalen Organisationen planten die Reorganisation sozialer Beziehungen nach rassischen und völkischen Kriterien. Nach diesem Konzept wäre Eigentum und Erbrecht wieder an den Traditionen des Landadels ausgerichtet und mit dem Hegehof als Zuchtbetrieb für „Volksgenossen“ verbunden worden. „Heirat“, „Familie“, „Geburt“ und das Konzept des „nordischen“ Menschen bedeuteten den Bruch mit der Demokratie und individueller Rechtssicherheit. Der rasanten Verbreitung völkischer Werte folgte ironischerweise sowohl nach dem Ersten- wie nach dem Zweiten Weltkrieg, wie die Beispiele des Elsass oder der deutschen Ostgebiete das zeigen, der „Verlust“ an „deutschen“ Territorien. Die Grenzlandkämpfe, die Brutalität der Freikorps und die Gründung ultranationalistischer Zeitschriften hatten dazu gedient, das antidemokratische völkische Unternehmen der „Lebensraumpolitik“ zu stärken. Die Nationalsozialisten konnten ab 1933 auf ein kulturpolitisch gut vorbereitetes Feld von Nationalvorstellungen aufbauen, als Führer wie Rudolf Heß die völkischen Ambitionen koordinierten und protegierten.7 Dazu gehört anfänglich auch eine gezielte Politik der selektiven Inklusion, die nationale Geister wie den Volkstumshistoriker →Hans Rothfels einband, der aber eigentlich „rassisch“ unakzeptabel war. Die nationalsozialistischen Kriegsziele unterstützten die völkischen Bestrebungen, indem sie Pläne für die Germanisierung und die Bevölkerungsverschiebungen im „→Generalplan Ost“ erlaubten. Es gab zudem andere Organisationen für Südost-, West- und Nordostforschung, in denen ähnliche Pläne erarbeitet wurden. Rassenauslegeordnung, regionale und botanische Bestandsaufnahmen der „Umwelt“, Demographie, Anthropologie, Ethnologie und Genealogie wurden in der Kriegsmitte intensiviert. Schlüsselfragen nach der Verbindung zwischen dieser militant völkischen Forschung, dem Holocaust und den deutschen Kriegszielen werden im Handbuch gestellt. Verschiedene Rassenkommissionen wurden eingesetzt, versorgten die deutsche Wehrmacht und die SS mit interdisziplinären Expertisen und Forschungsresultaten über die rassischen Charakteristika der Bevölkerungen in den eroberten Gebieten und schufen so die Voraussetzung zunächst für die Umsiedlungs- und Bevölkerungspolitik, später für die Vernichtungspolitik. Wissenschaftler wurden in die Schlüsselterritorien wie das besetzte Polen und die Ukraine beordert, um den „Wert“ der lokalen Bevölkerungen und das soziale und rassische Potential für ihre Assimilation oder Vernichtung zu ermitteln. „Entjudung“ wurde das übergeordnete Prinzip. Ein überaus breiter und megalomanischer Planungsapparat diente dem Bevölkerungs-„austausch“ und der „ethnischen Flurbereinigung“. Der Holocaust war nicht nur Folge des Strebens nach Lebensraum, Rassengewalt und Brutalität. Der Rahmen, die Impulse und die Ziele stammen in beträchtlichem Umfang von den Ideologen und Vertretern der „völkischen Wissenschaften“ selbst. Das Handbuch macht verstörende Feststellungen zur Rolle der Akademiker,

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die die Ideen von „Rasse“ und Ethnizität mittrugen, um damit den Genozid einzuleiten, Grundlagen für militärische Operationen zu liefern oder die Konfrontation mit fremden kulturellen Werten als Gefahr darzustellen. Während „das Deutsche“ über spezielle Affinitäten zu Natur und Geist definiert wurde, befand es sich gleichzeitig in einem epischen Kampf mit dem „Jüdischen“ als fremdem, berechnendem und parasitärem Feind. Hier fand sich die Gelegenheit, durch die Auffassung einer ursprünglichen „rassischen Vitalität“ das deutsche Volk in einer nationalen „Wiedergeburt“ zu regenerieren. In Wahrheit war es der „völkische“ Standpunkt, der die Existenz von Millionen Menschen in einem Jahrhundert der Gewalt und des Genozids bedrohte.

5. Die Erfindung des „deutschen“ Handbuchs als epistemologisches Instrument Das deutsche Handbuch als Genre war und ist ein Weg, ein Forschungsfeld als synthetische, organische Einheit zu erfassen. Eine Vielzahl von Autoren fokussierte Aspekte dieses Feldes, präsentierte neue Interpretationen und neue Erkenntnisse. Im Gegensatz zum Universalismus der französischen Encyclopédie war das Handbuch als praktisches, wissenschaftliches Nachschlagewerk gedacht. Der Begriff Handbuch bezieht sich auf einen Teil eines Körpers – die Hand –, hat also organische Konnotationen. „Hand“ ist ein Wort mit deutschen Wurzeln und assoziiert das Ergreifen – damit haben wir eine Einheit, die ergriffen und geändert werden kann. Wir sollten das Genre als Teil einer akademischen Methodik der deutschen Geschichtswissenschaft betrachten. Ein Handbuch deckt somit die grundlegenden Prinzipien und Informationen in strukturierter Weise ab. Hier versammelt sich eine Vielzahl von Beiträgen, jeder mit einem eigenen Forschungshintergrund und disziplinärer Schärfe, und sie formen eine umfassende Einheit. In diesem Sinne gelingt es dem vorliegenden Handbuch, nicht etwa die Apologie der völkischen Wissenschaften neu aufzulegen, sondern diese kritisch zu analysieren und zu dekonstruieren. Während Geschichtsschreibung und Quellenkritik zur Konstruktion der Nationswerdung, der deutschen Ideale und ihrer kulturellen Manifestationen dienten, leistet das vorliegende Handbuch exakt das Gegenteil. Dieses Handbuch unterzieht diese ideologischen Zusammenhänge („Paradigmen“) und Institutionen einer genauen Untersuchung. Ein weiterer Teil deckt die Biographien der Akteure ab. Damit sind die Begründungszusammenhänge und die organisatorischen Rahmenbedingungen definiert, in denen die Individuen operierten. Das Handbuch erforscht die Politik und Wertvorstellungen des völkischen Diskurses. Das völkische Denken versuchte, mit der empirischen und/oder rationalen Geschichtsschreibung zu brechen. Das Ziel der „Wiedergeburt“ war ein alternatives „Deutsches Modell“ der Sozialentwicklung. Dies erklärt zumindest die enorme Pro-

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duktivität in der deutschen Wissenschaft, Medizin, Kunst, Literatur und Kultur in den Jahren von 1918 bis 1960.

Paul Weindling

1 George L. Mosse, The Crisis of German Ideology. The Intellectual Origins of the Third Reich, New York 1964. 2 Paul Weindling, Health, Race and German politics, Cambridge 1989. 3 Beispielhaft sei der Beitrag Werner Conzes über „Rasse“ genannt: ders., Rasse, in: →Otto Brunner/ →Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 135–178. 4 Gerhard A. Ritter betont, dass die Verdienste Hans Rosenbergs Forschungen zur historischen Nationalökonomie und Otto Hintzes vergleichende historisch-sozialwissenschaftliche Studien die Vorläufer der Sozialgeschichte seien und keineswegs die Volksgeschichte. Vgl. Gerhard A. Ritter, Einleitung, in: ders. (Hg.), Friedrich Meinecke, Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler, München 2006, S. 81. 5 Paul Weindling, Epidemics and Genocide in Eastern Europe, Oxford 2000. 6 Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a. M. 1997, S. 15. 7 Vgl. George L. Mosse, Die deutsche Rechte und die Juden, in: W. E. Mosse (Hg.), Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik, Tübingen 1966, S. 183–246.

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Einleitung zur 2. Auflage Verwissenschaftlichung der Weltanschauung. Völkische Aspirationen, Strategien und Rezeptionen in der langen Jahrhundertwende ‚Völkisch‘ ist mehr als das Adjektiv, das dem Substantiv ‚Volk‘ zugeordnet ist. ‚Völkisch‘ ist auch nicht nur ein Synonym des aus dem Lateinischen stammenden Lehnwortes ‚national‘. Die Verdeutschung von national in völkisch hatte der ehemalige preußische Offizier und spätere Dozent für Militärwissenschaften und neuere Sprachen an der Technischen Hochschule Darmstadt, Hermann von Pfister-Schwaighusen (1836–1916), um die Mitte der 1870er Jahre mit der Begründung in Vorschlag gebracht, da „unsere Ahnen [...] sich [...] im Vorzugs-Sinne des Begriffes: Völkische (nationales)“ genannt hätten.1 Pfister-Schwaighusen war einer der Protagonisten der deutschnationalen Sprachbewegung und deren Kampagne gegen das Fremdwort; als völkischer Ideologe der ersten Stunde unterhielt er enge Kontakte in die alldeutsche Bewegung der Habsburgermonarchie. Seine Behauptung zog PfisterSchwaighusen aus seinen sprach- und lautgeschichtlichen ‚Forschungen‘, deren Ergebnisse ihn als einen der unzähligen völkischen Laienforscher ausweisen. Zugleich verweisen sein Name und seine Intervention auf die von Beginn an weltanschauliche Kontaminierung des Adjektivs. An der Wende zum 20. Jahrhundert wurde ‚völkisch‘ vom Habsburgerreich aus in das Deutsche Reich importiert und etablierte sich dort binnen weniger Jahre über den Ersten Weltkrieg hinweg zum „Schlag- und Kampfwort“ eines hybriden Nationalismus mit einem komplexen Weltanschauungssystem. Es wurde zum Signum einer vielgliedrigen Bewegung mit zahlreichen agitatorisch, zunächst vor allem publizistisch aktiven Organisationen.2 Mit Beginn der zwanziger Jahre avancierten Bewegung und Weltanschauung zum gesellschaftlichen und politischen, öffentlich wahrgenommenen Faktor, vornehmlich in Gestalt des Nationalsozialismus mit der Neugründung der NSDAP 1925, womit eine forcierte Ablösung von den ideologischen Wegbereitern aus der Vorkriegszeit einherging, und mit ihren Wahlerfolgen seit Beginn der 1930er Jahre. Von da an stand (und steht seitdem) ‚völkisch‘ in der (internationalen) Wahrnehmung synonym für ‚nationalsozialistisch‘.

Aspirationen Den ideologischen völkisch-nationalsozialistischen Kontinuitäten korrespondiert das konstitutive völkische Selbstverständnis, ihre vor dem Ersten Weltkrieg facettenreich ausformulierte Weltanschauung wissenschaftlich begründet zu sehen. Der Rassenanthropologe Otto Ammon (1842–1916) gibt dieser Überzeugung mit der Festhttps://doi.org/10.1515/9783110429893-002

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stellung Ausdruck: „Mit derselben uneigennützigen Hingebung, mit der ein Germane sich furchtlos in die Schlachtenreihen stürzte, unternimmt sein später Nachkomme als Gelehrter die gefährlichsten wissenschaftlichen Untersuchungen“.3 Ammon ist frei von Ironie, er vermittelt vielmehr den genuinen völkischen Denkstil. Grundsätzlich nämlich wurden die verschiedenen Ideologeme des völkischen Weltanschauungskosmos von seinen Konstrukteuren auf als wissenschaftlich deklarierte Grundlagen gestellt. Die überwiegend männlichen völkischen Ideologieproduzenten, die vielfach einen akademischen Hintergrund hatten, bedienten sich formal wissenschaftlicher Gepflogenheiten. Sie rekurrierten in selektiver Auswahl und ideologiekonformer Interpretation auf seriöse Forschungsbeiträge, denen sie in eklektischer Manier die spekulativen ideologischen Befunde ihrer Parteigänger gleichwertig zur Seite stellten; zudem untermauerten sie ihre vermeintliche wissenschaftliche Vorgehensweise durch Fußnotenreferenzen, und das selbst in den führenden Aushandlungsorganen der Weltanschauung. Bezeichnenderweise wurde der von Theodor Fritsch (1852– 1933) 1887 begründete „Antisemiten Catechismus. Eine Zusammenstellung des wichtigsten Materials zum Verständnis der Judenfrage“ von der 26. Auflage 1907 an bis zur 49. Auflage 1944 (und damit gesichertes Wissen und mithin wissenschaftliche Autorität suggerierend) als „Handbuch der Judenfrage fortgeführt“, das im Rekurs auf die angeblich „jüngsten Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung“ und deren „Erkenntnis über die Unterschiedlichkeit der menschlichen Arten und Rassen“ vorgab, „ein Stück Wissenschaft“ zu sein und „einen Abschnitt der Gesellschaftskunde [zu] behandeln“, um somit „dazu bei[zu]tragen, sachliches Material zu einer vorurteilsfreien Betrachtung der [Juden-]Frage zu liefern.“4 Es ist offensichtlich, dass es Fritsch wie allen Völkischen darum ging, ihrer Ideologie nicht nur den Anstrich von Wissenschaftlichkeit zu geben, sondern die völkische Weltanschauung zu verwissenschaftlichen, sie damit kraft der unumstrittenen Autorität von Wissenschaft und unter Ausnutzung der zeitgenössischen Wissenschaftsgläubigkeit zu plausibilisieren und zu legitimieren und über ihre Parteigänger hinaus völkische Ideologeme, vermeintliche wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse und daraus abgeleitete Forderungen gesellschaftlich annehmbar zu machen. In derselben Weise wie Fritsch argumentierten, agierten und agitierten sämtliche völkische Sachwalter, gleich, ob sie sich die Schaffung eines genuinen deutschen Rechts oder einer spezifischen deutschen Erziehung oder einer sogenannten arteigenen – deutschchristlichen wie neuheidnischen – Religion und so fort auf die Fahnen geschrieben hatten. Von 1933 an wurden diese und weitere völkische Ideologeme in bestehenden oder neu eingerichteten akademischen Disziplinen und in außeruniversitären Einrichtungen zu verwissenschaftlichen gesucht. Das konstitutive rassisch-rassistische Dogma mit seinem dualistischen Prinzip gab den Rahmen vor, sei es einerseits zur Begründung der vermeintlich historisch, von Anbeginn der Menschheitsgeschichte nachweisbaren arisch-(indo-)germanischdeutschen (gleichermaßen intellektuellen wie biologischen) Superiorität und der

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daraus resultierenden Verpflichtung ihrer Bewahrung beziehungsweise Verteidigung in Gegenwart und Zukunft, sei es andererseits zur Diffamierung, Bekämpfung und Verfolgung anderer Völker (und Kulturen), die den Hierarchie- und Ungleichheitsparadigmen zufolge zu niedrigeren und damit bedrohlichen Rassen bzw. im Fall des Judentums zur Gegenrasse erklärt wurden. Der →Antisemitismus war insofern für das völkische Denken fundamental und fungierte als Integrationsideologem, was in der zeitgenössischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Weltanschauung vielfach zur Gleichsetzung von völkisch und antisemitisch führte.

Strategien Völkische Akteure waren auf nahezu allen Wissensgebieten tätig, um sie mit dem ideologischen Imperativ zu durchsetzen. Im Fall der für das Völkische zentralen Germanenideologie konnte sie dabei an die bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts unter Beteiligung der (Alt-)Germanistik, →Volkskunde, Religionsgeschichte, Anthropologie und Prähistorik vollzogene „‚scientification‘ of myth“ anschließen.5 Vor diesem Hintergrund gelang es vereinzelt schon vor dem Ersten Weltkrieg, Vertreter akademischer Fachdisziplinen – wie etwa den (Mit-)Begründer der universitären Vor- und Frühgeschichte (→Prähistorischen Archäologie) →Gustaf Kossinna (1858– 1931) – für die völkische Agenda zu gewinnen. Kossinna, seit 1902 außerordentlicher Professor für deutsche Archäologie an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, propagierte seit um 1910 unter dem Schlagwort „Altgermanische Kulturhöhe“ die „Spitzenstellung [der germanischen Sprachgruppe] innerhalb des vorderasiatisch-europäischen Kulturkreises und letztlich der Weltkultur“. Unter diesem Titel erschien zunächst 1919 im völkisch-religiösen Jenaer Nornen-Verlag eine auf einem Kriegsvortrag zurückgehende Broschüre. Aus ihr ging 1927 wiederum eine in der argumentativen Substanz unveränderte, schmale, bis in die NS-Zeit hinein mehrfach aufgelegte und gleichbetitelte Monographie hervor, die im Gewand eines Volksbuches – dem Untertitel zufolge – „Eine Einführung in die deutsche Vor- und Frühgeschichte“ auf der Grundlage des völkischen Superioritätsparadigmas ist.6 Es „wäre zu wünschen“, resümierte Kossinnas Fachkollege Karl Hermann Jacob-Friesen (1886–1960), daß die „von größter Begeisterung für das Germanentum getragen[e]“ Darstellung und „alle Gedanken“, „in weiteste Schichten eindrängen.“7 Die Übergänge von wissenschaftlicher (archäologischer) und ideologischer Argumentation, und dies gilt grundsätzlich für den Typus des akademisch gebundenen völkischen Wissenschaftlers, waren bei Kossinna fließend. Es ist wenig überraschend, dass Kossinnas 1909 gegründeter „Deutscher Gesellschaft für Vorgeschichte“ von Beginn an – mit Theobald Bieder (*1876), Robert Mielke (1863–1935), Willy Pastor (1867–1933), Ludwig Schemann (1852–1938), Friedrich Seeßelberg (1861–

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1956) und Karl Felix Wolff (1879–1966) – völkische Aktivisten und insbesondere Propagandisten der ex-septentrione-lux-Lehre angehörten und diese und andere völkische Ideologieproduzenten in deren Sprachrohr „Mannus. Zeitschrift für Vorgeschichte“ neben Fachwissenschaftlern publizieren konnten, selbst der von Kossinna scharf kritisierte Ludwig Wilser (1850–1923), der zusammen mit Karl Penka (1847– 1912) die Theorie vom ‚nordischen Schöpfungsherd‘ begründete. In diesem akademisch-weltanschaulichen Umfeld bereitete →Otto Sigfrid Reuter (1876–1945), ein Vordenker des neugermanischen Heidentums, in den 1920er Jahren und mit Unterstützung der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft sein 1934 erschienenes voluminöses Hauptwerk „→Germanische Himmelskunde“ vor, mit dem er den Nachweis einer hochentwickelten, spezifisch germanischen Gestirnenkunde zu erbringen suchte. Von der zeitgenössischen fachwissenschaftlichen Kritik als „fundamentale [s] […] Lebenswerk“ gepriesen,8 wurde ihm dafür auf Betreiben einflussreicher Wissenschaftler wie Franz Josef Hopmann (1890–1975), →Otto Reche (1879–1966), Konstantin Reichardt (1904–1976) und Kurt Tackenberg (1899–1992) von der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig 1939 die Ehrendoktorwürde verliehen. Reuter habe, urteilt Hopmann, einen „wichtigen Beitrag zur Kulturhöhe unserer Ahnen“ geleistet und den Nachweis geliefert, dass der Germane „[f]rei vom semitischen Aberglauben war“.9 Ein Gutachten kam 1947 zu dem Ergebnis, da Reuters Werk „von der Fachwelt als wertvoller Beitrag auf dem Gebiet der Himmelskunde unserer Vorfahren anerkannt wird“ und „völlig frei von militaristischen und nazistischen Gedankengut ist“, die „Ehrenpromotion aufrecht zu erhalten“.10 Das Beispiel Reuter gibt einen Hinweis auf den Umgang mit und das Fortleben von völkischem Denken nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft. Einflussreicher und auch erfolgreicher als zunächst auf das universitäre Milieu verlief die völkische Intervention auf dem Feld der sogenannten Rassewissenschaften, namentlich im Fall der Rassenhygiene, die vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht universitär verankert waren. An deren Etablierung arbeiteten seit der Jahrhundertwende Nicht-Völkische und Völkische gemeinsam. Dafür gibt es eine Reihe von Beispielen wie die 1905 von Alfred Ploetz (1860–1940) gegründete (seit 1910 Deutsche) Gesellschaft für Rassenhygiene und insbesondere die 1910 auf Betreiben der wenige Jahre später einflussreichen akademischen Rassenhygieniker Eugen Fischer (1874– 1967) und →Fritz Lenz (1887–1976) – nach Berlin und München – entstandene dritte Ortsgruppe in Freiburg. Ihr gehörte mit Ludwig Schemann der führende Gobineau-, Lagarde- und Wagner-Apologet und agile völkische Netzwerker an; dessen 1894 entstandene Gobineau-Vereinigung war ein nicht nur-völkisches Sammelbecken von Anhängerinnen und Anhängern Gobineauschen Denkens. Wenige Jahre vor Ploetz’ Initiative hatte der Sozialanthropologe Ludwig Woltmann (1871–1907) nach seiner Metamorphose vom Sozialdemokraten zum völkischen Parteigänger 1902 mit der sozial- und rassenanthropologischen Zeitschrift „Politisch-Anthropologische Revue. Monatsschrift für das soziale und geistige Leben der Völker“ sein eigenes Organ ins Leben gerufen, das wissenschaftlichen Standards minimal verpflichtet und mit rund

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2000 Abonnenten binnen Jahresfrist auch erfolgreich war. Seit 1911 entwickelte sich die Zeitschrift unter dem veränderten, sprechenden Titel „Politisch-Anthropologische Revue (seit 1915 Monatsschrift) für praktische Politik, für politische Bildung und Erziehung auf biologischer Grundlage“ unter der Ägide des fundamentalistischen völkischen Rassenhygienikers Otto Schmidt-Gibichenfels (1861–1933) bis zu seiner Einstellung 1922, dann jedoch nur noch von 800 Abonnenten bezogen, zum Forum „(und zur originären Fundstelle) eines die skurrilsten Blüten treibenden pseudowissenschaftlichen Rassismus“.11 Wie die prähistorischen und rassenhygienischen Beispiele veranschaulichen, gelang es völkischen Wissenschaftsaktivisten, der Forschung verpflichtete Organisationen und deren publizistische Organe zu infiltrieren und in ihnen ihren ideologisierten Theorien und fragwürdigen Erkenntnissen Gehör zu verschaffen, nicht zuletzt auch in der seit 1897 erscheinenden Wochenschrift „Die Umschau“. Ihr Anliegen war es, einem breiten, gebildeten Publikum in kurzen allgemeinverständlichen Beiträgen „eine vollständige und zuverlässige Übersicht über die Fortschritte auf allen Wissensgebieten“ mit Unterstützung „berufene[r] Fachleute“ zu vermitteln.12 Zu diesen „Fachleuten“ zählte der Wiener Ariosoph Adolf Lanz alias Jörg Lanz von Liebenfels (1874–1954), der sich zur Referenz seiner wissenschaftlichen Kompetenz eigenhändig einen Doktortitel zulegte und u.a. in der Zeitschrift sein rassisches Abwehr- und Erneuerungsprogramm vorstellte, über die „neuesten Forschungen auf dem Gebiet der Religionsgeschichte“ berichtete, Wilsers Germanen-Buch als „Meisterwerk methodischer Beweisführung“ ebenso anpries wie das Hauptwerk „Aryavarta“ von Harald Graevell (1856–1932),13 in dem dieser theosophische, buddhistische, nationale und völkische Denkfiguren mit dem Ziel der „Wiederverarisierung“ synthetisierte und dazu vorschlug, „[m]an sollte in schöner Gegend in Deutschland, etwa im Teutoburger Walde, eine grosse [sic!] Erziehungsanstalt errichten für Knaben von edler Geburt aus allen germanischen Ländern. Die schönsten Knaben mit allen Abzeichen der arischen Rasse, ohne jeden körperlichen oder geistigen Fehl, würden da kostenlos zu germanischen Männern erzogen, um später an der Spitze der germanischen Gemeinwesen zu stehen.“14 Teil der Infiltrationsstrategie war ferner die Präsenz der völkischen Weltanschauungsarchitekten bei wissenschaftlichen Veranstaltungen. Auf dem Mitte Oktober 1912 in Hamburg veranstalteten und von der deutschen Tages- und Zeitschriftenpresse rege kommentierten I. Kongress für Biologische Hygiene, eine Folgeveranstaltung blieb Projekt, kamen mehrere Völkische – der Germanenforscher Theobald Bieder, der Düsseldorfer Gymnasialprofessor und Rassenforscher Hermann Gustav Holle (1852–1926), der Rassenhygieniker Heinrich Driesmans (1863–1927) sowie der Ernährungsreformer Gustav Simons (1861–1914) – zu Wort, und mit dem Maler →Hugo Höppener alias Fidus (1868–1948) hielt der prominente Ikonograph der Jugend-, Lebensreform- und völkischen Bewegung einen Abendvortrag mit Lichtbildern über Kunst im „Dienst des aufsteigenden Lebens für die Menschheit“, womit

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er dem alle Lebensbereiche umfassenden völkischen Rassenerneuerungsparadigma Ausdruck verlieh.15

Rezeptionen Die völkischen Anschauungsweisen gerieten von Beginn an in den Blick der akademischen Wissenschaft. Nicht nur in der Historischen Zeitschrift, dem Leitmedium der deutschen Geschichtswissenschaft, wurden seit Beginn des 20. Jahrhunderts (historische) Publikationen aus völkischer Feder rezensiert. Eugen Mogk (1854– 1939), ordentlicher Professor für nordische Philologie in Leipzig, ging mit der Erstauflage von Ludwig Wilsers Buch „Die Germanen. Beiträge zur Völkerkunde“ (1903) scharf ins Gericht, in dem der studierte Mediziner unter anderem im Rückgriff auf Sprachzeugnisse „zu beweisen [suche], daß die Heimat der Indogermanen und aller höheren Kultur nirgends anders als im skandinavischen Norden liege“. Als „Sprachforscher und Historiker ist er ein Phantast“, lautet Mogks Verdikt, um fortzufahren, von „Sprachgesetzen und Sprachentwicklung hat er keine Ahnung, und als Historiker fehlt ihm absolut das Verständnis für historische Kritik.“ Mogk konnte sich nicht vorstellen, dass Wilsers „Darstellung […] Anhänger finden“ würde, worin ihn zwei weitere zweibändige Auflagen widerlegten und womit sich seine „Bitte“ nicht erfüllte, „daß uns W[ilser] mit der Veröffentlichung“ einer erweiterten Ausgabe „verschon[e]“.16 In ähnlicher Schärfe fielen die Urteile über die Massenproduktion des habilitierten, in München lehrenden Historikers Albrecht Wirth (1866– 1936) aus, dem attestiert wurde, dass er nicht als Historiker, jedoch „als Symptom für unsere geistig-wissenschaftliche Lage ernst zu nehmen“ ist.17 Gänzlich anders wurde Ludwig Schemanns 1910 unter dem Titel „Gobineaus Rassenwerk“ veröffentlichte Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des „Essai sur l’inégalité des races humaines“ beurteilt. Der Münchner Ordinarius für Bayerische Landesgeschichte Siegmund Riezler (1843–1927) würdigte Schemann als „eifrigen Dolmetscher und Propheten“ Gobineaus. Ferner lobte er ihn für seine „musterhafte Übersetzung“ des „Essai“ und für „seine große Unparteilichkeit“ im Umgang mit Freunden und Gegnern Gobineaus wie des Essais, um Schemann abschließend (und mit Sympathien für den „geistsprühende[n]“ französischen Diplomaten) zu bescheinigen, „daß er durch sein anziehendes und vortreffliches Buch einen der genialsten und einflußreichsten Geister des 19. Jahrhunderts uns um so vieles nähergerückt“ habe.18 Weniger wohlwollend wurden →Houston Stewart Chamberlains (1855–1927) „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“, die wie Gobineaus „Essai“ und Paul de Lagardes (1827–1891) „Deutsche Schriften“ zum geistigen Fundament völkischen Denkens gehörten, von dem Althistoriker Karl Julius Beloch (1854–1929) in der Historischen Zeitschrift besprochen. Beloch erkannte Chamberlains ideologischen Imperativ, wenn er feststellte, dass „überall mit vorgefaßten Meinungen operiert“ werde. Er verwies des Weite-

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ren kritisch auf den rassentheoretischen „Grundgedanken“, um gleichwohl der „Rassentheorie […] eine große Wahrheit“ zu konzedieren, für Chamberlains Antisemitismus Verständnis zu äußern und seiner eigenen ideologischen Neigung Ausdruck zu geben. Sein Gesamturteil ist zwiespältig: Einerseits bescheinigte Beloch Chamberlain historischen „Dilettantismus“, im Besonderen in Bezug auf die Antike, von der „er […] nicht die leiseste Ahnung“ habe, andererseits galt er ihm als „gebildeter und geistvoller Mann, der vieles gelesen, auch über das Gelesene nachgedacht und sich danach eine geschlossene Weltanschauung gebildet hat. Da er außerdem gewandt schreibt und unsere Sprache in einer bei einem Fremden geradezu bewundernswerten Weise beherrscht, so folgt der Leser seinen Ausführungen mit lebhaftem Interesse und wird das Buch nicht ohne vielfache Anregung aus der Hand legen.“19 Die Wort- und publizistischen Beiträge, Theorien und Schlussfolgerungen der Völkischen blieben seitens der akademischen Wissenschaften nicht unwidersprochen. Wie in der Historischen Zeitschrift fielen die Urteile seitens der akademischen Wissenschaft ambivalent aus. Der offensichtliche ideologische Antrieb wurde erkannt, das Spekulative und die Unwissenschaftlichkeit wurden mit Verve kritisiert. Gleichzeitig zeigte sich wie im Falle Gobineaus und Chamberlains eine mehr oder weniger deutliche Akzeptanz völkischer Grundannahmen, namentlich der Rassentheorie. Doch auch im eigenen Lager erfuhren völkische Akteure mitunter scharfe Kritik wie etwa die aus Guido (von) Lists (1848–1919) abenteuerlichen Runen-Deutungen entwickelte Runenhaus-Theorie von Philipp Stauff (1876–1923), wonach in Fachwerkhäusern Runen mit verborgenen Botschaften identifiziert, gedeutet und der Nachwelt vermittelt werden könnten. Stauff – wie später →Herman Wirth (1885– 1981) – bediente sich in diesem Zusammenhang des ebenfalls von List formulierten, auf Richard Semons (1859–1918) Mnemelehre von der „Existenz erblich gewordener kollektiver Erinnerung“ zurückgehenden und auf die spätere Rassenseelenkunde vorausweisenden Theorems der „Erberinnerung“, dem Freisetzen von im rassischen Unterbewusstsein, das heisst in der Rassenseele bewahrten und in Brauchtum, Mythen, Sagen, Märchen und der Muttersprache sowie der materiellen Kunst verschlüsselt überlieferten Wissens aus vorchristlicher germanischer Zeit.20 Lists „Gedankenspiele [entbehrten] jeder wissenschaftlichen Grundlage“ und „[d]er auf v. List schwörende Stauff ist leider dadurch […] auf böse Abwege geraten“,21 urteilte der prominente völkische Wissenschaftsideologe aus der Abteilung Germanenforschung, Ludwig Wilser. Völkische Autoren reagierten auf Kritik unerschütterlich, selbstbewusst und selbstgewiss. „[E]in Neues, das keinen Anstoß erregt, ist bedeutungslos“, erwiderte der promovierte Biologe und Chemiker →Willibald Hentschel (1858–1947) auf die jahrzehntelange völkische und nicht-völkische Kritik an seiner „Lehre“ planmäßiger Rassezucht.22 Ludwig Wilser wiederum gab seinen Kritikern „den Rat […], meine Lehren, wenn sie wirklich so verwerflich sind, doch durch bessere zu ersetzen und

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so ein für allemal aus der Welt zu schaffen […]. Da mir die Wahrheit über alles geht, würde ich keinen Augenblick zögern, meinen Irrtum einzugestehn [sic!] und solchen Fortschritt der Wissenschaft anzuerkennen.“23 Dazu konnte es nicht kommen, da für Wilser und die Pioniere einer völkischen Wissenschaft die Dogmen der Weltanschauung als, so der Indogermanist Johannes Schmidt (1843–1901) hellsichtig, „Glaubensbekenntnis“ für das völkische Denkkollektiv unwiderlegbar waren.24 Vor dem Ersten Weltkrieg konnten die Völkischen in der universitären Welt nicht Fuß fassen. Sie infiltrierten jedoch mit Hilfe ihrer massenhaften publizistischen Produktion die Öffentlichkeit, zuweilen auch die akademische Wissenschaft, jahrelang mit ihrer Weltanschauung. In der Nachkriegszeit, als völkisch zum „neuen Lieblingswort der Zeit“ und zum – wiewohl vieldeutig verwendeten – „programmatische[n] Schlagwort zahlloser politischer Kräfte, kulturkritischer Theorien und literarischer Richtungen“ avancierte,25 wurde eine Studenten- und Akademikergeneration ausgebildet, die in Teilen mit völkischem Denken zumindest sympathisierte. Das galt auch für einzelne Hochschullehrer wie etwa den Neuzeithistoriker Adalbert Wahl (1871–1957) oder den Philosophen Max Wundt (1879–1963). Als der Marburger Philosoph Erich Jaensch (1883–1940) im April 1933 in einem Frankfurter Vortrag über „Die Wissenschaft und die deutsche völkische Bewegung“ seine Kollegen dazu aufrief, an dieser „Bewegung“ mitzuarbeiten, fügte er seinem Appell den Nachsatz an: „aber diese [sc. Mitarbeit] ist bisher so gut wie ganz ausgeblieben.“26 Dies sollte sich nun schlagartig ändern. Nachdem zunächst mit →Hans F. K. Günther (1891–1968) ein völkischer Ideologe 1930 auf Betreiben des nationalsozialistischen thüringischen Innen- und Volksbildungsministers Wilhelm Frick (1877–1946) in Jena ohne die üblichen akademischen Qualifikationen auf einen für ihn eingerichteten Lehrstuhl für Rassenkunde berufen worden war, begann unmittelbar mit der Machtübertragung an Hitler 1933 in den Universitäten und in neugegründeten nationalsozialistischen Forschungseinrichtungen die Institutionalisierung völkischer Wissenschaft, die unter den Paradigmen der Rassenideologie und des Antisemitismus in sämtliche bestehende und neu entstehende Disziplinen ausgriff. Deren „Propheten“ und „Demagogen“, vor denen Max Weber (1864–1920) schon 1917 grundsätzlich gewarnt hatte, gehörte fortan der „Katheder“.27 Den Boden hatten die „völkischen Systembauer“ und die Multiplikatoren der Weltanschauung über vier Jahrzehnte bereitet.28 →Walter Frank (1905–1945), seit 1935 Leiter des „Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands“, weist in seinem Nachruf auf Ludwig Schemann 1938 darauf hin, wenn er den im Vorjahr mit der Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft ausgezeichneten Freiburger Rasseapologeten in „der Geschichte völkischer Wissenschaft […] einen Ehrenplatz“ zuweist.29

Uwe Puschner

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1 Hermann von Pfister-Schwaighusen, Germanen-Spiegel über alldeutsche Künnen und Sprachen. Gewidmet zum Stiftungs-Feste der Burschenschaft Bruna Sudetia, Wien 1896, S. 8; zu ihm s. NDB Bd. 20, Berlin 2001, S. 338–340. 2 Völkisch, in: Jacob u. Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, bearb. v. Rudolf Meiszner, Bd. 12, Abt. 2, Leipzig 1951, S. 485. 3 Otto Ammon, Die natürliche Auslese beim Menschen. Auf Grund der Ergebnisse der anthropologischen Untersuchungen der Wehrpflichtigen in Baden und anderer Materialien dargestellt, Jena 1893, S. 289. 4 Theodor Fritsch (Hg.), Handbuch der Judenfrage. Eine Zusammenstellung des wichtigsten Materials zur Beurteilung des jüdischen Volkes, Hamburg 190726, S. 6, 14 und 5. 5 Stefanie von Schnurbein, Norse Revival. Transformations of Germanic Neopaganism, Leiden, Boston 2016, S. 251–297, S. 252; grundlegend hierzu Ingo Wiwjorra, Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2006. 6 Heinz Grünert, Gustaf Kossinna (1858–1931). Vom Germanisten zum Prähistoriker. Ein Wissenschaftler im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Rahden 2002, S. 271–274, S. 271. 7 Historische Zeitschrift (HZ) 138 (1928), S. 672 f., 673. 8 Robert Lehmann-Nitsche (1872–1938), in: Zeitschrift für Ethnologie. Organ der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Vorgeschichte 67 (1936), S. 199f. 9 Josef Hopmann, Die wissenschaftliche Leistung von Dr. h.c. Otto Sigfrid Reuter, in: Leipziger Neueste Nachrichten vom 31.1.1939. 10 UAL, Ehrenpromotion 26, Dr. Walter Hesse, Gutachten über die astronomische Tätigkeit von Dr. h.c. Otto Sigfrid Reuter, 14.6.1947. 11 Rolf Peter Sieferle, Rassismus, Rassenhygiene, Menschenzuchtideale, in: Uwe Puschner, Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hg.), Handbuch zur „völkischen Bewegung“ 1871–1918, München u.a. 1996, S. 436–448, 443. 12 Zit. nach Barbara Picht, Die Umschau. Von A wie Anatomie bis Z wie Zoologie: Vertrauen in die Wissenschaft, in: Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hg.), Krisenwahrnehmungen in Deutschland um 1900. – Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im wilhelminischen Reich / Perceptions de la crise en Allemagne au début du XXe siècle. – Les périodiques et la mutation de la société allemande à l’époque wilhelmienne, Bern u.a. 2010, 439–447, 439. 13 Die Umschau. Übersicht über die Fortschritte und Bewegungen auf dem Gesamtgebiet der Wissenschaft, Technik, Literatur und Kunst 8 (1904), S. 978, 9 (1905), S. 604–609, 8 (1904), S. 918, 9 (1905), S. 677 f. 14 Harald Arjuna Graevell, Aryavarta, Leipzig u.a. 1905, S. 81, 26. 15 I. Kongress für Biologische Hygiene. Vorarbeiten und Verhandlungen, Hamburg 1912 (12.-14. Oktober), Hamburg 1913, S. 230. 16 HZ 94 (1905), S. 470f. 17 HZ 121 (1920), S. 339; vgl. auch HZ 117 (1917), S. 515. 18 HZ 106 (1911), S. 600–609, 600, 609, 604. 19 HZ 88 (1902), S. 479–482, 479, 480, 481. 20 Hierzu Ingo Wiwjorra, In Erwartung der „Heiligen Wende“ – Herman Wirth im Kontext der völkisch-religiösen Bewegung, in: Uwe Puschner/Clemens Vollnhals (Hg.), Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 2012, S. 399–416, S. 411. 21 Ludwig Wilser, Die Germanen. Beiträge zur Völkerkunde, 2 Bde., Leipzig 19193, Zit. Bd. 2, S. 215. 22 Willibald Hentschel, Varuna. Das Gesetz des aufsteigenden und sinkenden Lebens in der Völkergeschichte, 3 Tle., Leipzig 1924/254, 3. Tl., S. 186.

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23 Dr. med. Wilser-Heidelberg wider Prof. Dr. Schmidt-Berlin, in: Zeitschrift für wissenschaftliche Kritik und Antikritik 1 (1900), S. 77–79, S. 79. 24 Ebd., S. 79 25 Julius Goldstein, Deutsche Volks-Idee und Deutsch-Völkische Idee. Eine soziologische Erörterung der Völkischen Denkart, Berlin 19282, S. 7; Martin Broszat, Die völkische Ideologie und der Nationalsozialismus, in: Deutsche Rundschau 84 (1958), S. 53–68, 56. 26 Erich Jaensch, Die Wissenschaft und die deutsche völkische Bewegung, Marburg 1933, S. 1. 27 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, Berlin 19929, S. 25. 28 Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, hg. von Karlheinz Weissmann, Graz 20056, S. 399. 29 Walter Frank, Ludwig Schemann. Ein Nachruf, in: HZ 158 (1938), S. 217f., S. 218.

 Biographien

_____________________________________________________________________Hektor Ammann  21

Hektor Ammann Hektor Ammann, geboren am 23. Juli 1894 und Spross einer mittelständischen Familie aus dem Kanton Aargau in der Schweiz, hatte Wirtschaftsgeschichte und Geographie in Zürich, Berlin und Genf studiert. Zu seinen akademischen Lehrern zählten die alldeutschen Wissenschaftler in Berlin: der Geograph →Albrecht Penck und der Hanse-Historiker Dietrich Schäfer. Seine Dissertation über die Wirtschaftsverbindungen der Schweizer Messen, worin er 1920 einen positiven deutschen ökonomischen Einfluss postulierte, setzte er jedoch nicht in eine universitäre Laufbahn um, weil sein Habilitationsvorhaben 1928 an verschiedenen Schweizer Fakultäten wegen seiner deutschnationalen Grundhaltung scheiterte. Jedoch war er außerordentlich gut vernetzt und Mitglied diverser historischer Kommissionen und Redakteur der Zeitschrift für Schweizergeschichte. In der Folgezeit widmete er sich hauptsächlich wirtschaftshistorischen Fragen der deutschen und Schweizer Stadt- und Handelsgeschichte. Bis 1936 Mitglied der freisinnig-demokratischen Volkspartei, wurde er nach seinem Austritt im gleichen Jahr Mitglied der Aktionsgemeinschaft Nationaler Aufbau (Redressement National) und profilierte sich germanophil.1 Politisch stand er laut Einschätzung Albert Brackmanns in der „Kampfzeit in München um 1920 herum Adolf Hitler sehr nahe […] und [gewann] dadurch auch Beziehungen zur Nationalsozialistischen Partei […].“2 Diese Beziehung drückte sich darin aus, dass er an der Ausarbeitung der Statuten der NSDAP mitgewirkt haben soll, was bisher aufgrund bereinigter Akten nicht nachgewiesen werden konnte.3 Ammann schlug 1923 eine politische Karriere als Sekretär des zwei Jahre zuvor gegründeten Volksbunds für die Unabhängigkeit der Schweiz ein und agitierte gegen die Völkerbundpolitik der Schweiz. Bereits seit 1923 sind Kontakte zu deutschen Volkstumspolitikern und -wissenschaftlern dokumentiert. In den folgenden Jahren entwickelte er als Verbindungsglied zu jungkonservativen Kreisen in Deutschland eine beachtliche Multiplikatorenfunktion, etwa als er über das „Minderheitenproblem“ auf den Ferienkursen der Universität Marburg im August 1928 sprach neben Ernst Niekisch, Karl Maβmann, Siegfried A. Kaehler, Alfred Baeumler und Ernst Krieck.4 Er knüpfte dabei an die seit 1914 geäußerte Haltung an, wonach die Schweiz durch die italienische Einwanderung ‚überfremdet‘ sei. Seine Ernennung zum Staatsarchivar und zum Leiter der Bibliothek in Aarau erfolgte 1929. 1934 nahm er an der Universität Freiburg i. Br. Lehraufträge über den alemannischen Raum wahr. 1934 trat er in den Verwaltungsrat der Neuen Basler Zeitung ein und besaß Aktienkapital dieser Zeitung, die 1939 wegen NS-Propaganda von der Basler Regierung verboten wurde. Hektor Ammann verfügte als Vertrauensmann der deutschen Volkstumsforschung darüber hinaus in der Schweiz über vielfältige Kontakte. Dieses konservativ-völkische Netzwerk arbeitete eng mit deutschen Volkswissenschaftlern zusammen. Es handelt sich hier um den Deutschschweizerischen Sprachverein (Eduard Blocher), die Schweizerische Vereinigung für Heimatschutz (Gerhard Boerlin), den Volksbund für die Unabhängigkeit der Schweiz (Hektor Ammann), das https://doi.org/10.1515/9783110429893-003

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Mouvement National (Walter Michel) und den Bund nationalsozialistischer Schweizerstudenten.5 Die Kontaktpersonen lassen sich folgenden drei völkisch ausgerichteten Schweizer Medien zuordnen: den Nationalen Heften, der Neuen Basler Zeitung und dem Organ des Volksbunds für die Unabhängigkeit der Schweiz, den Schweizer (ischen) Monatsheften. Die deutschnationalen Organisationen setzten sich zum Ziel, die vermeintliche französische Vorrangstellung und den italienischen Irredentismus in der Schweiz abzuwehren: Eine Schlüsselfunktion übernahm die Vertretung des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA) in der Schweiz und der Deutschschweizerische Sprachverein unter seinem Präsidenten Eduard Blocher. Diesem Sprachverein gehörten sowohl Hektor Ammann und Hans Oehler als auch der Obmann der Schweizerischen Vereinigung für Heimatschutz, Gerhard Boerlin aus Basel, an, der wiederum Kuratoriumsmitglied der →Johann Wolfgang Goethe-Stiftung – die Schwesterstiftung der Stiftung FVS – war. Die Verbindung dieser germanophilen Vereine zum Volksbund für die Unabhängigkeit der Schweiz wurde durch Doppelmitgliedschaften gewährleistet. Hans Oehler und Ammann waren für die Teilredaktion des →Handwörterbuchs des Grenz- und Auslandsdeutschtums vorgesehen.6 Eduard Blocher und Hektor Ammann vereinte die Absicht, in der Schweiz einen germanischen Kulturursprung nachzuweisen. Beide publizierten darüber bereits vor 1918 in der alldeutschen Zeitschrift Deutsche Erde. So versuchte Blocher 1906 den Nachweis zu erbringen, dass die Bevölkerung im Schweizer Jura germanischer Herkunft gewesen sei. Ammann legte Arbeiten über die demographisch bedingte Verschiebung der Sprachverhältnisse im Berner Jura und über die „zunehmende Überfremdung“ der Schweiz durch italienische Fremdarbeiter vor, die die „Eigenart der Schweiz“ gefährde.7 Als deutschnational gesinnter Schweizer Wissenschaftler war Ammann nicht nur Mitglied in der Leipziger →Stiftung für Volks- und Kulturbodenforschung, sondern auch stellvertretender Vorsitzender der →Alpenländischen Forschungsgemeinschaft (AFG) und Mitglied der Abteilung Deutsche Geschichte in der Deutschen Akademie in München.8 Neben →Friedrich Metz und →Theodor Mayer war somit Ammann der bedeutendste Schweizer Vertreter in deutschen Vorhaben und Institutionen, die sich an den alemannischen Sprachraum richteten. Das völkische Paradigma wandelte sich in der Schweiz seit der Jahrhundertwende von rein sprachlichen Fragestellungen im Verlaufe der 1920er Jahre zu historisch-geographischen und rassischen Themen. Ammann suchte auch auf die französische Herausforderung zu reagieren. Er schaltete sich 1928 in den Colmarer Prozess gegen elsässische Autonomisten als Geldgeber ein und überbrachte zusammen mit →Eugen Wildi 100.000 Schweizer Franken an Robert Ernst vom „Bund deutscher Westen“ für den Verlag Erwinia.9 Das Auswärtige Amt in Berlin unterstützte die Schweizer Monatshefte materiell. Hans Oehler als deren Schriftleiter war während der 1920er Jahre Mitglied der Arbeitsgemeinschaft deutscher Zeitschriften für die Interessen des Grenz- und Auslandsdeutschtums. Dieses durch →Rudolf Pechel ins Leben gerufene jungkonservative Gremium von Medienvertretern flankierte während

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der Weimarer Republik die deutsche auswärtige Kulturpolitik durch politische Grenzlandarbeit. Während der NS-Zeit publizierten die Schweizer Monatshefte Themen, die die NS-Kultur als Vorbild für die Schweiz favorisierten, indem elsässische Nationalsozialisten ihre Kulturanschauung ausbreiteten.10 Ammanns Vorliebe für das ‚bedrohte‘ Grenz- und Auslandsdeutschtum schlug sich nicht nur in Artikeln in der jungkonservativen Zeitschrift Deutsche Rundschau nieder, die von Rudolf Pechel herausgegeben wurde, sondern auch in den Schweizer Monatsheften bekämpfte Ammann vorzugsweise den italienischen Faschismus und dessen irredentistische Politik im Tessin und in den Schweizer Italienerkolonien.11 Tatsächlich war Ammann schon seit März 1938 wegen seiner Kontakte nach Deutschland unter steigenden Legitimationsdruck geraten,12 so dass Reichsarchivdirektor →Albert Brackmann in Erwägung zog, seinen Archivar aus der Schweiz abzuziehen. Ammanns moderate Haltung gegenüber einer schweizerischen NSDAP ist angesichts der Verschränkung mit führenden reichsdeutschen Wissenschaftlern und Politikern erklärbar. Das folgende Zitat einer Notiz über ein Gespräch des SSHauptsturmführers Hans Schwalm mit dem befreundeten Bonner Landeskundler →Franz Petri unterstreicht die politische Bedeutung Ammanns: „Des weiteren lobte er [Franz Petri] sehr Ammann, auch gegen meine [Schwalms] Bedenken. Er sei nach seiner Ansicht wirklich bewusst volksdeutsch und habe seinerzeit eine Professur ausgeschlagen, weil ihm ein schweizerisches Glaubensbekenntnis abverlangt worden sei. Daß Ammann den Kreis um [Hans] Oehler, zu dem auch [Matthias] Zander gehört, negativ beurteilt, erklärte er dadurch, daß Ammann derartige Versuche, einen schweizerischen Nationalsozialismus zu begründen, für verfrüht halte und der Ansicht sei, daß dadurch nur die Gegenkräfte vorzeitig mobilisiert würden. […].“13 Diese Aussage ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass in der Schweiz die vom Deutschen Reich finanzierte wissenschaftspolitische Arbeit durch das Verbot der Schweizer Landesgruppenleitung der NSDAP 1936 infolge der Ermordung ihres Schweizer Landesgruppenleiters Wilhelm Gustloff in Davos nachhaltig beeinträchtigt worden war. Eine wissenschaftliche, gesamtdeutsche Ziele verfolgende Zusammenarbeit mit Schweizern war danach auch angesichts der von der AFG wahrgenommenen Vorsichtsmaßnahmen 1938 nicht mehr in diesem Ausmaß möglich; sie musste auf eine neue Grundlage gestellt werden. Ammann, der regelmäßig an Vorstandssitzungen der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften (VFG) in Berlin teilnahm, an denen das auch unter maßgeblicher Unterstützung der VFG zustande gekommene Münchner Abkommen gewürdigt wurde, sah sich nach seiner Rückkehr in die Schweiz 1938 „verpflichtet“, über seinen Besuch bei „alten Freunden“ einen Stimmungsbericht an Bundesrat Giuseppe Motta zu erstatten. Er betonte darin, Hitler sei der „Schweiz immer recht günstig“ gesonnen gewesen. Ammann bestätigte die ‚offizielle‘ deutsche Politik gegenüber der Schweiz, dass das Deutsche Reich keine „aktive Politik“ betreibe. Die Befürchtung der Schweizer, so folgerte Ammann, „dass der deutsche Nationalismus [sic!] auch nach unserm Lande greifen könnte“, würden in Deutschland „halb belustigt

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und halb empört“ verfolgt. Deshalb empfahl Ammann bereits 1938, die Schweizer Presse solle gegenüber Deutschland eine neutralere Position einhalten, denn die „ständige weitgehende Kritik an den inner[e]n deutschen Verhältnissen“ werde mit zunehmender „Erbitterung“ auch unter „unpolitischen Militärs“ registriert. Ammann schlug vor, gegenüber dem Deutschen Reich eine Art Appeasement-Politik zu verfolgen. Er plädierte wiederholt für eine Annäherung der schweizerischen Außen-, Wirtschafts- und Medienpolitik an das Deutsche Reich.14 1940 legte Ammann jegliche Zurückhaltung ab, als er zu den Erstunterzeichnern der „Eingabe der 200“ gehörte, weil er die politische Annäherung der Schweiz an das Deutsche Reich nun öffentlich befürwortete. Obwohl seine Korrespondenz von Bern aus überwacht wurde, hielt er seine Verbindungen zum Deutschen Reich aufrecht. Ammann war damit einer der bedeutendsten Vertrauensmänner der deutschen Volkstumspolitik in der Schweiz, zumal die diplomatischen Schweizer Landesvertretungen in Köln und Berlin nicht über die entsprechenden Informationskanäle wie Ammann verfügten. Er gilt in der schweizerischen Historiographie noch immer zu Unrecht als umstrittene konservative Figur, obwohl seine Kontakte nach Deutschland und den Nationalsozialisten bekannt sind. Es gelang ihm wichtige Verbindungen zu verschleiern, so etwa diejenigen zum Sudetendeutschen Konrad Henlein, dem Präsidenten der Stiftung FVS in Hamburg, den er schon in den 1920er Jahren in der Schweiz kennen gelernt hatte, diejenigen zu →Hans Steinacher genauso wie die Kontakte zu Klaus Hügel. Er verfügte damit über zentrale Schnittstellen zum deutschen Netzwerk der Forschungsförderung, zur Forschung und zu politischen Ämtern.15 Ammanns Kontakte in den Machtbereich der deutschen Nationalsozialisten reichten weit: Er traf sich zusammen mit weiteren Vertretern des Volksbundes für die Unabhängigkeit der Schweiz wiederholt mit dem zuständigen Chef des SD-Auslandsnachrichtendienstes in Stuttgart und Leiter des Alemannischen Kreises, Klaus Hügel. Dem Politischen Departement waren zwar die Zusammenkünfte am 23. September 1940 in Zürich mit anderen schweizerischen Persönlichkeiten wie Heinrich Frick, Caspar Jenny und Andreas Sprecher bekannt geworden, nicht hingegen die Funktion Klaus Hügels. Thematisiert wurde unter anderem eine verstärkte Orientierung über Deutschland, indem Reisen von Schweizer Journalisten nach Deutschland gefördert werden sollten. Deutlich war hingegen der Standpunkt der deutschen Delegation, die eine größere Befürwortung der deutschen Position beim Krieg gegen England verlangte. Die Schweiz würde genauso behandelt wie Belgien oder Rumänien, andernfalls wolle man von deutscher Seite die wirtschaftlichen Sanktionen gegen die Schweiz intensivieren. Es sei aber das Interesse Deutschlands, die „Schweiz als Mitarbeiter“ für das Deutsche Reich zu gewinnen.16 Diese Hoffnung auf eine Zusammenarbeit bestand offenbar auf beiden Seiten. Damit erfüllte Ammann trotz aller gegenteiligen Bekundungen jene politische Strategie des NS-Regimes, welche einerseits eine harte Linie gegenüber der neutralen Schweiz führte und einen „Pressekrieg“ in deutschen Zeitungen einleitete, und

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andererseits darauf bedacht war, beschwichtigend mit Pressedemarchen bei der Schweizer Regierung vorstellig zu werden, um eine publizistische Neutralität der Schweiz zu bewirken.17 Eine neutrale Schweiz war für ihn indes kein Thema mehr: als Schweizer Eidgenosse überschritt er damit endgültig rote Linien. Aufgrund seiner leitenden Funktion in den VFG und seiner politischen Betätigung geriet Ammann in der Nachkriegszeit in die Kritik. Er musste sich einem Disziplinarverfahren stellen, obwohl die aargauische Regierung ihn zwischen 1941 bis 1945 wiederholt in seinem Amt bestätigt hatte. Während des Disziplinarverfahrens von 1947 rechtfertigte Ammann seine Mitarbeit in den VFG, dass diese „niemals“ politische Ziele verfolgt hätten: „Die Forschungsgemeinschaften waren“, so Ammann, „gewöhnlich getragen von irgendeinem wissenschaftlichen Institut, so in Westdeutschland vom Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande in Bonn. Sie waren in der Regel finanziert von den verschiedensten Stellen, wie Länder, Provinzen, Städte, wissenschaftliche Stiftungen […] in einem Wechsel von Fall zu Fall. Bei den Tagungen wurden nie politische Probleme behandelt, nur wissenschaftliche. Die Behörden oder Partei traten nie in Erscheinung, auch nicht die örtlichen. Alle Teilnehmer verkehrten auf gleichem Fusse.“18 Ammann, der selbst an Vorstandssitzungen mit Gauamtsleitern und Gaupropagandaamtsvertretern teilnahm, konnte mit dieser kühnen Falschaussage über die unpolitische Tätigkeit der VFG in der Zivilklage Ammanns gegen den Kanton Aargau vor dem Bundesgericht seine Beibehaltung der Bezüge in Höhe von rund 50.000 Schweizer Franken trotz Suspendierung seit 1947 erreichen. Nach seiner Suspendierung durch den Kanton widmete er sich als Publizist zahlreichen Fachbeiträgen und Zeitungsartikeln. Seine umfangreiche Korrespondenz reichte neben Schweizer Historikern nach Deutschland und umfasste dabei hauptsächlich ehemalige NS-Mitstreiter: →Hermann Aubin, Franz Huter, Theodor Mayer, Friedrich Metz, →Wilhelm Koppe, →Johannes Papritz und →Franz Steinbach. Er übersiedelte 1955 auf Initiative von Ernst Plewe und Hermann Aubin an die Wirtschaftshochschule nach Mannheim. 1958 nahm er eine Gastprofessur an der Universität Saarbrücken an, die 1960 in eine Professur für Wirtschaftsgeschichte umgewandelt wurde. Er leitete bis zu seinem Tod 1967 das Institut für Landeskunde im Saarland.

Michael Fahlbusch

1 Markus Enzenauer, Wirtschaftsgeschichte in Mannheim, Das Fach und seine Vertreter an Handelshochschule, Wirtschaftshochschule und Universität, Ludwigshafen 2005; Michael Fahlbusch, Zwischen Kollaboration und Widerstand. Zur grenzüberschreitenden Tätigkeit Schweizer Kulturwissenschaftler in der Region Basel während des Dritten Reiches, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 102 (2002), S. 47–74; ders., Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945, Baden-Baden 1999, S. 303–308, passim; Klaus Urner, Die Gründung der Schweizerischen Monatshefte für Politik und Kultur, in: Schweizer Monatshefte 50 (1971), S. 1064–1078. Vgl. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/

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D4256.php (2.1.2016). Zur Aktionsgemeinschaft Nationaler Aufbau vgl. Jürg Frischknecht (Hg. u.a.), Die unheimlichen Patrioten, Zürich 19876, S, 139–154. Seine Nachlässe lagern im STA, AETH sowie im Institut für vergleichende Städtegeschichte in Münster. Vgl. ETHZ, Nl Ammann, Akz 2015, 17, FDP Aarau an Ammann vom 10.10.1936; ebd., Aktionsgemeinschaft Nationaler Aufbau an Ammann vom 27.10.1936. 2 BArch, R 153, 1532, Brackmann an Haering vom 21.2.1940. Außer in den Sitzungsprotokollen der Vorstandssitzungen der VFG oder vereinzelten Korrespondenzen mit deren Leitern finden sich keine Anhaltspunkte zu Ammanns NS-Tätigkeit. 3 Daniel Bourgeois, Das Geschäft mit Hitlerdeutschland. Schweizer Wirtschaft und Drittes Reich, Zürich 2000. Vgl. ETHZ, Nl Ammann Akz 2015, 12, Klaus Urner an Ammann von 1970. 4 ETHZ, Nl Ammann, Akz 2015, 16, Marburger Ferienkurse vom 2.–29.8.1928. 5 Zu Ammanns Engagement bei der Neuen Basler-Zeitung vgl. Hermann Wichers, Die Neue Basler Zeitung 1935 bis 1940 und ihre Entwicklung vom rechtskonservativen Parteiblatt zum frontistischen Organ, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 93 (1993), S. 155–173; Christian Simon, Hektor Ammann – Neutralität, Germanophilie und Geschichte, in: Aram Mattioli (Hg.), Intellektuelle von rechts. Ideologie und Politik in der Schweiz der Zwischenkriegszeit, Zürich 1995, S. 29–53. 6 Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst, S. 391ff. 7 Vgl. Hektor Ammann, Die Italiener in der Schweiz. Ein Beitrag zur Fremdenfrage, Basel 1917, S. 3; ders., Die Sprachverhältnisse des Berner Jura, in: Deutsche Erde 13 (1914), S. 191–202; Deutsche Erde 14 (1915), S. 2–14. Zum diskursiven Hintergrund vgl. Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst, S. 321–330, 684, 8 BArch, ehem. BDC, Personalakte Hektor Ammann, Deutsche Akademie. 9 Der Erwinia-Verlag wurde gegründet und getragen von Autonomisten, die sämtlich dem klerikalen Flügel (Katholiken) zuzurechnen sind. Darunter finden sich sowohl rechtskonservative Personen, wie auch solche, die mehr oder weniger als rechtsextrem einzustufen sind. Vgl. Philip Charles Farwell Bankwitz, Alsatian Autonomists Leaders 1919–1947, Lawrence 1978, S. 21; Der KomplottProzess von Colmar vom 1.–24. Mai 1928, gesammelte Verhandlungsberichte, Colmar 19282, S. 55, 64; vgl. auch Miles Kleeb, Spionage in Zofingen, Die Kontakte von Eugen Wildi 1926–1939, PH FH Nordwestschweiz, Aarau 2008. 10 Vgl. Julian Schütt, Germanistik und Politik. Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus, Zürich 1996, S. 112; Klaus Dieter Zöberlein, Die Anfänge des deutschschweizerischen Frontismus. Die Entwicklung der politischen Vereinigungen „Neue Front“ und „Nationale Front“ bis zu ihrem Zusammenschluß im Frühjahr 1933, Phil. Diss. Marburg 1969, S. 124–148. Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst, S. 312f., 683–687. 11 Vgl. AETH, Nl Ammann, Zeitungsausschnittsammlung. Der Fall Dr. Hektor Ammann, in: Basler Nachrichten vom 31.12.1945. 12 Ebd. VIII 205, Beantwortung der Interpellation Kohlers im Großen Rat des Kantons Aargau vom 6.3.1939, sowie die Stellungnahme Ammanns vom 15.6.1938. 13 BArch, R 173, 148, Bericht über die Besprechung mit Dr. Petri in Köln vom 29.10.1937, erwähnt nach Hans Schwalm im Protokoll dieser Besprechung. 14 BArch Bern, E 2001, D-3 B.46.A.10., Bd. 285, Ammann an Motta vom 2.11.1938; vgl. dazu Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst, S. 349, 389; 72, 79, 143, 185, 198, 251, 298, 303ff., 378; ders., Zwischen Kollaboration und Widerstand, S. 64ff. 15 AETH, VIII 159, Beschwerdeantwort Ernst Steiners beim Schweizer Bundesgericht vom 15.11.1946. Bourgeois hat auf die Verbindungen des VDA mit dem Volksbund für die Unabhängigkeit der Schweiz hingewiesen, die seit den 1920er Jahren bestanden. Vgl. Daniel Bourgeois, Le Troisième Reich et la Suisse, Neuenburg 1974, S. 19ff., 41ff., 143ff., 200ff.

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16 BArch Bern, E 2001, D-3 B.46.A.21.1., Bd. 290, Politisches Departement an O. Gloor vom 15.10.1945. Vgl. Bericht des Regierungsrates Basel-Stadt über die Abwehr staatsfeindlicher Umtriebe in den Vorkriegs- und Kriegsjahren sowie die Säuberungsaktion nach Kriegsschluss, Basel 1946. Die politische Beeinflussung der schweizerischen Presse im Vorfeld des siegreichen Abschlusses des Frankreichfeldzuges durch die deutsche Gesandtschaft in Bern erfolgte indes schon im Juli 1940. 17 Vgl. Edgar Bonjour, Geschichte der Schweizerischen Neutralität. Vier Jahrhunderte eidgenössischer Außenpolitik, Bd. V: 1939–1945, Basel 19712, S. 161–238. 18 AETH, Nl Ammann, VIII 161 und 162, Zivilklage Ammann gegen Kanton Aargau vom 30.8.1947, S. 41ff., Antwort vom 13.12.1947 und Replik Ammanns vom 29.4.1948.

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Fritz Arlt Fritz Rudolf Arlt wurde am 12. April 1912 in Niedercunnersdorf (heute Kreis Görlitz) in der sächsischen Oberlausitz geboren und schloss sich als Schüler in Bautzen der Wandervogel-Bewegung und 1929 der Hitler-Jugend (HJ) an. Von 1930 bis 1932 war er als HJ-Jungvolksbezirksführer Ostsachsen tätig. Gleichzeitig wurde er ehrenamtliches und 1932 gewöhnliches Mitglied der NSDAP (Nr. 1.376.685). Zwischen November 1932 und 1934 war er zudem Mitglied der SA. Zudem trat er 1930 dem NS-Schülerbund (NSS) und später dem NS-Deutschen Studentenbund (NSDStB) bei.1 Arlt studierte seit 1932 Anthropologie, Soziologie Theologie und Volkswirtschaft in Leipzig.2 Dort wurde er allerdings wegen der Teilnahme an einer von der SA provozierten Schlägerei mit der Polizei von der Universität suspendiert. Nach der Machtübernahme setzte er sein Studium problemlos fort.3 1934 übernahm er die Stelle des Leiters des Kreisamtes für Rassen- und Bevölkerungspolitik im Kreis Leipzig. Er befasste sich mit statistischen Auswertungen der jüdischen Einwohner des Kreises sowie quantitativen Analysen bezüglich des Stammbaums Leipziger Juden4, wodurch er die Aufmerksamkeit der Sicherheitsdienstes der SS (SD) und Adolf Eichmanns mit seinem Juden-Referat auf sich zog.5 1936 promovierte Arlt an der Universität Leipzig bei Arnold Gehlen über das Thema „Die Frauen der altisländischen Bauernsagen und die Frauen der vorexilischen Bücher des Alten Testaments, verglichen nach ihren Handlungswerten, ihrer Bewertung, ihrer Erscheinungsweise, ihrer Behandlung: ein Beitrag zur Rassenpsychologie“, mit der er die Basis für eine steile Parteikarriere garantierte. Im Januar 1937 trat er eine Stelle als Gauamtsleiter für Rassen-, Sippen- und Bevölkerungspolitik bei Gauleiter Josef Wagner in Schlesien an. Zugleich war er Assistent Martin Staemmlers, eines Pathologen und Anatomen sowie ausgewiesenen Rassenkundlers an der Universität Breslau. Dort hielt Arlt einen Lehrauftrag zur Bevölkerungslehre und Bevölkerungsstatistik.6 Beide Wissenschaftler kannten sich von der Leipziger Universität her, wo Staemmler am Ende der 1920er-Jahre einen Lehrstuhl innehatte. Von 1938 bis 1942 war Staemmler Rektor der Universität Breslau. Dies vergrößerte den Handlungsspielraum Arlts beträchtlich. Er veröffentlichte einige antisemitische Aufsätze, die die Grundlage für die Zusammenarbeit mit →Egon Freiherr von Eickstedt und →Hermann Aubin in der NOFG legten. Seit 1937 war er verheiratet und hatte zwei Kinder.7 Im Juni 1937 wurde Arlt in die SS aufgenommen und erhielt den Rang eines SSUntersturmführers. In Breslau wurde er im Führungsstab des dortigen SS-Oberabschnittes eingesetzt, wo er den Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) Süd-Ost, Erich von dem Bach-Zelewski, kennenlernte.8 Aufgrund von Auseinandersetzungen hinsichtlich der Kompetenzen über die Bevölkerungspolitik zwischen dem Gauleiter Wagner und von dem Bach verschärften sich die Beziehungen zwischen den beiden nach dem Kriegsausbruch und dem Anschluss der polnischen Gebiete an die Provinz Schlesien. Die Tatsache, dass Arlt eine gemeinsame Sprache mit Bach-Zelewski

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fand, lässt sich am schnellen Aufstieg des jungen Akademikers innerhalb der SS beurteilen. Am 11. September 1938 wurde er zum SS-Obersturmführer ein Jahr später zum SS-Hauptsturmführer befördert. Parallel dazu ernannte ihn Wagner 1938 zum Beauftragten für Sippenforschung und Sippenkunde der Provinz Schlesien. Arlt übernahm damit die Leitung der Gauarbeitsgruppe für Sippenforschung. In Breslau setzte er seine in Leipzig erarbeiteten statistischen Methoden in den Untersuchungen an der jüdischen Gemeinde fort.9 Bis November 1939 nahm Arlt als Infanterist am Polenfeldzug teil.10 Die Umstände seiner Ernennung zum Beauftragten des Rassenamtes der NSDAP sowie zum Leiter der Gruppe Bevölkerungswesen und Fürsorge in der Abteilung Innere Verwaltung des Generalgouvernements bleiben im Schatten. Nicht klar ist die Funktion dieser Stelle. Er selbst behauptete später, die von ihm geleitete Abteilung sei in erster Linie für die Verpflegung der seit Herbst 1939 aus den „eingegliederten Ostgebieten“ (ehem. Polen) nach dem Generalgouvernement deportierten Polen zuständig gewesen. Er unterhielt dabei enge Kontakte zum Polnischen Roten Kreuz und dem Polnischen Hilfskomitee sowie zu Vertretern der polnischen und ukrainischen Intelligenz: Graf Adam Ronikier, Wolodymir Kubijowytsch und der Organisation OUN. Zudem traf er sich mit Mitgliedern der jüdischen Ältestenräte in Krakau. Umstritten ist, inwieweit Arlt mit dem deutschen Geheimdienst zusammenarbeitete. Offenbar fungierte er ähnlich wie →Theodor Oberländer aktiv bei der Bildung der ukrainischen Legionen, die für den Kampf gegen die UdSSR vorgesehen waren.11 In seinen Memoiren exkulpiert sich Arlt, dass er aus dieser Stelle entlassen worden sei, wegen seiner zu gemäßigten Einstellung diesen Völkern gegenüber. Unklar bleibt dabei, ob er sich mit den zuständigen Vorgesetzten überworfen hatte: Er soll sich den Befehlen des HSSuPF SS-Obergruppenführers Friedrich Wilhelm Krüger des Befehlshabers der Sipo und des SD in Krakau, SS-Brigadeführer Bruno Streckenbach, sowie den Befehlen Himmlers widersetzt haben. Der Reichsführer-SS soll im Mai 1940 persönlich bei Hans Frank verlangt haben, Arlt abzulösen. Jedoch hob Arlt seine „theoretische und praktische Verständigung“ mit dem damaligen Gouverneur des Distrikts Krakau und späterem Gouverneur des Distrikts Galizien, Otto von Wächter, hervor, der die NS-Vernichtungspolitik in beiden Regionen Ostpolen förderte.12 Diese Selbstexkulpierung Arlts, die offenbar auf eine Spannung zwischen Himmler und Arlt hindeutet, bleibt ohne faktische Belege. Dokumentiert ist stattdessen, dass Arlt sich in seiner Dienstzeit im Generalgouvernement als NS-Funktionär bewährt habe, wie der Beurteilung seines damaligen Vorgesetzten Fritz Siebert zu entnehmen ist. Er lobte Arlt besonders für seine Beteiligung bei der Umsiedlung der Volksdeutschen aus Ostgalizien und Wolhynien im Winter 1939/1940.13 Arlts Versetzung nach Schlesien ging eine Neuordnung des Gaues Schlesien voraus, der zu diesem Zeitpunkt auf die beiden Gaue Niederschlesien und Oberschlesien aufgeteilt war. Zudem kam die Entlassung des bisherigen Gauleiters und Oberpräsidenten Wagner, der nicht nur in Ungnade bei Himmler gefallen war, sondern

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auch den Zorn Hitlers auf sich gezogen hatte. Wagner verlor beide Posten. Im Sommer 1940 wurde er de facto von seinem früheren Stellvertreter Fritz Bracht abgelöst. Der wiederum entließ im August 1940 den bisherigen Stabschef des Beauftragten des RKF Bruno Müller-Altenau, der vermutlich früher Wagner unterstützt hatte. Am 12. August 1940 wandte sich HSSuPF von dem Bach an Ulrich Greifelt mit der Bitte, Arlt zum SS-Sturmbannführer zu befördern.14 Arlt kam in Kattowitz während der Vorbereitungen zur „Aktion Saybusch“ an. Das Unternehmen war schon im späten Frühling 1940 vom damaligen HSSuPF von dem Bach, vom Inspekteur der Sipo und des SD in Breslau, Arpad Wiegand, sowie dem RSHA (Referat Adolf Eichmann) vereinbart worden. In die mit der Aussiedlung der Polen und Ansiedlung der volksdeutschen Umsiedler aus Ostgalizien getroffenen Maßnahmen waren auch die Provinzialbehörden involviert. Arlt arbeitete sich in das neue Sachgebiet ein und baute seine RKF-Strukturen sowohl in der Kattowitzer Zentrale als auch auf der Kreisebene aus. Wichtig waren seine Kontakte zum Direktor der Schlesischen Landgesellschaft mbH, Friedrich Borkenhagen, sowie dem Direktor der oberschlesischen Filiale der Ostdeutschen Landbewirtschaftungsgesellschaft mbH Walter Ruppert, die für die Frage der Enteignung der Polen und der finanziellen und materiellen Unterstützung der Ansiedler während der ersten Jahre ihres Aufenthaltes in den eingegliederten Ostgebieten zuständig waren.15 Fritz Bracht zeigte kein besonderes Interesse an der Bevölkerungspolitik und überließ die Einordnung der Bevölkerung nach der →Deutschen Volksliste (DVL) seinen Spezialisten. Die ortsansässigen Oberschlesier wurden als „Zwischenschicht“ bezeichnet, die seit 1941 aus wirtschaftlichen Gründen – Schutz der Arbeiter und der Fachleute – meistens der III. Gruppe der DVL zugeordnet wurden, um das Produktionsniveau in den oberschlesischen Werken aufrechtzuerhalten.16 Seit März 1941 vergrößerte sich Arlts Einfluss immens, da Erich von dem Bach – der als HSSuPF für Gebiet Russlands vorgesehen war – durch SS-Obergruppenführer Ernst Heinrich Schmauser abgelöst wurde. Schmauser konzentrierte sich mehr auf die Lage in Bayern (Franken), und insbesondere auf Nürnberg, wo er seit 1936 den SS-Oberabschnitt leitete.17 Arlt baute nun seine Position im RKF in der Bevölkerungspolitik im Gau Oberschlesien aus, zumal er auch mit der Exekutive ausgestattet war. Es ist umstritten, wie tief Arlt in den Ausbau des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau verstrickt war. Es bestehen gewisse Anzeichen dafür, dass er sich an der Aussiedlungsaktion der polnischen Bevölkerung im Zusammenhang mit der Errichtung des Lager Auschwitz II im Frühjahr 1941 beteiligt hat.18 Aus den Richtlinien und Anweisungen des RSHA ist zu entnehmen, dass mit Aussiedlungsmaßnahmen den Polen gegenüber sowie mit der Ghettoisierung der Juden nicht der RKF, sondern die Gestapo und der SD (Umwandererzentralstellen, von denen am Anfang des Jahres 1941 auch in Kattowitz eine gegründet wurde) beauftragt waren. Seit Sommer 1940, als in den eingegliederten Ostgebieten die politischen Verhaftungen nachließen (sie waren im Laufe des Herbst 1939 und des Frühlings 1940 durchgeführt wor-

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den), waren Aussiedlungen und Deportationen nicht mehr sicherheitspolitischer, sondern raumplanerischer Natur und fielen damit in die Kompetenz des RKF-Apparats. Ohne die Ansiedlung wäre keine Aussiedlung nötig gewesen. Polen, die Boden und Bauernhöfe besaßen, waren von der Aussiedlung besonders betroffen.19 Arlts Funktionen umfassten nunmehr: Gauamtsleiter Rassenpolitisches Amt Oberschlesien (früher Gauamt für Rassen- Sippen und Bevölkerungspolitik); Gauamtsleiter Gaugrenzlandamt (in Herbst 1943 unbenannt in Gauamt für Volkstumsfragen); Gauführer Bund Deutscher Osten; Gauschulungsleiter; Leiter des Zentralinstituts für oberschlesische Landesforschung der Provinz Oberschlesien mit Sitz in Kattowitz. Im Frühling 1943 wurde er zum Provinzialrat der Provinz Oberschlesien ernannt.20 Im Herbst 1942 beurteilte das Hauptamt für Volkstumsfragen der Reichsleitung der NSDAP die Lage in Oberschlesien wohlwollend, da „SS-Sturmbannführer Dr. Arlt schon von jeher Leiter sämtlicher Dienststellen war, die sich mit volkstumsmässigen Aufgaben befassen und gegen dessen Person auch von keiner Seite Aufwendungen (sic!) erhoben wurden.“21 Seit der Übernahme seiner Rolle beim RKF entwickelte Arlt in der Kriegszeit mehrere sozial- und bevölkerungspolitische Ziele hinsichtlich der Neuordnung Oberschlesiens in einem künftigen Großdeutschen Reich. Das erste war die Germanisierung der „Zwischenschicht“, etwa eine Million Menschen, knapp ein Viertel der Bevölkerung der Provinz Oberschlesiens, die sich weder der deutschen, noch der polnischen Nationalität zuordnen ließen, und als „Wasserpolen“ beziehungsweise „Volksdeutsche“ bezeichnet wurden. Da diese überwiegend in oberschlesischen Dörfern wohnten, beabsichtige Arlt sie in die Städte umzusiedeln und zu germanisieren. Der RKF-Stabschef erwog lediglich, den in die Städte umgesiedelten Vertretern des sogenannten Industriearbeiterbauerntums eventuell ein kleines Grundstück in der Form von Gärten zuzuweisen.22 Arlts zweites Ziel verfolgte die sozialpolitische Umstrukturierung Oberschlesiens. Die Umgesiedelten sollten mit der Ansiedlung in der Stadt in die Arbeiterklasse umgeschichtet werden. Arlt sprach von einer „bäuerlich-industriellen Verzahnung“ und meinte damit Lohnarbeiter und Tagelöhner, die vom Land in die benachbarten oder auch entfernteren Städte zogen, da wegen der kleinen Parzellen der Ertrag nicht ausreichte, um die Familie zu versorgen. Solch eine prekäre Lage wirke sich negativ auf vier Lebensgebiete aus. Erstens seien die Pendler erschöpft und in den Fabriken nicht leistungsfähig; zweitens bauten sie durch die Arbeitsüberlastung schneller als gewöhnliche Fabrikarbeiter ab; drittens seien Frauen, die sich inzwischen selbst um die Landwirtschaft kümmerten, den kräftemäßigen Anforderungen nicht gewachsen, was wiederum ihre Fruchtbarkeit beeinträchtige. Viertens würden durch die Berufspendler die Verkehrsmittel samt Infrastruktur unnötigerweise belastet. Darüber hinaus sei das Industriearbeiterbauerntum mehrheitlich dem polnischen Staat freundlich gesonnen, womit die Zersplitterung dieser Gruppe auch sicherheitsmäßig begründet sei.23

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Arlts Schätzungen zufolge umfasste das Problem der „Verzahnung“ bis 75% der Bevölkerung und 65% der Fläche der Provinz. Besonders betroffen seien die Stadt Zabrze samt Umgebungen sowie der Kreis Saybusch. Günstiger stellte sich dagegen die Lage in einigen Kreisen des Regierungsbezirkes Oppeln (Leobschütz, Neisse, Neustadt, Grottkau) dar, wo die ursprüngliche Trennung zwischen dem Dorf und der Stadt erhalten geblieben war. Obwohl Arlt in seinen sozioökonomisch-rassistischen Untersuchungen einer Verstädterung der Dörfer entgegenzuwirken plante, erkannte er, dass die Zukunft Oberschlesiens in dem Ausbau der Städte und nicht in Landwirtschaft lag.24 Von Herbst 1940 bis Frühling 1943 erhielt Arlt aus Berlin Befehle und Richtlinien und von ihm untergebenen Außenstellen Meldungen und Berichte bezüglich der Kolonisation des industriellen Oststreifens der Provinz Oberschlesien. Er traf Entscheidungen, verfasste Anordnungen Brachts oder beteiligte sich an deren Erarbeitung. Darüber hinaus genehmigte er Maßnahmen, die durch die Kreisdienststellen des RKF-Beauftragten oder durch lokale Bodenämter eingeleitet worden waren. Es handelte sich dabei um Beschlagnahme der polnischen und jüdischen Vermögen sowie um die Ansiedlung der deutschen Kolonisten, insbesondere aus Ostgalizien (Lemberg, Stryj), sowie aus dem Buchenland (Czernowitz, Kimpolung, Gora Humora). Die ihm untergeordneten Angestellten beschäftigten sich weiterhin mit der Zusammenlegung der Grundstücke und mit landwirtschaftlichen Verhältnissen. Eine enge Zusammenarbeit erfolgte mit dem Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft und mit den maßgeblichen Abteilungen innerhalb der Provinzial- und Regierungsbezirksverwaltungen.25 Zwischen 1940 und 1943 lag der Schwerpunkt der An- und Aussiedlungsmaßnahmen im südlichen und nördlichen Teil der Provinz Oberschlesien. Aus jenen Landkreisen, wo Arlts SS-Männer, unterstützt durch die Polizei, die deutschen Umsiedler in ihre „neuen Höfe“ eingewiesen hatten, wurden in Jahren 1940 und 1941 rund 22.000 Polen nach dem Generalgouvernement deportiert. Bis Ende des Jahres 1942 wurden weitere 60.000 intern umgesiedelt, also mehrere Familien in ein Haus zusammengedrängt oder in sogenannten Polenlagern untergebracht, die in den Provinzen Ober- und Niederschlesien errichtet worden waren, nachdem im Frühling 1941 Hans Frank kategorisch neue Transporte mit Polen aus den eingegliederten Ostgebieten abgelehnt hatte. Bis Ende 1942 gelang es Arlt, seinem Vertreter Helmut Stutzke sowie dem Ansiedlungsabteilungsleiter Hans Butschek, zirka 40.000 Umsiedler in Ostoberschlesien in Dörfer anzusiedeln.26 Die steigenden Verluste an der Ostfront schwächten auch die Personal-Ressourcen von Arlts Dienststelle. Bis Ende 1942 musste Arlt 107 RKF-Mitarbeiter der Wehrmacht und Waffen-SS abgeben.27 Im Frühling 1943 erklärte Arlt, freiwillig zur Waffen-SS zu wechseln; nach dem Krieg deutete Arlt seine Einberufung dahingehend, um sich als Opfer darzustellen. Im Laufe des Krieges hatte der junge Anthropologe Gelegenheit, sich persönlich mit seinem höchsten Vorgesetzten zu treffen. Während Himmlers Besuch in Ober-

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schlesien im Sommer 1941 berichtete Arlt ihm über den Fortschritt des Ansiedlungsverfahrens der Ostgalizien-Deutschen und über die bevorstehende Ankunft der Buchenlanddeutschen. Doch erst das nächste Treffen sollte, so Arlt, Misstrauen, ja sogar den Ärger Himmlers hervorrufen. Im Herbst 1941 versuchte Arlt Himmler vergeblich zu einer flexibleren und inklusiven Volkstumspolitik den „Slonzaken“ gegenüber zu überzeugen, die ihrerseits die südlichen, sich unter der tschechischen Kultur und evangelischer Glaube befindendes Gebiete der Provinz Oberschlesien bewohnten.28 Dieser angebliche Meinungsunterschied oder gar Streit verhinderte aber nicht, dass Arlt am 9. November 1941 zum SS-Obersturmbannführer befördert wurde.29 Anfang 1943 begegneten sich beide Männer wieder, diesmal in Berlin. Anwesend waren auch Himmlers Stellvertreter Ulrich Greifelt und Rudolf Creutz, mit Arlt erschienen Bracht und Schmauser. Damals habe Himmler, so Arlt, ihm eindeutig gesagt, dass ein Wechsel des oberschlesischen RKF-Stabschefs nötig sei. Die Ursache für eine solche Entscheidung sei seine Abneigung gewesen, einen weiteren Zustrom von Ansiedlern zuzulassen sowie die Intention Arlts, die Mischbevölkerung Oberschlesiens an Ort und Stelle zu germanisieren, anstatt sie ins Reich zu schicken. Angeblich unterstützten Bracht und Schmauser seine Sicht, was aber an der Entschlossenheit Himmlers und seiner Berater endgültig scheiterte.30 Tatsächlich lobte der Gauleiter seinen inzwischen in die Waffen-SS eingezogenen Untergebenen für die geschickte Zentralisierung der zahlreichen Instanzen unter dem Dach des RKF, weiterhin für die jeweiligen Rücksprachen in allen relevanten bevölkerungspolitischen Fragen, mit der Partei- und Staatsführung, schließlich für die Beteiligung in der Regelung der Kontroversen um die DVL, sowie für „einwandfreiste und sauberste“ Erfassung und Beschlagnahme des polnischen und jüdischen Vermögens.31 Nach seiner soliden Arbeit in Oberschlesien fing Arlt seine Schulung in der Waffen-SS am 1. April 1943 an (den Dokumenten zufolge erst am 25. Mai 1943). Er kämpfte in der 2. SS-Panzerdivision „Das Reich“ in der Zeit der permanenten Rückzugsschlachten in der Ukraine im Sommer und Herbst 1943. Am 18. Februar 1944 wurde er bei Jampol schwer verletzt, was für ihn das Ende des Kampfes im Feld bedeutete. Nach seiner Genesung und der Beförderung zum Sturmbannführer der Waffen-SS wurde er am 22. August 19441944 versetzt. Seine genaue Stelle hieß Hauptabteilungsleiter der Freiwilligenstelle der Amtsgruppe D (sog. Germanische Leitstelle; genannt auch Europaamt) im SS-Hauptamt.32 Seine Aufgabe bestand darin, Ukrainer, Kosaken, Kaukasier und andere östliche Völker für die Waffen-SS anzuwerben und neue Kampfeinheiten zu aufzustellen. Am 1. Oktober 1944 wurde Arlt zum Obersturmbannführer der Waffen-SS befördert. An der Jahreswende 1944/1945 hatte Himmler den weiteren Aufstieg Arlts zum SS-Standartenführer der Waffen-SS mit der Begründung abgelehnt, Arlt sei lediglich 33 Jahre alt.33 Anfang April 1945 verließ Arlt seine Stelle in Berlin und begab sich mit ukrainischen Truppeneinheiten zur Front in die Steiermark. Die letzten Wochen

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des Kriegs verbrachte Arlt in der Gesellschaft des ukrainischen Generals Pawlo Schandruk sowie des Generalfeldmarschalls Ferdinand Schörner und versuchte, sich in die Westalliierte Zone durchzuschlagen, was ihm tatsächlich gelang.34 Wegen des Frontdienstes sowie Einsatzes für Ostlegionen war Arlt mehrmals ausgezeichnet worden.35 1945 war Arlt jung, gut ausgebildet, er beherrschte Fremdsprachen und verfügte über ausgezeichnete Kontakte. Unmittelbar nach dem Krieg bediente er sich falscher Namen und nannte sich Fritz Rose, Fritz Arond und Fritz Werner. In den Jahren 1946 bis 1949 arbeitete er für die deutschen Behörden in Bayern und für das bayerische Deutsche Rote Kreuz als Suchdienst-Experte für das Gebiet Russland. Schon kurz nach Kriegsende ist er auch Berater der amerikanischen Verwaltung in den Ostfragen geworden. In dem Zusammenhang wurde er im Jahr 1945 oder 1946 durch den amerikanischen Geheimdienst erfasst und zur Zusammenarbeit bis 1949 gewonnen, und zwar vermutlich wegen seiner Verbindungen zur Organisation OUN, Wlassow-Armee sowie zu den Vertretern der polnischen Exilregierung.36 1949 wurde er durch das Urteil der Hauptspruchkammer München als „Mitläufer“ eingestuft. In den darauffolgenden Jahren, bis 1953, leitete er ein Forschungsprojekt, um die deutschen Kriegsgefangenen in der UdSSR zu erfassen und die entsprechenden Personenverzeichnisse dem Bundeskanzler für die Verhandlungen mit Moskau vorzulegen. Von 1954 bis zum Ruhestand im Jahr 1975 arbeitete er für das Deutsches Industrie-Institut (inzwischen umbenannt Institut der Deutschen Wirtschaft) in Köln. Darüber hinaus wurde Arlt Mitglied in Leitungsorganen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitsgeberverbände. Er gehörte auch zum Rat der Walter-Raymond-Stiftung. Schließlich war er auch selbstständiger Unternehmer.37 Doch die Vergangenheit des inzwischen erfolgreichen Wissenschaftlers und Analytikers ging nicht spurlos an ihm vorüber. Am 4. Juni 1960 teilte der angesehene Theaterregisseur Thomas Christoph Harlan, der Zugang zu den NS-Dokumenten der Polnischen Volksrepublik erhalten hatte, der deutschen Staatsanwaltschaft mit, dass Fritz Arlt als Mitarbeiter des SS-Führungshauptamtes während des Krieges Straftaten verübt habe, weil er sich bei den von Carl Clauberg durchgeführten Sterilisationsversuchen an Häftlingen des KZ Auschwitz-Birkenau beteiligt habe. Im Zuge des Ermittlungsverfahrens wurde dieser Tatvorwurf fallengelassen, dabei tauchten aber weitere Tatsachen von Arlts Werdegang auf. Erst im Jahr 1961 konnte die Staatsanwaltschaft in Dortmund überhaupt ermitteln, dass Arlt RKFStabschef in Oberschlesien gewesen war. In dem Zusammenhang wurden gegen ihn neue Vorwürfe erhoben, und zwar die Beteiligung an der Ermordung von Juden und Polen durch die Aussiedlung der Juden aus dem Warthegau zum Vernichtungslager im Jahr 1943 sowie die Deportation der Polen nach dem Generalgouvernement im Rahmen der „Aktion Saybusch“.38 Während des Verhörs gab Arlt zu, dass er sich zwar mit der Ansiedlung und Verpflegung der Deutschen, nicht aber mit Aussiedlungsmaßnahmen beschäftigt habe. Gleichzeitig schob er die Schuld für diese Maßnahmen dem Landratsamt des

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Kreis Saybusch und der gewöhnlichen Polizei zu. Weiterhin behauptete er, dass das ihm unterstehende Bodenamt lediglich mit der Erfassung der polnischen und jüdischen Grundstücke, nicht aber mit der Vollstreckung der Beschlagnahme-Verordnungen beauftragt gewesen sei. Die Ermittlungen gegen Arlt wurden 1966 mangels Beweisen eingestellt.39 In den darauffolgenden 30 Jahren blieb der ehemalige SS-Obersturmbannführer unbehelligt, und er konnte seine wissenschaftliche Tätigkeit fortsetzen.40 Erst Ende der 1980er Jahre interessierte sich Götz Aly für ihn, was zu einer teilweise öffentlichen, teilweise privaten Auseinandersetzung über Arlts Verstrickung in die „Endlösung“ führte. 1995 publizierte Arlt schließlich seine Erinnerungen im Verlag Wissenschaftlicher Buchdienst Herbert Taege aus Lindhorst, der schon früh revisionistische Veröffentlichungen herausgegeben hatte. Vergeblich sucht man in Arlts Erinnerungen Hinweise auf die „Aktion Saybusch“. Der Verfasser schreibt hierzu lediglich: „Von 1939 bis Jan. 1941 haben rund 15.000 Polen Zuflucht vor den Einsatzgruppen von Woyrsch und Schäfer im Generalgouvernement gesucht oder sind durch sie dorthin deportiert worden“.41 Fritz Arlt starb am 21. April 2004.

Mirosław Sikora

1 Die wichtigsten Quellen zu Arlt befinden sich im: BArch, BDC, SS Offiziere, Rolle 017, SA der NSDAP – Dienstleistungszeugnis, Leipzig, 10 XI 1934, Kl. 19308; ebd., [Tabelle], o.D., Kl. 19280– 19284; ebd., BDC, Partei Korrespondenz, A74, Antrag auf Besoldungsfestsetzung, Kattowitz, 15 X 1941, Kl. 1676; ebd., NSDAP Gau Oberschlesien Amt für Rassenpolitik, o.D., Kl. 1690; ebd., BDC, Rasse- und Siedlungshauptamt, A107, Schutzstaffel der NSDAP SS Nr. 367.768, o.D., Kl. 2374. 2 Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards. A study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988, S. 214. 3 BArch, BDC, SS Offiziere, Rolle 017, SA der NSDAP-Dienstleistungszeugnis, Leipzig vom 10.11.1934, Kl. 19308. 4 Fritz Arlt, Juden in Leipzig. Statistische Untersuchung zur Struktur, berufliche Gliederung, Alter, Zuwanderung in den letzten drei Generationen, Ort 1936/1937; ders., Volksbiologische Untersuchungen über die Juden in Leipzig, Ort 1938. 5 Vgl. Edwin Black, IBM i Holocaust. Strategiczny sojusz hitlerowskich Niemiec z amerykańską korporacją, übersetzt von P. Budkiewicz, Warszawa 2001, S. 276; Götz Aly u.a., Nazi Census. Identification and Control in the Third Reich, übersetzt von E. Black, Temple 2004, S. 75–81. 6 Sibylle Steinbacher, „Musterstadt Auschwitz“. Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien, München 2000, S. 127. 7 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Staemmler (30.11.2015). Arlt produzierte Aufsätze wie „Der Endkampf gegen das Judentum“. Vgl. Burleigh, Germany turns Eastwards, S. 215; http://de. wikipedia.org/wiki/Fritz_Arlt (11.12.2015). 8 BArch, BDC, Rasse- und Siedlungshauptamt, A107, Schutzstaffel der NSDAP SS Führer Ausweis Nr. 367.768, o.D., Kl. 2374; Steinbacher, „Musterstadt Auschwitz“, S. 128; BArch, BDC, SS Offiziere, Rolle 017, [Tabelle], o.D., Kl. 19280–19284. 9 BArch, BDC, SS Offiziere, Rolle 017, [Tabelle], o.D., Kl. 19280–19284; Steinbacher, „Musterstadt Auschwitz“ S. 127–128; vgl. auch http://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Arlt (11.12.2015). 10 BArch, BDC, SS Offiziere, Rolle 017, [Tabelle], o.D., Kl. 19280–19284.

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11 Im Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete 1939/1940 und in Oberschlesien 1941/1943 und im Freiheitskampf der unterdrückten Ostvölker. Dokumente, Äußerungen von Polen, Ukrainer und Juden, Richtigstellungen von Fälschungen, Erinnerungen eines Insiders, Lindhorst 1995, S. 58, 31f., 39f.; vgl. Steinbacher, „Musterstadt Auschwitz“, S. 128. 12 Arlt, Polen-, Ukrainer-, Juden-Politik, S. 39, 37f. 13 BArch, BDC, SS Offiziere, Rolle 017, Amt des Generalgouverneurs für die besetzten polnischen Gebiete der Leiter Abteilung Innere Verwaltung, Krakau, 1 IX 1940, Kl. 19309–19310. 14 Vgl. R. Kaczmarek, Pod rządami gauleiterów. Elity i instancje władzy w rejencji katowickiej 1939–1945, Katowice 1998; M. Sikora, Josef Wagner (1899–1945) – nadprezydent i gauleiter Śląska 1935–1940, [w:] Oni decydowali na Górnym Śląsku w XX wieku, hg. von J. Mokrosz, M. Węcki, Katowice-Rybnik 2014, S. 69–83. Archiwum Państwowe w Katowicach (AKP), Naczelne Prezydium w Katowicach [Oberpräsidium in Kattowitz], Sign. 1810, Vermerk, 21 VIII 1940, S. 3; BArch, BDC, SS Offiziere, Rolle 017, [von dem Bach] SS-Gruppenführer Wolff, 12 VIII 1940, Kl. 19370–19371; ebd., SS Offiziere, Rolle 017, Auszugsweise Abschrift von dem Bach vom 12.8.1940 an Greifelt, o.D., Kl. 19314–19315. 15 BArch, RKF, Sign. 3127, Bericht über die Entwicklung und Tätigkeit der Abteilung für die Zeit vom 10.7.1940 bis 31.5.1941, Bielitz, 7 VI 1941, S. 120f. 16 Zum Verhältnis Brachts zu Arlt vgl. M. Węcki, Fritz Bracht (1899–1945). Nazistowski zarządca Górnego Śląska w latach II wojny światowej, Katowice 2014, S. 284–294, 307f., 316ff.; vgl. Czeslaw Madajczyk, Memoriał Fritza Brachta o planach nazistowskich na Górnym Śląsku, „Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka“ (1965) 1a, S. 71–83. Vgl. Joachim Lüer, Nationalsozialistische Siedlungs- und Bevölkerungspolitik in Oberschlesien 1939–1945, untersucht am Beispiel der Dienststelle des Beauftragten des Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums in Oberschlesien, Berlin 1992, S. 116, Manuskript in der Sammlung des Friedrich-Meinecke-Instituts der Freien Universität Berlin. 17 APK, Akta Miasta Katowice (AMK), Sign. 372, Stadt Kattowitz Rundschreiben 1941 Nr. 211 – Betr. Höhere SS- und Polizeiführer, [Kattowitz], [4 VIII 1941], S. 103. Mehr über Schmauser: A. Konieczny, Wyższy Dowódca SS i Policji na Śląsku (1938–1945), „Studia nad faszyzmem i zbrodniami hitlerowskimi“, 1993, nr XVI, Acta Universitatis Wratislaviensis nr 1283, S. 194f.; LAA Bayreuth, Ost-Dok 13, 2, Zur Dokumentation des Regierungsbezirks Kattowitz – Angaben im Rahmen eines Interviews von Professor Köttgen/Reg. Präsident a.D. Springorum, o.D., S. 21. 18 Vgl. Götz Aly u.a., Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt a.M. 1993; Steinbacher, „Musterstadt Auschwitz“. 19 Weiterführend M. Sikora, Niszczyć, by tworzyć. Germanizacja Żywiecczyzny przez narodowosocjalistyczne Niemcy 1939–1944/45, Katowice 2010, S. 63–114. 20 Vgl. T. Kruszewski, Partia narodowosocjalistyczna na Śląsku w latach 1933–1945, organizacja i działalność, „Prawo“ 1995, nr CCXXXVII, Acta Universitatis Wratislaviensis nr 1658, S. 362ff.; APK, Akta Miasta Katowice, Sign. 372, Stadt Kattowitz Rundschreiben 1941 Nr. 165, Betrifft: Institut für Oberschles. Landesforschung, [Kattowitz], [1 VII 1941], S. 21. Mehr zu den Wisssenschafts- und Ausbildungsfragen während des Krieges vgl. Kaczmarek, Inteligencja niemiecka na Górnym Śląsku w latach 1939–1945, in: Z. Kapała [Hg.], Losy inteligencji śląskiej w latach 1939–1945, Bd. 1, Bytom 2001, S. 44–61; ders., Środowisko naukowe i artystyczne w prowincji górnośląskiej (1941–1945), in: ebd., Bd. 2, S. 7–39; BArch, BDC, Partei Korrespondenz, A74, NSDAP Gauleitung Oberschlesien der Gauschatzmeister an die Reichsleitung der NSDAP Reichschatzmeister betr. den Gauschulungsleiter, Oberbereichsleiter Pg. Fritz Arlt, Kattowitz, 7 X 1943, Kl. 1700. 21 BArch, Persönlicher Stab des Reichsführers SS, Sign. 904, NSDAP Reichsleitung HA für Volkstumsfragen an RF SS Persönlicher Stab z. Hd. SS-Obersturmbannführer Dr. Rudolf Brandt, München, 1 X 1942, Kl. 2–5. Vgl. Steinbacher, „Musterstadt Auschwitz“, S. 130.

Fritz Arlt  37

22 Arlt, Rasse, Volk, Erbgut in Schlesien, Breslau 1940; ders., Siedlung und Landwirtschaft in den eingegliederten Gebieten Oberschlesiens [in:] Die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten in den eingegliederten Ostgebieten des Deutschen Reiches, Band 10, Berlin 1942; ders., Volksdeutscher Wall in Oberschlesien [in:] Deutsche Arbeit, (1942) 6/7; ders., Über die oberschlesische Bevölkerungsstruktur als erster Beitrag zum Problem des West-Ost-Gefälles. Zum wissenschaftlichen Tätigkeit Arlt vgl. Kaczmarek, Środowisko naukowe i artystyczne, S. 19–21; Lüer, Nationalsozialistische Siedlungs- und Bevölkerungspolitik, S. 113f.; Szefer, Hitlerowskie próby zasiedlenia ziemi śląskodąbrowskiej w latach II wojny światowej (1939–1945), S. 127. 23 Vgl. Gustavo Corni u.a., „Blut und Boden“. Rassenideologie und Agrarpolitik im Staat Hitlers, Idstein 1994, S. 51. 24 Lüer, Nationalsozialistische Siedlungs- und Bevölkerungspolitik, S. 111–114, 119, 171ff.; Szefer, Hitlerowskie próby, S. 117; Steinbacher, „Musterstadt Auschwitz“, S. 131. 25 APK, Rejencja Katowicka, 3118, Der Gauleiter und Oberpräsident als Beauftragter des RF SS Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums, Kattowitz vom 19.2.1943, S. 74. 26 Zur Kolonisation Ostoberschlesiens vgl. Sikora, Niszczyć, by tworzyć. 27 BArch, RKF, Sign. 3102, Entwicklung, Organisation, Arbeitsleistung der Dienststelle des Gauleiters und Oberpräsidenten als Beauftragten des Reichsführers SS RKF in Oberschlesien September 1939 bis Januar 1943, Beuthen 1943, S. 31. 28 Die Slonzaken haben sich schon im Österreich-Ungarn und später in der Tschechoslowakei und in Polen als Schlesier und nicht als Tschechen bzw. Deutschen oder Polen bezeichnet. Die politische Bewegung die diese Bevölkerungsgruppe vertrat strebte nach unabhängigem Schlesien. 29 BArch, BDC, SS Offiziere, Rolle 017, [Tabelle], o.D., Kl. 19280–19284. 30 Arlt, Polen-, Ukrainer-, Juden-Politik, S. 88–90. 31 BArch, BDC, SS Offiziere, Rolle 017, Abschrift – Der Gauleiter und Oberpräsident von Oberschlesien – Dienstleistungszeugnis, Kattowitz, 26 V 1943, Kl. 19423–19424. 32 Ebd., [Tabelle], o.D., Kl. 19280–19284; ebd. Rolle 017, SS-Obergruppenführer Berger an Chef des Personalhauptstabes SS-Obergruppenführer von Herff, [Berlin] Grünewald vom 6.11.1944, Kl. 19357; ebd., BDC, Partei Korrespondenz, A74, Reichsschatzmeister Zentral-Personalamt Besoldungsfestsetzung mit Wirkung ab 1. April 1941, 22. VI 1943 Kl. 1680; ebd., NSDAP Gauleitung Oberschlesien der Gauschatzmeister an Reichsleitung der NSDAP Reichschatzmeister, Kattowitz, 71943, Kl. 1700; Arlt, Polen-, Ukrainer-, Juden-Politik, S. 103. BArch, Ludwigsburg, Ermittlungen gegen Angehörige der Abteilung für Bevölkerungswesen und Fürsorge der Regierung des GG wegen der Mitwirkung an Aussiedlungsmaßnahmen in Oberschlesien und Sterilisationsversuchen in KZ, B 162/2441, Abschrift – Der Leiter der Zentralstelle im Lande Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen bei dem Leitenden Oberstaatsanwalt in Dortmund, Dortmund vom 4.4.1966, S. 447. 33 BArch, BDC, SS Offiziere, Rolle 017, [Tabelle], o.D., Kl. 19280–19284; ebd. Amt II A 2 betr. Standartenführer Ernst Müller, Arlt an Schmauser vom 30.1.1945, Kl. 19358. 34 Vgl. J. Gdański, Zapomniani żołnierze Hitlera, Warszawa 2005; Arlt, Polen-, Ukrainer-, JudenPolitik…, S. 117–119. 35 BArch, BDC, SS Offiziere, Sign. Rolle 017, [Tabelle], o.D., Kl. 19280–19284. Wahrscheinlich auch mit Verwundetenabzeichen (Schwarz) ausgezeichnet. Ebd., Ernennungsvorschlag, [Berlin] Grünewald vom 22.9.1944, Kl. 19354–19355. 36 NARA, Records of the Central Intelligence Agency (Record Group 263), Sign. 230/902/64/2, Brief angefertigt in Pullach am 27.1.1953 betr. Fritz Arlt. Die US-Agentur ist 970/66th Counterintelligence Corps Detachment, später Central Intelligence Group/Agency. Mirosław Węcki (Uniwersytet Śląski, Katowice) erhielt vom CIA einzelne teilweise deklassifizierte Unterlagen, die die Tatsache der Verwicklung Arlts zu Kontakten mit Amerikanern nach dem Krieg zwar bestätigen, ihren operativen

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Zweck jedoch nicht enthüllten. Vgl. Official Dispatch to Chief Frankfurt, Chief Pullach, Subject: Dr. Fritz Arlt, April 1955 und Oktober 1953. 37 Steinbacher, „Musterstadt Auschwitz“, S. 131; Arlt, Polen-, Ukrainer-, Juden-Politik, S. 75, 77, 80, 84, 88f., 143ff.; Kaczmarek, Pod rządami gauleiterów, S. 225. 38 BArch, Ludwigsburg, Ermittlungen gegen Angehörige der Abteilung für Bevölkerungswesen und Fürsorge der Regierung des GG wegen der Mitwirkung an Aussiedlungsmaßnahmen in Oberschlesien und Sterilisationsversuchen in KZ, B 162/2441, Beglaubigte Abschrift – Der Leiter der Zentralstelle im Lande Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen bei dem Leitenden Oberstaatsanwalt in Dortmund, Dortmund, 4.4.1966, S. 445f. 39 Ebd., S. 470–471; Götz Aly u.a., Vordenker der Vernichtung, S. 186; Steinbacher gibt an, dass die Ermittlung 1969 unterbrochen wurde. Vgl. Steinbacher, „Musterstadt Auschwitz“, S. 131. 40 Arlts Veröffentlichungen seit der 1930er bis 1990er Jahre vgl. https://portal.dnb.de/opac.htm? method=showNextResultSite¤tResultId=%22119367386%22%26any¤tPosition=20 41 Arlt, Polen-, Ukrainer-, Juden-Politik, S. 81, 101.

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Ernst Moritz Arndt Ernst Moritz Arndt (1769–1860) gehörte zu den wichtigsten Impulsgebern für den frühen deutschen Nationalismus. Neben dem „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn war er wahrscheinlich der einflussreichste, da er nicht nur viel gelesene Pamphlete schrieb, sondern auch als einer der ersten erkannte, dass Nationalismus sich als Ersatzreligion und Religionsersatz eignete. Deshalb benutzte er sehr geschickt eingeführte religiöse Textsorten für seine Propaganda: Katechismen, Kirchenlieder1 aber auch anderer populärer Formen wie Märchen, Gedichte und Lieder. Auch in den Ritualen des frühen Nationalismus – etwa Gedenkfeiern für die so genannte „Völkerschlacht“ – ist die Übernahme religiöser Formen unverkennbar. Neben christlichen Überlieferungen wollten diese Rituale an vermeintlich germanische Traditionen der Naturverehrung anknüpfen. Man traf sich im Freien, vorzugsweise bei großen Bäumen und bekränzte sich mit Eichenlaub. Der Ablauf der Feiern war von großem Gesangsenthusiasmus geprägt, wobei sich protestantische Kirchenlieder und nationalistische Hymnen abwechselten. Arndts Lieder wie „Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte“ wurden durch kryptopolitische Vereine, vor allem durch bürgerliche Gesangvereine, aber auch durch Turn- und Schützenvereine, weit verbreitet. Ein weiteres Lied Arndts, „Des Deutschen Vaterland“, war die inoffizielle deutsche Nationalhymne und vor allem während der Revolution 1848/49 fast allgegenwärtig. Schließlich trug zu Arndts herausragender Wirkung im Kreis der frühnationalistischen Intellektuellen und Wissenschaftler bei, dass er 90 Jahre alt wurde. So lebte er noch im Vormärz, als nach langer Unterdrückung aufgrund der Karlsbader Beschlüsse (1819) seine Texte wieder gelesen und nachgedruckt und seine Lieder wieder öffentlich gesungen werden durften, so dass er auch der Epoche des Aufbruchs, nationalistischer Aufwallungen und des Franzosenhasses seit der Rheinkrise (1840) seinen Stempel aufdrücken konnte. Als hoch geehrter Greis und lebende Legende, die die Verbindung zum ersten nationalistischen Aufschwung unter napoleonischer Besatzung und den „Befreiungskriegen“ verkörperte, wurde er mit fast 80 Jahren noch in die Nationalversammlung gewählt, wo er allerdings wegen Schwerhörigkeit und anderer altersbedingter Einschränkungen nur mehr eine repräsentative Rolle (so als Mitglied der Kaiserdeputation) spielte. Arndts Vater war Leibeigener in Groß Schoritz auf der damals zu Schweden gehörenden Insel Rügen, der sich allerdings wenige Monate vor der Geburt seines Sohnes freikaufte. Die Eltern investierten viel, damit dieser ihren sozialen Aufstieg fortsetzen konnte. Kurz vor dem Abitur verließ Arndt aber das Gymnasium in Stralsund und bestand erst 1791 als Externer das Abitur. Anschließend studierte er Theologie, Geschichte, Geographie, Völkerkunde, Sprachen und Naturwissenschaften in Greifswald und Jena. Wie in der Schule zeigte sich auch im Studium einerseits seine hohe Begabung, andererseits sein rebellischer und unsteter Charakter. Trotz seines theologischen Examens (1794) arbeitete er als Hauslehrer. 1798/99 unternahm er eine

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Bildungsreise durch große Teile der Habsburgermonarchie, Italien und Frankreich. Die Franzosen werde er „ewig lieben“, schrieb er damals.2 1800 konnte er sich (ohne vorherige Promotion) in Greifswald für Geschichte und Philosophie habilitieren und lehrte dort als Privatdozent und seit 1805 als außerordentlicher Professor. Sein bedeutendstes wissenschaftliches Werk war stark durch seine Herkunft geprägt: „Versuch einer Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen“3 und hatte erhebliche politische Wirkung: Der schwedische König Gustav IV. Adolf, dem Arndt verbunden war, berief ihn in die Gesetzeskommission für Pommern, die die Leibeigenschaft aufhob. Erst in den folgenden Jahren, unter dem Eindruck des Zusammenbruchs des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation und der neuen Perspektiven, die die napoleonische Besatzung für die deutschen Staaten eröffnete, wandelte sich der schwedisch-pommersche Royalist zum deutschen Nationalisten.4 Nach der Niederlage Preußens von 1806 floh Arndt, der in verschiedenen Texten (etwa in „Geist der Zeit“, Bd. 1, 1806) zum Widerstand gegen die Franzosen aufgerufen hatte, nach Schweden, wo er bis zum Tod seines Gönners Gustav Adolf (1809) lebte. Anschließend ging er heimlich zurück nach Greifswald, dann nach Berlin, wo er zu einem klandestinen nationalistischen Zirkel gehörte (unter anderem mit Jahn, Schleiermacher und von Gneisenau), bis er 1812 mit dem preußischen Reformer Freiherr vom Stein zusammen als dessen Mitarbeiter nach St. Petersburg ging – aus Protest gegen den Kriegseintritt Preußens auf der Seite Napoleons. In dieser Zeit entwickelte Arndt eine exzessive politische Agitation, um zum „Volkskrieg“ gegen „die Franzosen“ zu mobilisieren. Zu diesem Zweck schrieb er seine meisten nationalistischen Agitationsschriften und -lieder. Außer den bereits erwähnten Liedern „Des Deutschen Vaterland?“, „Der Gott, der Eisen wachsen ließ“ waren seine einflussreichsten Texte: „Katechismus für den teutschen Kriegs- und Wehrmann“, „Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze“ und „Über Volkshaß“, eine wortreiche Rechtfertigung des Franzosenhasses. Denn Völkerhass war für Arndt das wirksamste Mittel zur Nationsbildung im Sinne einer Selbstfindung der Völker: „Ich will denn Haß gegen die Franzosen, nicht bloß für diesen Krieg. Ich will ihn für lange Zeit, ich will ihn für immer. Dann werden Teutschlands Grenzen auch ohne künstliche Wehren sicher sein, […]. Dieser Haß glühe als Religion des teutschen Volkes, als ein heiliger Wahn, in allen Herzen […].“5 In „Was ist des Deutschen Vaterland?“ hieß eine Strophe: „Das ist des Deutschen Vaterland / Wo Zorn vertilgt den welschen Tand / Wo jeder Franzmann heißet Feind, / Wo jeder Deutsche heißet Freund.“ „Völkisch“ waren viele dieser Texte, weil sie „Volk“ ethnisch definierten und zugleich demokratisch argumentierten. Arndt mystifizierte „Volk“ und sah es als wichtigsten politischen Akteur. Mit dieser Argumentation beeinflusste er den ethnisch-demokratischen (völkischen) Nationalismus der Burschenschaft wesentlich. 1817 – nach dem Sieg über Napoleon und der Rückkehr nach Preußen mit besten Verbindungen in die politische Elite – heiratete er in zweiter Ehe Anna Maria, die Schwester Schleiermachers.6 1818 berief ihn die Regierung nach der Annexion

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des Rheinlandes durch Preußen an die neu errichtete Universität Bonn zum ordentlichen Professor für Geschichte. Diese Stellung verlor er bereits 1820 wegen seines politischen Engagements. Zunächst erhielt er wie die meisten anderen, als „Demagogen“ verfolgten Professoren weiter sein Gehalt, 1826 musste Arndt die Professur aber ganz aufgeben und wurde erst 1840 (mit 71 Jahren!) vom neuen preußischen König Friedrich Wilhelm IV. rehabilitiert. 1841 leitete er als Rektor sogar die Universität Bonn. Arndt gelang vor allem eine öffentlichkeitswirksame Biologisierung politischer Kategorien. Denn für ihn stand nicht das politisch Realisierbare im Vordergrund, sondern das angeblich Natürliche – so etwa, wenn es um die heikle Frage der Grenzen „Deutschlands“ ging: „Die einzige giltige Naturgrenze [eines Volkes] macht die Sprache. Die Verschiedenheit der Sprachen hat Gott gesetzt […]. Die verschiedenen Sprachen machen die natürliche Scheidewand der Völker und Länder, […] damit der Reiz und Kampf lebendiger Kräfte und Triebe entstehe.“7 Mit dieser Setzung, die sich eng an die entsprechende Abgrenzung →Johann Gottfried Herders anlehnte, wandte sich Arndt gegen die von französischer Seite ebenfalls mit dem Argument der Natürlichkeit propagierte geomorphologische Grenzziehung, zum Beispiel am Rhein, den Arndt hingegen als „Deutschlands Strom“ ansah. Die Formel aus Arndts inoffizieller Nationalhymne lautete entsprechend, „Deutschland“ reiche, „so weit die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt“. Ein solches großdeutsches Reich hätte Millionen anderssprachige Untertanen eingeschlossen. Während Arndt sich – außer Phrasen und allgemeiner Kriegsverherrlichung – keine Gedanken machte, wie solche Grenzen gegen die Interessen diverser anderer Staaten durchgesetzt werden könnten, popularisierten solche Parolen irreale und romantische Vorstellungen, die sowohl imperial als auch exklusiv waren. Deren Wirkung verstärkte Arndt dadurch, dass er sich formal und sprachlich an kirchlichen Vorbildern orientierte. Während Theodor Körner, der andere wichtige Dichter des antinapoleonischen Nationalismus, selbst als Freiwilliger (im legendären Freikorps Lützow) in den Krieg zog, blieb Arndt immer ein Agitator, der sein Leben nicht riskierte, sondern andere in den Krieg schickte. Arndt veröffentlichte neben antifranzösischen Hasspredigten auch Antisemitisches. Die Argumente waren sehr ähnlich, nämlich extrem xenophob: jede Mischung von verschiedenen Völkern lehnte er als „Bastardisierung“ ab. „Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, daß sie auf eine ungebührliche Weise in Deutschland vermehrt werden. Ich will es aber auch deswegen nicht, weil sie ein durchaus fremdes Volk sind und weil ich den germanischen Stamm so sehr als möglich von fremdartigen Bestandteilen rein zu erhalten wünsche.“ Arndt distanzierte sich von der „grausamen“ Behandlung der Juden im mittelalterlichen Reich. Aber ihn beunruhigte unkontrollierte Einwanderung sehr: Weil Deutschland „der Mittelpunkt des Welttheils ist, so dringt von allen Seiten das Fremde darauf ein, und auch von den Juden bekommt es jährlich einen zu großen Zufluß. […] Ich nenne dieses Fremde schon an sich eine

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Plage und ein Verderben. Es ist noch mehr so zu nennen, weil die Juden ein verdorbenes und entartetes Volk sind.“ Dies begründete Arndt mit ihrer Geschichte seit der Antike: „Dieser lange Zustand eines unstäten Daseyns ohne festes Volk und Vaterland, ja fast ohne festen Besitz auf Erden, und diese Verfolgung, Erniedrigung und Verabscheuung, die ihnen von der übrigen Welt widerfuhr, hat das Edle, Große, Muthige und Großmüthige in ihnen von Geschlecht zu Geschlecht mehr und mehr erstickt.“ Aufgrund dieser historischen Entwicklung sei die Mehrzahl der Juden „unstät an Sinn und Trieb, umherschweifend, auflauernd, listig, gaunerisch, und knechtisch duldet er allen Schimpf und alles Elend lieber, als die stätige und schwere Arbeit […]; wie Fliegen und Mücken und anderes Ungeziefer flattert er umher und lauert und hascht immer nach dem leichten und flüchtigen Gewinn […].“ Abschließend betonte Arndt, dass insbesondere die Einwanderung von Juden aus Polen zu verhindern sei und dass er „freilich die einwandernden Juden der reinen und schönen teutschen Art für die verderblichsten halte, […] dass ich aber ein ebenso strenges Gesetz gegen die Einwanderung anderer Völker geben würde, wenn z.B. den Polen oder Italiänern oder Franzosen der Wanderungstrieb einkäme und sie jährlich zu Hunderten oder Tausenden ihren Ueberfluss auf uns ausgießen wollten.“8 Später attackierte er auch kosmopolitische Intellektuelle, die dem nationalistischen Trend nicht folgen wollten: „Es waren sogenannte Philanthropen, Kosmopoliten in ihren Träumen und Hoffnungen und wenn man will veredelte Juden, Juden à la Nathan […]; sie schlossen die ganze Welt in den weiten Mantel ihrer Liebe ein, aber übersahen nur, daß die Leute zu Hause froren. Man träumte einen schwärmerischen bunten Traum von einer allgemeinen Menschlichkeit und allgemeiner Freiheit.“9 Mit der Individualisierung der Völker projizierte nicht nur Arndt die körperlichen Wahrnehmungen „innen“ und „außen“ auf den nationalen Freund-Feind-Gegensatz. Er bediente sich bereits einer rassistischen Blutmetaphorik, um die Körperlichkeit des nationalistischen Volksbegriffes zu unterstreichen: In einem seiner nationalistischen Aufrufe heißt es: „Fühlet die heiligen und unzerreißlichen Bande desselben Blutes, derselben Sprache, derselben Sitten und Weisen, welche die Fremden haben zerreißen wollen.“10 Arndts Ideen sind in hohem Maße durch die schwedische Kultur und Gedankenwelt beeinflusst worden: insbesondere von Thomas Thorild11, der von der schwedischen Volkstradition herkommend die Forderung einer den germanischen Rechtsideen entsprechenden Volksordnung aufgestellt hat. Die Universität in Greifswald nahm 1933 auf Antrag des preußischen NS-Ministerpräsidenten Hermann Göring den Namen „Ernst Moritz Arndt-Universität“ an. Nach 1945 fanden weder die sowjetische Besatzungsherrschaft noch die DDR diesen Namen anstößig. Erst nach 1990 gab es so große Widerstände, dass mehrfach über den Namen abgestimmt wurde. Er setzte sich aber immer durch – zuletzt in einer studentischen Urabstimmung 2010 mit 50% zu 43% und im Senat mit 22 zu 14 Stimmen. Mehr als ein Dutzend Schulen in verschiedenen Bundesländern, Kasernen der

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Bundeswehr und zahllose Straßen tragen ebenfalls den Namen dieses frühnationalistischen Hasspredigers.

Christian Jansen

1 Zwei stehen bis heute im Evangelischen Gesangbuch: „Kommt her, Ihr seid geladen“ und „Ich weiß, woran ich glaube“. 2 Zitiert nach: Anonym, Die deutschen Roth- und Schwarzmäntler. Eine Seiten-Patrouille zu den Französischen schwarzen und weißen Jakobinern, Neubrandenburg o.J. [1815, 18162] https://books.google.de/books?id=-2VjAAAAcAAJ (21.1.2017), S. 34. 3 Berlin 1803; online unter https://books.google.de/books?id=uNYAAAAAcAAJ (16.1.2017). 4 Vgl. Jörg Schmidt, Fataler Patron, in: Die Zeit vom 5.11.1998 (http://www.zeit.de/zeitlaeufte/fataler_patron). Der bereits zitierte Anonymus mokierte sich über Arndts Sprunghaftigkeit: „Wir haben unleugbar eine Menge von Ernst Moritz Arndt […]. Ich habe am litterairischen Firmament bisher folgende dieser Schnupfsterne und Irrlichter entdeckt, welche alle im Tauf-Namen und in einer gewissen Rohheit […] übereinstimmen: 1) Der Ernst Moritz Arndt, der den Preußischen Staat für den schlechtesten der Staaten auf der Welt erklärt […]. 2) Der Ernst Moritz Arndt, der behauptet hat, der Preußische Staat sei der beste der Welt […]. 3) Der Ernst Moritz Arndt, der versichert, in einem Militair-Staat könne nichts Großes gedeihen […]. 4) Der Ernst Moritz Arndt, der behauptet, das Große könne nur in einem Landsturm-Staate gedeihen […]. Der Ernst Moritz Arndt, der versichert, er werde die französische Nation ewig lieben […]. 6) Der Ernst Moritz Arndt, der versichert, er werde die Franzosen ewig hassen […].“ (Roth- und Schwarzmäntler, S. 32–34 – das Buch gehörte zu den beim Wartburgfest verbrannten!). 5 Zur Biographie vgl. vor allem Hellmuth Rößler, Arndt, Ernst Moritz, in: Neue Deutsche Biographie 1 (1953), S. 358–360. Ernst Moritz Arndt, Über Volkshaß und über den Gebrauch einer fremden Sprache, Leipzig 1813, in Auszügen wieder abgedruckt in: Michael Jeismann u.a., Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig 1993, S. 319–334, 332. Diesen Text kommentierte Rößler: Völkerhaß war ihm [Arndt] nur Mittel „völkischer Selbsterkenntnis“. Vgl. Ernst Moritz Arndt, Noch ein Wort über die Franzosen, o.O. 1814. 6 Seine erste Frau war 1801 im Kindbett gestorben. 7 Ernst Moritz Arndt, Der Rhein, Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze (Leipzig 1813), in: ders., Ausgewählte Werke, Bd. 13, Leipzig o.J., S. 148. 8 Ernst Moritz Arndt, Blick aus der Zeit auf die Zeit, Germanien [=Frankfurt a.M.] 1814, S. 189, 192– 195, 197, 200f. (online http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12bsb10015221–5; 21.1.2017). 9 Ernst Moritz Arndt, Versuch in vergleichender Völkergeschichte, Leipzig 1844, S. 391f. 10 Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit, Band 3, London 1813, S. 432 (https://books.google.de/books? id=XmpPAAAAcAAJ; 21.1.2017). 11 Adolf Häckermann, Thorild, Thomas, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 38 (1894), S. 188f.

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Saul Ascher Saul Ascher hat es weder mit seinen politischen noch mit seinen literarischen Schriften in den Kanon geschafft. Man kennt ihn bestenfalls als das Gespenst der Vernunft aus Heinrich Heines „Harzreise“. Erst 1991 konnte Peter Hacks mit einem emphatischen Bekenntnis zu Aschers Kritik am Volksbegriff der romantisch-patriotischen Bewegung sowie durch seine Edition von vier politischen Schriften für etwas Aufsehen sorgen.1 Grundlegende Daten und Einschätzungen zu Aschers literarischer Biographie verdanken wir Walter Grab.2 Ascher (Saul ben Anschel Jaffe) kam am 6. Februar 1767 in Berlin als erstes Kind von Deiche Aaron und Anschel Jaffe zur Welt, der den Status eines Schutzjuden für sich und seine Familie erwirkt hatte.3 Ascher hat vermutlich das Gymnasium in Landsberg an der Warthe besucht. Zumindest lernte er dort Heinrich Zschokke kennen, in dessen „Miscellen für die Neueste Weltkunde“ er später einige Beiträge veröffentlichte. 1789 heiratete er Rahel Spanier; als einziges Kind wurde 1795 die Tochter Wilhelmine geboren. Am 6. April 1810 wurde Ascher aus politischen Gründen verhaftet und blieb bis zum 25. April in Haft. Er hatte in Zschokkes Miscellen den Finanzminister Altenstein wegen Verschleppung der französischen Kontributionszahlungen angegriffen und wurde auf Anweisung des Berliner Polizeipräsidenten wegen „unjuriöser Aufsätze über die Verfahren der höchsten Staatsbehörden“ in Untersuchungshaft genommen.4 Er wurde aber bereits am 25. April aufgrund von Fürsprachen des Justizministers Beyme und des Kriegsministers Scharnhorst wieder entlassen, und Hardenberg, der im Juni zum Kanzler berufen wurde, ließ das Verfahren im Oktober niederschlagen. Am 6. Oktober 1810 wurde Ascher von der Universität Halle in absentia aufgrund seiner veröffentlichten Schriften zum Doktor der Philosophie promoviert. 1812 (im Todesjahr des Vaters) erhielt Ascher den preußischen Staatsbürgerbrief. Laut Grab und Thiele trat er vor 1816 in die reformjüdisch orientierte „Gesellschaft der Freunde“ ein und war dort aktiv. 1818 und 1819 gab er die Vierteljahresschrift „Der Falke“ heraus, von der insgesamt sechs Quartalshefte erschienen und deren Beiträge aus seiner Feder stammen. Darüber hinaus veröffentlichte er Beiträge zu unterschiedlichsten Themen in den wichtigsten Berliner Journalen.5 Ascher erkrankte im Oktober 1822 und starb am 8. Dezember 1822. Ascher besaß ein geradezu seismographisches Gespür für problematische Spannungen und Verschiebungen in prominenten philosophischen und kulturpolitischen Vorstößen seiner Zeit, und seine Entschlossenheit, sie gewissermaßen aus den Tiefenstrukturen idealistischer Theoriebildung ans Tageslicht zu ziehen, machen seine Schriften nicht zuletzt für den historischen Nachvollzug von sich herausbildenden modernen Anerkennungskämpfen und Ausgrenzungsstrategien interessant. Das gilt bereits für Aschers erste überlieferte Veröffentlichung, „Bemerkungen über die bürgerliche Verbesserung der Juden veranlaßt, bei der Frage: Soll der Jude Soldat werden?“ (O.O.: Kunze, 1788). Ascher rollt anhand dieser im Zusammenhang der aktuellen österreichischen Rekrutierungsstrategien viel diskutierten Frage das

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Verhältnis von staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten auf und bindet die Möglichkeit einer genuinen Entwicklung von patriotischen Zugehörigkeitsgefühlen an die Gewährung von Bürgerrechten für alle Untertanen – unabhängig von Stand und Religion. Nicht weil der Staat Soldaten braucht, darf er auch jüdische Männer konfiszieren, sondern diese können erst dann den Soldatenstand ins Auge fassen, wenn sie sich einem Staat zugehörig fühlen, den zu verteidigen ihr inneres Bedürfnis geworden ist. Ascher war 25 Jahre alt, als seine ambitionierte Abhandlung zur Reform der jüdischen Religion, „Leviathan oder Ueber Religion in Rücksicht des Judenthums“, 1792 in der Frankeschen Buchhandlung erschien. Zum einen richtet die tief-ausholende Abhandlung sich gegen Kants Versuch, die Religion als (vor-mündige) Institution zur Vorbereitung einer reinen Sittlichkeit und die christliche Botschaft als erste (epochale) Liebesreligion zu verstehen. Zum anderen stellt Ascher sich gegen Spinozas und Mendelssohns Versuche, die jüdische Religion als dogmenfreies Gesetz ohne Glaubensgeheimnisse zu interpretieren, und insistiert darauf, dass auch die jüdische Religion dogmatisch verfasst sein müsse, um als eigenständiges Glaubensbekenntnis überleben zu können. Ascher fasst Religiosität als anthropologische Qualität auf, die sich in einem kognitiven Raum ausbreite, in dem die Vernunft keine Antworten anbieten könne. Die Vernunft soll aber politisch in die Lage versetzt werden, den Glauben in dem ihm eigenen Zuständigkeitsbereich zu halten. Auf der Suche nach dem spezifischen Wesen der jüdischen Religion verfolgt er den Gedanken, dass sie in ihrer regulativen Phase – in der sich die Eigentlichkeit einer Religion herausbilde – die primäre Aufgabe verfolgt habe, den Menschen zur Freiheit zu erziehen. Schwierig bleibt aber die Aufzeigung eines Weges, auf dem sich die Religion an diesen zentralen Aufklärungsgedanken rückbinden ließe. Letztlich begnügt Ascher sich im Wesentlichen damit, Wege zu einem theologischen Forschungsprogramm aufzuzeigen, das darauf gerichtet sein soll, aus der jüdischen Religionsgeschichte ein spezifisch jüdisches Dogma zu destillieren, in dem, so ist zu vermuten, die Erziehung zur Freiheit erneut einen zentralen Stellenwert einnehmen soll. In „Eisenmenger der Zweite“ (Berlin: Hartmann, 1794) diagnostiziert Ascher anhand von →Johann Gottlieb Fichtes „Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution“ einen neuartigen politischen →Antisemitismus, indem er zeigt, dass Fichte seine Kritik am Staat nur formulieren kann, wenn er gleichzeitig die Juden ins Spiel bringt, um der Obrigkeit und seinen Lesern eine alternative Angriffsfläche zu bieten, vor der Staat, Untertanen und revolutionäre Selbstdenker wieder zusammenfinden können. Nicht der Selbstdenker, sondern der Jude soll das absolut Andere signifizieren, weil es einem Juden laut Fichte nicht gelingen kann, die „unübersteiglichen Verschanzungen, die vor ihm liegen, zur allgemeinen Gerechtigkeits-, Menschen- und Wahrheitsliebe“ zu durchdringen (Flugschriften 31). Deshalb könne man den Juden zwar Menschen-, aber keine Bürgerrechte zugestehen. „Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere

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aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei“ (Flugschriften 34). Indem Fichte in seiner „Staat im Staate“-Theorie die Kritik absolutistischer Sondergesetzlichkeiten ausgerechnet auf die Gruppe zuspitzt, die gerade nicht von Privilegien profitiert, sondern mit Schutzzöllen und unzähligen Auflagen und Beschränkungen belastet ist, lenkt er den Revolutions- und Atheismusverdacht der Obrigkeit und der Bevölkerung von den christlichen ‚Selbstdenkern‘ auf die Juden ab. Ascher legte 1799 eine eigene Revolutionsschrift vor, die wegen Interventionen der preußischen Zensur aber erst 1802 veröffentlicht werden konnte.6 Er verfolgt einen geschichtsphilosophischen Erklärungsansatz und ebnet den Weg zu einer politisch-ökonomischen Theorie, in der die Geschichte als tendenziell progressive Abfolge von Revolutionen aufgefasst wird. Als dialektischen Antrieb greift Ascher auf zwei gegensätzliche menschliche Vermögen zurück: Konvenienz (Sinnlichkeit) und Vernunft. Zwar nimmt die Vernunft in Aschers Konzeption eine übergeordnete Stellung ein, insofern die Geschichte darauf zielt, „jede gesellschaftliche Einrichtung dahin abzuändern, daß sie diesem Ideale näher gebracht werde“ (Ideen 14). Aber um die Geschichte voranzubringen, bedarf es auch des sinnlichen Triebes, der auf Genuss und die Ansammlung von Vermögen gerichtet ist. Durch die ökonomische Fundierung historischer Entwicklungen rückt auch die Religion in ein schärferes Licht. „Alle Religion ist Erfindung eines politischen Kopfes. Sie haben alle einen politischen Regressus. Ihr Hauptzweck geht darauf hinaus, vollkommene Gesellschaften, aber keineswegs vollkommene Menschen zu schaffen. […] Der Glaube, die Meinungen, die Grundsätze des Menschen werden Gesetzen unterworfen; sie, die eines jeden Menschen Eigenthum waren, werden Eigenthum der Regierung“ (Ideen 42). Ascher versteht seine Analyse als metapolitische Wissenschaft, die nicht untersucht, „wie eine Gesellschaft entstanden, sondern wie sie entstehen muß“ (Ideen 199). „Napoleon oder Über den Fortschritt der Regierung“ (Berlin: Lange, 1808) stellt sich unverblümt auf die Seite von Napoleons Machtpolitik. Denn Herrschsucht sei eine unabdingbare Voraussetzung politischer Veränderungen im Schlechten wie im Guten. Hinsichtlich der Frage nach der nationalen Identität Deutschlands und Italiens glaubt Ascher, dass erst die napoleonische Neuordnung Europas einen Weg eröffnet, auf dem diese „in unzählige Verfassungen“ zerstückelten Nationen eine neue „Selbstheit erlangen“ können (Flugschriften 138). Aschers Napoleonbuch kollidierte aufs heftigste mit den anti-napoleonischen und in Ansätzen völkisch-nationalen Bewegungen. Als exemplarischen Affront verweist er immer wieder auf die antisemitische Satzung und die berüchtigten Stammtischreden der Christlich-Deutschen Tischgesellschaft, die Achim von Arnim im Januar 1811 ins Leben gerufen hatte. Mit seiner bekanntesten Schrift, „Die Germanomanie. Skizze zu einem Zeitgemälde“ (Berlin: Achenwall 1815) legte Ascher eine einzigartige Analyse der ideengeschichtlichen Entgleisungen vor, zu denen sich prominente Philosophen und Literaten in den Kämpfen um die preußischen Reformen verstiegen. Die historische Leistung seiner Streitschrift besteht nicht in Genauigkeit,

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Komplexität oder Systematik, sondern in der betroffenen Verengung seines Blicks, die es ihm ermöglicht, neuartigen Potenzen des Zeitgeistes, die seinem politischen Weltbild gefährlich werden können, aufzudecken und polemisch zu kommentieren. Ascher beginnt seine Analyse mit einem direkten Angriff auf die Elite der Romantik und die Theoretiker und Aktivisten der nationalen Bewegung, die er allesamt als Wendehälse beschreibt, die vom revolutionären Ziel der Aufklärung abgefallen und in ihrem Hang zur Radikalität einem entgegengesetzten politischen Denken verfallen seien. In Aschers Interpretation versuchen die ‚Germanomanen‘ […] in der Deutschheit gegen die ‚Gallomanie‘ ein Gegengewicht zu erlangen“ und seien darauf verfallen, ein imaginäres und exaltiertes Christentum zu beschwören. Toleranz, Liberalität und Aufklärung mussten dieser Gesinnung zum Opfer fallen. Der hervorstechende Zug des „zum Katholizismus gesteigerten Protestantismus“ ist die Idee der Deutschheit, so dass beide „‚Christentum‘ und ‚Deutschheit‘ […] bald in eines verschmolzen“ waren (Flugschriften 199). Dabei wurde von den „enthusiastischen Idealisten […] vorzüglich in den ‚Juden‘ ein Gegensatz dieser Lehre vorgefunden“ (Flugschriften 199). Denn die „Juden, heißt es, sind weder Deutsche noch Christen, folglich können sie nie Deutsche werden. Sie sind als Juden der Deutschheit entgegengesetzt, folglich dürfen sie die Christen nicht als ihresgleichen aufnehmen“ (Flugschriften 200). Ascher empfindet seinen Befund umso misslicher, als von den Germanomanen gerade das verspielt werde, was die deutsche Kultur in Europa ausgezeichnet habe, nämlich ihre Befähigung und Bereitschaft zu transkultureller Bildung, „in sich die vielseitige Kultur aller Zeitalter und Nationen aufzunehmen, sowohl in Hinsicht der Religiosität als der Staatsverfassung und Geisteskultur“ (Flugschriften 207). Stattdessen sollte diese zentraleuropäische Kultur „nach den Ansichten dieser deutschen Adepten oder ‚Germanomanen‘ sich plötzlich von allem auswärtigen Einfluß absorbieren. Fremde Sitte und Sprache sollte [der Deutsche] von sich weisen und die entferntesten Verhältnisse, die ihm etwas Ausländisches aneignen könnten, aufgeben“ (Flugschriften 207). Ascher hatte während der Arbeit an der Germanomanie noch hoffen können, dass die Ausgrenzungsstrategien des aggressiven Nationalismus sich als kurzlebige Phänomene der französischen Besatzungszeit erwiesen, die schon bald zur historischen „Galerie der deutschen Verirrungen“ gezählt würden (Flugschriften 232). Das Wartburgfest von 1817, auf dem die Burschenschaftler neben vielen anderen Büchern auch Aschers „Germanomanie“ als undeutsche Schrift öffentlich verbrannten, konnte von ihm aber kaum anders denn als Bestätigung seiner ärgsten Befürchtungen interpretiert werden. Ascher veröffentlichte seine Antwort als „Die WartburgsFeier. Mit Hinsicht auf Deutschlands religiöse und politische Stimmung“ 1818 in Leipzig bei Achenwall & Comp. Er geht davon aus, dass die emphatische Behauptung einer imaginären Nation trotz der aggressiven Negation der Staatsmodelle, die in der Aufklärung zur Debatte standen, einem zwar genuinen, aber fehlgeleiteten Rebellions- und Freiheitsverlangen entspringt, so dass der Fanatismus der jungen

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Patrioten als pervertierter Freiheitsgestus aufgefasst werden muss. Für die jungen Akademiker von 1817 ist Freiheit nicht länger primär als staatsbürgerliches Engagement in einer partizipatorischen Republik oder als Sieg über altständische Ordnungen definiert, sondern als Freiheit von Über- und Entfremdung, als imaginärer, kultur-totalitärer Authentizitätsanspruch, der in der Reinigung von Formen des Nichtauthentischen und Kosmopolitischen Selbstbestätigung sucht. Ascher räumt jetzt allerdings ein, dass die Gründe für diese Entwicklung in den deutschen Staaten auch im materiellen und psychologischen Leidensdruck zu suchen sind, der von Napoleons imperialistischen Abenteuern ausgegangen war. Er gesteht sogar ein, dass er sich vor zehn Jahren in seiner Einschätzung der napoleonischen Politik geirrt habe, weil er damals nicht bedacht habe, dass der imperiale Zwangstransfer moderner Staatsprinzipien die reine Idee der Menschheit nur mit großen Abstrichen umsetzen konnte, wenn es denn – so muss er sich jetzt auch fragen – Napoleon überhaupt darum gegangen sei. Vielmehr „schmachteten Regierung, Land und Völker im protestantischen Deutschland unter dem Druck seiner provisorischen Maßregeln“ (Flugschriften 244). In Aschers Verständnis ist es nicht zuletzt die (der Romantik angelastete) Vermischung von Religion, Mystik, Poesie, Philosophie und Politik – letztlich die programmatische Aufhebung der kritischen Philosophie in einer allesumfassenden Ästhetik –, die in der napoleonischen Zeit eine auf gefährliche Weise unkontrollierbare Zukunft heraufbeschwört. Dabei sind es nicht die Argumente selbst, die er fürchtet, sondern in erster Linie die Öffentlichkeitsstrategien der neuen Bewegung – ihre gefühlsschwangere Rhetorik und nicht zuletzt ihre Bereitschaft zu persönlichen Angriffen auf alle, die wagen, sich ihnen gegenüber auf die Vernunft zu berufen. In dem Zusammenhang (aus Anlass der Karlsbader Beratungen) setzt er sich mit dem Verhältnis von Staat und Öffentlichkeit auseinander und schlägt in „Idee einer Preßfreiheit und Zensurordnung“ (Leipzig: Achenwall, 1818) ein Zensurgesetz vor, das den Bürger vor Verunglimpfung und Rufmord schützen soll. Während die Inhalte mit wenigen Ausnahmen keiner staatlichen Zensur unterworfen werden dürfen, sollen die Formen der Auseinandersetzung staatlicher oder juristischer Kontrolle unterliegen, um persönliche Angriffe und Diffamierungen zu erschweren und einen fairen und produktiven Austausch von Argumenten zu ermöglichen. Ascher glaubte nicht, dass die kulturnationale Bewegung sich in den deutschen Staaten politisch durchsetzen könne. Vielmehr beschreibt er in „Der deutsche Geistesaristokratismus“ (Leipzig: Achenwall, 1819) eine sich verfestigende Entfremdung zwischen Volk und Intellektuellen. Während die revolutionären Intellektuellen anderer Perioden von einer breiten Gesinnung im Volk getragen wurden, haben sich die deutschen Intellektuellen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts seines Erachtens in einem Wolkenkuckucksheim absolut gesetzt und den Kontakt zum Volk und zur realen Politik verloren, so dass sie zwar viel Lärm machen und kurzfristig einigen Schaden anrichten, langfristig aber zum folgenlosen Träumen verurteilt sind. Er mag damit ein zukunftsschwangeres Spezifikum des deutschen Intel-

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lektualismus treffend benannt haben, die Frage, ob die intellektuellen Luftschlösser deshalb (quasi per definitionem) ungefährlich sind, steht freilich auf einem anderen Blatt. Aschers Fehleinschätzung von Napoleons Machtpolitik führt ihn in seinen späten Schriften schließlich zu einer politischen Analyse der beginnenden Restaurationsperiode. Jetzt seien die politischen Programme der Aufklärung gänzlich zur bloßen Rhetorik verkümmert und würden im politischen Pathos der Restauration gewissermaßen gegen sich selbst gewendet. Die wiedererstarkten dynastischen Regierungen sind erfolgreich darauf verfallen, Begriffshülsen der politischen Aufklärung für restaurative Legitimationsstrategien einzusetzen, um so den Schein von politischer Vernunft vortäuschen zu können. So droht die Aufklärung in Aschers Analyse des Zeitgeistes am Ende des zweiten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts selbst zu einer politischen Ideologie zu verkommen, die dazu beiträgt, das Volk bis auf weiteres in Unmündigkeit zu halten.

Bernd Fischer

1 Peter Hacks, Ascher gegen Jahn. Ein Freiheitskrieg, Berlin 1991; Saul Ascher, 4 Flugschriften: Eisenmenger der Zweite, Napoleon, Die Germanomanie, Die Wartburgfeier, Berlin 1991. 2 Walter Grab, Saul Ascher, ein jüdisch-deutscher Spätaufklärer zwischen Revolution und Restauration, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte 6 (1977), S. 131–179. Marco Puschner hat 2008 einige Werke Aschers in seiner Studie zum Antisemitismus im Umfeld der politischen Romantik als jüdische Reaktion auf die deutsch-jüdische Antithese diskutiert. Marco Puschner, Antisemitismus im Kontext der Politischen Romantik. Konstruktionen des „Deutschen“ und des „Jüdischen“ bei Arnim, Brentano und Saul Ascher, Tübingen 2008, S. 442–458. Einen kenntnisreichen Überblick über Aschers Leben und Werk bietet Renate Best, Saul Ascher: Ausgewählte Werke, Köln 2010, S. 7– 57. Der Band enthält neben einer sehr guten Bibliographie von Aschers Werken auch eine Bibliographie der von ihm herangezogenen Literatur, ebd. S. 299–305. Vgl. auch Bernd Fischer, Ein anderer Blick: Saul Aschers politische Schriften, Wien 2016. 3 Ari Joskowicz, The Modernity of Others. Jewish Anti-Catholicism in Germany and France, Stanford 2014, S. 114. 4 Zitiert nach Grab, Saul Ascher, ein jüdisch-deutscher Spätaufklärer, S. 481. Zu den Umständen der politischen Verhaftung und dem Strafverfahren vgl. André Thiele, Eine Welt in Scherben, Mainz 2008, S. 47–50. 5 Das Ausmaß seiner Mitarbeit an Zeitschriften und Journalen ist noch nicht vollständig erforscht. Vgl. Grab, Saul Ascher, S. 147–148, 156–158, sowie Best, Saul Ascher: Ausgewählte Werke, S. 299– 302. Beide bieten auch eine Auflistung von Aschers zahlreichen belletristischen Veröffentlichungen und Übersetzungen. 6 Saul Ascher, Ideen zur natürlichen Geschichte der politischen Revolutionen, Kronberg/Ts. 1975.

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Karl Astel Friedrich Wilhelm Karl Astel wurde am 26. Februar 1898 in Schweinfurt am Main geboren. Nach dem Besuch der Volksschule und des Gymnasiums folgte von 1917 bis 1918 ein Kriegseinsatz an der Front.1 Nach dem Ersten Weltkrieg begann Astel ein Medizinstudium in Würzburg, in dessen Verlauf er sich am 9. April 1919 an der „Befreiung“ Würzburgs von der „Bolschewistenherrschaft“ mit Waffengewalt beteiligte. Ende April engagierte er sich im Freikorps Epp bei der Niederschlagung der Räterepublik in München. Im Anschluss an diese paramilitärischen Betätigungen setzte Astel sein Studium der Medizin fort. Im Winter 1919/20 war er Gründungsmitglied des Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbundes (Ortsgruppe Schweinfurt), in welchen er den späteren Reichsstatthalter und Gauleiter von Thüringen Fritz Sauckel (1894‒1946) aufnahm. Zur selben Zeit beteiligte er sich an der Mitbegründung der Deutschen Hochschulgilde Bergfried; 1920 erfolgte der Eintritt in den Bund Oberland, der unter Hitlers politischer Führung die „nationale Erhebung“ im November 1923 mitmachte. Am 1. Juli 1930 trat Astel in die NSDAP ein (Mitgliedsnummer: 264.619). Nach dem medizinischen Staatsexamen und der Doktorprüfung arbeitete er dann zunächst im Luitpold-Krankenhaus zu Würzburg und später in der Orthopädischen Universitätsklinik in München. Im Mai 1924 war Astel bereits in die Bayerische Landes-Turnanstalt eingetreten, um sich nach vollendeter medizinischer Ausbildung zusätzlich noch einer Studienassessoren-Prüfung für den hauptamtlichen bayerischen Universitäts-Sportlehrerdienst zu unterziehen. Die Prüfung erfolgte an einem Würzburger und Münchener Gymnasium im März 1926. Aufgrund seiner Doppelausbildung (Arzt und Sportlehrer) berief man ihn als Leiter der sportärztlichen Untersuchungs- und Beratungsstelle der Universität und TH München. Im Jahre 1932 gründete er mit Hilfe von →Fritz Lenz eine Vererbungsberatungsstelle, in der er bereits Sterilisierungen durchführen ließ.2 Am 15. Juli 1933 wurde er nach Weimar als Präsident des →Landesamtes für Thüringisches Rassewesen berufen. Infolge seiner „tierzüchterischen Neigungen und Erfahrungen“ hatte sich Astel bereits als Student in München mit Problemen der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene befasst und während seines Studiums zudem „die Führer der deutschen Rassenhygiene“ kennengelernt. Als Mitglied der Münchener Ortsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene beteiligte er sich mit dem Fachbearbeiter für Rassenkunde im Rasse- und Siedlungs-Hauptamt der SS (RuSHA), dem Mitherausgeber der Zeitschrift →Volk und Rasse und späteren Prager Ordinarius für →Rassenbiologie Bruno Kurt Schultz (1901‒1997) aktiv an der Denunziationskampagne gegen den Freiburger Anthropologen Eugen Fischer (1874‒1967). Im Frühjahr 1932 gründete Astel in München zudem eine öffentliche Vererbungsberatungsstelle. Seit Gründung der Reichsführerschule der SA in München leitete er ebenso das dortige Rassenhygiene-Amt der Schule und führte den Unterricht sowie die rassenhygienische Beratung und Betreuung (Besucher der Schule) bis zu seiner Berufung nach Weimar durch. Für das Rasse- und Siedlungshauptamt Reichsführer SS begutachtete Astel

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seit Herbst 1932 als rassehygienischer Fachbearbeiter die Verlobungs- und Heiratsgesuche der SS-Angehörigen. Anfang 1934 war er der SS beigetreten (Nr. 132.245), 1936 sprach er vor SS-Standartenoberjunkern in Dachau.3 Im Juni 1934 berief Sauckel dann auf Vorschlag der Thüringischen Landesregierung Astel unter Beibehaltung seiner Tätigkeit als Präsident des Thüringer Landesamtes für Rassewesen zum ordentlichen Professor der menschlichen Züchtungslehre und Vererbungsforschung sowie als Direktor des gleichnamigen neugegründeten Institutes an die Universität Jena.4 Dieses Institut war aus den Ressourcen (Inventar, 3.600 RM, technische Assistentin) der früheren Anstalt für experimentelle Biologie, dessen Leiter der Biologe und Sozialdemokrat Julius Schaxel (1887–1943) gewesen war, in Jena errichtet worden. Die Institutsbezeichnung erwies sich aber im Laufe der Zeit als anstößig. So bemerkte →Walter Gross (1904–1945), Leiter des Rassenpolitischen Amts in Berlin, am 22. August 1934 an den Thüringer Innenminister: „So sehr die Errichtung eines solchen Lehrstuhles [für menschliche Züchtungslehre und Vererbungsforschung] zu begrüssen ist, so sehr habe ich andererseits gegen die angegebene Bezeichnung taktische Bedenken. Ich glaube nicht, dass die Wahl eines solchen Ausdrucks glücklich ist. Sie wird in weiten Kreisen im Inland nicht verstanden und im Ausland zu einer neuen wilden Propagandaaktion mit Erfolg verwendet werden.“5 Die Thüringer Landesregierung reagierte am 31. Januar 1935, indem der Name des Lehrauftrages bzw. des Institutes in „Menschliche Erbforschung und Rassenpolitik“ geändert wurde.6 Bereits in seiner nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten eher fragwürdig erscheinenden Antrittsvorlesung über „Rassendämmerung und ihre Meisterung durch Geist und Tat als Schicksalsfrage der weißen Völker“ am 19. Januar 1935 hatte Astel in der Aula der Jenaer-Universität die künftigen Aufgaben der „Deutschen Wissenschaft“ formuliert: „Daher wollen wir in Zukunft den Wert einer Wissenschaft nicht mehr nach der geistigen Leistung an sich, die für sie aufgewandt worden ist, messen – wie bisher –, sondern ausschließlich nach ihrem Sinn und Zweck für das gesunde Leben und dessen Erhaltung und Vervollkommnung. Damit legen wir der neuen deutschen Universität, der Hochschule des Dritten Reiches, erst das rassische und lebensgesetzliche Denken zugrunde.“7 Im Laufe der Jahre bekleidete Astel in Thüringen verschiedene politische Ämter: seit 1935/36 Abteilungsleiter im Thüringischen Innenministerium, SS-Hauptsturmbannführer (1937), Staatsrat per 20. April 1939 und per 14. Juni 1939 Rektor der Friedrich-Schiller-Universität; SS-Standartenführer (1942) und Gaudozentenbundführer. Seit 1938 war er zudem Träger des Goldenen Parteiabzeichens. Dank dieser Reputation als Angehöriger „Thüringer-NS-Eliten“ war Astel gewohnt, seine rassenkundlichen Visionen an hochrangige Führer zu formulieren, wie im Schreiben an Heinrich Himmler am 8. Mai 1935: „Mein Reichsführer! […] Ihre Wünsche, daß ich in Thüringen Ministerialreferent für Erb- und Rassenpflege mit den Befugnissen einer Aufsichtsbehörde werde […], habe ich sowohl Ministerialdirektor Dr. Gütt als auch dem Reichsstatthalter Sauckel persönlich mitgeteilt. Alle

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meine Bestrebungen in Thüringen haben das Ziel, Thüringen als Fort in vorderster Linie des SS-Kampfes gegen alle überstaatlichen Mächte einschließlich des Christentums und für die Durchdringung des Volkes mit lebensgesetzlichen [sic!] Denken auszubauen. […] Die Universität Jena soll SS-Universität werden! […] Ich bitte um baldige Durchführung des grossen Besuches des Thüringischen Landesamtes für Rassewesen in Weimar, den Sie, mein Reichsführer, in Begleitung von Darré, Sauckel, Günther und anderen, etwa Rosenberg, in Aussicht gestellt haben […] Ihre Grüße an Stengel v. Rutkowski habe ich ausgerichtet, er dankt bestens und erwidert sie herzlich.“8 Astel nahm kein Blatt vor den Mund, wenn er die auszugrenzende Zielgruppe seiner Forschungen wie über die Insassen der Konzentrationslager im Oktober 1938 auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für psychische Hygiene darlegte: so war er beispielsweise der Auffassung, dass auf diese Weise „Zehntausende von schlimmsten Ballastexistenzen […] unschädlich gemacht und in beträchtlichem Maße sogar nutzbringend verwendet“ würden. In diesem Zusammenhang wird er 1943 dann „mehrmals von Linden gerügt werden, weil in seinem Dienstbereich offen die Euthanasie propagiert wird: ‚Wie Sie wissen, wünscht der Führer, daß jede Diskussion über die Frage der Euthanasie vermieden wird‘“.9 Astel schreckte aber auch nicht vor Denunziation zurück: „So rühmt er sich, den stellvertretenden Amtsarzt von Stadtroda durch Gestapoverhör zum Eingeständnis widernatürlicher Unzucht gezwungen zu haben.“10 An anderer Stelle heißt es: „[…] sprach er in einem Brief an Himmler den Kriminalbiologen Viernstein und Fetscher samt den Experten des Reichsjustizministeriums die Kompetenz in Sachen →Kriminalbiologie ab. Dann wieder warnte er 1941 Himmler vor den gefährlichen Lehren des Rudolf Steiner, die durch den Stellvertreter des Führers gefördert würden – sein Mitarbeiter Stengel-Rutkowski habe Material über Steiner gesammelt und dem SD übersandt.“11 Trotz begrenzter (internationaler) wissenschaftlicher Erfolge und Anerkennung nahm Astel an zahlreichen internationalen (eugenischen) Kongressen teil, so 1934 in Zürich (IFEO – International Federation of Eugenic Organizations) und 1936 in Scheveningen oder am Internationalen Genetikerkongreß in Edinburgh im August 1939; 1941 hielt er zudem bei der Amtseinführung von SA-Oberführer Karl Thums (1904‒1976) als Direktor des Instituts für Erb- und Rassenhygiene an der Deutschen Karls-Universität in Prag den Festvortrag über die volks- und rassenpolitische Bilanz der Staatsführung Adolf Hitlers. Daneben trat er aber auch als Redner des NSLB sowie des Zentralinstitutes für Erziehung und Unterricht auf, so im Jahre 1934 mit einem Vortrag über „Rasse und Volkstum“ auf der Cyriaksburg in Erfurt anlässlich eines volkskundlichen Schulungslagers. Kooperative Besonderheiten an der Salana und im direkten Umfeld Astels waren zum einen die Gründung des Institutes zur Erforschung der Tabakgefahren 1941 unter Federführung von Astel12, zum anderen die 1943 von ihm und weiteren Jenaer Hochschullehrern gehaltenen Vorlesungen im KZ Buchenwald vor internierten norwegischen Studenten, mit dem Ziel, diese zu germanisieren.13 Dass Astels Interesse

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vorwiegend der Vernetzung der Medizin mit den Biowissenschaften galt, wird 1941 in einem abschließenden Zitat nochmals deutlich: „Mehr und mehr bekommt die Universität Jena ihr kennzeichnendes eigenes Gesicht: Ausrichtung und Festigung der Naturwissenschaft und einer sorgfältig naturgesetzlich und verantwortungsvoll arbeitenden Medizin als Fundament des deutschen Lebens und Neuaufbau aller Kulturwissenschaft auf der klaren und folgerichtigen Erkenntnis der biologisch naturwissenschaftlichen Grundlagen alles Lebendigen einschliesslich des menschlichen Geistes und seiner Betätigungsfelder.“14 Am 4. April 1945 schied Astel, kurz vor dem Einmarsch der amerikanischen Truppen in Thüringen, durch Freitod aus dem Leben.

Uwe Hoßfeld

1 Vgl. zur Biographie die Personaldokumente im Universitätsarchiv Jena (UAJ), dem Bundesarchiv (BArch, ehemals Berlin Document Center – BDC) sowie im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar (ThHStAW). Weiterführend vgl. Uwe Hoßfeld (Hg. u.a.), „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln u.a. 2003; Uwe Hoßfeld, „Rasse“ potenziert: Rassenkunde und Rassenhygiene an der Universität Jena im Dritten Reich, in: K. Bayer (Hg. u.a.), Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus und in der frühen Nachkriegszeit, Stuttgart 2004, S. 197–218; Uwe Hoßfeld, Nationalsozialistische Wissenschaftsinstrumentalisierung: Die Rolle von Karl Astel und Lothar Stengel von Rutkowski bei der Genese des Buches Ernst Haeckels Bluts- und Geistes-Erbe (1936), in: Erika Krauße (Hg.), Der Brief als wissenschaftshistorische Quelle, Berlin 2005, S. 171–194. 2 Brigitte Jensen, Karl Astel – „Ein Kämpfer für deutsche Volksgesundheit“, in: B. Danckwortt (Hg. u.a.), Historische Rassismusforschung: Ideologie, Täter, Opfer, Berlin 1995, S. 152–178, 163. 3 Hans-Christian Harten u.a., Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reichs. Bio-bibliographisches Handbuch, Berlin 2006, S. 307. 4 Uwe Hoßfeld, Menschliche Erblehre, Rassenpolitik und Rassenkunde (-biologie) an den Universitäten Jena und Tübingen von 1934–1945: Ein Vergleich, in: Verhandlungen zur Geschichte und Theorie der Biologie 1 (1998), S. 361–392; Uwe Hoßfeld, Institute, Geld, Intrigen. Rassenwahn in Thüringen, 1930 bis 1945, Erfurt 2014. 5 Vgl. ThHStAW, ThVBM, C 294. 6 Ebd., Schreiben des ThVBM (gez. Stier) an den Rektor in Jena vom 31.1.1935. 7 Karl Astel, Rassendämmerung und ihre Meisterung als Schicksalsfrage der weißen Völker, in: Nationalsozialistische Monatshefte 6 (1935), S. 194–215, 206. 8 Ebd., Brief von Astel an Himmler vom 8.5.1935. 9 Ernst Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a.M. 1997, S. 342; Uwe Hoßfeld, Institute, Geld, Intrigen. Rassenwahn in Thüringen, 1930 bis 1945, Erfurt 2014. 10 Ernst Klee, Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945, Frankfurt a.M. 2001, S. 231. 11 Harten, Rassenhygiene (wie Anm. 3), S. 307. 12 Christoph Maria Merki, Die nationalsozialistische Tabakpolitik. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), S. 19–42; Susanne Zimmermann u.a., Pioneering research into smoking and health in Nazi Germany: The „Wissenschaftliches Institut zur Erforschung der Tabakgefahren“ in Jena, in: International Journal of Epidemiology 30 (2001), S. 35–37.

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13 Uwe Hoßfeld, Gerhard Heberer (1901–1973) Sein Beitrag zur Biologie im 20. Jahrhundert, Berlin 1997; Susanne Zimmermann, Die Medizinische Fakultät der Universität Jena während der Zeit des Nationalsozialismus, Berlin 2000. 14 UAJ, Best. BA, Nr. 2029, Bl. 72; Zitat aus der Brüsseler Zeitung vom 13.3.1941.

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Hermann Aubin Hermann Aubin erblickte als Nachfahre hugenottischer Glaubensflüchtlinge aus dem wallonischen Flandern am 23. Dezember 1885 im böhmischen Reichenberg das Licht der Welt. Sein Vater hatte sich hier als Berliner erst wenige Jahre zuvor niedergelassen, wo er es als Tuchfabrikant zu Wohlstand und Ansehen brachte. Seit dem 16. Jahrhundert war die Familie in der Freien Reichsstadt Frankfurt a.M. ansässig gewesen, ehe es den Großvater ins Preußische zog. Durch sein 1906 in München und Bonn begonnenes, in Freiburg im Breisgau 1910 mit der Promotion beendetes Studium der Geschichte brach Aubin mit der angestammten unternehmerischen Tradition, um sich zwischen 1911 und 1913 als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter bei der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde in Düsseldorf zu betätigen. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges trat der junge Wissenschaftler, inzwischen mit der Badenerin Vera Webner vermählt (1912), als Offiziersanwärter in die ÖsterreichischUngarische Armee ein, wo er zum Hauptmann der Reserve und Batteriechef avancierte. Ungeachtet seiner militärischen Verpflichtungen gelang ihm 1916 in Bonn die Habilitation, wo er seither als Privatdozent lehrte. Ansprüche eines großbürgerlichen Lebensstandards ließen vorübergehend Zweifel an der rechten Berufswahl und den Gedanken aufkommen, sich im industriellen Bereich zu betätigen, ehe er 1920 die Chance ergriff, Direktor des Instituts für Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande in Bonn zu werden. Die dortige Universität ernannte ihn 1921 zum nicht beamteten außerplanmäßigen Professor, und vier Jahre später erreichte ihn der Ruf als Ordinarius an die Universität Gießen, von wo aus er 1929 in gleicher Funktion an die Grenzlanduniversität Breslau wechselte. Während seiner Gastprofessur in Kairo in den Wintersemestern von 1930 bis 1933 begannen Berufungsverhandlungen mit der Universität Leipzig, die in Anbetracht persönlicher, fachspezifischer und letztlich nicht genau zu analysierender politischer Differenzen scheiterten. So verblieb Aubin an der ostdeutschen alma mater, wo er bei Kriegsende als Meldegänger des Volkssturms eine Verwundung erlitt. Noch auf den wissenschaftlichen und politischen Trümmern des zusammengebrochenen „Dritten Reiches“ gelang Aubin mit einer Lehrstuhlvertretung in Göttingen 1945/46 die Wiederbegründung seiner universitären Existenz, die mit seiner Lehrtätigkeit zwischen 1946 und 1954 als Ordentlicher Professor in Hamburg ihre Fortsetzung und ab 1955 als Honorarprofessor in Freiburg i. Brg. ihren Abschluss fand. Dort verstarb er am 11. März 1969. Als Dr. jur. h.c. (Hamburg) und Dr. rer. pol. h.c. (Köln), Ehrenmitglied des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung und der Association for Economic History, als Mitglied der Commission internationale pour l´histoire des Villes, der Akademien der Wissenschaften zu Göttingen und Berlin sowie als Präsident der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Ehrenpräsident des →Johann Gottfried Herder-Forschungsrates genoss Aubin vielfältige akademische Anerkennung, und mit der Verleihung des Großkreuzes des Verdienst-

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ordens der Bundesrepublik Deutschland erhielt er eine Historikern ausnehmend selten verliehene hohe politische Auszeichnung. Es gibt kaum eine Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, der Aubin nicht seine Aufmerksamkeit gewidmet hätte.1 Der Blick zurück ins Altertum war ihm ebenso selbstverständlich wie ihn die Beschäftigung mit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte faszinierte, für deren bedeutsamstes Organ, die Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, er zwischen 1927 und 1967 als Herausgeber verantwortlich zeichnete. Von Hause aus Mediävist, erfuhr Aubin seine historiographische Sozialisation zu einem Gutteil im Bonner Dunstkreis einer den mittelalterlichen Reichsgedanken pflegenden westorientierten Landesgeschichte, der er später in Schlesien eine östliche Dimension hinzufügte. Aubins wissenschaftliches Wirken vollzog sich in der politischen Lebensspanne zwischen Monarchie und Bundesrepublik, Richtung weisend orientiert am Erfahrungshorizont des Ersten Weltkrieges und seiner Folgen. Den gebürtigen Sudetendeutschen, durch Versailles Mitglied der deutschen Minderheit der Tschechoslowakei geworden, charakterisiert auf Grund seiner preußisch-reichsdeutschen familiären Prägung eine großdeutsche national-konservative Gesinnung. Der Monarchie und des Militärs als Inkarnation des Reiches verlustig gegangen, stilisierte Aubin nun das deutsche Volk in Erfüllung eines ihm zuerkannten geschichtlichen Sendungsauftrages zum Kulturträger des Reichsgedankens nach Osten. Als einer der bedeutendsten Vertreter der am Kulturraum orientierten Volksgeschichte brachte er diese wirksam in eine interdisziplinäre →Ostforschung ein, als deren renommiertester Repräsentant er in Kriegs- und Nachkriegszeit galt. Dabei hat er kein Werk über die Staaten und Völker Osteuropas verfasst, die er niemals als historische Subjekte, sondern stets als Objekte deutscher Ostbewegung behandelte. Aubin entsprach damit den mit seiner Berufung nach Breslau verbundenen Erwartungen. Hier übernahm er bezeichnenderweise nicht den Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte, vielmehr die Leitung des neu gegründeten Seminars für Geschichtliche Landeskunde Schlesiens, dessen Aufgabe darin bestand, der „zielbewussten Arbeit der polnischen und tschechischen Geschichtswissenschaft“ entgegenzutreten.2 Aubin wurde bei seiner Berufung auf den wissenschaftlichen Auftrag in politischer Absicht verpflichtet, zu demonstrieren, „dass Deutschland den Willen hat, seine Anrechte im Osten energisch wahrzunehmen und mit geistigen Waffen zu verfechten“.3 So trat er nicht nur für eine Revision der Versailler Grenzen im Osten ein, sondern darüber hinaus für deren Stabilisierung durch expansive volkstumspolitische Maßnahmen, wie sie das NS-Regime zu ermöglichen schien. Die →Nordund Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft (NOFG), der Aubin als stellvertretender Vorsitzender und Beauftragter für Schlesien, nach 1939 für Nieder- und Oberschlesien angehörte, erachtete er als die geeignete Plattform, auf der sich Wissenschaft in den Dienst einer entsprechenden Politik stellen ließ. Polen und Tschechen gegenüber pflegte Aubin einen tief wurzelnden, rassistisch begründeten Kulturdünkel, dem schon die Weigerung Ausdruck verlieh, die

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polnische oder die tschechische Sprache seines jugendlichen Umfeldes zu erlernen. In diesem Kontext versteht sich, dass er die Zerschlagung der Tschechoslowakei begrüßte und die Inkorporation Böhmens und Mährens ins Reich als unausweichliche, weil kulturhistorisch bedingte Notwendigkeit apostrophierte. Indem er die geschichtliche Zwangsläufigkeit des Vorganges mit dem Hinweis unterstrich, das Tschechentum sei „völlig durchtränkt mit Deutschtum, nicht nur kulturell […], sondern auch rein biologisch durch unaufhörliche Blutabgaben“,4 bekundete er seine Affinitäten auch zu vulgär rassistischem Gedankengut. Zu Beginn des Polenfeldzuges unternahm er den Versuch, seine volkstumspolitisch ausgerichteten Neuordnungsvorstellungen im polnischen Raum den NSMachthabern als Handlungsanleitung zu unterbreiten, denn „Wissenschaft kann nicht einfach warten, bis sie gefragt wird“.5 Folglich entwickelte er in Zusammenarbeit mit dem Breslauer Siedlungs- und Volkstumshistoriker →Walter Kuhn im Frühherbst 1939 Grundsätze einer politischen Neuordnung in Polen nach ethnischen Kriterien, die →Theodor Schieder namens der →Publikationsstelle Berlin-Dahlem zu einer Denkschrift ausformulierte, die als Vorläufer des Generalplans Ost gilt. Dabei wurde zwischen bevölkerungspolitischen Maßnahmen in deutschem Siedlungsgebiet einerseits und dessen Vorfeld andererseits unterschieden. Den sich abzeichnenden Plänen Hitlers und Himmlers folgend, geht es in der Denkschrift nicht mehr um die Restitution des Status quo ante und um die Wiederaufnahme tradierter preußischer Assimilationspolitik gegenüber den Polen, sondern sie macht deutlich, wie bei den Autoren überkommenes nationalstaatliches Machtdenken einem rassistisch begründeten Expansionismus Platz gemacht hatte. Postulierte sie doch eine „klare Abgrenzung von polnischem und deutschem Volkstum, die die Gefahren völkischer und rassischer Vermischung und Unterwanderung vermeidet“.6 Genau dies entsprach der Intension des NS-Regimes, die mit der Schaffung des Warthegaus als geschlossenem deutschem Siedlungsraum und des Generalgouvernements als „Polenreservat“ ihre politische Umsetzung erfuhr. Bis zum nahen Ende des Zweiten Weltkrieges erhoffte sich Aubin jedoch eine kulturelle Anziehungskraft des östlichen Deutschtums auf die angrenzenden Ostvölkerschaften, ein „Bekenntnis der Ostvölker zu der überlegenen, das Abendland und seinen Aufstieg verkörpernden deutschen Kultur“.7 Beflügelt von dieser Erwartung, blieb er dem Gedanken der Rück- und Eindeutschung in den schlesischen Regionen als Mischzonen mit slawischer Bevölkerung verhaftet. Einen Großteil seiner Arbeitskraft widmete er dem Bemühen, die Politik von der Notwendigkeit und Möglichkeit eines solchen Prozesses vor dem Hintergrund historischer Erfahrung zu verdeutlichen. Allerdings scheiterten seine Initiativen, mittels einer institutionalisierten gesamtschlesischen Bevölkerungsforschung entsprechende Ergebnisse zu erzielen, am provinziellen polykratischen Partikularismus. Dennoch ließ Aubin nichts unversucht, seine ethnopolitischen Vorstellungen an die zuständigen Stellen heranzutragen: Was das „deutsche“ Schlesien betraf, so war es aus der „ethnographischen Isolierung“ herauszuführen. Den „oberschlesischen“ Industrieraum galt es „durch

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geistige Pflege im deutschen Boden zu verwurzeln“, und letztlich waren vor den Toren Schlesiens zu deren Sicherung die notwendigen volkstumspolitischen Maßnahmen zu ergreifen. Ein zu Jahresbeginn 1943 beschlossenes bevölkerungspolitisches Sofortprogramm der NOFG/Publikationsstelle blieb reduziert auf einen älteren Aubinschen Bericht, dem das Reichsinnenministerium zwar das Prädikat „absolut nötig“ verlieh, doch hätte seinem Verfasser bewusst sein müssen, dass seine kulturpolitische Magnettheorie längst zu Gunsten einer inzwischen vielfältig praktizierten ethnischen Vernichtungsstrategie verworfen worden war. Aubin ist in der Nachkriegszeit seinem Verständnis von der Historiographie als politischer Legitimations- und Hilfswissenschaft treu geblieben. Zeitweilig traten Westdeutschland betreffende kulturraumhistorische Betrachtungen in den Vordergrund seines Interesses, um sich rasch wieder mit konkreten raumpolitischen zu verbinden. Sein in den 20er Jahren zusammen mit Theodor Frings im Institut für Geschichtliche Landeskunde in Bonn publiziertes Buch zur Geschichte, Sprache und Volkskunde der Rheinlande erfuhr nach 40 Jahren eine Neuauflage, war und blieb lange Jahre eine Pflichtlektüre im Germanistikstudium.8 Die bipolare Ost-West-Konfrontation des Kalten Krieges ermöglichte dann die Restitution der Ostforschung – mit Hermann Aubin als spiritus rector. Für ihn unterschied sich die territorial- und bevölkerungspolitische Situation nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg nur graduell. Die neue bundesrepublikanische Ostforschung, thematisch um die Geschichte der Sowjetunion und des Bolschewismus angereichert, stimmte ihren siedlungs-, volkstums- und kulturraumgeschichtlichen Tenor wieder an, um, unterstützt von der Bundespolitik und den Interessenvertretungen der Vertriebenen, unter Reklamation des „Rechtes auf Heimat“, den Anspruch auf Restitution der Reichsgrenzen von 1937 historiographisch zu begründen. In der vor namhaften Ostforschern geäußerten Überzeugung: „Wir brauchen uns nicht umzustellen“, gelang Aubin die Wiederbelebung des Geistes der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des mit der Hilfe des Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen gegründeten Johann Gottfried Herder-Forschungsrates (erster Präsident Aubin) und seines gleichnamigen Instituts in Marburg. In der irrational aufgeheizten Atmosphäre des Kalten Krieges vermochte Aubin die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten, das Schicksal der Vertriebenen und die sich als Nachkriegsregelung in Konturen bereits abzeichnende territoriale Neuordnung Ostmitteleuropas nicht nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung als Folge verbrecherischer Kriegführung des NS-Regimes zu analysieren. Die Ausdehnung des Siedlungsgebietes eines bolschewisierten Slawentums bis an Oder und Neiße wertete er als einen durch nichts auszugleichenden Substanzverlust an abendländischer Kultur im Osten und daher als unmittelbare Bedrohung der Kultur des christlichen Abendlandes. Aubin war nicht unbeteiligt am Prozess der Metamorphose des politischen Bewusstseins,

Hermann Aubin  59

in dessen Verlauf sich die Deutschen als ein Volk von Tätern in das Volk der Opfer verwandelte.

Hans-Erich Volkmann

1 Dem Charakter dieses Handbuches Rechnung tragend, bleibt die gesamtwissenschaftliche Leistung Aubins zu Gunsten der Beschränkung auf Kulturraum-, Volksgeschichte und Ostforschung unberücksichtigt. Zu Persönlichkeit und Gesamtwerk siehe Eduard Mühle, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005; Briefe des Ostforschers Hermann Aubin aus den Jahren 1910–1968, hg. von Eduard Mühle, Marburg 2008. 2 Schreiben des Dekans der Philosophischen Fakultät vom 13.12.1927 an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, zitiert nach H.-E. Volkmann, Historiker aus politischer Leidenschaft. Hermann Aubin als Volksgeschichts-, Kulturboden- und Ostforscher, in: ZfG 49 (2001), S. 32–49, 33. 3 Gutachten Prof. Dr. Laubert vom 22.2.1929, Zur Wiederbesetzung der Professur für Mittlere und Neuere Geschichte, zitiert nach Volkmann, Historiker aus politischer Leidenschaft. 4 Hermann Aubin, Die geschichtlichen Kräfte für den Neuaufbau im mitteldeutschen Osten, Berlin 1940, S. 35. 5 BArch, R 153, 291, Schreiben Aubins an Brackmann vom 18.9.1939. 6 Zitiert nach Angelika Ebbinghaus, Karl Heinz Roth, Vorläufer des „Generalplans Ost“. Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, in: 1999 7 (1992), S. 62– 94, 73. 7 Hermann Aubin, Deutschland und der Osten, in: Zeitschrift für die gesamte Geschichtswissenschaft 100 (1940), S. 385–411, 388. 8 Hermann Aubin, Theodor Frings, Josef Müller, Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden, Bonn 1926, Nachdruck Darmstadt 1966.

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Emil Augsburg Emil Augsburg wurde als Sohn deutscher Auswanderer am 1. Mai 1904 in Lodz im damaligen Kongresspolen geboren.1 Dort besuchte er die Bürgerschule Gustav Kühn, darauf das Gymnasium, das er erfolgreich absolvierte, und er studierte von WS 1924 bis SS 1932 Germanistik, Philosophie und Geschichte an der Universität in Leipzig. Während dieser Zeit (ab 1929) arbeitete er als Übersetzer für Russisch und Polnisch für den akademischen Übersetzungs- und Dolmetscherdienst Leipzig. 1932, nach dem Ende seines Studiums, arbeitete er dann als Lektor für den Paul List Verlag in Leipzig. Seit dem 1. Mai 1935 wurde er als ehrenamtlicher Mitarbeiter im SD-Hauptamt geführt, seit 1936 als Polen- und Russlandexperte, so dass er seit 1. Mai 1936 als hauptamtlicher Mitarbeiter tätig war. Im März 1937 kam er dann als Dolmetscher, Oberassistent und Abteilungsleiter zum neugegründeten →WannseeInstitut, das auf Betreiben von Professor →Alfred Six entstand.2 Augsburg promovierte während des Zweiten Weltkriegs 1941 an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin. Betreuer seiner Dissertation „Die staats- und parteipolitische Bedeutung der sowjetischen Presse in ihrer geschichtlichen Entwicklung“ waren Alfred Six und Michael Achmeteli.3 Im Rang eines Untersturmführers der ihm seit dem 11. September 1938 verliehen wurde, trug Emil Augsburg, bedingt duch seine hervorragenden Sprachkenntnisse und seinen zahlreichen Informationen, speziell über Polen, die Ukraine und die Sowjetunion, maßgeblich zum Aufbau des Wannsee-Institutes bei, das 1940 in das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) eingegliedert wurde. Eines der Schwerpunkte des Wannseeinstituts war das Sammeln von Archivmaterial nebst Karten, die zur Ausarbeitung umfassender Dossiers genutzt wurden um z.B. Luftangriffe und Fronteinsätze, speziell im osteuropäischen Raum vorbereiten zu können.4 Im Institut unterstand er Professor Michael Achmeteli und war mit der Leitung der Abteilung Kultur und Nationalitäten betraut. Er führte dort eine besondere Personenkartei über die Sowjetunion.5. Während des Krieges nahm er 1939 aktiv an Einsätzen der Sicherheitspolizei (SiPo) in Polen teil, worauf die Ernennung zum Obersturmführer am 20. April 1940 erfolgte. Vom 20. Juni 1941 bis 20. April 1942 befand sich Emil Augsburg im Osteinsatz mit dem „Vorauskommando Moskau“, betraut mit besonderen Aufgaben der „Gegnerbekämpfung“, und wurde bei einem Tieffliegerangriff am 16. September 1941 vor Smolensk verwundet. Mit der Ernennung zum Hauptsturmführer, ab dem 20. April 1942, kehrte Emil Augsburg nach Berlin an das Wannsee-Institut zurück und war weiterhin für die nach 1943 vom RSHA absorbierte Struktur tätig. Er verhörte dort in Verbindung mit dem „Unternehmen Zeppelin“6 russische Kriegsgefangene und begleitete die Verlegung des Wannsee-Institutes nach Schloss Plankenwarth bei Graz. Kurz vor Ende des Krieges versteckte sich der mit Wirkung zum 30. Januar 1944 zum Obersturmbannführer ernannte Emil Augsburg als Privatsekretär im Kloster von Ettal, um mit Hilfe von Anton Kwiatowski, einem hohen Vatikanbeamten, nach Italien

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zu flüchten. Während dieser Zeit beschlagnahmte er mit dem ihm verbliebenen Personal des →RSHA VI G acht Lastwagen voll mit Unterlagen, deren Spur sich nach der Flucht zum Vatikan hin verliert und die bis heute unauffindbar sind. Gesucht wegen Kriegsverbrechen und Kunstraub in Polen, führte der untergetauchte Emil Augsburg nach dem Ende des Krieges seine zweifelhafte Geheimdienstkarriere, wie die seit 2006 freigegebenen Unterlagen der Central Intelligence Agency (CIA) bestätigen, als Dr. Emil Augsburg, alias Dr. Ernst Althaus, alias Dr. Krauss fort.7 So wurde er 1947 vom CIC, der Vorläuferorganisation der CIA, angeworben und war selber gleichzeitig Mitglied einer Organisation, die unter dem Decknamen „Larson- oder Peterson-Netzwerk“8 bekannt wurde, da Augsburg weitreichende Kontakte zur Ukraine und der Wlassov-Armee nachgesagt wurden. Mit der Schaffung der Organisation Gehlen (ORG), der Vorläuferorganisation des Bundesnachrichtendienstes (BND), trat nun einen neuer potentieller Arbeitgeber auf den Plan. Das Petersen Netzwerk wurde eingestellt und auch die Doppelarbeit für den CIC und die ORG endete mit dem Ablauf des Jahres 1948.9 Reinhard Gehlen rekrutierte diese sogenannten Ostexperten wie eben Emil Augsburg, um ein Spionagenetz mit Sachverständigen zu Russlandfragen aufzubauen. Emil Augsburg (V2907) leitete 1949 die Karlsruher Filiale des BND, ehe er 1950 nach Pullach ins Hauptquartier wechselte. Dort traf er auch wieder auf die ehemalige Kanzleiangestellte des Wannsee-Institutes, Lydia Deutschendorf (alias Lydia Dorn), die dort seit 1943 seine persönliche Sekretärin gewesen war und die nach 1946 für den CI-Agenten Hirschfeld arbeitete, bevor auch sie zur ORG Gehlen überwechselte. In seiner Zeit beim BND etablierte sich Augsburg als einer der führenden Ostexperten auf dem Gebiet. Im Zuge der Aufklärung über die Zusammensetzung der Mitarbeiter und ihrer zweifelhaften NS-Vergangenheit wurden in den 1960erJahren Mitarbeiter außer Dienst gestellt. Emil Augsburg wurde nicht wegen seiner Geheimdienstoperationen beim BND entlassen, sondern wegen der Falschabrechnung von Operativgeldern.10 Über das Leben von Emil Augsburg gibt es nach 1968 keine gesicherten Angeben, auch das Todesdatum ist ungeklärt und wird in den frühen 1980er-Jahren verortet.

Michael Wasmund

1 Nachfolgend können auf der Internetsite der National Archives and Records Administration die personenbezogenen Daten zur Person Emil Augsburg von Richard Breitman, Historical Analysis of 20 Name Files from CIA Records, „Augsburg, Emil“, April 2001: http://www.archives.gov/iwg/declassified-records/rg-263-cia-records/rg-263-report.html (7.4.2015) mit den vorhandenen Unterlagen des BArch, R 9361, III/514944 verglichen werden. Vgl. dazu auch Julius Mader, „Die Graue Hand“. Eine Abrechnung mit dem Bonner Geheimdienst, Berlin 1960, S. 199–201; Jefferson Adams, Augsburg Emil. Historical Dictionary of German Intelligence, Plymouth 2009, S. 15–16. 2 Den bisher besten Überblick über die Tätigkeit dieses Think-Tanks liefert Gideon Botsch, „Geheime Ostforschung“ im: SD. Zur Entstehungsgeschichte und Tätigkeit des „Wannsee-Instituts“ 1935– 1945, in Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 48 (2000), S. 509–524.

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3 Humboldt Universität Berlin, Diss. 1942/736MF. A. Six, promovierte mit einer ähnlich lautenden Arbeit über die polnische Presse. 4 So wurde zum Beispiel die Rußlandabteilung des Osteuropainstitutes aus Breslau nach Berlin verschleppt. Beschrieben wird der „Mongoleneinfall“ im Jahrbuch für Ostrecht, Bd. 8 (1967), S. 19. Die als Denkschriften bezeichneten Ausarbeitungen behandelten „Das Kosakentum“ „Weißruthenien“, „Der Kaukasus“ oder beschäftigten sich mit den Problemen in den besetzten Ostgebieten zur Gestaltung des Ostraumes. 5 Bernd Stöver: Die Befreiung vom Kommunismus: amerikanische Liberation Policy im Kalten Krieg 1947–1991, Köln u.a. 2002, S. 134. 6 Werner Schroeder, „… eine Fundgrube der Schrifttumsinformation“. Die Leipziger „Arbeitsstelle für Schrifttumsbearbeitung beim Sicherheitshauptamt (SD)“ und die „SD-Verbindungsstelle an der Deutschen Bücherei“, in: Monika Gibas u.a., „Arisierung“ in Leipzig: Annäherung an ein lange verdrängtes Kapitel der Stadtgeschichte der Jahre 1933 bis 1945, Leipzig 2007, S. 120ff., 146. 7 Vgl. NARA, RG 263, Name-File: Augsburg, Emil, CIC-Memorandum vom 4.7.1947. 8 Vgl. Peter Hammerschmidt, Die Nachkriegskarriere des „Schlächters von Lyon“ Klaus Barbie und die westlichen Nachrichtendienste, Diss. Mainz 2013, S. 186ff.; Jens Banach, Heydrichs Elite. Das Führerkorps der Sicherheitspolizei und des SD 1936–45, Paderborn 1998, S. 290. Richard Breitman, (eds. et al.), U.S. Intelligence and the Nazis, New York 2005, S. 382ff., 415–416, 449 und 453; Kenneth D. Alford u.a., Nazi Millionairs. The Allied Search for Hidden SS Gold, PA 2002, S. 213, 289ff.; Wolfgang Duchkowitsch (Hg. u.a.), Die Spirale des Schweigens. Zum Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Wien 20042, S. 79. 9 Vgl. auch NARA, RG 263, Name-File: Augsburg, Emil; Augsburg (V-2907) war seit Dezember 1949 Leiter einer russischen Gegenspionagegruppe der GV L, ab 1953 Referent für Gegenspionage im Stab der GV L, vgl. Nachrichtendienstlicher Werdegang des Dr. Alberti, Referent bei 128, NARA, RG 263, Name-File: Augsburg, Emil; vgl. zu Augsburgs Tätigkeit in der ORG auch Christopher Simpson, Der Amerikanische Bumerang. NS-Kriegsverbrecher im Sold der USA, Wien 1988, S. 67, 71. Siehe auch Mader, „Die Graue Hand“. 10 Vgl. NARA, RG 263, Name-File: Augsburg, Emil; vgl. auch Hammerschmidt, Die Nachkriegskarriere des „Schlächters von Lyon“, S. 317.

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Hans Joachim Beyer Hans Joachim Beyer, am 14. Juni 1908 in Geesthacht bei Hamburg geboren, studierte Geschichte, Öffentliches Recht und Volkstumswissenschaften in Hamburg, Graz und Königsberg.1 Schon während seiner Studienzeit richtete sich sein Interesse auf die sogenannten „Volksdeutschen“ in Ost- und Ostmitteleuropa. Er war in auslandsdeutschen Vereinigungen der evangelischen Kirche und im VDA aktiv. Nach der Promotion in Geschichte 1931 arbeitete er zunächst als freier Journalist im Rahmen einer deutschnational-völkischen Strömung der evangelischen Landeskirchen in Norddeutschland. Nach seinem Eintritt in die SA im Juli 1933 wurde Beyer am 1. April 1934 zum Dozenten an der Hochschule für Lehrerbildung der Freien Stadt Danzig mit Lehrtätigkeit an der dortigen Technischen Hochschule ernannt. 1935 erschien seine erste volkstumsgeschichtliche Schrift, in der er sich mit den sogenannten „Umvolkungsprozessen“ im östlichen Europa beschäftigte und behauptete, dass es nach den Hussitenkriegen zu einer „Entvolkung“ der deutschen mittelalterlichen Siedlerwellen gekommen sei und dies aufgrund der besonderen Qualitäten der „deutschen Rasse“ zu einer Leistungssteigerung der Nachbarvölker geführt habe, wodurch die Entstehung eines bürgerlichen Mittelstandes als Voraussetzung der Nationalstaatsbildung erst ermöglicht worden sei. Beyer formulierte den Anspruch auf den „alten deutschen Volksraum“ und forderte die Rückgängigmachung des „Umvolkungsprozesses“.2 „→Umvolkung“ und „Entvolkung“ stellten zwei grundlegende Begriffe in Beyers Publikationen dar, die er in den folgenden Jahren und vor allem in seiner als verschollen geltenden Habilitationsschrift weiter konkretisierte. Als Grundsatz, nach dem in der volkstumspolitischen Praxis in Zukunft zu verfahren sei, formulierte Beyer eine kompromisslose „Dissimilationspolitik“, die auf einer Ausschaltung der angeblich nur zur Täuschung angepassten jüdischen Zwischenschicht (Mimikry) aus allen europäischen Völkern, einer Zulassung von Mischehen nur bei artverwandten Völkern, der Rückgewinnung des „deutschen Leistungserbguts“, sowie der Bewertung der osteuropäischen „Völkerstämme“ nach ihrem „deutschen Einschlag“ (wobei die Tschechen vor den Ukrainern und diese vor den Polen lägen) basieren sollte.3 Nach seiner Aufnahme in den Volkswissenschaftlichen Arbeitskreis des VDA trat Beyer am 1. Mai 1936 in die NSDAP ein und leitete seit dem 1. Oktober 1936 die neu gegründete Mittelstelle (seit Januar 1937: Arbeitsstelle) für auslandsdeutsche Volksforschung der Deutschen Akademie (DA) und des →Deutschen Ausland-Instituts (DAI), in deren Auftrag er auch die Zeitschrift Auslandsdeutsche Volksforschung herausgab. Beyer war ab 1938 zunächst ehrenamtlich für den SD, seit 1939 hauptamtlich in der Zentrale in Berlin aktiv. Dort arbeitete er als Bibliotheksreferent im Bereich Gegnerforschung, bevor er nach einem kurzen Dienst bei der Wehrmacht in der Amtsgruppe III B (Volkstum) der Abteilung III (Deutsche Lebensgebiete) des RSHA als Ukraine-Referent im Rang eines SS-Obersturmführers tätig wurde.4 1940 erhielt Bey-

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er mit Hilfe von →Franz Alfred Six aus dem RSHA einen Lehrstuhl am Auslandswissenschaftlichen Institut der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, wo er die Abteilung für „Volks- und Landeskunde Ostmitteleuropas“ leitete.5 Ab Mitte Juni 1941 war Beyer als Berater der Einsatzgruppe C des SD aktiv und marschierte mit ihr in Lemberg (Lwów) ein. Die Listen, nach denen dort im Juli 1941 polnische Intellektuelle erschossen wurden, stammen von ukrainischen Studenten der Universität Lemberg. Beyer dürfte sie dann als zuständiger volkstumspolitischer Berater der SS erhalten und weitergeleitet haben. Er leitete ferner ein SS-Sonderkommando innerhalb der Einsatzgruppe C.6 Nach seiner Rückkehr veröffentlichte Beyer ein Buch, in dem er seine Erfahrungen in Galizien positiv reflektierte und behauptete, dass die „polnische Führungsschicht“ aufgrund ihrer starken Verbindung mit „jüdischen Elementen“ außerhalb der kontinentalen Ordnung stehe und daher eine „Wiedereinschaltung“ vor der Geschichte nicht zu verantworten sei. Es müsse die Aufgabe der deutschen Ostpolitik sein, „keinen Tropfen deutschen Blutes dem Polentum nutzbar zu machen“.7 Beyer forderte, die Umvolkung in die Volkstumsforschung zu integrieren und so die rassenbiologischen Disziplinen an die „Erfordernisse der Massenselektion von Millionen Fremdvölkischer anzupassen“. Im September 1941 erhielt Beyer einen Ruf an die →Reichsuniversität Posen, wo er Anfang des Jahres 1942 den Lehrstuhl für Volkslehre einschließlich Grenz- und Auslandsdeutschtum besetzte. Bereits im Februar 1942 wurde sein Lehrstuhl auf ausdrücklichen Wunsch Reinhard Heydrichs an die Deutsche Karls-Universität in Prag verlegt. Dort übernahm Beyer den neu gegründeten Lehrstuhl für Volkslehre und Nationalitätenkunde Osteuropas und leitete zusammen mit Rudolf Hippius das Institut für europäische Völkerkunde und Völkerpsychologie in der →Reinhard-Heydrich-Stiftung (RHS). An der Reorganisation der Karlsuniversität war er maßgeblich beteiligt. Beyers Karriere gewann in Prag erheblich an Schwung. Als Exponent und enger Mitarbeiter des SD sowie als Wunschkandidat Heydrichs genoss er großen Einfluss im Prager Universitätsbetrieb. Beyer wurde zum „Sonderbeauftragten des Reichsprotektors für die slawischen wissenschaftlichen Einrichtungen“ ernannt und war als Generalbevollmächtigter, von Karl Herrmann Frank mit umfangreichen Vollmachten ausgestattet, für den Aufbau der RHS zuständig.8 Nach dem Abschluss des Stiftungsaufbaus trug Beyer offiziell den Titel des wissenschaftlichen Leiters der RHS und war besonders für die inhaltliche Ausrichtung der Stiftungsarbeit verantwortlich. Über Beyer lief die Korrespondenz der Stiftung mit dem Leitabschnitt des SD in Prag und weitestgehend auch mit dem Reichsprotektoramt. Er führte die Etatverhandlungen beim Reichsfinanzministerium in Berlin und war bei einigen Kollegen der Universität gefürchtet, die sich seines Einflusses bewusst waren.9 Beyer hielt Vorlesungen und Seminare an der Universität über Umvolkungs- und Volkstumsfragen, die auch für die Anwärter des leitendes Dienstes der Sicherheitspolizei und des SD in Prag bestimmt waren und bearbeitete innerhalb der RHS die Forschungsfelder, die für eine Germanisierung nicht nur der böhmischen Länder, sondern auch der osteuropäischen und südosteuropäi-

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schen Länder von Bedeutung waren.10 Am 1. September 1942 wurde Beyer zum SSHauptsturmführer befördert und erhielt im selben Jahr das Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse. Seine Publikationstätigkeit zur „Umvolkung“ und zu volkstumspolitischen Themen setzte Beyer in Prag fort.11 Bei Kriegsende floh Beyer mit seiner Familie aus Prag. Seit 1947 war er als Pressesprecher der Schleswig-Holsteinischen Landeskirche tätig und wurde 1950 zum ordentlichen Professor an der Pädagogischen Hochschule in Flensburg ernannt. Beyer beschäftigte sich dort mit Kirchen- und Regionalgeschichte, publizierte unter dem Namen Hans Beyer im Umfeld der Südostdeutschen Historischen Kommission, des Osteuropa- beziehungsweise des Südost-Instituts in München, sowie des Ostdeutschen Kulturrats aber auch weiterhin über seine alten Themen. 1971 starb Beyer in Hamburg.12

Andreas Wiedemann

1 Vgl. Karl Heinz Roth, Heydrichs Professor. Historiographie des „Volkstums“ und der Massenvernichtungen: Der Fall Hans Joachim Beyer, in: Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 262–342; AMV, Z-10-P-154, Bericht über Beyer vom 25.4.1961. 2 Hans Joachim Beyer, Aufbau und Entwicklung des ostdeutschen Volksraums, Danzig 1935, S. 117ff. 3 Ders., Auslese und Assimilation, in: Deutsche Monatshefte 7 (1940), S. 418; ders., Amerikanisches oder bolschewistisches „Volkstum“?, in: Deutsche Volksforschung in Böhmen und Mähren, 2 (1943), S. 204ff.; Roth, Heydrichs Professor, S. 281ff. 4 Ebd. 5 Erich Siebert, Die Ostforschung an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Berliner Universität in den Jahren 1940–1945, in: Informationen über die imperialistische Ostforschung 5 (1965), S. 1–34. 6 Laut Auskunft der Recherchen von K.H. Roth im Ludwigsburger Archiv. 7 Hans Joachim Beyer, Das Schicksal der Polen. Rasse – Volkscharakter – Stammesart, Leipzig 1942, S. 158, 161. 8 NAP, ÚŘP, 542, Verfügung des Staatssekretärs Karl Hermann Frank zum Aufbau der ReinhardHeydrich-Stiftung vom 6.7.1942. 9 AMV, Z-10-P-154, Bericht über Beyer vom 24.4.1961, S. 3. 10 AMV, 52–92–5, Entwurf des Lehrplans für die Anwärter des leitendes Dienstes der Sicherheitspolizei und des SD vom 3.11.1942; Andreas Wiedemann, Die Reinhard-Heydrich-Stiftung in Prag (1942–1945), Dresden 2000, S. 15ff., S. 74ff. 11 AMV, Z-10-P-154, Bericht über Beyer vom 24.4.1961, S. 3, 13f.; NA, 109–471522, Tätigkeitsbericht Beyers vom 22.2.1944, S. 7. 12 Roth, Heydrichs Professor, S. 315.

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Max Hildebert Boehm Der Staatswissenschaftler und Volkssoziologe Max Hildebert Boehm wurde am 16. März 1891 in Birkenruh bei Wenden (Livland) geboren. In Jena, Bonn, München und Berlin absolvierte er ein Studium der Geistesgeschichte, Philosophie und Soziologie, das er 1914 mit einer Promotion über „Natur und Sittlichkeit bei Fichte“ abschloss. Während des Ersten Weltkrieges war er für das Oberkommando Ost tätig, wo er sich erstmals beruflich mit Problemen des Grenz- und Auslandsdeutschtums zu befassen hatte. Nach Kriegsende schloss er sich dem Kreis um →Arthur Moeller van den Bruck an. Über ihn knüpfte er Kontakte zu der unter dem Sammelbegriff Konservative Revolution bekannt gewordenen rechtsintellektuell-antidemokratischen Bewegung völkisch-nationalistischer Provenienz. Diese Bewegung bot ihm nicht nur eine geistige Heimat, sondern auch ein ausgedehntes berufliches Tätigkeitsfeld.1 So übernahm er zwischen 1920 und 1922 die Herausgeberschaft der „Zeitschrift Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst“, die zu diesem Zeitpunkt bereits im 80. Jahrgang wöchentlich erschien. Ursprünglich nationalliberal ausgerichtet, wurde sie nach dem Ersten Weltkrieg unter der Leitung Boehms in ein nationalkonservatives Blatt umgewandelt. Obwohl Boehm als Herausgeber der Konservativen Revolution nahestand, blieb die Zeitschrift bis zur Einstellung des Erscheinens in ihrer Grundhaltung aber ein altkonservatives Blatt. Damit unterschied sie sich deutlich von anderen, dezidiert „konservativ-revolutionären“ Zeitschriften wie etwa „Das Gewissen“ unter dem Herausgeber Eduard Stadtler, in der Arthur Moeller van den Bruck zwischen 1919 und 1925 regelmäßig veröffentlichte, „Die Tat“, Ende der 1920er Jahre von Hans Zehrer herausgegeben, oder „→Volk und Reich“ unter Friedrich Heiß.2 Zwischen 1920 und 1925 leitete Boehm überdies die „Arbeitsstelle für Nationalitäten- und Stammesprobleme“ am Politischen Kolleg, einer Einrichtung für „nationalpolitische Schulungs- und Bildungsarbeit“, die am 1. November 1920 auf Betreiben des ehemaligen Straßburger und späteren Kölner Historikers Martin Spahn gegründet worden war. Elf Monate zuvor hatte dieser im „Grenzboten“ einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er die Rolle der Pariser École Libre des Sciences Politiques würdigte, die nach der französischen Niederlage gegen das Deutsche Reich im Jahre 1872 gegründet worden war und sich in der Folgezeit zur zentralen Ausbildungsstätte der französischen politischen Elite entwickelt hatte. Spahn, der Sohn des ehemaligen Fraktionsvorsitzenden des Zentrums und Reichstagsvizepräsidenten Peter Spahn, hatte vor dem Ersten Weltkrieg für das Zentrum ein Abgeordnetenmandat im Reichstag wahrgenommen. Als entschiedener Gegner der „Erfüllungspolitik“ der Weimarer Koalition war er 1920 aus dem Zentrum aus- und der DNVP beigetreten. Er wollte Deutschland durch eine gezielte Nationalpädagogik moralisch stärken und damit die Voraussetzung für einen politischen Wiederaufstieg schaffen, so wie es Frankreich nach 1871 gelungen war. Über seinen Schüler Eduard Stadtler knüpfte Spahn zeitgleich Kontakte zu Moeller van den Bruck, dem Vordenker, und Heinrich

Max Hildebert Boehm  67

von Gleichen, dem organisatorischen Kopf der Jungkonservativen unter den Konservativen Revolutionären. Stadtler, Moeller und von Gleichen bildeten zwischen 1920 und 1924/25 das Herz des Juni-Klubs, der bis zu seinem Zerfall nach dem Tode Moellers das eigentliche Zentrum und geistige Mittelpunkt der Jungkonservativen darstellte. Zwar gelang es Spahn und seinen jungkonservativen Mitstreitern aus dem JuniKlub nicht, mit dem Politischen Kolleg jene exklusive politische Eliteschule ins Leben zu rufen, die mit der École Libre vergleichbar gewesen wäre – Ernst Jäckh und Theodor Heuß waren mit der Gründung der Berliner Hochschule für Politik im August 1920 schneller gewesen –, doch konnte es sich im rechtsintellektuellen Spektrum rasch einen Namen als eine Bildungseinrichtung machen, in der fast alle führenden Köpfe der Jungkonservativen als Dozenten tätig waren. Neben Max Hildebert Boehm sind in diesem Zusammenhang vor allem zu nennen Hans Brauweiler, Friedrich Brundstäd, Friedrich Lange, →Karl Christian von Loesch, →Karl Alexander von Müller, →Rudolf Pechel, Karl Bernhard Ritter, Walter Schotte und Hermann Ullmann. Das Kolleg nahm seine Arbeit 1921 auf und bot „national-politische Lehrkurse“ von acht- bis vierzehntägiger Dauer für 30–50 Teilnehmer zu außen- und innenpolitischen Fragen. Behandelt wurden hier insbesondere die Kriegsschuld- und Nationalitätenfrage sowie Probleme im Zusammenhang mit der Neuordnung Mitteleuropas, so wie sie sich den Trägern des Kollegs stellten. Des weiteren zählten Aspekte der Neugestaltung der politischen Strukturen des Deutschen Reiches zu den Inhalten der Lehrveranstaltungen, deren Abschlüsse staatlich anerkannt wurden. Das Politische Kolleg und die Hochschule für Politik existierten bis 1927 nebeneinander, dann wurde das Politische Kolleg auf Betreiben des Innenministers Walter von Keudell (DNVP) in die Hochschule für Politik integriert. Aus Sicht der Konservativen Revolution bedeutete das einen großen Erfolg, da sie damit ihren Einfluss in einer renommierten Bildungseinrichtung, die sich ausdrücklich als eine Stütze der Weimarer Republik verstand, erheblich erweitern und so ihre eigenen Vorstellungen von der künftigen deutschen Politik an prominenter Stelle vermitteln konnte.3 Im Rahmen der organisatorischen Vorbereitung der Zusammenlegung von Politischem Kolleg und der Hochschule für Politik erhielt die Arbeitsstelle für Nationalitäten- und Stammesprobleme den Status eines eigenständigen →Instituts für Grenz- und Auslandsstudien mit Sitz in Berlin-Steglitz. Boehm blieb dessen Leiter bis 1933, teilte sich das Amt nun jedoch mit Karl Christian von Loesch, seinem Kollegen aus dem Politischen Kolleg und Mitbegründer des Deutschen Schutzbund für das Grenz- und Auslandsdeutschtum. Unter dessen Leitung existierte das Institut, das 1940 in die Auslandswissenschaftliche Fakultät der Berliner Universität integriert wurde, bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. In den Jahren ihrer gemeinsamen Tätigkeit erwarben sich Boehm und Loesch den Ruf, reichsweit zu den besten Kennern des Grenz- und Auslandsdeutschtums zu zählen. Darüber hinaus blieb Boehm der Hochschule für Politik als Leiter ihres „Deutschtumsseminars“ verbunden. Auch dabei galt sein Hauptaugenmerk den deutschen Minderheiten in Osteuropa, denen er

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„eine volkstumshaft gebundene, den Selbsterhaltungswillen stärkende, den Daseinskampf unterstützende deutsche Geisteswissenschaft“ vermitteln wollte.4 Boehm fasste die Grundlagen seines Volksbegriffs 1932 in seiner Schrift „Das eigenständige Volk“ zusammen. Hierin unternahm er den Versuch, „Volk“ und verwandte Begriffe wie „→Volksgemeinschaft“, „Volkswirkungsraum“ oder „Volksgeist“ als von jeder Grenzziehung unberührte politische „Wesensbestimmtheiten“ darzustellen, deren „Volksgeschichtlichkeit“ und „Sendung“ zur unbedingten „Volksüberdauerung“ führen würden. Unter „Volk“ verstand er dabei einen organisch wachsenden, sich gelegentlich wandelnden Körper, der unter dem Einfluss seiner jeweiligen Umwelt stand und äußere Einflüsse in sich aufnehmen und verarbeiten könne. Eine solche Auffassung vom Wesen des „Volkes“ setzte nicht unbedingt voraus, dass der Grenzverlauf des Kernstaates identisch war mit den Grenzen des Raumes, in dem deutsche Volksangehörige siedelten. Damit unterschied sich Boehms Auffassung von „Volk“ und seinem „Wirkungsraum“ in mindestens einem, allerdings entscheidenden Punkt vom Volksverständnis der NS-Führungsspitze, das in der alldeutsch-imperialistischen Tradition von der Deckungsgleichheit der Staatsund Volksgrenzen ausging. Seine Vorstellungen von einer Neuorganisation der „völkischen“ Beziehungen in Europa hatte Boehm schon 1923 in seiner Schrift „Europa Irredenta“ entwickelt. Da ihm aufgrund der Neuordnung der europäischen Staatenwelt nach dem Ersten Weltkrieg die Kongruenz von Staats- und Volksgrenzen unerreichbar schien, schlug er die Schaffung einer mitteleuropäischen Föderation vor, in der dem Deutschen Reich allerdings aufgrund seiner demographischen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung die Rolle der Führungsund Schutzmacht zukommen sollte.5 Max Hildebert Boehm zählt zu jenen konservativen „Revolutionären“, die nach dem 30. Januar 1933 ein Arrangement mit dem NS-Regime eingingen, um weiterhin an der Entstehung eines nach konservativ-revolutionären Grundsätzen geformten Staats- und Gemeinwesens mitwirken zu können. Er hatte damit Anteil an der Fortsetzung einer Kontinuitätslinie über den 30. Januar 1933 hinaus, deren Wurzeln in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lagen und maßgeblich vom romantisch gefärbten deutschen Sonderbewusstsein geprägt waren. Seinem in dieser Tradition stehenden Volksverständnis lag ein Raumbegriff zugrunde, in dem Deutsche – entweder als Mehrheit in einem geschlossenen Staatsgebiet oder als nationale Minderheit zusammen mit einem anderen Staatsvolk – lebten. Deren Lebensbedingungen wollte er unter Ablehnung der als feindlich empfundenen westlichen Werte durch ein Staats- und Gesellschaftsmodell schützen, das sich auf die in der deutschen Kultur enthaltenen Werte berief. Wie viele seiner konservativ-revolutionären Mitstreiter wollte auch Boehm eine mitteleuropäische „Gemeinschaft der Revisionisten“ schmieden und damit ein Ordnungsmodell im europäischen Zentrum Wirklichkeit werden lassen, das „organisch-harmonisch“ modelliert war und sich damit grundsätzlich vom „Atomismus“ der westeuropäischen Demokratien unterschied.

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1933 erhielt Boehm einen Ruf auf die Professur für Volkstheorie und Volkstumssoziologie an die Universität Jena. Zwischen 1933 und 1940 nahm er zudem einen Lehrauftrag für Nationalitäten- und Grenzlandkunde an der Universität Berlin wahr. Im Rahmen dieser Tätigkeit versuchte er, die „Volkstheorie als politische Wissenschaft“ zu begründen, um den nationalsozialistischen Staat dabei zu unterstützen, den Fortbestand des deutschen Volkes zu gewährleisten und den „völkischen Widerstand“ gegen den Assimilationsdruck auf die deutschen Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa zu organisieren. Als „Gegenleistung“ erhoffte er sich vom Staat eine Aufwertung der von ihm vertretenen Disziplin in den Rang einer „staatstragenden Wissenschaft“, ohne dass ihre Eigenständigkeit als „Deutsche Soziologie“ angetastet werden würde. Diese Hoffnung sollte sich jedoch schon Mitte der 1930er Jahre als trügerisch erweisen, als er in Konflikt mit einigen Gliederungen der NSDAP geriet, die selber Volkstumsarbeit betrieben. Dieser Konflikt ist im Kontext des sich verschärfenden Konflikts zwischen dem Volksbund für das Deutschtum im Ausland (VDA) und Teilen der NSDAP über die inhaltliche Ausgestaltung deutscher Volkstumsarbeit zu sehen, da Boehms Versuche, die Begriffe „Volk“ und seine Derivate neu zu definieren, im programmatischen Selbstverständnis des VDA deutliche Spuren hinterlassen hatte. Überdies bestanden zwischen Boehm, dem VDA und seinem Leiter →Hans Steinacher über das Institut für Grenz- und Auslandsstudien enge Beziehungen. Mit den wachsenden Spannungen zu Teilen der NSDAP ging ein Rückzug Boehms aus seinen ursprünglichen Forschungsgebieten und eine spürbare Hinwendung zu historischen Themen einher, wie sein „Geheimnisvolles Burgund“, eine Geschichte Burgunds aus dem Jahr 1944 zeigt. Gleichwohl kam es nicht zu einem endgültigen Bruch mit dem NS-System, im Zweiten Weltkrieg versuchte Boehm stattdessen, einen eigenen Beitrag als „kämpfender Wissenschaftler“ zu leisten, indem er in mehreren Schriften die nationalsozialistischen Annexionen insbesondere im Westen Europas rechtfertigte.6 Im Oktober 1945 wurde Boehm aus dem öffentlichen Dienst entlassen und zog sich 1946 nach Ratzeburg zurück, wo er sich zunächst als Privatgelehrter mit dem Schicksal der deutschen Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg zu befassen begann. Zwar gelang es ihm aufgrund seiner belasteten beruflichen Vergangenheit zunächst nicht, wieder im akademischen Bereich Fuß zu fassen, doch bot die Flüchtlings- und Vertriebenenproblematik Boehm ein genügend großes Betätigungsfeld, sowohl in organisatorisch-administrativer als auch in wissenschaftlicher Hinsicht. So übernahm er 1950 den Vorsitz der Carl-Schirren-Gesellschaft, einer 1932 gegründeten Vereinigung zur Pflege des deutsch-baltischen Kulturerbes, den er bis 1967 innehielt. Wissenschaftliche Forschung und politische Bildungsarbeit war von vornherein das Arbeitsziel der Nordostdeutschen (heute: Ost-) Akademie, die auf Betreiben Boehms 1951 in Lüneburg gegründet wurde. Das Amt des Präsidenten des Nordostdeutschen Kulturwerks, der kulturpolitischen Interessenvertretungen der nordostdeutschen Landsmannschaften übte er bis zu seinem Tode aus. Darüber hinaus engagierte er sich in einer Vielzahl weiterer Gremien und Einrichtungen, die sich

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mit Vertriebenenproblemen und Flüchtlingsfragen befassten. Max Hildebert Boehm starb am 9. November 1968 in Lüneburg.7

Jürgen Elvert

1 Vgl. Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, Darmstadt 19944, S. 406f.; Caspar von Schrenck-Notzing (Hg.), Lexikon des Konservatismus, Graz 1996, S. 74f.; Ulrich Prehn, „Volk“ und „Raum“ in zwei Nachkriegszeiten. Kontinuitäten und Wandlungen in der Arbeit des Volkstumsforschers Max Hildebert Boehm, in: Habbo Knoch (Hg.), Das Erbe der Provinz. Heimatkultur und Geschichtspolitik nach 1945, Göttingen 2001, S. 50–72. 2 „Das Gewissen“ erschien bis 1927 unter der Herausgeberschaft Stadtlers, ab dem 1.1.1928 unter dem Namen „Der Ring“, herausgegeben von Heinrich von Gleichen. 3 Zur Geschichte des Politischen Kollegs vgl. Schrenck-Notzing, Lexikon des Konservatismus, S. 428f. Zur Entstehung und Bedeutung der Hochschule für Politik einschließlich ihres Verhältnisses zum Politischen Kolleg siehe Jürgen Elvert, Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung 1918–1945, Stuttgart 1999, S. 150–154. 4 Die Geschichte des Institut für Grenz- und Auslandsstudien ist bis heute weitgehend unerforscht geblieben. Mehr dazu bei Prehn, „Volk“ und „Raum“, S. 53. Karl Christian von Loesch hatte 1919 zusammen mit Hermann Ullmann den Deutschen Schutzbund für das Grenz- und Auslandsdeutschtum gegründet, dem es nach dem Ersten Weltkrieg vor allem um den Schutz der deutschen Minderheiten in den neu entstandenen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas ging. Vgl. Mohler, Die Konservative Revolution, S. 72f. Das Boehm-Zitat findet sich bei Detlef Lehnert in seinem anlässlich der 80-Jahr-Feier des Otto-Suhr-Instituts der Freien Universität Berlin am 9.2.2002 gehaltenen Vortrags zum Thema „Ursprünge und Entwicklungen der ‚Deutschen Hochschule für Politik‘ 1920–1933“, in: https://www.osi-club.de/w/files/dokumente/lehnert_dhfp_bis_1933.pdf (11.3.2016). 5 Max Hildebert Boehm, Das eigenständige Volk. Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaft, Göttingen 1932; ders., Europa Irredenta. Eine Einführung in das Nationalitätenproblem der Gegenwart, Berlin 1923. 6 Die allgemeinen Angaben über Boehms beruflichen Werdegang nach Schrenck-Notzing, Lexikon des Konservatismus, S. 74f., und Prehn, „Volk“ und „Raum“, S. 53f. Zu den Verbindungen zwischen Boehm und dem VDA vgl. Elvert, Mitteleuropa! S. 234ff., zum Konflikt zwischen VDA und NSDAP vgl. Rudolf Luther, Blau oder Braun? Der Volksbund für das Deutschtum im Ausland – VDA – im NS-Staat 1933–1937, Neumünster 1999, S. 77–86. Zu Boehms Tätigkeit als „kämpfender Wissenschaftler“ vgl. Prehn, „Volk“ und „Raum“, S. 63f. 7 Zur Nachkriegstätigkeit Boehms vgl. Prehn, „Volk“ und „Raum“, S. 54. Prehn weist darauf hin, daß Boehm 1959 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen als sog. „§131“-Professor emeritiert wurde, ohne jemals eine Lehrveranstaltung in Göttingen abgehalten zu haben. Vgl. Schrenck-Notzing, Lexikon des Konservatismus, S. 75. In der einschlägigen Literatur wird oft der 11.11.1968 als Todesdatum Boehms angegeben. Der Hinweis auf den 9.11.1968 als korrektes Datum findet sich bei Mohler, Die Konservative Revolution, Ergänzungsband S. 15.

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Wilhelm Brachmann Wilhelm Brachmann wurde am 19. Juli 1900 im schlesischen Brieg als Sohn des Gymnasialoberlehrers August Brachmann geboren.1 Die Familie väterlicherseits war am Ende des 18. Jahrhunderts nach Transkaukasien ausgewandert, so dass sein 1916 verstorbener Vater, der an der Universität Halle Klassische Philologie und Germanistik studiert hatte, noch in Tiflis geboren wurde. Seine Mutter entstammte einer ostpreußischen Bauern- und Beamtenfamilie. Brachmann studierte von 1919 bis 1923 sieben Semester evangelische Theologie an den Universitäten Breslau und Königsberg. Nach den beiden theologischen Examen und der Ordination im Jahr 1925 arbeitete er als Vikar, Hilfsprediger und Krankenhausseelsorger der evangelischen Kirche in Schlesien. Im Anschluss daran verwaltete er bis 1929 eine Pfarrstelle in Hertwigswaldau bei Sagan. Den eingeschlagenen Weg zum Pfarramt verließ Brachmann im Oktober 1929, als er, unterstützt von seinem Breslauer Lehrer, dem Systematischen Theologen und Religionsphilosophen Karl Bornhausen, in den Dienst der Ostasien-Mission eintrat. Der Allgemeine Evangelisch-Protestantische Missionsverein, wie die Ostasien-Mission auch hieß, vertrat eine etwas freiere Missionsauffassung, die dadurch gekennzeichnet war, dass sie die Erkenntnisse der historisch kritischen Theologie und der religionsgeschichtlichen Forschung mit berücksichtigte. Besonders die im Auftrag des Missionsvereins von Hans Haas und Johannes Witte herausgegebene Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft zeichnete sich durch eine Annäherung an die Methodik der Religionswissenschaft aus. Brachmann arbeitete seit 1929 bei der Redaktion der Zeitschrift mit und schrieb etliche Artikel und Rezensionen. Wegen seiner geänderten politischen und religiösen Ansichten, Brachmann gehörte mittlerweile den Deutschen Christen an, schied er Ende 1933 aus der Schriftleitung aus und trat auch von seinem Amt als Missionsinspektor zurück. Er war zu der Auffassung gelangt, dass durch die christliche Mission möglicherweise einem Kulturrelativismus und liberalistischen Internationalismus Vorschub geleistet würde. Im Nachhinein lässt sich vermutlich schon Brachmanns Abkehr vom Pfarrberuf als Folge innerer Vorbehalte gegenüber der Amtskirche und die Bekanntschaft mit der Welt der außerchristlichen Religionen und die damit zusammenhängende Infragestellung des christlichen Absolutheitsanspruchs bestimmen. Er hing deswegen auch einige Zeit den Ideen Karl Barths und seiner Kritik am liberalen Kulturprotestantismus an. Außerdem vertrug sich eine allzu sehr auf die ethischen und moralischen Aspekte der Kirchenlehre abhebende Sichtweise nicht mit seinem völkischen Nationalismus, der bei ihm bereits 1918 zum Ausdruck kam, als er während der Novemberrevolution in Breslau eine nachrichtendienstliche Tätigkeit für die Reichswehr ausübte. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war Brachmann aber weder weltanschaulich noch parteipolitisch festgelegt. In besonderer Weise fühlte sich Brachmann von der Geschichtsphilosophie Oswald Spenglers und seinem „preußischen Sozialismus“ angezogen, doch wurde er bis zum Ende der zwanziger Jahre

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ein dezidierter Anhänger Moeller van den Brucks. Von dessen pessimistischer Kulturkritik fand er nach 1933 den Weg zu Adolf Hitler und dem ‚positiven‘ Aufbauwerk des „Dritten Reiches“, das aus seiner Sicht die Schwächen der Theorien Spenglers und van den Brucks zu überwindenden vermochte. Zum 1. Mai 1933 trat Brachmann in die NSDAP ein, um sich danach als Organisationsleiter und Ortsgruppenschulungsleiter sowie als Lektor bei der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums zu betätigen. Brachmanns 1933 erfolgte Hinwendung zu den Deutschen Christen war dadurch vorgeprägt, dass er im deutschen Volk und Volkstum den sich in der Geschichte manifestierenden Willen Gottes am Werk sah. Verwandt mit Stapels →Volksnomostheologie zielte die geschichtsmächtige Kategorie Volk für Brachmann insbesondere auf das ‚gemeine‘ Volk, das heißt auf die Arbeiterschaft ab. So in eine übernatürliche göttliche Lebensordnung eingefügt, konnten Volk und Arbeiter dem Weimarer Parteienstaat und vor allem den atheistischen Parteien SPD und KPD entgegengesetzt werden. Wie andere deutschchristliche Pfarrer hatte auch Brachmann einige Zeit in einer Arbeitergemeinde zugebracht, wo er die materiellen Nöte vieler Menschen hautnah kennen lernte. Für eine religiöse Lösung der sozialen Frage schien ihm deshalb ein Volkskirchenmodell nötig, das in besonderer Weise auf die Integration der Arbeiterschaft abhob. Zu diesem Zeitpunkt hielt er es noch für möglich, die völkische Idee innerhalb eines kirchlichen Bezugrahmens zu verwirklichen. Die Adaption des Rassegedankens ging deshalb auch bei ihm, allerdings nicht so umfassend wie bei anderen Führern der Deutschen Christen, mit rassentypologischen Zuschreibungen in Richtung auf ein arisches Christentum einher. Von April bis Juni 1933 war Brachmann für die Reichspropagandaleitung der Deutschen Christen im Werbefeldzug für Ludwig Müller tätig. Der Protektion durch den Reichsbischof Müller verdankte es Brachmann überdies, dass er zum 1. November 1933 als Studiendirektor an das ostpreußische Predigerseminar Klein Neuhof berufen wurde. Dort geriet er wegen seiner DC-Zugehörigkeit in die Auseinandersetzungen des Kirchenkampfes und wurde vom altpreußischen Kirchenausschuss zum 1. April 1936 aus seinem Amt entlassen. Immerhin durfte er den Titel eines „Studiendirektors a. D.“ führen und erhielt Pensionsansprüche zugesprochen, als ihn das Reichskirchenministerium zum 1. April 1937 formell in den Ruhestand versetzte. Schon im Vorfeld der Suspendierung bemühten sich einflussreiche Freunde Brachmanns darum, ihm einen Lehrauftrag an einer deutschen Hochschule zu verschaffen. Wegen der fehlenden Promotion führte das nicht zum Erfolg, obwohl sich der den Deutschen Christen nahestehende Fachreferent im Reichserziehungsministerium Eugen Mattiat sehr stark für ihn einsetzte.2 Auch wenn es nicht gelang, Brachmann nach seiner Entlassung aus dem Kirchendienst eine Verwendung an der Universität zu ermöglichen, zeigte der ehemalige Pfarrer und Missionsinspektor jedoch genügend Flexibilität, um den Anschluss an das nicht gerade als kirchenfreundlich bekannte Amt Rosenberg zu finden, wo er mit seiner beruflichen Karriere besser vorankam. Noch vor seiner nominellen Pen-

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sionierung ernannte ihn Alfred Rosenberg am 1. März 1937 zum Leiter des Referats Protestantismus und Religionswissenschaft im Amt Rosenberg. Acht Monate später wurde das Referat zu einer Hauptstelle mit entsprechend höherer Vergütung ausgeweitet. Seit 1. November 1938 hatte Brachmann nun tatsächlich einen religionswissenschaftlichen Lehrauftrag an der Universität Halle inne. Sowohl das Amt Rosenberg wie die Dozentenschaft und der Rektor Johannes Weigelt hatten sich dafür eingesetzt, in Halle eine kirchlich unabhängige Religionswissenschaft zu etablieren und mit einem Lehrauftrag den Anfang zu machen. Infolge der immer noch ausstehenden Promotion musste für Brachmann aber eine Ausnahmeregelung erwirkt werden. Trotz oder gerade wegen seiner mehr ins Weltanschauliche als ins Wissenschaftliche gehenden Lehrtätigkeit erfüllte Brachmann die in ihn gesetzten Erwartungen. Seine Antrittsvorlesung am 21. November 1938 galt der Erneuerung der Religionswissenschaft im Dritten Reich. Um den neuen, durch den Nationalsozialismus aufgeworfenen Fragen und Aufgaben gerecht zu werden, müsse sich die Religionswissenschaft auf den Rassegedanken einlassen. Gegenüber „vorderasiatischen Menschheitsräumen“ und „monotheistischen Absolutheitsansprüchen“ betonte Brachmann die enge Zusammengehörigkeit von völkischer Religiosität und völkischer Religionswissenschaft. Nur wenn Religion und Wissenschaft, wenn Gegenstand und Methode, nicht länger künstlich auseinander gehalten würden, sei es möglich, die akademische Religionsforschung aus ihrem Elfenbeinturm herauszuführen: „Wir Deutsche als Träger arischen Blutes und Geistes versuchen unser völkisches Schicksal zu sehen und zu verstehen und werden damit zum Stellvertreter und Wegweiser für das Ariertum der ganzen Welt.“3 Ganz ähnlich argumentierte Brachmann in einer 45-seitigen Denkschrift, die er 1938 für den Aufbau der „Hohen Schule“; Alfred Rosenbergs verfasste. Der rassischen Weltanschauung sei es erstmals gelungen, „die letzterreichbare Schicht, die in der Religion verankert ist, die Rasse,“ aufzuzeigen. Deshalb erweise sich eine „völlig neue Durcharbeitung und Aneignung der Forschungsgegenstände der Religionswissenschaft“ als dringend erforderlich. In der Befreiung der Religionswissenschaft von ihrer Fremdbestimmung durch den Liberalismus und kirchlichem Dogmatismus sah er die beiden ersten dafür zu machenden Schritte.4 Brachmann beließ es freilich bei dem Postulat, dass die Religionswissenschaft mittels der rassischen Weltanschauung vollständig umzugestalten sei. Über die Art und Weise, wie dies geschehen solle, und wie die von ihm angekündigte rassenpsychologische Erforschung der Religionsgeschichte konkret aussehen würde, stand in seinem Strategiepapier nichts. Das Ergebnis sah so aus, dass er seinen früheren Ansatz einer religionswissenschaftlichen Theologie (Theologie der Religionsgeschichte) um rassische Erklärungsmuster erweiterte und auf die arteigene Glaubenstradition des deutschen Volkes fokussierte. Bezeichnenderweise sprach er hierbei von der Notwendigkeit einer auf die arische Religionsgeschichte anzuwendenden Religionsphänomenologie.

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Alfred Rosenberg legte in seinen Planungen für die Gründung einer alternativen Parteiuniversität großen Nachdruck auf die weltanschauliche Ausrichtung und den möglichen politischen Nutzen der dort anzusiedelnden Fächer, zu denen auch die von Brachmann vertretene Religionswissenschaft gehörte. Um in der „Hohen Schule“ eine besondere Rolle zu spielen, kam Brachmann nicht umhin, so schnell als möglich seine Promotion nachzuholen. Das geschah 1940 mit einer Arbeit über „Ernst Troeltschs historische Weltanschauung“, auf die am 13. April 1940 das Rigorosum mit dem religionsgeschichtlichen Prüfungsthema „Rasse und Religion. Germanische Religionsgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der rassischen Grundlagen für die indogermanische Religion“ folgte.5 Ein Jahr später konnte Brachmann am 3. Mai 1941 als Leiter des „Instituts für Religionswissenschaft“ der „Außenstelle der Hohen Schule der NSDAP Halle-Saale“ eingesetzt werden. Die über seine Person bestehende Verbindung zur Universität Halle wurde noch weiter gefestigt, als er sich im Mai 1941 mit einer Untersuchung über „Glaube und Geschichte im deutschen Protestantismus“ habilitierte. Mehrfach von der Schließung bedroht, lag der im Windschatten von Jena und Leipzig liegenden preußischen Universität Halle sehr viel an den Beziehungen zum Amt Rosenberg. Davon profitierte auch Brachmann, der von den Repräsentanten der Universität geradezu hofiert wurde.6 Einige andere von Rosenberg für die „Hohe Schule“ in Aussicht genommene Außenstellen konnten nur zum Teil realisiert werden. So zerschlug sich auch der Plan, an der Universität Marburg eine weitere Dependance einzurichten. Brachmann führte dort seit Sommer 1938 Verhandlungen, um die von Rudolf Otto gegründete Religionskundliche Sammlung unter der Ägide Rosenbergs zu einem eigenen religionswissenschaftlichen Institut auszubauen. Die Verbindung von Museum, religiöser Weihestätte und wissenschaftlicher Forschungseinrichtung scheiterte letztlich an den gigantischen Ausmaßen und Kosten, die das auf dem Marburger Schloss geplante Institut annahm. Mit dem Amt Rosenberg im Rücken konnte Brachmann seine Universitätskarriere in Halle fortsetzen und gelangte bereits zwei Jahre nach der Promotion auf eine religionswissenschaftliche Professur. Seine bis dahin vorgelegten Veröffentlichungen, die sich vor 1933 hauptsächlich mit missionswissenschaftlichen Themen und danach, etwa in den Nationalsozialistischen Monatsheften, fast ausschließlich mit Problemen der NS-Ideologie beschäftigten, wären dafür sicher nicht ausreichend gewesen.7 Auch die von Brachmann später herausgegebene →Zeitschrift für Geistesund Glaubensgeschichte verfolgte weniger wissenschaftliche als weltanschauliche Zwecke. Gleichwohl wurde er am 1. April 1942 mit der zunächst vertretungsweisen Übernahme des an der Universität Halle neu eingerichteten Lehrstuhls für Religionswissenschaft betraut. Ein dreiviertel Jahr später ernannte ihn das Reichserziehungsministerium am 30. Januar 1943 zum ordentlichen Professor unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit. Aufgrund der militärischen Entwicklung und der sich abzeichnenden Niederlage konnte Brachmann seine Professur allerdings nicht mehr lange ausüben. Bei

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Kriegsende setzte er sich in den Westen Deutschlands ab, wo er am 15. Februar 1946 in der Nähe Heilbronns verhaftet wurde. Nach ungefähr zwei Jahren Aufenthalt im Internierungslager stufte ihn die Lagerspruchkammer Ludwigsburg im Mai 1948 als Mitläufer der Kategorie IV ein. Am Tag darauf wurde er am 8. Mai 1948 entlassen. Danach übte Brachmann verschiedene Tätigkeiten aus, unter anderem bei der Heilbronner Volkshochschule. Eine Rückkehr an die Universität und die Wiederaufnahme seiner Lehrtätigkeit war ihm indes nicht mehr möglich.

Horst Junginger

1 Vgl. BArch, BDC, REM Brachmann, Lebenslauf vom 8.12.1935, Bl. 8459–8465; UAH, 4823, Lebenslauf von November 1940. 2 BArch, BDC, REM, Brachmann, Bl. 8477f., Aktenvermerk Mattiats vom 29.11.1935. Daran anschließend mehrere Gutachten und der der Lebenslauf von 1935. 3 UAH, Personalakte Brachmann, 4823, nach einem Bericht der Saale-Zeitung vom 22.11.1938. 4 IfZ, MA 698, Bl. 983–1027, Planung der religionswissenschaftlichen Forschung auf der Hohen Schule der NSDAP. Direkt davor (Bl. 940–982) finden sich Rosenbergs Ausführungen über die Aufgaben der Hohen Schule vom 1.9.1938. 5 UAH, 4823, Personalakte Brachmann; ebd., Rep. 21, Nr. 233/11 (Promotionsunterlagen 1940/41), wo die Dissertation in Auszügen wiedergegeben ist. 6 UAH, 4823, Personalakte Brachmann, Schreiben vom 23.1.1942. Zur Universität Halle vgl. Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, Teil II, Bd. 2, München 1994, S. 459–490 (zu Brachmann insbesondere S. 473ff.). 7 Einschlägige Titel Brachmanns lauten etwa: Der Weltprotestantismus in der Entscheidung, Berlin 1937; Alfred Rosenberg und seine Gegner, München 1938 und Das auserwählte Volk. Das fromme England, Berlin 1940.

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Albert Brackmann Albert Brackmann wurde am 24. Juni 1871 in Hannover geboren und entstammte einer Familie von Pastoren, Gelehrten und Patriziern. Ab 1889 studierte er zunächst Evangelische Theologie, dann auch Geschichte und Kunstgeschichte in Göttingen, Tübingen und Leipzig. 1893 schloss er mit dem Staatsexamen ab, 1898 promovierte er mit einer Dissertation über Das Halberstädter Domkapitel im Mittelalter.1 Im selben Jahr wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica (MGH) in Berlin. Ab 1902 war er Gymnasiallehrer in Hannover, ab 1905 außerordentlicher Professor für Geschichte und Historische Hilfswissenschaften in Marburg, bis er 1913 nach Königsberg berufen wurde. Brackmann selbst sah den Umzug nach Königsberg als großen Wendepunkt in seinem Leben. Erst dort wandte er sich von der Kirchengeschichte schwerpunktmäßig der deutschen Geschichte im Osten zu. Im Ersten Weltkrieg wurde er zwar als dienstuntauglich eingestuft, machte aber durch seine Tätigkeit im Lazarettdienst direkte Kriegserfahrungen. Nach der deutschen Kapitulation trat Brackmann 1919 der nationalkonservativen DVP bei und betrieb in der Folgezeit aktiv Politik. Dem Versailler Vertrag stand er ebenso ablehnend gegenüber wie der Weimarer Verfassung. In der Praxis verfasste er Schriften, die sich gegen den Artikel 92 des Versailler Vertrages richteten und engagierte sich bei den Abstimmungskämpfen in Ostpreußen.2 Nachdem er zwei Jahre als Ordinarius in Marburg zugebracht hatte, wurde Brackmann 1922 als Nachfolger des profilierten Historikers Dietrich Schäfer an die Berliner Universität berufen. Seine Karriere erhielt mit diesem Schritt einen kräftigen Schub und er rückte bald in weitere führende wissenschaftliche Stellungen auf: Er wurde Mitglied der Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen, der Bayerischen und der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Zentralredaktion der MGH. 1928 wurde er Mitherausgeber der Historischen Zeitschrift, die er mit der Verdrängung Friedrich Meineckes aus dem Herausgeberkreis 1935 endgültig unter den Einfluss der „Volksgeschichte“ brachte. 1929 übernahm er als Nachfolger Kehrs die Position des Generaldirektors der Preußischen Staatsarchive in Berlin und 1934 auch die kommissarische Leitung der Reichsarchive. Zudem baute er die →Publikationsstelle Dahlem und das Institut für Archivwissenschaften auf. Ferner war er Mitherausgeber der Jahresberichte für deutsche Geschichte, und er war zudem in den verschiedensten Historischen Kommissionen und in den Abteilungen für Deutsche Geschichte und Deutsche Ost-Beziehungen der DA tätig. Daneben schuf er mit der über zwanzigbändigen Schriftenreihe Deutschland und der Osten ein führendes Forum für die Revision des Versailler Vertrages. Als Leiter der deutschen Kommission auf dem Warschauer Historikerkongress verfasste er das 50-seitige Vademecum, ein wissenschaftspolitisches Strategiepapier der Beziehungen zum östlichen Nachbarn. Die Ämterhäufung fand mit der Leitung der durch ihn gegründeten →Nord- und Ost-

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deutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG) ihren Höhepunkt, die er bis Kriegsende innehatte.3 Spätestens mit dem Zeitpunkt 1929 zeigte sich eine stärkere politische Akzentuierung der wissenschaftlichen Arbeit Brackmanns. Zunächst versuchte er die Mittel der Preußischen Archivverwaltung zu nutzen, um die wissenschaftliche Arbeit polnischer und sowjetischer Wissenschaftler zu behindern. Als Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive setzte er 1930 die Kündigung des Archivvertrages mit der Sowjetunion durch und schränkte die Nutzungsrechte drastisch ein. Brackmanns Initiativen, die Abwehrarbeit gegen Polen zu intensivieren, wurden sowohl vom Reichsministerium des Innern, als auch vom Preußischen Staatsministerium unterstützt. Er setzte sich in der Folgezeit vehement für einen stillen Boykott aller Annäherungsversuche zwischen deutschen und polnischen Historikern ein, ohne dass die Signale der Verständigungsbereitschaft offiziell zurückgestellt worden wären.4 In einer Konferenz am 15. Juli 1931 stellte Brackmann das von ihm initiierte Ostprogramm der preußischen Archivverwaltung vor. Dieses Programm sollte den Schwerpunkt der Forschung der preußischen Archivverwaltung in Richtung Osten verlagern und zugleich die →Ostforschung insgesamt beleben. Zudem förderte er die Gründung des Instituts für Archivwissenschaft (IfA), da er in den Archivaren wichtige Träger der zukünftigen Ostforschung sah. Folgerichtig wurden im IfA zahlreiche Mitarbeiter und Autoren der PuSte und der NOFG ausgebildet.5 Brackmanns Aufstieg wurde dadurch begünstigt, dass die wissenschaftliche Abwehrarbeit gegen Polen weitgehend den Spitzenkräften der preußischen Archivverwaltung überlassen wurde. Mit der Gründung der PuSte wurde ein institutioneller Meilenstein in dieser Richtung gesetzt. Als weiteren Schritt gelang es Brackmann nicht nur, den Internationalen Historikertag in Warschau als „Kundgebung“ für die „nationale Revolution“ zu nutzen, sondern er konnte auch die Historiker der kleindeutschen Schule und der historischen Osteuropaforschung integrieren. Brackmann gab vor, die Autonomie der von nationalkonservativen Historikern geleiteten Institutionen zu akzeptieren, sofern diese liberale, jüdische und sozialdemokratische Historiker aus ihren Kommissionen drängten. Im Hintergrund bereitete Brackmann jedoch schon die personelle Umgestaltung der Historischen Reichskommissionen vor.6 Brackmann konnte sich wichtigen politischen Schaltstellen gegenüber, wie dem Preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring und Reichsinnenminister Wilhelm Frick sowie den Vertrauensleuten von Rudolf Heß im „Volksdeutschen Rat“, als führende Gestalt der einflussreichen preußischen Geschichtswissenschaft präsentieren. Dadurch wiederum bekam er die nötigen Machtmittel, um die Umformung der bis dahin inkohärenten Zweige der völkischen Geschichtswissenschaft in eine Subdisziplin der Ostforschung durchzuführen. Diese Entwicklung war keineswegs zwingend vorgegeben, sondern zeichnete sich erst ab, als →Theodor Oberländer die Schirmherrschaft über die NOFG ablehnte, womit Brackmann zur führenden Figur der ostdeutschen Geschichtswissenschaft aufstieg. Brackmann wurde nicht

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nur die Leitung der 1933 neu gegründeten NOFG übertragen, er konnte auch durch entsprechende personelle Umgestaltung die Kontroverse um die Meinungsführerschaft der ostdeutschen Geschichtswissenschaft zu seinen Gunsten beenden. Brackmann stieg in der Sitzung am 14. März 1934 in den Vorstand der Historischen Reichskommission auf, als er zu deren zweitem Vorsitzenden gewählt wurde. Friedrich Meinecke hatte in derselben Sitzung nach langen Machtkämpfen insbesondere mit Brackmann den Vorsitz niedergelegt. Mit der Leitung der Preußischen Staatsarchive und der Übernahme der Leitung der NOFG und der PuSte befand sich Brackmann auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Er hatte in der Folgezeit genug Gelegenheit, seinen Einfluss geltend zu machen, indem er sich beispielsweise für die Fachkollegen einsetzte, die ihn bislang rückhaltlos unterstützt hatten. So konnte er im Fall von →Hans Rothfels den jüdischen Historiker vor schärferen Repressionsmaßnahmen schützen, was diesem aber auch nur begrenzt genützt hatte, weil sich die Hardliner in der NSDAP durchsetzten, dessen Kooperationswunsch abzulehnen. Wer sich allerdings auf dem Gebiet der Osteuropaforschung Brackmanns Verdikten verschloss, setzte seine berufliche Zukunft aufs Spiel. Dies zeigte sich im Fall Otto Hoetzsch, der noch im Sommer 1934 selbstbewusst unabhängig von Brackmann handeln wollte. Brackmann nahm inzwischen jedoch die Funktion eines generalbevollmächtigten „Führers“ ein, der nicht nur bei der Absetzung Friedrich Meineckes, sondern auch bei der Gleichschaltung und Zentralisierung der deutschen Osteuropaforschung eine führende Rolle spielte. Zur personellen und inhaltlichen Durchsetzung seiner Vorstellungen griff Brackmann zahlreich in Veröffentlichungen von Kollegen ein – als Druckmittel bevorzugte er hierbei Kürzungen bei finanziellen Zuwendungen – oder nutzte „polenfreundliche“ Äußerungen missliebiger Kollegen, um sich gegen innerfachliche Konkurrenz durchzusetzen. Mit dem Jahr 1935 war der Prozess der Gleichschaltung und der Zentralisierung der preußischen Ostforschung unter Brackmann weitgehend abgeschlossen.7 Institutionell spielte die NOFG für ihn die maßgebliche Rolle. Durch die Kontrolle der Mittelvergabe für die der NOFG unterstellten Osteuropa-Institute hatte Brackmann maßgeblichen Einfluss auf die gesamte Ostforschung des Deutschen Reiches mit dem Ziel, die NOFG zur Zentralstelle aller sich mit Ostforschung befassenden Institutionen zu machen.8 Dementsprechend wurden ihm seine größten Verdienste auch auf dem Gebiet des Wissenschaftsmanagements zugesprochen, nämlich, die Osteuropageschichte aus der Zersplitterung der Weimarer Republik herausgeführt, und sie zu einem schlagkräftigen Instrument des Staates umgeformt zu haben.9 Grundlage hierfür waren seine guten politischen Kontakte zum RMI, zum Auswärtigen und zum Preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring. Auch bei der Neuordnung des Archivwesens engagierte sich Brackmann intensiv.10 Seit 1932 hatte er sich für eine Zusammenfassung von Geheimem Staatsarchiv und Reichsarchiv, ausgesprochen. Nach jahrelangem Ringen, gegen den Widerstand der Reichsarchivführung unter Hans von Haeften, konnte sich Brackmann

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1935 durchsetzen und wurde vom Reichs- und Preußischen Ministerium des Innern zum kommissarischen Leiter des Reichsarchivs ernannt. Dennoch kam es nicht zu der von Brackmann gewünschten Zusammenlegung, da 1935/36 von staatlicher Seite veranlasst, insbesondere durch Wilhelm Frick, größere Teile des Archivguts aus der Archivverwaltung herausgelöst wurden und ein gesondertes Heeresarchivwesens geschaffen wurde. Zudem wurde ihm Mitte 1936 mitgeteilt, dass seine Amtszeit entgegen einer Zusicherung von 1935 nicht über seine Altersgrenze hinaus verlängert werden würde. Der Druck zur Verabschiedung Brackmanns ging im Wesentlichen von →Walter Frank aus, mit dem ihn eine langjährige Abneigung verband. Frank bezeichnete Brackmann als „Säule des liberalen und projüdischen Gelehrtentums“ und brüstete sich nach dessen Pensionierung damit, ihn zu Fall gebracht zu haben. Jedoch hatte er sich mit Brackmann einen Gegner ausgesucht, der durch jahrelange bürokratische Auseinandersetzungen geschult ebenso nachtragend und zäh wie er selbst war. Wehrlos war Brackmann jedenfalls nicht. Mit Hinweisen darauf, dass sich in seinem Archiv in Dahlem Unterlagen über Walter Frank befänden, die über Franks Charakter Auskunft gäben, wusste er sich diesen auf Distanz zu halten. Spannungen gab es auch zwischen Brackmann und Alfred Rosenberg: im Zusammenhang mit Brackmanns führender Rolle der Reichsarchive. Zu solchen Konflikten kam es in erster Linie aufgrund Brackmanns Machtposition. Weniger Sachkritik als Neid und Machtkampf standen dabei im Mittelpunkt.11 Gute Kontakte hatte Brackmann zu Himmler und zur SS. 1939 verfasste Brackmann im Auftrag der SS eine Broschüre mit dem Titel „Krisis und Aufbau in Osteuropa“. Er erfüllte dabei die Erwartungen der SS voll. Angereichert mit Zitaten von Adolf Hitler begründete er den deutschen Anspruch auf polnisches Gebiet mit historischen Thesen.12 Der Beginn des Zweiten Weltkrieges stellte für Brackmann zunächst eine weitere Herausforderung und auch eine Annäherung an seine politischen Ziele dar. Er rechtfertigte die Aggression gegen Polen im September 1939 bereits im Folgemonat in der Zeitschrift Raumforschung und Raumordnung. Wesentlich Brackmann wurde es zugeschrieben, dass die deutsche Wissenschaft 1939 fähig gewesen sei, Material gegen Polen bereitzustellen und dann auch bei der Grenzziehung nach der Eroberung mitzuarbeiten.13 In den ersten Kriegsjahren bekannte sich Brackmann offen zur Politik des Nationalsozialismus. So bewertete er den Sieg der deutschen Streitkräfte über Polen als unwiderlegbaren Beweis dafür, „daß die Versailler Ordnung im Osten Europas falsch war“, und begrüßte den „Eingang einer neuen, der vierten deutschen Siedlungswelle“ im Osten.14 Mit Stolz verwies Brackmann auf seine Zusammenarbeit mit dem Reichspropagandaministerium und SS-Stellen, sowie die Tätigkeit der NOFG für „oberste Reichsbehörden“ während des Zweiten Weltkrieges und sein persönlicher Beitrag im Rahmen des sogenannten Kriegseinsatzes der Geschichtswissenschaft 1941/42. Brackmann war sich im Klaren, dass ohne die logistische Zuarbeit seiner Organisationen die praktischen Arbeiten in den besetzten Gebieten nicht möglich oder sehr viel langsamer geschehen wäre.15

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Jedoch kam es nach Kriegsbeginn auch immer wieder zu Spannungen zwischen Brackmann und den zuständigen Behörden. Ein Grund hierfür war die Abberufung Ernst Vollerts 1939 aus dem RMI, mit dem Brackmann ein Verhältnis der gegenseitigen Wertschätzung hatte. Als es 1940 zu Machtkämpfen mit Ernst Zipfel, seinem Nachfolger als Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive, kam, hegte Brackmann gar Rücktrittsgedanken, verwarf diese jedoch wieder und hatte erneute Erfolgserlebnisse.16 1941 wurde er von Hitler mit dem Adlerschild des Deutschen Reiches geehrt mit der Widmung: „Dem verdienten Erforscher deutscher Geschichte“. Im Dankesschreiben an Hitler betonte Brackmann seine Bereitschaft, die unter seiner Verantwortung stehende Ostforschung für den Kampf um den Umbau Europas unter Hitlers Führung zur Verfügung zu stellen.17 Weiterhin war Brackmann erfolgreich, was die Sicherung von Büchern und Bibliotheksbeständen in den besetzten Gebieten betraf. Er ließ durch den Einsatzstab Rosenberg eine komplette polnische Bibliothek als Gegenleistung für Informationsbeschaffung in Beschlag nehmen und an die PuSte liefern.18 Seinen Einfluss konnte Brackmann auch bei der personellen Besetzung des →Instituts für Deutsche Ostarbeit (IDO) in Krakau und der neugegründeten Reichsstiftung für deutsche Ostforschung geltend machen. So verhalf er Gerhard Sappok, einem Mitarbeiter der PuSte, zum Posten des wissenschaftlichen Leiters des IDO.19 Einen Bruch gab es 1943, als sich die persönliche Situation Brackmanns mit dem Machtwechsel im RMI 1943 und dem nachfolgenden Bedeutungsverlustes der NOFG änderte. Brackmann stellte deshalb zu Beginn des Jahres erneut Überlegungen an, von seinem leitenden Amt in der NOFG zurückzutreten. Zu dem offensichtlichen Machtverlust kam eine Skepsis Brackmanns bezüglich der Rolle des Wissenschaftlers im „totalen Krieg“. Brackmann äußerte in dieser Hinsicht Bedenken, nach denen wissenschaftliche Aspekte immer mehr unter die Ägide der Tagespolitik geraten. Jedoch brachte er diese Bedenken erst zum Ausdruck, als sich der Wirkungsgrad seiner Organisation verminderte und er sich zum Befehlsempfänger und Informationszuträger degradiert fühlte.20 Im März 1944 gab er jedoch seine Rücktrittsabsichten auf und setzte seine Amtstätigkeit fort. Nach Kriegsende wurde zunächst Brackmanns Villa in Dahlem von US-Streitkräften besetzt und seine Pension sowie sein Bankkonto eingefroren. Jedoch schon 1946 konnte er sich wieder für zahlreiche Kollegen und Freunden in Form von Entnazifizierungsbescheinigungen einsetzen. Obwohl krankheitsbedingt bereits ans Bett gefesselt, nahm er nochmals wissenschaftspolitische Aufgaben ins Visier.21 Am 17. März 1952 verstarb Albert Brackmann im Alter von 81 Jahren.

Jörg Wöllhaf

1 Vgl. Wolfgang Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Lehrstuhlinhaber für Geschichte von den Anfängen des Faches bis 1970,

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Frankfurt a.M. 1984, S. 58f.; BArch, R 153, 1039, Brackmann, Die wissenschaftliche Entwicklung, Berlin 1941. 2 Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000, S. 106ff.; GStA PK, Nl Brackmann, Brackmann an Otto Becker vom 12.9.1931. 3 Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Baden-Baden 1999, S. 129. 4 Zu Brackmanns Abwehrarbeit gegen Polen vgl. Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988, S. 50–53; Torsten Musial, Archive im Dritten Reich. Zur Geschichte des staatlichen Archivwesens in Deutschland 1933–1945, Berlin 1993, S. 21. 5 Musial, Archive im Dritten Reich, S. 22f. Das „Ostprogramm“ Brackmanns wurde nicht vollständig verwirklicht. Ein Teil wurde in Publikationsvorhaben der PuSte Berlin-Dahlem eingebunden, andere Themen wurden beim nächsten „Ostprogramm“ der preußischen Archivverwaltung unter Ernst Zipfel 1940 wieder aufgegriffen. 6 Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 171ff., 236ff., 249ff. 7 Zu Brackmanns Aufstieg zur zentralen Figur der deutschen Osteuropaforschung vgl. Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 106ff., 236ff., 261ff. 8 Fahlbusch, Wissenschaft, S. 180. 9 Wolfgang Kohte, Albert Brackmann 70 Jahre alt, Kleinerer Beitrag mit Foto, in: Jomsburg 5 (1941), S. 225–227. 10 Seine Rolle in der Neugestaltung und „Gleichschaltung“ des Archivwesens vgl. Musial, Archive im Dritten Reich, S. 36ff. 11 Zur Auseinandersetzung zwischen Frank und Brackmann vgl. Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966, S. 852–856; Burleigh, Germany Turns Eastwards, S. 149f. Zur Auseinandersetzung mit Rosenberg vgl. Fahlbusch, Wissenschaft, S. 180f. 12 Michael Burleigh, Albert Brackmann (1871–1952) Ostforscher: The Years of Retirement, in: Journal of Contemporary History 23 (1988), S. 573–588, 579. 13 Karen Schönwälder, Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1992, S. 114. 14 Zitiert nach Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993, S. 212. 15 Burleigh, Albert Brackmann, S. 582; Gabriele Camphausen, Die wissenschaftliche historische Rußlandforschung im Dritten Reich 1933–1945, Frankfurt a.M. 1990, S. 211. 16 Zu den Ursachen für Brackmanns Rücktrittsgedanken vgl. GStA PK, Rep. 92, Nl Brackmann, Aubin an Brackmann vom 12.3.1940. 17 BArch, R 153, 105, Brackmann an den Führer und Reichskanzler vom 27.6.1941, zitiert nach Burleigh, Germany Turns Eastwards, S. 43. 18 Burleigh, Albert Brackmann, S. 581. 19 Brackmanns Rolle gegenüber dem IDO vgl. Burleigh, Albert Brackmann, S. 580, gegenüber der Reichsstiftung vgl. Burleigh, Germany Turns Eastwards, S. 291, 296. 20 Camphausen, Die wissenschaftliche historische Rußlandforschung, S. 209f. 21 Burleigh, Germany Turns Eastwards, S. 249.

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Wilhelm Brepohl August Heinrich Wilhelm Brepohl wurde am 22. September 1893 in Gelsenkirchen geboren. Der Großvater war ein Bauernsohn aus dem Ravensbergischen, der ins Ruhrgebiet gezogen war, um dort Arbeit im Bergbau zu finden. Sein Vater war sozial aufgestiegen, Ingenieur geworden und arbeitete als Techniker bei Krupp. Mit seinen Eltern lebte Wilhelm Brepohl während seiner Jugend in Gelsenkirchen-Hüllen, einem der von defizitärer Urbanisierung geprägten „Industriedörfer“, die 1903 nach Gelsenkirchen eingemeindet wurden. Der Gedankenwelt seines protestantisch und national orientierten Herkunftsmilieus blieb Brepohl lebenslang verbunden.1 Nach dem Abitur wollte Wilhelm Brepohl im Umfeld des Protestantismus im Bereich der Missionsarbeit beruflich aktiv werden. 1912–14 studierte er Völkerkunde in Marburg, Paris und Berlin. Brepohl nahm vom Dezember 1914 am Ersten Weltkrieg bis zu dessen Ende teil. Er kehrte als Leutnant und Kompanieführer aus dem Krieg zurück. Krieg und Niederlage machten die Zukunftspläne Wilhelm Brepohls zunichte. Von 1919 bis 1922 studierte er in Münster. Nun studierte er neue Philologie, daneben wie vor dem Kriege Völkerkunde. Wilhelm Brepohl schloss sein Studium mit einer Dissertation (über das Pathologische bei Grillparzer) ab.2 Am Ende seines Studiums fand Wilhelm Brepohl zunächst eine Tätigkeit bei der Erstellung einer Selbstdarstellung der Stadt Gelsenkirchen. Die Entwicklung seiner Heimatstadt beschäftigte Brepohl bis an sein Lebensende, die Stadt im Norden des Ruhrgebiets diente ihm immer wieder als Beispiel und Folie seiner Aussagen über das ganze Ruhrgebiet.3 Im Frühjahr 1922 fand Wilhelm Brepohl eine Arbeit bei der Gelsenkirchener Bergwerks-AG (GBAG), die eine Bibliothek an der Werksschule einrichtete. Dort erteilte er auch Unterricht in „Bürgerkunde“ und Französisch. Mit Hilfe einer Empfehlung durch den zu diesem Zeitpunkt zum schwerindustriellen Flügel der DVP gehörenden Reichstagsabgeordneten Reinhold Quaatz konnte Brepohl seine Stellung bei der GBAG in der Lehrlingsausbildung verbessern. Diese Tätigkeit endete im November 1923 in der durch Inflation und Wirtschaftskrise geprägten Situation.4 Ende 1923 gelang es Brepohl, als Redakteur bei der Gelsenkirchener Allgemeinen Zeitung eingestellt zu werden. 1933 wurde er Schriftleiter dieser Zeitung, die bis zum August 1944 existierte. Politisch stellte sich die Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung in ihrer vielfach wenig sachlichen oder kommentierenden Berichterstattung in betonter Anknüpfung an nationalliberale Traditionen in die Nähe der DVP. Gegen Ende der Republik rückte sie zunehmend nach rechts, ohne allerdings eindeutig Position zu beziehen. Nach dem 30. Januar 1933 begrüßte man die neue Regierung unter Reichskanzler Hitler mit einigen Hoffnungen. Wilhelm Brepohl selbst trat zum 1. Mai 1933 der NSDAP bei und erhielt die Mitgliedsnummer 2.165.298. Brepohl arbeitete hauptberuflich für die Zeitung, bis er 1940 dauerhaft zur Wehrmacht eingezogen wurde.5

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Die ersten mehr als heimatkundlich zu bewertenden Veröffentlichungen Wilhelm Brepohls in Zeitschriften des Westfälischen Heimatbundes erschienen schon bald nach dem Ersten Weltkrieg. In kürzeren Aufsätzen entwickelte er Vorstellungen über eine Volkstumsforschung in der jungen Industrieregion Ruhrgebiet.6 In den 1920er Jahren publizierte Brepohl zahlreiche Artikel in den Heimat- und KulturZeitschriften Rheinland-Westfalens zur Geschichte der Zuwanderung, ihrer Konsequenzen und zur Herausbildung einer typischen neuen Industriebevölkerung. Dabei griff er ethnographische, anthropologische, soziologische, soziokulturelle und auch biologistische beziehungsweise rassistische Argumentationen auf. Über seine volkskundlichen Aktivitäten kam Brepohl mit den volkstums- und landeskundlichen Bemühungen der preußischen Provinz Westfalen in Berührung. Als 1928/29 das Provinzialinstitut für Westfälische Landes- und Volkskunde gegründet wurde, wurde er in die Volkskundliche Kommission berufen. Von ihm erwartete man wohl, dass er die „→Umvolkung“ von Zuwanderern aus dem Osten im rheinisch-westfälischen Industriegebiet volkskundlich bearbeiten würde.7 Auf Initiative Brepohls wurde schließlich am 2. April 1935 vom Provinzialinstitut für westfälische Landes- und Volkskunde die →Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet gegründet. Wissenschaftlicher Geschäftsführer der Forschungsstelle wurde Brepohl, der allerdings finanziell bedingt weiterhin als Schriftleiter der Gelsenkirchener Allgemeinen Zeitung arbeiten musste.8 Für die von ihm geleitete Forschungsstelle verfasste Brepohl 1939 im Kontext nationalsozialistischer Expansionspolitik nach Osten drei unveröffentlichte Denkschriften mit Ressentiment geladenen Interpretationen über den Zuwanderungsprozess im Ruhrgebiet und die „Umvolkung“ und „Eindeutschung“ der Zuwanderer, in denen er überwiegend rassistisch argumentierte und ökonomische, soziale und kulturelle Faktoren weitgehend unberücksichtigt ließ und auf den Typus „Polack“ alle kulturellen Negativeigenschaften projizierte.9 Brepohl wurde Hauptmann im Zweiten Weltkrieg. Wohl unter Berücksichtigung seiner beruflichen Erfahrungen kam er ab September 1939 zur Propagandatruppe, die auch im Krieg abgestimmt mit dem Oberkommando der Wehrmacht vom Propagandaministerium geführt wurde. Zunächst war er bei der Propagandakompanie 666, dann bei dem Propagandazug Norwegen. Schließlich wurde er Kompaniechef der Propagandakompanie 649, später als Major Kommandeur der Propaganda-Abteilung Kaukasus. 1943/44 war er Volkstumssachverständiger in Nordfrankreich, wo er an der „rassischen“ Bewertung und Überprüfung der Abstammung zur Aufnahme in die →Deutsche Volksliste (DVL) mitwirkte. Ab Ende 1944 war Brepohl Leiter der Buchzensurstelle beim Oberkommando der Heeresgruppe Süd, wohl bei der Propaganda-Ersatz- und Ausbildungsabteilung Potsdam. Im Juni 1945 wurde Brepohl aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen.10 Nach der Kriegsgefangenschaft kehrte Brepohl nach Gelsenkirchen zurück. Mit dem Einreihungsbescheid vom 30. November 1947 wurde er entnazifiziert und in Kategorie 4 – Mitläufer – eingereiht, nach einem Berufungsverfahren wurde er als

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unbelastet eingestuft.11 Es gelang Brepohl über seine alten Kontakte die durch ihn repräsentierte Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet in den Aufbau der Dortmunder Sozialforschungsstelle als einer zentralen Keimzelle der westdeutschen Sozialforschung der Nachkriegszeit mit einzubringen. Er selbst schaffte es zum 1. Januar 1947, sich an der Sozialforschungsstelle zu etablieren. Dort arbeitete er zunächst als Abteilungsleiter der Redaktionsabteilung. Ab 1951 leitete er eine eigene wissenschaftliche Abteilung „Volkstumsforschung im Ruhrgebiet und Redaktion“, die sich der „Industrie-Volkskunde“, „Anpassung der Heimatvertriebenen“ und auch bevölkerungsgeschichtlichen Fragen widmete. So beschäftigte sich Brepohl an der Sozialforschungsstelle auch wieder mit seinem alten Thema, das nun als „Sozialgeschichte des Ruhrgebiets“ bezeichnet wurde. Im Zusammenhang mit seiner Arbeit in Dortmund wurde Brepohl 1948 Lehrbeauftragter an der Universität Münster. Dort las er vor allem auch zur Volkskunde des Ruhrgebiets, die er als Sozialgeschichte bezeichnete. 1957 wurde Wilhelm Brepohl an der Universität Münster zum Honorarprofessor ernannt. Zeitweise vertrat Brepohl auch das Lehrgebiet Gesellschaftswissenschaft an der Verwaltungsakademie mit Sitzen in Bochum, Dortmund und Hagen und lehrte an der Jugendwohlfahrtsschule Dortmund „Volkskunde und Soziologie des Ruhrgebiets“. 1957 trat Brepohl in den Ruhestand, seine Redaktionstätigkeit bei der Zeitschrift Soziale Welt, einer der zentralen Zeitschriften der Nachkriegssoziologie, beendete er erst 1964. Seine Lehrtätigkeit endete 1966.12 Nach dem Ende des Nationalsozialismus strich Wilhelm Brepohl in seinem volkskundlichen Konzept zur Untersuchung des Ruhrgebiets und seiner Bevölkerung die soziologischen und sozialgeschichtlichen Ansätze stärker heraus, rassistische und biologistische Kategorien traten hinter soziokulturellen Argumentationen zurück. Er versuchte nun, den Begriff „industrielle Volkskunde“ für eine Volkskunde des industriellen Volkes, die sich verstärkt Fragen nach Lebensweise und Lebensstilen zuwendet, zu prägen.13 Bekannt und wirkungsmächtig wurden dann vor allem Wilhelm Brepohls Bücher über die Entstehung eines „Ruhrvolks“, die auf Arbeitsergebnisse aus der Zeit der Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet zurückgriffen und wiederum in der Herausbildung neuen „Volkstums“ eine Überwindung der Desintegrationsprozesse der Moderne erblickten. Die Brepohlsche Erfindung des Ruhrvolkes traf in der Region ein verbreitetes Bedürfnis und antizipierte eine inneren Regionsbildung, die erst später eintrat. Erstaunlich ist im Prozess der Selbstwahrnehmung der Region die – von wenigen Ausnahmen abgesehen – unkritische Wahrnehmung der industriellen Volkskunde Brepohls, vor allem in der historischen Ruhrgebietsforschung und bei der Frage nach der regionalen Identität im Revier.14 Zur Verbreitung seiner Vorstellungen vom Ruhrvolk trug auch Wilhelm Brepohl selbst kräftig bei: Er hielt zahlreiche populärwissenschaftliche Vorträge und publizierte in Zeitungen und Zeitschriften unterschiedlicher Couleur bis hin zum MerianHeft.15 In der Öffentlichkeit wurde Wilhelm Brepohl in den 1960er Jahren als „Vater des Ruhrgebiets“ tituliert. Zur Verbreitung der Vorstellung vom Ruhrvolk und zu

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Brepohls Bild in der Öffentlichkeit trug auch bei, dass er 1959 zum Vorsitzenden des 1871 gegründeten Historischen Vereins für Dortmund und die Grafschaft Mark gewählt wurde, den Verein zehn Jahre lang führte und dabei erstmalig auch die neuere Geschichte in die Vereins- und Publikationsarbeit mit einbezog und schließlich zum dritten Ehrenvorsitzenden der Vereinsgeschichte ernannt wurde. Mit der Verleihung eines Ehrendoktors durch die Abteilung für Sozialwissenschaft der RuhrUniversität Bochum am 22. September 1968 aus Anlass seines 75. Geburtstages wurden schließlich die Verdienste Brepohls um die Untersuchung sozialer Prozesse in industriellen Gesellschaften und seine Forschung zum Volkstum im Ruhrgebiet gewürdigt. Der Presseverein Ruhr zeichnete Wilhelm Brepohl 1974 mit dem „Eisernen Reinoldus“ aus.16 Wilhelm Brepohl starb am 17. August 1975 in Dortmund.

Stefan Goch

1 Vgl. Stefan Goch, Wege und Abwege der Sozialwissenschaft: Wilhelm Brepohls industrielle Volkskunde, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen, Forschungen und Forschungsberichte 26 (2001), S. 139–176, zuvor Karsten Linne, Das Ruhrgebiet als Testfall: NS-Soziologie zwischen Rassismus und Sozialtechnologie, in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1993, S. 181–209. 2 Franz Krins, Professor Dr. Wilhelm Brepohl, 75 Jahre, Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Ruhr-Universität Bochum, in: Der Märker, Okt. 1968, S. 182; Westfalenspiegel, 9.9.1975; ASD, Personenkartei der Gesellschaft zur Förderung der Sozialforschung in Dortmund, Brepohl; Wilhelm Brepohl, Das Pathologische bei Grillparzer, Münster 1921 (Diss.). 3 Wilhelm Brepohl, Gelsenkirchen, Die Stadt und ihre Lebensgesetze, in: Max Arendt (Hg.), Deutschlands Städtebau: Gelsenkirchen, Berlin 1922, S. 7–22. 4 ThyssenKrupp Konzernarchiv, TSV/125. 5 ASD, Personenkartei der Gesellschaft zur Förderung der Sozialforschung in Dortmund, Brepohl; Institut für Stadtgeschichte/Stadtarchiv (Hg.), Dieter Host (Bearb.), Verzeichnis der Zeitungsbestände, Gelsenkirchen 1993, S. 12; BArch, BDC, Wilhelm Brepohl, Mitgliederkartei der NSDAP. 6 Wilhelm Brepohl, Heimatgefühl und Heimatkunde im Industriegebiet, in: Heimatblätter für das Industriegebiet 1 (1919/20), S. 103–108; ders., Die alte und die neue Zeit in der Kultur der Industrie, in: ebd., S. 155–158; ders., Wege zur Heimat, in: ebd. 2 (1920/21), S. 3–7; Karl Ditt, Raum und Volkstum, Die Kulturpolitik des Provinzialverbandes Westfalen 1923–1945, Münster 1988, S. 58–80; Doris Kaufmann, Heimat im Revier? Die Diskussion über das Ruhrgebiet im Westfälischen Heimatbund während der Weimarer Republik, in: Edeltraut Klueting (Hg.), Antimodernismus und Reform, Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung, Darmstadt 1991, S. 171–190; Matthias Uecker, Heimatbewußtsein im Industriegebiet? Das bürgerliche Heimat-Konzept im Ruhrgebiet der Weimarer Republik: Inhalte, Funktionen und Probleme, in: Westfälische Forschungen 47 (1997), S. 136f. 7 Vgl. Ditt, Raum und Volkstum. 8 STAG, 4763, Satzung der Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet; ASD, NL Brepohl, 19, Landesforschung in Westfalen, Begründung einer Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet (Kopie der Akte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Archiv C 70, Nr. 129). Vgl. Ditt, Raum und Volkstum, S. 263, 266. Zur Forschungsstelle Johannes Weyer, Die Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet (1935–1941), Ein Beispiel für Soziologie im Faschismus, in: Soziale Welt 35 (1984), S. 127; Carsten Klingemann, Vergangenheitsbewältigung oder Geschichtsschreibung? Unerwünschte Traditionsbestände deutscher Soziologie zwischen 1933 und 1945, in: Sven Papke (Hg.),

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Ordnung und Theorie, Beiträge zur Geschichte der Soziologie in Deutschland, Darmstadt 1986, S. 270. 9 ASD, NL Brepohl, 34, Der Typus ‚Polack‘ im Ruhrgebiet, Herkunft und Bedeutung der Minderwertigen, Gelsenkirchen Winter 1938/39; ebd., 35, Die Eindeutschung der Polen an der Ruhr, Deutsche Arbeit verwandelt fremdes Volkstum, Gelsenkirchen Oktober 1939 (vgl. Universitätsbibliothek Bielefeld: Buchbestand der Sozialforschungsstelle); ebd., Wilhelm Brepohl, Das Polenproblem im Ruhrgebiet, Gelsenkirchen November 1939. 10 Nach der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht vom 2.8.2001; ASD, Personenkartei der Gesellschaft zur Förderung der Sozialforschung in Dortmund, Brepohl; und ebd., Nl Brepohl, 31; BArch, Sammlung Volkstum und Umsiedlung, R 186/10: Erfassung der Volksdeutschen in Frankreich durch die Einwandererzentralstelle-Nebenstelle Paris, R 186/9: „Deutschstämmigenaktion“ im Generalgouvernement, die EWN Paris, die Volksdeutsche Kulturgemeinschaft Frankreich, R 186/25: Erfassung Volksdeutscher – Berichte: Nordfrankreich; Wilhelm Brepohl, Der Aufbau des Ruhrvolkes im Zuge der Ost-West-Wanderung, Beiträge zur deutschen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Recklinghausen 1948, S. 143–148. 11 ASD, Personenkartei, Brepohl; Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Entnazifizierungsakte Brepohls. Vgl. Wolfgang Braunschädel, Mythos „Ruhrvolk“, Kritische Anmerkungen zu Wilhelm Brepohls Volkstumsforschung und Heimatkunde, in: Ralf Piorr (Hg.), Eine Reise ins Unbekannte, Ein Lesebuch zur Migrationsgeschichte in Herne und Wanne-Eickel, Essen 1998, S. 129. 12 ASD, Personenkartei Brepohl; Otto Neuloh, Wilhelm Brepohl-65 Jahre, in: Soziale Welt 9 (1958), S. 193–201; Josef Lingnau, „Industrievolk“: Begriff und Wirklichkeit der unterbürgerlichen Schicht, Zu Wilhelm Brepohls Arbeiten anläßlich seines 75. Geburtstages, in: ebd. 20 (1969), S. 109–123; Sozialforschungsstelle an der Universität Münster, Dortmund (Hg.), Sozialforschungsstelle an der Universität Münster, Dortmund, 1946–1956, Dortmund 1956, S. 8. Vgl. Jens Adamski, Ärzte des sozialen Lebens, Die Sozialforschungsstelle Dortmund 1946–1969, Essen 2009; ders. Adamski, Zwischen Wissenschaft und Praxis – Die Dortmunder Sozialforschungsstelle und ihre regionalen Forschungsbezüge in den 1950er und 1960er Jahren, in: Westfälische Forschungen 60 (2010), S. 229– 280. 13 Karl Ditt, Von der Volks- zur Sozialgeschichte? Wandlungen der Interpretation des „Ruhrvolks“ bei Wilhelm Brepohl 1920–1960, in: Westfälische Forschungen 60 (2010), S. 221–258; Jürgen Reulecke, Erträge der Forschung, Die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in den „Westfälischen Forschungen“ in: Westfälische Forschungen 38 (1988), S. 62; Johannes Weyer, Westdeutsche Soziologie 1945–1960, Deutsche Kontinuitäten und nordamerikanischer Einfluß, Berlin 1984, S. 261, 197ff.; Wolfgang Braunschädel, Ideal und Ideologie: Einwanderung und Integration im Ruhrgebiet, in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Bd. 14, 1996, S. 391; René König, Soziologie in Deutschland, Begründer, Verfechter, Verächter, München, Wien 1987, S. 421; Jens Wietschorke, „Industrielle Volkskunde“ als Volkskunde der Mobilität? Wilhelm Brepohl und das Ruhrgebiet, in: Reinhard Johler, (Hg.), Mobilitäten, Europa in Bewegung als Herausforderung kulturanalytischer Forschung, Münster 2011, S. 435–445; Jens Adamski, Überlegungen zur industriellen Kulturraumforschung. Zu Wilhelm Brepohl: „Die Heimat als Beziehungsfeld – Entwurf einer soziologischen Theorie der Heimat“, in: Norman Braun (Hg. u.a.), Begriffe – Positionen – Debatten, Eine Relektüre von 65 Jahren Soziale Welt, Baden-Baden 2014, S. 11–17; Wilhelm Brepohl, Industrielle Volkskunde, in: Soziale Welt 2 (1951), S. 115; ders., Vom Werden der industriellen Daseinsform, in: Walther Gustav Hoffmann (Hg.), Beiträge zur Soziologie der industriellen Gesellschaft, Dortmund 1952, S. 15; ders., Der Standort der industriellen Volkskunde, in: Karl Gustav Specht (Hg.), Soziologische Forschung in unserer Zeit, Ein Sammelwerk, Leopold von Wiese zum 75. Geburtstag, Köln 1951, S. 312–319; ders., Die Volkskunde der industriellen Gesellschaft, in: Westfälische Forschungen

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6 (1943–52), S. 203–211; ders., Das Soziologische in der Volkskunde, in: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 4 (1953), S. 245–275. 14 Wilhelm Brepohl, Aufbau des Ruhrvolkes, S. 4; ders., Industrievolk im Wandel von der agraren zur industriellen Daseinsform, dargestellt am Ruhrgebiet, Tübingen 1957, S. 137f. 15 Wohl immer noch nicht vollständige Sammlung der Publikationen Wilhelm Brepohls: Institut für Stadtgeschichte, Findbuch: Sammlung Wilhelm Brepohl, Gelsenkirchen 2014. 16 UAB, Ordner Ehrenpromotionen und Unterlagen der Fakultätssitzungen des Dekanats der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum; Heimat Dortmund, Zeitschrift des Historischen Vereins für Dortmund und die Grafschaft Mark e.V. 2 (1996), S. 14f.; Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark, Bd. 86, 1970, S. 203f.; Günther Högl, Der Historische Verein für Dortmund und die Grafschaft Mark, Zwischen Tradition und Innovation, in: Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur (2000) 2, S. 24. ASD, NL Brepohl II, 1–9; UAB, ZAS II A, 20, Schriftverkehr und Vortragstätigkeit Brepohls. Zur Bezeichnung als „Vater des Ruhrgebiets“ vgl. die Berichte anlässlich der Verleihung des Ehrendoktors.

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Arthur Moeller van den Bruck Der Autor des 1923 publizierten Buches „Das dritte Reich“, Arthur Moeller van den Bruck (geb. 1876 in Solingen), kann als der zu früh Verstorbene gesehen werden, da er aufgrund seines Selbstmordes am 30. Mai 19261 nicht mehr für die Nachwelt klären konnte, ob er sich der nationalsozialistischen Bewegung angeschlossen hätte oder nicht. Gemessen werden er und seine Schriften dennoch an den Ereignissen, die mit dem nationalsozialistischen Dritten Reich ihren Lauf nahmen. Blieb seine politische Wirkung zu seinen Lebzeiten noch auf den kleinen Kreis der Jungkonservativen beschränkt, deren „hervorragende[r] Protagonist“2 er war, so feierte er seine größten Rezeptionserfolge tatsächlich erst im direkten Vorlauf des Nationalsozialismus. Seine literatur- und kulturkritischen Schriften „Die Deutschen“ (1902–10), „Der preußische Stil“ (1916), „Die Zeitgenossen“ (1919) und „Das Recht der jungen Völker“ (1919) wurden von seinen Nachlassverwaltern (vor allem von Hans Schwarz) als direkte Vorgeschichte3 des Nationalsozialismus, Das dritte Reich sogar als namengebend gefeiert. Nationalsozialisten, allen voran ihr Chefideologe Alfred Rosenberg, rückten jedoch nach früher Huldigung wieder von Moeller ab.4 Helmut Rödel sieht die Aufgabe seiner 1939 publizierten Dissertation vor allem darin, den Nationalsozialismus vom Konservativismus abzugrenzen (37) und so zur „Klärung der Fronten“ beizutragen (7).5 Er wehrte sich damit gegen die „sinnlose […] Behauptung“, Moeller „sei der geistige Begründer jenes Dritten Reiches, das die nationalsozialistische Bewegung jetzt in die Wirklichkeit umzusetzen beginne“. „Adolf Hitler“ erscheine demzufolge nur als „Testamentsvollstrecker Moellers“. Während der Nationalsozialismus „die blutbestimmte und rassegebundene →Volksgemeinschaft“ (162) als Einheit anstrebe, sähe der Konservativismus „das Volk als gegliederte Ordnung der Stände“. „Das Wort ‚Rasse‘“ sei bei Moeller „äußerlich, so viel er es auch im Munde führen“ möge (53). Die Frage nach dem deckungsgleichen Rassebegriff wurde zum Schibboleth für eine nationalsozialismusaffine Denkweise Moellers. In dieser Tradition argumentiert die konservative Nachkriegsrezeption bis heute (Maas 2010, 121).6 Dass dabei Moellers rassistische Grundhaltung in den Hintergrund tritt, gar apologetisch relativiert wird, ist ebenso bemerkenswert wie der ideologische Reduktionismus der Fragestellung selbst.7 Moellers Jungkonservatismus und seine Affinität zu den Nationalsozialisten sind nicht vom Rassebegriff zu lösen oder gar auf ihn zu verkürzen. Die Parallelen bestehen vor allem in der positiven Ideologisierung eines deutschen Nationalismus, eines deutschen Sozialismus, eines Führertums, einer, wenn auch (berufsständisch) gegliederten Volksgemeinschaft sowie in der radikalen Ablehnung von Liberalismus, Parlamentarismus und einer Demokratie in der Tradition der aufklärerischen Ideen der französischen Revolution. Damit sind auch die wichtigsten ideologischen Stichwörter der Werke Moellers angedeutet. Der Gymnasiast, der die Schule abgebrochen hat, der Dandy und Bohemien besuchte 1896 zunächst Vorlesungen des Philosophen Wilhelm Wundt über Psychologie und des Kunsthistorikers Frank Merian, konnte sich jedoch ohne Abitur nicht

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immatrikulieren (Schlüter 2010, 31). Mit seiner ersten Frau, Hedda Maase, übersetzte er die Werke Edgar Allen Poes, mit seiner zweiten Frau, der Baltin Lucy Kaerrick, und vor allem deren Schwester Elisabeth (Pseudonym E. K. Rahsin) die Werke Dostojewskis. Wohl aus Angst vor dem Militärdienst floh Moeller 1902 nach Frankreich. Die Pariser Jahre (bis 1907) führten zu einer lebenslangen antifranzösischen, und generell zu einer kulturpolitischen Radikalisierung. Ihren Niederschlag fand diese in all seinen kultur- und literaturkritischen Schriften, so in Die Deutschen. Unsere Menschengeschichte (eine achtbändige Kulturgeschichte, 1902 bis 1910), Die Zeitgenossen (1906), Der Preußische Stil (1916) und Das Recht der jungen Völker (1919). In kulturpädagogischen und kulturimperialistischen Essays werden die Deutschen als junges kulturschaffendes Volk den alten „erstarrten“ Völkern (Zeitgenossen 66), wie dem „französischen heute“ mit „Neigung zur äußeren Glättung, Ebenung, Verflachung, zur Form, im Degenerationsstadium der Physiognomielosigkeit“ gegenübergestellt. Ihm schwebte „nach der Seite der Menschen eine ausgesprochene Helden=, nach der Seite der Gruppen eine ausgesprochene Rassen=, alles in allem aber eine bewußte Kultur=, Stil= und Universalgeschichte“ vor. Kultur und Zivilisation, so der wegweisende Duktus, seien dabei nicht synonym zu setzen. Die Franzosen hätten nur Zivilisation, während die Deutschen ein Kulturvolk seien (zur Dichotomie von ‚Kultur‘ und ‚Zivilisation‘ bei Richard Wagner und Thomas Mann vgl. von dem Bussche 1998, 48ff.8). Moellers Essays sind somit einem nationalistischen Persönlichkeitsbegriff und einem Erziehungs- bzw. Bildungsprogramm verpflichtet, das literarische und historische Gestalten der Deutschen Geschichte „germanozentrisch“ (Die Zeitgenossen 1906, 101f.) fasst, sie gleichsam als Gentilgenie begreift, als eine erst durch die Volkszugehörigkeit begründete positive oder eben auch negative Persönlichkeit. In „Lachende Deutsche“ (1910, 284) heißt es: „Die Persönlichkeiten einer Nation haben alle ein bestimmtes Gemeinsames. Es ist wie wenn eine Urbildung, als ein besonderer Ausdruck der Rassigkeit, die dem ganzen Volke geistig wie körperlich mitgegeben ist, […]. An diesem Gemeinsamen erkennen wir dann nicht nur die Genies, sondern auch das Volk selbst“. Was →Houston Stewart Chamberlain mit Wagner, Goethe und Kant, →Julius Langbehn am Beispiel Rembrandts begonnen haben, führt Moeller u.a. am Beispiel Luthers, Momberts, Friedrichs des Großen, Lessings, Herders, Mozarts, Goethes, Dehmels und des von ihm besonders geschätzten Nietzsche fort. Während der Arbeiten an den „Deutschen“ war Moeller 1907 nach Deutschland zurückgekehrt. 1914 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger, wird aber aufgrund schwacher Konstitution erst 1916 zusammen mit →Hans Grimm als Propagandist in der Auslandsabteilung der Obersten Heeresleitung eingesetzt. War die Kriegsschrift Der Preußische Stil eine „Apotheose des Preußentums“ (Schlüter 2010, 323) und eine Art geistiger Mobilmachung, standen die nachfolgenden Schriften schon im Schatten der Kriegsniederlage. Die Enttäuschung über den verlorenen Krieg, die nicht eingelösten Versprechen des amerikanischen Präsidenten Wilson lastete Moeller dem Versagen der demokratischen Parteien und speziell dem Liberalismus an.

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Aus dem konservativen Kultur- und Literaturkritiker wurde ein überzeugter Vertreter der Dolchstoßlegende und ein antiliberaler, antidemokratischer, antiparlamentarischer Publizist. In Das Recht der jungen Völker (7) forderte er neben der Umgestaltung des Raumes nach einem diesen zustehenden eigenen Recht auch die nationale Expansion in Form einer deutschen Osterweiterung (vgl. den Roman „Volk ohne Raum“ von Hans Grimm 1926). Seine vielfältigen Ausführungen zur Rassenanschauung zeugen von einer Transmission des Prinzips ‚Rasse‘ auf die geistige Ebene der deutschen Nation, wobei ‚Rasse‘, wie schon bei Chamberlain, zum Rechenpfennig eines nationalistischen Kulturchauvinismus (Lobenstein-Reichmann 2008, 178ff.) eingesetzt wird. Moeller publizierte zahlreiche Rezensionen, Kritiken und Aufsätze in den Zeitschriften „Gesellschaft, Magazin für Litteratur“, in „Nord und Süd“, im „Kunstwart“, in „Der Tag“, in der „Berliner Börsen-Zeitung“, der „Neue[n] Preußische[n] Kreuzzeitung“, der „Deutsche[n] Rundschau“, vor allem auch in der Wochenschrift „Das Gewissen“.9 Letztere war das Organ des von ihm und seinen Gesinnungsgenossen (nicht zuletzt vom umtriebigen Heinrich von Gleichen-Rußwurm) als Reaktion auf den Versailler Vertrag 1919 ins Leben gerufenen Ringkreis, der sich im sogenannten Juni-Klub organisiert hatte. Der Name des Klubs war nicht nur ein Akronym für Juvenum Unio Novum Imperium (Schlüter 2010, 294), sondern sollte die Keimzelle einer kulturtragenden Führerschicht des geschlagenen, aber dennoch jungen Volkes der Deutschen werden. Aus dem Umkreis des Juni-Klubs gingen neben der schon erwähnten Gewissen (1920) der Ring-Verlag (1921), das Politische Kolleg (1920), der Deutsche Herrenklub (1924), der Volksdeutsche Klub (1924) und vieles mehr hervor10 (vgl. Petzinna 2005, 139). Seine Mitglieder beeinflussten völkische Bünde wie den Dürer-Bund und den Werdandi-Bund, der schon 1907 unter Moellers (sowie Houston Stewart Chamberlains, Ludwig Schemanns und Adolf Bartels) Mitwirkung gegründet worden war.11 Man verstand sich als unpolitische und überparteiliche12 Kulturpartei mit aristokratischem Führungsanspruch (Schlüter 2010, 23) und mit einem Bildungsprogramm, das eine ständisch-organisierte Führungsschicht heranziehen sollte. Der Topos der Überparteilichkeit verbirgt jedoch „eine Parteipolitik, die konkrete soziale Interessen verfolgt“; er ist ein zutiefst konservatives Prinzip (Hering 2005, 34), bei dem der gegnerischen Partei Eigeninteresse unterstellt und die eigene Handlungsweise als interesselos und nur dem gemeinen Wohl verpflichtet überhöht wird. In seinem chiliastisch ausgerichteten Werk „Das Dritte Reich“13 treibt Moeller diesen Gedanken auf die Spitze. Er behauptet (1923/26, 5), „daß alles Elend deutscher Politik von den Parteien kommt“ und dass diese daher „von der Seite der Weltanschauung her zu zertrümmern“ seien. Und: „Der Versuch, der in diesem Buche gemacht wurde, war nur von einem Standpunkte aus möglich, der keiner Partei verschrieben ist, […] von dem Standpunkte einer dritten Partei aus […]“ (6). Das Ergebnis dieser Drittheit müsse der national-konservative Staat sein, der ohne Parteipolitik auskomme, das heißt in letzter Konsequenz: der dem Anspruch nach unpoli-

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tisch ist. Moellers Ziel ist somit die Entpolitisierung der deutschen Gesellschaft, so dass der Weg vom dritten Standpunkt über die dritte Partei zum entmündigenden und totalitären dritten Reich nicht weit ist. Dieses solle nach dem zweiten, dem nun zusammengebrochenen wilhelminischen Reich als Weltanschauungsreich konstituiert werden, als eine „Zusammenfassung“ (14), in der die „deutsche Zwieschaft“ (12) zum Beispiel zwischen deutschem Nationalismus und dem von ihm propagierten deutschen Sozialismus überwunden würde. Wieder argumentiert Moeller mit Persönlichkeitsparametern. Die Kapitelüberschriften sind als Eigenschafts- und Kompetenzprädikate wie als daraus resultierende Weltanschauung semantisiert: „revolutionär; sozialistisch; liberal; demokratisch; proletarisch; reaktionär; konservativ“. Besonders das Adjektiv liberal ist für ihn gleichzusetzen mit ‚charakterlich verkommen‘ (in seinen Worten: „opportunistisch, egoistisch, profitgierig, landesverräterisch, national bindungslos“), mit ‚inkompetent‘ (Synonyme: intellektuell kurzsichtig, dumm, unbelehrbar) und mit ‚weltanschaulich zersetzerisch‘, nationale Werte missbrauchend und verderbend. Es charakterisiere ein Prinzip, das das Individuum über die Gemeinschaft stelle und damit die Gemeinschaft und die Nation verrate. Konservativismus sei demgegenüber eine metapolitische und überzeitliche Geisteshaltung, die in einem patriotisch pflicht- und verantwortungsbewussten Charakter bestehe und sich zum Ziele gemacht habe, die nationalen Werte zu bewahren, im Ernstfall zu verteidigen; zudem sei es eine intellektuelle Fähigkeit, eine höhere Einsicht in die Geschichtlichkeit als solche und die der deutschen Nation im Besonderen. „Konservativismus“ (in Abgrenzung zu „reaktionär“) ist für ihn eine nationalpolitische Weltanschauung, eine Utopie, die auf einen starken deutschen Staat mit einer starken Führerpersönlichkeit an der Spitze und ein ebenso starkes Kollektivbewusstsein abziele, so dass der einzelne Mensch sich der Politisierung entziehen kann bzw. im Ganzen des Staatsgefüges die „Gemeinschaft über dem Individuum steht“. Das Politische wird so tatsächlich entpolitisiert und zur transpolitischen Scheidemünze der nationalen Persönlichkeit gemacht (vgl. Lobenstein-Reichmann 2002).14 Moeller van den Bruck inszeniert sich also als Visionär des Unpolitischen; er transponiert genuin politische Themen ins Unpolitische, das heißt konkret: ins Charakterlich-Moralische und ins Geistig-Kulturelle, und überhöht die so konstruierten Leitwerte zur quasireligiösen Handlungsverpflichtung. Dies sprach all diejenigen an, die keine äußere Revolution wollten, schon gar keine, die ihren bürgerlichen Besitzstand in Frage stellte. Die von Moeller angestrebte „Deutsche Revolution“ war eine geistige, charakterliche Revolution. Darauf verweist nicht zuletzt das von Hugo von Hofmannsthal geprägte Paradoxon „konservative Revolution“ 15.

Anja Lobenstein-Reichmann

1 Die nachfolgenden Ausführungen basieren u.a. auf: Klemens von Klemperer, Moeller van den Bruck, Arthur, in: Neue Deutsche Biographie 17 (1994), S. 650–652; Hans-Joachim Schwierskott,

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Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962; Stefan Breuer, Arthur Moeller van den Bruck. Politischer Publizist und Organisator des Neuen Nationalismus in Kaiserreich und Republik, in: Gangolf Hübinger (Hg. u.a.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart 2000, S. 138–150; André Schlüter, Moeller van den Bruck: Leben und Werk, Köln u.a. 2010; Zeitgenössische Literatur: Max Hildebert Boehm, Ruf der Jungen. Eine Stimme aus dem Kreise um Moeller van den Bruck, Freiburg 19333; Paul Fechter, Moeller van den Bruck: Ein politisches Schicksal, Berlin 1934. 2 Manfred Schoeps, Der Deutsche Herrenklub. Ein Beitrag zur Geschichte des Jungkonservativismus in der Weimarer Republik, Diss., masch. schriftl. Erlangen-Nürnberg 1974. 3 Boehm, Ruf der Jungen, 7. 4 Vgl. Alfred Rosenberg, Gegen Tarnung und Verfälschung, in: Blut und Ehre. Hg. Thilo von Trotha. München 1936 (zuerst: Völkischer Beobachter. 8.12.1933). 5 Helmut Rödel, Arthur Moeller van den Bruck. Standort und Wirkung, Berlin 1939. 6 Sebastian Maaß, Kämpfer um ein drittes Reich. Arthur Moeller van den Bruck und sein Kreis, Kiel 2010. 7 Schlüter bestreitet m. E. zu Recht die „grundsätzliche Diskrepanz zum Nationalsozialismus“ (2010, S. 366) und verweist auf einen Artikel in: Gewissen, Trommler der Nation 6 (7.4.1924) 14, der Moeller zugeschrieben wird und in dem er an Hitler appelliert: „Rühre die Trommel, Trommler der Nation“. 8 Raimund von dem Bussche, Konservatismus in der Weimarer Republik. Die Politisierung des Unpolitischen, Heidelberg 1998. 9 Vgl. dazu: C. Kemper, Das „Gewissen“ 1919–1925: Kommunikation und Vernetzung der Jungkonservativen, München 2011. Es stammen wohl ca. 300 Artikel aus Moellers Feder; so Louis Dupeux, Die Intellektuellen der „Konservativen Revolution“ und ihr Einfluß zur Zeit der Weimarer Republik, in: Walter Schmitz (Hg. u.a.), Völkische Bewegung – Konservative Revolution – Nationalsozialismus. Aspekte einer politisierten Kultur, Dresden 2005, S. 3–19, 12. 10 Berthold Petzinna, Die Wurzeln des Ring-Kreises, in: Schmitz u.a., S. 139–150. 11 Rolf Parr, Der Werdandi-Bund, in: Uwe Puschner (Hg. u.a.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1996, S. 316–327. 12 Zum Topos der Überparteilichkeit vgl. Rainer Hering, „Parteien vergehen, aber das deutsche Volk muß weiterleben.“ Die Ideologie der Überparteilichkeit als wichtiges Element der politischen Kultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Schmitz (Hg. u.a.), S. 34–43. 13 Zur Namensgebung vgl. Schlüter, Moeller van den Bruck: Leben und Werk, S. 350. 14 Anja Lobenstein-Reichmann, Liberalismus– Konservativismus – Demokratie. Arthur Moeller van den Bruck, das Begriffssystem eines Konservativen zu Beginn der Weimarer Republik, in: Dieter Cherubim (Hg. u.a.), Neuere deutsche Sprachgeschichte, Berlin u.a., S. 183–206. 15 Zum Begriff „konservative Revolution“ vgl. Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, Graz 19995; vgl. auch: Petzinna, Die Wurzeln des Ring-Kreises; Schlüter, Moeller van den Bruck: Leben und Werk, S. 330; Schoeps, Der Deutsche Herrenklub, S. 7; Stefan Breuer, Die „Konservative Revolution“ – Kritik eines Mythos, in: Politische Vierteljahresschrift 31 (1990) 4, S. 585–607.

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Otto Brunner Otto Brunner wurde am 21. April 1898 in Mödling (Niederösterreich) bei Wien geboren. Nach seiner Gymnasialzeit, die er in Wien, Iglau (heute: Jihlava, Tschechien) und Brünn (heute: Brno, Tschechien) verbrachte, meldete er sich 1916 als EinjährigFreiwilliger zum Militärdienst im Schützenregiment St. Pölten, No. 21 (Niederösterreich), aus dem er zu Kriegsende im November 1918 als Leutnant der Reserve ausschied. Im Wintersemester 1918/19 nahm er an der Universität Wien sein Studium der Geschichte und der Geographie auf, das er im Wintersemester 1921/22 mit der Promotion abschloss. Die erfolgreiche Absolvierung des vom Österreichischen Institut für Geschichtsforschung veranstalteten 30. Kurses in den Historischen Hilfswissenschaften ermöglichte Brunner den Eintritt in die staatliche Archivlaufbahn: Am Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv war er zunächst als Volontär und dann von November 1926 bis September 1931 als Unterstaatsarchivar beschäftigt. Der erfolgreiche Abschluss seines Habilitationsverfahrens an der Wiener Universität und die damit verbundene Ernennung zum Privatdozenten (alter Ordnung) für mittelalterliche und österreichische Geschichte im März 1929 bildeten die notwendigen Voraussetzungen für eine vollberufliche Tätigkeit an der Wiener Universität, die Brunner nach seinem Ausscheiden aus dem Archivdienst zum Wintersemester 1931/32 zunächst als außerordentlicher, und dann ab Juni 1941 als ordentlicher Professor für mittlere und neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der südostdeutschen Landesgeschichte aufnahm. Bereits im September 1940 wurde Brunner zunächst zum kommissarischen Leiter und dann ab März 1941 zum ordentlichen Leiter des jetzt als „Institut für Geschichtsforschung und Archivwissenschaften in Wien“ firmierenden ehemaligen „Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung“ berufen. Die im Mai 1945 an der Wiener Universität einsetzenden Entnazifizierungsverfahren führten im Falle Brunners zu dessen umgehender Amtsenthebung sowohl vom Lehrstuhl wie auch von der Vorstandschaft des Institutes und zu seiner Versetzung in den vorläufigen Ruhestand, die schließlich im August 1948 mit der endgültigen Pensionierung Brunners ihren Abschluss fand. Schon diese biographische Skizze der ersten Hälfte seines beruflichen Werdegangs vermag bei näherer Betrachtung einige Erklärungen dafür zu liefern, warum Brunner sich seit den dreißiger Jahren zu einem, wie noch ausführlich zu zeigen sein wird, dezidiert völkisch orientierten Historiker entwickeln konnte. Der Umstand, dass er den größeren und damit sicherlich auch den prägenden Teil seiner Gymnasialzeit außerhalb „Deutschösterreichs“ in Böhmen und Mähren (Iglau und Brünn) verbrachte, wird zu einer allerersten Sensibilisierung Brunners für die im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn unübersehbar vorhandenen ethnischen Spannungen geführt haben. So war beispielsweise das im Stadtzentrum Brünns1 beheimatete Erste Deutsche Staatsgymnasium, an dem Brunner 1916 auch sein Abitur ablegte, eine fast ausschließlich von deutschen Muttersprachlern besuchte Schule.2 Die Tatsache, dass im Unterschied zu den in der Regel sozial privilegierten Deutsch-

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österreichern die tschechischsprachige Bevölkerungsmehrheit verstärkt in den zentrumsferneren Stadtteilen wohnte und ihre Kinder auch nicht auf die deutschsprachigen Staatsgymnasien schickte, musste zwangsläufig den besonderen und exklusiven Status dieser deutschösterreichischen Bildungsinsel in einem slawisch geprägten Umfeld unterstreichen. Auch das zumindest im letzten Kriegsjahr 1918 stark multiethnisch geprägte St. Pöltener Schützenregiment Nr. 213, in dem Brunner als Neunzehnjähriger vermutlich auch die beiden letzten großen Isonzoschlachten 1917 erlebte, dürfte ihn nachhaltig geprägt haben. Als Vertreter der „jungen Frontgeneration“ (Ulrich Herbert) kehrte Brunner als „Leutnant der Reserve“ im Spätherbst 1918 ohne erkennbares Kriegstrauma nach Wien zurück. Vielmehr lässt sich auch noch in fortgerücktem Alter ein ungebrochenes Interesse Brunners an allem Militärischen konstatieren: So nahm er beispielsweise vom 19. bis zum 27. September 1940 „an einer Fahrt von Wissenschaftlern über die französischen Schlachtfelder“ teil.4 Ausgesprochen stolz war er auf seine im Dritten Reich erfolgte Beförderung zum „Hauptmann der Reserve“ und datiert deshalb auch das Vorwort zur zweiten ergänzten Auflage seines noch zu erwähnenden Werkes Land und Herrschaft „Im Wehrdienst, Oktober 1942“.5 Am 12. Mai 1944 schrieb er dezidiert als „Hauptmann Brunner“ an den Dekan der Philosophischen Fakulät der Wiener Universität.6 Entscheidend geprägt haben dürfte ihn aber vor allem seine Studienzeit an der Wiener Universität unmittelbar nach dem Krieg. Die in jüngster Zeit stark intensivierten Forschungen zur Wiener Universitätsgeschichte erlauben jetzt einen genaueren Blick auch auf die Studiensituation, mit der sich Brunner konfrontiert sah. Die schon vor Kriegsausbruch gut besuchte Wiener Universität litt nach Kriegsende unter einer enormen Überlastquote, bedingt durch die Tatsache, dass die früher auch an den anderen Universitäten der Kronländer studierenden Deutschösterreicher sich jetzt vor allem auf Wien konzentrierten; dazu kamen die vielen Kriegsheimkehrer; die Universität erlaubte zudem auch erstmals die Aufnahme eines Studiums für Frauen; vor allem aber setzte ein starker Zuzug von Juden aus den ehemaligen östlichen Kronländern, namentlich aus Galizien, schon kurz nach Kriegsende ein. Die Folgen waren absehbar: Die Studienbedingungen verschlechterten sich rapide, namentlich in den Semestern unmittelbar nach Kriegsende, also in der Zeit, in der Brunner sein Studium aufnahm. Darüberhinaus eskalierten die antisemitischen Spannungen innerhalb der Studentenschaft, die sich in heftigen, zum Teil äußerst gewalttätigen Auseinandersetzungen entluden, ohne dass die Hochschulleitung bereit gewesen wäre, ihr Hausrecht auszuüben und die Polizei zu rufen.7 Auch der überwiegende Teil des Lehrkollegiums trug nicht zu einer Entschärfung der Spannungen an der Wiener Universität bei. Mehrheitlich stark deutsch-national gesonnen, teilweise offen oder latent antisemitisch eingestellt, trug die Hochschullehrerschaft das Ihrige dazu bei, dass sich die Wiener Universität seit den zwanziger Jahren zu einer „reaktionären Insel mitten im roten Wien“ entwickelte.8 Eine ausgesprochene Sonderstellung, nicht nur unter der Professorenschaft der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, nahm der von der Brünner an die Wiener Univer-

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sität übersiedelte Othmar Spann (1878–1950) ein, der als glänzender Rhetoriker mit seinem von ihm propagierten konservativ-katholischen Ständestaatsmodell, das vorgab, sich an mittelalterlichen Vorbildern zu orientieren, vor allem die studentischen Massen, darunter sicherlich auch den jungen Brunner, in seinen Bann zu ziehen vermochte.9 Brunners Aufstieg im universitären Milieu, der Anfangs der dreißiger Jahre begann, verdankt sich verschiedenen Umständen. Schon die Wahl seines Doktorvaters Oswald Redlich (1858–1944), der in seiner Doppelfunktion als Lehrstuhlinhaber für Mittelalterliche und Neuere Geschichte (1897–1934) und als Leiter des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung eine zentrale Position in der Philosophischen Fakultät einnahm, war in dieser Hinsicht bedeutsam. Brunner, der mit einer Arbeit über „Österreich und die Walachei während des Türkenkrieges von 1683 bis 1699“ 1923 promoviert wurde und die von seinem akademischen Lehrer vertretene These der Bollwerkfunktion Österreichs untermauert hatte10, eröffnete sich damit die Chance, weiter Karriere machen zu können. Insbesondere die erfolgreiche Absolvierung des 30. Ausbildungskurses sicherte Brunner die Aufnahme in den sich bis heute als elitär verstehenden Kreis der „Institutler“, also in diejenige Personengruppe, die einen als äußerst anspruchsvoll geltenden Ausbildungsgang des Österreichischen Instituts erfolgreich bestanden und sich damit auch für höhere akademische Weihen prinzipiell qualifiziert hatte.11 Wie hermetisch geschlossen dieser Zirkel zumindest in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen sein muss, erweist der Umstand, dass alle drei Geschichtsordinariate, die in den dreißiger Jahren an der Wiener Philosophischen Fakultät bestanden, mit Absolventen des 23. Kurses des Österreichischen Instituts besetzt worden waren.12 Als ausgesprochener Glücksfall für Brunner erwies sich ebenfalls, dass Redliches Nachfolger, der 1929 auf den Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte berufene und zum Leiter des Österreichischen Instituts ernannte →Hans Hirsch (1878–1940)13 sich für die Rückholung des jungen Archivars an die Universität einsetzte und ihm 1931 ein Extraordinariat für mittelalterliche und österreichische Geschichte verschaffen konnte, nachdem er sich 1929 mit einer Arbeit über „Die Finanzen der Stadt Wien von den Anfängen bis ins 16. Jahrhundert“14 habilitiert hatte. Der beste Ausdruck für die Wirkungsmacht personeller Netzwerke, die das universitäre Milieu traditionell ja seit jeher prägen, ist der Umstand, dass Brunner als Protegé von Hirsch 194015 dessen Nachfolge sowohl auf dem Lehrstuhl wie auch im Institut antreten konnte. Die enge Beziehung, die sich seit Beginn der dreißiger Jahre zwischen beiden Historikern entwickelte, lässt sich vor allem in der „Volkstumsarbeit“ nachweisen, die Hirsch und Brunner gleichermaßen lieb und teuer war. Regelmäßig nahm Brunner seit 1932 an den jährlichen Studienfahrten teil, die von Hirsch zusammen mit dem Wiener Geographen →Hugo Hassinger im Rahmen der von beiden im Jahr 1931 gegründeten und vom Deutschen Reich finanzierten →Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft (SOFG) organisiert wurden16, und hielt einschlägige historische Überblicksreferate17. Nicht zuletzt lässt sich Brunners Aufstieg unter einem generationsgeschichtlichen Aspekt

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verorten: Brunner gehörte zu den „jungen“ Leuten, die sich ganz bewusst abgrenzen wollten von den etablierten, älteren, konservativen Ordinarien, die teilweise noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges berufen worden waren und sich gegenüber dem Nationalsozialismus wenigstens innerlich distanzierten. Die „Jungen“ konnten hingegen mit einem gewissen Recht davon ausgehen, dass ihnen die Zukunft gehören werde, womit das selbstverständliche Bekenntnis zu einem sich ebenfalls als „jung und neu“ definierenden Nationalsozialismus einherging. Bester Ausdruck für den Triumphalismus, der offensichtlich auch Brunner ergriffen hatte, ist dessen selbstbewusster Auftritt auf dem Erfurter Historikertag von 1937, auf dem er mit der älteren Lehre und damit auch den Vorgängergenerationen in einer zumindest für einen Extraordinarius außergewöhnlich scharfen Weise abrechnete.18 Obwohl Brunner in der so genannten Verbotszeit nicht in die NSDAP eingetreten war – seinen (ersten) Aufnahmeantrag stellte er erst kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs im Mai 1938 – besaß er genügend politischen Rückenwind aus Berlin, dass er, wie bereits erwähnt, 1940 als überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus die Nachfolge seines Mentors Hirsch zunächst im Institut und kurz darauf dann auch auf dem Lehrstuhl antreten konnte.19 Und Brunner sollte die mit seiner Person sich verbindenden Erwartungen seiner nationalsozialistischen Förderer auch nicht enttäuschen: Denn in seinem Einleitungsreferat bei der am 17. April 1939 stattfindenden Berliner Tagung der volksdeutschen Forschungsgemeinschaften äußerte sich Brunner begeistert zu der nach dem „Anschluss“ Österreichs im Frühjahr 1938 und dem Münchner Abkommen im selben Jahr 1938 grundsätzlich veränderten Lage: Nunmehr sei es möglich, aus der Phase der „Defensive“ in eine solche der „Offensive“ überzugehen, wenngleich er auch „durch die Schaffung des Protektorates Böhmen und Mähren“, die ja nur einen Monat vor der Berliner Tagung vollzogen worden war, bereits neue Gefahren am Horizont heraufziehen sah. Denn schließlich besäßen „die Tschechen eine Jahrhunderte alte Erfahrung im Volkstumskampf“. Mehr oder weniger unverblümt stellte Brunner die Frage nach der Existenzberechtigung „des Tschechentums im deutschen Lebensraum“, wobei schon die von ihm verwendete militärische Terminologie keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass für ihn die Frage eigentlich bereits entschieden war: Die Tschechen in ihrer jetzigen „Situation des Nichtmehr-Staatsvolk-Seins“ waren in den Augen Brunners längst zu einer quantité négligeable herabgesunken, zumal „dem Lebensraum […] Binnendeutsche und Volksgruppen wie deren Staatsvölker an(gehören)“20. Für ihn war es eindeutig und längst entschieden, dass angesichts eines deutsch-völkischen Anspruchs auf „Lebensraum“ auch alte „Staatsvölker“ wie zum Beispiel die Tschechen jedwedes Recht auf die eigene Staatlichkeit grundsätzlich verwirkt hatten. Es lässt sich also bereits jetzt in der Zeit unmittelbar vor der militärischen Offensive Großdeutschlands, also noch vor dem am 1. September 1939 beginnenden Polenfeldzug, eine wissenschaftsorganisatorische Offensive beobachten, die mit dem Namen Brunners aufs engste verknüpft ist. Die Äußerungen Brunners anlässlich der Wiener Jubiläumstagung, mit der man am 17. und 18. März 1941 das zehnjährige Bestehen

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der SOFG beging, bilden einen weiteren Beleg für seine „zweifelsohne rassistische (n), pseudohistorische(n) und geopolitischen Argumente“.21 Sie fügen sich jedenfalls passgenau in den bisher dargestellten Rahmen Brunnerscher Denkungsart ein, wenn vom „blutsmäßig germanischen Anteil an der Bevölkerung“, von der „Immunisierung der deutschen Volksgruppen gegen die geistige Beeinflussung durch fremde Staatsideen“ die Rede ist und der Wiener Historiker seine Argumentation geopolitisch unterfüttert.22 Insofern greifen bisweilen geäußerte Zweifel an ihrer Authentizität, die vor allem auf ihre Überlieferung als protokollarische Aktennotiz abheben, nicht.23 Wenn er 1939 in seinem Berliner Einleitungsreferat die vor ihm sitzenden Kollegen aus den →Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften darauf eingeschworen hatte, sich energisch den „neuen Aufgaben, die uns der Führer stellt,“ zu widmen, dann muss man sagen, dass Brunner im Rahmen seiner Möglichkeiten das Seine dazu beitragen hat, teilweise auch schon vor Kriegsausbruch. Ein besonderes Anliegen war ihm insbesondere die Förderung einschlägiger Volkstumsforschung. Neben der Herausgabe der Zeitschrift „Deutschtum im Südosten“ unterstützte er in ausführlich gehaltenen Gutachten für die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Förderungsanträge seiner Schülerinnen und Schüler, die bei der Wissenschaftsorganisation einliefen und natürlich bewilligt wurden.24 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch eine gewisse Konzentration auf die Ungarndeutschen, wobei sich die transleithanische Hälfte der ehemaligen Donaumonarchie immer mehr zur bête noire Brunners entwickeln sollte.25 Vor allem widmete er sich wie schon in der Zeit vor dem „Anschluss“ sowohl in völkisch geprägten Journalen als auch in Zeitschriften mit wissenschaftlichem Anspruch immer wieder dem Thema deutscher Größe im Kontext der österreichischen Geschichte.26 Da ihm auf Grund seiner stark multiethnischen Prägung das ehemalige Habsburgerreich als Vielvölkerstaat zutiefst verhasst war27, sprach er ihm jedwede staatliche Qualität in der Vergangenheit ab. Die vom „Haus Oesterreich“ offiziell proklamierte Gleichbehandlung aller Nationalitäten durch eine allein dem Kaiser verpflichtete Beamtenschaft und Bürokratie musste Brunner zuwider sein, stellte sie doch den völkischen Führungsanspruch des Deutschösterreichertums, „Österreichs deutsche Sendung“28, in Frage. Dessen historisch-kulturelle Leistungen in der Vergangenheit ließen sich nach der Ansicht Brunners bis in die Anfänge deutscher Geschichte im Mittelalter zurückverfolgen: Als „Ostmärker“ – Brunner gab dieser Bezeichnung gegenüber dem Begriff des „Österreichers“, der doch eigentlich nur eine „Wiener Schablone“ sei, den Vorzug29 – hätten sie am „Hofzaun des Reiches“30 gestanden und Wacht gehalten. Sie hätten nicht nur erfolgreich das Reich vor fremdvölkischer Invasionsgefahr geschützt, sondern es auch verstanden, durch eine kontinuierliche völkische Expansion den deutschen Lebensraum nach Osten und Südosten auszudehnen. Ein entsprechendes Geschichtsbild beschwor auch die vielbesuchte und von dem mit Otto Brunner in engem Kontakt stehenden Münchner Historiker →Karl Alexander von Müller (1882– 1964) auf Betreiben von Alfred Rosenberg organisierte Münchner NSDAP-Ausstel-

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lung „Deutsche Größe“ im Jahr 1939, bei welcher der Wiener Historiker für den Mittelalterpart verantwortlich zeichnete.31 Welches Ansehen Brunner mittlerweile bei Staat und Partei genoss, machte auch die 1942 erfolgte Verleihung des Verdun-Preises32 für das Jahr 1941 überdeutlich. Denn die Spitze des Reichsministeriums für Wissenschaft, Bildung und Erziehung hatte sich trotz anderslautender Vorschläge von Historikerkollegen und hoher Ministerialbürokratie, die Brunner zwar berücksichtigen, aber gleichwohl nicht auf Platz eins setzen wollten, für ihn entschieden.33 Denn er hatte mit seiner mittlerweile stark umstrittenen, schon erwähnten Darstellung „Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter“ im Fach für Furore gesorgt: 1939 erschienen, hatte das Buch schon 1942 eine zweite und 1943 eine dritte Auflage erfahren. Nach dem Krieg wurde Brunners Werk noch drei weitere Male aufgelegt: Die 4. stark revidierte Auflage von 1959 und die 5. und 6. unveränderte Auflage von 1965 und 1973 erschienen aber jetzt bezeichnenderweise mit dem neuen Untertitel „Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter“.34 Die Substitution des von Brunner in der Zeit des Nationalsozialismus dezidiert „völkisch“, das heisst geopolitisch-ethnisch verstandenen Begriffs „Südostdeutschlands“ durch „Österreich“ in der Nachkriegszeit war ganz offensichtlich seinen Bemühungen um political and moral correctness geschuldet. Brunner hatte schon Ende 1945 in seinem Entnazifizierungsverfahren ein vollmundiges Bekenntnis zu einem staatstreuen Österreichertum abgelegt.35 Damit aber der von Brunner bis Kriegsende präferierte weite Begriff eines „völkisch“ zu interpretierenden „Südostdeutschlands“ oder „Südostdeutschtums“, der die „Österreicher“ nur als die in der „Ostmark“ siedelnden „Bayern“ deutet keinesfalls mehr vereinbar. Aber nicht nur der Untertitel, sondern vor allem auch die Darstellung als solche revidierte Brunner grundlegend und tauschte eine inzwischen problematisch gewordene Begrifflichkeit durch unverdächtig klingende Termini aus: Statt von „Volksgeschichte“ sprach er jetzt eben von „Strukturgeschichte“.36 Das Buch entsprach ganz offensichtlich dem Zeitgeschmack: Zunächst einmal rechnete es schonungslos mit der in den Augen Brunners und vieler anderer völlig diskreditierten und bis zum Aufkommen des Nationalsozialismus die universitäre Lehre dominierenden „liberalistischen“ Verfassungsgeschichte ab und vertiefte seine schon auf dem Erfurter Historikertag 1937 vorgetragene Kritik an der namentlich von der Verfassungsgeschichte verwendeten Begrifflichkeit ins Grundsätzliche. Deren historische Zeitgebundenheit konnte Brunner eindrucksvoll erweisen, was seinem Werk „Land und Herrschaft“ bis heute zu Recht als bleibendes Verdienst angerechnet werden muss. Die vor allem seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts sich intensivierende, zumal auch in Italien einsetzende Diskussion um Brunner hat aber auch zu der Erkenntnis geführt, dass Brunner für das eigene Œeuvre keinesfalls die notwendigen Konsequenzen gezogen hat. Wenn er die begrifflichen Anachronismen seiner Vorgänger heftig beklagte und deren heuristischen Erkenntniswert entschieden bestritt, dann erwies er sich bei der von ihm selbst verwende-

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ten Begrifflichkeit als genauso zeitgebunden, wobei sich insbesondere der starke Einfluss →Carl Schmitts mit seinem konkreten „Ordnungs“-Denken bemerkbar machte.37 Namentlich auch der von Gadi Algazi geführte Nachweis des ideologischen Mehrwertes der von Brunner den zeitgenössischen Quellen entlehnten Begrifflichkeit erwies sich als ein Meilenstein in der Brunner-Forschung.38 Darüber hinaus bot „Land und Herrschaft“ auch eine Legitimation für den Gebrauch von Gewalt bei der Austragung von Konflikten. Denn Gewaltanwendung war Brunner zufolge im Mittelalter ein legitimes Rechtsmittel gewesen, vorausgesetzt, sie erfolgte im Rahmen der so genannten Fehde. Demgemäß sei der Gewalteinsatz regelgeleitet gewesen, der Fehdeführende habe sich darauf berufen können, in seiner „Ehre“ verletzt zu sein. Es kann kaum überraschen, dass ein solches Deutungskonzept damals auf die Zustimmung vieler Zeitgenossen gestoßen war. Denn es ermöglichte oder rechtfertigte Gewaltanwendung gegen diejenigen, von denen man sich angeblich in seiner „Ehre“ angegriffen sah, ohne auf etwaige Dritte, also auf „Gerichte und Justiz“, den „Staat“ oder gar das „Völkerrecht“ Rücksicht nehmen zu müssen. Eine solche Rehabilitierung juristischer Selbsthilfe, die die Vertreter der klassischen Rechtsgeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert in ihrer überwiegenden Mehrheit noch als „Faustrecht“ geschmäht hatten, war passgenau für eine historische Situation, in der sich Deutschland und die Deutschen durch den „Versailler Schandvertrag“ in ihrer „Ehre“ gekränkt und angegriffen, gleichzeitig aber auch legitimiert sahen, durch einen erneuten Waffengang ihre „Ehre“ wiederherzustellen.39 Fragt man sich nach den Gründen für den Erfolg Brunners auch noch in der politisch ja stark veränderten Lage der frühen Bundesrepublik und sogar im Ausland40, dann muss vor allem auch auf die geistige Situation dieser Zeit verwiesen werden. Im wesentlichen unverändert geblieben, wenn nicht sogar verschärft, präsentierte sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das vermutete Bedrohungsszenario: Der ‚Feind‘ kam nicht nur, wie immer, aus dem Osten, sondern stand jetzt schon überaus bedrohlich, weil ganz nahe, am östlichen Elbufer. Die zumal in der frühen Bundesrepublik der fünfziger Jahre beobachtbare Aufwertung und Stärkung einer ebenso vagen wie flexiblen „Abendland“-Metaphorik konnte auf den „Europa“-Gedanken zurückgreifen, wie er schon in der Endphase des Dritten Reiches propagiert worden war: Angesichts der drohenden militärischen Katastrophe entsann man sich seiner früher verachteten und gedemütigten europäischen Nachbarn und lud selbige zur Verteidigung des „Abendlandes“ gegen den „sowjetischen Koloss“ ein.41 Wenn nun Brunner in der Zeit des Kalten Krieges in seinen Aufsätzen verstärkt „Alteuropa“, „die Zeit zwischen Homer und Goethe“, entdeckte und in den Vordergrund rückte42, blieb er damit konsequent in den Spuren, in denen er schon in nationalsozialistischer Zeit gewandelt war.43 Da diese vormoderne Zeit in scharfer Opposition zur eigentlichen Moderne konturiert wurde, passte ein von Brunner insbesondere in „Land und Herrschaft“ so stark alteritär konstruiertes Mittelalter hervorragend in das frühe bundesrepublikanische Epochenverständnis.

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Das hohe Ansehen, das namentlich Brunners Fehdekonzept bei Teilen der gegenwärtigen Mediävistik noch immer genießt, dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass es die unverfängliche Rehabilitierung der in der Moderne und namentlich in Deutschland suspekt gewordenen Themen „Gewalt“ und „Krieg“ ermöglicht, die in mittelalterlichem Gewande einherkommend ästhetisiert und verharmlost werden können.44 Trotz wiederholten energischen Protests seitens der Wiener Universitätsleitung wurde Brunner, wenn auch mit gewisser zeitlicher Verzögerung, im Frühjahr 1942 zum Wehrdienst eingezogen, den er an der unweit seines Wiener Wohnortes gelegenen Luftwaffenschule VII in Tulln-Langenlebarn bis zum Mai 1944 ableistete. Nach eigener Aussage hatte er dort „unter anderem auch Unterricht in Geographie und Geschichte an die Offiziersschüler (Fahnenjunker) zu erteilen“45. Schon am 22. Juni 1943 und dann wieder am 30. August 1943 hatten aber „Vorschläge vom Hauptamt Wissenschaft der Dienststelle Rosenberg“ die Parteikanzlei erreicht, in denen um die UK-Stellung von acht Geschichtsprofessoren, unter ihnen auch „Professor Dr. Brunner, Wien“, gebeten wurde, ohne dass dies, soweit erkennbar, unmittelbare Konsequenzen gezeitigt hätte.46 Erst im Mai 1944 kam es zu seiner, wie Brunner vermutete, auf Betreiben des Reichsforschungsrates erfolgten Entlassung aus dem Wehrdienst.47 Sie dürfte in Zusammenhang mit der so genannten Fünftausend Mann-Liste stehen, deren Genese sich bis in die zweite Hälfte des Jahres 1943 zurückverfolgen lässt. Diese sah nicht nur die Rückholung von für die Kriegsforschung und -produktion wichtigen Naturwissenschaftlern und Technikern vor, sondern benannte auch rund eintausendfünfhundert Geisteswissenschaftler, deren Tätigkeit ebenfalls als kriegswichtig erachtet wurde.48 Umso überraschender wirkt der Umstand, dass Brunner schon wenige Monate nach seinem Ausscheiden zum 1. Oktober 1944 von seinem Amt als Vorsitzender der Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft zurücktrat, das er unbeschadet seines Wehrdienstes bislang immer noch bekleidet hatte. Nach Aussage des ihm zugeordneten Geschäftsführers der Wiener Publikationsstelle, →Wilfried Krallert, war Brunner Anfang Oktober 1944 zurückgetreten, um eine „Sonderaufgabe“ übernehmen zu können49, ohne dass sich bis heute sagen ließe, worin denn nun diese bestanden hätte. Das tiefe Bedürfnis Brunners, selbst bei der sich abzeichnenden militärischen Niederlage noch als echter Nationalsozialist anerkannt zu werden, zeigt sich insbesondere auch in dem von ihm seit Frühjahr 1943 mit Vehemenz betriebenen Aufnahmeverfahren in die NSDAP, in das sich auch der Wiener Gaudozentenführer Kurt Knoll, der Gaustabsamtsleiter der Gauleitung Wien und schließlich noch der Reichsdozentenführer einschalteten. Man bescheinigte Brunner, „einer der politisch aktivsten Professoren“ mit „schon immer einwandfreie[r] nationalsozialistische[r] Haltung“ gewesen zu sein.50 Das sich fast ein Dreivierteljahr hinschleppende Verfahren fand ein für Brunner schließlich erfolgreiches Ende, als er am 18. Februar 1944 „mit Wirkung vom 1. Januar 1941 unter der Mitglieds-Nummer 9.140.316 in die Partei aufgenommen“ wurde. Sein nach eigener Darstellung am 1. Juli 1938 erstmalig gestell-

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ter Aufnahmeantrag51 war seinerzeit vom Gau Wien am 6. Mai 1940 bis zur Aufhebung der Mitgliedersperre zurückgestellt worden, verbunden mit dem Hinweis auf den Brunnerschen Aufnahmeantrag, hier allerdings datiert auf 1. Juni 1940. Die Reichsleitung hatte sich am 31. Juli 1940 mit der Rückstellung einverstanden erklärt. Seine Abkommandierung an die Luftkriegsschule hatte naturgemäß eine Einschränkung seiner wissenschaftlich-publizistischen Tätigkeit mit sich gebracht. So konnte er beispielsweise an dem von dem Historiker und „Rektor der Deutschen Alpen-Universität Innsbruck“ →Harold Steinacker (1875–1965) initiierten und geleiteten „Historiker-Lager der Reichsdozentenführung“ nur als Gast teilnehmen52, obwohl laut ursprünglichem Tagungsplan Brunner als Eröffnungsredner mit dem Thema „Deutschland“ vorgesehen war. Gegenstand der dann vom 7. bis 11. Oktober 1942 in Augsburg stattfindenden Tagung war laut Steinackers Planung ein „Vergleich der deutschen Volkswerdung“ mit „der Volkswerdung bei Engländern, Franzosen, Italienern und Russen“. Im Falle Deutschlands sah Steinacker „eine neue Idee vom Volk“ am Werk: „Sie bezieht das Moment der Rasse ein und verlangt eine neue Volksordnung, in der Nationalismus und Sozialismus ineinandergesetzt sind. Sie regelt das Verhältnis von Volk und Staat neu und stellt die Ordnung beider auf das Führerprinzip.“53 Von Brunners ungebrochenem Willen, weiterhin wissenschaftlich arbeiten zu wollen, zeugt aber auch und vor allem seine noch spätestens im Sommer 1944 abgeschlossene Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte „Der Schicksalsweg des deutschen Volkes“.54 Deren in Brunners Hausverlag Franz M. Rohrer in Brünn vorgesehene Publikation kam kriegsbedingt nicht mehr zustande, aber die heute in einer japanischen Universitätsbibliothek befindlichen und bislang der Forschung nicht bekannten, vielmehr als verschollen geltenden Druckfahnen des Werkes haben sich erhalten.55 Bei den späteren Bewerbungsverfahren Brunners an den Universitäten Köln und Hamburg Anfangs der fünfziger Jahre56 spielte „Der Schicksalsweg des Deutschen Volkes“ aus naheliegenden Gründen keine Rolle. In den von Brunner den jeweiligen Berufungskommissionen eingereichten Publikationsverzeichnissen wird es nicht erwähnt. Das erklärte Ziel von Brunners Darstellung ist die Vermittlung eines „einheitliche(n), das gesamte deutsche Volk umspannende(n) Geschichtsbild(es)“ auf dezidiert „völkischer Grundlage“.57 Dementsprechend beanspruchen neben dem in seiner Darstellung omnipräsenten „deutschen Volk“ die Erweiterung des „deutschen Volksbodens“, die „volkhaften Kräfte“ und natürlich und vor allem der „unausweichliche“ oder „notwendige“ „Kampf“ die volle Aufmerksamkeit des Wiener Historikers: „Gehört doch zum Wesen germanischer Haltung ein eigentümlicher Schicksalsbegriff. Der Germane läßt das Unabänderliche nicht wie der Orientale fatalistisch über sich ergehen, sondern er nimmt den unausweichlichen Kampf im Vertrauen auf dessen innere Notwendigkeit auf sich“.58 Obwohl Brunner im Rahmen seines Entnazifierungsverfahrens kühn behauptet hatte, allenfalls geringfügige Konzessionen an den herrschenden nationalsozialisti-

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schen Zeitgeist gemacht zu haben59, stellt vor allem das Schlusskapitel eine ausgesprochene Hommage an den Führer Adolf Hitler und an seine NSDAP dar, denen Deutschland seine völkische Wiedergeburt zu verdanken habe. Die vom NS-System zu verantwortenden genozidalen Verbrechen werden mit dem für die „Lingua tertii imperii“ so typischen technisch-kalten Ton der Verschleierung als erfolgreiche „Liquidierung“ der „inneren Gegner“, der „Parteien“ und des „Judentums“ gefeiert: „In den Tagen des Zusammenbruchs, in Deutschlands größter Not, faßte Adolf Hitler den Entschluß, eine Bewegung zur Befreiung des deutschen Volkes zu gründen. In 14 Jahren härtesten Kampfes hat er über alle Rückschläge hinweg die NSDAP. zum Siege geführt. Mit dem Tage der Machtergreifung, am 30. Januar 1933 konnte der Führer darangehen, die Grundlage für die Erreichung seiner Ziele zu legen. Es ging nun nicht um die Wiederherstellung des Deutschen Reiches von 1914, sondern um die Zusammenfassung aller geschlossen siedelnden Deutschen in einem Großdeutschen Reich und die Sicherung seines Lebensraumes. Die nationalsozialistische Bewegung stellte daher den Gedanken des Volks in seiner blutmäßigen Einheit in den Mittelpunkt ihres politischen Denkens. […] Die NSDAP. begann eine politische Neuausrichtung des ganzen deutschen Volkes, sie schaltete die inneren Gegner, die Parteien und das Judentum, aus. Grundlegende Gesetze leiteten die biologische Wiedererstarkung des deutschen Volkes ein“.60 Wenig überraschend sieht Brunner die Weimarer Republik nicht nur vom demographischen Verfall bedroht, sondern ebenso auch von „wirtschaftliche(m) Zerfall und geistige(m) Niedergang unter stärkstem Einfluß des zu immer größerer Bedeutung kommenden Judentums“ geprägt. Und natürlich schiebt Brunner die Verantwortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges allein Großbritannien und Frankreich zu, während Deutschland genau wie Italien und Japan um nichts geringeres als „um die Sicherung des Lebensraumes“ zu „ringen“ hätten: Wenn „heute um die Selbstbehauptung des deutschen Volkes und um einen neuen Ordnungsgedanken in der Welt gerungen“ werde, dann sei das eben „kein Zufall, nicht das Ergebnis menschlicher Schwächen und Irrtümer, sondern schicksalshafte Notwendigkeit“.61 Wenn Brunner am Ende seines Buches die Leserschaft aufforderte, sich im „Schicksalskampf“ zu „bewähren“62, dann forderte er eine „Haltung“ ein, wie sie ihm zufolge nicht nur „den Germanen“ auszeichnete, sondern wie sie gegen Kriegsende immer wieder der deutschen Bevölkerung in entsprechenden Ansprachen, Zeitungsartikeln und Büchern eindringlich nahegelegt worden war.63 Was nun Brunners eigene „Haltung“ und „Bewährung“ angeht, so wird man sagen, dass er sich selbst wohl fast bis zum Ende im Dienst der nationalsozialistischen Herrschaft „bewährt“ hat. Denn noch am 21. Januar 1945 hielt Brunner auf Einladung des Reichsleiters Alfred Rosenberg64 in der damals schon weitestgehend in Trümmern liegenden Reichshauptstadt Berlin im Rahmen einer Vorlesungsreihe mit dem Titel „Weltgeschichtliche Bewährungsstunden“ einen Durchhalte-Vortrag über Otto den Großen. Natürlich hatte Brunner sein Thema mit Bedacht gewählt und – mit welchem Erfolg, wird man nicht sagen können – versucht, eine Analogie zwischen der Situa-

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tion im Januar 1945 und der für Otto und die Deutschen siegreich verlaufenen Schlacht auf dem Lechfeld im August 955 herzustellen.65 Nach einer Zwangspause von neun Jahren setzte der 1945 in Österreich amtsenthobene und 1948 zwangspensionierte Brunner seine Karriere in der Bundesrepublik fort. 1954 berief man ihn an die Universität der Freien und Hansestadt Hamburg, wobei sein früherer Breslauer Kollege und Leiter der Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft, →Hermann Aubin, dem schon 1948 der Sprung auf den Hamburger Lehrstuhl für Mittelalterliche und Neuere Geschichte geglückt war, energische Schützenhilfe leistete. Im Unterschied zum gleichzeitigen – und schließlich gescheiterten Kölner Bewerbungsverfahren – konnten diesmal politische Bedenken, hier vor allem diejenigen des Senators für Wissenschaft, überwunden werden.66 Dass Brunner noch immer zutiefst „völkisch“ dachte, zeigt sein intensives Bemühen um die Zuerkennung der deutschen Staatsangehörigkeit für sich und seine Familie, das nur zwei Jahre nach seiner Berufung, im Mai 1956, von Erfolg gekrönt war.67 – So gesehen, war der „Ostmärker“ Otto Brunner, wenn auch nicht ins Großdeutsche Reich, so doch wenigstens in die Bundesrepublik Deutschland ‚heimgekehrt‘. Über das Wirken Brunners in der bundesrepublikanischen Historikerlandschaft in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1967 ist bis heute noch vergleichsweise wenig bekannt und bedarf deshalb noch intensiver Forschung. Wie tief er in das nationalsozialistische Unrechtssystem verstrickt gewesen war, dürfte den meisten weitgehend unbekannt geblieben sein, vor allem aber niemanden mehr wirklich interessiert haben. Dies legen seine Wahl zum Dekan der Philosophischen Fakultät im Studienjahr 1957/58 und dann zum Rektor der Hamburger Universität für das Studienjahr 1958/59, aber auch die Mitgliedschaften in der Wiener, Mainzer und Bayerischen Akademie der Wissenschaften und nicht zuletzt auch das Münsteraner (1963) und das Heidelberger Ehrendoktorat (1970) nahe. Seine Beteiligung an den von →Werner Conze und Reinhard Koselleck herausgegebenen Geschichtlichen Grundbegriffen68, in der Form einer Mitherausgeberschaft69, seine ungebrochene Publikationsfreude, wenn auch jetzt nicht mehr auf dem Feld der volksdeutschen Forschungen, sondern vor allem im Gebiet der frühen Neuzeit70, zeigen, dass sich Brunner auch weiterhin der Zustimmung vieler Fachgenossen, naturgemäß vor allem vieler Neuzeitler, erfreuen konnte, die bis heute anhält.71 Als vergleichsweise zählebig hat sich bei vielen Historikern und Juristen Brunners Fehdekonzept erwiesen: Von den vor allem in der „Zusammenfassung“ der dritten Auflage von 1943 jegliches Maß überschreitenden Germanismen und anderen anstoßerregenden Passagen gründlich gereinigt72, stand seiner Nachkriegskarriere in weiteren Auflagen nichts mehr im Wege und wird rechtsgeschichtliche Belehrung Suchenden bis heute wärmstens empfohlen.73 Im Unterschied aber etwa zu dem mit ihm generationengeschichtlich vergleichbaren Freiburger Ordinarienkollegen Gerd Tellenbach (1903–1993) hat Brunner nicht im eigentlichen Sinne schulbildend gewirkt.74 Sicherlich hat Brunner kein mit „Land und Herrschaft“ vergleichbar einflussreiches Werk mehr geschrieben. Aber er bot auch jetzt in einer veränderten his-

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torischen Situation einen Interpretationsrahmen an, dessen weit verbreitete Akzeptanz zeigt, wie ideal Brunner sich den jeweils herrschenden gesellschaftlichen Trends anzupassen verstand, wie seine Beschwörung eines Sozial-, Wirtschaftsund Gesellschaftsmodells in Gestalt des „ganzen Hauses“ zeigt75, dessen Gültigkeit im Rahmen des von ihm vertretenen und bereits oben diskutierten „Alteuropa“-Modells behauptet wurde. Die historische Brüchigkeit und ideologische Verzerrtheit seines Konzeptes, bedingt nicht zuletzt durch eine für Brunner so typische selektive Quellenauswahl und Quelleninterpretation, sind mittlerweile von der Spezialforschung längst aufgedeckt und als sozialromantische Träumereien begraben worden.76 Letztlich entpuppen sich, wie es Otto Gerhard Oexle auf den Punkt gebracht hat, seine Mittelalter- und Alteuropaimaginationen als untaugliche Versuche, die Moderne widerlegen zu wollen.77 Mithin dürften Brunners historiographische Leistungen schwerlich die optimistische Einschätzung rechtfertigen, es handle sich bei ihm um einen „Reformhistoriker“ und „Verfechter einer originären Ethnohistorie“.78 Auch der offenkundige Versuch, Brunner zu entlasten, indem man ihn vom Vorwurf freisprach, einer „originär rassistisch-nationalsozialistischen Interpretation“ verpflichtet zu sein79, überzeugt nicht. Denn allzu oft hat Brunner zwischen 1933 und 1945 die schmale Grenze zwischen Ethnozentrismus und Rassismus überschritten, zuletzt und besonders eindringlich in seinem Buch „Der Schicksalsweg des deutschen Volkes“, das er erst in der Endphase des Dritten Reiches (1944) abgeschlossen hatte. Was Hans Kelsen (1881–1973), bei dem der junge Brunner in seiner Wiener Studentenzeit anfangs der zwanziger Jahre vermutlich staatsrechtliche Vorlesungen gehört haben dürfte80, im Hinblick auf die sich jetzt nationalsozialistisch formierende „neue Staatsrechtlehre“ so hellsichtig schon 1932 angemerkt hatte, lässt sich eins zu eins auch auf Brunner übertragen: „Und diese Wendung der ‚wissenschaftlichen‘ Haltung geht Hand in Hand mit einem Wechsel der philosophischen Front: Fort von der jetzt als Flachheit verschrieenen Klarheit des empirisch-kritischen Rationalismus, diesem geistigen Lebensraum der Demokratie, zurück zu der für Tiefe gehaltenen Dunkelheit der Metaphysik, zum Kultus eines nebulosen Irrationalen, dieser spezifischen Athmosphäre, in der seit je die verschiedenen Formen der Autokratie am besten gediehen sind. Das ist die Parole von heute.“81 Am 12. Juni 1982 starb Otto Brunner in Hamburg. Begraben hat man ihn auf dem Friedhof seines langjährigen Wohnortes Blankenese.

Hans-Henning Kortüm

1 Thomas Krzenck, Brünn/Brno, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2013. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/54186.html (25.9.2016). 2 Vgl. Jahresbericht des Ersten Deutschen Staatsgymnasiums in Brünn für das Schuljahr 1908/09, Brünn 1909, S. 58–59. http:/digital.ub.uni-düsseldorf.de/ulbdsp/periodical/titleinfo/3785086 (21.9.2016).

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3 Anton Sichelstiel, Das k.k. Schützenregiment St. Pölten Nr. 21. Eine Friedens-und Kriegsgeschichte, Wien 1930, S. 243: „Interessant ist auch, daß damals das Regiment aus folgenden Nationalitäten bestand: Deutschösterreicher 64 Prozent, Tschechen 6 Prozent, Polen 13 Prozent, Slowenen 8 Prozent, Ruthenen 9 Prozent. Es muß gesagt werden, daß sich alle wacker hielten“. 4 Österreichisches Staatsarchiv/Archiv der Republik, UWFuK, BMU PA Sign. 10: Brunner, Otto, Laut Schreiben des Kurators der wiss. Hochschulen in Wien an den Rektor der Universität Wien vom 30.9.1940. 5 Otto Brunner, Land und Herrschaft, Brünn u.a. 19422, S. XXIV. 6 UAW, Philosophisches Dekanat, Personalakten der Fakultät 1140. 7 Klaus Taschwer, Nachrichten von der antisemitischen Kampfzone. Die Universität Wien im Spiegel und unter dem Einfluss der Tageszeitungen, 1920–1933, in: Margarete Grandner (Hg. u.a.), Reichweiten und Außensichten. Die Universität Wien als Schnittstelle wissenschaftlicher Entwicklungen und gesellschaftlicher Umbrüche (650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert Bd. 3) (künftig: 650 Jahre Wien), Göttingen 2015, S. 99–126. 8 Mitchell G. Ash, Die Universität Wien in den politischen Umbrüchen des 19. und 20. Jahrhunderts, in: ders./Josef Ehmer (Hg.), Universität – Politik – Gesellschaft (650 Jahre Wien Bd. 2) Göttingen 2015, S. 29–172, 60–89, 89. 9 Tamara Ehs, Gesellschaftswissenschaften, in: Thomas Olechowski u.a., Geschichte der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät 1918–1938, Göttingen 2014, S. 581–590. 10 Zu „Redlichs These, Österreichs historische Sendung begründe sich in seiner Funktion als ‚Bollwerk der Christenheit gegen den Osten‘“ vgl. Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993, S. 50. – Brunners Promotion erschien erst 1930 in gedruckter Form in den Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 44 (1930), S. 265–323. 11 So beispielsweise die Selbstbezeichnung als „Institutler“ bei einem der engagiertesten Förderer Brunners, Thedor Mayer, Probleme der Österreichischen Geschichtswissenschaft, in: Alteuropa und die moderne Gesellschaft. Festschrift für Otto Brunner, hg. vom Historischen Seminar der Universität Hamburg, Göttingen 1963, S. 346–363, 363. 12 Es handelte sich um das so genannte „Trifolium“, bestehend aus Hans Hirsch, Heinrich von Srbik und Wilhelm Bauer; vgl. hierzu Gernot Heiss, Die „Wiener Schule der Geschichtswissenschaft“ im Nationalsozialismus, in: Mitchell G. Ash (Hg. u.a.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen 2010, S. 397–426, 401. 13 Zur Berufung von Hirsch als Nachfolger Redlichs und seinem Wirken im „Österreichischen Institut für Geschichtsforschung“ ausführlich Manfred Stoy, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 1929–1945, Wien u.a. 2007, S. 21–241. 14 Otto Brunner, Die Finanzen der Stadt Wien von den Anfängen bis ins 16. Jahrhundert, Wien 1929. 15 Zur Förderung Brunners durch Hirsch vgl. Stoy, Das Österreichische Institut (wie Anm. 13), S. 46, 62–64. 16 Vgl. dazu die Tabelle bei Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften von 1931–1945, Baden-Baden 1999, S. 278. 17 BArch, R 153/1533, 3–5; R 153/1487, 5–9; R 153/1488, 46–48 und 71–72. 18 Hans-Henning Kortüm, „Wissenschaft im Doppelpaß“? Carl Schmitt, Otto Brunner und die Konstruktion der Fehde, in: HZ 282 (2006), S. 585–617, 593. 19 In Anerkennung seiner Vedienste wird Brunner 1939 das „Erinnerungszeichen zur Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reich“ verliehen, weil er und die anderen im Referentenentwurf aufgeführten Personen „in enger Zusammenarbeit mit den reichsdeutschen Stellen und unter Gefährdung ihrer Person und ihrer Stellung die wissenschaftliche Deutschtumsarbeit im Alpenraum und im Donaugebiet im gesamtdeutschen Sinne getragen haben“: PA, R 60280, Abt. Kult A 5428/38; Berlin 21.7.1938.

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20 PA, R 60295, Volksdeutsche Forschungsgemeinschaften. Tätigkeitsberichte 1938/39. Einleitungsreferat von Professor Dr. O. Brunner-Wien: Die veränderte politische Lage und ihre Auswirkungen auf die volksdeutsche Forschungsarbeit. 21 Michael Fahlbusch, Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft, in: Ingo Haar (Hg. u.a.), Handbuch der völkischen Wissenschaften, München 2008, S. 688–697, 695. 22 Brunner-Zitate hier nach Fahlbusch, Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft (wie Anm. 21), S. 694–695. 23 Hans Böhm, Magie eines Konstruktes. Anmerkungen zu M. Fahlbusch „Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?“, 5; online: http:/www.geographiegeschichte.de/wp-content/ uploads/2011/03/Fahlbusch.pdf (25.6.2016). 24 BArch, R 73/14944; ebd., R 73/12552. 25 Vgl. Otto Brunner, Geschichte des Burgenlandes im Rahmen der deutsch-ungarischen Beziehungen, in: Deutsche Hefte für Volks- und Kulturbodenforschung 1 (1931), S. 152–166; ders., Das Burgenland, in: Friedrich Heiss/Hillen A. Ziegfeld (Hg.), Bekenntnis zu Österreich, Berlin 1932, S. 40– 46; ders., Die deutsche Besiedlung des Burgenlandes, in: Burgenländische Heimatblätter 6 (1937), 21–27; zur Mitarbeit am Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums, hg. Carl Petersen/ Otto Scheel u.a., Bd. 1–3, Breslau 1933–1938 vgl. Stoy, Das Österreichische Institut (wie Anm. 13), S. 303 und ebd. Nennung weiterer Aufsätze Brunners mit volkstumsgeschichtlicher Orientierung. 26 Otto Brunner, Die geschichtliche Stellung des Waldviertels, in: Eduard Stepan (Hg.), Das Waldviertel, Bd. 7, Wien 1937, S. 368–431; ders., Die Ostmark Europas, in: Bücherkunde. Organ des Amtes Schrifttumspflege bei dem Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung der NSDAP und der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums. Herausgeber: Reichsamtsleiter Hans Hagemeyer, Heft 9 (September 1938), Bayreuth 1938, S. 466–468; ders., Österreichs Weg zum Großdeutschen Reich, in: Deutsches Archiv für Landes- und Volksforschung 2 (1938), S. 519–528. 27 Dazu mit weiteren Belegen Hans-Henning Kortüm, Otto Brunner über Otto den Großen. Aus den letzten Tagen der reichsdeutschen Mediävistik, in: Historische Zeitschrift 299 (2014), S. 297–333, 309–311. 28 Otto Brunner, Österreichs deutsche Sendung, in: Die Wehrmacht-Fachschule 15 (1939), S. 73– 80. – Variation des Titels eines von Josef Nadler und Heinrich von Srbik herausgegebenen Sammelbandes „Österreich. Erbe und Sendung im deutschen Raum“, Salzburg u.a. 19362. An ihm war Brunner mit einem Aufsatz über „Österreich, das Reich und der Osten im späteren Mittelalter“ beteiligt. 29 Otto Brunner, Zur Frage der österreichischen Geschichte, in: Mitteilungen des Instituts für Geschichtsforschung und Archivwissenschaft in Wien 55 (1944), S. 433–439. 30 Otto Brunner, Österreichs Weg zum Großdeutschen Reich (wie Anm. 26, 528. 31 Zur Ausstellung: Matthias Berg, Karl Alexander von Müller. Historiker für den Nationalsozialismus, Göttingen 2014, S. 316–318. 32 Zur weitgehend unerforschten Verleihungsgeschichte des Verdun-Preises zuletzt: Katharina Weigand, Geschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und nationaler Vereinnahmung: der VerdunPreis, in: dies. (Hg. u.a.), Die Prinzregentenzeit. Abenddämmerung der bayerischen Monarchie, Regensburg 2013, S. 105–127. 33 BArch, R 4901, fol. 215–216; fol. 225; fol. 243. 34 Zu „Land und Herrschaft“ vgl. Kortüm, „Wissenschaft im Doppelpaß?“ (wie Anm. 18). Eine gute Zusammenfassung der seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geführten Diskussion um Brunner bietet Jörg Feuchter, Oratorik und Öffentlichkeit spätmittelalterlicher Repräsentativversammlungen. Zu zwei Diskursvorgaben von Jürgen Habermas, Otto Brunner und Carl Schmitt (http://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/vuf/article/ view/18051/11858) (26.9.2016).

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35 Vgl. die Stellungnahme Brunners „Zu dem Buch ‚Der Schicksalsweg des deutschen Volkes‘“ (vgl. dazu Anm. 45): „Im besonderen darf ich auf die ausführliche und, wie ich glaube, einwandfreie Behandlung der Geschichte Oesterreichs verweisen“. 36 Klaus Schreiner, Führertum, Rasse, Reich. Wissenschaft von der Geschichte nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: Peter Lundgren (Hg.), Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1985, S. 163–252, 208–211; Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001, S. 85. 37 Kortüm, „Wissenschaft im Doppelpaß?“ (wie Anm. 18), S. 594–604. 38 Gadi Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch, Frankfurt a.M. 1996; ders., Otto Brunner – „Konkrete Ordnung“ und Sprache der Zeit, in: Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918– 1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 166–203; ders., „Sich selbst vergessen“ im späten Mittelalter. Denkfiguren und soziale Konfigurationen, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Memoria als Kultur, Göttingen 1995, S. 387–427. – Weitere Aufsätze Algazis nennt Christine Reinle, Bauernfehden. Studien zur Fehdeführung Nichtadliger im spätmittelalterlichen römisch-deutschen Reich, Wiesbaden 2003, S. 546. 39 Zum in der Mediävistik kontrovers diskutierten Fehdekonzept ausführlicher Hans-Henning Kortüm, Kriege und Krieger 500–1500, Stuttgart 2010, S. 71–74. 40 Brunners Werk erschien auch in einer italienischen (Terra e potere. Strutture pre-statuali e premoderne nella storia costituzionale dell’Austria medievale, introduzione di Pierangelo Schiera, Milano 1983) und in einer amerikanischen Ausgabe: Land and Lordship. Structures of Governance in Medieval Austria. Transl. from the fourth, revised editon. Transl. and introd. by Howard Kaminsky/ James Van Horn Melton, Philadelphia 1992. 41 Vanessa Conze, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970), München 2005, S. 57–206. 42 Zur Bedeutung Brunners für die Begriffsprägung ‚Alteuropa‘ vgl. Christian Jaser u.a., Alteuropa – Vormoderne – Neue Zeit. Leistungen und Grenzen alternativer Periodisierungskonzepte für die europäische Geschichte, in: dies. (Hg.), Alteuropa – Vormoderne – Neue Zeit. Epochen und Dynamiken der europäischen Geschichte (1200–1800), Berlin 2012, S. 9–24, 12–14. 43 Entgegengesetzter Meinung ist aber Reinhard Blänkner, Begriffsgeschichte in der Geschichtswissenschaft. Otto Brunner und die Geschichtlichen Grundbegriffe, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte. E-Journal 1 (2012) 2, S. 102–108, 107: „Alt-Europa ist der Versuch einer post-totalitären Traditionsvergewisserung nach dem neu-europäisch-völkischen Utopieverlust und bezeichnet die historische Großepoche ‚von Homer bis Goethe‘“. 44 Dazu Kortüm, Kriege und Krieger (wie Anm. 39), S. 32–39. 45 UAW, Philosophische Fakultät. Dekanat Studienjahr 1945/46. D-Zl.: 1100: Undatierte Stellungnahme Brunners „Zu dem Buch ‚Der Schicksalsweg des deutschen Volkes‘“. 46 BArch, NS 8/41, fol. 116. 47 Vgl. UAW, Philosophische Fakultät, Dekanat. D-Zl., 136, Brunner an den Dekan der Philosophischen Fakultät vom 12.5.1944. 48 Zu den Einzelheiten der Rückholungsaktionen, insbesondere auch zu einem Brief des Leiters des Planungsamtes im Reichsforschungsrat an die Parteikanzlei „mit anliegenden Listen der für die Rückholung vorgesehenen Geisteswissenschaftler“, der vom 30.5.1944 datiert ist, also unmittelbar vor Brunners erneuter Uk.-Stellung im Juni 1944, vgl. Sören Flachowsky, Von der Notgemeinschaft zum Reichsforschungsrat. Wissenschaftspolitik im Kontext von Autarkie, Aufrüstung und Krieg, Stuttgart 2008, S. 444 mit Anm. 684. 49 PA, R 100046/000074, Krallert an Auswärtiges Amt (Leg. Dr. Reichel) „Betr.: Vorstandsschaft der Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft“ vom 2.10.1944.

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50 BArch, BDC, PK 10100244488. 51 UAW, Philosophische Fakultät, Oesterr. Institut für Geschichtsforschung: Personalblatt, von Brunner am 19.5.1945 ausgefüllt. 52 BArch, NS 15/326: „Bericht über das Historiker-Lager der Reichsdozentenführung (7. bis 10.10.42 in Augsburg) von Dr. Wolfgang Erxleben, Hauptamt Wissenschaft. Amt für Wissenschaftsbeobachtung“ vom 15.10.1942, 6 und 13. 53 BArch, NS 15/326: fol. 95675, Undatierter Entwurf Steinackers „Zum Thema des Lagers“. 54 Der Liebenswürdigkeit meines japanischen Kollegen Prof. Dr. Akihiro Misagawa, Abteilung Europäische Geschichte des Historischen Seminars der Tokai-Universität (Tokyo), verdanke ich ein pdf-Dokument, das den bereits paginierten Umbruch, in den Worten Brunners „die Probebogen“, enthält. Diese befanden sich laut Aussage Brunners „im Herbst“ 1944 in seinem Besitz (UAW Dekanat der Philosophischen Fakultät. Studienjahr 1945/46. Verwaltungsstelle für wissenschaftliche Hochschulen in Wien 4581/Z: Undatierte Stellungnahme Brunners „Zu dem Buch ‚Der Schicksalsweg des deutschen Volkes‘“) im Zusammenhang seines 1945 eingeleiteten Entnazifierungsverfahrens. 55 Die Bibliothek der Universität Chuo, Japan, erwarb 1986 Brunners Privatbibliothek und damit auch seine „Probebogen“ aus dessen Nachlass: http://global.chuo-u.ac.jp./english/general/libraries03 (12.2016). – Seitdem befindet sich „Der Schicksalsweg des deutschen Volkes“ in Japan und galt in der Forschung als verschollen; vgl. Heiss, Wiener Schule der Geschichtswissenschaft (wie Anm. 12), S. 61 und zuletzt noch Stoy, Das Österreichische Institut (wie Anm. 13), S. 313: „Eine Nachprüfung ist indes nicht möglich, da keiner dieser Probebögen nachweisbar ist“. 56 Etzemüller, Sozialgeschichte (wie Anm. 36), S. 243–244. 57 Otto Brunner, Der Schicksalsweg des deutschen Volkes, S. 9. 58 Brunner, Schicksalsweg (wie Anm. 57), S. 14–15. 59 Vgl. Anm. 45. 60 Brunner, Schicksalsweg, S. 284–285. 61 Brunner, Schicksalsweg, S. 278, 283, 288–290. 62 Brunner, Schicksalsweg, S. 290. 63 Belege bei Kortüm, Otto Brunner über Otto den Großen (wie Anm. 27), S. 315–317. 64 BArch, NS 15/72: Hausrundschreiben NR. 94/44 des Abschnittsleiters Zölffel vom 21.11.1944 „An alle Politischen Leiter“. 65 Dazu ausführlich Kortüm, Otto Brunner über Otto den Großen (wie Anm. 27). 66 Etzemüller, Sozialgeschichte (wie Anm. 36), S. 243–244. 67 StAHH (Staatsarchiv Hansestadt Hamburg), Rektorakten BD. VII 364 – 5 I, Einbürgerungsurkunde vom 3.5.1956. 68 Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache, 8 Bde. in 9 Tln., Stuttgart 1972–1977. 69 Christoph Dipper, Die „Geschichtlichen Grundbegriffe“. Von der Begriffgsgeschichte zur Theorie historischer Zeiten, in: Historische Zeitschrift 270 (2000), S. 281–308, hat darauf hingewiesen, dass Brunner lediglich ein einziges Lemma verfasst habe. – Blänkner, Begriffsgeschichte (wie Anm. 43), S. 106 warnt vor der „fragwürdige(n) Kehrseite des aktuellen Koselleck-Hypes“, da dieser dazu führe, „dass dabei der Beitrag Brunners an den Geschichtlichen Grundbegriffen aus dem Blick gerät“, und gibt sich überzeugt: „Ohne Brunners Alteuropa ist weder die ‚Sattelzeit‘ noch das Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe denkbar“, ebd. S. 107. 70 Einen Überblick über Brunners Forschungen nach dem Krieg, der „sich […] zusehends mehr der frühen Neuzeit zu[wandte]“, gibt der Nachfolger auf dessen Lehrstuhl, Ludwig Buisson, Das wissenschaftliche Werk, in: Zum Gedenken an Otto Brunner (1898–1982), Hamburg 1983, S. 22–29. – Seine Aufsätze hat Brunner in einem von ihm erstmalig 1956 herausgegebenen Sammelband „Neue Wege

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der Sozialgeschichte“ und dann wieder, noch durch weitere Aufsätze ergänzt, 1980 unter dem Titel „Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte“ publiziert. 71 Etzemüller, Sozialgeschichte (wie Anm. 36), S. 87–88. 72 Vgl. oben Anm. 36. 73 Christine Reinle, Artikel „Fehde“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. I, Berlin 20082, Sp. 1515–1525. 74 Stoy, Das Österreichisches Institut (wie Anm. 13), S. 299 mit dem Hinweis, dass sich „eine direkte Schülerschar Brunners nicht fassen [lasse]“. 75 Erstmalig von Brunner skizziert in: Adliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hoberg 1612–1688, Salzburg 1949; vgl. ferner ders., Das „ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“, in: ders., Neue Wege der Sozialgeschichte. Vorträge und Aufsätze, Göttingen 1956, S. 33–61. 76 Valentin Groebner, Außer Haus. Otto Brunner und die „alteuropäische Ökonomik“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 46 (1995), S. 69–80; Stefan Weiß, Otto Brunner und das Ganze Haus oder Die Zwei Arten der Wirtschaftsgeschichte, in: Historische Zeitschrift 273 (2001), S. 335– 369. 77 So die treffende Einschätzung von Otto Gerhard Oexle, Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte, in: Peter Segl (Hg.), Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt, Sigmaringen 1997, S. 307–364, 335. 78 Oberkrome, Volksgeschichte (wie Anm. 10), S. 20, 80. 79 Ebd., S. 214. 80 Zu Kelsen, der als getaufter Jude auf Grund von Anfeindungen 1930 die Wiener Universität verlassen musste, Thomas Olechowski, Jurisprudenz oder Rechtswissenschaft? – Zur Entwicklung des wissenschaftlichen Leitbildes der juristischen Fakultät der Universität Wien seit 1852, in: Karl Anton Fröschl (Hg. u.a.), Reflexive Innensichten aus der Universität. Disziplinengeschichte zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik (650 Jahre Wien, Bd. 4), Wien 2015, S. 401–416, 407–410. 81 Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie (1932), in: ders., Demokratie und Sozialismus. Ausgewählte Aufsätze, hg. von N. Leser, 1967, S. 61; zitiert nach: Horst Dreier/Walter Pauly, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, Berlin u.a. 2001, S. 9–147, 10.

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Friedrich Burgdörfer Friedrich Wilhelm Burgdörfer wurde am 24. April 1890 im nordpfälzischen Neuhemsbach geboren. Nach seiner Schulzeit (1897–1906) war Burgdörfer von 1907 bis 1919 erst als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter und später als Direktorial-Assistent Friedrich Zahns im Königlichen Bayerischen Statistischen Bureau tätig, wo er an der Berufszählung von 1907 mitarbeitete. Innerhalb der amtlichen Statistik war Burgdörfer mit den Bereichen der Bevölkerungs-, gewerblichen Wirtschafts-, Verkehrs-, Arbeiter-, Wohnungs- und kommunalen Finanzstatistik betraut. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete sich Burgdörfer im August 1914 als Freiwilliger zum Heeresdienst und zog an die belgische West-Front. Infolge einer schweren Kriegsverletzung musste Burgdörfer jedoch von Ende 1914 bis Anfang 1917 im Lazarett verweilen, von wo aus er ab Mitte 1915 sein 1912/1913 an der Universität München begonnenes Studium der Rechts- und Staatswissenschaften fortsetzte. 1916 konnte Burgdörfer erneut ans Statistische Bureau wechseln und promovierte nebenbei zum „Dr. oec. publ.“. 1921 wurde Burgdörfer zum Regierungsrat im Statistischen Reichsamt in Berlin ernannt, wo er als Generalreferent für die Volks-, Berufs- und Betriebszählung von 1925 verantwortlich war und zwischen 1929 und 1939 als Direktor die Abteilung IV (Bevölkerungs-, Betriebs-, Landwirtschafts- und Kulturstatistik) leitete.1 Bereits im Kaiserreich entfaltete Burgdörfer eine rege publizistische Tätigkeit, durch die er in der Weimarer Republik und im Dritten Reich – spätestens seit der Veröffentlichung seines programmatischen Hauptwerkes Volk ohne Jugend (1932) – zu einem der bekanntesten deutschen Bevölkerungsstatistiker aufstieg. Sein Hauptaugenmerk galt dabei vornehmlich dem Phänomen des Geburtenrückgangs und der demographischen Alterung. Dem drohenden „Volkstod“ und der fortschreitenden „Vergreisung“ des „deutschen Volkskörpers“ sagte Burgdörfer als Wissenschaftler und politischer Publizist in einer wahren Flut von Vorträgen und Veröffentlichungen unermüdlich den Kampf an.2 Burgdörfer hatte die sogenannte Geburtenrückgangsdiskussion maßgeblich mitgeprägt und wurde während der Weimarer Republik zu einem ihrer prominentesten Wortführer. Die Ursachen für den Geburtenrückgang erblickte Burgdörfer in der Emanzipation der Frau, der wirtschaftlichen und politischen Instabilität sowie in der „Rationalisierung des Sexuallebens“ (Julius Wolf). Den Rückgang der Geburten interpretierte er als eine bewusst vorgenommene Geburtenbeschränkung, die zum Niedergang der Familie und des deutschen Volkes führen müsse. Um den „nationalen Selbstmord“ abzuwenden, sollte der „Wille zum Kind“ durch eine großzügige Familienpolitik mit allen Mitteln (unter anderem durch staatliche Erziehungsbeihilfen, „Eltern-Pension“, „Junggesellen-Steuer“, „Reichsfamilienkasse“, „Reichsfamiliendarlehen“, Verbesserung der städtischen Wohnverhältnisse, Förderung ländlicher Siedlungsweisen) gefördert werden.3

Friedrich Burgdörfer  111

Schon vor 1933 zeigte sich Burgdörfer aufgeschlossen gegenüber rassenhygienischem und eugenischem Gedankengut, indem er sich für die Verquickung von quantitativer und qualitativer Bevölkerungspolitik aussprach. Zur Wahrung der „Volks- und Erbgesundheit“ befürwortete er den Austausch von „Ehetauglichkeitszeugnissen“. In Burgdörfers familienpolitischer Programmatik kommen daher nicht nur pronatalistische Ziele (das heißt eine die Geburten fördernde Bevölkerungspolitik für „Hochwertige“), sondern auch antinatalistische Forderungen (das heißt Fortpflanzungsbeschränkungen für „Minderwertige“) zum Tragen. Mit seinem publizistischen Kampf gegen die aufstrebende Sexualreform-Bewegung sowie gegen (neo-) malthusianisches Gedankengut erfreute sich Burgdörfer, der immer wieder auch auf die vermeintlichen Gefahren einer „Unterwanderung“, „Überfremdung“ und „→Umvolkung“ des deutschen Volkes durch „volksfremde Elemente“ aufmerksam machte, in konservativen beziehungsweise völkisch-nationalistischen Kreisen großer Beliebtheit.4 Die Art und Weise, wie Burgdörfer theoretisch-empirische Erkenntnisse der Bevölkerungswissenschaft und -statistik in konkrete Handlungsempfehlungen für praktische Bevölkerungspolitiken zu übertragen verstand, trug dazu bei, dass er während der NS-Herrschaft in diverse bevölkerungspolitische Gremien berufen wurde – so zum Beispiel in den vom Reichsministerium des Innern eingesetzten Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik (1933–1939), wo er 1934 unter anderem an einer Besprechung über das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ teilnahm. Burgdörfer war nicht nur Beauftragter für die deutschen Volkszählungen von 1933 und 1939, sondern auch Beobachter bei der rumänischen Volkszählung von 1941. Im Jahre 1937 trat Burgdörfer in die NSDAP ein und wurde Mitglied des Sachverständigenbeirates der →Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands. Neben umfänglichen Vortragstätigkeiten auf Tagungen und Konferenzen im In- und Ausland nahm Burgdörfer zwischen 1933 und 1939 auch diverse Lehraufträge und Honorar-Professuren in Berlin und München wahr, bis er schließlich ab 1939 die Nachfolge seines einstigen Lehrers Friedrich Zahn als Präsident des Bayerischen Statistischen Landesamtes antrat.5 Im Auftrag des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP nahm Burgdörfer 1935 einen Schätzungsversuch über „Juden-Mischlinge“ vor, den er 1938 zu einem umfangreichen Gutachten über „Die Juden in Deutschland und in der Welt“ ausbaute. Mit dieser „Statistik zum Judenproblem“ sowie insbesondere mit seinem für das Auswärtige Amt erstellten Gutachten „Zur Frage der Umsiedlung der Juden“ im Rahmen des „Madagaskar-Planes“ vom Sommer 1940 leistete Burgdörfer einen Beitrag für die bevölkerungsstatistische Untersetzung der Deportationspläne des NS-Regimes, welche schließlich in die „Endlösung der Judenfrage“ münden sollten. Ein 1942 von Burgdörfer geplantes Reichsinstitut für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik konnte nicht mehr realisiert werden. Mitte März 1943 legte Burgdörfer im Auftrag zweier Reichsministerien seine „Bemerkungen und Vorschläge zur Neu-

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ordnung des statistischen Dienstes in Deutschland“ vor. Zum Jahreswechsel 1944/ 1945 wirkte Burgdörfer zudem bei einem Gesetzesentwurf zur Mutterschaftshilfe mit.6 Nach Kriegsende erstellte Burgdörfer im Auftrag der US-amerikanischen Besatzungsmacht verschiedene Gutachten und Memoranden (besonders zur Flüchtlingsstatistik). Obwohl er im Zuge der „Entnazifizierung“ 1945 aus allen öffentlichen Ämtern entlassen und 1947 auch aus der International Union for the Scientific Study of Population ausgeschlossen worden war, wurde Burgdörfer ab Herbst 1948 dennoch nach und nach rehabilitiert. Vorausgegangen war ein Spruchkammer-Urteil vom Frühjahr desselben Jahres, demzufolge Burgdörfer als „Mitläufer“ eingestuft wurde, was jedoch aufgrund der „Weihnachtsamnestie“ von 1947 ohne weitere strafrechtliche Konsequenzen blieb. Bei gleichzeitiger Pensionierung (zwecks Geltendmachung seiner Altersbezüge) wurde Burgdörfer formal erneut in das Amt des Präsidenten des Bayerischen Statistischen Landesamtes eingesetzt. 1949 wurde außerdem seine Honorar-Professur an der Münchener Universität erneuert.7 Von Anfang der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre trat Burgdörfer erneut als politischer Publizist in Erscheinung und verfasste weitere demographische Schriften, die nun allerdings zunehmend auch globale Bevölkerungsentwicklungen thematisierten. In der frühen Bundesrepublik Deutschland nahm er nicht nur abermals an internationalen Tagungen teil, sondern blieb auch nach wie vor ein gefragter Fachmann auf dem Gebiet der Demographie. Friedrich Burgdörfer starb schließlich am 18. November 1967 in Schramberg (Schwarzwald) und wurde in München beigesetzt.8

Thomas Bryant

1 BArch, 3101, Pa 79, Personalakte Burgdörfers beim Reichswirtschaftsministerium; BArch, N 2199, 56, Bl. 29f., 38f., 41, 38–156, 187, 193, 297, 303, 308; ebd., 2199, 58, Nl Heinz Müller, Bl. 1ff., 8–47, 52– 78; ebd., R 1501, 5014, Bl. 1–30, Korrespondenzen zwischen Burgdörfer und dem RMI; BayHStA, MIn 83292, Personalakte Burgdörfers beim Staatsministerium des Innern; ebd., MWi 5669, Bl. 3905, 4610, 13870, 14932, 15611, 18575, Korrespondenzen Burgdörfers beim Staatsministerium des Äußern; BayHStA, Nr. 029, Personalakte Burgdörfer beim Bayerischen Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung; ebd., Nr. 029a, dasselbe; UAHUB, 504, Personalakte Burgdörfer, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, 2 Bde.; ebd., 604, Bl. 66–191, Korrespondenzen Burgdörfers bei der Handelshochschule Berlin; UALMU, M-II p-40, Promotionsakte Burgdörfers; ebd., Studenten-Kartei, Karteikarte Friedrich Burgdörfers; ders., Das Bevölkerungsproblem, seine familienweise Erfassung in Statistik und Politik, Inaugural-Diss., München 1917. 2 Friedrich Burgdörfer, Volk ohne Jugend. Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers. Ein Problem der Volkswirtschaft – der Sozialpolitik der nationalen Zukunft, Berlin 1932; Thomas Bryant, Friedrich Burgdörfer (1890–1967). Eine diskursbiographische Studie zur Geschichte der deutschen Demographie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2010; Florence Vienne, „Volk ohne Jugend“ de Friedrich Burgdörfer. Histoire d’un objet du savoir des années vingt à la fin de la Seconde Guerre mondiale, Phil. Diss. Paris 2000.

Friedrich Burgdörfer  113

3 Friedrich Burgdörfer, Bevölkerungspolitische Erwägungen zum Umbau der Sozialversicherung. Vorschläge von Dr. Friedrich Burgdörfer zur Schaffung einer Reichsfamilienkasse, in: Archiv für Bevölkerungswissenschaft (Volkskunde) und Bevölkerungspolitik, IV (1934), S. 319–325; ders., Das Bevölkerungsproblem, seine Erfassung durch Familienstatistik und Familienpolitik mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Reformpläne und der französischen Leistungen, München 1917, S. 4, 35–37, 43, 45; ders., Vom Leben und Sterben unseres Volkes, Berlin 1929, S. 19; Julius Wolf, Der Geburtenrückgang. Die Rationalisierung des Sexuallebens in unserer Zeit, Jena 1912; Verena Steinecke, Menschenökonomie. Der medizinische Diskurs über den Geburtenrückgang von 1911 bis 1931, Pfaffenweiler 1996. 4 Friedrich Burgdörfer, Der Geburtenrückgang und die Zukunft des deutschen Volkes, Berlin 19282, S. 16; ders., Eugenik und Bevölkerungspolitik, in: Volksaufartung, Erbkunde, Eheberatung 11/12 (1928), S. 248–262; Christiane Berger, Familienpolitische Konzeptionen Friedrich Burgdörfers, in: Wolfgang Voegeli (Hg.), Nationalsozialistische Familienpolitik zwischen Ideologie und Durchsetzung, Hamburg 2001, S. 123–152. 5 Heidrun Kaupen-Haas, Die Bevölkerungsplaner im Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik, in: dies. (Hg.), Der Griff nach der Bevölkerung. Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik, Nördlingen 1986, S. 103–120; Jutta Wietog, Volkszählungen unter dem Nationalsozialismus. Eine Dokumentation zur Bevölkerungsstatistik im Dritten Reich, Berlin 2001. 6 BArch, Film 15806, 612577–612581, „Zur Frage der Umsiedlung der Juden“ vom 17.7.1940; ebd., N 2199, 58, Bl. 10–35, „Bemerkungen und Vorschläge zur Neuordnung des statistischen Dienstes in Deutschland mit besonderer Berücksichtigung des regionalstatistischen Dienstes“ vom 15.3.1943; Friedrich Burgdörfer, Die Juden in Deutschland und in der Welt. Ein statistischer Beitrag zur biologischen, beruflichen und sozialen Struktur des Judentums in Deutschland, in: Forschungen zur Judenfrage 3 (1938), S. 152–198; Florence Vienne, Die „Lösung der Bevölkerungsfrage“ im Nationalsozialismus. Richard Korherrs und Friedrich Burgdörfers Beiträge zur Vernichtung der Juden in der Geschichte der Bevölkerungswissenschaft, in: Rainer Mackensen (Hg.), Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik im „Dritten Reich“, Opladen 2004, S. 151–164. 7 Charlotte Höhn, Grundsatzfragen in der Entstehungsgeschichte der Internationalen Union für Bevölkerungswissenschaft (IUSSP/IUSIPP), in: Rainer Mackensen (Hg. u.a.), Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungstheorie in Geschichte und Gegenwart, Frankfurt a. M. 1989, S. 233–254. 8 Friedrich Burgdörfer, Bevölkerungsdynamik und Bevölkerungsbilanz. Entwicklung der Erdbevölkerung in Vergangenheit und Zukunft, München 1951.

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Houston Stewart Chamberlain Im Weltkriegsjahr 1918 veröffentlichte der Romanist und Stilistiker Leo Spitzer seinen „Anti-Chamberlain. Betrachtungen eines Linguisten über Houston Stewart Chamberlains ‚Kriegsaufsätze‘“. Darin dekonstruiert er nicht nur Chamberlains Gedankenzüge als nationalchauvinistisch und rassistisch, sondern weist ihm auch überzeugend Unwissenschaftlichkeit nach. Dennoch nennt er den Autor des 1899 erschienenen Bestsellers „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ (Gl) einen „berückenden Feind“, von dem das „geistreich Gedachte und Gesagte“ beziehungsweise „der geniale Einfall“ stamme, der eine „gefällige Wirkung“ habe und „geistreiche Hypothesen“ aufstelle. Er bescheinigt ihm „markige Eleganz der Sprache“, „Originalität der Gedanken“ und „Scharfsinn seines Urteils“.1 Dies ist weniger eine Hommage des widerständigen Juden Spitzer an den antisemitischen Gegner, es ist eine nicht zu unterschätzende rezeptionshistorisch relevante Erklärung für den großen Erfolg, den Chamberlain bis 1945 mit seinen Werken, allen voran mit den „Grundlagen“, hatte.2 Das breite Spektrum der Leserschaft3 reichte von Kaiser Wilhelm II., Theodore Roosevelt, Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus, Thomas Mann, von dem Nobelpreisträger der Physik →Philipp Lenard, dem Erziehungswissenschaftler Ernst Krieck über →Arthur Moeller van den Bruck zu Antisemiten wie Adolf Bartels, Ludwig Woltmann, Alfred Baeumler, →Willibald Hentschel, →Hans F. K. Günther bis hin zu den Nationalsozialisten Dietrich Eckart, Baldur von Schirach, Heinrich Himmler, →Walter Frank, Hermann Göring, Alfred Rosenberg, Josef Goebbels und Adolf Hitler. Wer wollte, konnte einerseits über die allen seinen Ausführungen zu Grunde liegende kulturchauvinistisch-rassistische Geschichts‚philosophie‘ hinwegsehen und in ihm einen „international denkende[n], lesende[n] und schreibende[n] Privatgelehrte[n]“ sehen, „den seine völkisch-nationale Gesinnung nicht davon abhielt, über die deutschen Grenzen hinaus zu sehen“.4 Man konnte ihn aber auch gerade wegen dieser völkisch-nationalen und kulturchauvinistisch-rassistischen Gesinnung besonders hochschätzen. Als Chamberlain 1927 starb, begleitete „seine unter großer öffentlicher Anteilnahme inszenierte Einäscherung in Coburg“ nicht nur die Familie Wagner, die Honoratioren der Stadt Bayreuth, König Ferdinand von Bulgarien und „Prinz August Wilhelm als Vertreter des abgedankten Kaisers“, mit dem er jahrelang korrespondiert hatte und als dessen Hofphilosophen man ihn bezeichnen könnte. Gekommen waren auch Joseph Goebbels, Vertreter des Alldeutschen Verbandes, des Stahlhelms sowie die Coburger Ortsgruppen des Wikingbundes und der NSDAP. Der Sarg wurde von NSDAP-Männern getragen, SA und Stahlhelm standen Spalier. Auch Hitler war erschienen. Er hielt eine kurze Rede und rief, so zitiert Sven Fritz die Oberfränkische Zeitung, dem Verstorbenen einen „letzten Gruß von vielen trauernden Anhängern“ zu.5 Geboren wurde Houston Stewart Chamberlain am 9. September 1855 in Portsmouth / England als Sohn eines britischen Flottenoffiziers. Nach dem frühen Tod

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der Mutter verbrachte er seine Kindheit bei der Großmutter in Versailles. Seit 1869 reiste er mit einer Tante quer durch Europa. Spätestens mit dem Besuch der Münchner Ringinszenierung von 1878 wurde er zum begeisterten Anhänger des Komponisten Richard Wagner, trat in den Allgemeinen Bayreuther Patronatsverein ein und widmete sich und viele seiner Schriften von nun an der Bayreuther Idee. Das Botanikstudium in Genf hatte er wegen einer Krankheit, über deren genaue Diagnose man nur spekulieren kann (er selbst spricht von Neurasthenie), ohne Promotion abbrechen müssen. Doch das akademische Scheitern als Naturwissenschaftler kompensierte der große Erfolg als Schriftsteller und Kulturphilosoph. Von nun an führte ihn sein Weg über Dresden nach Wien und von dort direkt nach Bayreuth, wo er 1909 in zweiter Ehe Eva von Bülow, die Tochter des Komponisten Richard Wagner, heiratete. Von Bayreuth aus verwaltete er zusammen mit Evas Mutter Cosima das musikalische wie das ideologische Erbe des Komponisten und prägte trotz langjähriger Bettlägerigkeit bis zu seinem Tode die Geschicke der Wagnerdynastie und des sogenannten Bayreuther Kreises, eines zentralen Stützpunktes antisemitisch-völkischen Gedankengutes bis 1945.6 Chamberlains schriftstellerische und publizistische Tätigkeit war so breit gefächert wie seine Leserschaft. Sie umfasste eine hohe Anzahl von Essays und Zeitschriftenartikeln zum Tagesgeschehen, die in der Weltkriegszeit von vielen im Tornister mitgeführten Kriegsaufsätze ebenso wie theologische Bekenntnisschriften, so „Worte Christi“ oder „Mensch und Gott“, Schriften, die neben den „Grundlagen“ nicht nur für den Chamberlainepigonen Alfred Rosenberg prägend waren7, sondern auch für bedeutende Protestanten wie Herbert Grundmann und die „Deutschen Christen“. Chamberlains Religionsverständnis eines artgemäßen und germanischen Christentums, gar eines arischen Christus machte für nicht wenige Protestanten erst die Verbindung zwischen nationalsozialistischer Ideologie und gelebtem Christentum möglich. Bedeutend waren zudem die heute noch zitierte Monographie zu Richard Wagner (1895), ferner je ein Werk zu Kant (1905) und zu Goethe (1912).8 Der Politologe Udo Bermbach hält letzteres für Chamberlains bestes Buch; es sei „literarisch wie gedanklich gleichermaßen anspruchsvoll, aller Polemik zum Trotz – und den antisemitischen Ausfall einmal ausgeklammert – lehrreich und anregend, unorthodox und stimulierend“.9 Man las den polyglotten Engländer mit ausgezeichneten Deutschkenntnissen zwar nicht immer widerspruchslos, doch in der Regel mit Hochachtung. George Bernard Shaw nannte die „Grundlagen“ geradezu euphorisch „The greatest protestant Manifesto ever written“ und fügte hinzu: „everybody capable of it should read it“.10 Doch der →Antisemitismus des Goethebuchs war kein zufälliger „Ausfall“, sondern Konsequenz einer rassistischen Grundhaltung, die Chamberlain immer wieder explizit in seinen Schriften, z. B. der „Arische[n] Weltanschauung“ oder in „Rasse und Persönlichkeit“ (1925), in den politikphilosophischrassistischen Abhandlungen, z. B. in „Politische Ideale“ (1915), „Ideal und Macht“ (1916) sowie in „Der demokratische Wahn“ (1918) ausführte. Diese Schriften müssen daher programmatisch und deontisch, das heißt: mit einer gleichsam im Wort mit-

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gelieferten Gebrauchsanweisung und damit als konsequent wiederholter Appell an das Bildungsbürgertum gelesen werden; sie sind von ihm als umfassender Geschichts- und Weltentwurf gedacht, als Fiktion mit hohem zeitgenössischem Deutungswert, als das Gesamtkunstwerk einer germanischen Weltanschauung, das dringend in die Tat umgesetzt werden müsse. Chamberlains Gedankengut ist nicht eigenkreativ entwickelt. Es ist vielmehr synkretistisch zusammengelesen und ideologisch passend gemacht aus den Traditionen der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte sowie den kompatiblen naturwissenschaftlichen Publikationen der Zeit. Maßgeblich geprägt haben ihn vor allem die Regenerationsschriften seines ‚Meisters‘ Richard Wagner, dann die Auseinandersetzungen mit den Schriften Arthurs Graf de Gobineau und Charles Darwins. Chamberlains Werk war das eines hochgebildeten Bildungsbürgers für sich sozialdistinktiv unterscheiden wollende andere Kulturbürger. Der Mensch wird eingebettet in ein fest gefügtes System, das bildungsbürgerlich geprägt die Wunschvorstellungen seiner Rezipientenschicht ausformuliert. Es handelt sich dabei um ein Gesamtordnungsgefüge, das dem mittelalterlichen Ordo-Gedanken analog alles unverrückbar an seinen von Gott gewollten Platz stellt. Dies ist die tröstende Suggestion einer absoluten Stabilität in einer aus den Fugen geratenen, verunsicherten Realität. Hinzu kommt eine Komplexitätsreduktion der besonderen Art. Die Polarisierung unterteilt die Welt trotz ausgefeilter narrativer Differenzierung am Ende in klar erkennbare Freunde (Germanen, Arier, Deutsche) und davon deutlich unterscheidbare Feinde (Semiten). Im argumentativen Zentrum steht die Frage nach Wesen und Werden von Kultur und Menschheit. Besonders in den „Grundlagen“ bietet er seinen in Religion, Politik und Kultur unsicher gewordenen bürgerlichen Lesern ein Wissenschaftlichkeit suggerierendes und in diesem Sinne rezipiertes Welterklärungsmodell11, das alles Natürliche sowie das soziale Werden und Sein, darunter speziell Geschichte und Gegenwart, unter den Gesichtspunkt von germanischer Kultur und Rasse stellt und als fortwährenden Rassenkampf inszeniert. Für ihn ist die „Rassenfrage eine Lebensfrage“.12 Im Kernpunkt seiner Geschichtsauffassung geht es darum, das „Einbrechen tiefer Nacht in Europa“ (Gl 374), das auf den Verfall des römischen Weltreiches folgte, aus der Verantwortlichkeit der Germaneneinfälle herauszuziehen und es dem von ihm so genannten „Völkerchaos“ zuzuschreiben. So postuliert er in den „Grundlagen“ (Gl 9), „dass unsere gesamte heutige Civilisation und Kultur das Werk einer bestimmten Menschenart ist: des GERMANEN (Hervorhebung im Original). Es ist unwahr, dass der germanische Barbar die sogenannte ‚Nacht des Mittelalters‘ heraufbeschwor; vielmehr folgte diese Nacht auf den intellektuellen und moralischen Bankrott des durch das untergehende römische Imperium grossgezogenen rassenlosen Menschenchaos; ohne den Germanen hätte sich ewige Nacht über die Welt gesenkt“. Die Germanen werden (auch in der Tradition Wagners und dann wegweisend für Hitler; vgl. Mein Kampf I, 317) zu Kulturbegründern erklärt. Sie allein hätten den Grundstein für einen neuen Morgen gelegt, zu „neue[n] grosse[n] Volksrassen, herrliche[n] neue[n] Sprachen und zu eine[r] neue[n], zu den kühnsten Hoffnungen be-

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rechtigende[n] Kultur“ (Gl 374). Hier deutet sich Chamberlains arische Utopie an, aber auch seine Verkehrung der traditionellen Geschichtsschreibung, die er abfällig als „Hallucination“ bezeichnet (Gl 374). Seine eigene Geschichtsschreibung macht jedenfalls aus den Germanen der Barbareneinfälle „das Geschlecht, das aus dem Dunkeln ins Helle strebt“ (Gl 378), den kulturschöpferischen Übermenschen mit einem kulturmissionarischen Heilsversprechen (Gl 372). „Kein Zweifel! das rassenund nationalitätlose Völkerchaos des spätrömischen Imperiums bedeutete einen unheilvollen, Verderbnis bringenden Zustand, eine Versündigung gegen die Natur. Nur ein Lichtstrahl glänzte über jene entartete Welt. Er kam aus dem Norden. EX SEPTENTRIONE LUX!“. Mit dem Weltkrieg und der Distanzierung zu England wurde aus der Epiphanie des Germanen immer mehr eine des Deutschen, zu dem sich Chamberlain nun auch äußerlich durch die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft bekannte. Antipoden dieses Germanendeutschen gab es seiner Meinung nach viele, doch steche das Semitische durch die Jahrhunderte besonders hervor und müsse daher bekämpft werden. „[E]s ist meine innige Überzeugung“, so schreibt er 1901 an Kaiser Wilhelm, „daß das moralische und geistige Heil der Menschheit von dem abhängt, was wir das Deutsche nennen können. […] [A]uf den Deutschen allein baut heute Gott. Das ist die Erkenntnis, die sichere Wahrheit, die schon seit Jahren meine Seele erfüllt; um ihr zu dienen, habe ich meine Ruhe geopfert; für sie will ich leben und sterben. […] [Es sei nicht der] von Haß gegen die Semiten, sondern der von Liebe gegen die Germanen eingegebene – Kampf gegen das zerfressende Gift des Judentums, der Kampf gegen den Ultramontanismus, gegen den Materialismus“ (Hervorhebungen im Original).13 Der mit den Juden auszufechtende „Rassenkampf“ gehört zusammen mit „Menschen-“ und „Völkerchaos“ zu den zentralen Stichwörtern Chamberlains wie Gobineaus.14 Jede menschliche, ja jede kulturelle Tätigkeit wird zur Frage der ihr zugrundeliegenden Rasse. Diese sei kein „Urphänomen“, sondern werde „erzeugt: physiologisch durch charakteristische Blutmischung, gefolgt von Inzucht; psychisch durch den Einfluss, welchen lang anhaltende, historisch-geographische Bedingungen auf jene besondere, spezifische, physiologische Anlage ausüben“ (Gl 407). Sie ist für ihn daher vor allem ein Zukunftsprogramm. Ähnliches gilt für die Kategorie des „Ariers“. Für Chamberlain „bleibt der ‚Semit‘ als Begriff einer Urrasse, gleichwie der ‚Arier‘, einer jener Rechenpfennige, ohne die man sich nicht verständigen könnte, die man sich aber wohl hüten muss für bare Münze zu halten“ (Gl 407). Er selbst setzte diese zweifelhaften Pfennige bewusst ein. Dabei kam es ihm nicht darauf an, ob „wir Arier sind“, sondern darauf, „daß wir“ im wagnerisch-nietzscheanischen Sinne „Arier werden“.15 In den Lebenswegen schreibt er (1919, 281): „die Streitfrage über ein vergangenes Ariertum können wir billig ruhen lassen, sobald wir einem künftigen Ariertum mit vereinten Kräften entgegengehen.“ Chamberlains Art der Kulturkritik wird so zur arischen Kulturutopie, dabei zum Vehikel und zur Argumentationsgrundlage für Differenz und Diskriminierung, zum rhetorischen Entfaltungsraum für Kulturchauvinismus und kulturelle Verfallsinsze-

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nierungen, letztlich zur Basis der Verbreitung und Durchsetzung einer rassistischen Utopie, deren Gebrauchsanweisung je nach Auslegung vom Ausgrenzungsrassismus bis zum Vernichtungsrassismus reichen kann. Seine Brückenfunktion hin zum Nationalsozialismus ist unbestritten.

Anja Lobenstein-Reichmann

1 Spitzer, Leo, Anti-Chamberlain. Betrachtungen eines Linguisten über Houston Stewart Chamberlains „Kriegsaufsätze“ und die Sprachbewertung im allgemeinen von Dr. Leo Spitzer, Leipzig 1918, S. 6; vgl. dazu: Anja Lobenstein-Reichmann, Houston Stewart Chamberlain und Leo Spitzer – ein Linguist wehrt sich, in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 33 (2005), S. 346–360. 2 Die weiteren Ausführungen basieren vor allem auf: Anja Lobenstein-Reichmann, Houston Stewart Chamberlain – Zur textlichen Konstruktion einer Weltanschauung. Eine sprach-, diskurs- und ideologiegeschichtliche Analyse, Berlin u.a. 2008; dies., „Houston Stewart Chamberlains rassentheoretische ‚Geschichtsphilosophie‘“, in: Werner Bergmann (Hg. u.a.), Antisemitische Geschichtsbilder, Essen 2009, S. 139–166; dies., Kulturchauvinismus. Germanisches Christentum. Austilgungsrassismus. Houston Stewart Chamberlain als Leitfigur des deutschnationalen Bürgertums und Stichwortgeber Adolf Hitlers, in: Hannes Heer (Hg. u.a.), „Weltanschauung en marche“. Die Bayreuther Festspiele und die „Juden“, 1876 bis 1945, Würzburg 2013a, S. 169–192; dies., Der ‚völkische‘ Demokratiebegriff, in: Demokratiegeschichte als Zäsurgeschichte. Hg. von Heidrun Kämper u.a., Berlin u.a. 2013b, S. 285–306; dies., Von Wagner bis Hitler – ein deutscher Diskurs, in: Heidrun Kämper u.a., Diskurs – interdisziplinär. Zugänge, Gegenstände, Perspektiven, Berlin u.a. 2015, S. 391–416; außerdem auf: Barbara Liedtke, Völkisches Denken und Verkündigung des Evangeliums. Die Rezeption Houston Stewart Chamberlains in evangelischer Theologie und Kirche in der Zeit des „Dritten Reichs“, Leipzig 2012; Sven Fritz, Chamberlain und der Eintritt Wahnfrieds in die Tagespolitik. Kriegsschriften, Alldeutscher Verband und Vaterlandspartei, in: Heer (Hg. u.a.), „Weltanschauung en marche“, S. 193–216; Udo Bermbach, Houston Stewart Chamberlain. Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker, Stuttgart 2015; Geoffrey G. Field, Evangelist of Race: The Germanic Vision of Houston Stewart Chamberlain, New York 1981. 3 Vgl. zur Rezeption: Field, Evangelist of Race, S. 232; Lobenstein-Reichmann, Houston Stewart Chamberlain – Zur textlichen Konstruktion, S. 24ff.; Liedtke, Völkisches Denken, S. 109f.; speziell in evangelischer Theologie und Kirche S. 125–153; Bermbach, Houston Stewart Chamberlain. Wagners Schwiegersohn, S. 171ff. 4 Bermbach, Houston Stewart Chamberlain, S. 3. 5 Zitiert nach Fritz, Chamberlain und der Eintritt Wahnfrieds, S. 216. 6 Chamberlain, Houston Stewart, Lebenswege meines Denkens. München 1919, 19222; 19423, S. 111. 7 Lobenstein-Reichmann, Houston Stewart Chamberlain – Zur textlichen Konstruktion, S. 37; dies., Kulturchauvinismus. Germanisches Christentum, S. 188; vgl. dies., Der ‚völkische‘ Demokratiebegriff; Liedtke, Völkisches Denken, S. 109f.; speziell in evangelischer Theologie und Kirche S. 125– 153; Bermbach, Houston Stewart Chamberlain, S. 171ff. 8 Liedtke, Völkisches Denken, S. 209f., S. 364ff. 9 Vgl. Bermbach, Houston Stewart Chamberlain, S. 371. 10 George Bernard Shaw, Missalliance. The Dark Lady of the Sonnets. Fanny’s First Play, London 1930, S. 100. 11 Lobenstein-Reichmann, Kulturchauvinismus. Germanisches Christentum, S. 174. 12 Houston Stewart Chamberlain, Dilettantismus – Rasse – Monotheismus – Rom, München 1903, S. 15. 13 Chamberlain, Houston Stewart, Briefe, 2 Bde. München 1928, Bd. II, S. 132f.

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14 Lobenstein-Reichmann, Houston Stewart Chamberlain, S. 513. 15 Vgl. Chamberlain, Arische Weltanschauung, Vorw. zur 3. Aufl; vgl. Lobenstein-Reichmann, Houston Stewart Chamberlain, S. 178f.

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Christ(e)l Cranz-Borchers Christel (Christl)1 Franziska Antonia Cranz, geboren am 1. Juli 1914 in Brüssel, war die erste Olympiasiegerin im alpinen Skilauf, eine Sportart, die bei den Olympischen Winterspielen 1936 neu in den olympischen Sportartenkanon aufgenommen wurde. Darüber hinaus hat Cranz zahlreiche Weltmeistertitel in den 1930er Jahren im alpinen Skilauf gewonnen. Durch ihre sportlichen Erfolge wurde sie zur Nationalheldin im nationalsozialistischen Deutschland. Sie verfasste mehrere Bücher, zum Teil mit autobiografischen Anteilen. Darin nahm sie allerdings nie Bezug zu ihrer politischen Einstellung, noch auf ihre Inhaftierung in Frankreich nach Ende des Zweiten Weltkrieges.2 1918 verließ die Familie Cranz Belgien und zog nach Traifelberg auf die Schwäbische Alb, später weiter nach Interlaken/Grindelwald, Schweiz. Die vom Vater getrennte Mutter siedelte 1928 mit den drei Kindern nach Freiburg in den Schwarzwald um. Nachdem Christel Cranz skifahrerische Grundlagen in der Schweiz gelernt hatte, begann hier ihre aktive skisportliche Karriere zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Heinz-Rudolf, „Rudi“ (1918–1941), mit dem sie eine sehr enge Beziehung pflegte. Wie seine Schwester gehörte Rudi zu den besten alpinen Skifahrern in Deutschland. Zwischen 1937 und 1941 errang er im Slalom und in der Kombination vier Deutsche Meistertitel. Bei den Olympischen Spielen 1936 wurde er Sechster in der Alpinen Kombination. Als Gebirgsjäger war er in der Wehrmacht und fiel 22jährig 1941 in Polen. Die skisportliche Karriere des jüngsten Bruders, Harro Cranz (1920–2007), verlief nicht so erfolgreich wie die seiner älteren Geschwister. 1933 legte Christel Cranz in Freiburg ihr Abitur ab, im Anschluss absolvierte sie in Berlin an der Hochschule für Leibesübungen das Studium zur Sportlehrerin an Höheren Schulen. Nach dem Examen kehrte Cranz in ihre Heimat zurück und war von 1935–1945 Assistentin am Hochschulinstitut für Leibesübungen der Albert-Ludwig-Universität Freiburg.3 Cranz gewann in den Jahren zwischen 1934–39 zahlreiche nationale und internationale Wettkämpfe (darunter 15 deutsche Meisterschaften, 12 Weltmeisterschaften). Ihr Talent für den alpinen Skisport wurde von ihren Lehrern, Dozenten und später auch den Vorgesetzten unterstützt. Während der Schulzeit, im Studium und ihrer Berufstätigkeit an der Universität Freiburg wurden ihr Privilegien zugestanden, um zu trainieren und sich auf Wettkämpfe vorzubereiten. Auch für die Vorbereitung auf die Olympischen Winterspiele 1936 wurde sie drei Monate freigestellt. Während des Nationalsozialismus war sie Mitglied im Bund Deutscher Mädel und hatte die Funktion als Jungmädelbund-Scharführerin inne. Zudem war sie ab 1938 Mitglied im NS-Reichsbund für Leibesübungen und begleitete das Amt als Frauenfachwartin für Skilauf seit 1939.4 Die IV. Olympischen Winterspiele wurden vom 6.–16. Februar 1936 in Garmisch-Patenkirchen ausgetragen und durch Adolf Hitler eröffnet. Unter den 646 Teilnehmern aus 28 Nationen befanden sich 80 Frauen. Acht Sportarten und 17 Wettkämpfe umfassten das olympische Sportartenprogramm. Wettkämpfe im alpi-

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nen Skilauf, bestehend aus einer Kombination (Abfahrtslauf und Slalom), waren neu in das Programm aufgenommen worden.5 Der alpine Frauenwettkampf begann am zweiten Tag der Winterspiele mit dem Abfahrtslauf. Cranz, die als Favoritin galt, stürzte und erreichte den 6. Platz mit 19 Sekunden Rückstand auf die Führende in dieser Disziplin. Den Zeitverlust konnte sie am darauffolgenden Tag in den zwei Slalomläufen wieder gut machen und wurde vor der Norwegerin Laila Schou-Nilsen Olympiasiegerin. Durch ihren bedingungslosen Einsatz zum Sieg selbst in einer hoffnungslosen Situation wie nach ihrem Sturz, wurde Cranz zur umjubelten Nationalheldin. Sie avancierte in den Augen der Machthaber wie der sportbegeisterten Öffentlichkeit zu einer Sportlerin, die perfekt in das ideologische Weltbild des Nationalsozialisten passte. Obwohl selbst kein Parteimitglied, unterstützte Cranz wenige Wochen nach ihrem Sieg zusammen mit anderen Athleten die NSDAP bei den Reichstagswahlen im März 1936.6 Ihren größten politischen Auftritt hatte sie einige Jahre später beim Aufruf „Skier an die Ostfront“. Um die Bedürfnisse der deutschen Soldaten im kalten Russland zu befriedigen, wurden Kleidung und Skier benötigt und über Radio und Zeitungen im Dezember 1942 die Bevölkerung zu den entsprechenden Spenden aufgerufen. Besonders die Skiläufer und Skiläuferinnen wurden adressiert. Das Reichssportblatt zeigte Cranz medienwirksam bei der Abgabe ihrer Ski. Dieser Auftritt erhielt allerdings nicht die von der Politik erwartete positive Resonanz, da die Bevölkerung es als selbstverständlich ansah, dass die Olympiasiegerin und mehrfache Weltmeisterin ein Paar Ski aus ihrer umfangreichen Sammlung abgab.7 Nach dem Zweiten Weltkrieg musste Christl Cranz für mehrere Monate wegen des Spionageverdachts in einem französischen Lager Zwangsarbeit leisten.8 Aus den Akten verschiedener Spruchkammern im Allgäu (Kempten, Sonthofen) aus den Jahren 1947 bis 1949 geht hervor, dass Cranz als politische Mitläuferin eingestuft war und mehrmals Strafe zahlen musste. 1947 zog Cranz nach Steibis ins Allgäu, wo sie bis zu ihrem Tod 2004 lebte. Ihr Ehemann, der Jagdflieger, Hauptmann und Träger des Ritterkreuzes Adolf Borchers (1913–1996), den sie bereits 1943 geheiratet hatte, folgte ihr 1950 aus der russischen Kriegsgefangenschaft nach. Zusammen bauten sie in Steibis ein Skiheim mit Kinderskischule auf und gründeten eine Familie aus der drei Kinder hervorgingen. 1947 wurde von Cranz die örtliche Skischule „Christl Cranz“ mitbegründet. Zu Beginn war ihr die Erteilung von Skikursen untersagt, da ihr das Diplom zur staatlich geprüften Skilehrerin fehlte. Diese fehlende Prüfung legte sie 1948 in Oberstdorf ab. Damit wurde sie zu einer der ersten, wenn nicht zu der ersten deutschen Berufsskilehrerin. Angeblich, trotz erfolgreicher Absolvierung des Kurses bekam sie keine Lizenz, da ein Gesetz aus dem Jahr 1936 Frauen untersagte Skilehrerinnen werden zu können. Cranz musste nachweisen, dass Frauen im Ausland in diesem Beruf tätig waren, um eine Lizenz zu bekommen. Dies gelang ihr durch ihre Kontakte zu ehemaligen Skirennläuferinnen. Auch als Funktionärin setzte Christel Cranz-Borchers sich für den Skisport ein: Auf lokaler Ebene war sie Gründungsmitglied des Skiclub Steibis (1948) und für 29

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Jahre dessen Vorsitzende; national, für den Deutschen Skiverband (DSV), der 1947 als Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Skiverbände in Stuttgart ins Leben gerufen wurde und 1949 als DSV weitergeführt werden konnte. In dieser Organisation war sie ab 1948 Beauftragte für Frauenfragen und bis 1957 die Vorsitzende des Frauenund Mädelausschusses. International wurde Cranz 1951 in das Frauenkomitee der FIS aufgenommen. 1956 war sie bei den Olympischen Spielen im italienischen Cortina d´Ampezzo als Kampfrichterin und Betreuerin der deutschen Frauenskimannschaft dabei, ebenso 1960 in Squaw Valley und 1964 in Innsbruck.9 Christel Cranz-Borchers lief bis ins hohe Alter Ski. Sie verstarb 90jährig am 28.9.2004 in ihrer Wahlheimat Steibis im Allgäu.

Annette R. Hofmann

1 In ihrer Autobiografie „Christl fährt Ski“ ist zu lesen, dass sie das ´e´ in Christel abgelegt habe, um Autogramme schneller zu schreiben. 2 Christl Cranz, Skilauf für die Frau, Aalen, 1935; Christel Cranz/Rudi Cranz, Erprobtes und Erfahrenes Skiläufer und ihr Gerät, München, 1939; Christl Cranz-Borchers, Christl erzähl!, München 1949; Christl Cranz-Borchers, Wir laufen Ski, Gütersloh 1958. 3 Brief an Spruchkammer in Sonthofen vom 23.1.1948 von einem Vertreter des Sport-Instituts Freiburg. 4 9.12.1947, Sonthofen, Arbeitsblatt, Meldebogen zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus, unterschrieben am 6.10.1947 5 Organisationskomitee für die IV. Olympischen Winterspiele 1936 Garmisch-Partenkirchen E.V. (Hg.), IV. Olympische Winterspiele 1936. Amtlicher Bericht, Berlin 1936. Weitere deutsche Teilnehmerinnen im alpinen Wettbewerb waren Lisa Resch, Kathi Grasegger und Heidi Pfeiffer-Lautschaner. 6 Hajo Bernett, Der Weg des Sports in die nationalsozialistische Diktatur, Schorndorf 1983, S. 86. 7 Vgl. Lorenz Peiffer, Ski für die Ostfront, in: SportZeiten 2 (2001) 1, S. 55–64,; Gerd Falkner. Skier für die Front, Plannegg 2004, S. 106–107; Reichssportblatt 9 (1942) 1, Titelseite. 8 Vgl. Uwe Prieser, 81 Jahre, und noch immer liebt Christl Cranz teil Hänge, in: Welt am Sonntag 1995, in: Nachlass Cranz, Skimuseum Hinterzarten; Homepage der Gemeinde Oberstaufen, http:// www.oberstaufen.info/index.shtml?prominente (1.2.2016). 9 Christl Cranz-Borchers, Aus meinem Skiläuferleben. 60 Jahre Skigeschichte, mitgefahren, miterlebt, unveröffentlichtes Manuskript im Nachlass Cranz, Skimuseum Hinterzarten.

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Walter Christaller Als Begründer der Theorie der zentralen Orte gilt Walter Christaller bis heute als einer der bekanntesten deutschen Geographen. Seine 1933 als Dissertation veröffentlichte Theorie ist ein wirtschaftsgeographisches Erklärungsmodell für die Entstehung, Größe und Verteilung von Städten. Nach Beginn des zweiten Weltkrieges wurde Christallers Modell zu einem wichtigen Bestandteil der NS-Raumplanung in den annektierten und für eine Germanisierung vorgesehenen Gebieten im Westen und vor allem im Osten des Reiches. An der Umdeutung und Adaption seiner Theorie für die Neubau- und Umbauprojekte der nationalsozialistischen Raumplanung beteiligte sich Christaller während der NS-Zeit aktiv durch theoretische Beiträge und durch Auftragsforschung für die Planungshauptabteilung →Konrad Meyers im →Reichskommissariat für die Festigung deutschen Volkstums (RKF). Die Kindheit des am 21. April 1893 geborenen Christallers war durch ein unkonventionelles und literarisch orientiertes Elternhaus bestimmt. Christallers Mutter, Helene Christaller, galt zu ihrer Zeit als eine populäre Schriftstellerin, die Heimatromane mit christlich-sozialkritischer Note um starke Frauengestalten verfasste. Der nonkonformistische, deutlich ältere Vater, Erdmann Gottreich Christaller, war bis 1903 Pfarrer der württembergischen Landeskirche und danach ebenfalls vorwiegend publizistisch tätig. Christaller erhielt von seiner Mutter Privatunterricht bis er vierzehnjährig an ein Realgymnasium in Darmstadt wechselte. Nach dem Abitur studierte Christaller drei Semester Philosophie und Volkswirtschaft in München und Heidelberg, war als Mitglied der Deutschen Akademischen Freischar und in der Wandervogelbewegung aktiv. Bei Kriegsausbruch meldete er sich freiwillig und diente im hessischen Feldartillerieregiment 61, aus dem er 1918 im Rang eines Vizefeldwebels ausschied. 1919 nahm er sein Studium kurzzeitig wieder auf, arbeitete anschließend als Bergmann und Hilfsarbeiter und war in verschiedenen Siedlungsgenossenschaften tätig. Nach eigenen Angaben war Christaller zu dieser Zeit in Essen Mitglied eines Arbeiter- und Soldatenrates und beteiligte sich an der Niederschlagung des Kapp-Putsches.1 1921 wurde Christaller Sekretär des Heimstättenamtes der deutschen Beamtenschaft in Berlin, 1922 Geschäftsführer der Hessischen Arbeitsgemeinschaft für Siedlungswesen in seinem Heimatort Jugenheim. Zu dieser Zeit gehörte er kurzzeitig der SPD an. 1924 kehrte Christaller als Sekretär des Heimstättenamtes wieder nach Berlin zurück und betätigte sich von 1925 bis 1928 in einer Berliner Baufirma, die sich mit Fertigteilbauweisen beschäftigte. Aus einer 1921 geschlossenen Ehe gingen drei Kinder hervor; 1928 wurde die Ehe geschieden. 1929 nahm Christaller sein Studium wieder auf und schloss es 1930 in Erlangen als Diplom-Volkswirt ab. Er war zeitweise Vorsitzender des Erlanger Republikanischen Studentenbundes und als solcher Mitorganisator eines Vortrags von Thomas Mann, der im Juni 1931 zu Auseinandersetzungen mit nationalsozialistischen Studentengruppen führte. 1932 promovierte

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sich Christaller beim Erlanger Geographen Robert Gradmann mit der Arbeit Die zentralen Orte in Süddeutschland, die die Theorie der zentralen Orte begründete.2 Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme ermittelte die Staatspolizei wegen kommunistischer Tendenzen gegen Christaller und führte mehrere Hausdurchsuchungen durch. Er entschied sich in dieser Situation zu einer dreimonatigen Reise nach Frankreich, fand sich dann aber mit den Verhältnissen ab und kehrte nach Deutschland zurück. Die mit Fragen der Volks- und Kulturbodenlehre befasste Albrecht-Penck-Stiftung ermöglichte ihm 1934 eine Forschungsreise nach Lappland. Von 1935 bis 1937 war Christaller Mitarbeiter an einem Atlasprojekt, das 1937 von Norbert Krebs als Atlas des deutschen Lebensraumes in Mitteleuropa veröffentlicht wurde. Im Anschluss erhielt er eine Assistentenstelle am neugegründeten Kommunalwissenschaftlichen Institut des Verwaltungsjuristen Theodor Maunz an der Universität Freiburg. 1938 erkannte der Freiburger Geograph →Friedrich Metz Christallers ein Jahr zuvor erschienene Studie über ländliche Siedlungsweisen als Habilitation an. 1939 beteiligte sich Christaller neben anderen als Bearbeiter der Teilaufgabe „zentrale Orte“ im kriegswichtigen Forschungsprogramm „Der Osten“ der →Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung (RAG) im Themenschwerpunkt 5 „Welche Struktur und welche Gestaltung sollen die zentralen Orte des Ostens und ihre Einzugsbereiche künftig erhalten?“ Wahrscheinlich ergab sich über diese Institution der Kontakt zu Konrad Meyer, der ihn 1940 als Mitarbeiter an sein Berliner Institut für Agrarwesen und Agrarpolitik holte und ihn von dort aus an den Planungen der SS für Osteuropa im Reichskommissariat für die Festigung deutschen Volkstums beteiligte. Im Juli 1940 trat Christaller der NSDAP bei (Nr. 8.375.670).3 Wie in seinem beruflichen Lebensweg auch ist in Christallers Publikationen dieser Zeit das Bemühen zu erkennen, sich auf die veränderten Machtverhältnisse einzustellen. Noch im Jahr der nationalsozialistischen Machtübernahme veröffentlichte er einen Aufsatz, in dem er das von ihm entwickelte Modell der zentralen Orte als Grundlage einer nationalsozialistischen Reichs- und Verwaltungsreform empfahl. Ein neues Tätigkeitsfeld für die Anwendung seiner Theorie eröffnete sich ihm ab 1940 in den NS-Planungen für das besetzte Osteuropa. Zu diesem Zweck modifizierte er seine ursprünglichen Modellvorstellungen wesentlich. Er vereinfachte die wirtschaftlichen Tragfähigkeitsüberlegungen, die seinem Modell ursprünglich zugrunde lagen und zwischen Versorgungs-, Verkehrs- und Verwaltungseffekten unterschieden. Diese differenzierten Einflussgrößen ordnete er nun einem „Führer-Gefolgschaftsverhältnis“ unter, das in der Siedlung klar zum Ausdruck kommen müsse.4 Wahlmöglichkeiten zwischen konkurrierenden Zentren, zuvor ein tragendes Element in Christallers Erklärungsansatz, waren in dieser Ausformung der Theorie nicht mehr vorgesehen. Aus einer ursprünglich als raumwirtschaftliches Erklärungsmodell gedachten Theorie wurde auf diese Weise ein normatives Schema der Landesplanung. Der Bezug zu den Ideologemen „Rasse“ und „Lebensraum“ ist in Christallers Veröffentlichungen nur indirekt greifbar. Deutlich wurde das ZentraleOrte-Modell in der späteren „Gestaltung“ durch Christaller aber zu einem totalitä-

Walter Christaller  125

ren, räumlich-ökonomischen Modell einer durchgehend nach dem Führerprinzip organisierten ständischen →Volksgemeinschaft, die sich in der Hierarchie und Organisation der zentralen Orte wiederspiegelte.5 Auf der anderen Seite bestand auch aus der Perspektive der NS-Raumplanung und Siedlungspolitik ein Interesse an Christallers Modellkonzeption. Die ursprüngliche Modellkonzeption von 1932 zeichnete das Idealbild einer effizienten, dezentralen und hierarchisch organisierten Wirtschaftsstruktur auf Basis von Selbstversorgung. Diese Vorstellung stand zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft durchaus in Nähe zu Zielen der NS-Agrar- und Autarkiepolitik. Seine Arbeit antwortete zudem auf einen übergreifenden Forschungstrend. Zeitgleich waren ähnliche Fragestellungen in der aufkommenden Stadt-Umland-Forschung und in den Diskursen zum neuen Themenfeld der Landesplanung zu fassen. Um 1935 griffen so die siedlungspolitischen Schriften Johann Wilhelm Ludowicis und der Ostpreußenplan Hans-Bernhard von Grünbergs Christallers Modell in unterschiedlicher Weise auf. Eine intensive Adaption des Zentrale-Orte-Ansatzes erfolgte dann in einer zweiten Phase ab 1939 im Rahmen der RAG und des RKF für die Neuplanung der besetzten, für eine Germanisierung vorgesehenen Gebiete Osteuropas. Das Konzept der zentralen Orte stellte für diese Planungen eine methodisch attraktive und effizient operationalisierbare Grundlage dar.6 An der Adaption seines Modells für diese Aufgaben beteiligte sich Christaller durch eine Reihe von Gutachten und Publikationen. 1940 publizierte Christaller seine Vorstellungen für die Gebietsgliederung des Umlandes von Posen. In einem Beitrag für die Zeitschrift Neues Bauerntum entwarf er im gleichen Jahr eine bis ins Detail auf die Gliederungen und Organisation der NSDAP abgestimmte Raum- und Verwaltungshierarchie. 1941 legte er eine Planung zur Gliederung der neugebildeten Reichsgaue Danzig-Westpreußen, Wartheland und Oberschlesien vor. Im Frühjahr 1942 beschäftigte sich Christaller dann in Straßburg im Auftrag des Reichskommissariats mit Fragen der Raumordnung im Elsaß. Anfang 1944 legte er einen „Reichsgliederungsplan“ und eine umfassende Bevölkerungsbilanz für das Altreichsgebiet vor. Mit dieser Planung nutzte Christaller im Auftrag des Reichskommissariats die Gelegenheit, das von ihm propagierte Zentrale-Orte-Modell zur Reichsreform in großem Maßstab durchzuprobieren. Im Ergebnis ermittelte Christaller, dass – gerechnet auf einen Zeitraum von dreißig Jahren – etwas mehr als 23 Millionen Deutsche nach einer grundlegenden Neuordnung des Siedlungssystems für Umsiedlungsmaßnahmen „verfügbar“ würden. 15.443.000 deutsche Umsiedler wären nach Christallers Vorstellungen für die Germanisierung der okkupierten Gebiete einsetzbar gewesen; 7.575.000 sollten innerhalb des „Altreiches“ verpflanzt werden.7 Der unmittelbare Einfluss Christallers auf die Planungshauptabteilung des RKF darf andererseits nicht überschätzt werden. Christaller reichte seine Planungsvorstellungen als „freier Mitarbeiter“ ein, der über Forschungsaufträge in Konrad Meyers Berliner Universitätsinstitut für Agrarwesen und Agrarpolitik finanziert wurde. Er blieb damit außerhalb der eigentlichen Planungs- und Entscheidungshierar-

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chien des RKF, die seine Vorschläge rezipierten, begutachteten und mehrfach abänderten. Dies trat etwa in den Vorgaben des RKF für Dorf- und Stadtgrößen sowie in der tatsächlich realisierten zentralörtlichen Gliederung der Reichsgaue DanzigWestpreußen, Wartheland und Oberschlesien hervor, die zwar prinzipiell einem Zentrale-Orte-Modell folgten, aber von Christallers Vorschlägen abwichen.8 Nach dem Krieg empfahl Christaller ohne sonderlichen Erfolg das Modell der zentralen Orte für die föderale Neugliederung und die Wahlkreiseinteilung der Bundesrepublik. Christaller fand zu keiner geregelten Arbeit und finanzierte sich mit gelegentlichen Forschungsarbeiten und -publikationen, veröffentlichte einen Bauernkalender und populärwissenschaftliche Schriften zur Geographie. 1949 war er vorübergehend in der Volkshochschule Darmstadt und als Leiter der Kulturgemeinde Jugenheim tätig. 1950 war er Mitbegründer des Verbandes Deutscher Berufsgeographen (heute: Deutscher Verband für Angewandte Geographie, DVAG). Politisch orientierte sich Christaller nunmehr an der KPD, vertrat sie von März 1951 bis Mai 1952 im Gemeinderat von Jugenheim und war bis 1953 Parteimitglied. Parallel dazu engagierte er sich in einem Gesamtdeutschen Arbeitskreis der Land- und Forstwirtschaft. Möglicherweise spekulierte Christaller zu dieser Zeit auf eine Berufung in die DDR, da er – wie Hans Carol rückblickend berichtet – hoffte, in einem autoritären Staat bessere Möglichkeiten zur Umsetzung seines Modells anzutreffen. 1953 wurden gegen Christaller zwar Ermittlungen wegen Spionageverdacht eingeleitet, 1957 aber wegen unzureichender Beweise eingestellt. 1959 trat Christaller erneut in die SPD ein. Eine 1960 geplante Vortragsreise nach Kanada und den Vereinigten Staaten kam nicht zustande, da ihm die USA ein Einreisevisum verweigerten.9 Ab Mitte der 1950er Jahre erlebte Christallers Zentrale-Orte-Modell unter neuen Rahmenbedingungen als theoretische Grundlegung der Siedlungsgeographie und Raumplanung eine zweite intensive Rezeption. Die Schriften Christallers, die im Kontext des Nationalsozialismus nach seiner Dissertation erschienen sind, blieben dabei weitgehend ausgeblendet. In der Bundesrepublik wird ab Mitte der 1960er Jahre eine moderne Adaption des Zentrale-Orte-Modells Bestandteil der Landesentwicklungsplanung der deutschen Bundesländer. Zwischen 1964 und 1968 zeichneten mehrere geographische Gesellschaften Christaller mit hohen Ehrungen aus, die Universitäten Lund und Bochum machten ihn 1968 zum Ehrendoktor. Christaller verstarb am 9. März 1969. Zwischen 1996 und 2015 verlieh der DVAG alle zwei Jahre einen Walter-Christaller-Preis (heute DVAG-Preis).10

Karl R. Kegler

1 Ruth Hottes, Walter Christaller – Ein Überblick über Leben und Werk, in: Eckart Ehlers (Hg. u.a.), Geographisches Taschenbuch und Jahrweiser für Landeskunde 1981/82, Wiesbaden 1981, S. 59–70; Gert Gröning, Joachim Wolschke-Bulmahn, Die Liebe zur Landschaft, Teil III: Der Drang nach Osten, München 1987, S. 13f.; HStA Wiesbaden, Spruchkammerakte, Abt. 520 DL Nr. 1107, Lebenslauf Walter Christaller.

Walter Christaller  127

2 Ruth Hottes, Walter Christaller, S. 61–63; Manfred Franze, Die Erlanger Studentenschaft 1918– 1945, Neustadt 1993, S. 136ff.; Walter Christaller, Die zentralen Orte in Süddeutschland. Eine ökonomisch-geographische Untersuchung über die Gesetzmäßigkeit der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischen Funktionen. Jena 1933 (Nachdruck Darmstadt 1968). 3 Norbert Krebs, Atlas des deutschen Lebensraumes in Mitteleuropa, Leipzig 1937; Walter Christaller, Die ländliche Siedlungsweise im deutschen Reich und ihre Beziehungen zur Gemeindeorganisation, Stuttgart 1937; Barch, R113/14, Ritterbusch an die Leitung der Reichsstelle für Raumordnung vom 24.11. 1939; Frank Glatzel, Welche Struktur und Gestaltung sollen die zentralen Orte des Osten und ihre Einzugsbereiche künftig erhalten, Sitzung des Arbeitskreises „Zentrale Orte“ der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung am 26.10. 1940, in Raumforschung und Raumordnung 1940, S, 503–504; Karl R. Kegler, Deutsche Raumplanung. Das Modell der „Zentralen Orte“ zwischen NS-Staat und Bundesrepublik, Paderborn 2015, S. 516 Anm. 52, S. 531 Anm.1. Die ältere Darstellung von Rössler zu einem angeblich von Christaller begründeten reichsweiten Arbeitskreis „Zentrale Orte“ muss im Detail korrigiert werden; wahrscheinlich liegt eine Verwechslung mit dem genannten Arbeitskreis der RAG vor: Vgl. Mechtild Rössler, „Wissenschaft und Lebensraum“, geographische Ostforschung im Nationalsozialismus: ein Beitrag zur Disziplingeschichte der Geographie, Berlin 1990, S. 171–176; dies., Applied geography and area research in Nazi society: central place theory and planning, in: Environment and Planning 7 (1989), S. 419–431, 423f. 4 Walter Christaller, Die Zentralen Orte in den Ostgebieten und ihre Kultur- und Marktbereiche, Leipzig 1941, S. 6. 5 Walter Christaller, Grundsätzliches zu einer Neugliederung des Deutschen Reiches und seiner Verwaltungsbezirke, in: Geographische Wochenschrift 1 (1933), S. 913–919; ders., Allgemeine geographische Voraussetzungen der deutschen Verwaltungsgliederung, in: Jahrbuch für Kommunalwissenschaft 1 (1934), S. 48–72; ders., Raumtheorie und Raumordnung, in: Archiv für Wirtschaftsplanung 1 (1941), S. 116–135; Kegler, Deutsche Raumplanung, S. 167–192; Ariane Leendertz, Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert, Göttingen 2008, S. 167–177. 6 Johann Wilhelm Ludowici, Das deutsche Siedlungswerk, Heidelberg 1935, S. 26–42; Hans Bernhard von Grünberg, Die Hauptgrundsätze des Ostpreußenplanes, in: Das nationalsozialistische Ostpreußen, Königsberg 1934, S. 7–42, 36f.; Das kriegswichtige Forschungsprogramm der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, in: Raumforschung und Raumordnung 3 (1939), S. 502; Struktur und Gestaltung der Zentrale Orte des deutschen Ostens, Gemeinschaftswerk im Auftrag der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung. 5 Bde., Leipzig 1941; Kegler, Deutsche Raumplanung, S. 140–149; ders., „Der neue Begriff der Ordnung“. Zwischen NS-Staat und Bundesrepublik: Das Modell der zentralen Orte als Idealbild der Raumordnung, in: Heinrich Mäding/Wendelin Strubelt (Hg.), Vom Dritten Reich zur Bundesrepublik. Beiträge einer Tagung zur Geschichte von Raumforschung und Raumplanung, Hannover 2009, S. 188–209; Wolfgang Istel, Prae Christaller. Zentrale-Orte-Theorien und empirische Zentralitätsuntersuchungen zwischen 1809 und 1933/34. Entmythologisierung einer Theorie, München 2002. 7 Walter Christaller, Die Kultur- und Marktbereiche der zentralen Orte im deutschen Ostraum und die Gliederung der Verwaltung, in: Raumforschung und Raumordnung 4 (1940), S. 498–503; ders., Grundgedanken zum Verwaltungs- und Siedlungsaufbau im Osten, in: Neues Bauerntum 1949, S. 305–312; ders., Die Zentralen Orte in den Ostgebieten; BArch, R49, 975, ders., Vorschläge zur Neugliederung der Siedlungsstruktur zur Schaffung von Hauptdorfbereichen und zur Verwaltungsgliederung im Elsass; BArch, R 49, 1025, Reichsgliederungsplan nach dem Vorschlag von Dr. Walter Christaller von Januar 1944; BArch, R 49, 976, Umbau im Altreich. Bevölkerungsbilanz, Erläuterungen zum Bevölkerungsverteilungsplan von Februar 1944; Kegler, Deutsche Raumplanung, S. 167– 188. 8 Rückblickende Stellungnahme von Prof. Josef Umlauf vom 12.1.1986, in: Cesław Madajczyk (Hg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, München 1994, S. 553–557, 554; Josef Umlauf, Der

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ländliche Siedlungsaufbau in den Ostgebieten, in: Konrad Meyer, Landvolk im Werden, Neudamm 1941, S. 273–282; ders., Der Stand der Raumordnungsplanung für die eingegliederten Ostgebiete, in: Neues Bauerntum 34 (1942), S. 281–293. 9 Walter Christaller, Die Raumidee des Föderalismus und die Neugestaltung Deutschlands, in: Neues Abendland 1947, S. 179–181; ders., Das geographische Problem der Wahlkreiseinteilung, in: Deutsche Wählergesellschaft, Mitteilungen 1948, S. 13–15; Handbuch der deutschen Wissenschaft II, Biographisches Verzeichnis, Berlin 1949, S. 426; Walter Christaller, Gesamtdeutscher Arbeitskreis der Land- und Forstwirtschaft (Hg.), Tagebuchblätter eines westdeutschen Bauern, der in die Ostzone reiste, Frankfurt a.M. 1952; Ruth Hottes, Christaller, 67f.; dies., Werk und Leben Walter Christallers, in: Standort – Zeitschrift für Angewandte Geographie 21 (1997), S. 28–30, 30; Hans Carol, Walter Christaller: A Personal Memoir, in: The Canadian geographer 14 (1970), S. 67–69, 68; Kegler, Deutsche Raumplanung, S. 367–375; Ute Wardenga u.a., Der Verband deutscher Berufsgeographen 1950–1979, Leipzig 2011, S. 19–22. 10 Ruth Hottes, Christaller, 68; dies., Werk und Leben, S. 30; Kegler, Deutsche Raumplanung, S. 380–431, S. 442–452; ders., Zentrale Orte. Transfer als „Normalisierung“, in: ACME: An International E-Journal for Critical Geographies 15 (2016) 1, S. 36–80; Joachim Nicolas Trezib, Die Theorie der zentralen Orte in Israel und Deutschland. Zur Rezeption Walter Christallers im Kontext von Sharonplan und „Generalplan Ost“, Berlin u.a. 2014, S. 159–236; Hans Heinrich Blotevogel, Zentrale Orte: Zur Karriere und Krise eines Konzeptes in der Regionalforschung und Raumordnungspraxis, in: Informationen zur Raumentwicklung 10 (1996), S. 617–629.

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Heinrich Claß Heinrich Claß wurde am 29. Februar 1868 als ältestes von vier Kindern in Alzey/ Rheinhessen geboren. Seinen protestantischen Großeltern väterlicherseits gelang im 19. Jahrhundert ein bemerkenswerter beruflicher und gesellschaftlicher Aufstieg, der seinem Vater August Claß (1834–1893) ein Jurastudium und schließlich 1870 eine Festanstellung als Notar in Mainz ermöglichte. Auch seine Mutter Anna Fischer (1839–1911) stammte aus einer Juristenfamilie. Nach gymnasialer Schulbildung in Mainz und einjährigem Militärdienst studierte Heinrich Claß von 1888 bis 1891 Rechtswissenschaften in Berlin, Freiburg und Gießen. Seine ersten politischen Erfahrungen sammelte der seit 1895 in Mainz als Rechtsanwalt zugelassene Claß in der dortigen Ortsgruppe des von Friedrich Lange (1852–1918) gegründeten Deutschbundes, bevor er 1897 Mitglied des seinerzeit in flotten- und kolonialpolitischen Fragen sehr aktiven Alldeutschen Verbandes wurde. Die Alldeutschen forderten die Transformation des Deutschen Reiches von einer kontinentalen Großmacht zu einer politischen, militärischen und kulturellen Weltmacht. Rasch stieg Claß in die wichtigsten Verbandsgremien auf: Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses (1898), Mitglied der Hauptleitung (1900), Geschäftsführer der Vermögensverwaltung des Alldeutschen Verbandes GmbH (1903) und stellvertretender Vorsitzender (1904). Als Nachfolger von Ernst Hasse (1846–1908) wurde er 1908 per Akklamation zum Vorsitzenden ernannt und hatte dieses Amt bis zur Auflösung des Verbandes 1939 inne.1 Bereits während seines Studiums, so Claß später in seinen Memoiren, sei er maßgeblich beeinflusst worden von Heinrich von Treitschkes (1834–1896) heroischem Geschichtsverständnis und von Reichskanzler Otto von Bismarcks (1815– 1898) kontinentaler Machtpolitik. Darüber hinaus prägten sein Denken Arthur de Gobineaus (1816–1882) These von der Differenzierung der Menschheit in Rassen abgestufter Wertigkeit sowie die sich auf Charles Darwin (1890–1882) berufenden Lehren der Sozialanthropologie und Rassenhygiene. Über den →Alldeutschen Verband kam Claß zudem in engen Kontakt mit wichtigen Protagonisten der völkischen Bewegung, wie unter vielen anderen auch Ludwig Schemann (1852–1938), Theodor Fritsch (1852–1933), Adolf Bartels (1862–1945) und →Paul Langhans (1867–1952). In seinen späteren Schriften adaptierte Claß auch die kulturpessimistischen Gegenwartsanalysen seiner Zeit. Die von Paul de Lagarde (1827–1891), →Julius Langbehn oder →Houston Stewart Chamberlain vorgebrachten Diagnosen eines politischen und kulturellen Verfalls des Deutschen Reiches erschienen ihm plausibel. Schließlich mündete seine enttäuschte Erwartung, die etablierte Politik würde doch dieser diagnostizierten Abwärtsentwicklung entgegen steuern, in die Abfassung des „Kaiserbuchs“ im Jahr 1912. Dieses Pamphlet erschien bis 1914 in fünf Auflagen. Darin entwickelte Claß weitreichende Maßnahmen, die Deutschland aus seiner Sicht wieder zu einer politischen, militärischen und kulturellen Weltmachstellung führen sollten. Innenpolitisch warnte er vor weiterer Demokratisierung und machte Juden

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für den „inneren Verfall“ verantwortlich. Er forderte die Eindämmung des „jüdischen Einflusses“ in Politik, Wirtschaft und Kultur. Durch ein restriktives Fremdenrecht sollten Juden aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, während eine „elitär-autoritäre Herrschaft der Besten“ die inneren Geschicke des Staates bestimmen und das Deutsche Reich außenpolitisch wieder zu alter Bedeutung führen würde.2 Den Ersten Weltkrieg begrüßte Claß als lang ersehnten „Schicksalskampf“, der wie ein „reinigendes Gewitter“ den Weg zu einer „nationalen Wiedergeburt“ des deutschen Volkes ebnen werde. Noch in den ersten Kriegsmonaten formulierte er seine weitreichenden Kriegsziele in einer Denkschrift: Als notwendige Voraussetzung für die „innere Gesundung des Volkskörpers“ postulierte er die Erweiterung des deutschen Siedlungsgebietes. Seine Forderungen nach ausgedehnten Annexionen in Ost- und Westeuropa waren verbunden mit einer ethnischen Flurbereinigung unter der Prämisse „Land frei von Menschen“.3 Um seinen Forderungen auch außerhalb des von ihm geführten Alldeutschen Verbandes mehr Gehör zu verschaffen, übernahm Claß 1917 als Aufsichtsratsvorsitzender eines von verschiedenen Alldeutschen finanzierten Konsortiums die Kontrolle über die „Deutsche Zeitung. Unabhängiges Tageblatt für nationale Politik“. Er bestimmte deren inhaltliche Ausrichtung nahezu allein und bot das Blatt immer wieder auch völkisch-nationalistischen Autoren als Plattform an. Zugleich fungierte er als Mitherausgeber der Zeitschrift „Deutschlands Erneuerung. Monatsschrift für das deutsche Volk“, die überwiegend an das gebildete Bürgertum adressiert war. In ihr schrieben Politiker und Publizisten des gesamten rechtsnationalen Spektrums über agrarökonomische, eugenisch-biologische, historische, kolonialistische, kulturanthropologische, philosophische, rassenhygienische, volkskundliche und wirtschaftliche Themen mit antisozialistischer, antisemitischer, antidemokratischer und antiparlamentarischer Stoßrichtung.4 Seit den Jahren des Ersten Weltkrieges erstrebte Claß die politische Zusammenführung der zersplitterten rechtskonservativen, radikalnationalistischen und völkischen Kreise unter Führung des Alldeutschen Verbandes. Bei nahezu allen Sammlungsbewegungen versuchte er, mit unterschiedlichem Erfolg seinen Einfluss geltend zu machen: zum Beispiel im Deutschen Volksrat (1916), in der Deutschen Vaterlandspartei (1917), dem Volksausschuss für nationale Verteidigung (1918), dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund (1919), den Vereinigten Vaterländischen Verbänden Deutschlands (1922) oder der Harzburger Front (1931). Er war in den 1920er Jahren für seine fundamentale Ablehnung der Weimarer Republik bekannt und unterließ keine Möglichkeit, um die Überwindung der parlamentarischen Demokratie durch Errichtung einer „völkischen Diktatur“ zu fordern. Die gescheiterten Staatsstreichversuche von General Walther von Lüttwitz (1859–1942) und Wolfgang Kapp (1858–1922) 1920 sowie von Adolf Hitler (1889–1945) 1923 lehnte er aber ab. Denn er selbst favorisierte einen politischen Umsturz durch den Reichspräsidenten mit Hilfe des Notstandsparagraphen 48 der Weimarer Verfassung und der Ernen-

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nung eines rechtsnationalen Präsidialkabinetts. Allerdings fehlten Claß die Kontakte zu den wesentlichen politischen Entscheidungsträgern. Ihm blieb nichts anderes, als die ab 1930 regierenden Präsidialkabinette kritisch zu begleiten. Auch Hitler stand er bereits seit Mitte der 1920er Jahre äußerst ablehnend gegenüber. Mangels politischer Alternativen begrüßte er aber dessen Ernennung zum Reichskanzler 1933 sowie die unmittelbar einsetzende Verfolgung von Kommunisten, Sozialdemokraten und Juden sowie die durch Ausnahmegesetze sukzessive Abschaffung des Rechtsstaates.5 Im November 1933 wurde Claß im mittlerweile bedeutungslos gewordenen Reichstag ein Mandat verliehen. Sein politischer Einfluss sank Mitte der 1930er Jahren rapide, die 1939 beschlossene Auflösung des Alldeutschen Verbandes konnte er nicht verhindern. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges verließ er Berlin und verbrachte seinen Lebensabend zurückgezogen bei seiner Tochter im thüringischen Jena. Heinrich Claß starb dort am 16. April 1953.

Johannes Leicht

1 Johannes Leicht, Heinrich Claß (1868–1953). Die politische Biografie eines Alldeutschen, Paderborn 2012. Zum Alldeutschen Verband vgl. insbesondere Roger Chickering, We Men Who Feel Most German. A Cultural Study of the Pan-German League 1886–1914, Boston u.a. 1984; Rainer Hering, Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890–1939, Hamburg 2003; Björn Hofmeister, Between Monarchy and Dictatorship. Radical Nationalism and Political Mobilization of the Pan-German League, 1914–1939, PhD Georgetown University 2012. 2 Heinrich Claß, Wider den Strom. Vom Werden und Wachsen der nationalen Opposition im alten Reichen, Leipzig 1932, S. 1–126; Einhart [= Heinrich Claß], Deutsche Geschichte, Leipzig 1909; Daniel Frymann [= Heinrich Claß], Wenn ich der Kaiser wär’. Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten. Leipzig 1912; Thomas Rohkrämer, Eine andere Moderne. Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933, Paderborn 1999; Johannes Leicht, Heinrich Claß und das „Kaiserbuch“ von 1912. Kulturpessimistische Protestschrift oder nationalistische Programmschrift?, in: Françoise Lartillot (Hg. u.a.), Kulturpessimismus, Frankfurt a.M. 2016. 3 BArch R 8048/633, Heinrich Claß, Denkschrift betreffend die national-, wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele des deutschen Volkes im gegenwärtigen Kriege. Als Handschrift gedruckt. Anlage: zwei Kartenskizzen und eine Zahlentafel. Anschreiben vom 16. Oktober 1914, [München] o. J.; Heinrich Claß, Zum deutschen Kriegsziel, München 1917; Johannes Leicht, Biopolitik, Germanisierung und Kolonisation. Alldeutsche Ordnungsutopien einer ethnisch homogenen „Volksgemeinschaft“, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 19 (2010), S. 151–177. 4 Dirk Stegmann, Die „Deutsche Zeitung“ 1917–1918. Präfaschistische Öffentlichkeit am Ende des Kaiserreichs, in: Dagmar Bussieck u.a. (Hrsg.), Kultur, Politik und Öffentlichkeit. Festschrift für Jens Flemming, Kassel 2009, S. 266–288; Sigrid Stöckel (Hg.), Die „rechte Nation“ und ihr Verleger. Politik und Popularisierung im J.F. Lehmanns Verlag 1890–1979, Berlin 2002. 5 Larry Eugene Jones (Hrsg.), The German Right in the Weimar Republic. Studies in the History of German Conservatism, Nationalism, and Antisemitism, New York 2014; Barry A Jackisch, The PanGerman League and Radical Nationalist Politics in Interwar Germany, 1918–39, Farnham, Surrey 2012.

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Werner Conze Der am 31. Dezember 1910 in Neuhaus an der Elbe geborene Werner Conze kam aus einer protestantischen und nationalliberalen Familie. Sein Vater war Amtsrichter und später Reichsgerichtsrat, sein Großvater väterlicherseits der Archäologe Alexander Conze. 1929 legte Conze in Leipzig das Abitur ab und studierte hier sowie in Königsberg und am Herder-Institut in Riga Geschichte, Soziologie und – auf Anregung seines Leipziger Freundes Werner Markert – Slawistik. Er wurde von der Leipziger Schule der Soziologie (Hans Freyer und →Gunther Ipsen) sowie von →Hans Rothfels in Königsberg geprägt. In Riga lernte er →Reinhard Wittram kennen.1 Er engagierte sich in der Deutsch-Akademischen Gildenschaft (DAG), einem rechtsradikalen Hochschulbund, dem auch Werner Essen, Heinrich Harmjanz, →Karl-Heinz Pfeffer, →Theodor Oberländer und →Theodor Schieder angehörten. Dieser deutschvölkische Männerbund setzte auf Elitenbildung und grenzte Juden aus. In der ostpreußischen Gilde „Skuld“ strebten Conze, →Rudolf Craemer, Schieder und Giselher Wirsing politisch und wissenschaftlich nach einer Neuordnung Osteuropas. Ihr Mentor war Hans Rothfels, der auch die Baltikumsfahrten der „Gildenbrüder“ betreute.2 Conze promovierte 1934 als letzter Doktorand von Rothfels in Königsberg. Seine Dissertation „Hirschenhof. Die Geschichte einer deutschen Sprachinsel in Livland“ war unmittelbar aus der studentischen „Deutschtumsarbeit“ in der DAG und im Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) heraus entstanden. Conze übernahm strikt deutschtumszentrierte Konzepte der →Leipziger Stiftung für deutsche Volksund Kulturbodenforschung. Hirschenhof galt ihm als Teil des „deutschen Kulturbodens“. Methodisch knüpfte er an Ipsen und Walter Kuhns Sprachinselforschungen an, betonte das Anerbenrecht, die Abgrenzung vom „lettischen Umvolk“ sowie die deutsche Überlegenheit gegenüber den Slawen. Die Hirschenhöfer seien auch stolz, es „mit den jüdischen Händlern aufzunehmen“. Deutsche und lettische Bauern hätten demnach das gemeinsame Interesse, nicht „dem Osten [zu] verfallen“.3 Für seine Etablierung in der →Ostforschung nutzte Conze universitäre Positionen und außeruniversitäre Ressourcen. Nach dem Militärdienst 1934/35 wurde er 1935 Assistent von Gunther Ipsen, der seit 1933 Ordinarius für Philosophie und Volkslehre in Königsberg war. Ipsen beanspruchte ab 1933 mit den „organischen Kategorien der Volkslehre“ eine neue „Bevölkerungslehre“ zu schaffen, um die „Entartung des Bevölkerungsbegriffs“ zu überwinden. Der bisherige Bevölkerungsbegriff habe „unserer politischen Zielsetzung“ widersprochen.4 Conze wurde seit 1934 auch dem „Stab“ von Theodor Oberländer zugerechnet. Oberländer schlug 1935 →Albert Brackmann vor, Conzes historische Studien im „Wilna-Gebiet“ zu fördern, um „einige sehr zuverlässige Beobachter der Dinge und gleichzeitig spätere Kenner […] heranzuziehen.“5 1936 heirateten Gisela Pohlmann und Conze. Ab April 1936 erhielt er ein monatliches Stipendium der →Publikationsstelle Berlin-Dahlem (PuSte) und der →Nordund Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG), wofür er Berichte aus dem

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„Wilnagebiet und Nordostpolen“ zu liefern hatte. Conze war gegenüber Werner Essen rechenschaftspflichtig, dem Gebietsleiter der NOFG für das Baltikum. Die Verbindung von wissenschaftlicher und nachrichtendienstlicher Tätigkeit im Rahmen der PuSte bot ihm die Möglichkeit, detaillierte Kenntnisse von Struktur- und Bevölkerungsdaten zu erwerben. Auf eigenen Wunsch beendete er die Tätigkeit in der PuSte Ende März 1937 und nahm die Assistententätigkeit bei Ipsen in Königsberg wieder auf, um sich zu habilitieren. Von der NOFG erhielt Conze von April bis Juni 1937 Reisemittel für Studien in Polen. Mit Mai 1937 trat er der NSDAP bei, seit dem 10. März 1933 hatte er bereits der SA angehört.6 In gegenwartsbezogenen Aufsätzen handelte Conze behauptete Bevölkerungsprobleme in Polen ab. Diese Stellungnahmen standen im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für PuSte und NOFG. Sie sind als Schulungsbrief des Bund Deutscher Osten (BDO) und in der Zeitschrift „Osteuropa“ erschienen, die Werner Markert seit 1934 leitete. Markert war hier und in der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas als Nachfolger des 1935 aus politischen Gründen entlassenen Otto Hoetzsch eingesetzt worden. Er machte „Osteuropa“ zu einem Instrument politischer Wissenschaft.7 Mit seiner geplanten Habilitationsschrift „Agrarverfassung und Bevölkerung in Litauen und Weißrußland“ wollte Conze die historischen Grundlagen der „Übervölkerung des Dorfes“ untersuchen. Forschungsreisen nach „Wilna und Nordostpolen“ im Sommer 1936 und Frühjahr 1938 unterstützte die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Als Gutachter zog sie Markert heran, der hervorhob, dass Conze „in der Ostforschung theoretisch und praktisch arbeitet“. Conzes Thema beurteilte er als „besonders wichtig und aktuell“.8 „Übervölkerung“ war ein international vieldiskutiertes Thema. Der renommierte Nationalökonom Paul Mombert sprach sich entschieden dagegen aus, ein angenommenes Missverhältnis zwischen „Nahrungsspielraum“ und „Volkszahl“ von der Bevölkerungsseite her lösen zu wollen. Der Begriff eines „Bevölkerungsoptimums“ hatte für ihn „natürlich nur ideellen Wert“. Oberländer und die agrar- und bevölkerungssoziologische Ostforschung machten indes „Übervölkerung“ und das angebliche „Bevölkerungsoptimum“ zu sozialtechnischen Berechnungskategorien.9 Momberts „Bevölkerungslehre“ von 1929, das Standardwerk in Deutschland bis 1933, war für Ipsen nur mehr Beispiel für „irgendein neueres Lehrbuch“, das man nehmen könne, um Einblick in die bisherigen Anschauungen zu gewinnen. Mombert, seit 1922 Ordinarius in Gießen, definierte „Bevölkerung“ im expliziten Gegensatz zu Begriffen wie „Volk“ oder „Nation“. Er wurde 1933 als Jude entlassen, 1934 zwangspensioniert und in der Pogromnacht 1938 trotz schwerer Krankheit verhaftet. Er starb am 8. Dezember 1938 an den Folgen der Misshandlungen mit 62 Jahren in Stuttgart.10 Für den im August 1939 geplanten 14. Internationalen Kongress für Soziologie in Bukarest war Conze als Mitglied der von Ipsen „geführten“ deutschen Gruppe vorgesehen. Im Januar 1939 berichtete Ipsen Reichsminister Rust, dass er „selbstverständlich alle Einladungen an Juden, Mischlinge, jüdisch Versippte und politisch

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Ausgeschiedene“ zurückgehalten habe, „gleichviel ob sie noch in Deutschland leben oder nicht.“ Indessen forcierte Ipsen im Februar 1939 die „Behandlung der Judenfrage“ in den geplanten Vorträgen. Er beabsichtigte, „von einem unserer ersten Sachkenner“ einen Vortrag anhand hessischer und oberrheinischer Beispiele über den „Pariakapitalismus des Dorf- und Landjuden“ halten zu lassen: „Damit verbleiben wir gegenständlich durchaus im deutschen Bereich, sprechen sozusagen zur Selbstkritik und lassen dennoch über die Absicht keinen Zweifel.“ Der Kenner war →Kleo Pleyer. Demgegenüber wollte Marc Bloch auf dem Kongress eine Konfrontation mit den Propagandisten der Dorf- und →Volksgemeinschaft herbeiführen. Der Kongress fand wegen des Kriegsausbruches nicht mehr statt.11 Conze thematisierte im Tagungsband die „Judenfrage“ mit Blick auf Polen. Er behauptete, die ländliche Übervölkerung sei dort und „in weiten Teilen Ostmitteleuropas eine der ernstesten gesellschaftlichen und politischen Fragen“. In Russland habe sie „entscheidend den bolschewistischen Umsturz ermöglicht.“ Nach seiner Diagnose war die Übervölkerung in Polen eine „Bewegung ungehemmten Wachstums infolge der Herauslösung aus einer festen Agrarverfassung und eines ungehinderten Durchbrechen [sic] kleinbäuerlicher Instinkte […] eine notwendige Folge der ‚Degeneration‘. Alle Mittel zur Bekämpfung der Notlage wie Parzellierung, Separation, Intensivierung der Wirtschaft, Industrialisierung, Entjudung der Städte und Marktflecken zur Aufnahme bäuerlichen Nachwuchses in Handel und Handwerk sind im einzelnen u.U. äusserst wirksam und lindernd.“12 Konzepte zu einer Neuordnung Polens, die Vorschläge zur Entfernung von Juden mit bevölkerungspolitischen Argumentationen verknüpften, lagen spätestens seit Frühjahr 1937 in NOFG und BDO vor und wurden von Oberländer vertreten. Juden sollten für staatenlos erklärt werden, was auf Deportationen abzielte. Weiter radikalisiert wurden derartige Planungen durch die Volkstumsexperten der Volksdeutschen Mittelstelle der SS, zu deren engerem Kreis Conze nicht zählte, mit denen aber Werner Essen als Gebietsverantwortlicher der NOFG und Referent Wilhelm Stuckarts im RMI zusammenarbeitete.13 Ein weiterer Beitrag zu einer Radikalisierung erfolgte mit der von Theodor Schieder ausgearbeiteten Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, die großräumige Umsiedlungen und „Entjudung“ propagierte.14 Conzes sozialplanerische Perspektive war auch eine affirmative Stellungnahme zu Debatten und Plänen im Polen der 1930er Jahre, wo die Forderung nach einer Massenauswanderung von Juden erhoben worden war. „Osteuropa“ berichtete ausführlich darüber. →Erich Maschke rezensierte dazu eine Broschüre von Władysław Studnicki. Die „Lösung der Judenfrage in Polen“ erschien Maschke dadurch „besonders schwierig“, dass die Juden „nicht mit schnellen Maßnahmen ausgeschaltet“ werden könnten, ohne das soziale und wirtschaftliche Leben zu beinträchtigen. Er schloss seinen Beitrag mit der Feststellung Studnickis, dass es ohne „Entjudung“ keine „Gesundung“ Polens gäbe.15 Conzes bevölkerungspolitisches Planungsmodell war die konsequente Umsetzung der von ihm vertretenen wissenschaftlichen Konzepte. Er definierte Bevölke-

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rung im Anschluss an „Ipsens Bevölkerungslehre […] als ein[en] ständige[n] Vorgang, der sich im Lebensraum eines Volkes vollzieht“.16 Conzes Anwendung unterschied sich von Ipsen durch den zurückgenommenen Gebrauch von „Rasse“. Das hinderte ihn allerdings nicht, die Kategorie „Volk“ rassistisch zu verwenden. In seiner Habilitationsschrift von 1940 war das 1557 unter Sigismund August erlassene „Hufengesetz“ ein Beleg für das Eintreten des „ehemalige[n] Großfürstentums Litauen […] in die deutsch-mitteleuropäisch bestimmte Ordnung“. Er wollte das Verhältnis der „Hufenverfassung“ zum „Bevölkerungsgang“ und die Auseinandersetzung litauischer und slawischer Bauern mit einer „nach deutschen Maßstäben ausgebildeten Verfassung“ untersuchen. Conze zog eindeutige Schlüsse. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sei „der Zuwachs der Litauer mit 60 bis 80% […] weit hinter dem slawischen Zuwachs“ zurückgeblieben, „der bei den Bauern zu einer Verdreifachung“ geführt habe. „Die spätere Übervölkerung des Dorfes in Weißrußland“ sei da bereits vorbereitet worden. Conze gelangte durch eine Fehlberechnung zu dieser Behauptung.17 Als Erklärung führte er an: Die ostslawischen Bauern „wollten den Stand eines Vollhüfners nicht und waren nicht in der Lage, ihn auszufüllen.“ Kennzeichnend für sie sei „Teilung des verfügbaren Landes und dichtes Zusammenhocken in Großfamilien“. Historische Argumentationen und Bevölkerungsanalysen sind in Conzes Arbeit Instrumente, um völkische Differenzen zu konstruieren. Angebliche historische oder soziale Entwicklungen werden auf rassistisch gedeutete ethnische Unterschiede zurückgeführt.18 Angehörige nichtjüdischer Bevölkerungsgruppen wurden in Conzes Schriften völkisch hierarchisiert, ihre Existenzberechtigung wurde aber nicht in Frage gestellt. Demgegenüber galten „die Juden“ nicht als eine Gruppe unter anderen „Völkerschaften“, sie wurden ausschließlich negativ und schädigend für andere beschrieben. In seiner Habilitationsschrift sah er den „Bauernstand“ durch den „Zugriff des jüdischen Wuchers“ bedroht und legitimierte retrospektiv antijüdische Gesetze. Zudem habe „der Jude“ als „Krugspächter“ verderblich für die Bauern gewirkt: „Der Krug brachte dem Bauern gesundheitliches und wirtschaftliches Elend, für den Grundherrn war er eine willkommene Einnahmequelle, für den Juden das gute Geschäft“.19 In seinen gegenwartsbezogenen Aufsätzen hat Conze diese Positionen noch weiter verschärft. Im Schulungsbrief für den BDO sprach er nicht nur von den jüdischen „Krugspächtern“; sondern sah auch „Handel und Handwerk in Flecken und Städten von den Juden beherrscht“. Deshalb habe „die nationalsozialistische Revolution“ bei den Weißrussen großen Eindruck hinterlassen: „Der Name des Führers ist in die entlegensten Dörfer gedrungen, vor allem wegen seiner klaren Politik in der Judenfrage“. In „Osteuropa“ beschrieb er 1938 Wilna als ein „Zentrum des Weltjudentums“, dort werde „der Talmud gedruckt“ und dort stehe seit 1925 auch „das ‚Jiddische Wissenschaftliche Institut‘ mit einem riesigen wissenschaftlichen Apparat und einer großen Zahl von Hilfskräften im Dienst der jüdischen Sache.“ Nicht zuletzt aufgrund der „biologische[n] Unterlegenheit“ der Juden hätten „die letzten zwanzig Jahre […] deutlich den Beginn einer fortschreitenden Entju-

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dung gebracht“. Dennoch sei „die Macht dieses Fremdkörpers immer noch unerträglich genug.“ Die Folgen der Eliminierung der Juden hat Conze hier bereits durchgespielt: „So bleibt allein das polnische Wilna, wenn wir den jüdischen Fremdkörper abziehen“.20 Mit der bevölkerungspolitischen Konkretisierung des Begriffs „Entjudung“ hat Conze ein physisches Verschwinden von osteuropäischen Juden aus wissenschaftlicher Sicht propagiert und forciert. Das weitere Schicksal der Betroffenen war für ihn kein Thema. Conzes Habilitationsschrift wurde sehr positiv rezensiert. →Peter-Heinz Seraphim stellte fest, die Arbeit zeige klar „die biologisch stärkere Vermehrung des slawischen Bevölkerungselements im Vergleich zum ostbaltischen, trotz ungünstigerer sozialer und Siedlungsverhältnisse“. Für →Hans Joachim Beyer blieb es aber fraglich, ob Conze in der „ausgezeichnete[n] Abhandlung“ die „volksmäßige Trennung von Litauern und Weißruthenen überall klar durchführen“ könne.21 Auch die antisemitische Zielrichtung wurde hervorgehoben. In seinem Gutachten brachte es Ipsen auf den Punkt: Conze lege dar, wie sich die wachsende Bevölkerung in den Ordnungen der Hufenreform „zu einem gediegenen Volkskörper gefügt“ habe. Die „sozialgeschichtliche Nachzeichnung“ der „Auseinandersetzung des Litauer- und Weissrussentums mit deutscher Art“ zeige „die Einnistung des Judentums in die Risse und Hohlräume eines aus rassischen Gründen unstimmig gewordenen Gefüges“ auf.22 Von 1939 bis 1945 leistete Conze Wehrdienst. Er war in der überwiegend ostpreußisch zusammengesetzten 291. Infanteriedivision, genannt „Elchdivision“, zuletzt als Hauptmann im Stab.23 Angehörige der Einheit waren an der Ermordung von Juden, Kommunisten und an anderen Verbrechen beteiligt, so unter Oberst Lohmeyer im Juni und Juli 1941 in Libau. Conze veröffentlichte dann 1953 im Jargon deutscher Kriegsberichterstattung eine Geschichte seiner Division. In Libau wurden in der Diktion Conzes „Hafen und Stadt gesäubert. […] Oberst Lohmeyer erhielt das Ritterkreuz.“ Daraufhin sei die Elchdivision im Juli „z. T. in Säuberungskämpfen durch Westkurland vorgeführt“ worden.24 Conze konnte seine wissenschaftliche Karriere in den Kriegsjahren nur während kurzer Unterbrechungen des Wehrdienstes weiterbetreiben. Werner Essen setzte sich dafür ein, dass Conzes Habilitationsschrift schon vor dem formellen Verfahren in Druck ging.25 Im Dezember 1940 habilitierte sich Conze an der Universität Wien, wohin Ipsen 1939 als Ordinarius für Philosophie und Volkslehre berufen worden war, erhielt jedoch nicht die beantragte Lehrbefugnis für „Geschichte insbesondere osteuropäische Geschichte“. Eine Kommission der Philosophischen Fakultät, darunter die Historiker →Otto Brunner und →Hans Koch, beurteilte ihn im Februar 1941 als dafür nicht ausreichend qualifiziert. Dabei mögen Abgrenzungsbestrebungen gegenüber dem fachfremden und kriegsbedingt abwesenden Ipsen eine Rolle gespielt haben, der unter Übergehung eines an der Universität Wien erstellten Dreiervorschlags zur Nachfolge Karl Bühlers auf den Lehrstuhl des 1938 zwangspensionierten und dann entlassenen Psychologen berufen worden war.26

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Dagegen setzte sich Reinhard Wittram forciert für eine Berufung Conzes als Dozent und a.o. Professor an die Reichsuniversität Posen ein. Conze stand 1941 offenbar kurz davor, eine mehrjährige Tätigkeit im Reichskommissariat Ostland zu übernehmen, wo Werner Essen inzwischen die Abteilung „II Raum“ leitete und Zuständigkeiten für Rasse- und Siedlungspolitik im Baltikum beanspruchte.27 Reichsminister Rust verlangte von Conze eine schriftliche Erklärung, daß er sich nicht für eine langjährige Tätigkeit im Reichskommissariat verpflichtet habe, als Voraussetzung für die Berufung nach Posen. Wittram teilte dazu mit, daß die Nachricht „nicht zutreffend bezw. überholt“ sei. Im Februar 1942 bekundete Conze daraufhin schriftlich, er sei „gegenüber dem Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete keine Verpflichtung eingegangen“.28 Schließlich stand Conze 1942 an erster Stelle des Dreiervorschlages zur Besetzung der a.o. Professur für „Agrar- und Siedlungsgeschichte, einschließlich Bauern und Wirtschaftsgeschichte“ in Posen. Im selben Jahr war auch →Hermann Aubin bereit, Conze ein neu eingerichtetes Extraordinariat für Osteuropäische Geschichte an der Universität Breslau zu überlassen.29 Auf Anfrage teilte der Wiener Dekan Viktor Christian seinen Kollegen in Breslau und Posen – Meißner und Wittram – jeweils mit, dass Conze an der Wiener Fakultät keine Lehrbefugnis besitze, da er auf historischem Gebiet „nicht jene Kenntnisse […] zeigte, die von einem Historiker gefordert werden müssen.“ Vom Angebot einer Lehrbefugnis für „Volkslehre“ habe Conze in Wien keinen Gebrauch gemacht.30 Im Zuge der Berufung nach Posen präferierte Wittram Conze gegenüber dem Historiker Walter Eckert, Dozent an der Universität Königsberg und SS-Hauptsturmführer. Eckert hatte Ende 1938 Peter-Heinz Seraphim als Leiter des Instituts für Osteuropäische Wirtschaft (IOW) in Königsberg abgelöst. Für Eckert wurde aus der SS heraus im Auftrag Himmlers beim REM interveniert. 1943 legte Conze in Posen seine Lehrprobe ab und wurde Dozent für „Agrar- und Siedlungsgeschichte sowie Geschichte der völkischen Sozialentwicklung“. 1944 wurde er ebendort auf die genannte a.o. Professur berufen.31 Nach seinen Angaben konnte Conze diese Stelle aufgrund seines Wehrdienstes nie wirklich ausüben. Kurz nach der Ernennung in Posen erlitt er 1944 an der „Ostfront“ eine schwere Kriegsverwundung, wodurch er dem Schicksal seiner Division entging, die im Januar 1945 aufgerieben wurde. Conzes Familie floh in den Westen, er selbst geriet kurz in sowjetische Kriegsgefangenschaft.32 Seit Herbst 1945 versuchte Conze erfolglos an den Universitäten Münster, Hamburg oder Kiel Beschäftigung zu finden. Ab 1946 erhielt er zum Teil unbesoldete Lehraufträge an der Universität Göttingen, der ersten Anlaufstelle für Wissenschaftler aus Königsberg, Breslau und Posen, die dort den →Göttinger Arbeitskreis gründeten. Er traf hier auf Werner Markert und Reinhard Wittram. Conze verknüpfte weiterhin Wissenschaft und Politik. Gemeinsam mit Peter-Heinz Seraphim erarbeitete er 1948 die Denkschrift über die „Westverschiebung Polens“ für das Stuttgarter Büro für Friedensfragen, eine Vorläuferorganisation des Auswärtigen Amtes.33 Ab 1951

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konnte Conze vertretungsweise an der Universität Münster arbeiten, wo er 1952 eine Diätendozentur für Neueste Geschichte erhielt, 1955 a.o. Prof. wurde und 1956 die Rechte eines ordentlichen Professors bekam. Der Universität Münster war die Sozialforschungsstelle Dortmund angegliedert, an der Gunther Ipsen von 1951 bis 1961 die bevölkerungssoziologische Abteilung leitete.34 Conze setzte nach 1945 auf den langfristig expandierenden Bereich Sozialgeschichte. Für seine Neuausrichtung benutzte er die in der Ostforschung entwickelten Konzepte. In Göttingen bot er Lehrveranstaltungen zur Agrar- und Sozialgeschichte an. Indessen veröffentlichte 1947 der polnische Historiker Henryk Łowmiański eine fundamentale Kritik an Conzes Habilitationsschrift. Dessen Bevölkerungsziffern seien „zufälliges Ergebnis von statistischen Daten“. In dem Zusammenhang erschien Łowmiański der „ethnographische Faktor“ „rätselhaft“.35 Ende der 1940er Jahre publizierte Conze eine „Neubearbeitung“ seines 1943 in Posen gehaltenen Habilitationsvortrages. Hier und 1953 im ersten Jahrgang der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) knüpfte er programmatisch an seine bisherigen agrar- und bevölkerungsgeschichtlichen Arbeiten an. Er verband weiterhin das Konzept der Übervölkerung mit antisemitischen und gegen slawische Bauern gerichteten Sichtweisen.36 Bereits 1950 hatte Conze im Streben nach internationaler Anerkennung behauptet, dass Arbeiten der Volks- und Ostforschung im Nationalsozialismus Schriften zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte seien.37 Ab 1952 trat Conze mit programmatischen Entwürfen zur Sozial- und Strukturgeschichte hervor, in die er Perspektiven der mit völkischen Traditionen inkompatiblen französischen Annales zu integrieren suchte.38 1954 wandte er in dem Aufsatz „Vom ‚Pöbel‘ zum ‚Proletariat‘“ das Übervölkerungsmodell auf Deutschland im 19. Jahrhundert an. Anstelle der slawischen Bauern pflanzten sich nun die aus der Ordnung tretenden deutschen Unterschichten ungehemmt fort. Conze rechtfertigte hier retrospektiv Forderungen nach Fortpflanzungsverboten. Das Konzept einer Übervölkerung im Vormärz blieb in der deutschsprachigen Sozialgeschichte lange erfolgreich.39 Noch 1976 behauptete Wolfgang Köllmann, dass es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland zu einer „‚Verfassungsänderung des Volkskörpers‘“ und zu einer „Auswucherung des ‚Pöbels‘“ gekommen sei.40 Ab den 1950er und 1960er Jahren beschäftigte sich Conze verstärkt mit Arbeitergeschichte, National- und Begriffsgeschichte sowie Politik- und Zeitgeschichte, die er mit Sozial- und Strukturgeschichte verband. Die Spezialisierung auf Bevölkerungsgeschichte überließ er seinem Schüler Köllmann, der 1950 bei ihm dissertiert hatte. Köllmann war von 1951 bis 1954 Assistent von Gunther Ipsen an der Sozialforschungsstelle. Conze hat sein Programm der Sozial- oder Strukturgeschichte nicht systematisch ausgearbeitet, seit Ende der 1950er Jahre trat er kaum mehr für den Begriff Strukturgeschichte ein.41 Ab 1953 war Conze Mitherausgeber der VfZ, von 1956 bis 1962 Vorsitzender der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Er wurde Mitglied der Baltischen Historischen Kommission in Göttingen, des wissen-

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schaftlichen Beirats des Instituts für Zeitgeschichte in München, des Beirats des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen und erhielt vom →Johann Gottfried Herder-Forschungsrat Förderungen.42 1956 wurde er auf Vorschlag Theodor Schieders in die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa berufen. Für seine Nachkriegskarriere waren die Beziehungen zu den „Königsbergern“ mitentscheidend.43 Von 1957 bis zu seiner Emeritierung 1979 war Conze Ordinarius für Neuere Geschichte, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und Agrarverfassung in Heidelberg. Dort leitete er gemeinsam mit Erich Maschke das Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Mit Unterstützung von Paul Egon Hübinger initiierte er den Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte. Hübinger, ein ehemaliger Kollege aus Münster, war 1954 Leiter der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums geworden. Der Arbeitskreis verfügte ab 1959 über einen fixen Jahresetat aus dessen Mitteln. Die ursprüngliche Kerngruppe des interdisziplinär zusammengesetzten Arbeitskreises bildeten Conze, der Hamburger Soziologe Carl Jantke, der sich 1939 an der Universität Königsberg habilitiert hatte und dort Dozentenführer gewesen war, sowie Ludwig Beutin, Otto Brunner, Gunther Ipsen, Richard Nürnberger, Theodor Schieder, Wilhelm Treue und Georg Weippert.44 1959 trat Conze, der sich für die CDU engagierte, als Festredner im Bundestag auf. Anfang der 1960er Jahre war Conze Mitglied im Gründungsausschuss der Universität Bochum, 1964 wurde Wolfgang Köllmann dort auf einen Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte berufen.45 Von circa 1955 bis 1970 war Conze der wichtigste öffentliche Repräsentant der deutschen Sozialgeschichte. Die Begründer der Historischen Sozialwissenschaft entwickelten ihre Konzepte aber in wissenschaftlicher Konkurrenz und in politischer Distanz zu ihm. Sie orientierten sich stärker an Hans Rosenberg oder Gerhard A. Ritter. Hans-Ulrich Wehler bezeichnete Conzes Konzept der Strukturgeschichte 1979 als „unspezifisch, inhaltsarm und formal“.46 Von 1972 bis 1976 war Conze Vorsitzender des Verbands der Historiker Deutschlands, von 1979 bis 1986 Herausgeber der VSWG, womit er auch ein Gegengewicht zu Geschichte und Gesellschaft bilden wollte.47 Conze verband mit seinem Streben nach Kontinuität eine explizite vergangenheitspolitische Agenda. Er bekannte sich gleichzeitig zum „Opfermut“ der Soldaten und zum „aktive[n] Widerstand gegen Hitler“. Beide blieben demnach wirksam für den Zusammenhalt der Nation.48 Trotz eigener Bemühungen blieb der Beitrag der deutschen Geschichtswissenschaft zur nationalen Identitätssicherung aus seiner Sicht unzureichend. 1976 bilanzierte er im Schlussvortrag für den 31. Historikertag in Mannheim, dass die „‚Revision des deutschen Geschichtsbildes‘[…] unter dem psychischen Druck der Siegerschelte und der eigenen Skrupel“ zustande kam und „zuweilen selbstquälerisch“ vollzogen worden sei.49 Conzes Bereitschaft zur Revision von eigenen Geschichtsbildern blieb begrenzt. Noch in den 1970er und 80er Jahren beschrieb er „jüdische Beweglichkeit“ als kollektives Merkmal. Im Blick auf das 19. Jahrhundert identifizierte er das „ländliche Judentum“ in Baden und Hessen

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als „‚Wucher-‘ oder ‚Schacherjuden‘“, sah in den deutschen Ostprovinzen das Gewerbe teilweise von Juden „beherrscht“ und konstatierte allgemein deren „Eindringen“ in die Industrie.50 Da die Juden von allen politisch wesentlichen Führungspositionen ausgeschlossen gewesen seien, „drängten sie in nichtstaatliche Führungsstellen“. Das habe zu „erheblichen Verzerrungen ihres Anteils an der Führungsstruktur des deutschen Reiches geführt. Nach 1919 wurden diese Verzerrungen abgebaut, aber die jüdische Frage wurde damit nur zum Teil entkrampft, andernteils aber politisch neu verschärft.“51 Auch die „Abflussmöglichkeiten“ für die angeblich „übervölkerten“ Dörfer Ostpolens, Galiziens und Rumäniens ab dem 19. Jahrhundert sah Conze weiterhin begrenzt, da „die Berufe des Kleinhandels und des Gewerbes nach wie vor meist durch die Juden versperrt“ waren.52 Damit ist Conze einer der wenigen prominenten deutschen Historiker, der auch nach 1945 die Judenverfolgung weiter rechtfertigte. Gleichzeitig untersuchte er „Rasse“ und „→Antisemitismus“ vorgeblich distanziert in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“.53 Conze starb am 28. April 1986 in Heidelberg. Ihm wird weiterhin „innovative“ Bedeutung für die Entwicklung der Sozialgeschichte in Deutschland zugeschrieben.

Werner Lausecker

1 UAM, 63, 15, Personalakte Conze, Lebenslauf; Werner Conze, Antrittsrede, in: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1962/63, S. 54–60, 54ff.; Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001, S. 26ff.; Wolfgang Schieder, Sozialgeschichte zwischen Soziologie und Geschichte. Das wissenschaftliche Lebenswerk Werner Conzes, in: GG 13 (1987), S. 244–266, 250ff. 2 Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 20022, S. 70–105; Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993, S. 135. 3 Conze, Hirschenhof. Die Geschichte einer deutschen Sprachinsel in Livland, Berlin 1934, S. 11, 92, 97, 100–112, 133ff. 4 Gunther Ipsen, Bevölkerung, in: Carl Petersen (Hg. u.a.), Handwörterbuch des Grenz- und Ausland- Deutschtums, Bd. 1, Breslau, 1933, S. 425–463, 425f.; vgl. Josef Ehmer, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1800–2000, München 2004, S. 57–59, 122f; David Hamann, Gunther Ipsen und die völkische Realsoziologie, in: Michael Fahlbusch (Hg. u.a.), Wissenschaftliche Expertise und Politikberatung, völkische Wissenschaften und Praxis, Paderborn 2010, S. 177–198. 5 BArch, R 153, 1110, Oberländer an Brackmann vom 14.8.1935; Haar, Historiker, S. 241. 6 BArch, R 153, 1110; vgl. Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988, S. 90, 142, 147; Haar, Historiker, S. 285f., 297, 317f. Zu SA-Mitgliedschaft vgl. Etzemüller, Sozialgeschichte, S. 28; zur Ehe vgl. Conze im „Munzinger-Archiv“. 7 Conze, Dringende Fragen des polnischen Bauerntums, in: Osteuropa 11 (1936), S. 785–788; ders., Wilna und der Nordosten Polens, in: Osteuropa 13 (1938), S. 657–664; ders., Die weissrussischeweißrussische Frage in Polen, in: Bund Deutscher Osten (o. J.) [1938]; vgl. Burleigh, Germany Turns Eastwards, S. 13–39, 36f.; Karl Schlögel, Von der Vergeblichkeit eines Professorenlebens. Otto Hoetzsch und die deutsche Rußlandkunde, in: Osteuropa 55 (2005), S. 5–28.

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8 BArch, R 73, 10614, Conze, Plan meiner Arbeit vom 27.11.1937; Gutachten Markerts vom 15.6.1936 und Dezember 1937 oder Januar 1938. 9 Paul Mombert, Bevölkerungslehre, Jena 1929, S. 242; Götz Aly u.a., Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt a.M. 19932, S. 91– 124; Susanne Heim u.a., Berechnung und Beschwörung. Überbevölkerung – Kritik einer Debatte, Berlin 1996 S. 15–71. 10 Ipsen, Bevölkerung, S. 462f.; Mombert, Bevölkerungslehre, S. 1; vgl. Bernhard vom Brocke, Bevölkerungswissenschaft – Quo vadis? Möglichkeiten und Probleme einer Geschichte der Bevölkerungswissenschaft in Deutschland, Opladen 1998, S. 433; Peter Chroust, Gießener Universität und Faschismus. Studenten und Hochschullehrer 1918–1945, 2 Bd., Münster 19962, Bd. 1, S. 228. 11 BArch, R 4901, 2979, Bl. 121, 180f., 234R. Vgl. Haar, Historiker, S. 315–318; Peter Schöttler, Marc Bloch et le XIVe Congrès international de Sociologie, Bucarest, août 1939, in: Genèses 6 (1995) 20, S. 143–154. 12 Conze, Die ländliche Übervölkerung in Polen, in: Arbeiten des XIV. Internationalen Soziologen Kongresses Bucureşti, Mitteilungen, Abteilung B – Das Dorf, Bd. I, Bucureşti 1940, S. 40–48, 40, 44, 47f.; vgl. Aly, Vordenker, S. 102ff. 13 Theodor Oberländer, Der Kampf um das Vorfeld, zitiert bei I. Haar, Deutsche „Ostforschung“ und Antisemitismus, in: ZfG 48/6 (2000), S. 485–508, 497ff; ders., Historiker, S. 307–318. 14 Angelika Ebbinghaus/Karl Heinz Roth, Vorläufer des „Generalplan Ost“. Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, in: 1999 7 (1992), S. 62–94. 15 Gerhard F. Volkmer, Die deutsche Forschung zu Osteuropa und zum osteuropäischen Judentum in den Jahren 1933 bis 1945, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 42 (1989), S. 109–214, 133–142; Erich Maschke, Rezension Władysław Studnicki, in: Osteuropa 12 (1936/37), S. 151f. Zu den polnischen Debatten vgl. Magnus Brechtken, „Madagaskar für die Juden“. Antisemitische Idee und politische Praxis 1885–1945, München 1997, S. 81–164. 16 Conze, Agrarverfassung und Bevölkerung in Litauen und Weißrußland. 1. Teil: Die Hufenverfassung im ehemaligen Großfürstentum Litauen, Leipzig 1940, S. 1; vgl. ders., Die ländliche Übervölkerung in Polen, S. 40f. 17 Conze, Agrarverfassung und Bevölkerung, S. 2, 206, 211. Der geplante zweite Teil, der „an die heute brennende Frage der ländlichen Übervölkerung“ heranführen sollte, erschien nie. Vgl. Conze, Antrittsrede, S. 56; zur Fehlberechnung vgl. Marco Wauker, „Volksgeschichte“ als moderne Sozialgeschichte? Werner Conze und die deutsche Ostforschung, in: ZfO 52 (2003), S. 347–397, 373. 18 Conze, Agrarverfassung, S. 39, 129, 133, 137, 140f., 176. Zur affirmativen Bewertungen der Habilitation vgl. Werner Lausecker, „Bevölkerung“, „Innovation“, Geschichtswissenschaften, in: Rainer Mackensen (Hg. u.a.), Das Konstrukt „Bevölkerung“ vor, im und nach dem „Dritten Reich“, Wiesbaden 2005, S. 201–235. 19 Conze, Agrarverfassung, S. 61f., 147, 152. 20 Conze, weißrussische Frage, o. S.; ders., Wilna und der Nordosten Polens, S. 657f.; vgl. Götz Aly, Theodor Schieder, Werner Conze oder Die Vorstufen der physischen Vernichtung, in: Winfried Schulze (Hg. u.a.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1999, S. 163–182, 172ff. 21 Peter-Heinz Seraphim, Rezension von Conze, in: AfBB 11 (1941), S. 396ff.; Manfred Hellmann, Rezension von Conze, in: HZ, 166 (1942), S. 409ff.; Hans Joachim Beyer, Rezension von Conze, in: Zeitschrift für Politik 32 (1942), S. 134. 22 Max Hein, Rezension von Conze, in: Altpreußische Forschungen 19 (1942), S. 151ff.; UAW, Personalakte Conze, Gutachten Ipsens vom 10.10.1940. 23 Wolfgang Zorn, Werner Conze zum Gedächtnis, in: VSWG 73 (1986), S. 153–157, 154; Gerhard A. Ritter, Werner Conze, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1986 (1987), S. 274–279, 275.

142  Biographien

24 Margers Vestermanis, Ortskommandantur Libau. Zwei Monate deutscher Besatzung im Sommer 1941, in: Hannes Heer (Hg. u.a.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944, Hamburg 1995, S. 241–259; Conze, Die Geschichte der 291. Infanterie-Division 1940–1945, Bad Nauheim 1953. S. 22f. 25 BArch, R 153, 626, Notiz über Mitteilung Essen vom 27.9.1939. Vgl. Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 317f. 26 UAW, Personalakte Werner Conze, Protokoll Kommission Phil. Fak. vom 13.2.1941; Schreiben Christian an Conze vom 13.2.1941. Vgl. Gernot Heiß, Von Österreichs deutscher Vergangenheit und Aufgabe. Die Wiener Schule der Geschichtswissenschaft und der Nationalsozialismus, in: ders. (Hg. u.a.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938–1945, Wien 1989, S. 39–76, 52f.; Gerhard Benetka, Werner Kienreich: Der Einmarsch in die akademische Seelenlehre, in: ebd. S. 115–132, 115ff. 27 Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Baden-Baden 1999, S. 586f.; Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 20002, S. 114; Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 357. 28 UAP, RU Posen 78/328, Personalakte Conze, Harmjanz an Universitätskurator Posen vom 29.9.1941; Wittram an Rektor RUP vom 9.12.1941; Harmjanz an Kurator vom 8.1.1942; Conze vom 9.2.1942. 29 Haar, Historiker, S. 356. 30 UAW, DA Phil. Fak 267 1942/43, Christian an Meißner vom 22.6.1942; ähnlich ebd., Personalakte Conze, Christian an Wittram vom 6.1.1942. 31 BArch, R 4901, 13462, Personalakte Conze, Bl. 358–378; vgl. Hans-Christian Petersen, Bevölkerungsökonomie-Ostforschung-Politik. Eine biographische Studie zu Peter-Heinz Seraphim (1902– 1979), Osnabrück 2007, S. 117. 32 Conze, Antrittsrede, S. 56. 33 Petersen, Bevölkerungsökonomie-Ostforschung-Politik, S. 260–265. 34 Kai Arne Linnemann, Das Erbe der Ostforschung. Zur Rolle Göttingens in der Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit, Marburg 2002, S. 78–89, 167–208; Etzemüller, Sozialgeschichte, S. 40–44, 129–138; UAM, 63, 15, Personalakte Conze; vom Brocke, Bevölkerungswissenschaft, S. 109, 426. 35 Henryk Łowmiański, Rezension von Conze, in: Roczniki Historyczne 16 (1947), zitiert nach Wolfgang Zorn, Werner Conze und Henryk Lowmianski. Ein Dokument zur Sozial- und Wirtschaftshistoriographie der 1940er Jahre, in: VSWG 74 (1987), S. 242–248, 248. 36 Conze, Die Wirkungen der liberalen Agrarreform auf die Volksordnung in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert, in: VSWG 38 (1949/50), S. 2–43. Der „slawische Bauer“ wich demnach „den Forderungen, die die Hufe als Belastungen an ihn stellte“ aus (S. 32). Das „Judentum“ war angeblich „in die Städte eingedrungen […] und […] beherrschte“ die Marktflecken. (S. 27f.); ders., Die Strukturkrise des östlichen Mitteleuropas vor und nach 1919, in: VfZ 1 (1953), S. 319–338. Conze meinte hier, daß für die ländliche Übervölkerung nicht „genügend Abflußmöglichkeit bestand“, denn „Handel und Gewerbe in den kleinen Städten und Flecken waren in jüdischer Hand“ (S. 322f., vgl. auch S. 333). Vgl. Götz Aly, Rückwärtsgewandte Propheten. Willige Historiker – Bemerkung in eigener Sache, in: ders., Macht, Geist, Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens, Berlin 1997, S. 153–183. 37 Conze, Writings on Social and Economic History in Germany (1939–1949), in: The Economic History Review 3 (1950), S. 126–132. Er nannte neben seiner eigenen Habilitationsschrift auch Arbeiten von Otto Brunner, Günter Franz, Erich Keyser, Hans Linde, Gunther Ipsen, Helmut Haufe, Hermann Aubin und die beiden von Aubin zu Ehren Albert Brackmanns „1941“, tatsächlich aber 1942/ 43, herausgegebenen Bände „Deutsche Ostforschung“. 38 Conze, Die Stellung der Sozialgeschichte in Forschung und Unterricht, in: GWU 3 (1952), S. 648– 657; 655f.; ders., Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für For-

Werner Conze  143

schung und Unterricht, Köln 1957, S. 5–27, 7ff., 12, 16ff., 23ff. Vgl. Peter Schöttler, Die intellektuelle Rheingrenze. Wie lassen sich französische Annales und die NS-Volksgeschichte vergleichen? in: Christoph Conrad, (Hg. u.a.), Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen 2002, S. 271–295, 295. 39 Conze, Vom „Pöbel“ zum „Proletariat“. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland, in: VSWG 41 (1954), S. 333–364, 339. Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 65f. 40 Wolfgang Köllmann, Bevölkerungsgeschichte 1800–1970, in: Hermann Aubin (Hg. u.a.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, Stuttgart: 1976, S. 9–50, 9f., 13. 41 Conze, Antrittsrede, S. 58; Alexander Pinwinkler, „Bevölkerungsgeschichte“ in der frühen Bundesrepublik Deutschland: Konzeptionelle und institutionengeschichtliche Aspekte. Erich Keyser und Wolfgang Köllmann im Vergleich, in: Historical Social Research 31/4 (2006), S. 64–100, 78f.; W. Schieder, Sozialgeschichte, S. 244–248, 255–266. 42 Vgl. Reinhart Koselleck, Werner Conze. Tradition und Innovation, in: HZ 245 (1987), S. 529–543; 540f.; Torsten Bathmann/Rüdiger Hohls, Institutionelles Glossar, in: Hohls (Hg. u.a.), Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, München 2000, S. 503–526; Conze, Polnische Nation und deutsche Politik im ersten Weltkrieg, Köln 1958, S. X. 43 Mathias Beer, Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa“, in: VfZ 46 (1998), S. 345– 390, 374f.; Etzemüller, Sozialgeschichte, S. 44ff. 44 Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1993, S. 254–265; Etzemüller, Sozialgeschichte, S. 30ff., 128–170. 45 Conze, Der 17. Juni. Tag der deutschen Freiheit und Einheit, Frankfurt a.M. 1960; Linnemann, Das Erbe der Ostforschung, S. 175; Pinwinkler, „Bevölkerungsgeschichte“, S. 81f. 46 Hans-Ulrich Wehler, Geschichtswissenschaft heute, in: Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit“. Bd. 2: Politik und Kultur, Frankfurt. a.M. 1979, S. 709–753, 723; Jürgen Kocka, Werner Conze und die Sozialgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland, in: GWU 37 (1986) S. 595–602; ders., Zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik. Ein Kommentar, in: Schulze, Deutsche Historiker, S. 340–357, 348f. 47 W. Schieder, Sozialgeschichte, S. 245f., 266. 48 Conze, Die deutsche Nation. Ergebnis der Geschichte, Göttingen 1963, S. 136ff. 49 Conze, Die Deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945. Bedingungen und Ergebnisse, in: HZ 225 (1977), S. 1–28, 14. 50 Conze, Sozialgeschichte 1800–1850, Sozialgeschichte 1850–1918, in: Hermann Aubin (Hg. u.a.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 426–494, 602– 684, 432, 608. 51 Conze, Konstitutionelle Monarchie – Industrialisierung. Deutsche Führungsschichten um 1900 [erstmals 1980], in: ders., Gesellschaft-Staat-Nation, Stuttgart 1992, S. 288–311, 309f. Hier auch sein für 1945 unvollständiges und ungenaues Schriftenverzeichnis (S. 487–502). 52 Conze, Ethnogenese und Nationsbildung – Ostmitteleuropa als Beispiel [erstmals 1985], in: ebd. S. 355–371, 368, vgl. 364. 53 Conze, Rasse, in Otto Brunner (Hg. u.a.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 135f., 146–178.

144  Biographien _____________________________________________________________________-

Rudolf Craemer Der Historiker Rudolf Craemer1 wurde am 26. Mai 1903 in Hamburg als das dritte Kind des Postrates Peter Craemer in ein völkisch-antisemitisches Milieu geboren. Sein Vater avancierte später zum Ministerialdirektor im Reichspostministerium und wurde mit einem Dr.-Ing. h.c. geehrt. 1894 hatte sein Vater mit dem Journalisten Friedrich Lange und anderen den Deutschbund aus der Taufe gehoben, eine der ganz frühen Organisationen der völkischen Bewegung, die bereits eine rigorose Politik der Rassenhygiene propagierte; Lange, ein glühender Kolonialist und Rassist sowie bis 1912 Vorstandsmitglied des rechtsextremistisch-militaristischen Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie, war der Taufpate Rudolf Craemers.2 Mit 16 Jahren gehörte Craemer zu den Mitbegründern des 1919 entstandenen rechtskonservativ-monarchistischen Deutschnationalen Jugendbundes; hier lernte er auch →Walter Frank kennen. 1921 schloss sich Craemer dem ebenfalls strikt anti-republikanischen Jungnationalen Bund an und bewegte sich auch in der Folgezeit in einem proto-faschistischen, elitär-völkischen Milieu, mit engen Kontakten zum Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband; im Oktober 1930 schloss er sich der von Treviranus geführten DNVP-Abspaltung Volkskonservative Vereinigung an; seit demselben Jahr war er Schriftleiter des Organs des Jungnationalen Bundes, der von 1926 bis 1933 monatlich erscheinenden Zeitschrift Jungnationale Stimmen. Nach dem Abitur 1922 an einer Oberrealschule in Berlin-Steglitz studierte der seit seiner Geburt durch ein schweres Augenleiden behinderte Craemer Germanistik, Philosophie und Geschichte an den Universitäten Berlin, Heidelberg und Göttingen. Während des Studiums schloss er sich der rechtskonservativ-antisemitischen, studentischen Deutsch-Akademischen Gildenschaft an.3 1928 promovierte er bei dem stark durch Heinrich von Treitschke geprägten, in den 1920er Jahren mit nationalkonservativen Positionen innerhalb der Historikerzunft profilierten Erich Marcks über „Gladstone als christlicher Staatsmann“. Von 1928 bis 1930 finanzierte ihm die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft eine Assistentenstelle am Lehrstuhl des deutschnationalen Heidelberger Historiker Willy Andreas, der sich mit der Edition der „Gespräche“ Bismarcks (1924–1926) einen Namen gemacht hatte. Im Herbst 1930 wechselte Craemer nach Königsberg und wurde dort neben →Erich Maschke einer der beiden Assistenten von →Hans Rothfels. Nicht nur der Wechsel zu Rothfels – Anfang der dreißiger Jahre der wohl prominenteste nationalkonservative Historiker –, auch die Übersiedlung in die Metropole Ostpreußens kam einem politischen Bekenntnis gleich: die jungakademische Gildenbewegung glaubte in den preußischen Ostprovinzen einen ‚antislawischen Schutzwall‘ aufbauen zu sollen und sich als akademischer ‚Ostfahrer‘ dazu berufen, die Strukturprobleme des ‚Ostraumes‘ und deren vorgebliche Lösung wissenschaftlich zu fundieren. Königsberg war in den zwanziger und dreißiger Jahren überhaupt ein „Kristallisationskern der völkisch-akademischen Milieus“.4 Dort gehörte er mit Erich Maschke, →Werner Conze und →Theodor Schieder zum sog. Rothfels-Kreis. Im Juli 1932 habilitierte sich

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Craemer bei Rothfels mit einer – fragmentarischen und nie publizierten – Schrift über „Der Ursprung deutschen Staatsbewußtseins nach dem Dreißigjährigen Krieg“.5 In seinen Schriften zeigte sich Craemer als glühender Bismarck-Verehrer, genauer: eines Mythos’, der den historischen Bismarck völkisch-korporatistisch zurechtrückte. Die Affinitäten zu Rothfels, der einen Monat später, im August 1932, auf dem 18. Historikertag in Göttingen einen Aufsehen erregenden Vortrag über „Bismarck und der Osten“ gehalten hatte, die Bismack’sche Ostpolitik zum Ausgangspunkt „einer werdenden preußisch-gesamtdeutschen Anschauung“ machen wollte und seit 1929 als „wissenschaftspolitischer Mentor“ die „Expeditionen“ der Akademischen Gildebewegung ins Baltikum unterstützte, waren unübersehbar.6 Politisch profilierte sich Craemer innerhalb der Historikerzunft als vehementer Gegner der Weimarer Republik und avancierte früh zu einem wichtigen Kritiker der bis 1933 einflussreichen nationalliberalen Historiker. Deren Wortführer Friedrich Meinecke warf er in seiner Anfang 1934 publizierten Schrift Geschichte als politische Wissenschaft vor, in dessen Studie „Idee der Staatsräson“ (1924) „vor der westlichen Humanitätsideologie kapituliert“ und „das deutsche Volk als Schicksalseinheit geistig verflüchtigt“ zu haben.7 Craemer war eine der Speerspitzen der jungen deutschvölkischen, NS-affinen Historiker, die Meinecke zur Abdankung und andere prominente Historiker der Weimarer Republik wie Hermann Oncken in die Resignation trieben. Als Hans Rothfels im Frühjahr 1933 aus der NS-Bewegung heftig antisemitisch angegriffen wurde, verteidigte er seinen Lehrer freilich vehement. Rothfels, so Craemer und andere Schüler des konservativen Königsberger Historikers in einer öffentlichen Stellungnahme, sei nie „müde geworden, die gestaltende Kraft der nationalen Volkstums-Idee“ zu betonen. Sie selbst seien erst durch Rothfels mit „sämtlichen Volkstumsfragen des Volks- und Reichsdeutschen Gebietes“ vertraut gemacht worden.8 Die Suspendierung Rothfels’ als Hochschullehrer ließ sich dadurch jedoch nur verzögern. Nach dessen Weggang Mitte 1934 blieb Craemer in Königsberg und wurde zu einer Zentralfigur des Volkswissenschaftlichen Arbeitskreises, eines locker gefügten Netzwerks von mehr als hundert jüngeren Geistes-, Kultur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern, das sich zwischen 1934 und 1937 etwa halbjährlich zusammenfand, sich nach außen dem Diktum einer „Neuordnung Europas“ und nach innen einer Erneuerung der Hochschulen unter NS-Vorzeichen verschrieben hatte.9 Was als „nationalsozialistisch“ zu qualifizieren war, blieb freilich umstritten. Anfang 1936 erschien eine Schrift Craemers, die das Brüning’sche Präsidialkabinett als Wegbereiter der NS-Diktatur offenbar zu positiv zeichnete und in der zur Deutschen Arbeitsfront (DAF) gehörenden Hanseatischen Verlagsanstalt herauskam, die bereits seit 1933 Publikationen von Craemer herausgab und zu ihren prominenten Hausautoren seit 1931 den seit Anfang der zwanziger Jahre mit Craemer befreundeten Walter Frank zählte.10 Die 1936 erschienene Schrift Craemers wurde durch die Philipp Bouhler unterstellte Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des

146  Biographien

NS-Schrifttums vermutlich auch deshalb indiziert, weil sich Craemer bis dahin vom reaktionär-elitären Selbstverständnis der „Konservativen Revolution“, d.h. seinem politischen Herkunftsmilieu, sowie Restelementen ständischer Ideologie nicht gänzlich zu lösen vermocht hatte.11 Infolgedessen war ihm der Weg zu einer Hochschulkarriere fürs erste verstellt – und gleichzeitig der Weg in das →Arbeitswissenschaftliche Institut (AWI) der von Robert Ley (einem Rivalen Bouhlers) geleiteten DAF frei gemacht. Nachdem Ehrengerichtsverfahren gegen Craemer niedergeschlagen worden waren und seine Bewerbung für den preußischen Archivdienst gescheitert war, avancierte er Anfang Juli 1938 zum Leiter der historischen Abteilung des AWI (bis Juli 1938: „Geschichte der Arbeit“, danach: „Soziales und Volkstum“). In seinen Arbeiten für das AWI vertiefte Craemer, der im Mai 1937 der NSDAP beitrat, seine Kritik am Historismus, an dessen unbedingt quellenkritischer, auf das ‚Individuelle‘ historischer Phänomene insistierenden Methode und dessen gleichzeitiger Ablehnung geschichts-metaphysischer Entwürfe. Stattdessen huldigte er einem konzeptionellen Verständnis der historischen Forschung das im gesamten AWI gepflegt wurde und sich folgendermaßen zuspitzen lässt: Nicht ‚reine Theorie‘ dürfe das Ziel der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften im NS-Sinne sein. Vielmehr hätten diese – auch mit historischen Untersuchungen – Elemente eines „Generalstabsplans“ bereitzustellen, die dem NS-Regime (und damit auch der für das AWI maßgeblichen DAF) „den Weg aus der unzulänglichen Gegenwart in die programmatisch erstrebte Zukunft“ öffnen sollten, freilich ohne explizit politische Vorgaben zu formulieren. Aber erst historische Untersuchungen und (in heutigen Begrifflichkeiten) sozialwissenschaftliche Diagnosen, so das Selbstverständnis des AWI, erlaubten die Formulierung wissenschaftsbasierter Strategien, die die „Verwirklichung“ von „Wunschbildern“ in „absehbarer Zeit“ und „mit möglichst geringem Reibungsverlust“ erlaubten.12 Die Historiographie wurde zu einer politisch-ideologischen Legitimationswissenschaft der mittel- wie langfristigen Ziele des NS-Regimes – und ebenso der DAF-Führung, als deren Brain Trust das AWI in erster Linie fungierte. Historisch-legitimatorisch wurde Craemer denn auch schon bald aktiv. Der Hintergrund war die zentrale sozialpolitische Rolle, die der DAF seit der sogenannten Hitler-Verordnung vom 24. Oktober 1934 zu den Zielen der Massenorganisationen zugewiesen worden war. Die Funktion des mit schließlich 25 Mio. Mitgliedern größten NS-Massenverbandes bestand in der Ausformulierung sozialutopischer Visionen, die rassistisch-völkischen Leitlinien folgten und, bereits als Versprechungen, nicht zuletzt die Integration der deutschen Arbeitnehmerschaft in die NS-„→Volksgemeinschaft“ erleichtern sollten. Anfang März 1939 war Robert Ley von Göring mit der Ausarbeitung eines „Sozialwerks des deutschen Volkes“ beauftragt worden; Hitler hatte dies am 15. Februar 1940, anlässlich von Leys 50. Geburtstag, förmlich sanktioniert. Craemer legitimierte dieses DAF-Sozialwerk, indem er es als folgerichtige Fortsetzung der Bismarck’schen Sozialpolitik darstellte. Bereits seine Lehrer Erich

Rudolf Craemer  147

Marcks und Willy Andreas hatten Bismarck verehrt und zahlreiche Publikationen über diesen vorgelegt; insbesondere Marcks hatte das Dritte Reich zur würdigen Fortsetzung des Bismarck’schen Deutschen Reiches stilisiert. Hans Rothfels hatte Bismarcks Sozialpolitik mit dem „Ostraum“ und den von Conze und anderen formulierten Ansätzen einer „Volksgeschichte“ verknüpft. Craemer wiederum hatte die Sozialpolitik des ‚Eisernen Kanzlers‘ bereits Anfang der dreißiger Jahre mit einigen Kunstgriffen zum Nukleus eines von Bismarck angeblich avisierten „staatssozialistischen“ Gesellschaftsmodells hypostasiert, von dem er hoffte, dass es durch die von Hindenburg eingesetzten Präsidialregime verwirklicht würde.13 Er musste ab 1938 nur wenige Akzente versetzen, um das „Sozialwerk“ der DAF als ‚legitime‘ Fortsetzung des Bismarck’schen Stranges deutscher Sozialpolitik dazustellen – und die Pläne der Arbeitsfront gegen eher traditionalistische Strömungen, repräsentiert insbesondere durch das Reichsarbeitsministerium, öffentlichkeitswirksam in Stellung zu bringen. In diesem Kontext wurde er auch zum Ghostwriter Leys.14 Ein insgesamt dreibändiges Werk zu Bismarck, das Craemer mit seinen Mitarbeitern plante (mit einer von ihm verfassten Bismarck-Biographie als erstem Band), blieb freilich unausgeführt. Daneben publizierte Craemer ab 1939 insbesondere zur „neuen Oststellung des Reiches“, eingeschlossen einige knappe Länderstudien, und „Zum sozialen Aufbau im deutschen Osten“. Auch in dieser Hinsicht knüpfte er an eigene, Anfang der dreißiger Jahre gesponnene Fäden aus seiner Zeit in der Bewegung der Deutschen Akademischen Gilden an, nämlich an die Bemühungen von ihm, Walter Frank und anderen, eine Richtung Osten orientierte ‚historische Großraumwissenschaft‘ zu generieren. Während seiner Zeit im AWI kannte Craemers Produktivität kaum Grenzen; ganz offensichtlich nutzte er die enormen Ressourcen und Möglichkeiten des DAFInstituts auch zur eigenen Profilierung. So verfasste er ein historisierendes antisemitisches Pamphlet über „Benjamin Disraeli“.15 Desweiteren plante er in Kooperation mit Walter Franks Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschlands – dessen Sachverständigenbeirat er angehörte – eine umfängliche Werk- und Quellenedition des Kolonialisten Carl Peters. Diese Absicht konnte er freilich, mit einer Neuausgabe der Schriften von Peters, nur teilweise realisieren. Am 14. Mai 1941 starb Craemer in Berlin an einem Darmtumor.

Rüdiger Hachtmann

1 Ausführlich zu Craemer: Karl-Heinz Roth, Intelligenz und Sozialpolitik im ‚Dritten Reich‘ . Eine methodisch-historische Studie am Beispiel des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der Deutschen Arbeitsfront, München u.a. 1993, bes. S. 153–178. 2 Gut zehn Jahre nach dessen Tod würdigte Craemer seinen Taufpaten: Rudolf Craemer, Friedrich Lange, in: Deutsches Biographisches Jahrbuch, Überleitungsbd. II: 1917–1920, hg. vom Verband der Deutschen Akademien, Stuttgart u.a. 1928, S. 94–99. 3 Vgl. dazu ausführlicher Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000, S. 71–76.

148  Biographien

4 In Königsberg war Craemer Mitglied der Gilde „Skuld“, vgl. Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 79–85. 5 Wie eng das persönliche Verhältnis von Craemer zu Rothfels war, ist umstritten. Vgl. die konträren Positionen insbesondere von Rothfels, ebd., S. 154, sowie Jan Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005, S. 112, Anm. 59. Dass Rothfels Craemers Schrift auch als Torso für habilitationswürdig hielt, legt eine zumindest freundliche Beziehung von Rothfels zu seinem Assistenten nahe. Zum Einfluss von Rothfels auf Craemer vgl. ebd., S. 157ff. 6 Zitate bei Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 86, 224. 7 Craemer, Geschichte als politische Wissenschaft, S. 5f., 9f., nach: ebd. zum Folgenden: ebd., S. 224ff., 234. 8 Vgl. (inkl. Zitate) Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 137ff. 9 Vgl. ebd., S. 256, 260. 10 Vgl. Rüdiger Hachtmann, Das Wirtschaftsimperium der Deutschen Arbeitsfront, Göttingen 2012, S. 278f., 282. 11 Roth, S. 154 f., 253. Deshalb äußerte sich auch der SD noch 1939/40 politisch-skeptisch über Craemer. 12 Vgl. (inkl. Zitate) der Beitrag zum Arbeitswissenschaftlichen Institut im vorliegenden Band. 13 Vgl. Roth, Intelligenz, S. 158, 167. 14 Vgl. ebd., bes. S. 168. 15 Rudolf Craemer, Benjamin Disraeli, in: Forschungen zur Judenfrage. Schriften des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands (1941) 5, S. 22–147.

_____________________________________________________________________Carl Diem  149

Carl Diem Carl Diem wurde am 24. Juni 1882 in Würzburg geboren.1 Sein Vater Ferdinand Diem, von Beruf Kaufmann in der Textilbranche, zog 1887 mit Frau und Kindern nach Berlin, weil in der Hauptstadt bessere geschäftliche Perspektiven zu winken schienen. Tatsächlich kam es zu einem Bankrott; Ferdinand Diem verließ 1899 die Familie, um sich in den USA eine neue Existenz aufzubauen. Nach wiederholtem Scheitern nahm er sich 1914 in New York das Leben. Infolge dieser Umstände verlebte Carl Diem den größeren Teil seiner Jugend in materiell beengten Verhältnissen. Nach der Mittleren Reife am Friedrichs-Werderschen Gymnasium absolvierte er eine kaufmännische Lehre. Parallel dazu engagierte er sich im Sport, der als neue Form der Körperkultur – und Konkurrent des Turnens – in Deutschland soeben Fuß gefasst hatte. Neben die eigene sportliche Betätigung trat ein Engagement als Berichterstatter, das schon bald zu einer Anstellung als Sportjournalist beim Scherl Verlag führte. Schnell entwickelte sich Diem zu einer bekannten Persönlichkeit im Berliner Sportleben. Als Colmar von der Goltz 1911 den „Jungdeutschlandbund“ gründete2, um alle Organisationen unter ein Dach zu bringen, die sich der körperlichen Ertüchtigung der Jugend widmeten – für künftige Volkskriege, so Goltz’ Idee3, müsse die gesamte Bevölkerung in den Leibesübungen geschult sein – erhielt Diem den Posten des stellvertretenden Schriftführers. Damit betrat Diem auch die Bühne der Sportpolitik und der allgemeinen Politik. Zeitgleich entfaltete sich seine Funktionärskarriere: 1908 wurde er Vorsitzender der Deutschen Sportbehörde für Athletik (der Vorgängerorganisation des Deutschen Leichtathletikverbandes), 1912/13 erhielt er den Posten des Generalsekretärs des Deutschen Reichsausschusses für die Vorbereitung der Olympischen Spiele (DRA), des Dachverbandes des deutschen Sports. Diese Kumulation von Tätigkeiten und Funktionen zeigt an, dass es in der Frühzeit der Sportbewegung für eine Einzelperson noch möglich war, fast alle Bereiche des Sports zugleich abzudecken. Auch dieser Bandbreite seiner Aktivitäten verdankte Diem die spätere Stilisierung zum „Vater des deutschen Sports“4. In den Ersten Weltkrieg trat Diem als Frontfreiwilliger ein, obwohl er nur als Landwehrmann hätte dienen müssen. Der Krieg beeindruckte ihn tief, wie seine zahlreichen Selbstzeugnisse belegen, prägte den bei Kriegsbeginn bereits Zweiunddreißigjährigen aber nicht in dem Maße, wie es bei der sogenannten Frontgeneration der Fall war. Diem nahm seine zivile Karriere 1918/19 ohne größere Probleme wieder auf und profitierte davon, dass viele andere Sportfunktionäre, mit denen er zuvor konkurriert hatte, im Krieg gefallen waren. Als Generalsekretär des DRA mit honorierten Nebentätigkeiten etablierte er sich endgültig im „neuen Mittelstand“ der gehobenen Angestelltenberufe. Zudem wurde Diem Prorektor und faktischer Leiter der Deutschen Hochschule für Leibesübungen (DHfL), die 1920 in Berlin als eine der ersten Sporthochschulen der Welt gegründet wurde.5 Neben der Ausbildung von Trainern widmete sich die

150  Biographien

DHfL dem Aufbau der Sportwissenschaft als einer neuen Leistungswissenschaft, die sich vielen gesellschaftlichen Teilbereichen empfahl: dem Militär für die Ausbildung der Rekruten; der Wirtschaft für die Verbesserung der Arbeitsleistung; den Sozialversicherungen für die Vermeidung von Krankheit und vorzeitiger Invalidität. Diese Auflistung ließe sich fortsetzen. Im völkischen Milieu galt der Sport als Mittel zur Verbesserung von „Volksgesundheit“ und „Volkskraft“; gerade nach den Verlusten im Ersten Weltkrieg bedürfe es einer umfassenden Regeneration. Die Sportwissenschaft könne generell als eine völkische Wissenschaft fungieren, da sich mit ihrer Hilfe „Rassenpflege“ betreiben lasse: Sie trage dazu bei, das äußere Erscheinungsbild und die Reproduktionsfähigkeit des Volkes zu verbessern; das gemeinsame Sporttreiben schweiße die „→Volksgemeinschaft“ zusammen; ein sportlich gestähltes Volk würde sich in der Völkerkonkurrenz aufgrund seines höheren Leistungsniveaus bei der Arbeit und im Krieg durchsetzen. Überdies drücke sich in den jeweils präferierten Sportarten der „Volkscharakter“ aus. Diem legte sich nicht einseitig auf diese völkische Sichtweise fest. Dazu lag ihm zu sehr an der vielfältigen Anschlussfähigkeit des Sports; auf dem politischen Feld war er zu sehr Opportunist. Als die NSDAP die Macht übernahm, hatte Diem aber keinerlei Berührungsängste mit dem neuen Regime. Bereits in der Endphase der Weimarer Republik schlug er dem NS-Sportpolitiker Franz Breithaupt ein Organisationsmodell für den Sportbetrieb des bevorstehenden Dritten Reiches vor, das nach 1933 in leicht modifizierter Form umgesetzt wurde. Auch Diem ist insofern ein Beispiel dafür, in welch hohem Maße die Spezialisten in den gesellschaftlichen Teilbereichen der Hitlerpartei „entgegen zu arbeiten“ bereit waren.6 Während der NS-Zeit betätigte sich Diem zunächst als Organisator der Olympischen Sommerspiele 1936. Seine Posten als Generalsekretär des DRA und als Prorektor der DHfL verlor er bei der Neustrukturierung der deutschen Sportverwaltung, die sich mit einem Generationswechsel verband – vor allem Männer aus der Frontgeneration, die sich frühzeitig der NSDAP angeschlossen hatten, drängten in die Spitzenpositionen. Nach den Olympischen Spielen bekleidete Diem das Amt des Reichssportfelddirektors; 1938 wurde er Chef des Internationalen Olympischen Instituts in Berlin; 1939 erhielt er die kommissarische Leitung der Auslandsabteilung beim Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen (NSRL). In letztgenannter Funktion wirkte Diem im Gefolge des Reichssportführers Hans von Tschammer und Osten an der Gestaltung der auswärtigen Sportpolitik des NS-Regimes während des Krieges mit. Deren Ziele waren die Werbung für Hitlerdeutschland im neutralen Ausland, die Verbesserung der Beziehungen zu den besetzten Ländern und eine Vergrößerung des deutschen Einflusses beim IOC und bei den europäischen Sportverbänden.7 Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwieg Diem seine Mitarbeit in der NS-Sportadministration. Er habe von 1933 bis 1945 nur für die internationale Olympische Bewegung gewirkt, lautete seine Legende. Ohnehin sei der Sport in der NS-Zeit zwar mit einer neuen Führungsspitze versehen, unterhalb dieser Ebene vom Nationalso-

Carl Diem  151

zialismus jedoch kaum durchdrungen worden. In der Bundesrepublik, die ihren eigenen Sportbetrieb als formal von der Politik unabhängig aufzog, fiel diese Deutung auf fruchtbaren Boden. Außerdem wurden Experten für den Wiederaufbau benötigt, und Diem schien der geeignete Mann für die Gründung einer neuen Sporthochschule für die Westzonen zu sein. Protest, der anfangs bei einigen Exilanten, ehemaligen Arbeitersportlern und Sozialdemokraten laut wurde, die Diem vor allem des Militarismus ziehen, blieb letztlich folgenlos. Dasselbe galt für die Kritik aus der DDR, die Diem als prominentes Beispiel für personelle Kontinuitäten aus der NS-Zeit auch im Sport nutzte. Als Rektor der Sporthochschule Köln und Nestor der Olympischen Bewegung erfreute sich Diem bis zu seinem Tod am 17. Dezember 1962 in der Bundesrepublik großen Ansehens. Erst in den 1970er Jahren wurde Diems Verhalten in der NS-Zeit aufs Neue hinterfragt. Forciert wurde die Kritik in den 1990er Jahren, als ans Tageslicht kam, dass Diem im März 1945 vor Hitlerjungen, die für den „Endkampf um Berlin“ ausgebildet wurden, eine Durchhalterede gehalten hatte. 2005 bis 2007 ermittelte ein biographisches Forschungsprojekt, dass Diem sich dem NS-Regime noch stärker angedient hatte als bislang angenommen.8 Überdies war er Antisemit, wie seine Korrespondenz belegt – Antisemit im Sinne einer sozialkulturell argumentierenden Judenfeindschaft.9 In Folge dieser Erkenntnisse sind in den letzten Jahren zahlreiche nach Diem benannte Straßen, Hallen und Stadien umbenannt worden. In vieler Hinsicht ist Diems Biographie typisch für eine Generation von „Experten“, die in ihren Berufen erfolgreich agierten – so stehen auch Diems Verdienste um die Sportentwicklung in Deutschland außer Frage – und nach dem Zweiten Weltkrieg von sich behaupteten, zwischen 1933 und 1945 nur als unpolitische Akteure auf ihren Fachgebieten gewirkt zu haben, ohne sich auf den Nationalsozialismus weiter einzulassen. Militär, Wirtschaft, Wissenschaft und viele andere Funktionsbereiche nutzten dieses Deutungsmuster, um jede Verantwortung von sich zu weisen und einer von all diesen Bereichen gleichsam abgelöst gedachten Hitlerpartei und ihren Organisationen zuzuschieben, von denen sie allenfalls „instrumentalisiert“ worden seien. Erst die neuere Forschung hat diesen Mythos zerstört, indem sie nachwies, dass der Nationalsozialismus von zahlreichen Zuträgern aus den unterschiedlichen Handlungsfeldern profitierte, die sich aus eigenem Antrieb und vielfach auch aufgrund – partieller oder weitreichender – politisch-weltanschaulicher Übereinstimmungen für ihn engagierten. Das Engagement dieser Personen trug entscheidend dazu bei, jenes Konglomerat von Diskursen und Praktiken überhaupt erst zu schaffen, das den Nationalsozialismus ausmachte.

Frank Becker

1 Die Angaben zu Diems Lebensstationen in diesem Artikel basieren auf der Biographie von Frank Becker, Den Sport gestalten. Carl Diems Leben (1882–1962). 4 Teilbände, Duisburg 2009–2011, 20132.

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2 Christoph Schubert-Weller, Vormilitärische Jugenderziehung, in: Christa Berg (Hg. u.a.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. IV: 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, München 1991, S. 503–515. 3 Grundlegend schon: Colmar von der Goltz, Das Volk in Waffen. Ein Buch über Heerwesen und Kriegführung unserer Zeit, Berlin 1883. 4 Ralf Schäfer, Sportgeschichte und Erinnerungspolitik: Der Fall Carl Diem, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 58 (2010) 11, S. 877–899, 877. 5 Noyan Dinçkal, Sportlandschaften. Sport, Raum und (Massen-)Kultur in Deutschland, 1880–1930, Göttingen 2013, S. 247–281; Jürgen Court, Deutsche Sportwissenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Bd. 2: Die Geschichte der Deutschen Hochschule für Leibesübungen 1919–1925, Münster u.a. 2014. 6 Zu dieser Vorstellung des „Entgegenarbeitens“ siehe vor allem die Forschungen von Ian Kershaw, so etwa dessen zweibändige Hitler-Biographie: Hitler 1889–1936, London 1998; Hitler 1936–1945; London 2000. 7 Hans Joachim Teichler, Internationale Sportpolitik im Dritten Reich, Schorndorf 1991, S. 271–273, 291–300 u. 328–331. Letzteres blieb allerdings weitgehend erfolglos. 8 Zusammenfassend Frank Becker, Herausforderungen einer Carl-Diem-Biographie, in: ders./Ralf Schäfer (Hg.), Die Spiele gehen weiter. Profile und Perspektiven der Sportgeschichte, Frankfurt a. M. u.a. 2014, S. 121–142. Die von den Projektergebnissen ausgelöste Debatte bilanziert Horst Thum, Nationalist? Militarist? Carl Diem im Spiegel seiner Kritiker und Apologeten, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 60 (2011), S. 831–842. 9 Hierzu Frank Becker, Den Sport gestalten. Carl Diems Leben (1882–1962). Bd. 1: Kaiserreich, Duisburg 2009, S. 148–150; ders., Den Sport gestalten, Bd. 2: Weimarer Republik, Duisburg 2011, S. 94f. u. 248; Ralf Schäfer, Militarismus, Nationalismus, Antisemitismus. Carl Diem und die Politisierung des bürgerlichen Sports im Kaiserreich, Berlin 2011, S. 254, 258–261 u. 355–357; ders., Carl Diem, der Antisemitismus und das NS-Regime, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), H. 3, S. 252–263, hier 254–258.

_____________________________________________________________________Eugen Ewig  153

Eugen Ewig Der am 18. Mai 1913 in Bonn geborene und in einem katholischen Elternhaus aufgewachsene Eugen Ewig erwarb im Jahre 1931 seine Hochschulreife am humanistischen Beethoven-Gymnasium seiner Geburtsstadt.1 Er schrieb sich daraufhin dort an der Alma mater ein und begann in bewegter Zeit sein Studium der Fächer Geschichte, Deutsch und Französisch. Im Jahre 1936 promovierte Ewig bei Max Braubach, der offiziell als Doktorvater fungierte, doch muss Ewig als Schüler von Wilhelm Levison gesehen werden, der 1935 aufgrund seines jüdischen Glaubens in den Ruhestand versetzt worden war, trotzdem aber das Hauptgutachten für Ewigs Doktorarbeit geschrieben hatte. Die Themenwahl zeugt zum einen vom Einfluss Levisons, zum anderen vom speziellen Interesse Ewigs für den lotharingischen Raum und die rheinischen Lande. In seiner ideengeschichtlich angelegten Dissertation über den Theologen und Mystiker Dionysius von Roermond befasste er sich mit einem Spätscholastiker im Gelderschen (dem heutigen Limburg) aus der Zeit des Baseler Konzils (1431–1449), der auf seine Zeitgenossen durch seine theologischen und philosophischen Abhandlungen einen maßgeblichen Einfluss ausgeübt hatte.2 Im Januar 1938 legte Eugen Ewig das Staatsexamen ab, jedoch verspürte er aufgrund der politischen Verhältnisse nicht den Drang, nun auch den Weg als Lehrer in die Schule zu gehen. Jungen katholischen Historikern wie Ewig war zudem der Weg zur Professur in dieser Zeit nahezu verschlossen, so dass er genauso wie seine Mitstreiter Paul Egon Hübinger (1911–1987) und Theodor Schieffer (1910–1992) eine Ausbildung am Institut für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung in Berlin-Dahlem für den Archivdienst absolvierte. Dem Anpassungsdruck entgingen sie jedoch auch dort nicht, denn die Archivarausbildung sollte in die Verbeamtung münden, die durch einen Parteieintritt spürbar beschleunigt werden konnte. Ewig wurde während der Ausbildung aufgefordert, umgehend die Aufnahmepapiere für die NSDAP zu unterschreiben, was er auch tat, doch bleib diese Entscheidung folgenlos, denn er wurde nicht in die Partei aufgenommen. Das anschließende Referendariat führte Ewig an das Staatsarchiv Breslau (1940/41), wo der bekennende Rheinländer jedoch nicht heimisch wurde, so dass er sich schließlich im Mai 1941 an das Staatsarchiv nach Metz abordnen ließ. In diese Zeit fielen Aktivitäten der Gauleitung Westmark, welche sich näher mit der romanisch-germanischen Sprachgrenze in Lothringen beschäftigte. Sie verdächtigte Ludwig XIV., „durch die Ansiedlung von Romanen das Deutschtum an der Sprachgrenze bewußt völkisch unterminiert zu haben“.3 Daher sollten nun gegenüber den Lothringern historische Ansprüche des deutschen Volkes auf die Moselle bewiesen werden. Damit schlug die „Stunde der Experten“, zu denen auch Eugen Ewig gehörte, der sich nunmehr bei den von ihm geforderten Schriften zwischen dem wissenschaftlichen Ideal der akademischen Selbstbehauptung und dem totalitären Anspruch des NS-Regimes befand, Wissenschaft nach ihrem Nutzen für die „→Volksgemeinschaft“ zu beurteilen.

154  Biographien

Im Staatsarchiv Nancy stieß Ewig im Sommer 1943 auf die Landbeschreibung des Herzogtums Lothringen vom Jahre 1585/86. Zwar konnte er nachweisen, dass sich Frankreich seit etwa 1663 mit der Wiederbesiedlung des entvölkerten Landes beschäftigte, doch deutete seiner Meinung nach nichts darauf hin, dass Ludwig XIV. „irgendeine Form von ethnischer Politik“ aus „nationalen Gesichtspunkten“ betrieben habe, wie er in seiner am 23. Februar 1944 fertiggestellten Abhandlung über „Die Verschiebung der Sprachgrenze in Lothringen während des 17. Jahrhunderts“ gegen den Strom einer expansionspolitischen Geschichtsschreibung feststellte4. Noch in den Räumen seines Archivs, das in der Präfektur untergebracht war, erlebte Ewig schließlich am 19. November 1944 den Beginn der Entscheidungsschlacht um Metz. Als die Amerikaner die Stadt am 22. November befreiten, verhandelte Ewig die Übergabe der Präfektur und wurde im Anschluss als deutscher Zivilist von den Amerikanern interniert. Aus dem Lager in Suzange nahm er brieflichen Kontakt zu Robert Schuman auf und bat ihn, sich für seine Freilassung einzusetzen. Ewigs Anliegen wurde schon bald Erfolg beschieden, denn auf Bestreben lothringischer Freunde, deren Vertrauen er als kommissarischer Leiter des Archivs erworben hatte, und nicht zuletzt dank des Einsatzes des späteren französischen Außenministers wurde er am 1. Januar 1945 frühzeitig entlassen. Robert Schuman blieb Ewig auch später verbunden, erhielt er doch von ihm seine Papiere zurück, die ihm die Gestapo bei seiner Festnahme abgenommen hatte: „Schuman hat ihn […] gefragt, wo denn jene Papiere verblieben seien. Ewig wußte es, Schuman selbst hat ihn in das für Deutsche damals streng verbotene Archiv geführt und das mit Ewigs Namen signierte Dossier an sich nehmen können“.5 Das Verhalten von Eugen Ewig während seiner Zeit in Metz verdeutlicht, dass sich dem Historiker und Archivar trotz der ideologischen Überformung der Geschichte Handlungsspielräume boten, die es ihm erlaubten, die wissenschaftlichen Standards seiner Disziplin nicht über den Haufen zu werfen. Ewig folgte nicht dem rassischen ›turn‹ der „Volksgeschichte“ nach 1933 und redete nicht den geschichtspolitischen Bestrebungen einer Germanisierung Lothringens das Wort. Er weigerte sich weiterhin, den deutschen Kulturraum mit einem harmonisierten „deutschen Volkskörper“ gleichzusetzen, auch wenn er als Vertreter eines landesgeschichtlichen Ansatzes bisweilen eine „organische Einheit“ von Land und Volk postulierte und einem „Nexus von Raum und Bevölkerung“ zuredete. Sein landsmannschaftlich-stammliches Zugehörigkeitsgefühl zum rheinischen Raum bewahrte ihn aber neben seiner abendländischen Gesinnung vor deutschtümelnd-ethnozentristischen Orientierungen, der viele der Westforscher erlagen.6 Dass Ewig zu allererst Rheinländer war, zeigte sich in aller Deutlichkeit nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, als er sich zwischen seiner rheinischen Heimat und Frankreich frei bewegte. Er übernahm im Januar 1946 eine Lektorenstelle an der Universität Nancy, die er bis 1949 innehatte. Damit war er der erste deutsche Historiker, „der nach dem Zweiten Weltkrieg einen Lehrauftrag an einer französischen Universität erhielt“.7 Parallel wurde ihm an der von den Franzosen neuge-

Eugen Ewig  155

gründeten Universität Mainz eine Stelle angeboten, die er nach deren feierlichen Eröffnung am 22. Mai 1946 antrat. Nach seiner Habilitation wurde er 1954 ordentlicher Professor und beschäftigte sich auch hier vor allem mit dem fränkischen Reich, bevor er 1963 nach Bonn wechselte. Ewigs Vorstellungen von der Zukunft seiner rheinländischen Heimat beruhten auf seiner Abneigung gegen alles Preußische, was seinen Ursprung nicht alleine in dem immer noch nicht vergessenen Kulturkampf hatte, sondern vor allem in seinen unumstößlichen Bedenken gegen einen von Berlin aus regierten deutschen Nationalstaat. Er war ein Mann des Heiligen Römischen Reiches geblieben, blieb der föderale Staatenbund im Herzen Europas für ihn doch auch jetzt die Grundlage für dauerhaften Frieden in Europa. Frühe räumliche und intellektuelle Prägungen im katholisch-abendländischen Milieu des Rheinlandes hatten den Blick von Eugen Ewig bereits in frühen Jahren in Richtung Frankreich gerichtet, das ihm im Gegensatz zu nicht wenigen Vertretern der deutschen Historikerzunft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht zu dem immer wieder beschworenen „Erbfeind“ geworden war. Er war damit prädestiniert, die Direktorenstelle des 1958 eröffneten Deutschen Historischen Instituts in Paris zu übernehmen, dessen Gründung er seit Anfang der 1950er Jahre maßgeblich vorangetrieben hatte. Auch in dieser Funktion demonstrierte er seine transnationale Sensibilität, auf deren Grundlage er nach 1945 Brücken über den Rhein baute und die Verständigung zwischen deutschen und französischen Historikern förderte. Er starb am 1. März 2006 in Bonn.

Ulrich Pfeil

1 Vgl. ausführlicher: Reinhold Kaiser, Eugen Ewig. Vom Rheinland zum Abendland und Ulrich Pfeil, Eugen Ewig – „Créer un ordre transnational“. Von einem Mittler zwischen Deutschland und Frankreich, in: Ulrich Pfeil (Hg.) Das Deutsche Historische Institut Paris und seine Gründungsväter. Ein personengeschichtlicher Ansatz, München 2007, S. 199–220, 293–322; ders., Vorgeschichte und Gründung des „Deutschen Historischen Instituts“ Paris. Darstellung und Dokumentation, Ostfildern 2007. 2 Vgl. Eugen Ewig, Die Anschauungen des Kartäusers Dionysius von Roermond über den christlichen Ordo in Staat und Kirche, Bonn 1936. 3 Wolfgang Freund, Volk, Reich und Westgrenze. Deutschtumswissenschaften und Politik in der Pfalz, im Saarland und im annektierten Lothringen 1925–1945, Saarbrücken 2006, S. 372. 4 Die Verschiebung der Sprachgrenze in Lothringen während des 17. Jahrhunderts (Ms.), 23.2.1944; Privatpapiere Eugen Ewig im DHI Paris. 5 Heinz Thomas, Der Erbfreund. Zum neunzigsten Geburtstag des Historikers Eugen Ewig, in: FAZ vom 17.5.2003. 6 Zitate in: Willi Oberkrome, Entwicklungen und Varianten der deutschen Volksgeschichte (1900– 1960), in: Manfred Hettling (Hg.), Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen 2003, S. 65–95. 7 Rudolf Schieffer, Konkrete Spätantike. Vermittler seiner Zeit: Zum Tod des Historikers Eugen Ewig, in: FAZ vom 3.3.2006.

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Johann Gottlieb Fichte Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) war einer der bedeutendsten Philosophen des deutschen Idealismus. Es ist keineswegs möglich und auch nicht intendiert, hier eine umfassende und ausgewogene Darstellung seines Œuvres, seiner wissenschaftlichen Bedeutung und seiner Wirkungsgeschichte zu präsentieren. Unter der Fragestellung des Handbuchs geht es nach einer biografischen Skizze einzig um die Frage, wie er in seinem „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution“ (1793) und in seinen „Reden an die deutsche Nation“ (1808) zur Radikalisierung des deutschen Nationalismus und zur Entstehung völkischen und antisemitischen Denkens beigetragen hat. Johann Gottlieb Fichte wuchs als Kind eines armen Webers in einem Dorf der Niederlausitz auf. Seine außergewöhnlichen kognitiven Fähigkeiten fielen dem Gutsherren Haubold von Miltitz auf, der ihm eine solide Schulbildung, zuletzt an der Landesschule in Pforta bei Naumburg, finanzierte. 1780 begann er in Jena ein Theologiestudium, 1781 wechselte er nach Leipzig. Nach dem Tod seines Gönners musste er sein Studium mit Nachhilfeunterricht finanzieren. Unter diesen widrigen Bedingungen studierte er 16 Semester, ohne jedoch einen Abschluss zu schaffen. Deshalb verdingte er sich 1788 in Zürich als Hauslehrer. Dort wurde er Freimaurer und lernte Marie Rahn kennen – eine Nichte Klopstocks, die er aber erst 1793 heiratete. Zunächst ging Fichte 1790 zurück nach Leipzig, wo er Kants Philosophie studierte, die ihn stark prägte. Aus materiellen Gründen musste er Hauslehrerstellen annehmen, 1792 besuchte er Kant, der ihm einen Verlag für eine religionsphilosophische Untersuchung besorgte, die große Aufmerksamkeit erregte. Da sie zunächst anonym erschien, hielt man sie für einen Text Kants. Als dieser den wahren Autor nannte, war der gut 30jährige Fichte plötzlich hoch angesehen und erhielt im folgenden Jahr einen Lehrstuhl für Philosophie in Jena. Allerdings hatte er bereits 1790 seiner Verlobten erklärt: „Ich selbst habe zu einem Gelehrten von métier so wenig Geschick als möglich. Ich will nicht bloß denken ich will handeln. […] Ich habe nur eine Leidenschaft, nur ein Bedürfnis […]: außer mir zu würken.“1 Gemäß dieser Maxime war Fichte ein streitbarer politischer Professor, der nicht nur in verschiedenen Logen (bis zu seinem Bruch mit den Freimaurern 1800), sondern auch in der medialen Öffentlichkeit immer wieder vehement Stellung bezog. Damit riskierte er auch seine berufliche Position, war aber auch ein Held des damaligen liberal-nationalistischen Bildungsbürgertums – weit über seinen Tod hinaus.2 So endete sein erfolgreiches Wirken in Jena 1799 wegen atheistischer Publikationen. Als er deshalb 1798 verklagt wurde, witterte er politische Ränke, reagierte mit öffentlichen Rechtfertigungsschriften und drohte Jena zu verlassen, falls er nicht freigesprochen werde. Als er einen Verweis erhielt, gab er seine Professur auf und blieb ohne feste Stellung, bis ihn 1805 die (damals preußische) Universität Erlangen berief.

Johann Gottlieb Fichte  157

Fichte vertrat zeitlebens sozialistische Ideen. Er war zunächst ein begeisterter Anhänger der Französischen Revolution. Seit 1800 wurde jedoch Napoleon, dem er den Verrat der Ideen von 1789 vorwarf, zum Feindbild, und Fichte entwickelte nationalistische Vorstellungen. Seit 1806 wollte er sich aktiv an den Kriegen gegen Napoleon beteiligen – notfalls als Feldgeistlicher, staffierte sich militärisch aus, politisierte seine akademische Lehrtätigkeit und hielt nationalistische Reden auch außerhalb der Universität. Nach der Niederlage Preußens ging er von Erlangen zunächst nach Berlin, folgte dann dem königlichen Hof nach Königsberg, wo er 1806 lehrte, und schließlich nach Memel. Über Kopenhagen kehrte er im August 1807 nach Berlin zurück, wo er für das erste Reformministerium des Freiherrn vom Stein ein Konzept für eine Neuausrichtung der Universität schrieb, das an Pestalozzis Vorstellungen über Nationalerziehung anknüpfte (die spätere Humboldtsche Universitätsreform ging in eine andere Richtung). Im Winter 1807/8 hielt Fichte 14 öffentliche Vorlesungen, jeweils sonntagnachmittags in der Berliner Akademie der Wissenschaften – die berühmten, bereits 1808 gedruckten „Reden an die deutsche Nation“. 1810 berief Humboldt Fichte als Dekan der philosophischen Fakultät an die reorganisierte Berliner Universität. 1811 wählten ihn die Kollegen gar zum ersten Rektor. Aber bald trat er im Streit um die seiner Ansicht nach zu harte Bestrafung eines jüdischen Studenten (Causa Joseph Brogi) zurück. 1813, in der Endphase der napoleonischen Kriege, rief er seine Studenten vom Katheder zum freiwilligen Militärdienst auf und hielt seine Vorlesungen – da er erneut nicht mit in den Krieg ziehen durfte – in seiner Landsturmuniform. Seine Frau engagierte sich in der Verwundetenpflege und infizierte sich dabei mit Lazarettfieber. Während sie überlebte, starb Fichte, der sich bei seiner Frau angesteckt hatte, am 29. Januar 1814. Zusammen mit dem „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn, →Ernst Moritz Arndt, Friedrich Daniel Schleiermacher und Heinrich Luden gehörte Fichte zu den wichtigsten „Erfindern“ des deutschen Nationalismus unter napoleonischer Herrschaft und in den „Befreiungskriegen“ und zu den Paten der ersten nationalistischen Organisation in „Deutschland“, der Burschenschaft. Ihre Ideen wurden nicht nur in der intellektuellen Elite, sondern auch in Teilen des wachsenden Bürgertums populär. In Reden und Publikationen (von Flugschriften und Artikeln bis zu Gedichten und Liedern) radikalisierten sie den deutschen Nationalismus in Anknüpfung an aufklärerische und romantische Ideen. →Herders Verständnis der Nationen als von Natur aus wesensverschiedene Einheiten, die eine Essenzialisierung politischer Kategorien bedeutete, spitzte Fichte in der aufgeheizten Stimmung während der napoleonischen Kriege zu (insbesondere in der Vierten Rede an die deutsche Nation). Herders Topos von der besonderen Reinheit und Unvermischtheit der Deutschen und ihrer Sprache, für den zwar Tacitus als Beleg angeführt werden konnte, der aber alle Migrationen seit der Antike ignorierte, griff Fichte auf und machte ihn zu einem der wirksamsten Argumente des radikalen Nationalismus. Er charakterisierte die Deutschen in den „Reden an die deutsche Nation“ als „Urvolk“, also als wenig zivilisiert und kaum durch fremde Einflüsse verdorben.3 Diese Behauptung sollte

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die Überlegenheit und besondere Mission der deutschen Nation in Abgrenzung von anderen begründen: „nur der Deutsche – der ursprüngliche und nicht in einer willkürlichen Satzung erstorbene Mensch“, habe „wahrhaft ein Volk“, nur er sei „der eigentlichen […] Liebe zu seiner Nation fähig“.4 Besonders folgenreich und relevant für das Entstehen des völkischen Denkens war Fichtes pathetische Aufladung des Volkbegriffs, insbesondere in der Achten Rede mit dem Titel „Was ein Volk sei, in der höhern Bedeutung des Worts, und was Vaterlandsliebe“, in der auch das letzte Zitat zu finden ist. Die folgenden Zitate sollen dies veranschaulichen, und zwar auch, dass die komplizierte und diffuse Ausdrucksweise, der sich Fichte hier bediente und dies sich von seinen philosophischen Texten deutlich unterscheidet, die „Reden an die deutsche Nation“ zu einem so oft beschworenen Text wurde, in den sich sehr Unterschiedliches hinein lesen ließ (und lässt). In jener „höhern Bedeutung“ war „Volk“ für Fichte nicht mehr nur das Staatsvolk einer künftigen demokratischen Republik, sondern etwas Substanzielles, „Ewiges“, das den Einzelnen transzendiere und ihn mit seinen Vorfahren verbinde: „das Ganze der in Gesellschaft miteinander fortlebenden, und sich aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesamt unter einem gewissen besondern Gesetze der Entwicklung des Göttlichen aus ihm steht“. Die Substanz, die ein Volk zusammen halte, suchten auch Herder, Jahn und andere Frühnationalisten und bezeichneten sie als „Volkscharakter“, „Volksgeist“ oder „Volksthum“. Fichte knüpfte hier an, wenn er in der Achten Rede fortfuhr: „Jenes Gesetz bestimmt durchaus und vollendet das, was man den Nationalcharakter eines Volks genannt hat; jenes Gesetz der Entwicklung des Ursprünglichen, und Göttlichen.“ Wie ein Priester schloss er im folgenden Satz alle, die „an ein Ursprüngliches und an eine Fortentwicklung desselben gar nicht glauben, sondern bloß an einen ewigen Kreislauf des scheinbaren Lebens, […] im höhern Sinne gar kein Volk sind, und da sie in der Tat eigentlich auch nicht da sind [!], ebensowenig einen Nationalcharakter zu haben vermögen.“ Nachdem so alle, die nicht an den corpus mysticum, an die mystische Substanz des Volkes glauben, „kein Volk“ sind und, wie der kryptische Nebensatz behauptet, „eigentlich“ gar nicht existieren, ist die Folgerung, „Volk“ und „Vaterland“ als etwas „irdisch Ewiges“ über die Vergänglichkeit politischer Ordnungen und Institutionen zu heben, konsequent: „Volk und Vaterland in dieser Bedeutung, als Träger und Unterpfand der irdischen Ewigkeit, und als dasjenige, was hienieden ewig sein kann, liegt weit hinaus über den Staat, im gewöhnlichen Sinne des Wortes, – und über die gesellschaftliche Ordnung.“5 Diese substanzialistische (beziehungsweise essenzialistische) Definition und Abgrenzung von Völkern, die, anders als in der französischen und amerikanischen Revolution, sich nicht über historische oder politische Kategorien wie territoriale Grenzen, Staatsbürgerschaft, politische Werte und Verfassung konstituierte, führte zu ethnischer Exklusion und zu einer negativen Bewertung der Völkermischung. Die Angst vor der Mischung betraf vornehmlich romanische („römische“/„welsche“)

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Einflüsse – also die humanistische Bildung und ihren Kult der Antike, Frankreich, den Katholizismus. Einflüsse aus dem „germanischen“ Norden und Westen Europas (Großbritannien, Niederlande, Skandinavien) begriff Fichte hingegen als befruchtend und bereichernd. Und so ist es wohl kein Zufall, dass sich bei Fichte auch ein früher Nachweis findet, der das ursprünglich pejorative Wort „völkisch“ aufwertet. Unter Verweis auf die Etymologie, die das Wort „deutsch“ auf althochdeutsch „diutisc“ zurückführt, was „zum Volk gehörig“ bedeutet, meinte Fichte 1811 in einem Text aus dem Umfeld der Burschenschaftsgründung, den sein Sohn überliefert hat: „‚Deutsch‘ heißt schon der Wortbedeutung nach ‚völkisch‘, als ein ursprüngliches und selbstständiges, nicht als zu einem Andern gehöriges, und Nachbild eines Andern. Der eigene und selbständige Grundmensch ist ein ‚Deutscher‘; der als Nachbild eines andern lebendigen Seyns in der Mitwelt oder Vorwelt Gebildete ist ein ‚Fremder‘.“6 Fichte benannte hier erneut, warum die Deutschen allen anderen Völkern überlegen seien: weil sie „ursprünglich“, „selbständig“, also autonom, und absolut eigenständig seien. Dieser radikale Nationalismus war nicht nur mit Xenophobie vermischt, sondern durch die Gleichsetzung von „deutsch“ mit volkstümlich („völkisch“) auch mit demokratischen und sozialistischen Ideen verbunden. In den „Reden an die deutsche Nation“, die den Höhepunkt des Ansehens und öffentlichen Einflusses Fichtes markieren, ist mit keinem Wort von „den“ Juden die Rede7, die viele frühe Nationalisten mit Argwohn, wenn nicht offener Feindschaft betrachteten. Fichte verkehrte zu dieser Zeit im Salon der Rahel Levin, die eine glühende Fichteanerin war wie viele deutsch-jüdische Intellektuelle nach ihr – von Moses Hess und Ferdinand Lassalle bis Hannah Arendt. 1811 trat er als Rektor zurück, weil er einen Medizinstudenten gegen antijüdische Ressentiments verteidigte.8 Er war außerdem ein Verehrer des Aufklärers Salomon Maimon, und nach einem Besuch bei Dorothea Veit, der Tochter Moses Mendelssohns, schrieb er seiner Frau am 20. August 1799: „Das Lob einer Jüdin mag aus meinem Mund besonders klingen. Aber diese Frau hat mir den Glauben, daß aus dieser Nation nichts Gutes kommen könne, benommen [sic].“9 Fichte wollte damit die hochgradige Judenfeindschaft widerrufen, die er in dem 1791/92 – also noch vor den „terreurs“ – geschriebenen, 1793 publizierten „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution“ vertreten hatte, die bis heute zitiert wird – in der Regel allerdings stark verkürzt. Hier sei sie ohne Kürzungen abgedruckt, da die verklausulierte Sprache Ausdruck innerer Konflikte und Ambivalenzen ist: „Fast durch alle Länder von Europa verbreitet sich ein mächtiger, feindselig gesinnter Staat, der mit allen übrigen im beständigen Kriege steht, und der in manchen fürchterlich schwer auf die Bürger drückt; es ist das Judenthum. Ich glaube nicht, und ich hoffe es in der Folge darzuthun, dass dasselbe dadurch, dass es einen abgesonderten und so fest verketteten Staat bildet, sondern dadurch, dass dieser Staat auf den Hass des ganzen menschlichen Geschlechtes aufgebaut ist, so fürchterlich werde. Von einem Volke, dessen Geringster seine Ahnen höher hinaufführt als wir Anderen alle unsere Geschichte, und

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in einem Emir, der älter ist als sie, seinen Stammvater sieht [gemeint ist Abraham, C.J.] – eine Sage, die wir selbst unter unsere Glaubensartikel aufgenommen haben; das in allen Völkern die Nachkommen derer erblickt, welche sie aus ihrem schwärmerisch geliebten Vaterlande vertrieben haben; das sich zu dem den Körper erschlaffenden, und den Geist für jedes edle Gefühl tödtenden Kleinhandel verdammt hat, und verdammt wird; das durch das bindendste, was die Menschheit hat, durch seine Religion, von unseren Mahlen von unserem Freudenbecher, und von dem süssen Tausche des Frohsinns mit uns von Herz zu Herzen ausgeschlossen ist; das bis in seinen Pflichten und Rechten, und bis in der Seele des Allvaters uns andere alle von sich absondert, – von so einem Volke sollte sich etwas anderes erwarten lassen, als was wir sehen, dass in einem Staate, wo der unumschränkte König mir meine väterliche Hütte nicht nehmen darf und wo ich gegen den allmächtigen Minister mein Recht erhalte, der erste Jude, dem es gefällt, mich ungestraft ausplündert. Dies alles seht ihr mit an, und könnt es nicht läugnen, und redet zuckersüsse Worte von Toleranz und Menschenrechten und Bürgerrechten, indess ihr in uns die ersten Menschenrechte kränkt; könnet eurer liebevollen Duldung gegen diejenigen, die nicht an Jesum Christum glauben, durch alle Titel, Würden und Ehrenstellen, die ihr ihnen gebt, kein Genüge thun, indess ihr diejenigen, die nur nicht eben so, wie ihr, an ihn glauben, öffentlich schimpft, und ihnen bürgerliche Ehre und mit Würde verdientes Brot nehmt. Erinnert ihr euch denn hier nicht des Staates im Staate? Fällt euch denn hier nicht der begreifliche Gedanke ein, dass die Juden, welche ohne euch Bürger eines Staates sind, der fester und gewaltiger ist als die eurigen alle, wenn ihr ihnen auch noch das Bürgerrecht in euren Staaten gebt, eure übrigen Bürger völlig unter die Füsse treten werden?“ Und hierzu steht in einer Fußnote unter anderem noch: „Ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sey. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie alle dahin zu schicken.“10 Aus dem weiteren Text geht hervor, dass Fichte vor dem Hintergrund eines republikanischen Staatsverständnisses eine große Gefahr in jeder Art von „Staat im Staate“ sah. Er nannte dafür zwei weitere Beispiele: das Militär und den Adel. Wie viele Frühnationalisten konnte Fichte sich nur einen sozial, kulturell und religiös homogenen Nationalstaat vorstellen (ähnlich wie heute viele Gegner des Multikulturalismus). Zwischen den Bürgern und dem Staat sollen in diesen jakobinisch-egalitären Vorstellungen keine Körperschaften stehen, die nur einen Teil der Bürger an sich binden, etwa Religionsgemeinschaften, Stände (Adel, Militär), Zünfte, Bindungen an andere Nationen. Die übrigen Tiraden und Verschwörungstheorien in den verworrenen Ausführungen Fichtes sind nicht leicht zu interpretieren: Sie erscheinen als Ausdruck eines Minderwertigkeitskomplexes wegen der älteren Abstammung und längeren religiösen Tradition der Juden im Vergleich zu den Christen. Große Aggressivität steckt in der Metapher, mit der Fichte sarkastisch die einzige

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Möglichkeit zur Veredelung der Juden umschreibt und die an das Propfen von Bäumen erinnert. Da diese drastische Lösung nicht durchführbar war, blieb für Fichte nur die Vertreibung aller Juden in „ihr gelobtes Land“. Diese Alternative weist ebenso wie die botanische Metaphorik darauf hin, dass die Juden für ihn ein Volk waren. „Juden“ waren für Fichte keine Religion, sondern eine Abstammungsgemeinschaft mit vererbten, angeborenen, unverlierbaren Eigenschaften. Jede Assimilation, selbst durch die Taufe, war damit ausgeschlossen. „Juden“ konnten nicht zu Deutschen werden.11 →Saul Ascher, der hellsichtige Kritiker des christlich-deutschen Frühnationalismus, den er als „Germanomanie“ charakterisierte, war der erste, der die Fichte-Äußerung als neue Stufe der Judenfeindschaft öffentlich brandmarkte. Jüngst hat Micha Brumlik in einer akribischen und luziden Untersuchung Fichtes →Antisemitismus analysiert. Obwohl er betont, dass Fichte Juden „im beruflichen Kontext“ stets fair und vorurteilsfrei behandelte, konstatiert Brumlik eine „Kluft zwischen republikanischem Freiheitsdurst, einer strikt menschenrechtlich ausgerichteten praktischen Philosophie und einer kalten Dissimilationspolitik“. Deshalb komme Fichtes Haltung „dem vom jungen Adolf Hitler geforderten ‚Antisemitismus der Vernunft‘ sehr nahe“. Seine detaillierte Beweisführung, die sich nicht in wenigen Sätzen zusammenfassen lässt, gipfelt in der These vom „theoretischen Judenhaß“ Fichtes, hinter dem „eine persönliche Komponente“ stehe: „sein glühender Haß auf die von Mendelssohn, Lessing und vor allem Nicolai geprägte Berliner Aufklärung, die ‚eine Religion in die Menschen hineinraisonniren wollen‘, vor allem aber sein unermüdliches Streben nach einer reinen, absoluten Religion der Vernunft, die von allen historischen Schlacken befreit sein sollte“ und deshalb – in der Tradition einer radikalen Aufklärung – weder einen „Gott der Christen“ noch einen „Gott Abrahams, Isaaks und Jacobs“ akzeptierte. „Mit meinem guten Bewusstsein“, schrieb Fichte 1799 an einen Kollegen, „werde ich in meinem Begriffe von Gott ebensowenig etwas Fichtisches dulden, als etwas Christliches […] noch Jüdisches […].“12 In dieser Hinsicht verfolgte Fichte ganz andere Ziele und bediente sich ganz anderer Denkweisen als die völkisch-nationalistische Mystik, der er in den „Reden an die deutsche Nation“ wichtige Argumente geliefert hat. Folgt man Brumlik, so gehöre Fichte gar zu den Vorläufern der sachlich-technokratischen Organisatoren des Holocaust. Auch wenn es liberale wie völkische Nationalisten und schließlich auch die Nationalsozialisten immer wieder versucht haben: aus Fichtes anspruchsvollem, komplexen, aber auch widersprüchlichen Œuvre lassen sich nur schwer eindeutige politische Botschaften ableiten.

Christian Jansen

1 Fichte an Marie Johanne Rahn, 2. März 1790, zit. nach: Immanuel Hermann Fichte, Johann Gottlieb Fichte’s Leben und litterarischer Briefwechsel, 1. Theil, Sulzbach 1830, S. 74 und 76 (http:// reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10063166_00003.html).

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2 Zu den nationalistischen Fichtefeiern zum 100. Geburtstag 1862 vgl. Christian Jansen, Einheit, Macht und Freiheit. Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche (1849–1867), Düsseldorf 20052, S. 383f.; Klaus-Christian Köhnke Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Frankfurt a.M. 1993, S. 186ff. Sowohl im Nationalsozialismus als auch in der DDR gab es eine intensive Rezeption des politischen Fichte – mit unterschiedlichen Vorzeichen. 3 Der Historiker Heinrich Luden etwa unterschied in Anlehnung an Fichte die Deutschen als „Urvolk“ von den Franzosen als „Mangvolk“ – da durch Völkermischung, die negativ konnotiert war, entstanden (zitiert nach Paul Kluckhohn, Die Idee des Volkes im Schrifttum der deutschen Bewegung von Möser und Herder bis Grimm, Berlin 1934, S. 174). Drastischer formulierte es Arndt: „Die Deutschen sind nicht durch fremde Völker verbastardet, sie sind keine Mischlinge geworden, sie sind mehr als viele andere Völker in ihrer angeborenen Reinheit geblieben […]; die glücklichen Deutschen sind ein ursprüngliches Volk“ (zitiert nach ebd., S. 136). Die Fichtesche Formel von der besonderen Natürlichkeit der Deutschen übernahm auch Friedrich Schlegel, Geschichte der alten und neuen Literatur, Bd. II (1815), 250f., und Jacob Grimm, Aufforderung an die gesamten Freunde deutscher Poesie und Geschichte (1811), zit. nach: Kluckhohn, S. 60, 137 und 192ff. 4 Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, Berlin 1808.(http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/fichte_reden_1808; 14.01.2017), S. 244. 5 Ebd., S. 251–253 und 257. 6 Zitiert nach Fichte, Johann Gottlieb Fichte’s Leben, Zweiter Theil. Leipzig 1862 (http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10045734_00007.html; 14.01.2017), S. 147 (hervorgehobene Stellen im Original gesperrt). 7 Vgl. allerdings die ausführliche Auseinandersetzung mit Hesekiel am Ende der dritten Rede. 8 Hans Günther Reissner, Eduard Gans. Ein Leben im Vormärz, Tübingen 1965, S. 30f. Vgl. allgemein zu Fichtes Verhältnis zu Juden und zum Judentum: Hans-Joachim Becker: Fichtes Idee der Nation und das Judentum, Amsterdam 2000. 9 Zitiert nach: Fichte, Johann Gottlieb Fichte’s Leben, S. 389. 10 Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, Bd. 6, Berlin 1845/1846 (http://www.zeno.org/nid/ 2000916720X; 14.01.2017), S. 148f. Vgl. auch die kommentierte Edition Johann Gottlieb Fichte, Schriften zur Revolution, hg. und eingeleitet von Bernard Willms, Frankfurt a.M. 1976. 11 Vgl. auch Jacob Katz, Frühantisemitismus in Deutschland, in: ders., Zwischen Messianismus und Zionismus. Zur jüdischen Sozialgeschichte, Frankfurt a.M. 1993, S. 135–149. 12 Vgl. Saul Ascher, Eisenmenger der Zweite. Nebst einem vorangesetzten Sendschreiben an den Herrn Professor Fichte in Jena, Berlin 1794; Micha Brumlik: Deutscher Geist und Judenhass. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum, München 2000, S. 75–131, 76 und 130f.

_____________________________________________________________________Gottfried Fittbogen  163

Gottfried Fittbogen Gottfried Fittbogen wurde am 20. Januar 1878 in Ahrenshagen/Pommern als Sohn des protestantischen Pfarrers Otto Fittbogen geboren. Nach dessen Übernahme der Oberpfarrerstelle 1883 in Bernau besuchte Gottfried Fittbogen die dortige Volksschule, danach das Joachimthalsche Gymnasium in Berlin, das er an Ostern 1896 mit dem Abitur abschloss. Anschließend belegte er an den Universitäten Berlin, Bonn und wieder Berlin Theologie und Deutsche Philologie. Von 1902 bis 1904 studierte er im Kandidatenkonvikt (Fachlehrerseminar) am Kloster Unserer Lieben Frauen zu Magdeburg und bestand im November 1905 das Oberlehrerexamen. Nach Aushilfstätigkeiten an vier Berliner Gymnasien war er von Oktober 1907 bis Oktober 1911 als Oberlehrer (heute: Studienrat) an der Oberrealschule in Rixdorf (1912 in Neukölln umbenannt) tätig. Da ihm die Zeit zur Publikationstätigkeit fehlte, gab er die Stelle auf, um sich als freier Schriftsteller und Privatgelehrter wissenschaftlich mit theologischen, pädagogischen, philologischen und „auslanddeutschen“ Themen zu befassen. Seinen Militärdienst hatte Fittbogen bis zum Ersten Weltkrieg nicht abgeleistet. Am Krieg nahm er vom Februar 1916 bis Kriegsende als Armierungssoldat (nicht an vorderster Front) teil. Gleichwohl wurde ihm das Eiserne Kreuz verliehen.1 Noch als Lehrer hatte er zu philosophisch-philologischen Fragen publiziert. In diesem Kontext trat er 1912 mit einer Schrift als Vertreter des Neuprotestantismus hervor. 1915 promovierte er an der Universität Halle-Wittenberg mit der Arbeit „Die Religion Lessings“, die er 1923 wesentlich erweitert publizierte.2 Seine hauptsächliche und lebenslange Publikationstätigkeit befasste sich vor allem mit dem „Auslanddeutschtum“. Auslöser für dieses Interesse war eine Reise in den Sommerferien 1910 nach Siebenbürgen und ins Banat. Da sich vor dem Ersten Weltkrieg nur einige bildungsbürgerliche Gruppen mit den „Auslanddeutschen“ befassten, erkannte er als Pädagoge die Bedeutung der Schulen für die Propaganda. Größere Vorträge hielt er am 30. Mai 1912 in Berlin-Steglitz auf der Jahresversammlung des Berlin-Brandenburger Philologenvereins („Das Deutschtum im Ausland in unseren Schulen“)3 und am 7. April 1914 auf dem VI. Oberlehrertag in München („Das Deutschtum im Auslande im Unterricht der höheren Schulen“). In Letzterem betonte er die Beschäftigung mit den „Auslanddeutschen“ in den Fächern Geschichte und Erdkunde, die Beachtung derselben bei Schulfesten und der Literatur der Schülerbibliothek, auch rief er zur Gründung von Schulgruppen und Reisen zu den „Auslanddeutschen“ auf. Vor allem aber sollten Schulbuchautoren entsprechend instruiert werden.4 Während des Ersten Weltkriegs schrieb er zahlreiche Beiträge über einzelne „auslanddeutsche“ Minderheiten und Themen. Auch seine Vorschläge für den schulischen Unterricht über die „Auslanddeutschen“ weitete er aus. Als nach dem Sturz der Monarchie neue Lehrpläne und Schulbücher aufgelegt wurden, trat der Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) für eine stärkere Beachtung des „Auslanddeutschtums“ ein. Dabei fiel Fittbogen die „Hauptarbeit“ im

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VDA zu. Nach einem Vortrag am 2. Mai 1921 in der Hauptgeschäftsstelle des VDA vor einigen Fachleuten verfasste er für das VDA-Jahrbuch 1922 die „Richtlinien“ zur Behandlung des „Auslanddeutschtums“, die eine Fortschreibung des Textes von 1913 darstellten. Als Sonderdruck wurden sie an die obersten Schulbehörden der deutschen Länder, über die Verleger an die Verfasser und Herausgeber von Schulbüchern sowie an die verschiedenen Organisationen der Lehrerschaft versandt. Die Vorschläge wurden in Preußen im Oktober 1922 an den Volksschulen, 1924 an den Mittelschulen und 1925 an den höheren Schulen umgesetzt. Die Schulen der anderen Länder folgten, auch die Danzigs und Österreichs.5 Um Autoren, Verlage, Pädagogen und andere Interessierte auf Literatur zum „Auslanddeutschtum“ hinzuweisen, legte er in zwei Auflagen eine kommentierte Literaturübersicht vor.6 Bald schob er eine weit informativere Publikation nach: „Was jeder Deutsche vom Grenz- und Auslanddeutschtum wissen muß“, die im Auftrag des VDA erschien und von ihm als „Katechismus des Auslanddeutschtums“7 tituliert wurde. Der Band wurde zwischen 1924 und 1938 im Münchner Oldenbourg-Verlag in jeweils vermehrter und überarbeiteter Form neunmal aufgelegt, allein bis 1929 sechsmal. Das Werk war explizit für den Unterricht an höheren Schulen und Universitäten vorgesehen. Wegen dieser Literatur, ca. 80 Zeitschriftenartikeln (Deutsche Rundschau, Grenzboten, Preußische Jahrbücher, →Nation und Staat, →Südostforschungen, Organe des VDA und DAI, germanistische Periodika, bearbeitete er die Sparte „Auslanddeutschtum“ in den Jahresberichten für neue deutsche Literaturgeschichte) und Rezensionen war er ein gefragter Autor. Auch verfasste er Monographien, so etwa für das Reichsministerium für die besetzten Gebiete eine Schrift zum Schulrecht in Eupen-Malmedy. Als freier Schriftsteller war er disponibel, so dass er mehrmals dafür Eupen-Malmedy und dortige „auslanddeutsche“ Kreise besuchen konnte. Die Schrift wurde über die Rheinische Volkspflege und die Vereinigten Landsmannschaften Eupen-Malmedy-Monschau in Belgien an zuverlässige einschlägige Kreise unentgeltlich verteilt, und schon bald konnte als „Erfolg“ verzeichnet werden, dass in Eupen „der französische Schulunterricht vom fünften bis achten Schuljahr auf wöchentlich fünf Stunden herabgesetzt“ wurde.8 Des Weiteren arbeitete Fittbogen auch am →Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums mit. Programmatische Aussagen entwickelte Fittbogen schon im Ersten Weltkrieg. Das „Auslanddeutschtum“ sollte in einer Kombination aus „gesamthistorischer und monographischer Methode“ „möglichst konkret erforscht und dann auf seine Bedeutung innerhalb des fremdstaatlichen Haushaltes zurückgeführt“ werden. Studien sollten möglichst objektiv in dem betreffenden Land durchgeführt werden, wobei er der Erforschung der Geschichte der jeweiligen deutschen Minderheit eine wichtige Funktion zuwies. Ziel sei die Ausbildung eines Gemeinschaftsbewusstseins aller Deutschen auf der Erde.9 Fittbogen hatte schon 1929 (6. Aufl.) in seinem Handbuch auf Seite 3 den Leitbegriff „Volkstumskunde“ erwähnt, ihn aber erst 1933 umfangreicher ausgeführt. Er sah darin eine wissenschaftliche Sonderdisziplin, deren

Gottfried Fittbogen  165

dringlichster Teil die „Kunde vom Auslanddeutschtum“ sei. Diese gliedere sich in die „wissenschaftliche Volkstumskunde“ und die „praktische Volkstumsarbeit“. Die Volkstumskunde umfasste für ihn „das Gesamtleben der einzelnen Volksgruppen“ mit ihren kollektiven und individuellen geistigen Leistungen, Lebensverhältnissen, ihrer Geschichte und Gruppenart. Die unter fremder Herrschaft lebenden „Auslanddeutschen“ seien trotz unterschiedlicher Erscheinungsformen überall dem „feindliche[n] Prinzip“ ausgesetzt. Daher seien alle diese Volksteile unter demselben Gesichtspunkt zu betrachten und einheitlich zu behandeln. Mit der „Kunde vom Auslanddeutschtum“ als eigene Disziplin grenzte er sich von der Statistik, Geographie, Geschichte, und besonders von der Sprach-, Literaturwissenschaft und →Volkskunde ab, was von dem Geographen Carl Uhlig, dem Statistiker →Wilhelm Winkler und Hermann Rüdiger, dem Schriftleiter der Zeitschrift Auslanddeutsche/Deutschtum im Ausland, beanstandet wurde.10 Auch Fittbogens Handbuch war vielfacher Kritik ausgesetzt. Der Verband Österreich monierte auf der VDA-Hauptversammlung im Juni 1924 scharf die Passage, dass Deutsch-Österreich national „so gut wie ganz einheitlich“ sei, und dass ihm „die wenigen Nichtdeutschen […] keine Gefahr für sein Volkstum“ bedeuteten. Rüdiger rügte, dass Fittbogen die deutschen Gewerbe- und Handelskolonien mangels Bodenständigkeit nicht dem „Auslanddeutschtum“ zurechne. Allgemein wurde jedoch das Handbuch recht positiv aufgenommen, was auch bis in die frühe NS-Zeit so blieb. Zur 8. Auflage (1937) forderte Rüdiger eine „Überarbeitung“, weil die NSDAP-AO-konforme Diktion von „auslandsdeutsch“ sowie eine volksbiologische Darstellung der Volksgruppen fehlten. Außerdem sollte zu den Streitigkeiten innerhalb der Volksgruppen Position bezogen werden.11 Bei der 9. Auflage (1938) griff die NS-Zensur massiv ein. Ralf Brockhausen, der Leiter des Hauptamts im Stab des Stellvertreters des Führers, forderte die Verwendung der neuen Terminologie („auslanddeutsch“, „volksdeutsch“), auch sollte es statt der „abgetretenen Gebiete“ „abgetrennte Gebiete“ heißen, ebenso „Diktat“ statt „Vertrag von Versailles“. Weiter wurde eine schärfere Ausdrucksweise, eine günstigere Darstellung deutscher Minderheiten (auch zahlenmäßig), keine Verwendung polnischer Volkszählungsdaten und vor allem die Tilgung des Abschnitts zu Südtirol verlangt.12 Nach seiner Romreise Anfang Mai 1938 hatte Hitler jegliches Aufgreifen der Südtiroler Frage in irgendeiner Form untersagt. Verbunden damit hatte Außenamtsstaatssekretär Ernst von Weizsäcker den italienischen Botschafter Anfang Juni 1938 vom bevorstehenden Verbot von Fittbogens Handbuch durch das Propagandaministerium informiert.13 Nach einiger Korrespondenz zwischen Fittbogen und Brockhausen sowie einer Besprechung von Verleger Friedrich Oldenbourg und Brockhausen hatte man sich wohl auf eine reduzierte Korrektur geeinigt.14 Die Seiten zu Südtirol fehlten; es klaffte eine erkennbare Lücke, da die Zählung von Seite 99 auf Seite 110 sprang, und auf Seite 280 war ein Nachtrag eingebunden, der auf die geänderte Terminologie und einige andere Änderungen hinwies.

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Zu Fittbogens letzter größerer Veröffentlichung hieß es Mitte 1939 seitens der NS-Zensur, dass er „gegebenenfalls von einem großen Verlage als Herausgeber für ein geschichtliches Handbuch vorgesehen“ 15 sei; dessen Titel konnte jedoch nicht verifiziert werden. Eine NSDAP-Mitgliedschaft („Pg.“) wird in einer Verteilerliste des Amtes für Schulungsbriefe erwähnt; sie konnte aber nicht in den Mitgliederkarteien im Bundesarchiv nachgewiesen werden.16 Fittbogen war Mitglied in folgenden Organisationen: VDA (zudem für 4 Jahre ab 1925 im Hauptausschuss), Berlin, Beitrittsjahr unbekannt, Kant-Gesellschaft, Halle, ab 1906, Gesellschaft für deutsche Literatur, Berlin, ab 1919, Goethe-Gesellschaft, Weimar, ab 1907/08.17 Zur Wertung Fittbogens in der späteren NS-Zeit ist Rüdigers Nachruf anzuführen: Er habe „wertvolle Pionierarbeit“ geleistet, jedoch sei mit der Schöpfung des Großdeutschen Reiches und der Neuordnung des deutschen Volksraumes im Osten sein „wissenschaftliches und literarisches Hauptwerk überholt“. „Im ganzen blieb er historisch und, der Art der damaligen Volkstumsarbeit entsprechend, ‚kulturell‘ eingestellt. Das Gegenwartspolitische lag ihm weniger […]. Noch weniger erkannte er die grundlegende Bedeutung des Volksbiologischen für die Erhaltung des Volkstums.“18 Der unverheiratete Fittbogen lebte zurückgezogen und starb nach kurzer Krankheit am 22. September 1941 in Berlin. Seinen Nachlass übernahm das Institut für Grenz- und Auslandstudien in Berlin-Steglitz.19

Hans-Werner Retterath

1 Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, Berlin, Personaldaten von Lehrern und Lehrerinnen Preußens, Personalblatt A für Direktoren, wissenschaftliche Lehrer, und Kandidaten des höheren Schulamts, G. Fittbogen. Vgl. Nachrufe von Karl Christian von Loesch in: Ungarische Jahrbücher 22 (1942), S. 311–314, Karl Bierbach in: Südostforschungen 7 (1942), S. 668f., und Hermann Rüdiger in: Deutschtum im Ausland 24 (1941), S. 189f. 2 Neuprotestantischer Glaube. Zur Überwindung der religiösen Krisis, Berlin-Schöneberg 1912. Die Religion Lessings, Teildruck, Diss. Halle-Wittenberg 1915, erweitert Leipzig 1923. 3 Das Deutschtum im Ausland in unseren Schulen, Berlin 1913. 4 Vgl. [Bernhard] Gaster, Der VI. deutsche Oberlehrertag in München 1914, in: Die Deutsche Schule im Auslande 13 (1914), S. 195–205, 198–200. 5 Gottfried Fittbogen, Das Auslanddeutschtum in der Schule, in: VDA-Jahrbuch für 1922. Berlin 1921, S. 215–226; Verein für das Deutschtum im Ausland, Jahresbericht 1927, S. 54f. 6 Wie lerne ich die Grenz- und Auslanddeutschen kennen? Einführung in die Literatur über die Grenz- und Auslanddeutschen, München, Berlin 1923 (15 S.), und 1927 (82 S.). 7 Rundbrief 5 (1929), S. 104. Als Beleg für den Bekanntheitsgrad des Werkes vgl. das Gedicht „Mit dem Fitt dem Bogen“ von R. S. in: Die Burse 2 (1930) 3, S. 44. 8 Das Schulrecht in Eupen-Malmedy, Berlin 1930; BArch, R 1603, 2665, Rühlmann an den Reichsminister für die besetzten Gebiete vom 23.5.1930; vgl. ebd., 2497, zu Fittbogens Reise 1927 dorthin. 9 Wissenschaft im Dienst des Volkstums, in: Preußische Jahrbücher 173 (1918), S. 217–223, 218. 10 Die wissenschaftlichen Aufgaben der Kunde vom Auslanddeutschtum, in: Mitteilungen der Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums/Deutsche Akademie 8 (1933), S. 133–171, 166, 167, 171.

Gottfried Fittbogen  167

11 Was jeder Deutsche vom Grenz- und Auslanddeutschtum wissen muß, 1924, S. 26. Vgl. C[arl] F [riedrich] B[adendieck] in: Deutsche Arbeit 23 (1923/24), S. 168. Hermann Rüdiger in: Der Auslanddeutsche 10 (1927), S. 470; ders. in: Bibliographie des Auslandsdeutschtums 1 (1937), S. 136, Nr. 639, Beilage zu Der Auslanddeutsche 20 (1937) 9. 12 BArch NS 6/173, Brockhausen an Fittbogen vom 22.6.1938. 13 ADAP 1918–1945, D 1, 1937–1941, Dok. 767, S. 905f., Sitzung vom 19.5.1938; PA, R 103305, Weizsäcker an Unterstaatssekretär Aschmann vom 2.6.1938. 14 BArch, NS 6, 173, Verlag Oldenbourg an Volksdeutsche Mittelstelle vom 8. 2. 1939. Der neue Band erschien de facto erst Anfang 1939. 15 BArch, NS 15, 158a, Nr. 106, Hauptstelle Kulturpolitisches Archiv beim Beauftragten des Führers an Amt Wissenschaft vom 5.7.1939. 16 Woweries, Amt für Schulungsbriefe im Hauptschulungsamt der Reichsorganisationsleitung der NSDAP vom 22.2.1938, Verteilerliste, in: Hans-Adolf Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik 1933–1938, Frankfurt a.M. u.a. 1968, Übersicht Nr. 38, S. 697–700, 698. 17 VDA Jahresbericht für 1927, S. 54; Kant-Studien 12 (1907), S. 153; Hans-Harald Müller u.a., Wissenschaft ohne Universität. Forschung ohne Staat. Die Berliner Gesellschaft für deutsche Literatur (1888–1938), Berlin 2011, S. 418; 23. Jahresbericht der Goethe-Gesellschaft, in: Goethe-Jahrbuch 29 (1908), S. 45. 18 Deutschtum im Ausland, 24 (1941), S. 189f. 19 Loesch, in: Ungarische Jahrbücher 22 (1942), S. 314.

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Kurt Forstreuter Kurt Forstreuter wurde am 8. Februar 1897 in Weedern (Suworowka, Kaliningrad Oblast) geboren. Sein Vater war Arzt, die Familie besaß zudem ein Gut, das Forstreuters Schwester Ida mit ihrem Mann übernahm. Forstreuter machte 1916 das Abitur am Realgymnasium in Tilsit, im selben Jahr fielen sein Vater und sein Bruder im Ersten Weltkrieg, und er selbst wurde zur Armee eingezogen und kämpfte bis zum Kriegsende in Mazedonien. Die politische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Grenzen Ostpreußens, angeregt durch die kurzfristige Besatzung der Region Tilsit durch die sowjetische Armee im August 1914 und vor allem die Annektierung des Memellands durch Litauen, prägten seine Tätigkeit bis ans Ende seines Lebens. Forstreuter blieb lebenslang unverheiratet und hatte keine Kinder.1 Nach seiner Rückkehr nach Ostpreußen studierte er Germanistik und Slawische Philologie in Königsberg, ab 1920 in Berlin, wo er 1924 mit einer Arbeit über „Die deutsche Ich-Erzählung“ bei Julius Petersen promovierte. Nach einer erfolglosen Bewerbung für die Bibliothekslaufbahn wurde Forstreuter in die Ausbildung des Instituts für Archivkunde in Berlin aufgenommen, er bezeichnete den Leiter der Preußischen Archivverwaltung Paul Fridolin Kehr als seinen Mentor. Direkt nach Abschluss der Ausbildung kehrte er nach Königsberg zurück und trat in die Beamtenlaufbahn am dortigen Staatsarchiv ein. 1928 wurde er Assessor, 1931 Staatsarchivrat, und partizipierte regelmäßig an den wissenschaftlichen Aktivitäten des Archivs sowie der von dessen Direktor Max Hein geleiteten Historischen Kommission für ostund westpreußische Landesforschung (HIKO), in die Forstreuter 1927 aufgenommen worden war. Er publizierte in den Mitteilungen der HIKO, dem wissenschaftlichen Journal des Archivs selbst, den „Altpreußischen Forschungen“, diversen Zeitschriften zur slawischen Philologie, und er verfasste auch Auftragsarbeiten zur Lokalgeschichte wie die Firmengeschichte des Verlags Gräfe und Unzer. Forstreuter etablierte sich zunehmend als ostpreußischer Lokalhistoriker, vor allem als Experte für das mittelalterliche Deutschordensland Preußen und dessen Auseinandersetzung mit den slawischen Nachbarn. Ein erster erkennbarer Schwerpunkt sind die Forschungen zur Christianisierung des litauischen Fürsten Gedimin, in der Forstreuter 1928 eine bis heute anerkannte und zitierte Beurteilung der Echtheit seiner Briefe veröffentlichte und die er noch 1955 weiterverfolgte.2 Wie viele der Königsberger Archivare trat Forstreuter nie in die NSDAP ein – laut biographischer Aufzeichnungen in seinen letzten Lebensjahren war dies möglich, da er bereits vor 1933 eine feste Stelle hatte, so dass es ihm im Gegensatz zu einigen seiner jüngeren Kollegen erspart geblieben sei, zwangsweise in die Partei einzutreten. 1931 kontaktierte Forstreuter die →Publikationsstelle (PuSte) Dahlem in Person →Albert Brackmanns, übersandte ihm eine kleine Schrift über „Die Memel als Handelsstraße“ und erwähnte die Notwendigkeit, wissenschaftlich gegen „litauische Ansprüche“ vorzugehen. Forstreuter schlug zwei Forschungsvorhaben dazu vor,

Kurt Forstreuter  169

nämlich Kirchen- und Schulpolitik in Ostpreußen während des 16. Jahrhunderts und „Deutsche Kulturpolitik im sogenannten Preußisch Litauen“. Letzteres wurde in die Publikationspläne der PuSte aufgenommen, statt eines Stipendiums für Forstreuter wurde auf seinen Wunsch hin die Übernahme der Druckkosten vereinbart. Die Besiedlung des nordöstlichen Teils des Memellandes durch baltische und litauische Bevölkerungsgruppen im 15. Jahrhundert und deren Verhältnis zum Deutschen Orden und der deutschstämmigen Bevölkerung war ein politisch brisantes Thema, dem sich parallel auch die Geographen Hans und Gertrud Mortensen widmeten. Forstreuter argumentierte, dass die bis in die Gegenwart dort siedelnden „Lietuvininkai“ zwar ihre ethnische und sprachliche Identität als Litauer beibehalten, aufgrund ihrer langen Existenz auf deutschem Staatsgebiet dennoch an die deutsche Nation gebunden seien. Einen Nachweis aggressiver Strategien zur Verdrängung der litauischen Kultur konnte und wollte er nicht führen, stattdessen vertrat er die Auffassung, der litauische „Kultureinbruch“ sei aufgrund des letztendlich doch stärkeren Deutschtums wieder zurückgedrängt worden. Forstreuter arbeitete in den Jahren 1932–1936 intensiv an dieser Studie und war in regelmäßigem Austausch mit der PuSte Dahlem. Noch 1943 wurde der Titel der Studie in den Forschungsvorhaben sowohl der PuSte als auch des Staatsarchivs Königsberg geführt, jedoch nie abgeschlossen, Forstreuter nannte das Manuskript später einen schmerzlichen Kriegsverlust. Kleinere Teilstudien zur litauischen Frage erschienen in den Zeitschriften Jomsburg, in den Deutschen Heften zur Volks- und Kulturbodenforschung und in den erwähnten Zeitschriften der preußischen Regionalgeschichte. Für diese rezensierte er auch regelmäßig polnische Forschungen zur Landesgeschichte. Die Studie zu Preußisch Litauen ist typisch für Forstreuters Kontakt zu den Institutionen der →Ostforschung: seine Tätigkeit am Staatsarchiv und die Arbeit ausgehend von den dortigen Quellen blieben zentraler Angelpunkt seiner Forschung, während er zu diversen Publikationen, Konferenzen und Übersetzungen der Ostforschung beitrug, jedoch ohne sich an eine bestimmte Institution näher anzubinden. Seine Forschungsthemen stammten meist direkt aus der Arbeit an den Quellen, dienten aber im Kontext des Programms der Ostforschung als Beweisführungen für die Existenz deutschen „Kulturbodens“ im deutsch-polnisch-litauischen Grenzgebiet. Typisch hierfür ist auch seine Studie über die „politische Korrespondenz des Deutschen Ordens im 15. Jahrhundert“, die aus seiner Bearbeitung des Preußischen Urkundenbuchs ebenso wie aus dem Ostprogramm der Archivverwaltung heraus sinnvoll erschien, da es um eine Phase der Zusammengehörigkeit Preußens mit dem Reich unter Kaiser Sigismund sowie um den kontinuierlichen Kampf gegen die polnisch-litauische Union ging. Wie die meisten Archivare verbrachte Forstreuter im archivischen Alltag in den Jahren 1933 bis 1939 viel Zeit mit der Erstellung sogenannter Ariernachweise sowie der Dokumentation jüdischer und polnischer Benutzungsanträge im Archiv – Beweise der umfassenden Implementierung nationalsozialistischer Ideologie in der Ar-

170  Biographien

chivverwaltung.3 Zudem wurde er einer Expertenkommission zugeteilt, die seit 1937 im gesamten Ostpreußen Orts- und Flurnamen germanisieren sollte. Er drückte in biographischen Aufzeichnungen kurz vor seinem Tod seinen Widerwillen gegen diese Aufgabe aus, die er als historisch falsch und unwissenschaftlich wahrnahm.4 1937 veröffentlichte Forstreuter die bis dato einzige Studie über Juden im Deutschordensland Preußen, in der er eine aktive „Bollwerk“-Politik des Ordens gegen Juden und Slawen annahm und damit ein bis heute bestehendes Paradigma begründete.5 Tatsächlich sind die Quellen hierzu höchst widersprüchlich. Mit dem Überfall auf Polen wurde Forstreuter als einer der erfahrensten Königsberger Archivare, der zudem Polnisch, Russisch und ein wenig Litauisch sprach, eine zentrale Figur für die Auffindung, Bewertung und schließlich Plünderung der Archive in den neu gegründeten Bezirken Zichenau und Warthegau, ab 1941 auch in Litauen. Er legte einige seiner wissenschaftlichen Tätigkeiten nieder – beispielsweise übergab er die Schriftleitung der Altpreußischen Forschungen an →Theodor Schieder – und übernahm zahlreiche Dienstreisen zur Inventarisierung von Archiven. Auch partizipierte er in Übernahmevereinbarungen der Archive in Poznań, Warszawa und Gdańsk und überwachte persönlich die Plünderung der Archivalien der Bibliothek des Geistlichen Seminars in Płock.6 In Masowien erstellte er Register über den Zustand und Verbleib der jüdischen Gemeindearchive nach der ersten Welle von Pogromen, immer in enger Abstimmung mit SS, SD und Gestapo. Diese Maßnahmen drückten die Verfügungsmacht der deutschen Besatzer über die Geschichte der jüdischen Bevölkerung in den eroberten Gebieten auch auf Verwaltungsebene aus: was als relevant für „rassengeschichtliche Studien“ oder „polizeiliche Maßnahmen“ erachtet wurde, wurde ins Königsberger Archiv verbracht, der Rest zerstört. Für Białystok empfahl er die Einrichtung einer Außenstelle des Staatsarchivs, anstatt die Bestände nach Königsberg zu verbringen. Im Bezirk Białystok leistete er umfangreiche Vorarbeiten zur Erfassung und Sammlung von personenbezogenen Archivalien aus den jüdischen Gemeinden, welche in eine direkte Zuarbeit für den RSHA-Beauftragten Heinrich Blank mündeten. Forstreuters Forschung erhielt auch in dieser Phase Anregungen aus der Archivarbeit: nach einer Inventarisierung der Archive im annektierten Suwałki-Gebiet (Sudauen) schrieb er über die historische Entwicklung der Grenze zwischen Preußen und Litauen; nach einer Dienstreise nach Kaunas, bei der er Zeuge von Massenerschießungen im VII. Fort wurde, schrieb er den Artikel „Kauen, eine deutsche Stadtgründung“ über die Privilegierung Kaunas’ mit dem Magdeburger Stadtrecht 1408.7 In einer Art Reisetagebuch, in den 1950ern aufgezeichnet, schrieb Forstreuter über dieses Erlebnis lediglich: „In Fort VII waren damals schon viele Juden, angeblich von Litauern, ermordet worden. Die Juden wurden bereits in die Vorstadt Williampol evakuiert.“8 1942 geriet Forstreuter in eine gesundheitliche Krise, arbeitete jedoch weiterhin in der Bereisung der Archive in den besetzten Gebieten und deren Verzeichnung. 1943 konnte seine Einberufung zur Wehrmacht auch nicht mehr durch die Intervention von Max Hein verhindert werden, und er kam als Schreiber zum Jägerregiment

Kurt Forstreuter  171

20, mit dem er bis zum Kriegsende in Sarajevo stationiert war. Wegen Krankheit wurde er im November 1946 aus dem Kriegsgefangenenlager in Belgrad entlassen, gab Berlin als seinen Heimatort an und kehrte nach Deutschland, nicht aber wieder nach Königsberg zurück. Ein Sohn seiner Schwester war der einzige Überlebende der Familie, zu dem er in den folgenden Jahren wieder Kontakt aufnahm. In Berlin bekam Forstreuter eine Notwohnung in den Räumen des Hauptarchivs (heute Geheimes Staatsarchiv) zugewiesen, wo auch seine rasche Wiedereinstellung in den Archivdienst erfolgte. Er arbeitete dort für sechs Jahre, bevor er 1952 von Rudolf Grieser, dem Leiter der niedersächsischen Archivverwaltung, zur Leitung der Archivsammelstelle in Goslar berufen wurde – derjenigen Bestände aus Ostpreußen und Schlesien, die in den letzten Kriegsmonaten verpackt und Richtung Westen verbracht worden waren. Bis auf einen Brief von Max Hein vom Februar 1947, in dem er ohne Adressaten versicherte, dass Forstreuter niemals Mitglied der NSDAP gewesen sei, sind keine Hinweise auf eine Prüfung von Forstreuters Aktivitäten während des Nationalsozialismus und des Krieges vorhanden. Als das Archivlager 1953 von Goslar nach Göttingen verbracht und dort für den Benutzerverkehr geöffnet wurde, blieb Forstreuter dessen Leiter bis zu seiner Pensionierung 1962. Er war in mehreren Organisationen der Ostforschung in Göttingen aktiv, vor allem dem →Göttinger Arbeitskreis, weiterhin der Gesellschaft der Freunde Kants und der wiedergegründeten HIKO, deren Zeitschrift Preußenland er gemeinsam mit Fritz Gause bis 1973 redigierte. Seine Kontakte mit den Landsmannschaften und anderen Heimatvertriebenenverbänden beschränkten sich auf gelegentliche Veröffentlichungen und Vorträge. Ebenfalls mit Gause zusammen gab er die Neuauflage der Altpreußischen Biographie heraus, vor allem mussten im Vergleich zur ersten Auflage eine Reihe jüdischer Persönlichkeiten nachgetragen werden. Forstreuters Forschung fokussierte mehr und mehr auf quellennahe Studien zum spätmittelalterlichen Preußen und allgemeiner auf die Geschichte des Deutschen Ordens und dessen Außenpolitik, resultierend in der großen Quellenedition der Berichte der Generalprokuratoren des Deutschen Ordens. In einigen biographischen Notizen in einer posthum erschienenen Sammlung kleinerer Artikel reflektierte Forstreuter auch über seine Forschung. Er drückte darin ein Selbstverständnis als Gelehrter in der stillen Schreibstube aus, dessen Arbeit selten in die Welt dringt.9 Er starb am 8. Februar 1979 in Göttingen.

Cordelia Heß

1 Sein Nachlass befindet sich im GStA Dahlem, XX. HA, Nl Forstreuter. 2 Kurt Forstreuter, Die Bekehrung Gedimins und der Deutsche Orden, in: Altpreußische Forschungen 5 (1928), S. 239–261. 3 Hierzu siehe Torsten Musial, Staatsarchive im Dritten Reich. Zur Geschichte des staatlichen Archivwesens in Deutschland 1933–1945, Potsdam 1996, S. 49.

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4 Kurt Forstreuter, Ich wurde Archivar, in: Erlebtes Ostpreußen: Erinnerungsbilder aus fünf Jahrzehnten. Hg. v. Wilhelm Matull, Leer 1997, S. 158–62. Derselbe Artikel erschien auch in der kurz nach Forstreuters Tod herausgegebenen Sammlung seiner letzten Artikel und Überarbeitungen älterer Studien: Wirkungen des Preußenlandes: Vierzig Beiträge, Köln 1981. 5 Kurt Forstreuter, Die ersten Juden in Ostpreußen, in: Altpreußische Forschungen 14 (1937), S. 42– 48. Ein Forschungsüberblick zum Thema Juden im mittelalterlichen Preußen und das „BollwerkParadigma“ in Cordelia Heß/Jonathan Adams, Encounters and Phantasies: Muslims, Jews and Christians in the North, in: Cordelia Heß (Hg. u.a.), Fear and Loathing in the North. Jews and Muslims in medieval Scandinavia and the Baltic region. Berlin 2015, S. 3–29. 6 Włodzimierz Kalicki, Biblia i džentelmeni, Gazeta Wyborcza, 3. Oktober 2001, http://www.wyborcza.pl/duzyformat/1,127290,461068.htm (4.4.2017). 7 Cordelia Heß, “Some short business trips”: Kurt Forstreuter and the looting of archives in Poland and Lithuania, 1939–1942, in: Yad Vashem Studies 42 (2014) 2, S. 91–122. 8 Kurt Forstreuter, Meine Reisen. GStA, XX. HA, Nl Forstreuter, Nr. 10. Siehe auch Heß, „Some short business trips“, S. 112–113. 9 Kurt Forstreuter, Zu viele Memoiren, in: Wirkungen des Preußenlandes. Vierzig Beiträge, Köln 1981.

_____________________________________________________________________Walter Frank  173

Walter Frank Bei keinem deutschen Historiker des 20. Jahrhunderts klaffen die Intensität seiner Erforschung und der Rang, der ihm disziplingeschichtlich zugestanden wird, weiter auseinander als bei Walter Frank. Obwohl seine Bedeutung als „gering“ bemessen wurde, ist ihm mit der einschlägigen Studie Helmut Heibers die sowohl umfangreichste wie für lange Zeit einzige biographische Untersuchung eines in der NS-Zeit wirkenden Historikers gewidmet worden. Heibers Untersuchung wurde zugleich als ungenügend wie forschungsverhindernd klassifiziert, sie konfrontiert jede weitere Darstellung mit einer unüberblickbaren Fülle an Details, hinter denen eine befriedigende Einschätzung der Rolle Franks in der deutschen Geschichtswissenschaft zu verschwinden droht.1 Der 1905 geborene, in München aufgewachsene Frank kann als exemplarischer Vertreter der „Kriegsjugendgeneration“ zählen. Das Erleben des Ersten Weltkriegs sowie der politisch umkämpften Nachkriegszeit prägten und radikalisierten Franks politisches wie historiographisches Weltbild nachhaltig.2 Sein Geschichtsstudium an der Münchner Universität führte ihn rasch in das Seminar →Karl Alexander von Müllers, wiederholt betonte Frank die prägende Wirkung dieser Jahre.3 Anfang 1927 wurde Frank in München mit einer Dissertation über den antisemitischen Hofprediger Adolf Stoecker promoviert, im eingereichten Lebenslauf maß er seinen Dank präzise ab: „Für die Anregung und Förderung vorliegender Arbeit ist er Herrn Professor v. Müller, für Unterstützung derselben Herrn Geheimrat Oncken zu besonderem Dank verpflichtet.“4 Das Erstgutachten verfasste Müller, der jedoch lediglich eine Honorarprofessur innehatte, während Oncken das neuzeitliche Ordinariat besetzte. Müller verwies auf seine Anregung zur Arbeit, lobte diese sehr, zeigte sich aber unsicher über die Note: „Ich bin der Meinung, daß für sie – je nach der neueren Praxis der Fakultät, die ich nicht kenne – das Prädikat summa oder magna cum laude in Betracht kommt.“ Es war demnach nicht Onckens Zurücksetzung, wie Frank später meinte5, sondern auch Müllers Unentschiedenheit als Erstgutachter, die eine Auszeichnung Franks mit der Bestnote verspielte. Oncken lobte die Arbeit, einiges müsse überarbeitet werden, doch stehe er „nicht an, sie jetzt schon im Hinblick auf ihre positiven Qualitäten mit dem Prädikat ‚magna cum laude‘ der Fakultät zur Annahme zu empfehlen.“6 Im Jahr darauf als Buch veröffentlicht, erfuhr Franks Erstling eine überwiegend positive Rezeption, auch Friedrich Meinecke ließ sich von der unverhohlenen Sympathie für Stöcker nicht irritieren und widmete der Studie eine lobende Besprechung in der Historischen Zeitschrift.7 In dieser durfte Frank ab 1930 als Berichterstatter das Zeitschriften-Referat zur „Neuesten Geschichte seit 1871“ erstatten, zugleich publizierte Frank rege, teils unter Pseudonym, zu historischen wie politischen Fragen.8 Ganz in den Bahnen eines aufstrebenden Nachwuchshistorikers, wählte sich Frank für seine zweite Untersuchung ein neues Thema und legte 1933 mit „Nationalismus und Demokratie im Frankreich der dritten Republik“ eine quel-

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lengesättigte, mehr als 600seitige Studie vor.9 Die hier wie in seiner Publizistik präsentierte, durchweg demokratiefeindliche und ausgeprägt antisemitische Einstellung tat Franks Stellung in der Geschichtswissenschaft keinen Abbruch, der 28jährige galt als vielversprechendes, ambitioniertes Talent. Erschienen war „Nationalismus und Demokratie“ allerdings erst nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Dem auf Februar 1933 datierten Vorwort gab Frank deshalb eine entsprechende Note, leitete sein „persönliches Bekenntnis“ mit einer Reminiszenz an Karl Alexander von Müllers Seminarauftritt nach dem Hitlerputsch vom November 1923 ein und idealisierte seine wissenschaftliche Entwicklung vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung.10 Unmissverständlich erhoffte sich Frank vom entstehenden NS-Staat politisch wie wissenschaftlich einiges, blieb jedoch zunächst unbeachtet. Im Juni 1933 begann Müller für seinen Schüler zu werben, bezeichnete in einem Gutachten Frank als den „begabtesten Nationalsozialisten unter meinen Schülern“, dieser sei seit seinem Stoecker-Buch „als eine der stärksten Hoffnungen unseres historischen Nachwuchses bekannt“ und eine „ausgesprochene, leidenschaftliche Führernatur.“11 Eine Initiative Franks, sich die Stellung des Bibliotheksdirektors des Reichstags zu verschaffen, scheiterte, Angeboten, sich über die universitäre Lehre sein Auskommen zu sichern, würde Frank auch folgend ausweichen.12 So blieb Frank auf der Suche, im Dezember 1933 antichambrierte Müller bei Erich Brandenburg für die Interessen seines Schülers: „Er war schon, wie er 1923 vom Gymnasium zu mir kam, überzeugter Nationalsozialist und ist seinen Weg all die 10 Jahre seitdem völlig geradlinig fortgegangen, ohne Rücksicht auf alle Widrigkeiten, mit denen er deshalb zu ringen hatte. Er ist ein junger Mann von großer Tatkraft u. ausgezeichneten Führereigenschaften […].“13 Auch im zweiten Jahr der NS-Herrschaft setzte Müller sein Werben fort, bis zum Jahresende jedoch blieb die „Unterbringung des bekannten Schriftstellers und Historikers Dr. Walter Frank“ akut.14 Dessen Karriere war ins Stocken geraten, jüngere Veröffentlichungen wie eine populäre Biographie Franz von Epps entzogen sich einer wissenschaftlichen Rezeption.15 Der wenige Wochen später folgende, öffentliche Angriff auf Hermann Oncken war deshalb nicht zuletzt auch der erzürnte Aufschrei eines, allerdings nie in die NSDAP eingetreten, „alten Kämpfers“, der um seinen Anteil an der nationalsozialistischen „Revolution“ fürchtete. „Erkennend kämpfen und kämpfend erkennen, und im Erkennen und Kämpfen die Seele der Nation zu formen – das ist Inhalt und Wesen dieser Geschichtsschreibung“. Noch bevor sein institutioneller Aufstieg begann, hatte Frank im Herbst 1934 in militärischem Duktus, im „Gleichschritt“ von Kampf und Erkenntnis das Werk Heinrich von Treitschkes umrissen und zugleich seine Vorstellung einer nationalsozialistischen Geschichtswissenschaft konturiert. Bereits namentlich Oncken attackierend, weniger Programmschrift als Aufruf, wurde Franks „Kämpfende Wissenschaft“ zum Schlagwort einer Historiographie, die sich dem NS-Staat verschrieb, vor allem aber mit der Geschichtswissenschaft des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik brechen wollte. Die „Fesseln einer allzu engen Fachlichkeit und

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Zünftigkeit“ sah Frank zerbrochen, jedoch seien „die ewigen Regeln des Könnens, des Wissens und des Arbeitens“ damit nicht aufgehoben.16 In der vorausschauenden Abwehr hatte Frank bereits eben jenen Konflikt beschrieben, dem die von ihm geprägte Variation nationalsozialistischer Geschichtswissenschaft dauerhaft nicht würde entfliehen können. Der Einstieg in ihre Institutionalisierung lässt sich präzise datieren. Am 3. Februar 1935 publizierte Walter Frank im Völkischen Beobachter seinen Angriff auf Hermann Oncken. In den folgenden Monaten würde Oncken seinen – den wichtigsten historischen, einst mit Leopold von Ranke besetzten – Lehrstuhl an der Berliner Universität verlieren, die Historische Reichskommission aufgelöst und als von Frank geleitetes „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands“ fortgeführt werden, schließlich – nicht nur aber auch resultierend aus diesen Entwicklungen – die Herausgeberschaft der Historischen Zeitschrift wechseln.17 Den Berliner Lehrstuhl Onckens offerierte das 1934 eingerichtete Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung umgehend Müller, der jedoch ablehnte. Für Frank blieb zunächst nur die Rolle des Emissärs zwischen einer Reihe von Akteuren, die, jedoch erfolglos, den Österreicher →Heinrich Ritter von Srbik zum Wechsel nach Berlin bewegen wollten. Allerdings hatte Müller in seiner Absage an den Reichswissenschaftsminister für die Leitung der Historischen Reichskommission seinen weiterhin nach einer Stellung suchenden Schüler Frank vorgeschlagen. Der erst 1928 begründeten Kommission hatte bis dahin Oncken, zuvor Meinecke, vorgestanden, als eine fraglos der Weimarer Republik zuzurechnende Institution waren ihre Tage gezählt. Frank, so Müller, könne sich dem „sehr wichtigen Neuaufbau dieser zentralen geschichtlichen Körperschaft Deutschlands im neuen Geist“ widmen, er vereine „in seltener Weise die drei Eigenschaften, die dazu vor allem nötig sind: weltanschauliche Zuverlässigkeit, genaue Fachkenntnisse und organisatorische Tatkraft.“18 Das „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands“ wurde durch einen Erlass des Reichswissenschaftsministeriums vom 4. Oktober 1935 mit „Wirkung vom 1. Juli 1935“ begründet, seine vorrangige Aufgabe sei, „die neuere, deutsche Geschichte, vor allem im Zeitraum zwischen der französischen Revolution und der nationalsozialistischen Revolution (1789–1933) zu erforschen und darzustellen.“19 Zum Präsidenten des Reichsinstituts wurde Walter Frank berufen, die seit mehr als 2 ½ Jahren angestrebte Stellung im nationalsozialistischen Wissenschaftsbetrieb war erlangt. Neben Srbik und Erich Marcks wurde unter anderen auch Müller zum Ehrenmitglied berufen, mit dem Hinweis auf frühe Verdienste konnte dieser danken: „Es ist mir eine stolze Genugtuung, daß der größere Teil der jungen Historiker, die jetzt dem Reichsinstitut angehören, ebenso wie sein Präsident, meine Schüler gewesen sind: in Zeiten, in denen es für sie wie für mich noch nicht leicht war, diesen Kurs zu steuern und durchzuhalten.“20 Neben Frank gehörten dem Reichsinstitut unter anderen die von Müller promovierten →Karl Richard Ganzer und Ottokar Lorenz an, die 1936 begründete „→Forschungsabteilung Judenfrage“ leitete Müller offiziell selbst, während sein Schüler →Wilhelm Grau ihre Geschäfte führte. Die Unterstüt-

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zung Müllers für Franks Karriere seit 1933 ist kaum zu überschätzen, unbedingt und dauerhaft allerdings würde sie nicht sein. Zunächst aber hatte Frank sein Ziel erreicht, aus einer nicht den Zwängen des universitären Betriebes unterworfenen, institutionell abgesicherten Stellung begann er, seine Vorstellungen einer Geschichtswissenschaft für den NS-Staat mit zahllosen Initiativen zu befördern wie mit kriegerischen Reden zu propagieren. Für seine Ansprache anlässlich der Eröffnung des Reichsinstituts im Oktober 1935 stellte Müller die erste von ihm verantwortete Nummer der Historischen Zeitschrift zur Verfügung, Frank revanchierte sich mit einer neuerlichen Generalabrechnung mit der „Zunft“ und bekannt, dass ihm keineswegs eine auf die Geschichtsschreibung beschränkte Disziplin vorschwebte: „Wenn wir die Kraft besitzen, die Geschichte wieder so zu schreiben, daß die Geschichtemachenden sie im Tornister mit sich führen, dann haben auch wir Geschichte gemacht.“21 Die institutionelle Umsetzung jedoch gestaltete sich weitaus biederer – Frank richtete eine Reihe von Hauptreferaten ein und vergab einschlägige Forschungsaufträge22 – als nach dieser martialischen Ankündigung zu erwarten anstand, sie blieb zudem historiographisch unergiebig. Lediglich der in München angesiedelten „Forschungsabteilung Judenfrage“ gelang es, für das beanspruchte Forschungsfeld einer „Geschichte der Judenfrage“ nachhaltigen Einfluss zu erlangen. Andere Forschungsvorhaben des Reichsinstituts, etwa zu Nachkrieg, Konfessionalismus oder Freimaurerfragen, konnten in der Geschichtswissenschaft kaum reüssieren. Die Gründe hierfür waren, neben dem Mangel an einer fachlich tragfähigen Konzeption, auch institutionell bedingt: Im Vergleich mit der ausdifferenzierten Universitäts- und Wissenschaftslandschaft war das Reichsinstitut von bescheidener Größe, bot wenig Aufstiegsmöglichkeiten für den wissenschaftlichen Nachwuchs, drohte hingegen stets mit einer auch für dem Nationalsozialismus zugewandte Historiker nicht reizvollen Einbindung in politische Konfliktlinien jedweder Art. Diese ergaben sich nicht zuletzt aus der Amtsführung Franks, der sich in eine Vielzahl von Auseinandersetzungen verstrickte, deren bloße Aufzählung den Rahmen sprengen und zudem zur Ausgangsfrage nur bedingt beitragen würde: In der Tat verfügte Frank kraft seiner vom NS-Staat entliehenen Macht für einige Jahre über ein erhebliches destruktives Potential, konnte vor allem auf Personalfragen Einfluss nehmen, ohne jedoch selbst tragfähige, den allerdings widersprüchlichen Interessen der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik dienliche Lösungen zu etablieren. Einen eigenständigen, dauerhaften Ort in der Geschichtswissenschaft konnte Frank sich wie seinem Reichsinstitut deshalb nicht sichern. Auch der in Erfurt im Juli 1937 abgehaltene, von Frank und den Historikern des Reichsinstituts dominierte 19. Deutsche Historikertag bildete keine Ausnahme. Zwar bemühte sich Frank, die Tagung als traditionsgebundene Amtsübergabe an die nationalsozialistische Geschichtswissenschaft zu inszenieren, bezeichnete den Historikertag in Analogie zur Politik als „Tag von Erfurt“.23 Auch der Tagungsbericht Erich Botzenharts, Mitarbeiter des Reichsinstituts, suchte in nüchternem Tonfall den wis-

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senschaftlichen Gehalt zu betonen.24 Im Spiegel der achtzehn vor 1933 abgehaltenen Historikertage jedoch wurde offenbar: Eine plurale, offen diskutierende, zudem öffentlich gegebenenfalls gelobte oder kritisierte Tagung konnte es unter den Bedingungen des NS-Staates nicht geben, weitere Historikertage fanden bis 1945 nicht statt.25 Karl Alexander von Müller, Franks einflussreichster Unterstützer, hatte seinen Erfurter Vortrag mit der Begründung gesundheitlicher Unpässlichkeit abgesagt. Auf den Sturz Onckens war seine Reaktion noch ausdrücklich zustimmend ausgefallen, man habe „selten einen größeren und vernichtenderen Angriff geführt“.26 Auch setzte sich Müller folgend vielfach in herausgehobener Form für Franks Reichsinstitut ein. Als der Gestaltungswille seines Schülers jedoch ausuferte27, reduzierte Müller die Unterstützung merklich. Vollständig versiegen würde diese jedoch zunächst nicht, ein strikter Bruch hätte Müllers Ziel einer für den Nationalsozialismus geeinten Historikerschaft konterkariert. Gleichwohl war Franks Aufstieg nach weniger als drei Jahren Amtszeit als Präsident des Reichsinstituts beendet, nicht zuletzt der ab 1938 ausgetragene, heftige Konflikt mit dem „Judenforscher“ und Geschäftsführer der „Forschungsabteilung Judenfrage“ Wilhelm Grau28 erschütterte Franks Stellung nachhaltig. Vor allem aber hatte sich das anfängliche Misstrauen des NS-Staates gegenüber der universitären Geschichtswissenschaft gelegt, für die Umsetzung diesbezüglicher Vorstellungen wurde Frank kaum mehr benötigt. Sein Anspruch, selbst zum „Geschichtemachenden“ zu werden, stieß zudem auf Widerstand, der von den Historikern des Reichsinstituts, federführend von Frank, angebotene historiographische Nachhilfeunterricht in Sachen nationalsozialistischer Weltanschauung war schlicht nicht gefragt. Es war vor allem dieses Missverständnis über seine Rolle als Historiker im NS-Staat, dass Frank noch während der NS-Herrschaft, im Dezember 1941, sein Amt kosten sollte.29 Bis zum Kriegsende arbeitete Frank, neben kleineren Veröffentlichungen, an einer Biographie des Kolonialisten Carl Peters. Einen Tag nach der Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschland, am 9. Mai 1945, nahm sich Walter Frank das Leben. Keineswegs hatte Frank über Jahre in der deutschen Geschichtswissenschaft eine „bedeutende, vielfach sogar eine bestimmende Rolle gespielt“30, nur unter Ausblendung nahezu aller wesentlichen Wirkungsfelder der Disziplin – der universitären Lehre und Ausbildung, der Publikation von Forschungsergebnissen, der öffentlichkeitswirksamen Prägung von Geschichtsbildern, der legitimatorischen, beratenden und organisatorischen Unterstützung des NS-Staates und seiner Wissenschaftspolitik, des vielfältigen Kriegseinsatzes – konnte eine solche Einschätzung zustande kommen. Als allzu nützlicher Scheinriese allerdings halfen Frank und seine geräuschvollen Initiativen, eben diese Wirkungsfelder deutscher Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus für lange Zeit zu übertünchen. Bei näherer, vor allem vergleichender Betrachtung jedoch schrumpft seine Bedeutung auf die Kernrolle eines zeitweilig einflussreichen nationalsozialistischen Wissenschaftspolitikers, dessen Erfolge gleichwohl in der polykratischen Struktur des NS-Systems enge Begren-

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zungen erfuhren. Sein umfassendes Scheitern noch im Nationalsozialismus verdeutlicht, welche Formen von Geschichtswissenschaft vom NS-Staat gewünscht, nachgefragt und letztlich erfolgreich waren. Gleichwohl hat sich Frank in die Geschichte einer Disziplin eingeschrieben, die seinen historiographischen Veröffentlichungen trotz unverhohlener antisemitischer Überzeugungen Anerkennung zollte und seinen Wirkungskreis nach 1933 für ihre Zwecke zu nutzen suchte.

Matthias Berg

1 Hagen Schulze, Walter Frank, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker. Band VII, Göttingen 1980, S. 69–81, 79; Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966; Peter Schöttler, Einleitende Bemerkungen, in: ders. (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a. M. 1997, S. 7–30, 13. 2 Ernst Schulin, Weltkriegserfahrung und Historikerreaktion, in: Wolfgang Küttler (Hg.), Geschichtsdiskurs. Band 4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880– 1945, Frankfurt a. M. 1997, S. 165–188, 178–182. 3 Vgl. Walter Frank, Franz Ritter von Epp. Der Weg eines deutschen Soldaten, Hamburg 1934, S. 117. 4 UALMU, O-Np-1926/27 [Frank Walter], Lebenslauf Walter Frank vom 4.12.1926. 5 Vgl. Heiber, Frank, S. 37f. 6 UALMU, O-Np-1926/27 [Frank Walter], Gutachten Müller vom 16.1.1927; Gutachten Oncken vom 21.1.1927. 7 Walter Frank, Hofprediger Adolf Stoecker und die christlichsoziale Bewegung, Berlin, 1928; Friedrich Meinecke, Rez. zu: Frank, Hofprediger Adolf Stoecker, in: HZ 140 (1929), S. 151–154. 8 Vgl. das Schriftenverzeichnis bei Heiber, Frank, S. 1227–1229. 9 Walter Frank, Nationalismus und Demokratie im Frankreich der dritten Republik (1871–1918), Hamburg 1933. 10 Ebd., S. 7–13. 11 BayHStA, MK 39698, Karl Alexander von Müller [Erklärung] vom 12.6.1933. 12 Heiber, Frank, S. 103–107. Vgl. auch Franks Bitte an Müller, bei Göring für ihn zu werben, in: BayHStA, NL von Müller 407, Frank an Müller vom 5.7.1933. 13 UBL, NL Erich Brandenburg 2.1.2., Müller an Brandenburg vom 17.12.1933. 14 BArch, R 4901/2591, Bl. 36/37, RMI Frick an REM Rust vom 19.12.1934. 15 Frank, Epp. 16 Anlass des Vortrages war der 100. Geburtstag Treitschkes im September 1934, vgl. Walther Frank, Kämpfende Wissenschaft, Mit einer Vorrede des Reichsjugendführers Baldur von Schrach, Hamburg 1934, S. 15, 29. S. 15 u. 29. 17 Vgl. Walter Frank, L’Incorruptible. Eine Studie über Hermann Oncken, in: VB (Norddeutsche Ausgabe) Nr. 34/35 v. 3./4.2.1935. Die Entfernung Onckens, dessen Frank den Vorwand bietende Ansprachen, auch die Reaktionen aus der Disziplin, sind hinreichend dargestellt worden, vgl. Heiber, Frank, S. 201–241. 18 BayHStA, NL von Müller 2, Müller an Rust vom 17.2.1935. Auf den Berliner Lehrstuhl wurde schließlich Müllers Münchner Konkurrent A.O. Meyer berufen. 19 BArch, R 1/ 5, Bl. 1, Satzung des Reichsinstituts vom 4.10.1935. 20 BArch, R 4901/2591, Bl. 134, Müller an Reichsminister Rust (REM) vom 6.10.1935. 21 Walter Frank, Zunft und Nation. Rede zur Eröffnung des „Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands“ am 19. Oktober 1935 in der Universität Berlin, in: HZ 153 (1936), S. 7–23, 23.

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22 Ausführlich, auch zu den soweit vorhanden vorgelegten Ergebnissen vgl. Heiber, Frank, S. 351– 402. 23 Walter Frank, Historie und Leben. Rede zur Eröffnung des Erfurter Historikertages am 5. Juli 1937, Hamburg 1937, S. 5. 24 Erich Botzenhart, Der 19. deutsche Historikertag in Erfurt 5. bis 7. Juli 1937, in: HZ 156 (1937), S. 659–667. 25 Vgl. auch Matthias Berg, „Eine grosse Fachvereinigung“? Überlegungen zu einer Geschichte des Verbandes Deutscher Historiker zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013), S. 153–163. 26 Dies habe ihm Müller mitgeteilt, vgl. BayHStA, NL von Müller 396, Frank an Srbik, 14.3.1935. 27 Etwa bei der Berufung Ulrich Crämers nach München ab 1937, vgl. Karsten Jedlitschka, Wissenschaft und Politik. Der Fall des Münchner Historikers Ulrich Crämer (1907–1992), Berlin 2006, S. 121–128. Frank hatte versucht, seinen Kandidaten Kleo Pleyer gegen den von Müller gewünschten Crämer durchzusetzen. 28 Vgl. den entsprechenden biographischen Eintrag. 29 Heiber, Frank, S. 1143–1151. 30 Ebd., S. 1212.

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Günther Franz Der Historiker Günther Franz ist in der Geschichtswissenschaft bis heute als Erforscher des deutschen Bauernkriegs bekannt. Aus diesem Grund häufig verharmlosend als „Bauern-Franz“ bezeichnet, zählte Franz zu „den frühen Anhängern Hitlers unter den Historikern“1, der „Blut und Boden“ als vermeintlich ewige Werte propagierte und im Dritten Reich als SD-„Gegnerforscher“ einen ideologisch motivierten Kampf gegen Juden, Freimaurer, Bolschewismus und die katholische Kirche führte. Geboren am 23. Mai 1902 in Hamburg als Sohn des Direktors einer Wollkämmerei, wuchs Franz nach dem Tod seines Vaters im thüringischen Greiz auf. Sein ältester Bruder fiel im Ersten Weltkrieg 1915 in Frankreich. 1921 legte Franz sein Abitur ab und begann im folgenden Jahr in Marburg Geschichte und Germanistik zu studieren. Nach zwei Semestern wechselte er an die Universität Göttingen. Für ein Gastsemester begab er sich im Wintersemester 1923/24 an die Universität München. Noch während seines Studiums in München begann Franz seine Doktorarbeit über Bismarcks Nationalgefühl zu schreiben.2 Unmittelbar nach seiner Promotion 1925 befasste er sich erstmals mit dem Deutschen Bauernkrieg, woraus 1926 eine Quellensammlung und das Thema für die Habilitation entstand. Von 1927 bis 1929 war Franz als Assistent bei seinem Doktorvater, dem nationalkonservativen Neuzeithistoriker Arnold Oskar Meyer, an der Universität Göttingen tätig. Im Mai 1930 bei Wilhelm Mommsen in Marburg über den Bauernkrieg habilitiert, wurde er 1935 zum ao. Prof. an der Universität Heidelberg ernannt und folgte damit Karl Hampe, der sich vom Nationalsozialismus distanziert und sich in den vorzeitigen Ruhestand zurückgezogen hatte. 1936/37 stieg Franz zum ordentlichen Professor an der Universität Jena auf, die damals den Status einer SS-Universität anstrebte, und folgte 1941 einem Ruf an die nach der Niederwerfung Frankreichs neu errichtete deutsche →Reichsuniversität Straßburg.3 Dort erhielt er einen Lehrstuhl „für Geschichte der Reformation und des Dreißigjährigen Krieges und insbesondere zur Erforschung des deutschen Volkskörpers“. Die Initiative für Franz’ Berufung nach Straßburg war vom dortigen Neuzeithistoriker Ernst Anrich ausgegangen, der in der Gründungsphase der deutschen Straßburger Universität als Vertrauensmann des Chefs der Zivilverwaltung im Elsass, Robert Wagner, selbst Berufungsverhandlungen führen konnte. Auch die Bezeichnung von Franz’ Straßburger Lehrstuhl dürfte auf einen Vorschlag Anrichs zurückgehen.4 Im Dritten Reich machte der bekennende Nationalsozialist Franz nicht nur innerhalb der NSDAP, sondern auch in der SA und der SS an leitender Stelle Karriere: Franz trat am 1. Mai 1933 der NSDAP bei, er schloss sich im November desselben Jahres der SA an und trat am 1. Oktober 1935 in die SS ein, wodurch seine Mitgliedschaft in der SA erlosch.5 Im Jahr 1937 erhielt der SS-Rottenführer im Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA) Franz, der im Januar 1943 zum Obersturmführer und im November 1943 zum SS-Hauptsturmführer aufstieg, einen Posten in dem von →Franz Alfred Six geleiteten Amt VII („Gegnerforschung“) des Reichssicherheits-

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hauptamts (RSHA). Seit Frühjahr 1942 spielte Franz im RSHA „die zentrale Rolle bei der Planung, Koordination und Überwachung der wissenschaftlichen Arbeiten der Gegnerforscher“. Als solcher initiierte er eine Publikationsreihe „Quellen und Darstellungen zur Judenfrage“, von der 1943/44 noch zwei Bände erscheinen konnten. Noch im Januar 1945 übernahm Franz zudem die Position eines hauptamtlichen SDMitarbeiters für „Sonderaufträge des RSHA“.6 Nach dem Untergang des Dritten Reichs, der für ihn mit dem Verlust seines Straßburger Lehrstuhls verbunden war, war Franz „aus dem Kreis der ‚Malkontenten‘ der letzte, der wieder berufen wurde“: Er erhielt 1957 einen neu geschaffenen Lehrstuhl für Agrargeschichte an der Landwirtschaftlichen Hochschule in StuttgartHohenheim und fungierte von 1963 bis 1967 als deren Rektor.7 Gerhard Ritter, der im Dritten Reich der konservativen Opposition angehört hatte und daher nach 1945 als Widerständler galt, unterstützte eine Berufung von Franz. In seiner Stellungnahme hielt Ritter als einziger von vier Begutachtern, zu denen auch →Theodor Schieder zählte, zwar fest, dass Franz die Zugehörigkeit zur SS sehr geschadet habe. Er habe aber den Eindruck gewonnen, dass dieser „über die deutsche Vergangenheit völlig ins Klare gekommen“ sei. Ritter würdigte Franz als einen Historiker, der sich neben seinen Bauernkriegsforschungen besonders „auf dem Gebiet der sogen. ‚Demographie‘, das heißt der ‚Volksgeschichte‘, ‚Bevölkerungsgeschichte‘ als ‚hervorragend tüchtig erwiesen‘ habe“.8 Franz gab nach 1945 unumwunden zu, dass er „aus Überzeugung“ Nationalsozialist gewesen sei. Im Dritten Reich suchte er seine unbedingte Gesinnungstreue zur Partei dadurch unter Beweis zu stellen, dass er den Leipziger Historiker Walter Goetz, der als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) 1920 bis 1928 Abgeordneter im Reichstag gewesen war, wegen seiner politischen Haltung scharf angriff. Franz suchte den in der Historikerzunft hoch angesehenen Goetz zu desavouieren, indem er ihm vorwarf, nach 1933 „Nichtarier“ beschäftigt zu haben.9 Franz’ völkische und antisemitische Weltsicht soll bereits in seinem bürgerlichen Elternhaus angelegt worden sein: Seine Mutter verbot ihm offenbar bereits als Knaben, in jüdischen Geschäften einzukaufen und warnte ihn vor einer späteren Ehe mit einer Ausländerin oder einer Katholikin. Später gehörte er der Jugendbewegung an.10 Seine im Dritten Reich entstandenen Schriften – und mehr noch seine Aktivitäten in der SD-Gegnerforschung – folgten ganz dem von der NS-Rassenideologie überwölbten und damit zusehends radikalisierten ideologischen Programm des forcierten Antiliberalismus, →Antisemitismus und Antikatholizismus.11 Auf diesem Hintergrund betrachtet mutet es eher skurril an, dass Franz 1981 öffentlich behauptete, dass seine 1943 erschienene Veröffentlichung über „Geschichte und Rasse“ in der NS-Zeit „der einzige Aufsatz“ gewesen sei, in dem ein Fachhistoriker „kritisch zu dem Rassebegriff Stellung“ bezogen habe.12 In dieser Studie bezeichnete er den konfessionellen Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten indes als im Kern „rassisch“ bedingt. Während letztere verstärkt „germanisch-nordische“ Anteile aufwiesen, habe die zölibatäre Lebensweise des katholischen Klerus

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„eine negative Rassenauslese größten Ausmaßes mit verhängnisvollen Folgen für den deutschen Volkskörper“ bedeutet.13 Zudem behauptete er, dass die Jesuiten, die gegenreformatorische Kampftruppe der römischen Papstkirche, jüdisch unterwandert gewesen seien. Daraus ließ sich eine Brücke zur Beschwörung der „rassengeschichtlich“ herleitbaren Überlegenheit Deutschlands über Frankreich schlagen: Die rassisch wertvollen Hugenotten, vom katholischen Frankreich im 17. Jahrhundert vertrieben, hätten für dieses eine „negative Rassenauslese“, für das sie aufnehmende protestantische Deutschland hätten Sie aber einen „blutlichen“ Gewinn erbracht.14 Mit derartigen Veröffentlichungen befand sich Franz auf einer Linie mit der SDGegnerforschung, die Juden, Katholiken und Freimaurer zu ihren bevorzugten feindlichen Forschungsobjekten deklarierte. Daneben bildete Frankreich für Franz das wichtigste Feindbild: So stilisierte er etwa in Vorträgen vor deutschen Wehrmachtseinheiten den westlichen Nachbarn zu einem Gegner, dessen Ziel stets die „Zerschlagung des Reiches, die Rückkehr zu 1648, das Chaos“ gewesen sei. Dagegen stelle sich der „Ordnungswille des 1., 2. und 3. Reiches“.15 Nach dem Zweiten Weltkrieg bildete Günther Franz zusammen mit den Wirtschafts- und Sozialhistorikern Wilhelm Abel und Friedrich Lütge eine Art Dreigestirn der agrargeschichtlichen Forschung, das diese Fachrichtung vor allem in den 1950er und 1960er Jahren maßgeblich repräsentierte.16 Abel und Franz nahmen im Lauf des Jahres 1938 erstmals Kontakt miteinander auf, und zwar im Zuge einer Tagung im oberfränkischen Lauenstein, die Franz im März 1938 auf Einladung von →Konrad Meyer, dem maßgeblichen Organisator der NS-Agrarwissenschaft und NSRaumplanung im eroberten Osteuropa, veranstaltete. Abel betätigte sich als zeitweiliger Mitherausgeber der 1953 von Franz begründeten und herausgegebenen Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie. Spätestens seit 1936 bestanden zudem fachliche Beziehungen zwischen Franz und Lütge.17 Zusammen mit Franz gab Lütge seit 1943 die Reihe Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte heraus, in der Abels Buch über „Die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters“ als erster Band erscheinen konnte.18 Inhaltlich kam es zwischen den der Historikern zu einer arbeitsteiligen Kooperation, die als Ergebnis vor allem in der Veröffentlichung der sechsbändigen „Deutschen Agrargeschichte“ bestand. Abel steuerte dazu den Band über agrarwirtschaftliche Fragen bei, aus denen sich die sozialen Probleme der ländlichen Bevölkerung ergaben. Franz setzte für diese Reihe seine Arbeiten über den deutschen „Bauernstand“ fort. Lütge konzentrierte sich auf die deutsche „agrarische Verfassungsgeschichte“, worunter er „die Erfassung des Rechtsgehalts der ländlichen Grundordnungen“ verstand und die „hinter den Rechtsnormen und -formen sich verbergenden Realitäten des Lebens“ vernachlässigte.19 Die Konzentration der Agrargeschichte auf Typologien der „Agrarverfassung“, aber auch ihre „etatistische Ummantelung“ führten dazu, dass sich ihre Forschungsperspektiven verengten und eine Rezeption methodischer Neuansätze nachhaltig erschwert wurde.20

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Die Arbeiten von Franz wirkten besonders in wirtschafts- und sozialhistorischen Überblicksdarstellungen vielfach weiter. Speziell für die Erörterung der in Deutschland während des Dreißigjährigen Krieges lokal und regional unterschiedlichen demographischen Verlustbilanz, die Franz erstmals genauer herausgearbeitet hatte, werden diese Forschungen nach wie vor herangezogen. Franz’ Tendenz, die durch den Dreißigjährigen Krieg verursachten Bevölkerungsverluste als „Malthusian check“ zu interpretieren, wird dabei nicht immer einer kritischen Erörterung unterzogen.21 Problematisch ist vor allem die in Günther Franz’ Studien erkennbare Bauerntumsideologie, die nicht zuletzt auf Wilhelm Heinrich Riehl beruhte, der im 19. Jahrhundert einer der Vordenker der Agrarromantik war: Gleichwohl konnte der Hohenheimer Historiker seine Bücher in den Nachkriegsjahrzehnten in zahlreichen revidierten Auflagen neuerlich auf den Markt bringen. Auch wenn Franz nach 1945 sich nicht mehr in der Apologetik des Nationalsozialismus hervortat,22 beruhten seine Arbeiten weiterhin in einem erheblichen Ausmaß auf seinen Forschungen aus den 1930er und 1940er Jahren. Franz zitierte beispielsweise selbst in der vierten Auflage seines Bauernkriegsbuchs (1978) noch Ergebnisse einer sogenannten „anthropologischen Untersuchung“ aus dem Jahr 1938, die für eine Siedlergruppe im Bereich der Schwäbischen Alb angeblich bestimmte rassische Eigenschaften ergeben hatte. Im Vorwort zur vierten Auflage seines Buchs Der Dreißigjährige Krieg anerkannte Franz zwar rhetorisch die Forschungen einiger französischer Historiker, darunter Pierre Goubert und Emmanuel Le Roy Ladurie; faktisch ließ er sich von diesen international einflussreichen Forschungen in seinen eigenen Arbeiten jedoch keineswegs beeinflussen.23 Sein bis 1984 in zwölf Auflagen aufgelegtes Buch Der deutsche Bauernkrieg enthielt bereits in der ersten Auflage 1933 im Vorwort jenen Satz, der das Bekenntnis seines Verfassers zum Nationalsozialismus und zu einer völkisch ideologisierten Auffassung der agrargeschichtlichen Forschung unmissverständlich klarlegte: „Heute, am Ende der ersten siegreichen deutschen Revolution, hat der Bauer im Dritten Reich endlich die Stellung im Leben der Nation gewonnen, die er schon 1525 erstrebte.“24 Zudem erfuhren die im Dritten Reich publizierten Auflagen des Buchs eine „Enteuropäisierung“ und „Germanisierung“. Einerseits ließ Franz außerdeutsche Vorläufer des Bauernkriegs, auf die er noch in der ersten Auflage hingewiesen hatte, nunmehr weg. Andererseits deutete er die Formel vom alten Recht jetzt ausdrücklich als germanisches Recht.25 Nach 1945 ermöglichten es Franz seine Netzwerke aus der Ära des Dritten Reiches, die Zeit als stellenloser Professor zu überbrücken: So zählte Franz 1950 zu den Mitbegründern der Ranke-Gesellschaft, und er wurde auch Schriftleiter der von dieser herausgegebenen Zeitschrift Das Historisch-Politische Buch. Zudem wurde Franz für das Niedersächsische Amt für Landesplanung und Statistik tätig. Franz war ferner 1952 einer der Mitbegründer des Biographischen Wörterbuchs zur Deutschen Geschichte, das auch von den Redakteuren der Deutschen Biographischen Enzyklopä-

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die als Quelle herangezogen wurde.26 Günther Franz starb am 22. Juli 1992 in Stuttgart und wurde in Greiz begraben.27

Alexander Pinwinkler

1 Wolfgang Behringer, Bauern-Franz und Rassen-Günther. Die politische Geschichte des Agrarhistorikers Günther Franz (1902–1992), in: Winfried Schulze (Hg. u.a.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1999, S. 114–141, 115. 2 Vgl. Günther Franz, Bismarcks Nationalgefühl, Wiesbaden 1926. 3 Vgl. zu Franz’ biographischem Werdegang Behringer, Bauern-Franz, S. 115–117. 4 UA Stuttgart-Hohenheim, N6-Nl Günther Franz, 0/1/5 Personalunterlagen für die Professur in Straßburg 1940–1944, Anrich an Franz vom 9.11.1940, 3.12.1940. 5 Andreas Dornheim, Die deutsche Agrargeschichte in der NS-Zeit und die Lehrstuhl-Berufungen nach 1945 in Westdeutschland, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 53 (2005), S. 39–55, 42. 6 Behringer, Bauern-Franz, S. 121, 124. 7 Ebd., S. 130. 8 Zitiert nach Dornheim, Die deutsche Agrargeschichte, S. 54. 9 Herbert Gottwald vermutet, dass die Radikalität der politischen Ansichten von Günther Franz im Dritten Reich damit zusammenhing, dass dieser als „Konjunkturnationalsozialist“ galt und er diesen Verdacht durch übersteigertes Engagement im nationalsozialistischen Sinn beschwichtigen wollte. Vgl. Herbert Gottwald, Die Jenaer Geschichtswissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Uwe Hoßfeld (Hg. u.a.), „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln u.a. 2003, S. 916–942, 923f. 10 Günther Franz, Mein Leben, Stuttgart-Hohenheim 1982 [ungedr. Mskr., Universitätsbibliothek Stuttgart-Hohenheim], S. 78, 76f. 11 Vgl. zur Gruppe der SD-Historiker und zu ihren Entwürfen einer NS-Historie Joachim Lerchenmueller, Die Geschichtswissenschaft in den Planungen des Sicherheitsdienstes der SS. Der SD-Historiker Hermann Löffler und seine Denkschrift „Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland“, Bonn 2001. 12 Günther Franz, Das Geschichtsbild des Nationalsozialismus und die deutsche Geschichtswissenschaft, in: Oswald Hauser (Hg.), Geschichte und Geschichtsbewußtsein. 19 Vorträge, Göttingen u.a. 1981, S. 91–111, 107. 13 Günther Franz, Geschichte und Rasse. Bemerkungen zur deutschen Geschichte in der Zeit der Glaubenskämpfe, in: Kurt von Raumer/Theodor Schieder (Hg.), Stufen und Wandlungen der deutschen Einheit, Stuttgart u.a. 1943, S. 75–96, 79. Vgl. auch Die rassischen Grundlagen unserer Geschichte. Prof. Franz sprach in zwei Vorträgen zu der Straßburger SS, in: Straßburger Neueste Nachrichten vom 17.5.1943. 14 Franz, Geschichte und Rasse, S. 88f. 15 Zitiert nach Franz, Mein Leben, S. 128. Die Zitate stammen aus hektographierten Notizen, die Franz damals angelegt und aufbewahrt hatte und die er in seiner Autobiographie wiedergab. 16 Vgl. hierzu auch Alexander Pinwinkler, Historische Bevölkerungsforschungen. Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 2014, S. 250–252. 17 Dornheim, Die deutsche Agrargeschichte, S. 47. 18 Vgl. Wilhelm Abel, Die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters. Ein Beitrag zur Siedlungs- und Agrargeschichte Deutschlands, Jena 1943 (19552; 19763). 19 So die kritische Einschätzung von Hans Rosenberg, Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt a.M. 1969, S. 92, 95.

Günther Franz  185

20 Vgl. Friedrich-Wilhelm Henning, Agrargeschichte als wichtiger Bestandteil der Wirtschafts- und Sozialgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Forschungsansätze Wilhelm Abels, in: Markus A. Denzel (Hg.), Wirtschaft–Politik–Geschichte. Beiträge zum Gedenkkolloquium anläßlich des 100. Geburtstages von Wilhelm Abel am 16. Oktober 2004 in Leipzig, Stuttgart 2004, S. 11–36, 30f.; Peter Blickle, Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Werner Troßbach (Hg. u.a.), Agrargeschichte. Positionen und Perspektiven, Stuttgart 1998, S. 7–32, 30. 21 Vgl. André Holenstein, Bauern zwischen Bauernkrieg und Dreißigjährigem Krieg, München 1996, S. 49–51. 22 Vgl. auch Behringer, Bauern-Franz, S. 129f. 23 John Theibault, The Demography of the Thirty Years’ War Re-revisited. Günter Franz and his Critics, in: German History 15 (1997), 1–21, 5f.; vgl. Günther Franz, Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk: Untersuchungen zur Bevölkerungs- und Agrargeschichte, Stuttgart 19794, S. 4. 24 Zitiert nach Dornheim, Die deutsche Agrargeschichte, S. 41. Vgl. Günther Franz, Der deutsche Bauernkrieg, München u.a. 1933 (Darmstadt 198412). 25 Dornheim, Die deutsche Agrargeschichte, S. 41. 26 Vgl. hierzu Michael Salewski, Die Ranke-Gesellschaft und ein halbes Jahrhundert, in: Jürgen Elvert (Hg. u.a.), Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert. Jubiläumstagung der Ranke-Gesellschaft in Essen 2001, Stuttgart 2002, S. 124–142, 132, 139. 27 Erbbegräbnis Papierfabrik Greiz. Familie Günther, Franz und Hempel. http://www.erbbegraebnis.de/papierfabrik.htm (14.7.2016).

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Egon Freiherr von Eickstedt Als preußischer Staatsbürger wurde Egon Rudolf Ernst Adolf Hans Dubslaff Freiherr von Eickstedt am 10. April 1892 in Jersitz (Posen) geboren. Seit seinem siebten Lebensjahr Halbwaise, besuchte er Schulen in Berlin und Halberstadt, ehe er an der Städtischen Oberrealschule Dresden 1913 die Reifeprüfung ablegte.1 Im selben Jahr immatrikulierte er sich an der Universität zu Berlin in den Fächern Erdkunde und Philosophie, studierte aber ebenso Sprach- und Naturwissenschaften, später auch Medizin. Dass sich seine Interessen hierbei sehr früh auf die Anthropologie fokussierten, belegt sein Eintritt in die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte im Dezember 1913. Unterbrochen wurde das Studium in Berlin durch den Ersten Weltkrieg. Von Eickstedt meldete sich als Kriegsfreiwilliger und wurde zum Sanitätsunteroffizier ausgebildet. In den Jahren 1916 und 1917 führte er in 16 deutschen Kriegsgefangenenlagern anthropologische Untersuchungen durch und konnte so auch auf Fürsprache seines akademischen Lehrers Felix von Luschan (1854–1924) im Kriegsgefangenenlager Wünsdorf (bei Berlin) 76 Sikh, 13 Garhwali und 68 Punjabi-Mohammedaner vermessen. Während des Krieges heiratete von Eickstedt am 19. April 1918 in Bukarest Enjo da Costa Macedo (1893–1965), eine – wie er selbst angab – „Brasilianerin portugiesischer Abstammung. Mediterrane Rasse“2, mit der er später zwei Kinder hatte. Nachdem er das Studium zunächst wieder in Berlin aufgenommen hatte, wechselte er 1919 an die Universität Frankfurt am Main. Aus studienorganisatorischen Gründen wurde er dort 1920 nicht mit Anthropologie, sondern mit Geographie als Hauptfach promoviert. Erstgutachter seiner Arbeit über Rassenelemente der Sikh, einer statistischen Auswertung der in Wünsdorf erhobenen Daten, war der Geograph Norbert Krebs (1876–1947), Zweitgutachter Felix von Luschan. Eine erste bezahlte Assistentenstelle trat von Eickstedt 1921 in Freiburg an, zunächst bei dem dorthin übergesiedelten Norbert Krebs am Geographischen Institut, dann ab 1922 bei Eugen Fischer (1874–1967) am Anatomischen Institut. 1924 wechselte er als Museumsanthropologe an das Naturhistorische Museum in Wien. Dort arbeitete von Eickstedt an seiner Habilitation, zu der es aber erst 1929 kommen sollte. Indessen baute er seine Kontakte aus: Er wurde Wirkliches Mitglied der Anthropologischen Gesellschaft in Wien (1924), gehörte 1926 zu den ersten Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Physische Anthropologie, besuchte das Anthropologische Institut in Budapest, hielt Verbindung zum völkischen Verleger Julius Friedrich Lehmann (1864–1935) und arbeitete mit Robert von Heine-Geldern (1885–1968) oder →Otto Reche (1879–1966) zusammen. Nachdem von Eickstedt 1926 zu Theodor Mollison (1874–1952) an das Anthropologische Institut nach München gewechselt war, brach er im selben Jahr zu einer knapp zweieinhalb Jahre dauernden anthropologisch-ethnographischen Expedition nach Indien auf.3 Die Finanzierung der Reise, auf der er anfangs noch von seiner Frau begleitet wurde, sicherte das Sächsische Forschungsinstitut für Völkerkunde

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ab. Die „Deutsche Indien-Expedition“ legte auf dem Subkontinent rund 31.000 km zurück, erhob an 3.771 Individuen anthropologische Daten und erbrachte zahlreiches Bildmaterial sowie eine umfangreiche ethnographische Sammlung. Die Fahrt machte von Eickstedt durch Zeitungsartikel weit über Fachkreise hinaus bekannt, die anthropologischen Ergebnisse, die vor allem auf seinen morphognostischen Diagnosen beruhten, gingen in viele Fachpublikationen ein. Eine Auswertung der metrischen Daten zur Stützung der morphognostischen Einordnungen erfolgte aber bis zur Zerstörung der Unterlagen 1945 nicht, was mehrfach Anlass zur Kritik gab. Noch während seiner Indien-Expedition wurde von Eickstedt 1928 als Dozent für Anthropologie und Ethnologie nach Breslau berufen. Auf Fürsprache des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte sowie der Gesellschaft für physische Anthropologie, die eine Förderung der „deutsche[n] Ostpolitik durch wissenschaftliche und praktische Arbeit“4 anmahnte, wurde die Dozentur 1933 im Rahmen des Ostprogramms der Philosophischen Fakultät in eine außerordentliche Professur umgewandelt. 1934 wurde von Eickstedt verbeamtet. Eine Aufwertung seiner Stelle zur ordentlichen Professur scheiterte unter anderem am Einspruch des Dozentenbundführers, der ihm „eine überzeugte nationalsozialistische Grundeinstellung oder mindestens guten Willen und politisches Taktgefühl“5 absprach. Von Eickstedt selbst hatte sich jedoch nach Machtübernahme der Nationalsozialisten in den Dienst der neuen Machthaber zu stellen versucht und so offenbar eine Förderung seiner Karriere erhofft. Hatte er sich bisher nur sporadisch für eugenische Fragen interessiert, begrüßte er in mehreren Aufsätzen nun vehement das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Ebenso zeigt sein bekanntestes, in mehreren Lieferungen erschienenes Buch „Rassenkunde und Rassengeschichte der Menschheit“ in der letzten Lieferung eine deutliche Sympathie für die nationalsozialistische Gesetzgebung, während die ersten Lieferungen – vor 1933 verfasst – von kritischen Autoren wie Paul Landsberg (1901–1944) noch als nach damaligen Maßstäben wissenschaftlich und unideologisch gelobt worden waren. Besonders in den Jahren von 1933 bis 1935 verfasste von Eickstedt nun auch einige ganz explizit rassistisch und antisemitisch geprägte Schriften.6 Gleichfalls bemühte er sich 1933 um die Aufnahme in die NSDAP, trat im selben Jahr dem NSLB bei.7 Die endgültige Aufnahme in die NSDAP wurde ihm allerdings verweigert. Grund war eine seit 1931 andauernde Fehde mit einem ehemaligen Assistenten, Walter Jankowsky (geboren 1890), der mittlerweile zum Leiter des Rasse- und Siedlungshauptamtes des Abschnitts Schlesien der SS aufgestiegen war. Er behauptete nicht nur die jüdische Abkunft Enjo von Eickstedts, was allerdings zurückgewiesen wurde, sondern legte von Eickstedt auch zur Last, dieser habe sich 1932 von jüdischen Anwälten vertreten lassen. Obwohl sich von Eickstedt in dieser Situation als überzeugter Nationalsozialist auszuweisen versuchte, wurde ihm die Aufnahme in die NSDAP deshalb letztlich verweigert. Auch die parteipolitische Skepsis und spätere Einstufung durch den NSDozentenbund (NSD), es sei nicht möglich, ihn als Vortragsredner einzusetzen, hin-

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derte jedoch nicht daran, von Eickstedt und dessen internationale Bekanntheit für Vorträge im In- und Ausland in Anspruch zu nehmen. Dieser ließ sich – wie schon vor 1933 und auch nach 1945 – gerne für die „kulturpolitischen“ (und darüber hinaus gehenden) Ziele des Staates instrumentalisieren, versprachen dies doch Forschungsmittel und Reputation. Auch die Reichsstelle für Sippenforschung (Reichssippenamt) bediente sich des Anthropologischen Instituts in Breslau für erb- und rassenkundliche Gutachten. Von Eickstedt selbst nahm diese Tätigkeit umgekehrt zum Anlass, um Mitarbeiterstellen zu finanzieren oder um 1944 seine Rückstellung vom Militärdienst zu beantragen. In der NS-Zeit konnte von Eickstedt, der 1936 mit der Bernhard-Hagen-Medaille und 1939 mit der medizinischen Ehrendoktorwürde der Universität Sofia ausgezeichnet worden war, vier große Projekte umsetzen. Erstens gründete er 1935 die bis 1944 erscheinende Zeitschrift für Rassenkunde. Zweitens führte er mit „Die Forschung am Menschen“ – wenn auch weniger erfolgreich – sein Lehrbuch „Rassenkunde und Rassengeschichte der Menschheit“ fort, das bis 1944 in zwei Bänden erschien und – dem Gedanken einer „Ganzheitsanthropologie“ verpflichtet – Morphologie, Physiologie und Psychologie des Menschen zusammenzuführen trachtete. Drittens unternahm er 1937 bis 1939 eine zweite Expedition in den asiatischen Raum, die ihn von Ceylon über Indien, Laos und China bis auf die Philippinen führte. Deren Ergebnisse mündeten unter anderem in das Buch „Rassendynamik von Ostasien“ ein, das trotz Papiermangels noch 1944 auf 648 Seiten verlegt wurde. Viertens konnte er ab 1934 eine groß angelegte Rassenuntersuchung in Schlesien initiieren. Derartige Untersuchungen waren kein Novum, von Eickstedt selbst hatte sie in den 1920er Jahren bereits für den Südschwarzwald und das Burgenland in den Blick genommen. Nach 1933 taten sich nun aber neue (Finanzierungs-)Möglichkeiten durch die DFG, dann auch durch die →Rockefeller Foundation und durch lokale politische Stellen Breslaus auf, so zum Beispiel durch →Fritz Arlt, Gaubeauftragter des Rassenpolitischen Amtes in Schlesien. Trotz der wissenschaftlich fragwürdigen Methode von Eickstedts, der „gesicherten Typenschau“, durch die er die „Breslauer Schule“ begründete, blieben die Förderungen nicht aus. Es war das Ziel Eickstedts, die Bevölkerung eines großen Landstrichs möglichst flächendeckend in ihrer vor allem rassischen Zusammensetzung zu erfassen, was vor allem durch morphognostische Diagnose, abgesichert durch metrische Daten, erfolgen sollte. Erkenntnisleitendes Interesse der Untersuchungen, die bis 1944 rund 70.000 Probanden umfasste, war hierbei „durch die Sonderaufgaben des deutschen Ostens gestellt […], die blutsmäßige Verbundenheit des östlichen Volksteiles mit dem deutschen Gesamtvolk zu erhärten“8. Angesichts der zahlreichen involvierten staatlichen Stellen und der sich verändernden politischen Lage wurde es im Verlauf der Untersuchungen aber zunehmend schwerer, politikkonforme Ergebnisse zu formulieren. Wie von Eickstedt schon im Rahmen seiner Indien-Expedition wenig Interesse an den erhobenen metrischen Daten gezeigt hatte, so übertrug er auch hier seiner

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Assistentin →Ilse Schwidetzky nicht nur die organisatorische Leitung der Rassenuntersuchung in Schlesien, sondern auch die statistische Auswertung. Die im Rahmen dieses Projekts ebenfalls angelaufenen Untersuchungen der Stadtbevölkerung Breslaus (unter stärker sozialanthropologischen Gesichtspunkten) fanden ebenfalls unter Leitung Ilse Schwidetzkys, zwischenzeitlich aber auch durch →Hans Grimm, statt. Die Ergebnisse der Studie wurden ab 1940 in einer eigenen Reihe „Rasse, Volk, Erbgut in Schlesien“ veröffentlicht, und (durch einige Kunstgriffe) im Sinne einer überwiegend „nordisch“ geprägten Bevölkerung Schlesiens und der Dominanz des „nordischen Rassetypus“ in höheren sozialen Schichten interpretiert – ein Vorgehen, das von Kollegen mehrfach kritisiert wurde. Neben persönlichen Animositäten, unterschiedlichen (rassen-)politischen Vorstellungen und dem Kampf um Ressourcen und Einfluss, war Hauptkritikpunkt hierbei – unter anderem von →Fritz Lenz und Otto Reche – die mangelnde wissenschaftliche Validität der „gesicherten Typenschau“, so dass die Ergebnisse leicht von polnischen Forschern wie Jan Czekanowski (1882–1965) in Frage gestellt werden konnten. Mit fortschreitendem Kriegsverlauf kamen sowohl die Arbeiten als auch die Kontroverse darum zum Erliegen. Nachdem von Eickstedt 1945 aus Breslau geflohen war, nahm er nach Kriegsende Verbindungen zu Universitäten und Kollegen auf, wie zum Beispiel zu Robert von Heine-Geldern in den USA, um eine neue Anstellung zu finden. Erfolg schien ihm zunächst in Leipzig beschieden zu sein, wo er die Unterstützung des Dekans der Philosophischen Fakultät und späteren Rektors, Hans Georg Gadamer (1900– 2002), fand.9 Von Eickstedt sollte den Lehrstuhl Otto Reches am Ethnologisch-Anthropologischen Institut (ehemals Institut für Rassen- und Völkerkunde) übernehmen. Während von Eickstedt zunächst jedoch nach Wrocław zurückkehrte, um in mehreren Fahrten über die Grenze seine Privatbibliothek aus der zerstörten Stadt zu schaffen und bei dieser Gelegenheit mit den neuen polnischen Kollegen vor Ort kooperierte, leitete Ilse Schwidetzky, die er ebenfalls nach Leipzig geholt hatte, und die – im Gegensatz zu ihrem Mentor – über eine feste Anstellung verfügte, die Reorganisation des Institutes. Sie bemühte sich auch, die ehemaligen Breslauer Mitarbeiter (innen) in Leipzig zu sammeln, doch konnte man sich dort letztlich nicht einrichten. Die Berufung von Eickstedts scheiterte; er selbst wurde durch den NKWD festgenommen, wenngleich nach drei Wochen wieder aus der Haft entlassen. Aus Leipzig vertrieben, suchte und fand von Eickstedt daraufhin, möglicherweise durch den ehemaligen Breslauer Musikwissenschaftler Arnold Schmitz (1893– 1980) protegiert, an der neu gegründeten Universität Mainz eine neue Anstellung, wo er 1946 ordentlicher Professor für Anthropologie wurde. Es gelang ihm, neben Ilse Schwidetzky noch weitere ehemalige Mitarbeiter aus Breslau um sich zu scharen: die in Abstammungsgutachten geschulte Dorothea Ismer sowie – obgleich als ehemaliger Angehöriger der SA „schwer belastet“10 – Werner Klenke. Von Eickstedt selbst konnte sich 1947 gegen Vorwürfe, er habe der NSDAP nahe gestanden, erfolgreich zur Wehr setzen und wurde 1948 als vom Gesetz zur politischen Säuberung

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nicht betroffen eingestuft, da ihm die Aufnahme in die NSDAP verweigert worden war. 1950 wurde von Eickstedt zum planmäßigen Professor auf Lebenszeit ernannt und wirkte bis zu seiner Pensionierung 1960 in Mainz. In dieser Zeit arbeitete er vor allem am dritten Teil seines Lehrbuches „Die Forschung am Menschen“ und unternahm mehrere Forschungsreisen nach Frankreich und Spanien, um anhand von Felszeichnungen das Seelenleben der Früh- und prähistorischen Menschen zu erforschen. Diese Arbeiten wurden jedoch kaum rezipiert. Von Eickstedt führte darüber hinaus die Zeitschrift für Rassenkunde 1949 als „Homo. Internationale Zeitschrift für die vergleichende Forschung am Menschen“ in der Funktion des Herausgebers bis 1956 fort. Sie war nicht nur in ihrem Aufbau deckungsgleich mit ihrer Vorläuferin, sondern übernahm auch mehrere Personen aus dem Mitarbeiterkreis, ohne auf deren zum Teil nationalsozialistische Vergangenheit zu achten. „Homo“ erschien ab 1951 im Musterschmidt-Verlag, der ebenfalls als belastet galt.11 Diese Zeitschrift war zugleich das Organ der 1948 (wieder-)gegründeten Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, zu deren Vorsitzenden von Eickstedt, 1950 nochmals im Amt bestätigt, gewählt wurde. Eine Rolle dürfte hierbei gespielt haben, dass er – im Gegensatz zu vielen Kollegen – nicht NSDAP-Mitglied gewesen war. Darüber hinaus fungierte er zum Beispiel von 1949 bis 1955 als Gutachter der Notgemeinschaft beziehungsweise DFG. Nachdem auf dem Internationalen Kongreß für Anthropologie und Ethnologie in Wien 1952 unter seinem Vorsitz das UNESCO-Rassenstatement diskutiert worden war, gehörte er zu den Unterzeichnern des „Statement on the Nature of Race and Race Differences“, das sich in Reaktion auf die nationalsozialistischen Verbrechen kritisch mit dem Rassenbegriff auseinandersetzte. Hierin ist aber weniger eine Kehrtwende von Eickstedts zu sehen,12 als eine Kontinuität seines Verhaltens, sich den jeweiligen politischen Verhältnissen zum eigenen Vorteil anzupassen, zumal seine Konzeption von Rasse offen genug war, um sie durch „leichte“ Modifikationen den jeweiligen Anforderungen – auch denen der UNESCO – angleichen zu können. Mit zwei Expeditionen in den Orient knüpfte von Eickstedt 1956 beziehungsweise 1960 an seine früheren rassenkundlichen Forschungsreisen an, beschränkte sich auch hier wieder größtenteils auf die Erstellung von Typenfotos und Schaudiagnosen. Auf der zweiten Fahrt erlitt er einen Schlaganfall. Er starb, knapp drei Monate nach seiner Frau, am 20. Dezember 1965, in den letzten Jahren noch zum Ehrenmitglied zahlreicher Gesellschaften wie der Società italiana d’Antropologia e etnologia (1951), der Anthropologischen Gesellschaft in Wien (1965) oder der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie (1965) ernannt.

Dirk Preuß

1 Vgl. Dirk Preuß, Egon Freiherr von Eickstedt (1892–1965) – Anthropologe und Forschungsreisender. Selbstbild und Entwicklung der deutschen Anthropologie im 20. Jahrhundert am Beispiel des Begründers der „Breslauer Schule“. Diss., Biologisch.-Pharmazeutische Fakultät Jena 2005. Die Dis-

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sertation ist mittlerweile als Buch erschienen, dieses könnte alternativ ziziert werden: Dirk Preuß, „Anthropologe und Forschungsreisender“, Biographie und Anthropologie Egon Freiherr von Eickstedts (1892–1965), München 2009. 2 Egon von Eickstedt, 30 Bildkarten (Nr. 802–832), Freiburg 1923, Bildkarte 832. 3 Vgl. Dirk Preuß, Die „erste vorwiegend physisch-anthropologische Expedition überhaupt“? – die Deutsche Indien-Expedition 1926–1929, in: Verhandlungen zur Geschichte und Theorie der Biologie, Bd. 13, 2007, S. 119–33. 4 IEUL, Re IX.1, Aichel an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung (Entwurf ohne Jahr). 5 UWA, S220, Dozentenbundführer an den Rektor der Universität (Entwurf ohne Jahr). 6 Vgl. Egon von Eickstedt, Die rassischen Grundlagen des deutschen Volkstums, Köln 1934. 7 Von Eickstedt gehörte später ebenso dem Reichskolonialbund und dem Reichsluftschutzbund an. 8 Egon von Eickstedt, Anthropologische Erhebungen in Schlesien, in: Deutscher Wissenschaftsdienst. Jahresbericht 1934, Berlin 1935, S. 39. 9 Vgl. Dirk Preuß, „Zeitenwende ist Wissenschaftswende“? Egon Freiherr von Eickstedt und die Neuanfänge der „Breslauer Tradition“ in Leipzig und Mainz 1945–1950, in: ders. (Hg. u.a.), Anthropologie nach Haeckel, Stuttgart 2006, S. 102–124. 10 IEUL, ReXX, Schwidetzky an Cwiertnia vom 15.11.1945. 11 Vgl. Carsten Klingemann, Rassenideologie, Nationalsozialismus und Wissenschaft: Hans F.K. Günther im Urteil von Wilhelm Emil Mühlmann, in: ders. (Hg. u.a.), Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1991, Opladen 1992, S. 277–285. 12 Vgl. Horst Seidler, Einige Bemerkungen zur sogenannten Rassenkunde unter besonderer Berücksichtigung der deutschsprachigen Anthropologie, in: Holger Preuschoft, (Hg. u.a.), Anthropologie im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik, Oldenburg 1992, S. 75–101.

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Dagobert Frey Dagobert Frey wurde am 23. April 1883 in Wien geboren. Nach der Matura (Abitur) schloss er das Studium der Architektur 1909 mit der Promotion an der Technischen Hochschule (TH) Wien zum „Dr. ing.“ ab, 1914 erfolgte dort die Habilitation. 1916 promovierte er nach dem Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und Philosophie an der Universität Wien mit einer Arbeit über Bramantes St. Peter-Entwurf und seine Apokryphen. Nach einigen Jahren im Dienst der k.k. Zentralkommission für Denkmalpflege wechselte er in die Hochschullehre und übernahm 1921 zusätzlich die Leitung des Kunsthistorischen Instituts am Bundesdenkmalamt. Von 1931 bis Januar 1945 führte er das Kunsthistorische Institut der Breslauer Universität.1 1933 gehörte er neben →Hermann Aubin zu den Mitverfassern des Ostprogramms der Universität, um diese zu einem Zentrum der →Ostforschung auszubauen.2 Seit 1941 stand Frey der auf seine Initiative hin gegründeten Kunsthistorischen Abteilung des Osteuropa-Institutes vor. Vermutlich seit 1933 war er als Beirat für Kunstgeschichte bzw. Persönlicher Rat in der →Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG) tätig3 sowie seit 1936 Mitglied in der Sektion für Bildende Kunst in der Deutschen Akademie (DA) München.4 Seine Aktivitäten waren dem Nachweis der führenden Rolle der deutschen Kunst gewidmet. Im Deutschen Verein für Kunstwissenschaft regte Frey als neu gewähltes Vorstandsmitglied 1934 eine intensivere Beschäftigung mit der „deutschen Kunst im Osten“ und eine „Arbeitsgemeinschaft für alle Grenzlandfragen“ an.5 Er plante die Herausgabe eines Jahrbuchs für die Kunst in Osteuropa, das als zentrales Organ unter deutscher Federführung die kunsthistorischen Forschungen zu Osteuropa versammeln sollte.6 Von 1938 bis 1940 war er einer der Sekretäre der Abteilung für Kunst, Musik und Literatur in der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur.7 Im →Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften fungierte er als Spartenleiter für Polen in der Reihe Ausstrahlungen deutscher Kunst. Nach der deutschen Besetzung Polens war Frey für fünf Wochen für den Stab des Sonderbeauftragten für die Erfassung der Kunst- und Kulturschätze im Generalgouvernement, Kajetan Mühlmann, tätig. Er machte die Behörden gezielt auf weniger bekannte Sammlungen aufmerksam und veranlasste deren Übernahme in deutsche Hände.8 Für das →Institut für Deutsche Ostarbeit in Krakau arbeitete er erste Konzepte aus.9 Des Weiteren engagierte er sich mindestens bis 1942 für den Denkmalschutz im Generalgouvernement und übernahm die Aufgabe einer Konzeptentwicklung für die Denkmalpflege dort, wobei sein Fokus auf den als „deutsch“ charakterisierten Kunstwerken lag. In die Zerstörung des Warschauer Schlosses war er involviert, da er vor der geplanten Sprengung die Bestände sichtete und Empfehlungen gab, was davon zu bewahren sei.10 „Für seine Verdienste um den Einsatz der deutschen Wissenschaft zur Erringung des Sieges“ erhielt er im März 1944 das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse.11 Er gehörte dem Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), nicht jedoch der NSDAP an.12 Von Oktober 1945 bis 1950 übernahm er die Leitung

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des Instituts für österreichische Kunstforschung am Bundesdenkmalamt13 und wechselte 1951 als Professor an die TH Stuttgart, wo er bis 1953 lehrte.14 Zahlreiche neue Akademiemitgliedschaften zeugen von seiner wissenschaftlichen Anerkennung.15 Seit 1956 gehörte er zu den Mitgliedern des →Johann Gottfried Herder-Forschungsrates und war mit Günther Grundmann Mitglied der dort angesiedelten Fachgruppe Kunstgeschichte.16 Frey publizierte bis zu seinem Tod auch zur italienischen Malerei und zu kunsttheoretischen Fragen. Er verstarb am 13. Mai 1962 in Stuttgart.17 Eine Wende zur Stammesforschung sowie zu einer stark national geprägten Sicht auf die Kunst ist sowohl in seiner Lehre seit 1931, als auch in seinen Vorträgen und Publikation seit 1935 nachweisbar. Frey verfolgte einen kunstgeographischen Ansatz, nach dem regionale Stileigenschaften die Wesensart eines Stammes verdeutlichten.18 In einem Zirkelschluss ging er von einem konstanten Wesen eines Volkes aus, das sich in der Kunst zeige und von der Kunst schloss er wiederum auf dieses Wesen. Frey machte sich die Vorstellung eines Volkscharakters und damit auch einen kunstpsychologischen Ansatz zu Eigen und dachte diesen ab 1938 kurzzeitig mit der Kategorie der Rasse zusammen. Auch wenn er deren Erarbeitung als zukünftige Forschungsaufgabe formulierte, operierte er selbst in seinen folgenden Arbeiten nicht mit dieser Kategorie, ebenso wenig führte er die Stammesforschung weiter. Sein Fokus blieb aber die Ermittlung des „deutschen Anteils“ an der Kunst der von ihm untersuchten Räume. Mittels eines Kolonialkunstkonzeptes wurden „deutsche“ Kunstlandschaften über die nationalen Grenzen hinausgeführt. Der „Siegeszug der deutschen Truppen in Polen“ markierte einen deutlichen Wandel in Freys Blick auf „den Osten“. Er sprach nun von einer „deutschen Kulturmission im ostmitteleuropäischen Raum“ und definierte die Ostsiedlung als „Kampf des deutschen Volkes mit den slawischen Stämmen“. Er schrieb Deutschland in den besetzten Ostgebieten eine Führungs- und Neuordnungsrolle zu. Die germanisch-deutsche Besiedlung wird von Frey als Voraussetzung einer kulturellen Entwicklung impliziert.19 Geographisch konzentrierte er sich auf Schlesien und Polen und veröffentlichte etwa 30 Aufsätze zu diesem Themenfeld, vor allem in Organen der Ostforschung, darunter im Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums.20 Seine Handlungsmotive sind als vielfältig einzustufen. Die Charakterisierung Schlesiens als deutsches Kulturland richtete sich gegen polnische Versuche, Schlesien nationalpolnisch zu reklamieren. Sowohl die Verschiebung des West-Ostgefälles nach Westen als auch die Ausdehnung als deutsch deklarierter Kulturräume sollten der Aufwertung „deutscher“ Kunst im gesamteuropäischen Kontext dienen. Die Anerkennung der Kunstgeschichte als autonome Disziplin im Kanon der Fächer und als wichtiges Forschungsfeld der Volkstumsforschung gehörten weiter zu seinen Anliegen. Persönlich versuchte er sich als Experte der kunsthistorischen Ostforschung zu etablieren und Wegmarken der Disziplinentwicklung zu setzen. Durch seine Kontakte zu den Besatzungsbehörden suchte er sich durch vorrangigen Zugriff auf neues Forschungsmaterial einen Vorsprung vor seinen Kollegen zu verschaffen.

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Antisemitische und rassistische Argumentationen finden sich bei ihm nicht; durch die germanozentrische Ausrichtung seiner Forschungen trug er jedoch zur Legitimierung der deutschen Besatzungspolitik und des deutschen Führungsanspruchs in Europa bei. Wie Jutta Held für Hans Jantzen gezeigt hat, durchbrach auch Frey die „geschichtliche, chronologische Logik der Kunstgeschichte […]“21 zugunsten biologischer und völkischer Perspektiven. Materialsammlungsprojekte, wie sie im „→Ostprogramm“ sowie dem Projektkatalog der kunstgeschichtlichen Abteilung am Osteuropa-Institut angeführt waren, wurden zu Bausteinen in einem „Grenzlandkampf“, an dem sich die Kunstgeschichte mit dem für sie charakteristischen Handwerkszeug beteiligte. Frey hat sich nie öffentlich von seinen Aktivitäten im Zweiten Weltkrieg distanziert, sondern sie nachträglich als reine Kunstschutzprojekte definiert.22 Eine Auslieferung nach Polen erfolgte nicht.23 Auch hielt er an der Kunstgeographie als Methode fest, wenngleich er nun wieder die wechselseitige Befruchtung betonte anstelle von Dominanzverhältnissen.

Sabine Arend

1 Zu Freys Lebenslauf: BArch, R 4901/13263, fol. 2554, Hochschullehrerkartei; ebd., BDC, Brinckmann, Albert Erich, 4.9.1881, 8000001607 Box B0506, Bl. 3679, Lebenslauf Dagobert Frey; Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego (AUW), S 31, fol. 52, Tagebuch „Zugang beim Lehrkoerper durch Berufungen und Versetzungen, 11 X 1894–10 XII 1934“; AUW, S 196, Bl. 115f., Universitätsprofessor Dagobert Frey 60 Jahre alt; NL im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, Deutsches Kunstarchiv (GNM DKA); Universitätsarchiv Stuttgart (UAS), 54/7, Lebenslauf (Abschrift). Sekundärliteratur: Otto Demus, Nachruf Dagobert Frey, in: Österreichische Akademie der Wissenschaften, Almanach für das Jahr 1962, 112 (1963), S. 383–400, 384; Peter H. Feist, Frey, Dagobert, in: ders. (Hg. u. a.), Metzler Kunsthistorikerlexikon. Zweihundert Porträts deutschsprachiger Autoren aus vier Jahrhunderten, Stuttgart u.a. 1999, S. 100f., 100, und Dagobert Frey, Selbstdarstellung Dagobert Frey, in: 69. Österreichische Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 2 geleitet von Nikolaus Grass, Innsbruck 1951; Hans Tintelnot, Kunstforschung in Breslau, in: Zeitschrift für Ostforschung, 2 (1953) 4, S. 491–506; Dagobert Frey 1883–1969. Eine Erinnerungsschrift, hg. mit Unterstützung seiner Schüler, Kollegen und Freunde durch das Kunsthistorische Institut der Universität Kiel, Kiel 1962; Beate Störtkuhl, Deutsche Ostforschung und Kunstgeschichte, in: Jan M. Piskorski (Hg. u.a.), Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich, Osnabrück u.a. 2002, S. 119–134; dies., Das Fach Kunstgeschichte an der Universität Breslau vor 1945, in: Marek Hałub (Hg. u.a.), Śląska republika uczonych – Schlesische Gelehrtenrepublik – Slezská vědecká obec Wrocław 2004, S. 635–672 (Störtkuhl 2004a); dies., Paradigmen und Methoden der kunstgeschichtlichen „Ostforschung“ – der „Fall“ Dagobert Frey, in: Robert Born (Hg. u.a.), Die Kunsthistoriographien in Ostmitteleuropa und der nationale Diskurs, Berlin 2004, S. 155–172 (Störtkuhl 2004b); Juliane Marquard-Twarowski: Dagobert Frey als Kunsthistorischer Ostforscher, Berlin 2008; Sabine Arend, Studien zur deutschen kunsthistorischen „Ostforschung“ im Nationalsozialismus. Die Kunsthistorischen Institute an den (Reichs-) Universitäten Breslau und Posen und ihre Protagonisten im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, phil. Diss. Berlin 2009, http://edoc.hu-berlin.de/browsing/dissertationen/ (25.01.2017); dies., Dagobert Frey in Breslau 1939–1945, in: Jan Harasimowicz (Hg.), Uniwersytet Wrowccawski w kulturze europejskiej XIX i XX wieku. Materiały Międzynarodowej Konferencji Nau-

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kowej, Wrocław 4–7 października 2011r. Księga Pamiątkowa Jubileuszu 200-lecia utworzenia. Państwowego Uniwersytetu we Wrocławiu, Tom IV, Wrocław 2015, S. 483–492; Klara Kaczmarek-Löw, Dagobert Frey in Breslau. Schlesien und Polen im Spannungsfeld von Kunstgeschichte und Politik, in: ebd., S. 493–502. 2 GStA PK, I. HA Rep. 76, Va, Sekt. 4, Tit. IV, Nr. 48, Bd. XI, Bl. 1–3, Dagobert Frey: Arbeitsprogramm des Kunsthistorischen Institutes. Die Aufgaben des kunsthistorischen Institutes im Rahmen des Ostprogramms. 3 Ebd., Rep. 92 NL Albert Brackmann Nr. 82, Bd. II, Bl. 127 und 138, Übersichtslisten „Leiter und Beiräte der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft“ sowie BArch, R 153, 1141, unpag., Aubin an Puste vom 16.1.1942, sowie Michael Burleigh, Germany turns Eastwards. A Study of „Ostforschung“ in the Third Reich, Cambridge 1988, S. 78. 4 Mitteilungen der Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums/ Deutsche Akademie 11 (1935) 3, S. 457f.; vgl. auch Irene Helms-Hardcastle, The Deutsche Akademie, Munich, 1923–1945, 3 Bde., Typoskript Dallas 1979, Bd. 3, S. 611. 5 AUW, S 193, Bl. 270f, Frey an Rektor der Universität Breslau, Walz vom 7.7.1934. 6 Dagobert Frey, Die kunstgeschichtliche Abteilung, in: Jahrbuch des Osteuropa-Instituts Breslau, 3 (1942), S. 88–91, 91. Vgl. ausführlich das Kapitel IV.1.3.3.2 in Arend 2009. 7 Archiwum Państwowe w Wrocławiu (APW), Wydział 1334, Bl. 43, 60, 61, Jahresberichte der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur 1938, 1939 und 1940. 8 Vgl. die zeitgenössischen Karteikarten zu den Inspektionen in Archiwum Akt Nowych w Warszawie (AAN), Rząd GG 1465/1 sowie die Zusammenstellungen im Instytut Pamięci Narodowej w Warszawie (IPN), MSW Londyn T. 68 (= 159/68); IPN, PMW-BZW nr. 99 k; Karol Estreicher, Cultural Losses of Poland. Index of Polish cultural losses during the German occupation, 1939–1944, London 1944, S. xi; Erich Meyer-Heisig, „Bericht über den ‚Sonderauftrag zur Sicherung der Kunst- u. Kulturgüter‘ im ehemaligen Generalgouvernement“, abgedruckt in: Zbigniew Kazimierz Witek, Dokumenty strat kultury polskiej pod okupacją niemiecką 1939–1944 z archiwum Karola Estreichera [Dokumente zu den polnischen Kulturgutverlusten unter deutscher Okkupation 1939–1944 aus dem Archiv von Karol Estreicher], Kraków 2003, S. 513–522, 515. Vgl. Kap. IV.1.4 in Arend 2009. 9 Vgl. mit Quellenbelegen das Kap. IV.1.3.2.3 in Arend 2009. 10 Lorentz, Stanisław, Das Doppelgesicht des Dr. Dagobert Frey, in: Informationsbulletin d. Zachodnia Agencja Prasowe, 8 (1960), S. 6–10. Vgl. auch Zeugenaussage von Professor Dr. Stanisław Lorentz, dem Direktor des Polnischen Nationalmuseums in Warschau, in: IPN, GKBZNw P, Akta agólne dokumenty. Akta w. sprawie Mühlmann i tow. Kultura i sztuka, Bd. 47, Akta Karne C/A, dr. Frey Dagobert, Bl. 3. Frey sichtete Zeugenaussagen zufolge die Bestände und gab Empfehlungen, was davon nach Deutschland zu bringen sei. Zeugenaussage von Professor Dr. Stanisław Lorentz, dem Direktor des Polnischen Nationalmuseums in Warschau, in: IPN, GKBZNw P, Akta agólne dokumenty. Akta w. sprawie Mühlmann i tow. Kultura i sztuka, Bd. 47, Akta Karne C/A, dr. Frey Dagobert, Bl. 3. 11 AUW, S 220, fol. 24 A, Glückwunschschreiben an Frey vom 29.3.1944; Störtkuhl 2002, siehe Anm. 1, S. 131. 12 BArch, R 4901/13263, Bl. 2554, Hochschullehrerkartei; AUW, S. 220 Dagobert Frey, Bl. 3–4, Bl. 4, Personalbogen Universität Breslau. 13 GNM DKA, Nl Dagobert Frey 1b,1. Bei dem Institut handelte es sich um das Kunsthistorische Institut des Wiener Denkmalpflegeamtes, das Frey bereits einmal innegehabt hatte. Vgl. Eva Frodl-Kraft, Gefährdetes Erbe. Österreichs Denkmalschutz und Denkmalpflege 1918–1945 im Prisma der Zeitgeschichte, Wien u.a. 1997, S. 433. 14 UAS, Personalakte Dagobert Frey 57/318, Schreiben der Fakultät für Natur- und Geisteswissenschaften der TH Stuttgart an das Rektoramt der TH Stuttgart v. 9.11.1957.

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15 1949 Katholische Akademie Wien, 1950 Korrespondierendes Mitglied der österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1951 Korrespondierendes Mitglied der Mainzer Akademie für Wissenschaft und Literatur, 1953 Korrespondierendes Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften. Vgl. Metzler, siehe Anm. 1, S. 100. 16 Fünfunddreißig Jahre Forschung über Ostmitteleuropa. Veröffentlichungen der Mitglieder des J. G. Herder Forschungsrates, 1950–1984, Marburg 1985, S. 75 und Eduard Mühle, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005, S. 415f. 17 Metzler, siehe Anm. 1, S. 100. 18 Vgl. Reiner Hausherr, Kunstgeographie – Aufgaben, Grenzen, Möglichkeiten, in: RhVbl, 34 (1970), S. 158–171, S. 162. 19 Dagobert Frey, Kunstdenkmäler im besetzten Polen, in: Deutsche Kunst und Denkmalpflege, (1939/1940), S. 98–103, 98. 20 Vgl. den Artikel „Galizien, Architektur und bildende Kunst“ und „Krakau“ (Zusammen mit Walter Kuhn), in: Carl Petersen (Hg. u.a.), Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums, Bd. III, 1938, S. 24–25, 27, 331–336. 21 Jutta Held, Kunstgeschichte im „Dritten Reich“: Wilhelm Pinder und Hans Jantzen an der Münchner Universität, in: dies. (Hg. u.a.), Kunstgeschichte an den Universitäten im Nationalsozialismus, Göttingen 2003, S. 17–59, 26f. 22 Dagobert Frey, Declaration, in: College art journal 7 (1948) 3, S. 221 als Antwort auf die Vorwürfe von Richard F. Howard, letter to the editor, in: College art journal, 7 (1947) 1, S. 62. 23 Frey stand auf Fahndungs- bzw. Auslieferungslisten, die Polen an die United Nations War Crimes Commission (UNWCC) sandte. Vgl. die Dokumentation im IPN Warzaw zu Frey, u.a. Archivum Glównej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce (GKBZHwP), Polska Misja Wojskowa Badania Niemieckich zbrodni Wojennych (PMW-BZW), 135; IPN, GKBZNw P, Akta agólne dokumenty. Akta w. sprawie Mühlmann i tow. Kultura i sztuka, Bd. 47, Akta Karne C/A, dr. Frey Dagobert, Bl. 2f.; PMW-BZW nr. 103/184, k. 1,2,4.

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Jacob Friedrich Fries Als Sohn eines Pfarrers der Herrnhuter Brüdergemein, besuchte Jakob Friedrich Fries (1773–1843) das Pädagogium in Niesky (1778–89), zeitweise zusammen mit seinem späteren Mitstreiter Friedrich Schleiermacher, dann das Seminar in seiner Heimatstadt Barby (1789–93) und schließlich erneut in Niesky das theologische Seminar (1792–95). Nach dieser intensiven Ausbildung im Kontext der Brüdergemeine löste er sich (wie Schleiermacher) von der spezifischen Herrnhuter Frömmigkeit, die calvinistische und pietistische Elemente mischt, und begann ein Philosophiestudium in Leipzig, seit 1797 in Jena. Nach drei Jahren als Hauslehrer in der Schweiz (1798–1800) wurde er in Jena 1801 promoviert und habilitierte sich noch im selben Jahr für Philosophie. 1803/04 verbrachte er mit Studienreisen in Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien. Zusammen mit Hegel wurde er im März 1805 zum außerordentlichen Professor in Jena ernannt. Beide pflegten ihre Feindschaft und sahen sich auf unterschiedlichen politischen und philosophischen Positionen: Während Hegel Fries in der Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie als „Heerführer der Seichtigkeit“ und dessen politisches Engagement als „Brei des Herzens, der Freundschaft und Begeisterung“ herabsetzte, meinte Fries: „Hegels Lehre gehört ihrem großen Einfluss nach mehr in die Geschichte der Schulpolizei zu Berlin als in die Geschichte der Philosophie.“1 Wenig später erhielt er einen Ruf als Ordinarius für Philosophie und Physik an der reorganisierten Universität Heidelberg. Nachdem er 1813 die Universität als Prorektor sogar geleitet hatte, folgte er zum Wintersemester 1816/17 dem Ruf auf einen Lehrstuhl für Philosophie, Mathematik und Physik zurück nach Jena, ins Zentrum der radikalen, demokratisch-nationalistischen Opposition. Viele politisch engagierte Heidelberger Studenten folgten „Vater Fries“ nach Jena. Hier lehrte er bis zu seinem Tod, war allerdings 1819–24 (unter Fortzahlung seines Gehalts) suspendiert, weil der Burschenschafter und Terrorist Karl Ludwig Sand (1795–1820) sein Schüler gewesen war. Auch wenn er keineswegs die revolutionäre Vorgehensweise der radikalen Burschenschafter unterstützte, verortete sich Fries als Teilnehmer am Wartburgfest (1817) und durch seine nationalistischen Äußerungen in der Fundamentalopposition. Fries musste zwar weder emigrieren noch in Haft. Aber die Suspendierung, 1824 nur für Mathematik und Physik aufgehoben, während er erst 1837 wieder uneingeschränkt Philosophie lehren durfte, begrenzte seine Wirkung deutlich. Der bedeutende sächsisch-weimarische nationalliberale Politiker Hugo Fries (1818–1889) war sein Sohn.2 Fries stand philosophisch in der Nachfolge Kants. Sein Zeitgenosse Johann Eduard Erdmann hat ihn als den „Bedeutendsten unter den Halbkantianern“ bezeichnet.3 Fries versuchte aus der Kantschen Philosophie eine Theorie der menschlichen Vernunft abzuleiten und interessierte sich deshalb und aufgrund seiner naturwissenschaftlichen Forschungen stark für Themen, die heute zur Psychologie zählen. Insbesondere in der Psychiatrie sollen Fries’ Überlegungen bahnbrechend gewesen sein. In der Moralphilosophie war für Fries der Begriff der persönlichen Wür-

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de zentral. Auf ihn gründete er seine Philosophie des politischen Lebens. Aber die persönliche Würde war für Fries kein universeller Wert, sondern an die ethnisch definierte Staatsangehörigkeit gebunden – ebenso wie die Nationalversammlung 1848 keine allgemeine Erklärung der Menschen- oder Bürgerrechte, sondern bewusst „Grundrechte der Deutschen“ beschloss. Für das Verständnis seines →Antisemitismus ist auch Fries’ posthum veröffentlichte „Politik oder philosophische Staatslehre“ (1848, hg. von seinem Schüler Ernst Friedrich Apelt) wichtig. Von einer „neufriesischen“ Schule um den Sozialisten Leonard Nelson (Gründer des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes) wurde dieser Text in der Weimarer Republik als ethisch-sozialistisches Programm und als Alternative zu Marx und Engels gelesen. Fries erschienen die Juden als „Händlerkaste“ und bedrohliche Finanzkapitalisten. Außerdem sah er in Religionen generell gefährliche Ideologien, die den nationalen Zusammenhalt schwächten. Er stand darin in der Tradition Kants, dessen Ziel eine aufgeklärte Religion war. Antisemitismus war im frühen 19. Jahrhundert in der deutschen nationalistischen Bewegung verbreitet. Auch wenn seine antisemitischen Äußerungen extrem waren, steht Fries exemplarisch für eine ganze Gruppe nationalistischer Wissenschaftler, die völkische Ideologeme im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelten und die ihr wichtigster zeitgenössischer Kritiker →Saul Ascher 1815 treffend als „Germanomanen“ charakterisiert hat. In diese Gruppe gehören etwa die Historiker →Ernst Moritz Arndt und Heinrich Luden, die Philosophen →Johann Gottlieb Fichte und Lorenz Oken (mit Einschränkungen auch der Theologe Friedrich Schleiermacher).4 Alle waren miteinander verbunden und wirkten politisch prägend auf die Burschenschaft, die erste nationalistische Organisation in „Deutschland“, deren Mitglieder häufig bei ihnen studierten und sie verehrten. Viele dieser frühnationalistischen Intellektuellen wurden als „Demagogen“ politisch verfolgt und verloren oft mehrfach ihre Stellungen, zunächst wegen ihrer Opposition gegen die französische Besatzungsherrschaft, dann im Rahmen der politischen Reaktion nach der Niederlage Napoleons, insbesondere aufgrund der Karlsbader Beschlüsse (1819). Ausgehend von einer ethnisch-kulturellen Definition des Deutschseins, meist über die Muttersprache, verlängerten viele frühnationalistische Wissenschaftler die Abstammung moderner Völker bis zu prähistorischen Stämmen zurück und verstanden Volkszugehörigkeit als vererbte Eigenschaft, teilweise mit rassistischen Implikationen. Aus diesen Annahmen ergab sich oft, dass nur ein Staat, dessen Grenzen zugleich „Volksgrenzen“ seien, ein „Vaterland“ sein könne. Die Juden mit ihren eigenen Gesetzen, Ritualen und ihrer Abgrenzung von der christlichen Mehrheitsgesellschaft hingegen sahen Fries, Fichte und viele andere Frühnationalisten als „Staat im Staate“. Sie seien „unter allen geheimen und öffentlichen politischen Gesellschaften und Staaten im Staat die gefährlichste“.5 Bei Arndt oder Fries radikalisierten sich essentialistische Zuschreibungen zum „Deutschsein“ im Sinne eines spezifischen „Volksthums“ (Friedrich Ludwig Jahn) oder „Volksgeistes“ (→Johann Gottfried Herder) zu Hasspredigten gegen Franzosen und zu antisemitischen Tir-

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aden bis hin zu drastischen Forderungen nach einem Ausschluss der Juden aus der deutschen Nation und ihrer Stigmatisierung. Auf Fries’ Einfluss geht der Ausschluss der Juden aus der Burschenschaft.6 Dass der Antisemitismus bereits den Anfängen der nationalistischen Bewegung inhärent war, zeigte sich auch im Widerstand gegen die Judenemanzipation, die unter napoleonischer Herrschaft begann und die reformorientierte Verwaltungen fortführten. Nationalistische Liberale opponierten häufig dagegen. Dabei argumentierten auch sie mit der Idee ethnischer Reinheit. Emanzipation sollte der Preis sein für vollständige Assimilation, inklusive Übertritt zum Christentum. Vor dem Hintergrund der Idee, ein Nationalstaat müsse ethnisch und religiös homogen sein, forderten führende Nationalisten, etwa Fries, bereits die Ausweisung der nicht assimilationswilligen Juden. Die beiden judenfeindlichen Schriften Fries’ erschienen 1816/ 17, in einer Zeit relativer Meinungsfreiheit, in die auch das Wartburgfest mit seinen ebenfalls antijüdischen Ausfällen fiel. Es handelte sich um eine zustimmende Rezension des Buchs von Friedrich Rühs „Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht“ (2. Aufl. Berlin 1816) – eines der vielen Werke, das aus liberal-nationalistischer Perspektive gegen die Judenemanzipation durch die deutschen Staaten (hier: Baden) polemisierte und zugleich das aufklärerische Projekt einer „bürgerlichen Verbesserung der Juden“7 verwarf. Zunächst differenzierte Fries wie viele Autoren zwischen einzelnen Juden und der „Judenschaft“: „Nicht den Juden, unsern Brüdern, sondern der Judenschaft erklären wir den Krieg. Wer den Pestkranken liebt, muß der nicht wünschen, daß er von der Pest befreyt werde? Und schmäht der den Pestkranken, der über die Schrecken der Pest klagt und räth, wie man sie vertreibe? Die Judenschaft ist ein Ueberbleibsel aus einer ungebildeten Vorzeit, welches man nicht beschränken, sondern ganz ausrotten soll. Die bürgerliche Lage der Juden verbessern heißt eben das Judenthum ausrotten, die Gesellschaft prellsüchtiger Trödler und Händler zerstören. Judenschaft ist eine Völkerkrankheit, welche […] an Macht gewinnt durch Neid, sobald Despotismus oder Noth drückende Steuerverfassungen erzeugt, sobald viele und drückende öffentliche Lieferungen nöthig werden; sobald der Wohlstand der Bürger so gefährdet ist, daß das Schuldenmachen im Kleinen immer weiter einreißt; endlich auch da, wo es viele müssige Reiche gibt, die zu verschwenden anfangen. Deren todt liegende Kapitale werden von den Juden gefressen wie das Faulende vom Gewürm.“8 In einer wilden Mischung bezeichnete Fries „die Judenschaft“ als Atavismus, als Krankheit, aber dann wieder als Produkt der modernen bürgerlichen Gesellschaft und des Kapitalismus. Im weiteren Verlauf seiner Polemik machte Fries konkrete Vorschläge, unter anderem: „Jede Einwanderung von Juden soll verboten, die Auswanderung möglichst begünstigt werden. […] Sie sollen genöthigt werden, ihre Kinder in die öffentlichen christlichen Schulen zu schicken; ihr Rabbiner sollen bloß Religionslehrer seyn, […]. Sehr gut wäre es indessen freylich, wenn man, […] ihnen, […] nach alter Sitte wieder ein Abzeichen in der Kleidung aufnöthigte. […] Wenn unsere Juden nicht dem Greuel des Cerimonialgesetzes und Rabbinismus gänzlich entsagen und […] so

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weit zur Vernunft und Recht übergehen wollen, daß sie sich mit den Christen zu einem bürgerlichen Verein verschmelzen können, so sollten sie bey uns aller Bürgerrechte verlustig erklärt werden, und man sollte ihnen, wie einst in Spanien […] sie zum Lande hinaus weisen. Wären aber einmal diese Ketten des abscheulichen Talmudwesens in ihrer Religion gesprengt, so käme es dann noch darauf an: die Gewohnheit unter ihnen zu zerstören, daß sie sich einzig auf den Handel und der Arbeitscheu genehme Geschäfte einlassen. Deswegen müßte man ihnen für die erste Generation jedes productive Geschäft möglichst erleichtern; man könnte ihre Reichen nöthigen, die Kinder der Armen dafür erziehen zu lassen. Daneben aber müßte man ihnen das Eingreifen in öffentliche Geldgeschäfte und die kleinen Mäklerdienste auf dem Lande gänzlich wehren; man müßte Ihnen jede Art des Handels entweder völlig verbieten oder doch ganz besonders erschweren.“9 Fries veröffentlichte sein Pamphlet im selben Jahr noch einmal selbständig unter dem massenwirksameren Titel „Über die Gefährdung des Wohlstandes und des Charakters der Deutschen durch die Juden“ (Heidelberg 1816). Ein couragierter Heidelberger Doktorand, Sigmund Zimmern (1796–1830), später in Jena als Ordinarius für Strafrecht Fries’ Kollege, reagierte mit einem „Versuch einer Würdigung der Angriffe des Herrn Prof. Fries auf die Juden“ (Heidelberg 1816), in der er diesem sehr treffend vorhielt: „das Interesse der Menschheit im Munde, individuelles im Herzen, tritt man von menschlicher Schwäche verleitet gegen eine arme wehrlose Confession auf“. Er berichtete, dass die Kurzfassung von Fries’ Pamphlet „auf vielfache Weise verbreitet und in öffentlichen Schenken vorgelesen werde“. Mit solchen Texten würden „bedeutende Männer und öffentliche [Hochschul]Lehrer“ wie Rühs und Fries „in die Masse des Volks brennenden Zündstoff werfen“ – fast prophetisch, wenn man an die Hep-Hep-Krawalle wenige Jahre später denkt, für die Rahel Varnhagen Fries und Rühs mitverantwortlich machte.10 Zimmern argumentierte als Nationalist gegen die Judenfeindschaft der Vordenker der Burschenschaft. Sein politisches Ziel war die „Vereinigung aller in Einer deutschen →Volksgemeinschaft“, während Pamphlete wie von Rühs und Fries das deutsche Volk spalten und die Juden „auf uns selbst zurück“ werfen würden. Detailliert widerlegte Zimmern auf 30 Seiten alle Vorwürfe Fries’ als Vorurteile oder (böswillige) Missverständnisse. Sein Ziel war ein Nationalstaat mit einem „seiner Nationalität angemessenen Ritus und Cultus“ – in dem also eine Nationalreligion an die Stelle aller älteren Religionen und Konfessionen trete, wie sie den meisten Frühnationalisten vorschwebte. Aber zu diesem Ziel könne „kein Machtspruch, kein Befehl von oben führen; dem langsamen, aber sichern Gang der Geschichte bleibt es überlassen“, fügte Zimmern fortschrittsgläubig hinzu.11 Während Fries mit diesem einen Text von 1816 in die Geschichte der Judenfeindschaft eingegangen ist, haben sich die Nationalsozialisten, die im Zuge ihrer invention of tradition viele Frühnationalisten als ihre Vorläufer begriffen, sich nie auf Fries bezogen – wahrscheinlich weil er in der Weimarer Republik eher auf der politischen Linken, im „neofriesischen“ ethischen Sozialismus eines Leonard Nel-

Jacob Friedrich Fries  201

son, rezipiert wurde. Die Ausnahme bildete der völkisch-nationalsozialistische Philosoph Max Wundt, der 1924 ein Buch mit dem Titel „Was ist völkisch?“ und 1926 „Der ewige Jude“ im NS-Parteiverlag publizierte und der auch Platon 1934 als „völkischen Denker“ bezeichnete. Er schrieb 1925 einen Artikel „Der Philosoph Jakob Friedrich Fries als Vorkämpfer des völkischen Gedankens“.12 Während einige Forscher bei Fries bereits den Durchbruch zur rassistischen Judenfeindschaft verorten, scheint mir Hubmanns Unterscheidung, dass sein „Trennungsdenken“ noch nicht biologisch begründet war, überzeugend: „Ihm geht es vielmehr gerade um totale Integration, und das heißt: um die sittliche Auslöschung des Judentums“.13 Er war zwar offen antisemitisch, argumentierte aber (wie Fichte und Rühs) in der Tradition der Aufklärung immer „naturrechtlich“. Dieser politisch „progressive“ Antisemitismus, der von den Regierungen der 1820er-Jahre im Rahmen der „Demagogenverfolgung“ bekämpft wurde, deutet auf ein Spezifikum des völkischen Nationalismus: dass er sich mit liberalen und demokratischen Ideen verbinden ließ und im frühen 19. Jahrhundert auf der politischen Linken zu verorten ist.14

Christian Jansen

1 Lutz Geldsetzer, Jakob Friedrich Fries’ Stellung in der Philosophiegeschichte, in: Wolfram Hogrebe (Hg. u.a.), Jakob Friedrich Fries – Philosoph, Naturwissenschaftler und Mathematiker, Frankfurt a.M. 1999, S. 13–56, 18 und 38f.; Gerald Hubmann, Völkischer Nationalismus und Antisemitismus im frühen 19. Jahrhundert: Die Schriften von Rühs und Fries zur Judenfrage, in: Renate Heuer (Hg. u. a.), Antisemitismus – Zionismus – Antizionismus 1850–1940, Frankfurt a.M. 1997, S. 10–34, 14. 2 Außerdem zur Biografie: Lüder Gäbe, Fries, Jakob, in: Neue Deutsche Biographie 5 (1961), S. 608– 609; Dagmar Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1803–1932, Berlin 1986. 3 Johann Eduard Erdmann: Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie (1848–1853), zit. nach Geldsetzer, Fries’ Stellung, S. xx. Auf diese Darstellung stützt sich der ganze Absatz. Weiterführend: Gerald Hubmann, Ethische Überzeugung und politisches Handeln. Jakob Friedrich Fries und die deutsche Tradition der Gesinnungsethik, Heidelberg 1997. 4 Vgl. Micha Brumlik, Deutscher Geist und Judenhass. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum, München 2000; Saul Ascher, Die Germanomanie. Skizze zu einem Zeitgemälde (1815) http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-germanomanie-2602/1 (30.1.2017). 5 Friedrich Jakob Fries, Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht, in: Heidelberger Jahrbücher der Literatur, Bd. 16/17 (1816), zit. nach Jakob Friedrich Fries, Sämtliche Schriften, Bd. 25, Aalen 1996, S. 150–173, 165. Zur zeitgenössischen Kritik und zur Rezeption der Schrift in der Historiografie seit 1945: ebd., S. 67*-74*. 6 Hubmann, Völkischer Nationalismus, S. 26. Vgl. zum Hintergrund Christian Jansen u.a., Nation – Nationalität – Nationalismus, Frankfurt a.M. 2007, S. 43–50. 7 Vgl. Christian Wilhelm Dohm, Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin 1781 (http:// ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/image/91953/1/LOG_0000/; 4.2.2017). 8 Fries, Über die Ansprüche, S. 158f. 9 Ebd., S. 169 und 172. 10 Hubmann, S. 26f. Zum Hintergrund: Rainer Erb/Werner Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780–1860, Berlin 1989.

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11 Sigmund Zimmern, Versuch einer Würdigung der Angriffe des Herrn Prof. Fries auf die Juden, Heidelberg 1816, zit. nach: Fries, Sämtliche Schriften, Bd. 25, Aalen 1996, S. 784–815, 785, 788 und 810. 12 Göttinger Tageblatt, 23.6.1925, zit. nach Geldsetzer, Fries’ Stellung, S. 44. 13 Hubmann, S. 31–34. 14 Vgl. zu seinen politischen Maximen sein „Glaubensbekenntniß“ von 1818, in: Fries, Sämtliche Schriften, Bd. 26, Aalen 2004, S. 187–191.

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Karl Richard Ganzer Als Schüler des einflussreichen Münchner Ordinarius →Karl Alexander von Müller zählte Karl Richard Ganzer zur Riege nationalsozialistischer Historiker, die in →Walter Franks Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands eine Wirkungsstätte finden sollten. Zugleich wurde Ganzer im Nationalsozialismus zum Erfolgsautor, der in hohen Auflagen Geschichtsbilder für die „→Volksgemeinschaft“ entwarf und popularisierte. Der 1909 geborene Ganzer studierte seit dem Sommersemester 1927 an der Münchner Universität Geschichte, Deutsch und Geographie. Noch als Student begann sich Ganzer im Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund zu engagieren und trat zum 1. November 1929 in die NSDAP ein, erhielt zudem 1931/32 eine zeitweilige Anstellung im „Braunen Haus“.1 Als Geschichtsstudent hatte Ganzer früh den Weg in das Seminar Müllers gefunden2 und im Dezember 1932 schließlich seine Dissertation unter dem Titel Richard Wagner und die Revolution eingereicht. Gestellt worden sei ihm das Thema durch Müller, so Ganzer im begleitenden Lebenslauf.3 Der im Februar 1933 anstehende fünfzigste Todestag Wagners ließ auf gesteigerte Aufmerksamkeit hoffen, auch der letzte öffentliche Auftritt Thomas Manns in Deutschland vor seiner Emigration war mit einem Vortrag über „Leiden und Größe Richard Wagners“ diesem Jahrestag gewidmet. Doch musste es Mann nicht nur ratsam erscheinen, im Ausland zu bleiben, im April erschien zudem ein gegen ihn gerichteter „Protest der Richard-Wagner-Stadt München“, der zum sinnfälligen Ausdruck des Bruches zwischen Mann und einem sich dem Nationalsozialismus zuwendenden deutschen Bildungsbürgertum wurde.4 Auch Ganzers Doktorvater ließ den Todestag Wagners nicht ohne öffentlichen Auftritt verstreichen, Müllers Münchner Vortrag über „Richard Wagner und das 19. Jahrhundert“ wurde im April 1933 in der schweizerischen Literatur- und Kulturzeitschrift Corona publiziert, verbunden mit einem Hinweis auf die bevorstehende Veröffentlichung der Doktorarbeit Ganzers.5 Diese hatte da bereits Müllers Zustimmung erhalten, ihr Ziel sei „geistesgeschichtlicher Art: die revolutionären Absichten u. Anschauungen Wagners in der Zeit ihrer entscheidenden Fixierung, d.h. vor allem in den theoretischen Schriften der Züricher Zeit, analysierend aufzuhellen.“ Sein durchweg lobendes Gutachten schloss Müller mit der Benotung „valde laudabilis“, einem magna cum laude entsprechend, der sich der zweite Referent Arnold Oskar Meyer anschloss.6 Zum Jahresbeginn 1934 konnte Ganzer seine Dissertation als Buch vorlegen, nunmehr auch im Titel die Zielrichtung unmissverständlich offenlegend: „Richard Wagner, der Revolutionär gegen das 19. Jahrhundert“. Wagner habe, so Ganzer, gegen „die Gesinnungen des liberalistischen Jahrhunderts in einem ununterbrochenen Angriff gestanden“, er hätte „heute Nationalsozialist werden können, weil er die geistigen, politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten einer vergangenen Epoche aus der Haltung heraus bewertete, die in unseren Tagen den entscheiden-

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den Antrieb des Nationalsozialismus“ bilde. Diese deutliche Wendung gegen das Zeitalter von Emanzipation und Liberalismus schien Ganzer allerdings nicht zu genügen, zusätzlich wollte er betont wissen, dass sein Buch „in nationalsozialistischer Gesinnung und nationalsozialistischer Absicht geschrieben“ worden sei.7 Zuvor bereits hatten akademischer Lehrer und Schüler im November 1933 Seite an Seite zu Wagner publiziert, in Wille und Macht, der Zeitschrift der Hitler-Jugend. 8 Der Eintritt in die publizistische Öffentlichkeit des nationalsozialistischen Deutschlands hätte kaum prominenter sein können. Eine im engeren Sinne wissenschaftliche, universitäre Laufbahn schlug Ganzer auch deshalb zunächst nicht ein. Als Autor verschrieb er sich der Geschichte der nationalsozialistischen Bewegung. Seine 1935 veröffentliche Darstellung „Vom Ringen Hitlers um das Reich, 1924– 1933“ durfte sich als erste seitens der NSDAP anerkannte Darstellung der Parteigeschichte rühmen, selbst eine Aufnahme in die englische Ausgabe von „Mein Kampf“ sei vorgesehen gewesen.9 Wenig überraschend vollkommen auf Hitler zugeschnitten, erreichte das Buch bis 1942 eine Auflage von nahezu fünfzigtausend Stück. Die Karriere als wissenschaftlich ausgewiesener und zugleich publikumswirksamer Historiograph des Nationalsozialismus setzte Ganzer fort, im folgenden Jahr erschien mit „9. November 1923. Tag der ersten Entscheidung“ ein neuerlicher „Bestseller“, ebenfalls in einer Auflage von mehreren zehntausend Exemplaren verbreitet.10 Einen weiteren Erfolg am Buchmarkt hatte Ganzer mit seiner Sammlung von 200 Bildnissen „deutscher Kämpfer und Wegsucher aus zwei Jahrtausenden“ erzielen können. Mit kurzen, leicht zugänglichen Beschreibungen versehen, verband „Das deutsche Führergesicht“ altvertraute Formen der historischen Anschauung für das breitere Publikum mit nationalsozialistischen Führer-Vorstellungen, ein Coffee Table Book für den Volksgenossen, das vier Auflagen erleben sollte.11 Im Mai 1935 heiratete Ganzer die zeitweilige Bundesführerin des BDM und Reichsleiterin des NSFrauenschaft Lydia Gottschewski, ebenfalls bereits seit 1929 NSDAP-Mitglied.12 Eine nationalsozialistische Musterkarriere, die ihren Weg zurück in die Wissenschaft jedoch erst mit der sich ab 1935 schrittweise vollziehenden Etablierung genuin nationalsozialistischer Institutionen fand. In Karl Alexander von Müllers im Juni 1933 vorgenommener Abwägung der „begabtesten Nationalsozialisten unter meinen Schülern“, als deren Primus Walter Frank herausgestellt wurde, hatte Ganzer gemeinsam mit Ottokar Lorenz Erwähnung gefunden, beide seien mit Doktorarbeiten „von ungewöhnlichem Kaliber hervorgetreten“.13 Wie Frank aber sollte auch Ganzer erst mit der Auflösung der Historischen Reichskommission und der darauf folgenden Gründung des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands eine wissenschaftliche Anstellung erhalten. Seit dem Oktober 1935 erhielt Ganzer im Reichsinstitut einen dotierten Forschungsauftrag zur „Geschichte der nationalkirchlichen Bewegungen im 19. Jahrhundert“ und wurde in den Sachverständigenbeirat des Instituts berufen. Ergänzt wurde Ganzers Stellung im April 1936 mit einem ebenfalls besoldeten Auftrag zur „laufenden wissenschaftlichen Beratung und Kontrolle“ des NSDAP-Hauptarchivs, dessen Tätigkeit Frank mit Argwohn betrachtete.14

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Im Gefolge Müllers und Franks konnte Ganzer nun auch im Bereich der etablierten Geschichtswissenschaft reüssieren, allerdings mit weniger prominenten Auftritten als auf dem Markt nationalsozialistischer Populärgeschichtsschreibung. Als Müller im Herbst 1935 die Herausgeberschaft der Historischen Zeitschrift (HZ) von Friedrich Meinecke übernahm, hatte Frank ursprünglich den langjährigen Hauptredakteur Walther Kienast durch Ganzer ersetzen lassen wollen. Mit einer derartigen „Parallelführung“ von HZ und Reichsinstitut konnte sich Frank zwar nicht durchsetzen, Kienast blieb im Amt. Jedoch durfte Ganzer den allgemeinen Zeitschriftenbericht in der HZ übernehmen, wie Kienast dem ausgebooteten Rudolf Stadelmann mitteilte: „Dass Sie zurücktreten mussten, war der Wunsch von W. Frank, der dieses Referat an Dr. Ganzer übertragen wünscht, einen Schüler Karl Alexander von Müllers. Müller selbst hätte Sie gern behalten.“15 Auch in einem Berufungsverfahren an der Leipziger Universität zu Beginn des Jahres 1936 fand Ganzer, neben anderen Historikern aus dem Reichsinstitut, Beachtung, ohne jedoch schließlich ernsthaft in Betracht zu kommen.16 Jenseits des Kreises um Walter Frank und der Förderung Müllers, dessen Leitung der HZ entsprechend von Ganzer öffentlich gerühmt wurde17, blieben nachhaltige Erfolge im Wissenschaftsbetrieb aus. Als Frank im Zuge des anhaltenden Konfliktes mit dem „Judenforscher“ →Wilhelm Grau diesem im Frühjahr 1938 seine Ämter entzog, übernahm Ganzer als in München ansässiger Mitarbeiter des Reichsinstituts zunächst die kommissarische geschäftsführende Leitung der „→Forschungsabteilung Judenfrage“, nach einer weiteren Reorganisation schließlich die stellvertretende Gesamtvertretung des Reichsinstituts in München.18 Auf der folgenden Arbeitstagung der Forschungsabteilung im Juli 1938 trug Ganzer, zurückgreifend auf seine Dissertation und deren ohnehin emanzipationsfeindliche Zielrichtung im Sinne der antisemitischen Paradigmen der „→Judenforschung“ zuspitzend vor, sein Beitrag „Richard Wagner und das Judentum“ erschien in den „Forschungen zur Judenfrage“ wie auch als selbständige Schrift.19 Seinem seit Gründung des Reichsinstituts laufende Forschungsauftrag allerdings hatte Ganzer nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Zwar richtete Frank im Mai 1935, wiederum nach einer Neustrukturierung des Reichsinstituts, ein „Hauptreferat für konfessionelle Fragen und Fragen des politischen Katholizismus“ ein, dem Ganzer zusammen mit dem Philosophen Hans Alfred Grunsky vorstand.20 Größere selbständige Veröffentlichungen gingen aus Ganzers vermeintlich jahrelangen Forschungen zu den „nationalkirchlichen Bewegungen im 19. Jahrhundert“ jedoch nicht hervor. Publiziert wurde lediglich ein längerer Vortrag zu Clemens Maria Hofbauer, einem 1909 heiliggesprochenen österreichischen Priester, dem Ganzer als „Träger der Gegenreformation im 19. Jahrhundert“ exemplarische Bedeutung für sein Thema zusprach.21 Nicht als wissenschaftlicher, sondern als politischer Autor hatte Ganzer seit 1933 Karriere gemacht, die 1940 gesammelt publizierten Reden und Aufsätzen „aus den Jahren zwischen der nationalsozialistischen Revolution

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und dem gegenwärtigen Krieg“ hätten dementsprechend „keinen wissenschaftlichen, sondern gesinnungsbildenden, also politischen Charakter.“22 Diesen weithin erprobten Pfad hatte Ganzer bereits im Jahr zuvor erneut und in ausgesprochen publikumswirksamer Weise beschritten. Auf knapp zwei Dutzend farbigen, von Ganzer erläuterten Karten wurde das „Werden des Reiches“ in wortwörtlich „anschaulicher“ Weise illustriert, die „Geschichte der Reichsgestalt“ unmittelbar vor ihrer folgenden, kriegerischen Expansion nachgezeichnet.23 Der Rückgriff auf das „Reich“, den Ganzer weder zuerst noch als einziger vornahm, lag in vielerlei Hinsicht nahe, rekurrierte doch der Nationalsozialismus bereits in seiner Selbstzuschreibung eines „Dritten Reiches“ in wenig konsistenter, aber trotzdem wirkmächtiger Form auf eine vermeintlich überzeitliche „Reichsidee“.24 Nicht zuletzt der Bezug auf das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“, das „alte Reich“, erfreute sich unter den Historikern im Nationalsozialismus einiger Beliebtheit. Die bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in imperialistischer Absicht eingeleitete „Entgrenzung der Reichsidee“ nutzte der NS-Staat, um „seinen Herrschaftsansprüchen den Schein einer historischen Tradition zu stiften.“25 Entsprechend sah die Geschichtswissenschaft in der Notwendigkeit, die deutsche Besetzung Europas zu legitimieren, eine Chance, historiographischen Konzepten des Reiches Aufmerksamkeit und Wirkungsmacht zu verleihen. Die in zahlreichen Publikationen beschworene, unter deutscher Führung herzustellende „Ordnung“ in Europa, fand ihre wohl bekannteste, in hunderttausenden Exemplaren verbreitete historiographische Verknüpfung mit dem Reichsbegriff in Ganzers 1941 erschienener Broschüre „Das Reich als europäische Ordnungsmacht“.26 Auch das Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands bemühte sich um seinen Anteil an dieser Konjunktur27, zumal mit Ganzer ihr prominentester Protagonist im Dezember 1941 und mithin auf dem Höhepunkt seines publizistischen Erfolges die Institutsleitung übernommen hatte.28 Nachdem sich Walter Frank zuvor endgültig in seinen zahllosen Querelen verstrickt hatte, führte Ganzer das Reichsinstitut ohne nennenswerte Veränderungen in dessen Sinne fort. Entsprechend nahm etwa Karl Alexander von Müller noch ein halbes Jahr später an, Ganzer werde gegebenenfalls in „allen solchen Fragen die Weisungen Franks einholen“.29 Der anhaltende Krieg aber, dessen Glück sich zudem endgültig zu wenden begonnen hatte, unterband Ganzers fortgesetztes Wirken an der „Heimatfront“ alsbald. Wenige Wochen nach der Übernahme der Leitung des Reichsinstituts musste Ganzer zum ersten Mal zur Wehrmacht einrücken, wurde im Herbst 1942 nach intensiven Bemühungen, seine „Unabkömmlichkeit“ nachzuweisen, jedoch wieder freigestellt. Noch an der Ostfront hatte Ganzer seinen Beitrag zu den gesammelten Glückwünschen der Schüler seines Förderers Müllers verfasst, dessen sechzigster Geburtstag anstand. Zunächst schlug Ganzer den Bogen zurück, zu Müllers fünfzigstem Geburtstag im Dezember 1932. Seinerzeit habe ihm Ganzer aus dem „Braunen Haus“ gratuliert, es habe „der Endkampf um die Erringung der Macht“ getobt. Nun, zehn Jahre da-

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rauf, schreibe er „aus einem Postenloch am hohen Steilufer des Don, unweit der umkämpften Stadt Woronesch, gegen die der Russe seit Wochen in immer neuen Angriffen anrennt.“ Er gehöre „zu denen, die vor 10 Jahren Wissenschaft und Revolution zu verbinden suchten, und die heute, im großen Endkampf um die neue Ordnung, auf dem Angriffsfeld und im Grabensystem zu prüfen haben, ob ihr bisheriges Wollen auch auf diesem brennenden Plan der Nation so besteht, daß es für unsere Wissenschaft geistigen und politischen Gewinn erbringt.“30 Trotz des martialischen Bekenntnisses zum Fronteinsatz war Ganzer nach seiner Heimkehr sehr bemüht, die zurückgewonnene UK-Stellung nicht zu verlieren und wehrte sich gegen seine erneute Einberufung. Obwohl Ganzer zu einer 1943/44 zwischen nationalsozialistischen Entscheidungsträgern festgelegten Gruppe „unentbehrlicher“ Nachwuchskräfte der Geisteswissenschaften zählte, die durch gezielte UK-Stellungen für die Nachkriegszeit gesichert werden sollte, gelang ihm der dauerhafte Entzug vom Wehrdienst nicht.31 Im Herbst 1943 wurde Ganzer erneut einberufen und fiel noch auf dem Weg an die Ostfront am 11. Oktober 1943. Als einer der prominentesten Vertreter der sich um Walter Frank scharenden, nationalsozialistischen Historiker, als Historiograph der NS-Bewegung und populärer Autor war Ganzers Tod auch der breiteren nationalsozialistischen Öffentlichkeit eine Nachricht wert.32

Matthias Berg

1 BArch, BDC, PK / C 0389 [Ganzer Karl Richard], Parteistatistische Erhebung 1939 vom 1.7.1939; Lebenslauf Ganzers vom 8.12.1937. 2 Vgl. die Wünsche zum Jahreswechsel, BayHStA, Nl von Müller 262, Ganzer an Müller vom 30.12.1929 sowie Müllers ausnahmslos positive Seminar-Zeugnisse, in: BArch, R 1/68. 3 UALMU, O-Np-1932/33 [Ganzer Karl Richard], Dekan Phil. Fak. „Promotionsgesuch Karl Richard Ganzer“ vom 6.12.1932; Ganzer, Lebenslauf vom 2.12.1932. 4 Vgl. Georg Bollenbeck, Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880–1945, Frankfurt a. M. 1999, S. 11–43. 5 Karl Alexander von Müller, Richard Wagner und das 19. Jahrhundert. Gedenkrede im Münchner Nationaltheater, in: Corona 3 (1932/33) 4, S. 411–427. Der Hinweis auf Ganzer findet sich in den Heftanmerkungen, S. 528. Zu Müller vgl. Matthias Berg, Karl Alexander von Müller. Historiker für den Nationalsozialismus, Göttingen 2014. 6 UALMU, O-Np-1932/33 [Ganzer Karl Richard], Gutachten Müller vom 18.2.1933; Gutachten Meyer vom 21.2.1933. 7 Karl Richard Ganzer, Richard Wagner, der Revolutionär gegen das 19. Jahrhundert, München 1934, S. 6. 8 Vgl. die Beiträge Müllers („Richard Wagner und das 19. Jahrhundert“) und Ganzers („Richard Wagner, der Verkünder der deutschen Revolution“) in: Wille und Macht 1 (1933) 21. 9 Karl Richard Ganzer, Vom Ringen Hitlers um das Reich, 1924–1933, Berlin 1935. Sämtliche Angaben werden auf Umschlag und im Nachsatz des Buches selbst mitgeteilt. Zuvor hatte Ganzer bereits 1933 mit „Weiter, nur weiter! Der Roman des deutschen Aufbruchs 1917–1933“ eine belletristische Variante vorgelegt, nach eigenen Angaben auf Anregung Baldur von Schirachs, vgl. BArch, BDC, PK/C 0389 [Ganzer Karl Richard], Lebenslauf Ganzers vom 8.12.1937.

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10 Karl Richard Ganzer, 9. November 1923. Tag der ersten Entscheidung, München 1936. 11 Karl Richard Ganzer, Das deutsche Führergesicht. 200 Bildnisse deutscher Kämpfer und Wegsucher aus 2 Jahrtausenden. Mit einer Einführung in den Geist ihrer Zeit, München 1935. 12 Ganzers Ehefrau teilte auch seine publizistischen Vorlieben, vgl. Lydia Ganzer-Gottschewski, Das deutsche Frauenantlitz. Bildnisse aus allen Jahrhunderten deutschen Lebens, München 1939. 13 BayHStA, MK 39698, Müller, Erklärung vom 12.6.1933. 14 Vgl. Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966, S. 265f., 363 u. 375–386. 15 BWA, Oldenbourg Verlag 244, Frank an Verlag vom 24.5.1935; BArch, NL Rudolf Stadelmann 12, Kienast an Stadelmann vom 14.10.1935. Ganzer zeichnete ab dem ersten von Müller herausgegebenen Heft für das Referat verantwortlich (vgl. HZ 153 (1936) 1, S. 165), beendete sein Wirken aber offenkundig bereits mit dem ersten Heft des Bandes 158 (1938) wieder, vgl. ebd. S. 162 16 Vgl. eine Reihe von Schreiben und Sitzungsprotokollen in: UAL, Phil. Fak. B2/20:58 (planm. ao. Professur für neuere Geschichte 1936). 17 Karl Richard Ganzer, Erbe und Umbruch. Zwei Jahre „Historische Zeitschrift“ unter Karl Alexander von Müller, in: Münchner Neueste Nachrichten Nr. 308 vom 11.11.1937. 18 Formal Ganzer vorgesetzt war jeweils Müller, vgl. BArch, R 1/69, Frank an Ganzer v. 23.4.1938; BArch, R 4901/14105, Bl. 46, Präsident Walter Frank „Rundschreiben“ vom 30.4.1938. 19 Karl Richard Ganzer, Richard Wagner und das Judentum, Hamburg 1938 sowie in: Forschungen zur Judenfrage 3 (1938), S. 105–120. 20 BArch, R 4901/14105, Bl. 50, Präsident Walter Frank „Rundschreiben“ vom 24.5.1938. 21 Karl Richard Ganzer, Der Heilige Hofbauer. Träger der Gegenreformation im 19. Jahrhundert, Hamburg 1939. 22 Karl Richard Ganzer, Aufstand und Reich. Lebenskräfte deutscher Geschichte, München 1940, S. 9. Vgl. auch ein entsprechendes Schreiben an seinen Förderer Müller, UB Regensburg, K.A.v. Müller, Schuber 1, Ganzer an Müller vom 28.8.1940. 23 Karl Richard Ganzer, Das Werden des Reiches. Farbige Karten zur Geschichte der Reichsgestalt, München 1939. Im Jahr darauf folgte bereits eine zweite Auflage. 24 Frank-Lothar Kroll, Die Reichsidee im Nationalsozialismus, in: Franz Bosbach (Hg. u.a.), Imperium, Empire, Reich. Ein Konzept politischer Herrschaft im deutsch-britischen Vergleich, München 1999, S. 179–196. 25 Dieter Langewiesche, Reich, Nation und Staat in der jüngeren deutschen Geschichte, in: ders., Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 190–216, 214f. 26 Karl Richard Ganzer, Das Reich als europäische Ordnungsmacht, Hamburg 1941. Zunächst in den „Schriften des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands“ erschienen, folgte noch 1941 eine Ausgabe als Tornisterschrift der Wehrmacht. Eine Gesamtauflage von 850.000 Exemplaren könne angenommen werden, so Heiber, Frank, S. 378. Zu Ganzers Schrift vgl. zudem Karen Schönwälder, Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. u.a. 1992. 27 Vgl. die in vier Bänden erschiene Sammlung Reich und Reichsfeinde, Hamburg 1941ff. 28 Heiber, Frank, S. 1150 sowie zur Amtsführung Ganzers S. 1165–1173 29 Gegenstand war die Ernennung Heinrich Ritter von Srbiks zum Präsident der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, HiKo I Band 36, Müller an Karl Brandi vom 25.6.1942. 30 BayHStA, Nl von Müller 27, Ganzer an Müller vom Oktober 1942. Hervorhebung im Ordner. 31 Die Angaben zu Ganzers UK-Stellung und seiner Berücksichtigung als „unentbehrlicher“ Geisteswissenschaftler verdanke ich Jens Thiel, der sich dieser Gruppe in einem Forschungsprojekt gewidmet hat, vgl. Jens Thiel, Der Dozent zieht in den Krieg. Hochschulkarrieren zwischen Militarisierung

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und Kriegserlebnis, in: Matthias Berg (u.a. Hg.), Mit Feder und Schwert. Militär und Wissenschaft – Wissenschaftler und Krieg, Stuttgart 2009, S. 211–240, zu Ganzer S. 235f. 32 Vgl. Karl Richard Ganzer gefallen, in: Münchner Neueste Nachrichten Nr. 311 vom 8.11.1943.

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Erich Gierach Erich Gierach wurde am 23. November 1881 in Bromberg als Sohn eines Verlegers geboren und lebte seit 1887 im böhmischen Reichenberg. Er war dort zunächst an der Handelsakademie beschäftigt, wo er von 1906 bis 1921 moderne Sprachen lehrte. Die Politisierung Gierachs war an der Karls-Universität in Prag erfolgt, wo er in den Bannkreis Georg von Schönerers geriet, der in Wien, analog zum →Alldeutschen Verband in Deutschland, die Alldeutsche Bewegung Österreichs gegründet hatte. Dieser Verein vertrat radikale Kriegsziele und war antisemitisch. Es war jedoch sein Vater Hugo Gierach, der seinen Sohn als Druckleiter der radikal-völkischen Deutschen Wochenzeitung in das nationalistische Milieu einführte. Diese Zeitschrift unterlag bereits 1890 im Habsburgerreich mehrfach der Zensur, weil sie gegen die Badenische Sprachverordnung polemisierte. Als Erich Gierach 1919 aus der Kriegsgefangenschaft in Sibirien entlassen wurde, war die ČSR bereits gegründet.1 Nachdem der Anschluss Böhmens und Mährens an ein „Großdeutsches Reich“ gescheitert war, führte Gierach die Aktivitäten der nationalistisch-völkischen Jugendbewegung mit denen der inzwischen etablierten Parteien und bildungsbürgerlicher Vereine in der Böhmerlandbewegung zusammen, der auch Karl Hermann Frank angehörte. In Reichenberg engagierte er sich in der Deutschen Jungmannschaft der völkischen Jugendbewegung, im Deutschnationalen Verein und im Neuen Deutschen Kulturbund für Österreich.2 Sein Plan einer deutsch-völkischen „Einheitspartei“ scheiterte. Sowohl die deutschen Liberalen als auch die Partei der „Landwirte“ gingen in Koalition mit den tschechischen Parteien. So brachte er nur auf kommunaler Ebene ein Bündnis zwischen den Deutschnationalen und der DNSAP zusammen. Er erzielte 1919 selbst ein Mandat. Gierach gründete 1920 die Deutsche Nationalpartei Böhmens mit, die mit der DNSAP kooperierte.3 Im Gegensatz zu diesen Rechtsgruppierungen unterstützten 69% der Deutschen die „Aktivisten“, die den Ausgleich mit der Demokratie in der ČSR suchten.4 Als Germanist und Volkskundler war Gierach einer der Erfinder des Grundaxioms des völkischen Heimatschutzgedankens, die eigene Sprachgruppe ethnisch, kulturell und sozial als einen geschlossenen „Volkskörper“ zu begreifen, der von außen durch das Fremde bedroht sei. Sein „Katechismus für das deutsche Volk in Böhmen“, den er unter dem Pseudonym Prof. Erich Volkmann publizierte, vertrat die Position, das „ganze Gebiet des tschechoslowakischen Staates“ sei „alter deutscher Boden“. Indessen führte er die dortige Herkunft der Deutschen auf alte germanische „Stämme“ zurück. Die Konstruktion, in einem ersten Schritt den geographischen Raum einer ethnisch homogenen Bevölkerung zuzuweisen, um dann in einem weiteren Schritt dieser Bevölkerung territoriale Besitztitel zuzusprechen, war ein völkisches Basisparadigma. Hinzu trat die Auffassung, eine ethnische Gruppe sei gegenüber einer anderen Bevölkerungsgruppe durch die Fortschrittlichkeit ihrer Kulturtechniken überlegen. Aus dieser vermeintlichen Überlegenheit leitete Gierach das Recht gegenüber den tschechischen Fremden ab, diese Räume als deutsches

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Herrschaftsgebiet zu beanspruchen.5 Der heuristische Kern seiner Argumentation beruhte auf dem umstrittenen Modell, aus der germanischen beziehungsweise altdeutschen Herkunft einzelner Flur-, Orts- oder Flussnamen auf die ethnische Herkunft der Namensgeber zu schließen.6 1921 erhielt Gierach den Ruf an die Prager Universität. Sein wissenschaftliches Renommee erwarb er sich durch seine philologischen Arbeiten über die „Synkope und Lautabstimmung“ und der kritischen Editionen mittelalterlicher Texte wie Hartmanns „Armen Heinrich“, seiner nicht angenommenen Habilitationsschrift.7 Wichtigste Werke, die gleichzeitig der „Tschechenabwehr“ dienten, waren der Deutsche Sprachatlas,8 für den er die regionale Fragebogenaktion durchführte, und das Sudetendeutsche Ortsnamenbuch, das die Grundlage für die Siedlungsgeschichte der Deutschen in Böhmen und Mähren bildete. Darin war jeder Bezirk mit je einem Band vertreten. Er selbst bearbeitete die Bände zu Reichenberg (1932) und Friedland (1932).9 Da Wissenschaft und Politik für ihn eine Einheit bildeten, verknüpfte er seine wissenschaftliche Praxis eng mit den Axiomen der völkischen Heimatbewegung. So legte er in Reichenberg die Grundlage für die „sippenkundliche“ Erfassung von Familiennamen seit dem dreißigjährigen Krieg, eine der größten Sammlungen deutscher Namen. Sein Wohnsitz blieb Reichenberg, weil er dort, unbeaufsichtigt von der tschechischen Hochschulverwaltung in Prag, ein Institut für Volksforschung aufbauen wollte. Dafür reaktivierte er die Deutsche Wissenschaftliche Gesellschaft in Reichenberg, aus der die Juden ausgegrenzt wurden. Ferner gründete er die Anstalt für Sudetendeutsche Heimatforschung, einen Volksbildungsverein, und die Deutsche Gesellschaft für Vor- und Frühgeschichte in der Tschechoslowakei. Sein Volksbildungsverein trug auch die Zeitschrift Sudeta. Die Volksbildungsbücherei zählte 1935 circa 140.000 Bände. Als Forum dienten ihm die Reichenberger „Stammeswochen“, durch die er die Kontakte zwischen den böhmischen, österreichischen und deutschen Aktivisten vertiefte, und die Hochschulwochen, welche – für Tschechen und Juden unzugänglich – rein politische Bildungsveranstaltungen waren.10 Nachdem Gierach sich als Volkskundler und Germanist an der deutschen Universität in Prag etablierte hatte, vernetzte er sich mit der →Leipziger Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung. In Prag vertrat er zusammen mit →Emil Lehmann im Sonderausschuss für das Volksbildungswesen im Verband der Selbstverwaltungskörper der ČSR die Position der „Sudetendeutschen“ gegen die linken Parteien. Zusammen mit Lehmann gründete er die Gesellschaft für deutsche Volksbildung in der Tschechoslowakei, die als eine Zentralstelle für „sudetendeutsche“ Forschung dienen sollte, aber nie zum Zuge kam. Auch deshalb blieben seine Aktivitäten auf Reichenberg begrenzt. Trotzdem stieg Erich Gierach sukzessive zum „nichtamtlichen Kultusminister“ der Sudetendeutschen Heimat- und Volkstumsbewegung auf.11 In seiner Funktion als Professor für deutsche Philologie an der Philosophischen Fakultät der Deutschen Universität in Prag vertrat Gierach die Interessen der völkischen Bewegung auch außerhalb der ČSR. So engagierte er sich vor al-

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lem im Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) und in der Volks- und Kulturbodenforschung. Erich Gierach übernahm innerhalb des Leipziger Forschungsverbundes nicht nur die Aufgabe, die territorialen Besitztitel des Tschechoslowakischen Staates auf Böhmen und Mähren zurückzuweisen. Er ging auch mit den alt-österreichisch gesinnten Historikern ins Gericht, die die Kulturbringerthese nicht für plausibel hielten oder die ein alternatives Szenario verfolgten. Sein ärgster Feind war der bis 1926 amtierende Historiker und Leiter des Stadtarchivs in Brünn, Bertold Bretholz. Dessen dreibändige Geschichte Böhmens und Mährens bezweckte die These des tschechischen Staatsgründers und Soziologen Tomáš G. Masaryk sachte zurechtzurücken, die Deutschen seien im Mittelalter nur als Immigranten und Kolonisten ins Land gekommen.12 Nicht nur diese Position war für ihn inakzeptabel. Gierach bekämpfte Bretholz vor allem deshalb, weil er sich zum Gedanken des friedlichen Zusammenlebens der Völker bekannte. Bretholz vertrat die Auffassung, dass die Germanen zwar früher als die Slawen ins Land gekommen seien, aber diese hätten friedlich mit hinzugewanderten Slawen zusammengelebt. Gierach dagegen ging es ausschließlich um die Betonung reichsdeutscher Territorialansprüche. Während Bretholz die jahrhundertealte Zweisprachigkeit in Böhmen und Mähren hervorhob,13 um auf dieser Basis den deutsch-tschechischen Ausgleich zu betonen, sprach Gierach von der historisch gewachsenen Dominanz des „Deutschtums“.14 Seine Kampagne gegen Bretholz richtete vor allem gegen ihn als deutschsprachigen Juden. Bretholz war bereits während seines Wiener Studiums konvertiert. Außerdem schrieb er die Geschichte der mährischen Juden, weswegen er unter den sudetendeutschen Historikern zur persona non grata wurde. Wer gegen Bretholz vorging, traf zugleich den Anspruch der jüdischen Eliten im tschechoslowakischen Staat, erstens zwischen Tschechen und Deutschen zu vermitteln und sich zweitens zur deutschen und tschechischen Kultur zu bekennen.15 Was Erich Gierach unter den Volks- und Kulturbodenforschern heraushob, war neben seiner Funktion als Vordenker der Sudetendeutschen vor allem sein Talent als Organisator ihrer Volksbildungsarbeit. Der Zweck der Reichenberger Hochschulwochen lag darin, die örtlichen Bildungseliten an völkische und „großdeutsche“ Themen heranzuführen. So wurden die dortigen Lehrer und politischen Funktionsträger mit den Grundaxiomen der deutschen Gemeinschaftssoziologie und „großdeutscher“ Geschichtswissenschaft vertraut gemacht. Gierach erhielt sowohl die Unterstützung durch die „deutsche Soziologie“ als auch von einflussreichen Historikern aus Deutschland und Österreich. Hans Freyer verkündete dort seine Idee vom „absoluten“, also totalen Volk,16 und →Hans Hirsch untergrub als österreichischer Historiker die Eigenstaatlichkeit der Ersten Republik Österreichs, indem er nur dem Deutschen Reich die Kraft zusprach, den Versailler Vertrag aufzulösen und „Großdeutschland“ zu verwirklichen.17 Wie Gierach sich die innere Struktur des deutschen Volkes vorstellte, zeigte sich in seiner Rede von Juni 1928 auf der Hauptversammlung des VDA. Für ihn beruhte

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die „Wesenheit des Volkstums“ auf einer auf „Rasse“ und „Boden“ basierenden „→Volksgemeinschaft“.18 Ähnlich wie →Friedrich Burgdörfer und →Hans Harmsen ging auch er von der gefährdeten Substanz des „Deutschtums“ in den Grenzgebieten der Völker aus.19 Er sprach nicht nur von der drohenden „Vernichtung“ der deutschen Kultur- und Sprachgemeinschaft. Er sah auch die niedrige Geburtenrate der Grenz- und Auslandsdeutschen als Problem für ihren demographischen Bestand. Deshalb forderte er nicht nur die Überwachung des deutschen Schulwesens, sondern auch Maßnahmen zur Geburtensteigerung. Als Mittel zur Erweckung neuer Kräfte empfahl er ein Nationalgefühl. Nur ein Jahr später fand er dessen Formel. Seine 1929 publizierte Kampfschrift die „Sudetendeutschen“ knüpfte eng an die von →Karl Christian von Loesch und →Max Hildebert Boehm verbreitete Position an, alle Deutschen hätten sich auf Basis der Idee einer Volksgemeinschaft neu zusammenzuschließen. Das galt als Vorbedingung für ihren kollektiven Austritt aus dem Tschechoslowakischen Staat. Für diesen Zweck verengte Gierach den Begriff des „Sudetendeutschen“ auf die ethnisch und kulturell homogene „Volksgruppe“ der Deutschen in den böhmischen Ländern. Dieser Kampf sollte im Bündnis mit den Slowaken und den Ruthenen aus der Karpatoukraine erfolgen.20 Anfang der dreißiger Jahre machte sich Gierach zum Wortführer der antisemitischen Professoren an der deutschen Universität in Prag. Er selbst verlor aber die Rektoratswahl von 1933. Nur zwei Jahre später verließ er das Land, nachdem die tschechische Polizei ihn beobachtete. Bevor er 1936 einem Ruf der Universität München nachkam, sorgte er im Oktober 1935 dafür, dass →Kurt Oberdorffer seine Funktionen übernahm. Außerdem verband er die Aktivitäten der sudetendeutschen Wissenschaftler um →Josef Pfitzner, →Wilhelm Wostry und →Eduard Winter mit denen der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG). Sein Hilfsgesuch für die sudetendeutsche Volkstumsforschung leitete →Albert Brackmann an Johann Daniel Achelis weiter, den die Nationalsozialisten als Staatssekretär in das NS-Wissenschaftsministerium holten, um die reichsdeutschen Universitäten „gleichzuschalten“.21 Gierach trug Mitverantwortung für den Umstand, dass die Deutsche Universität in Prag die Berufungen von deutsch-jüdischen Emigranten und ebensolchen Gelehrten aus Prag ablehnte.22 Dies trug wesentlich zur Isolierung der Prager deutschen Hochschullehrer bei, was aber durch eine umso engere Anbindung an das NS-Regime kompensiert werden sollte. So vermittelte die NOFG der kommerziell nicht absetzbare Zeitschrift Sudeta ab 1935 die Finanzierung durch den VDA.23 Außerdem sorgte er dafür, dass deutsche Reichsstellen die Kosten für sein Ortsnamenbuch übernahmen. Brackmann schaltete für diesen Zweck eine Förderung durch die Preußische Staatsbank (Seehandlung), wobei die Auszahlung über die Deutsche Gesandtschaft in Prag erfolgte.24 Noch vor seinem Amtsantritt in München überführte er sein Projekt einer deutschen Gemeindegrenzkarte der Sudetendeutschen Länder in die statistische Abteilung der Sudetendeutschen Partei. Ferner sorgte er zusammen mit →Johannes Papritz für die Produktion eines Volkskundeatlas und eines Ortsnamensschlüssels für

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die sudetendeutschen Gebiete. Der Ortsnamensschlüssel und die Gemeindegrenzkarten waren für Wilhelm Stuckarts Grenzziehungskommission 1938 das wichtigste Hilfsmittel bei der Vorbereitung des Münchner Abkommens, um in den Optionsverhandlungen die sudetendeutschen Gemeinden von den tschechischen abzugrenzen.25 Erich Gierach verstarb am 16. Dezember 1943 in München. Zuvor hatten ihm Kurt Oberdorffer, →Bruno Schier und Wilhelm Wostry 1941 eine Festschrift dargebracht.26 Die Stiftung FVS des Hamburger Großkaufmanns →Alfred C. Toepfer verlieh ihm 1942 den Joseph Freiherr von Eichendorff-Preis. 1962 dankte ihm Bruno Schier im Namen des Collegium Carolinums und der Vertriebenenforschung für seine „schöngeistige[n] Leistungen aus dem schlesischen Stammesraum“.27

Ingo Haar

1 Vgl. Josef Pfitzner, Erich Gierach und der sudetendeutsche Volkstumskampf, in: Kurt Oberdorffer (Hg. u.a.), Wissenschaft im Volkstumskampf. Festschrift für Erich Gierach zu seinem 60. Geburtstage, Reichenberg 1941, S. 9f. Zu den Alldeutschen vgl. Robert Wistrich, Georg Schönerer and the Genesis of Modern Austrian Antisemitism. The Wiener Library Bulletin 29 (1976), S. 20–29; Michael Wladika, Hitlers Vätergeneration. Die Ursprünge des Nationalsozialismus in der k. und k. Monarchie, Wien 2005. 2 Vgl. Josef Pfitzner, Erich Gierach und der sudetendeutsche Volkstumskampf, S. 9f. 3 BArch, R 153, 1115, Gustav Schlegel, Erich Gierach und der deutsche Kulturaufbau in der Tschechei, September 1941. 4 Eva Broklová, Opinions of German Activist Parties in Czechoslovakia 1918−1938, in: Czech Sociological Revue 6 (1998), S. 187–204, 188. 5 Erich Gierach, Katechismus der Sudetendeutschen, Eger 19205, S. 3, 5. 6 Erich Gierach, Aus Böhmens deutscher Vergangenheit, Eger 19192, S. 30. 7 Ders., Zur Sprache von Eilharts Tristant. Lautlehre, Formenlehre und Wortschatz nach Reimen, Prag 1908; ders. (Hg.), Der arme Heinrich von Hartmann von Aue: Überlieferung und Herstellung, Heidelberg 19252. 8 Ferdinand Wrede (Hg. u.a.), Deutscher Sprachatlas, Marburg 1927–1957. 9 Erich Gierach (Hg.), Sudetendeutsche Ortsnamenbuch. Bd. 1: Die Ortsnamen des Bezirkes Reichenberg, Reichenberg 1932 und Bd. 2: Die Ortsnamen des Bezirkes Friedland, Reichenberg 1935. 10 BArch, R 153, 1115, Gustav Schlegel, Erich Gierach und der deutsche Kulturaufbau in der Tschechei, September 1941. 11 Gerd Simon, Die hochfliegenden Pläne eines „nichtamtlichen Kultusministers“. Erich Gierachs „Sachwörterbuch der Germankunde“, Tübingen 1998, S. 1–4. 12 BArch, R 8043, 269, 555f., Wissenschaftliches Institut für Kultur und Geschichte des Sudetendeutschtums in Wien an die Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums – Deutsche Akademie in München vom 15.6.1928. 13 Vgl. Berthold Bretholz, Geschichte Böhmens und Mährens, Bd. 3, Reichenberg 1921, S. 24f. 14 Erich Gierach, Die Bretholzsche Theorie im Lichte der Sprachforschung, in: Wilhelm Volz (Hg.), Der ostdeutsche Volksboden, Breslau 1926, S. 144. 15 Vgl. Berthold Bretholz, Geschichte der Juden in Mähren im Mittelalter. Bd. 1: Bis zum Jahr 1350, Brünn 1934. Erst Wilhelm Wostry kennzeichnete Bretholz 1942 offen in diskriminierender Weise in einer Anmerkung als Juden. Vgl. Wilhelm Wostry, Sudetendeutsche Geschichte 1918−1938. Forschung und Darstellung, in: Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem Ersten Weltkrieg, Leipzig 1943, S. 488–530, 501, Anm. 12.

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16 Hans Freyer, Deutsche Weltanschauung, in: Die Tagung für Deutschkunde und die Reichenberger Sommerhochschulwochen, Reichenberg 1927, S. 15. 17 Hans Hirsch, Die Epochen der deutschen Geschichte, in: ebd., S. 9f. 18 Erich Gierach, Volkstum und Schutzarbeit, in: Sudetendeutscher Wandervogel 7/8 (1931/32), S. 227–228. 19 Sabine Schleiermacher, „Um die Sicherung des Lebensraumes der Familie“. Bevölkerungspolitische Konzepte Hans Harmsens in Weimarer Republik und Nationalsozialismus, in: Rainer Mackensen (Hg.), Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik im „Dritten Reich“, Opladen 2004, S. 142ff.; Ingo Haar, Das Konstrukt „Bevölkerung“ vor, im und nach dem „Dritten Reich“, Wiesbaden 2005, in: Rainer Mackensen (Hg. u.a.), Das Konstrukt „Bevölkerung“ vor und nach dem „Dritten Reich“, Wiesbaden 2005, S. 340–370, S. 346ff. 20 Erich Volkmann [alias Erich Gierach], Die Sudetendeutschen, Langensalza 1929, S. 48ff. 21 Michael Grüttner, Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2004, S. 13. 22 BArch, R 153, 1321, Albert Brackmann an Achelis vom 8.5.1934; Ingo Haar, „Sudetendeutsche“ Bevölkerungsfragen zwischen Minderheitenkampf und Münchener Abkommen: Zur Nationalisierung und Radikalisierung deutscher Wissenschaftsmilieus in der Tschechoslowakischen Republik 1919−1938, in: Josef Ehmer (Hg. u.a.), Bevölkerungskonstruktionen in Geschichte, Sozialwissenschaften und Politiken des 20. Jahrhunderts. Transdisziplinäre und internationale Perspektiven, Köln 2006, S. 236–262. 23 BArch, R 153, 1336, Aktennotiz über ein Gespräch zwischen Gierach und Papritz vom 30.8.1935. 24 PA, R 11348, Bd. 16, Sudetendeutschtum, Bl. 37, Papritz an die Deutsche Gesandtschaft in Prag. 25 Siehe Ortsnamenschlüssel zur Gemeindegrenzkarte der Sudetenländer von Erwin Winkler. Nur für den Dienstgebrauch herausgegeben von der PuSte Berlin-Dahlem 1938. 26 Wissenschaft im Volkstumskampf. Festschrift für Erich Gierach zu seinem 60. Geburtstage, Reichenberg 1941. 27 Bruno Schier, Erich Gierach – zum Gedenken, 23.11.1881- 16.12.1943, in: Bohemia 3 (1962), S. 571– 577, 573ff.

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Herbert Grabert Der von Herbert Grabert nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufene GrabertVerlag entwickelte sich seit den fünfziger Jahren zu einem wichtigen Kristallisationspunkt der politischen Rechten in Deutschland. Mit steter Regelmäßigkeit fand und findet er unter dem Stichwort Rechtsextremismus Eingang in die einschlägigen Verfassungsschutzberichte. Die bei Grabert verlegten Publikationen haben im allgemeinen eine deutlich revisionistische Tendenz und einige unter ihnen führten zu Gerichtsverfahren, weil sie die Gewaltverbrechen des Nationalsozialismus in eklatanter Weise verharmlosen oder bestreiten. Bis heute steht der Grabert-Verlag in der Tradition seines Gründers, der während des Dritten Reiches eine führende Rolle in der deutschgläubigen Bewegung spielte. Ging es Grabert damals um die Ersetzung des Christentums durch die „arteigene“ Religion der Indogermanen oder Arier, so dient noch heute die Berufung auf außerchristliche religiöse Traditionen im Programm des Grabert-Verlags dazu, völkische Ressentiments gegen die „judäochristliche“ Fremdbestimmung Europas zu artikulieren. Herbert Grabert wurde am 17. Januar 1901 in Lichtenberg bei Berlin geboren.1 Nach der Reifeprüfung studierte er auf Wunsch seines Vaters evangelische Theologie in Berlin. Das 1922 in Tübingen begonnene Studium setzte er in Marburg fort, um 1928 in Tübingen mit den Fächern Allgemeine Religionsgeschichte, Philosophie und Psychiatrie zu promovieren. Parallel dazu absolvierte Grabert in Spandau eine Ausbildung zum Turn- und Sportlehrer, die er 1926 mit einem staatlichen Examen abschloss. Im April 1928 trat er in das evangelische Predigerseminar in Soest/Westfalen ein. Bis dahin verlief sein Ausbildungsgang zum Pfarramt in ganz normalen Bahnen. Doch in Soest kam es zu ernsten Konflikten mit seinen Vorgesetzten, deren Ursachen zum Teil persönlicher, zum größeren Teil aber religiöser Natur waren. Der Bruch wurde unvermeidlich, als man ihn im März 1929 dazu zwingen wollte, sich der kirchlichen Ordnung zu unterwerfen. Vor die Alternative einer Strafversetzung nach Ostpreußen gestellt, schied Grabert aus dem Predigerseminar aus und begrub den Wunsch nach einer gesicherten Stelle als evangelischer Pfarrer. Abgesehen von dem natürlichen Freiheitsdrang eines jungen Erwachsenen bestand der tiefere Grund für sein Verhalten darin, dass er sich schon während des ersten Studiensemesters einer kirchlichen Jugendgruppe angeschlossen hatte, die eine freiere Form des Christentums anstrebte. Geleitet wurde diese, ursprünglich von der Bibelkreisbewegung herkommende Gemeinschaft, von dem Tübinger Indologen und Religionswissenschaftler →Jakob Wilhelm Hauer, zu dessen Schüler Grabert wurde. Hauer übte eine starke Faszination auf Grabert aus und prägte seine religiöse und wissenschaftliche Entwicklung in entscheidendem Maße. Grabert lernte bei dem früheren Indienmissionar ein unorthodoxes und von der Kirchenhierarchie relativ weit entferntes Christentum kennen. Es verwundert daher nicht, dass er sich fast ausnahmslos Vertreter der liberalen Theologie und eines sozial und ökumenisch ausgerichteten Christentums zu seinen akademischen Lehrern erkor, neben

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Hauer vor allem Adolf von Harnack, Rudolf Otto, Paul Tillich und Arthur Titius. Unter dem Einfluss Hauers gab Grabert die ausschließliche Fixierung auf das Christentum auf und beschäftigte sich zunehmend mit Fragen der Allgemeinen Religionsgeschichte. Gegen Ende des Studiums belegte Grabert an den psychiatrischen Kliniken Marburgs und Tübingens medizinische Vorlesungen und Seminare. Daraus ging seine religionspsychologische Dissertation „zur Psychologie der Mystiker und Psychopathen“ hervor. Auch in drei für ein evangelisches Lexikon geschriebenen Artikeln behandelte Grabert das äußerst schwierige Verhältnis von Krankheit und Religion.2 Durch das Ausscheiden aus dem Kirchendienst entstanden Grabert erhebliche finanzielle Probleme. Seine geringen Einkünfte beschränkten sich auf einige befristete Arbeitsverhältnisse als Aushilfslehrer in Lübeck, als Assistent an der Landesanstalt für Volkheitskunde in Halle bei Hans Hahne und als Mitarbeiter an der „Religionskundlichen Sammlung“ in Marburg. Daneben bezog er etwas Geld aus der redaktionellen Tätigkeit für die liberalprotestantische Zeitschrift Die christliche Welt und für Hauers Zeitschrift Kommende Gemeinde. Den materiellen Nöten gesellte sich zu Beginn der dreißiger Jahre eine gewisse weltanschauliche Orientierungslosigkeit bei. In dieser Zeit näherte er sich dem Religiösen Sozialismus an, wobei er sich erstaunlich positiv zu Lenin und dem russischen Bolschewismus äußerte.3 Sein Antikapitalismus ging freilich in eine nationalbolschewistische Richtung. Bereits als Schüler hatte er sich 1919/20 in einem Freikorps betätigt. Der Einfluss völkischen Denkens wird auch an Graberts Engagement für die bündische Arbeitslagerbewegung deutlich, deren positiver Aufbauwille sich aus einer Mischung von sozialistischen und nationalistischen Vorstellungen zusammensetzte. In den von Grabert gegründeten „Hessischen Arbeitslagern für Arbeiter, Bauern und Studenten“ sollte sich die deutsche Jugend über alle Klassenschranken hinweg zum freiwilligen Arbeitsdienst am Volksganzen vereinen.4 Die dabei zum Vorschein kommende völkische Ideologie war von den Vorstellungen der nationalsozialistischen →Volksgemeinschaft und Arbeitsdienstpflicht nicht mehr allzu weit entfernt. Vor 1933 stand Grabert eindeutig auf der Seite der Gegner des Nationalsozialismus. In verschiedenen Beiträgen für die Christliche Welt und besonders im Rahmen einer unter Theologen veranstalteten Umfrage machte er keinen Hehl aus seiner ablehnenden Einstellung. Er klagte die Nationalsozialisten an, bürgerkriegsähnliche Zustände und nicht die völkische Einheit aller Deutschen herbeigeführt zu haben. Geistlos und ohne ein sittliches Ethos sei die NS-Bewegung überhaupt nicht in der Lage, den für Deutschland so verhängnisvollen Zustand der inneren Zerrissenheit zu überwinden. Die von Grabert besonders Alfred Rosenberg angelastete „Vergottung von Volk und Rasse“ sei das erschreckende Zerrbild einer echten Religiosität. In einer fast schon prophetischen Wendung sprach Grabert davon, dass die nationalsozialistische Überbewertung der arischen Rasse „zu einer Selbstverherrlichung, die, wenn sie mit ichhaftem, persönlichem Geltungsdrang sich verbindet, zu Überheblichkeit, Verächtlichmachung des Andersrassigen und -gläubigen und schließlich zu einer planmäßigen Ausrottungspraxis führen muß“.5

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Allerdings sollte es nicht lange dauern, bis Grabert selbst ins Lager der Nationalsozialisten wechselte und an einer politischen Entwicklung partizipierte, die er 1932 noch vehement beklagt hatte. Wiederum folgte er seinem Lehrer Hauer, der nach einer kurzen Phase des irritierten Abwartens über die kirchenfreundliche Politik der neuen Regierung voll auf die Linie des „Dritten Reiches“ einschwenkte.6 Grabert schloss sich der im Juli 1933 unter Hauers Führung gegründeten Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung an und wurde einer der aktivsten Propagandisten des sogenannten „Neuheidentums“. Um sich besser für die neue Religion einsetzen zu können, siedelte er nach Tübingen über, wo sich das organisatorische Zentrum der Deutschen Glaubensbewegung befand. Als Leiter der Tübinger Ortsgruppe der Deutschen Glaubensbewegung führte Grabert pagane Weihen durch, die er zum Teil selbst entworfen hatte. Besonders eine von ihm konzipierte „Heidenhochzeit“ schlug beträchtliche und weit über Tübingen hinausgehende Wellen. Daneben betätigte er sich als Leiter des Hochschulamtes der Deutschen Glaubensbewegung sowie als Redakteur und Autor bei der von Hauer herausgegebenen Zeitschrift Deutscher Glaube. Der mittlerweile aus der Kirche ausgetretene Grabert nahm nun eine äußerst aggressive Haltung dem Christentum gegenüber ein. Er ging so weit, den Kirchen jeden Einfluss und sogar ihr Existenzrecht im „Dritten Reich“ zu bestreiten. Von der früher einmal von ihm eingeforderten religiösen Toleranz war nicht mehr viel übrig geblieben.7 Da er sich jetzt auf der Seite der Mächtigen wähnte, gab es für ihn nur noch die Parole Kampf und Sieg. Der „protestantische Auftrag“ sei von der evangelischen Kirche und insbesondere von der liberalen Theologie verraten worden und nun auf die „Neuheiden“ übergegangen.8 In seinen politischen Ansichten erwies sich Grabert als ausgesprochener Konjunkturritter. Durch das Einschwenken auf den Nationalsozialismus versprach er sich nicht zuletzt konkrete Vorteile für seine Universitätskarriere. Von jeher mit einem gesunden Selbstvertrauen ausgestattet, trat er nun auch Hauer immer fordernder entgegen. Mit dem einsemestrigen Lehrauftrag, den ihm Hauer an der Universität Tübingen im Sommersemester 1934 verschafft hatte, wollte er sich keinesfalls zufrieden geben. Im Hinblick auf seine Stellung in der Deutschen Glaubensbewegung schien es ihm angebracht, nun in die erste Reihe ihrer Führer aufzurücken. In den geführten Diskussionen um die Einschätzung des Christentums gehörte Grabert der radikalen Fraktion an, die jede Kompromissbereitschaft ablehnte. Es sei höchste Zeit, in Deutschland für klare Verhältnisse zu sorgen. Der Konfrontationskurs von Grabert und anderen um das völkische „Kampfblatt für deutschen Glauben, Rasse und Volkstum“ namens Durchbruch gescharten „Durchbruchmänner“ führte freilich nicht zum Ende des Christentums in Deutschland, sondern zur Spaltung der Deutschen Glaubensbewegung, die 1936 auseinander brach. Grabert gründete daraufhin mit einigen Gesinnungsgenossen eine eigene religiöse Vereinigung, die aber nicht über den Status einer kurzlebigen sektiererischen Kleingruppe hinauskam. Die aus dem Zerfall der organisierten deutschgläubigen Bewegung hervorgegangenen Gemeinschaften wurden vom SD argwöhnisch beobachtet und ihre Veranstal-

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tungen zum Teil verboten. Im Zuge der 1936 einsetzenden aktiven Kriegsvorbereitung wollte die NS-Führung alles vermeiden, was zu einem Wiederaufleben der religions- und kirchenpolitischen Streitigkeiten führen konnte. Nach einer dreijährigen, von 1933 bis 1936 dauernden Phase des religiösen Kampfes, tat sich ein neuer Abschnitt in Graberts Leben auf. Aus dem „Neuheiden“ wurde der politische Soldat des Dritten Reiches.9 Das klägliche Ende der Deutschen Glaubensbewegung interpretierte und rationalisierte Grabert dahingehend, dass er den Nationalsozialismus selbst zum neuen Glauben erklärte, der „jede Konfession und Weltanschauungsgruppe“ überflüssig mache.10 Wie er sich vorher um eine religiöse, so bemühte sich Grabert nun um eine wissenschaftliche Fundierung der Weltanschauung des „Dritten Reiches“. Zu diesem Zweck konzentrierte er sich auf die methodische Begründung einer kirchenfreien und von ihm völkisch genannten Religionswissenschaft, die mit Hilfe des Rassegedankens eine Verbindungslinie zwischen der mehrtausendjährigen Glaubensgeschichte der Indogermanen und dem Nationalsozialismus der Gegenwart herstellen wollte.11 Wie man erst im „Dritten Reich“ erkannt habe, könne es keine voraussetzungslose und vom völkischen Leben losgelöste Wissenschaft geben. Auch die Religionsforschung müsse sich entscheiden, ob sie deutschen oder fremdvölkischen Interessen dienen wolle, womit Grabert das jüdische Christentum meinte. In der Religiosität des von der christlichen Missionierung nur oberflächlich erfassten Bauerntums fand Grabert sein eigentliches Arbeitsfeld. →Hans F.K. Günther, den er von der Deutschen Glaubensbewegung her kannte und dessen Arbeiten er aufgriff, vermittelte ihm ein Stipendium bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum Thema Katholische und protestantische Bauernfrömmigkeit. Die mehrmals verlängerte Unterstützung währte vom 1. Juli 1936 bis zum 31. März 1939.12 Von Oktober 1938 bis Mai 1940 förderte ihn außerdem die Hallische Wissenschaftliche Gesellschaft, das heißt die Alfred-Rosenberg-Stiftung der Universität Halle, mit insgesamt 4.800 Reichsmark.13 Dass Grabert nun ausgerechnet vom Amt Rosenberg unterstützt wurde, ist angesichts seiner früheren Äußerungen doch einigermaßen erstaunlich. Das Reichskirchenministerium beschwerte sich deshalb über Graberts Mitarbeit bei den NS-Monatsheften, doch Matthes Ziegler entgegnete, dass Rosenberg Graberts frühere politische Haltung sehr wohl kenne. Durch sein überdurchschnittliches Engagement für die Sache des „Dritten Reiches“ sei dieses Manko nach 1933 aber wieder ausgeglichen worden.14 Grabert machte sich sogar Hoffnung darauf, die religionswissenschaftliche Außenstelle der Hohen Schule Rosenbergs in Halle zu übernehmen, die dann zu seiner Enttäuschung aber →Wilhelm Brachmann erhielt. Als Grabert im März 1939 an der Universität Halle einen Habilitationsantrag stellte, wurden erneut politische Bedenken laut mit der Folge, dass sich niemand bereit erklärte, seine noch im gleichen Jahr veröffentlichte Arbeit über den deutschen Bauernglauben zu begutachten.15 Grabert musste deshalb an die Universität Würzburg ausweichen, wo sich der Klassische Philologe Friedrich Pfister für ihn einsetzte. Dort konnte er endlich am 10. September 1940 die Habilitation für das

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Fach Religionswissenschaft erlangen. Zu Kriegsbeginn hatte er sich im Oktober 1939 freiwillig zur Luftwaffe gemeldet und gleichzeitig sein Gesuch um Aufnahme in die NSDAP erneuert, dem zum 1. Dezember 1939 stattgegeben wurde. Am Jahresende wollte Grabert den militärischen Dienst aber bereits wieder quittieren. Zur Begründung führte er an, dass seine Kraft an der Heimatfront besser zur Geltung käme. Schon seit Jahren habe er sich auf die geistige und weltanschauliche Wehrhaftmachung vorbereitet. Außerdem müsse verhindert werden, dass sich „Schmarotzer“ an den Universitäten breit machten „und das ernten was andere säten“.16 Nachdem Grabert von Oktober 1939 bis März 1940 bei einer Baukompanie an der Westfront gedient und dann eine Ausbildung zum Kanonier durchlaufen hatte, wurde er im Mai 1940 aus der Wehrmacht entlassen. Im Juni 1941 hielt er seine öffentliche Lehrprobe und am 22. September 1941 wurde er an der Universität Würzburg zum Dozenten und Beamten auf Widerruf ernannt. Vage Pläne zur Einrichtung einer religionswissenschaftlichen Außenstelle der Hohen Schule,17 ließen sich aber nicht realisieren. Vermutlich gab es keinen Bedarf und vermutlich waren die ausbleibenden Studenten auch der Grund dafür, dass Grabert in Würzburg zwar Vorlesungen über den Aberglauben, über Grundzüge der religiösen →Volkskunde und über die religiöse Mentalität der kriegführenden Mächte ankündigte, de facto aber nicht hielt. Außerdem arbeitete er von 1941 bis 1943 beim Luftgau-Kommando VII München als Wehrmachtspsychologe. Vom bayerischen Kultusministerium wurde Grabert zum Sommersemester 1943 beurlaubt und am 31. Mai 1943 aus dem aktiven Wehrdienst entlassen. Wie es hieß, stünde eine Berufung in das →Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete bevor. Bereits Ende 1942 hatte sich Grabert im Auftrag seiner Münchener Dienststelle in Lettland aufgehalten und dort wissenschaftliche Forschungen „zur religiösen Mentalität des östlichen Menschen“ durchgeführt. Ende 1944 diente er noch für kurze Zeit beim Volkssturm, doch musste er auf Grund gesundheitlicher Probleme bald wieder ausscheiden. Grabert wurde am 3. Mai 1945 in Tübingen verhaftet und etwas später durch die amerikanische Militäradministration zum 26. Juli 1945 seiner Würzburger Dozentur enthoben. Weil er seinen Hauptwohnsitz in Tübingen hatte, musste er sich auch bei der dortigen Spruchkammer einem Verfahren unterziehen, in dem er am 8. Oktober 1948 als Mitläufer eingestuft wurde. Wegen des damit verbundenen Lehrverbotes strengte Grabert eine Wiederaufnahme seines Falles an. Die Einschränkungen, zu denen auch der Entzug des passiven Wahlrechtes gehörte, wurden dann am 7. Juni 1949 zurückgenommen. Während des sich über einen langen Zeitraum hinziehenden Spruchkammerverfahrens wies Grabert wiederholt darauf hin, dass er aus Gründen der Existenzsicherung zu einigen, freilich geringfügigen, Konzessionen gezwungen gewesen sei. Doch sei er innerlich gegen die Verfolgung der Juden und die Unterdrückung Andersdenkender eingestellt gewesen. Nur mit Rücksicht auf Frau und Kinder habe er sich nicht dem aktiven Widerstand angeschlossen. Noch darüber hinausgehend wollte Grabert die Kammer glauben machen, dass er eigentlich in die Gruppe der Verfolgten des Nazi-Regimes gehöre. Aus politischen Gründen habe

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er schwere berufliche Nachteile erlitten und sei um die Universitätsprofessur gebracht worden. Grabert steigerte sich richtiggehend in die Rolle eines wegen seiner religiösen Überzeugung verfolgten Ketzers hinein. Vor 1933 sei er auf Grund seiner liberalen Ansichten aus dem Pfarramt hinausgedrängt worden. Dann hätte die Gestapo es zu verhindern gewusst, dass er als Dissident beruflich vorankam. Als noch weitaus schlimmer empfand Grabert nun die Verurteilung im Entnazifizierungsverfahren. „Sie müssen mir daher gestatten“, schrieb er im Oktober 1948 an den Vorsitzenden der Universitätsspruchkammer, „daß ich mich wegen meiner ketzerhaften Überzeugung auf einem demokratischen Scheiterhaufen für verbrannt erkläre“.18 In dieser Haltung des unschuldigen Opfers, die mit der Realität zwar nichts zu tun hatte, die unter ehemaligen Nationalsozialisten aber weit verbreitet war, setzte sich Grabert mit dem Dritten Reich auseinander. Die Verarbeitung der eigenen Lebensgeschichte verknüpfte er mit dem Kampf für die Wiedereinstellung des angeblich um seine Rechte gebrachten nationalsozialistischen Lehrpersonals. Dafür gründete er 1950 den Verband der nichtamtierenden (amtsverdrängten) Hochschullehrer, aus dessen internen Mitteilungen für den 131er-Hochschullehrer im Jahr 1954 die Deutsche Hochschullehrer-Zeitung hervorging. 1972 wurde daraus die rechtsextreme Zeitschrift Deutschland in Geschichte und Gegenwart. Auch der seit 1952 bestehende Verlag Graberts diente dem Ziel, die Lobbyarbeit für nationalsozialistisch belastete Professoren mit der ideologischen Rechtfertigung des Dritten Reiches zu verbinden. Grabert schrieb, zum Teil unter dem Pseudonym Hugo Backhaus, ebenfalls revisionistische Bücher.19 Seine vor Gericht als verfassungsfeindlich eingestufte Schrift Volk ohne Führung brachte ihm 1960 eine Gefängnisstrafe von neun Monaten auf Bewährung ein. Um den behaupteten Geschichtsfälschungen, die nach seiner Meinung aus der Umerziehungspolitik der Besatzungsmächte resultierten, besser begegnen zu können, gründete Grabert 1958 in Tübingen ein ‚wissenschaftliches‘ Institut für deutsche Nachkriegsgeschichte. Schon der erste Band der Institutsveröffentlichungen, das Buch des amerikanischen Historikers David L. Hoggan, Der erzwungene Krieg, löste einen Skandal aus. Die Brisanz von Hoggans Buch lag weniger darin, dass es die deutsche Geschichtswissenschaft als überreagierende Tendenzwissenschaft denunzierte, sondern dass seine These von der angeblichen Putativnotwehr des Deutschen Reiches – in Wirklichkeit eine Neuauflage des alten Kampfes gegen die „Kriegsschuldlüge“ – auch außerhalb neonazistischer Kreise einen gewissen Einfluss erlangte. Neben den politischen Aktivitäten bemühte sich Grabert weiterhin darum, seinen Beitrag für eine weltanschauliche und geistige Erneuerung Deutschlands zu leisten. Zwar gab er den Versuch auf, sich in religiösen Organisationen, etwa bei den Deutschen Unitariern, zu engagieren. Doch sein Verlag diente ihm als Plattform, um das völkische Anliegen der Deutschen Glaubensbewegung wieder aufzugreifen. Das frühere Programm einer „rassisch“ bestimmten indogermanischen Religiosität galt es zu modifizieren und den neuen politischen Gegebenheiten anzupassen. Dabei kam es darauf an, alle eindeutig rassistischen und offenkundig nazisti-

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schen Formulierungen zu glätten und durch unverfänglichere Wendungen zu ersetzen. Grabert entwickelte ein beachtliches Geschick darin, solche Termini zu wählen, die in den einschlägigen Kreisen zwar erkannt, juristisch aber nicht belangt werden konnten. Seit 1972 führt sein Sohn Wigbert Grabert den Verlag ganz im Sinne des Vaters, der am 2. August 1978 starb.

Horst Junginger

1 StABWSi, Personalunterlagen Herbert Grabert, Spruchkammerverfahren Graberts. Martin Finkenberger (Hg. u.a.), Im Dienste der Lügen. Herbert Grabert (1901–1978) und seine Verlage, Aschaffenburg 2004. 2 Herbert Grabert, Eine vergleichende Studie zur Psychologie der Mystiker und Psychopathen Stuttgart 1928, und ders., Pathographie, Psychiatrie, Religionspsychopathologie, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 4, 1930, Sp. 1002f., 1632–1634, 1927–1929. 3 Herbert Grabert, Der atheistische Unglaube. Versuch einer Würdigung, in: Zeitschrift für Religion und Sozialismus (1932), S. 144–153, 196–207. 4 Vgl. Herbert Grabert (Hg.), Jugend begegnet sich. Arbeitslager und neuer Lebensraum, Stuttgart 1933; Peter Dudek, Arbeitslagerbewegung, in: Diethart Kerbs (Hg. u.a.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998, S. 343–353; ders., Erziehung durch Arbeit. Arbeitslagerbewegung und Freiwilliger Arbeitsdienst 1920 bis 1935, Opladen 1988. 5 Leopold Klotz (Hg.), Die Kirchen und das Dritte Reich. Fragen und Forderungen deutscher Theologen, Bd. 2, Gotha 1932, S. 51–55, 53. 6 Vgl. Horst Junginger, Von der philologischen zur Völkischen Religionswissenschaft, Stuttgart 1999, S. 124ff. 7 Vgl. Herbert Grabert, Religiöse Verständigung. Wege zur Begegnung der Religionen bei Nicolaus Cusanus, Schleiermacher, Rudolf Otto und J.W. Hauer, Leipzig 1932. 8 Herbert Grabert, Der protestantische Auftrag des deutschen Volkes. Grundzüge der deutschen Glaubensgeschichte von Luther bis Hauer, Stuttgart 1936. 9 Vgl. Hubert Cancik, ‚Neuheiden‘ und totaler Staat. Völkische Religion am Ende der Weimarer Republik, in: ders. (Hg.), Religions- und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, S. 200. 10 Herbert Grabert, Krise und Aufgabe des völkischen Glaubens, Berlin 1937, S. 8. 11 Vgl. Herbert Grabert, Allgemeine Religionsgeschichte und völkische Glaubensgeschichte, in: ARW (1936), S. 191–220, und ders., Die völkische Aufgabe der Religionswissenschaft, Stuttgart 1938. 12 BArch, BDC, REM-Karteikarte Grabert. 13 UAH, Rep. 21 III, Nr. 154. 14 BArch NS 15, 205, Bl. 115, Schreiben Zieglers für das Amt Rosenberg an das Reichskirchenministerium vom 11.10.1937. Grabert publizierte in den NS-Monatsheften den Aufsatz Ein Mönch wider Kloster und Kirche. Die Lebensgeschichte des adelsbäuerlichen Sachsen Gottschalk als Beitrag zur Artgeschichte des deutschen Volkes (ebd., 1937, S. 607–628). 15 Herbert Grabert, Der Glaube des deutschen Bauerntum, Bd. 1: Bauerntum und Christentum, Stuttgart 1939. 16 BArch, NS 15, Bd. 205, Bl. 94, Schreiben Graberts an Alfred Baeumler vom 26.12.1939 und Bl. 95f., Urlaubsgesuch Graberts vom 26.12.1939 „zum Zwecke der Berufssicherung“. 17 StABWSi, Personalakte Grabert, Entwurf eines Rektoratsberichts für den mainfränkischen Gauleiter Otto Hellmuth vom 6.6.1941. Darin wird eine entsprechende Initiative des Gaustudentenführers Adam Hoos erwähnt, die in Würzburg auf große Zustimmung stieß.

Herbert Grabert  223

18 StABWSi, Wü 13, 2134 (15/T/E/5302), Schreiben Graberts an Prof. Konrad Zweigert vom 10.10.1948. 19 Herbert Grabert, Hochschullehrer klagen an – von der Demontage deutschen Wissens, Göttingen 1952; Hugo C. Backhaus, Wehrkraft im Zwiespalt Göttingen 1952, und ders., Volk ohne Führung, Göttingen 1955.

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Wilhelm Gradmann Wilhelm Gradmann war ein zentraler Akteur der Einwandererzentralstelle (EWZ) sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter des →Deutschen Ausland-Instituts (DAI) in Stuttgart. Er arbeitete entscheidend an der Verzahnung von Wissenschaft und Praxis der nationalsozialistischen Volkstumspolitik mit.1 Gradmann wurde am 7. Mai 1909 in Greiz (Thüringen) geboren. In Tübingen und Berlin studierte er Geschichte und Literatur, Auslandskunde, Staatswissenschaften und Englisch und betätigte sich bereits während seines Studiums journalistisch. 1932 erfolgte seine Promotion in Geschichte. Seit dem 1. Januar 1934 war er wissenschaftlicher Assistent beim DAI, wo er für so genannte Ostraumfragen in der „Archiv- und Nachrichtenabteilung“ verantwortlich war. Dort wertete Gradmann die auslanddeutsche Presse aus und verwaltete eine umfassende Kartei auslanddeutscher Organisationen und Persönlichkeiten. Während dieser Zeit unternahm er mehrere Dienstreisen nach Rumänien und Polen, in die Tschechoslowakei und nach Italien. Gradmann trat 1936 in die SA ein, der er bis Oktober 1938 angehörte. Im Anschluss daran nahm ihn die SS als Anwärter in den SD Oberabschnitt Südwest auf, dem auch seine beiden späteren Vorgesetzten in der EWZ, Martin Sandberger und Lambert von Malsen, angehörten.2 Im Mai 1938 trat Gradmann der NSDAP bei. 1937–38 leistete er seinen Wehrdienst als Gefreiter und Reserveoffiziersanwärter ab.3 Mit Beginn der Umsiedlungen von sogenannten Volksdeutschen in die eroberten und annektierten polnischen Westgebiete stellte das DAI mehrere Mitarbeiter an den entstehenden Umsiedlungsapparat von Heinrich Himmlers →Reichskommissariat für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) ab, um die Umsiedlungspolitik mit wissenschaftlicher Expertise zu unterstützen. Gradmann war einer von ihnen. Er trat am 5. Dezember 1939 seinen Dienst bei der Einwandererzentralstelle als Informationsreferent im Stab des Leiters der Lodzer Stelle an. Gleichzeitig blieb er Mitarbeiter des DAI, das auch weiterhin sein Gehalt zahlte. Seine Aufgabe umfasste die Bestimmung der Reiserouten der Kommissionen, Berichts- und Karteiführung und die Zusammenstellung des Aktenmaterials für die Kommissionen. Dazu war das Referat für statistische Fragen und Auskunft zuständig, das heißt, die „Ausarbeitung der Tagesberichte der Nebenstellen und Fliegenden Kommissionen, Zwischenberichte, Monatsberichte, schriftliche und mündliche Auskunftserteilung“.4 Darüber hinaus hielt das RSHA mit ihm Rücksprache über die Deportation von Polen im Rahmen der Ansiedlung von Wolhynien- und Galiziendeutschen.5 Gradmann war auch für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, hielt Kontakt zur Presse – beispielsweise zur Redaktion des Schwarzen Korps und zum Völkischen Beobachter –, arbeitete an Ausstellungen über die Umsiedlung mit und war selbst publizistisch tätig. 6 In seinen Publikationen über die Umsiedlungen finden sich rassistische und antisemitische Invektiven. So bezeichnete er beispielsweise beschlag-

Wilhelm Gradmann  225

nahmte Häuser und Wohnungen, in denen vormals Juden lebten, als „geschmacklos“ oder nicht den „deutschen Bedürfnissen“ entsprechend.7 Allerdings bedauerte Gradmann noch im Dezember 1939 gegenüber seiner Heimatdienststelle, dass die Selektionstätigkeit ihm kaum Raum für publizistisches und wissenschaftliches Arbeiten gebe. Er setzte sich dafür ein, dass die EWZ-Mitarbeiter wissenschaftlich geschult wurden und führte selbst solche Schulungen durch. Beim EWZ-Personal handelte es sich um eine heterogene Gruppe aus unterschiedlichen Dienststellen mit unterschiedlichem Bildungshintergrund und Vorwissen. Das Gros der EWZ-Mitarbeiter bestand aus den Umsiedlern selbst, die vor allem zu Schreib- und Verwaltungsarbeiten herangezogen wurden. Hinzu kamen Fachkräfte, wie Ärzte, Arbeitsamtsmitarbeiter und Verwaltungsbeamte sowie Polizisten – und für die Melde- und Staatsangehörigkeitsstelle, die Eignungsprüfer des Rasseund Siedlungshauptamtes RuSHa und SD-Angehörige. Bei den Schulungen stellte Gradmann sich als DAI-Mitarbeiter vor, um seine wissenschaftliche Kompetenz zu unterstreichen.8 Auch wenn Gradmann mit dem Eintritt in die SS den Grundstein für seine spätere Tätigkeit und Karriere bei der EWZ gelegt hatte, dürfte dieser Schritt nicht allein Karrieredenken geschuldet gewesen sein. Die Basis war vielmehr seine ideologische Überzeugung. Darauf deutet beispielsweise Gradmanns Einsatz gegen Himmlers pragmatische Aufweichung der Rassekriterien hin.9 Seine Tätigkeit bei der EWZ als SS-Offizier – mit seinem Dienstbeginn dort bekleidete er den Rang eines Untersturmführers – war für ihn kein Widerspruch zu seinem wissenschaftlichen Anspruch. Gradmann betonte seine Zugehörigkeit zum DAI. Er schickte Berichte an das DAI und fuhr oft zu dessen Hauptsitz nach Stuttgart. Gegenüber der EWZ verteidigte er das Recht des DAI, die Dokumentation der Umsiedlungen der Wolhyniendeutschen herauszugeben. Dabei fungierte Gradmann mehr als nur als bloßer Verbindungsmann zwischen DAI und EWZ, sondern er vertrat beide Institutionen in der Umsiedlungspolitik gleichzeitig.10 Gradmann machte in der EWZ schnell Karriere. Von der Information wandelte sich seine Tätigkeit bald zur Planung der Einsätze der sogenannten „Fliegenden Kommissionen“, also jener mobilen EWZ-Einheiten, die die Selektion und Einbürgerung der Volksdeutschen vornahm. 1941 diente Gradmann in den fliegenden Kommissionen der EWZ. Seine Arbeit wurde von Mitarbeitern und Vorgesetzten geschätzt, und einzelne von ihm erstellte Unterlagen gingen sogar bis an Himmler.11 Dazu war Gradmann für das Berichtswesen verantwortlich. Zensur, Auswertung und Kontakt zur Presse liefen weiterhin über ihn.12 Bei der Zusammenarbeit mit anderen Dienststellen übernahm die Information „einen Teil des Schriftwechsels des Leiters der EWZ“.13 Gradmann zeigte auch Eigeninitiative. Mit dem Einmarsch in die Sowjetunion gerieten auch die Deutschen, die noch in der Sowjetunion lebten, ins Visier der EWZ. Obwohl keine Umsiedlung geplant war, begann die EWZ, sich auf eine Erfassung vorzubereiten. Durch seine exponierte Stellung in der EWZ konnte er dazu den

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Entwurf des Generalplans Ost des Reichssicherheitshauptamtes einsehen.14 So wollte die EWZ bei einem möglichen Umsiedlungsbefehl vorbereitet sein. Doch vorerst kam es nicht dazu. Er griff aktiv in die Diskussion um die Ansiedlungspläne ein und vertrat dabei offensiv die Linie der EWZ.15 Damit gestaltete er auch die Politik des gesamten RKFApparates mit. Im März 1942 reiste Gradmann nach Zamość im Distrikt Lublin, um die dortige „Fahndung nach deutschem Blut“ unter Odilo Globocnik zu begutachten. Gradmann befand die bisherigen Richtlinien als nicht zufriedenstellend und unpassend für die Situation. Daher brachte er die EWZ als Akteur ins Spiel, die letztlich auch im Generalgouvernement aktiv wurde. Für die Umsiedlungsaktion um Zamość lieferte Gradmann selbst die Landkarten für die Deportationsplanungen der Region.16 Gradmann nahm seine Funktion in der EWZ bis zum Schluss ungebrochen wahr. Die Selektion und Einbürgerung der Deutschen aus der Ukraine, die ab 1944 vor der vorrückenden Roten Armee evakuiert wurden, fiel in seine Planungsverantwortung.17 Die Realität des Krieges ignorierend, befasste er sich kurz vor dessen Ende noch mit einer möglichen Umsiedlung von Amerika-Deutschen.18 Mit der allgemeinen Evakuierung der EWZ im Januar 1945 verließ Gradmann Łódź (Litzmannstadt). Nach dem Krieg arbeitete Gradmann beim Klett-Verlag und als politischer Redakteur bei der Stuttgarter Zeitung. 1964 wurde er in einer Vorermittlung gegen den Leiter der Umwandererzentralstelle, Hermann Krumey, vernommen, wobei Gradmann behauptete, er habe keine „enge Verbindung“ mit der UWZ gehabt, obwohl man ihn dorthin habe versetzen wollen: „Ich erinnere mich noch, daß ich damals froh war, daß ich hiervon verschont wurde, weil ich es mir als nicht gerade angenehm vorstellte, bei der Vertreibung der Polen mitzuwirken.“19 Gradmann versuchte also seine Rolle im Umsiedlungsapparat zu verharmlosen. Jedoch war er nicht bloß ein „Rädchen im Getriebe“20, sondern maßgeblich am Entscheidungsprozess beteiligt. Bei der Stuttgarter Zeitung blieb er in verschiedenen Positionen bis zu seinem Ruhestand tätig. Er beschäftigte sich dort mit Landespolitik sowie mit Innen- und Militärpolitik.21 Gradmann wurde – wie fast alle Beteiligten des Umsiedlungsapparates und der EWZ – nie angeklagt. Er war jedoch eine Zeitlang im Visier der Stasi, die ihn ob seiner SS-Vergangenheit als potentiell belasteten und damit erpressbaren Menschen führte.22 Aber auch von der Stasi sind keine Aktivitäten gegen Gradmann überliefert. Er starb am 26. Mai 1982 in Stuttgart.

Andreas Strippel

1 Vgl. Andreas Strippel, „Umwanderer“-Selektion und Politikberatung: Die politisch-wissenschaftliche Kooperation der Einwandererzentralstelle und des Deutschen Ausland-Instituts in Stuttgart, in: Michael Fahlbusch (Hg. u.a.), Völkische Wissenschaften und Politikberatung im 20. Jahrhundert.

Wilhelm Gradmann  227

Expertise und „Neuordnung“ Europas, Paderborn 2010, S. 137–152; zur EWZ vgl. ders., NS-Volkstumspolitik und die Neuordnung Europas. Rassenpolitische Selektion der Einwandererzentralstelle des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD 1939–1945, Paderborn 2011. 2 Zu Sandberger vgl. Michael Wildt, Generation der Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 170–174,785–790. Andreas Strippel, „… zu allem zu gebrauchen – Die Karriere des Dr. Martin Sandberger“, in: Forschungen zur baltischen Geschichte 9 (2014), S. 274–284. 3 Vgl. BArch, BDC, SS-O und RS, Gradmann, Wilhelm (Dr.), 7.5.1909, Lebenslauf von SS-Anwärter Wilhelm Gradmann, entnommen dem Fragebogen des Rasse- und Siedlungshauptamts. 4 BArch, R 69/696, Bl. 292, EWZ Information, Aktenvermerk vom 7.3.1940. 5 BArch, R 69/1042, Bl. 126–127, RSHA III ES Vermerk Dr. Mens, zur Kenntnis und Rücksprache mit Stubaf Schierschky und Ustuf Gradmann vom 16.2.1940, Betr. Auswahlverfahren für auszusiedelnden Polen für Wolhynienaktion. 6 Wilhelm Fielitz, Das Stereotyp des wolhyniendeutschen Umsiedlers. Popularisierungen zwischen Sprachinselforschung und nationalsozialistischer Propaganda, Marburg 2000, S. 194–196. Gradmann veröffentlichte drei Artikel über die Umsiedlungen: Wilhelm Gradmann, Die umgesiedelten Volksgruppen. Ergebnisse ihrer Erfassung, in: Zeitschrift für Politik 31 (1941), S. 277–293, ders., Die Erfassung der Umsiedler. Vorbereitung zur Ansiedlung, in: Zeitschrift für Politik 32 (1942), S. 346– 351, sowie ders., Litzmannstadt – Mittelpunkt der Umsiedlung, in: Deutschtum im Ausland 25 (1942) 1/2, S. 12–16. 7 Wilhelm Gradmann, „Litzmannstadt – Mittelpunkt der Umsiedlung.“ Deutschtum im Ausland 25 (1942) ½, S. 12–16, 13. 8 BArch, R 57neu/627, SS-Anwärter Gradmann an DAI vom 17.12.1939; Martin Seckendorf, Das Deutsche Ausland-Institut Stuttgart (DAI) 1917 bis 1945. Eine Übersicht, http://www.2i.westhost.com/bg/ index.html, 2.1. 2009. 9 Am 17.1.1940 erweiterte Himmler den Kreis der Ostsiedler auf die Rassewertungsgruppe III des RuSHA aus, worauf sich Gradmann mit Vertretern des RuSHA und des Reichsnährstandes traf, um die Kriterien für Wertungsgruppe III zu verschärfen. Vgl. BArch, R 69/178, Bl. 6, Gradmann an Streng vertraulich! vom 3.2. 1940, vgl. auch Isabel Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003, S. 236. 10 Fielitz, Das Stereotyp des wolhyniendeutschen Umsiedlers, S. 194–196. 11 Stephan Döring, Die Umsiedlung der Wolhyniendeutschen in den Jahren 1939 bis 1940, Frankfurt a.M. 2000, S. 250. 12 BArch, R69/696, Bl. 292, Aktenvermerk von Gradmann über Aufgaben der Information vom 7.3.1940. 13 Ebd., 70, Bl. 6–7, Gradmann EWZ-Organisation vom 2.12.1940. 14 Ebd., 410, Bl. 2–8 Vermerk, EWZ Information an EWZ-Leiter von Malsen. Betr. Material im RSHA über Schwarzmeerdeutschen, Anlage I Bericht der Einsatzgruppe D, Anlage II Bericht Kommando Hoffmeyer., Berlin vom 12.11.1941, gez. Dr. Gradmann Ustuf (ebenfalls in: APL, L3578, Bl. 11–17). 15 BArch, R57 (DAI), 1386, „Stellungnahme von SS-Anwärter Dr. W. Gradmann“ (betrifft: Bericht von Dr. Walter Kuhn-Breslau) vom 22.1.1940, S. 7. 16 BArch, R 69/132, Bl. 28–44, SS-Untersturmführer Wilhelm Gradmann, „Das Deutschtum im Gebiet von Zamość. Ergebnisse einer Erkundungsfahrt“ vom 19.3.1942, auch nachgedruckt in: Czesław Madajczyk (Hg.), Zamojszczyzna Sonderlaboratorium SS. Zbiór dokumentów polskich i niemieckich z okresu okupacji hitlerowskiej, Bd. 1, Warschau 1977, S. 53–60, 56. Zur „Aktion Zamość“ vgl. Czesław Madajczyk, Die Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen 1939–1945, Köln 1988, S. 422– 429. 17 Zur Umsiedlung der Deutschen in der Ukraine vgl. Strippel, NS-Volkstumspolitik, S. 241–286.

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18 BArch, R69/215 Bl. 61, Auszug aus einen Schreiben von Dr. W. Gradmann, Litzmannstadt vom 2.1.1945. Bereits seit dem Spätsommer 1944 stellte die VoMi hierzu Überlegungen an, in: BArch R186/2 Bl. 469–474, Monatsbericht Juli 1944, Hauptamt Volksdeutsche Mittelstelle, Geheim. 19 Vernehmung von Wilhelm Gradmann am 13.10.1964 in der Vorermittlung gegen Hermann Krumey (Zamość, Łódź), BArch, Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen Ludwigsburg, 502 AR 420/62, Bd. II, Bl. 398–399. 20 Michael Burleigh, Germany turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988, S. 159. 21 Wilhelm Gradmann ist tot, Stuttgarter Zeitung, 28.05.2982. 22 1979 erstellte die Stasi eine Liste von Westjournalisten mit NS-Vergangenheit, vgl. „Früher SS, später ‚Schöner Wohnen‘“, in: Berliner Zeitung, 1.2.2007. http://www.berliner-zeitung.de/1979-erstellte-die-stasi-eine-liste-von-westjournalisten-mit-ns-vergangenheit-frueher-ss–spaeter–schoenerwohnen–15876518 (25.4.2016).

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Wilhelm Grau Die nationalsozialistische „→Judenforschung“1 wurde zwischen 1935 und 1942 wesentlich durch den Münchner Historiker Wilhelm Grau geprägt. Bereits in einem im September 1935 veröffentlichten Aufsatz hatte Grau den Gegenstand einer „Geschichte der Judenfrage“ umrissen: „Mit dem Begriff ‚Judenfrage‘ sind alle jene Probleme gekennzeichnet, die in der Begegnung der Völker mit dem jüdischen Volk zu jeder Zeit in der Geschichte in Erscheinung getreten sind. Unter ‚Judenfrage in Deutschland‘ verstehen wir also die Schnittfläche des deutschen und jüdischen Lebenskreises. Die Geschichte der Judenfrage ist somit nicht gleichbedeutend der Geschichte der Juden oder des Judentums.“2 Für Grau galt es, ausschließlich die von ihm mit dem Begriff „Judenfrage“ beschriebenen, sich vorgeblich aus dem Zusammenleben von Deutschen und Juden ergebenden Probleme zu betrachten. Die Nachzeichnung dieser „Judenfrage“ für alle historischen Epochen ergab für Grau eine „Geschichte der Judenfrage“, aus deren historiographischer Erforschung auch Erkenntnisse für die „Lösung der Judenfrage“ zu generieren wären. Neben der Exklusion der jüdischen aus der deutsch-jüdischen Geschichte suchte Grau auch den Ausschluss jüdischer Historiker zu forcieren.3 In seinem die zukünftigen Arbeitsfelder der „Judenforschung“ skizzierenden Aufruf hatte Grau, so sein zeitweiliger Mentor →Walter Frank, das „Programm […] für die grundlegende Arbeit an einer Geschichte der Judenfrage“4 geschrieben. Der 1910 geborene Wilhelm Grau nahm im Frühjahr 1930 das Studium der Geschichte in Frankfurt am Main auf und wechselte ein Jahr später nach München.5 In seiner Jugend war er Mitglied in katholischen Jugend- und Studentenorganisationen, die Verwurzelung im katholischen Milieu blieb in seinen frühen historiographischen Arbeiten präsent.6 An der Universität München wurde Grau im Juli 1933 bei →Karl Alexander von Müller mit einer Arbeit zur Vertreibung der Regensburger Judengemeinde im ausgehenden Mittelalter promoviert. Wechselnd zwischen sachlicher Beschreibung und diffamierender Wertung, beschrieb Grau in „→Antisemitismus im späten Mittelalter“ das Leben im spätmittelalterlichen Regensburg als Kampf der christlichen Mehrheit gegen eine sich nach Graus Darstellung abkapselnde und gegenüber der Not der Stadt gleichgültig gebende Judengemeinde.7 Die sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Konflikte zwischen Christen und Juden schilderte er als unabwendbare Gegensätze, aus denen die Vertreibung als angemessene, wenn auch nicht ausreichende Lösung resultiert sei. Entsprechend kann Graus Dissertation, welche im Promotionsverfahren hervorragend bewertet und umfassend rezipiert wurde, als ein erster Versuch zur Etablierung einer neuen Betrachtungsweise der deutsch-jüdischen Geschichte angesehen werden.8 Das Paradigma einer „Geschichte der Judenfrage“ bezog seine Wirkmächtigkeit vor allem aus der variablen Anwendbarkeit für verschiedenste historische Epochen und Begebenheiten. So diente Grau die Auffassung, dass das Zusammenleben von Deutschen und Juden ausschlaggebend für als problematisch verstandene Entwick-

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lungen der deutschen Geschichte sei, auch als „Blaupause“ für seine Untersuchung zum „jüdischen Einfluss“ auf Wilhelm von Humboldt. Im Fokus der Kritik stand dabei die Epoche von Aufklärung und Emanzipation, der „Liberalismus trug von Beginn an sein Ende mit sich, da er vergaß, daß die Völker naturhafte Gebilde mit Blut und Seele und Geschichte sind und daß solche Tatsachen dauerhafter und lebenszäher in der Welt stehen denn bloße und leblose Erfindungen eines abstrakten ‚Menschen an sich‘, den es weder völkisch noch religiös gibt“.9 Die Studie, die Wilhelm Mommsen als „wichtigste Arbeit“ für den zu besprechenden Zeitraum der „Geschichte der neuesten Zeit“ und „zugleich […] erste wissenschaftliche Arbeit über die Judenfrage im 19. Jahrhundert“ bezeichnete,10 richtete sich im Kern nicht gegen Humboldt. Es galt vielmehr, die von ihm geistig und politisch vorbereitete Epoche der Emanzipation der deutschen Juden zu diskreditieren. Durch seine Mitwirkung an dieser sei Humboldt jedoch verantwortlich dafür, so Grau, dass „das 19. Jahrhundert die Vermengung des deutschen Volkes mit dem jüdischen heraufgebracht hat, eine Vermengung im biologischen, geistigen und religiösen Bezirk deutschen Lebens“.11 Wesentlich für Graus Erfolg als „Historiker der Judenfrage“ war die erfolgreiche Absolvierung traditioneller akademischer Qualifikationsschritte. In Abgrenzung zur antisemitischen Propaganda sollte die „Judenforschung“ wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Über die Einhaltung dieser entschieden, trotz aller Vorhaltungen ob Ihrer vorgeblich zu liberalen Einstellung, auch weiterhin die Universitäten. Im Gegensatz zur erfolgreich absolvierten Promotion gestaltete sich jedoch das im November 1935 begonnene Habilitationsverfahren für Grau ausgesprochen schwierig.12 Insbesondere für den Historiker Arnold Oskar Meyer, der Graus Dissertation noch hervorragend bewertet hatte, war Graus „These von der zerstörenden Wirkung des Judentums auf Humboldt unhaltbar“, in aller Deutlichkeit wies er für Humboldt den „Makel verjudeter Denkweise“ zurück.13 Trotz weiteren Widerspruchs verschiedener Fakultätsmitglieder und einer desaströsen Habilitationsprüfung gelang es Grau schließlich vor allem aufgrund der Fürsprache Karl Alexander von Müllers, sich nahezu zwei Jahre nach Einreichung des Gesuchs an der Münchner Universität zu habilitieren.14 Zwischenzeitlich war Grau zu einem profilierten „Judenforscher“ aufgestiegen. Für das aus der Historischen Reichskommission entstandene Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands erwog Walter Frank noch 1935, Graus „wichtige Arbeit anstelle der Herren Goldschmidt und Rothfels zu setzen.“15 Zur Überbrückung bedurfte es zunächst eines Forschungsstipendiums der DFG für „Untersuchungen zur Judenfrage in Deutschland seit der Aufklärung“, ab Herbst erhielt Grau einen besoldeten, mehrfach verlängerten Forschungsauftrag des Reichsinstituts.16 Insbesondere jedoch stand Grau der im November 1936 eröffneten →Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands als Geschäftsführer vor, deren offizielle Leitung sein akademischer Lehrer und Förderer Müller übernahm.

Wilhelm Grau  231

Die historiographischen Expertisen Graus zur „Judenfrage“ wurden nun in zunehmendem Maße nachgefragt. In der Zeitschrift der Geschichtslehrer „Vergangenheit und Gegenwart“ veröffentlichte Grau einen weiteren Aufsatz zur „Judenfrage in der deutschen Geschichte“.17 Der Beitrag wurde bald als selbständige Schrift im angesehenen Leipziger Schulbuchverlag Teubner erneut veröffentlicht und mit sechs Auflagen zur erfolgreichsten Publikation Graus.18 Konnte sich Grau somit auch in der Aus- und Weiterbildung der Geschichtslehrer als „Historiker der Judenfrage“ etablieren, bot ihm ein im September 1936 auf der Jahrestagung des Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine gehaltener Vortrag Gelegenheit, die versammelten Regional- und Lokalhistoriker zur Mitarbeit beim von der Forschungsabteilung Judenfrage betriebenem Projekt einer „historischen Statistik der Judentaufen und Mischehen“ aufzurufen.19 Durch seinen Vortrag und die Verbreitung der Erfassungsbögen bei den in regional- und lokalgeschichtlichen Vereinen organisierten Laien konnte Grau seiner Konzeption einer „Geschichte der Judenfrage“ zu weiterer Aufmerksamkeit verhelfen. Nach der Übernahme der Herausgeberschaft der Historischen Zeitschrift durch Karl Alexander von Müller enthielt der 1936 erschienene Band 153 erstmals die von Grau betreute Rubrik „Geschichte der Judenfrage“. Dass ein dergestalt ausgerichtetes Referat „auch für das übrige deutsche geschichtswissenschaftliche Zeitschriftenwesen eine Neuerung“ sei, stellte Grau dem ersten Erscheinen voran.20 Zwar enthielt die Rubrik, von Grau bis zum 1938 erschienenen Band 157 betreut und nach seinem Ausscheiden bis 1942 fortgeführt, nahezu ausschließlich Besprechungen einschlägiger Literatur. Für die Inklusion der „Geschichte der Judenfrage“ in den Themenkanon der deutschen Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus war das gleichnamige Referat in der HZ jedoch von herausragender Bedeutung. Zusätzlich zur Präsenz im wichtigsten Periodikum der Disziplin konnte Grau die wissenschaftliche Reputation seiner Konzeption mit einem Auftritt auf dem Erfurter Historikertag im Juli 1937 mehren. In seinem, nicht zuletzt in der Tagespresse vielbeachteten Vortrag zum „Haus Rothschild“ kritisierte Grau, dass „das Haus Rothschild bis zum heutigen Tage sein Archiv nicht eröffnet habe“, der „Ausfall dieser Quelle und die von den Rothschilds betriebene Legendenbildung haben die Forschung […] lange beeinträchtigt.“21 Parallel zur Forderung nach einem ungehinderten und exklusiven Quellenzugang der „Judenforschung“ betrieb Grau weiterhin den Ausschluss jüdischer Wissenschaftler, aus wissenschaftlichen Debatten wie generell aus dem Wissenschaftsbetrieb. So initiierte er zu Beginn des Jahres 1936 gemeinsam mit Walter Frank eine Kampagne gegen das noch bestehende Recht für jüdische Studenten, ihr Studium mit der Promotion abzuschließen. Das geforderte Verbot wurde vorerst nicht erlassen22, der Anspruch, sich keineswegs auf die historiographische Erforschung der „Judenfrage“ zu beschränken, allerdings blieb bestehen. Zwischenzeitlich war Grau der NSDAP beigetreten und wähnte sich offenbar auf dem Höhepunkt seiner Karriere als „Judenforscher“, sandte im März 1938 der Reichskanzlei eine Denkschrift über

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die „Aufgaben der deutschen Judenpolitik im Ausland“ zu. Nach Grau sei „der Jude ein internationales Problem“ und daher „eine allgemein gültige internationale Lösung“ nötig. Es stehe zu befürchten, dass „von außen her unsere deutsche Lösung rückgängig zu machen versucht“ werde. Grau forderte, dass „der Grundsatz unserer Stellungnahme zum Judenproblem im Laufe des 20. Jahrhunderts allgemein gültig für die Welt“ werde, die „Welt damit wieder auf die eigentliche zweitausendjährige Tradition ihrer Judenpolitik“ zurückkehre und die „Juden aus ihrer wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Machtstellung gedrängt […] und als Fremde und Objekte behandelt“ werden. Mit der „Einrichtung eines Sonderreferats Judenfrage, das direkt dem Führer unterstellt […], sämtliche Judenreferate der einzelnen Minister zusammenzufassen, zu aktivieren und einzusetzen“ habe, könne man schließlich auch „im großen Rahmen jüdische Auswanderungsfragen […] behandeln, wobei das Judentum allein als Objekt und in keiner Weise als Subjekt eine Rolle spielen würde.“23 Auf die unverlangt eingesandte Denkschrift Graus antwortete Hans Heinrich Lammers, Chef der Reichskanzlei. Ohne Stellung zu beziehen informierte er über die Weiterleitung der Schrift an die involvierten Reichsministerien.24 Dass Hitler persönlich Kenntnis von Graus Vorschlägen erlangt hätte, ist weder überliefert noch anzunehmen. Endgültig in seiner Stellung als Dienstherr Graus attackiert sah sich jedoch der nicht eingeweihte Frank, der sich bereits seit einiger Zeit mit Graus wachsenden Ansprüchen konfrontiert sah. Mit sofortiger Wirkung enthob er Grau von seinem Amt als geschäftsführender Leiter der Forschungsabteilung, ließ den gewährten Forschungsauftrag jedoch zunächst bestehen. Da Grau aber trotz Franks fortgesetztem Drängen nicht von der eingereichten Denkschrift abrücken wollte, trennten sich die Wege endgültig mit der Entziehung des Forschungsauftrages durch Frank im Dezember 1938.25 Der erworbene Ruf als „Historiker der Judenfrage“ blieb Grau hingegen erhalten, schlug sich in weiteren Publikationen nieder26, während der Konflikt mit Frank schwelte.27 Noch als Leiter der Forschungsabteilung Judenfrage hatte sich Grau, gemeinsam mit Frank, intensiv, wenn auch erfolglos, um die Einverleibung der Frankfurter Judaica- und Hebraica-Sammlung in eine geplante „größte Bibliothek zur Judenfrage“ bemüht. Dies weckte das Interesse konkurrierender nationalsozialistischer Institutionen: Alfred Rosenberg, der „Beauftragte des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung der NSDAP“, gliederte die Bibliothek zu Beginn des Jahres 1939 seiner Dienststelle an. Schließlich bildete die Sammlung den Grundstock des im Rahmen der Rosenbergschen Hohen Schule begründeten und im März 1941 eröffneten Instituts zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt am Main, dessen Leitung wiederum Grau übernahm.28 Durch die Raubzüge des Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg, dessen Arbeitsgruppe Paris Grau von Mitte Juli bis Anfang Oktober 1940 leitete, wurden dem Bestand der Bibliothek bis 1941 hunderttausende Bände zugeführt, schließlich auch das Archiv des Bankhauses Rothschild Frères. Die sich bietende Gelegenheit, den vielfach formulierten Anspruch der „Judenfor-

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schung“ auf exklusive Verfügung über Ressourcen wie Bücher und Archivalien auch außerhalb Deutschlands in die Tat umzusetzen, ließ sich Grau nicht entgehen.29 Anlässlich der Eröffnung des Frankfurter Instituts hatte Grau die „geschichtlichen Lösungsversuche der Judenfrage“ referiert und resümiert: „Das 20. Jahrhundert, das an seinem Beginn den Juden auf dem Höhepunkt seiner Macht gesehen hat, wird am Ende Israel nicht mehr sehen, weil es aus Europa verschwunden sein wird.“30 Als sein Beitrag zur Umsetzung dieser „Prophezeiung“ fertigte Grau im Februar 1942 für das Auswärtige Amt ein Gutachten über die „rassische Zugehörigkeit“ der französischen Sefarden an. Die von der Association Culturelle Sépharadite de Paris angefragte Ausnahme von den gegen die Juden gerichteten Maßnahmen wies er brüsk zurück. Dies stelle „lediglich einen bemerkenswerten jüdischen Versuch dar, mit Hilfe dieser These sich vor dem, dem gesamten europäischen Judentum drohenden Untergang zu retten“.31 Bald aber beendete der Konflikt mit Walter Frank die Karriere des „Historikers der Judenfrage“. Der Vorwurf ideologischer Unzuverlässigkeit ließ Grau zur Belastung werden. Im Oktober 1942 entlassen, verbrachte er den Rest des Kriegs bei der Wehrmacht. Nach 1945 gründete Grau einen regionalgeschichtlich orientierten Verlag in Alzey. Er starb im Jahr 2000. Im März 1938 hatte Grau gegenüber seinem langjährigen Mentor Karl Alexander von Müller betont, er habe „lange ehe es ein Reichsinstitut und eine Forschungsabteilung Judenfrage gab, […] als einer der ganz Wenigen die Judenfrage als Gegenstand meiner wissenschaftlichen Forschertätigkeit erwählt“; er habe „als Erster und Einziger ein systematisches Forschungsprogramm für dieses Gebiet in der Öffentlichkeit aufgestellt.“32 Für die Karriere als „Judenforscher“ erwies sich dieses 1935 erstmals publizierte „Forschungsprogramm“ als besonders bedeutsam. Der von Grau eingeforderte Perspektivwechsel von einer deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung hin zu einer „Geschichte der Judenfrage“, einer das Zusammenleben von Deutschen und Juden für alle historischen Epochen sowie alle sozialen Lagen problematisierenden Sichtweise, ist in der Zeit des Nationalsozialismus vielfach und wirkmächtig erfolgt.

Matthias Berg

1 Vgl. Dirk Rupnow, Judenforschung im Dritten Reich. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, Baden-Baden 2011. 2 Wilhelm Grau, Die Judenfrage als Aufgabe geschichtlicher Forschung, in: Deutsches Volkstum 17 (1935), S. 667–676, 667. 3 Matthias Berg, „Verändertes Geschichtsbild“ – Jüdische Historiker zur „Judenforschung“ Wilhelm Graus, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 5 (2006), S. 457–484. 4 Vgl. Franks Vorwort zu einer erneuten Veröffentlichung des Aufsatzes: Wilhelm Grau, Die Judenfrage als Aufgabe der neuen Geschichtsforschung, Hamburg 1935, S. 5. Zu Frank vgl. Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966. 5 UALMU, O-Np-1933, Wilhelm Grau, selbst verfaßter Lebenslauf.

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6 Vgl. Patricia von Papen, Vom engagierten Katholiken zum Rassenantisemiten. Die Karriere des Historikers der „Judenfrage“ Wilhelm Grau 1935–1945, in: Georg Denzler (Hg. u.a.), Theologische Wissenschaft im ‚Dritten Reich‘. Ein ökumenisches Projekt, Frankfurt a. M. 2000, S. 68–113. 7 Wilhelm Grau, Antisemitismus im späten Mittelalter. Das Ende der Regensburger Judengemeinde 1450–1519. Mit einem Geleitwort von Karl Alexander von Müller, München 1934. Zu Müller vgl. Matthias Berg, Karl Alexander von Müller. Historiker für den Nationalsozialismus, Göttingen 2014, S. 195–199. 8 Vgl. die Gutachten Müllers sowie der Korreferenten in: UALMU, O-Np-1933, Wilhelm Grau; die wohlwollende Besprechung Percy Ernst Schramms, Neue Bücher. Mittelalter, in: Vergangenheit und Gegenwart 25 (1935), S. 295f, sowie die euphorische Rezension Walter Franks, Ein Beitrag zur Erforschung der Judenfrage, in: VB v. 10.5.1935, S. 7. 9 Wilhelm Grau, Wilhelm von Humboldt und das Problem des Juden, Hamburg 1935, S. 96. 10 Wilhelm Mommsen, Neue Bücher. Geschichte der neuesten Zeit (seit 1789), in: Vergangenheit und Gegenwart 26 (1936), S. 236f. 11 Grau, Humboldt, S. 87. 12 UALMU, O-VII-103, Wilhelm Grau an Phil. Fak. der LMU, 5.11.1935. Als Habilitationsschrift reichte Grau das soeben von ihm erschienene „Wilhelm von Humboldt und das Problem des Juden“ ein. 13 Ebd., Wilhelm Grau, Gutachten Arnold Oskar Meyer, 16.3.1936. 14 Vgl. Patricia von Papen-Bodek, Judenforschung und Judenverfolgung. Die Habilitation des Geschäfts-führers der Forschungsabteilung Judenfrage, Wilhelm Grau, an der Universität München, in: Elisabeth Kraus (Hg.), Die Universität München im Dritten Reich. Aufsätze. Teil II, München 2008, S. 209–264. 15 BayHStA, Nl von Müller 396, Frank an Karl Alexander von Müller, 15.3.1935. 16 BArch, R 4901/14105, Bl. 343, Präsident Frank an Grau, 4.10.1935. 17 Wilhelm Grau, Die Judenfrage in der deutschen Geschichte, in: Vergangenheit und Gegenwart 26 (1936), S. 193–209, 249–259. 18 Wilhelm Grau, Die Judenfrage in der deutschen Geschichte, Leipzig 1937 (19436). Die erste Auflage von 4.000 Stück war in wenigen Monaten ausverkauft; vgl. Verlagsarchiv Duncker & Humblot, Notiz 5.8.1937. 19 Wilhelm Grau, Die Geschichte der Judenfrage und ihre Erforschung, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, 83 (1937), S. 163–173. 20 Wilhelm Grau, Vorbemerkung (Geschichte der Judenfrage), in: HZ 153 (1936), S. 336. 21 Abschluß des 19. Deutschen Historikertages. Das ‚regierende‘ Haus Rothschild, in: VB vom 9.7.1937, S. 5. 22 Vgl. Matthias Berg, „Können Juden an deutschen Universitäten promovieren?“ Der „Judenforscher“ Wilhelm Grau, die Berliner Universität und das Promotionsrecht für Juden im Nationalsozialismus, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 11 (2008), S. 213–227. 23 BArch, R 1, 69, Wilhelm Grau, „Denkschrift über Aufgaben der deutschen Judenpolitik im Ausland. Gedanken und Vorschläge“ vom 27.3.1938, an die Reichskanzlei am 28.3.1938 gesandt. 24 Ebd., Hans Heinrich Lammers an Wilhelm Grau vom 10.4.1938. 25 Ebd., Frank an Grau vom 23.4.1938, Grau an Frank vom 21.5.1938 und Frank an Grau vom 9.12.1938. 26 Wilhelm Grau, Die Auswanderung der Juden aus Deutschland, in: Wille und Macht. Führerorgan der nationalsozialistischen Jugend 7 (1939), S. 30–33. 27 BArch, BDC, Wilhelm Grau (4.8.1910), OPG D0064, Bl. 1974–3040, im Januar 1939 strengte Grau eine Privatklage wegen Beleidigung gegen Frank an. Das Verfahren kam aufgrund der im September 1939 durch Hitler erlassenen Generalamnestie zur Einstellung. 28 Zu diesem Institut vgl. den entsprechenden Beitrag Dirk Rupnows im vorliegenden Band.

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29 Matthias Berg, „Die 760 Kisten gehen übermorgen nach Frankfurt.“ Von der paradigmatischen zur physischen Aneignung von Archivalien durch die nationalsozialistische „Judenforschung“, in: Matthias Berg (Hg. u.a.), Mit Feder und Schwert. Militär und Wissenschaft – Wissenschaftler und Krieg, Stuttgart 2009, S. 241–257. 30 Wilhelm Grau, Die geschichtlichen Lösungsversuche der Judenfrage, in: Weltkampf. Die Judenfrage in Geschichte und Gegenwart (1941) 1/2, S. 15. 31 Patricia von Papen, Schützenhilfe nationalsozialistischer Judenpolitik. Die „Judenforschung“ des „Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschland“ 1935–1945, in: Fritz-Bauer-Institut (Hg.), „Beseitigung des jüdischen Einflusses…“. Antisemitische Forschung, Eliten und Karrieren im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1999, S. 31. 32 BArch, R1, 69, Grau an von Müller, 25.3.1938.

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Hans Grimm Hans Grimm war einer der einflussreichsten Referenzautoren der deutschen Rechten während der Weimarer Republik. Allerdings deutete in seinem Werdegang vor 1918 noch kaum etwas auf diese spätere Karriere voraus. Als Schriftsteller war Grimm, geboren am 22. März 1875 in Wiesbaden, ein „Spätberufener“ und auch politisch-ideologisch stand er dem Liberalismus Friedrich Naumannscher Prägung zunächst näher als etwaigen Protagonisten der völkischen Bewegung. Nach abgebrochenem Literaturstudium begann Hans Grimm 1895 auf Anraten seines Vaters Julius Grimm in London eine Großkaufmannslehre, nach deren Abschluss er ab 1898 für zehn Jahre in der britischen Kapkolonie lebte und arbeitete – zunächst als Angestellter eines Handelsunternehmens, dann als selbstständiger Kaufmann. 1908 verließ Hans Grimm die Kapkolonie und kehrte in seine Heimat zurück, wo er ein Angebot der Täglichen Rundschau annahm, als Korrespondent über die Kolonie Deutsch-Südwestafrika zu berichten. Nach seiner endgültigen Übersiedlung ins Deutsche Reich (1910) studierte Grimm ab 1911 Staatswissenschaften und Nationalökonomie in München und Hamburg, blieb jedoch weiterhin journalistisch und als freier Schriftsteller tätig. Die positive Resonanz, die seinen „Südafrikanischen Novellen“ (1913) zuteilwurde, stärkte dann Grimms Entschluss, sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Im selben Jahr veröffentlichte er „Afrikafahrt West“, ein „praxisorientiertes Handbuch für Afrikaaussiedler“, das intensiv aus dem Fundus zeitgenössischer rassenideologischer Vorstellungen schöpfte.1 So warnte Grimm vor der „schwere[n] Gefahr der Vermischung von Farbigen und Weißen“ und bezeichnete es als „unsühnbar[es]“ Verbrechen, „wenn ein weißes Weib mit einem Farbigen in Geschlechtsverkehr“ trete; sie liefere „die Ehre der ganzen Rasse aus, und kein Tod ist schnell und kein Grab ist tief und verschwiegen genug für solche Ungeheuerlichkeit“.2 Ab Oktober 1916 leistete Grimm Kriegsdienst an der deutschen Westfront und wurde während der Somme-Schlacht bei Lens eingesetzt. Ein begeisterter Kriegsbefürworter war Grimm indes zu keinem Zeitpunkt des Kriegs. Dies lag schon daran, dass er – allen Vorbehalten im Einzelnen zum Trotz – in Großbritannien den idealen, ja natürlichen Bündnispartner des Deutschen Reichs sah. Aus seiner Sicht spiegelte sich in der Mächtekonstellation der Jahre 1914–1918 eine verheerende außenpolitische Fehlentwicklung. Auch zeigte sich Grimm desillusioniert von der Chimäre der „Frontgemeinschaft“: noch 1925 verwies er verbittert auf die „vollkommene Unkameradschaftlichkeit“ und „ungeheure Schieberei“, die „an der Front und in der Etappe“ vorgeherrscht habe; durch sie sei „der gemeine Mann […] moralisch ruiniert“ worden und letztlich „zum Lastträger-Sklaven des Krieges“3 verkommen. Ab 1917 beschränkte sich Grimms Militärdienst auf Dolmetscher- und Schreibtätigkeiten. Im Auftrag der Obersten Heeresleitung (OHL) verfasste er den (erst nach Kriegsende veröffentlichten) Roman „Der Ölsucher von Duala“, der in Gestalt der Leidensgeschichte eines deutschen Kolonisten vor und während des Ersten Weltkriegs die

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Brutalität und Grausamkeit der französischen Kolonialpolitik stigmatisieren4 und zugleich „die kolonialen Ambitionen des deutschen Reiches“5 festigen sollte; noch im NS-Staat eignete sich das Werk für den Langen Müller Verlag zur „Profilierung im nationalsozialistischen Deutschland“.6 Anschließend war Grimm in der Auslandsabteilung der OHL in Berlin tätig, wo er „militärische Propaganda verfasste, die die deutsche Unschuld am Krieg erklären sollte und für die Presse des neutralen Auslands gedacht war“.7 Nach Kriegsende ließ sich Grimm als freier Schriftsteller in Lippoldsberg an der Weser in einem ehemaligen Klostergebäude nieder. Die folgenden Jahre standen ganz im Zeichen der Arbeit an dem Roman „Volk ohne Raum“ (1926), der Grimms schriftstellerischen Ruhm begründen sollte; bis 1945 wurden rund 650.000 Exemplare des voluminösen, semiautobiografisch angelegten Werks abgesetzt.8 Es schildert das Leben des Bauernsohns Cornelius Friebott, der in seiner niedersächsischen Heimat kein hinreichendes Auskommen findet, früh mit sozialistischem Gedankengut und (infolgedessen) mit dem Gesetz in Berührung kommt, 1898 nach Afrika auswandert und dort – nach leidvollen Erfahrungen als deutscher Kolonist und britischer Kriegsgefangener – mangelnden Lebensraum als die eigentliche Ursache aller sozialen und politischen Friktionen seiner Heimat erkennt.9 Erfüllt von dieser Erkenntnis wird Friebott nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft (1920) zum Kolonialpropagandisten und Wanderprediger, ehe er 1923 während eines Vortrags durch den Steinwurf eines sozialistischen Arbeiters ums Leben kommt. Der Todestag fällt, so heißt es am Ende des Romans, mit jenem Tag zusammen, an dem „Wagemutige und Sehnsüchtige in München zusammengeschossen wurden von anderen Deutschen“10 – eine weithin sichtbare Verbeugung Grimms vor den Protagonisten des Hitler-Putschs vom 9. November 1923, die in der NS-Bewegung mit großer Genugtuung aufgenommen wurde und erheblich zum zunächst sehr hohen Ansehen Grimms in der NSDAP beitrug. Doch reichte das Renommee Grimms in der Weimarer Gesellschaft weit über rechtsradikale Parteien und Interessenverbände hinaus. Nichts unterstreicht diesen Sachverhalt anschaulicher als die Ehrendoktorwürde, die Grimm 1927 von der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen verliehen bekam. Äußerer Anlass dieser Auszeichnung waren die Feierlichkeiten zum hundertsten Geburtstag des langjährigen Göttinger Professors für Orientalistik und völkischen Publizisten Paul de Lagarde. Ebenso wie Lagarde, so der damalige Dekan der Philosophischen Fakultät Hans Hecht in seiner Laudatio, sei es Grimm gelungen, „in Unabhängigkeit von allen Parteien aber im Glauben an die geschichtliche Sendung unseres Volkes und die reine Kraft seiner Jugend die deutsche Nationalität in der Einheit eines neuen Ideals aller Deutschen“ zu suchen. Geehrt wurde Grimm vornehmlich als „Schöpfer des Epos von Volk ohne Raum, der mit demselben leidenschaftlichen Herzen für die Größe Deutschlands sein Schicksal mit der seherischen Gewalt des Dichters sichtbar gemacht“ und der deutschen „Jugend die Zukunft eines freien und adeligen deutschen Lebens […] in die Seele gezeichnet“ habe.11 Nebst dieser akademischen Ehrung fand Grimm Bestätigung dafür, mit seinem Roman einen Nerv der Zeit getrof-

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fen zu haben, insbesondere in einer Vielzahl positiver Besprechungen, einer wahren Flut enthusiastischer Leserbriefe12 sowie in einem nicht abreißen wollenden Strom von zumeist jungen, rat- und orientierungssuchenden Besuchern in Lippoldsberg.13 Nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ wurde Grimm zunächst als Schöpfer von „Volk ohne Raum“ staatlich hofiert. 1933 wurde er zum Senator der Deutschen Akademie (München) sowie der Preußischen Akademie der Dichtung (Berlin) berufen. Außerdem ernannte ihn Joseph Goebbels zum Präsidialrat der Reichsschrifttumskammer. Die ersten antisemitischen Gesetzesbestimmungen der Nationalsozialisten begrüßte Grimm ausdrücklich, ebenso die Zerschlagung des Parteiensystems, das Vorgehen gegen (links-)liberale und kommunistische Intellektuelle sowie den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund. Doch rasch wurde Grimms persönliche Haltung zum Dritten Reich von dezidierten Enttäuschungserfahrungen überlagert – insbesondere, weil die oben genannten Ämter nicht verhüllen konnten, dass ihm der Zugang zu den tatsächlichen kulturpolitischen Machtzentren des NS-Staats verschlossen blieb.14 Darüber hinaus empörten Grimm manche politisch-gesellschaftliche Missstände im nationalen Rahmen wie auch im lokalen Bereich, so etwa die brutalen Morde im Zuge des „Röhm-Putschs“ und die Misshandlung eines sozialdemokratischen Arbeiters durch einen SS-Obersturmführer in Lippoldsberg.15 Verbrechen wie diese vermochte Grimm nicht als authentische Manifestationen nationalsozialistischer Politik und Weltanschauung zu erkennen, sondern (miss-)verstand sie als bloße Wucherungen, die mit dem „wahren“ Nationalsozialismus nichts gemein hätten. Diese Fehlperzeption kann mit erklären, warum Grimm bereit war, ohne äußeren Zwang in den 1930er Jahren im In- und Ausland weiterhin öffentlich für den NS-Staat einzutreten, ehe schließlich ein heftiger Konflikt mit Goebbels im November 1938 dazu führte, dass Grimm sich stark aus der Öffentlichkeit zurückzog, weitere Propagandaaktivitäten fast vollständig mied und der Reichshauptstadt demonstrativ fernblieb.16 Nach dem Zweiten Weltkrieg besaß Grimm eine vergleichsweise hohe Publizität – gemessen an anderen, durch ihre Teilhabe am Dritten Reich in die Bedeutungslosigkeit abgesunkenen Autoren. Dies lag zunächst daran, dass Grimm von den alliierten Entnazifizierungsbestrebungen unberührt blieb und mit keinem Schreibverbot belegt wurde. Hinzu kam, dass Grimm 1951 die Gründung eines eigenen Verlags in Lippoldsberg (Klosterhaus-Verlag) gelang. Doch wäre dies ohne große Wirkung geblieben, wenn nicht zugleich ein erheblicher Teil von Grimms Stammleserschaft der Zwischenkriegszeit den Zweiten Weltkrieg überlebt und sich – abermals nach Orientierung suchend – dem Dichter wieder zugewandt hätte. So gelangen Grimm insbesondere mit der „Erzbischofschrift“ (1950) und dem Buch „Warum – Woher – aber Wohin?“ (1954) denn auch beachtliche Verkaufserfolge.17 Inhaltlich basieren Grimms politische Nachkriegsschriften im Kern auf dem Bedürfnis, dem Erbe der Nationalsozialisten zu einer mindestens partiellen Ehrenrettung zu verhelfen.18 Sollte, so glaubte Grimm, das deutsche Volk einen völligen Traditionsbruch zu der Zeit des Dritten Reichs vollziehen, laufe es Gefahr, den Kommunisten

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in die Hände zu fallen. Grimms zentrales, nimmermüde wiederholtes Argument war es dabei, dass streng zwischen einem „jungen und unverdorbenen“19 sowie einem späten, gleichsam degenerierten Nationalsozialismus unterschieden werden müsse, wobei die zeitliche Grenzlinie hier völlig offen blieb. Der „ursprüngliche Nationalsozialismus“, so Grimm in der „Erzbischofschrift“, sei in vielerlei Hinsicht vorbildlich gewesen und habe nicht etwa für nationalistische, sondern für gesamteuropäische Interessen gekämpft. Ziel sei es gewesen, die „Ursachen zunächst des deutschen und weiterhin des europäischen Absinkens“ vor allem seit 1918 aufzudecken und diesem „Absinken“ eine „bewußte Rassenpflege“ entgegenzuhalten, die „mit Rassedünkel oder gar Judenabneigung […] von Hause aus nichts zu tun“20 gehabt habe. Diesem revisionistisch-geschichtsklitternden Geist verpflichtet waren auch die seit 1949 von Grimm organisierten Lippoldsberger Dichtertage, die zu einem Sammlungs- und Kristallisationspunkt rechtskonservativer und -extremer Autoren wurden, die der jungen Bundesrepublik innerlich fremd und feindselig gegenüberstanden.21 Die zunächst große öffentliche Resonanz der Dichtertage ebbte nach dem Tod Grimms am 27. September 1959 indes rasch ab. Die Vielzahl an Neuauflagen verschiedener Werke Grimms bis Ende der 1970er Jahre durch den Klosterhaus-Verlag kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zeit, in der Grimms Arbeiten auf ein nennenswertes gesellschaftliches Echo stießen, Mitte der 1960er Jahre definitiv vorüber war.

Thomas Vordermayer

1 Vgl. Annette Gümbel, „Volk ohne Raum“. Der Schriftsteller Hans Grimm zwischen national-konservativem Denken und völkischer Ideologie, Darmstadt 2003, S. 48–51. 2 Hans Grimm, Afrikafahrt West. Von Hamburg, Antwerpen Boulogne und Southampton nach Madeira und den Kanarien und über Madeira-Kanarien nach Swakopmund, Lüderitzbucht und Kapstadt. Ein Reisebuch und ein Einführungsbuch, Frankfurt a.M. 1913, S. 175. 3 Zitiert nach Gümbel, „Volk ohne Raum“, S. 33. 4 Vgl. ebd., S. 55–57. 5 Uwe-Karsten Ketelsen, Literatur und Drittes Reich, Schernfeld 1992, S. 200. 6 Andreas Meyer, Die Verlagsfusion Langen-Müller. Zur Buchmarkt- und Kulturpolitik des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbands in der Endphase der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1989, S. 211. 7 Gümbel, „Volk ohne Raum“, S. 34f. 8 Vgl. Gümbel, „Volk ohne Raum“, S. 127. Die Verkaufszahlen schossen vor allem seit 1931 in die Höhe, als eine deutlich verbilligte „Volksausgabe“ von „Volk ohne Raum“ erschien. 9 Zur Raumideologie kommen in „Volk ohne Raum“ insbesondere rassenideologische und antisemitische Motive. Ausführlich zum Inhalt des Romans und den in der Handlung eingehegten völkischen Ideologeme, vgl. Thomas Vordermayer, Bildungsbürgertum und völkische Ideologie. Konstitution und gesellschaftliche Tiefenwirkung eines Netzwerks völkischer Autoren (1919–1959), Berlin 2016, S. 60–68. 10 Hans Grimm, Volk ohne Raum, 2 Bde., München 1927, Bd. 2, S. 663. 11 Zitiert nach: Vordermayer, Bildungsbürgertum, S. 194. 12 Vgl. Gümbel, „Volk ohne Raum“, S. 128–134.

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13 Zu diesen Besuchern gehörte auch Ernst von Salomon, der später in seinem Roman „Der Fragebogen“ (1951) über Lippoldsberg berichtete: „Schon seit langem verging kaum ein Tag, an welchem nicht Besucher im Klosterhaus erschienen, unangemeldete fremde Besucher, wohlverstanden, allerlei junges, begeisterungsfähiges Volk, welches herbeiströmte, den Dichter zu sehen und zu sprechen, und selbst zur Stunde des geheiligten Mittagsschlafes an die weinlaubumbuschte Tür pochte. Es wurden Jahr für Jahr deren mehr, die einen persönlichen Kontakt mit dem Dichter suchten […].“ Ernst von Salomon, Der Fragebogen, Hamburg 1951, S. 242. 14 Aus eigener Perspektive – und hier steht er repräsentativ für viele andere völkisch-nationalistische Autoren der Weimarer Republik – wurde Grimm damit um den Lohn seiner angeblichen Opfer und Entbehrungen der Jahre 1918–1933 gebracht. Aufschlussreich ist hier ein Brief Gustav Pezolds (Leiter des Langen Müller Verlag) an Wilhelm Stapel vom August 1933 nach einem Besuch in Lippoldsberg. Grimm, so Pezold, sei „maßlos erschöpft“ und empfinde es als unerträglich, dass „nun auf einmal alle Verdienste derjenigen, die die eigentlichen Träger des Krieges waren […] und die auch nach dem Kriege unter persönlichem Einsatz eine nationale Bewegung in Gang gehalten und vorwärts getrieben haben, nichts mehr gelten sollen.“ Zitiert nach: Vordermayer, Bildungsbürgertum, S. 330. 15 Vgl. Gümbel, „Volk ohne Raum“, S. 188–193. 16 Zum Verhältnis zwischen Hans Grimm und Joseph Goebbels in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik und im Dritten Reich vgl. Vordermayer, Bildungsbürgertum, S. 320–327. 17 Die Auflage beider Bücher lag bei jeweils über 50.000 Exemplaren. Vgl. Hans Sarkowicz, Zwischen Sympathie und Apologie: Der Schriftsteller Hans Grimm und sein Verhältnis zum Nationalsozialismus, in: Karl Corino (Hg.), Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus, Hamburg 1980, S. 120–135, 131f. 18 Ausführlich zu Grimms Versuche zu einer Ehrenrettung des Nationalsozialismus nach 1945: Vordermayer, Bildungsbürgertum, S. 364–380. 19 Hans Grimm, Rückblick, Göttingen 1950, S. 25. 20 Ders., Die Erzbischofschrift. Antwort eines Deutschen, Göttingen 1950, S. 69. 21 Vgl. Gerd Koch, Dichtertage bei Hans Grimm, Autor des Romans „Volk ohne Raum“, in Lippoldsberg an der Weser, in: Ders. (Hg.), Literarisches Leben, Exil und Nationalsozialismus. Berlin 1996, S. 93–151; Annette Gümbel, Hans Grimm und die Lippoldsberger Dichtertage, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 49 (1999), S. 179–199.

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Walter Gross Otto Erich Walter Gross wurde am 21. Oktober 1904 in Kassel geboren. Gross’ Vater, Alfred Karl Friedrich Gross, der am 25. November 1862 in Sondershausen zur Welt kam, sollte es bis zum Oberpostinspektor bringen.1 Sein Elternhaus ist also, ebenso das seiner späteren Frau Elfriede, dem gehobenen Bürgertum zuzuordnen. Man hegte große Bewunderung für Bismarck, war deutsch-national gestimmt und entstammte jener Schicht, die sich durch die Transformationsprozesse der Moderne am stärksten gefährdet sah. Hier bestand eine hohe Affinität zur pangermanischen Ideologie, speziell – wie Roger Chickering und, diesem folgend, Stefan Breuer herausarbeiteten – in der „Post- und Eisenbahnverwaltung, dem Bau- und Erziehungswesen“. Viele Akteure der sogenannten Konservativen Revolution seien entweder in Kleinstädten aufgewachsen oder „in einer jener provinziellen Großstädte, wie sie in Deutschland so zahlreich sind“; bei vielen blieb ein „antiurbaner Affekt erhalten“. Auch Gross entstammte, wie viele seiner späteren Parteigenossen, einem protestantischen Elternhaus und besuchte das humanistisch geprägte Städtische Gymnasium in Göttingen. Oft wurde die Frage gestellt, warum gebildete „Humanisten“ unter bestimmten Rahmenbedingungen zu größten Untaten fähig waren. Chickering bestreitet eine grundsätzliche Immunisierung durch die humanistische Bildung, es sei „keine Ausbildung für die Welt [gewesen], es war eine Ausbildung gegen die Welt.“ Gesinnungsbildende Fächer sollten den nationalen Geist der Jugend anfeuern, das „patriotische Denken und Handeln“ galt als oberste Bezugsgröße.2 Ernst Günther Gründel zählte Gross zur „Kriegsjugendgeneration“, eine Generation, die noch zu jung war, um 1914 in den stürmisch begrüßten Krieg zu ziehen, und diesen Umstand stets als (zu kompensierenden) Mangel empfand.3 Einen Mangel, den die Angehörigen einer solchen Generation, stark beeinflusst durch die Heroisierung des Krieges, in hypertrophem Nationalismus mit besonders starker Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem auszugleichen versuchten. Derartige manichäische Differenzierungen ließen ein Ingroup-Feeling und das Bedürfnis einer entlastenden Aktivierung latenter antisemitischer Potenziale entstehen. Die Vorstellung, eine homogene Gruppe inmitten einer verwirrend komplexen und vielgestaltigen modernen Welt zu sein, und der Glaube, durch vermeintlich höchstwertige Erbanlagen zu den Auserwählten zu zählen, brachte spätere fremdenfeindliche, schließlich antisemitische Aktionen in weitgehenden Einklang mit dem Über-Ich vieler „Volksgenossen“. Die als besonders schmählich und unwürdig empfundene Ausweisung der Familie aus Posen, eine spürbare Auswirkung des Versailler Vertrages, war für Walter Gross ein prägendes Kindheitserlebnis.4 Gross’ Lebensweg verlief über die Stationen Kassel, kurz darauf Posen, Göttingen, Tübingen, München, Oldenburg, Braunschweig nach München und zuletzt – ab 1933 und bis zu seinem Tode am 25. April 1945 – bis nach Berlin.5 Die Stadt Göttingen, das Städtische Gymnasium, das Gross besuchte, und die Universität waren schon sehr früh nationalistisch und antisemitisch geprägt. Goeb-

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bels rühmte bereits 1933 die dortigen Verhältnisse mit ihrer „rassisch abgeschlossenen Sicherheit des Göttinger Landes“; dort sähe man „gleich das Ende, das Rasseproblem, und zwar deshalb, weil die gigantische Umwälzung von Dampf und Maschine und die damit bedingte Revolution des Menschen an den weiten Ackerflächen dieses gesegneten Landes vorbeiging.“6 Basierend auf dem Ideologem von „Blut und Boden“ spricht aus diesem Zitat die vorgebliche Verderbtheit der Städte und – für Gross charakteristisch – ein neoromantisch, eskapistisch verbrämter Unwille, sich mit den Umständen der Moderne zu arrangieren, sowie die in späteren Jahren aufwendig propagierte pseudo- oder ersatzreligiöse Heilserwartung eines rassisch reinen Volkes als vermeintlicher Höchstwert. Schon in seiner Gymnasialzeit wurde Gross Mitglied des Jungdeutschen Ordens, der von dem aus Kassel stammenden „Hochmeister“ Arthur Mahraun geführt wurde. Theodor Eschenburg beschrieb den Orden als „eine mystisch-konservative Organisation, die aus der Jugendbewegung hervorgegangen war. [… Sie] drapierte sich mit reichlich neoromantischem Vokabular […]; an der antiparlamentarischen, antipolitischen Ausrichtung des Ordens konnte es keinen Zweifel geben. […] [Die Jungdeutschen] waren keine offenen Antisemiten, aber hegten gegenüber Juden, Unternehmern, Journalisten und Anwälten, also allen Berufen, die nicht zu ihrer pathetischen Vorstellung einer →Volksgemeinschaft passten, handfeste Antipathien.“7 Gross’ frühe politische Überzeugungen wurden von zwei Männern besonders geprägt: Achim Gercke und Ludolf Haase, mit denen er sich in Göttingen anfreundete. Gemeinsam besuchten sie die zunehmend frequentierten „Sprechabende“ der jungen NSDAP. Haase war die treibende Kraft der im Februar 1922 gegründeten Ortsgruppe und wurde der erste norddeutsche Gauleiter. Aus diesem Umfeld und dem des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes rekrutierten sich vier der fünf ersten Nationalsozialisten Göttingens. Auch die späteren Gauleiter Dr. Joachim Albrecht, Friedrich Karl Florian, Josef Grohé, Karl Kaufmann, Hinrich Lohse, Fritz Sauckel, Julius Streicher, weiterhin Dr. Otto Hellmuth, ein späterer Mitarbeiter des Rassenpolitischen Amtes (RPA) in Mainfranken, der Reichsleiter Walter Buch, auch SAStabschef Viktor Lutze, die SS-Führer Werner Best und Reinhard Heydrich, der spätere Reichsgesundheitsführer und der Staatssekretär im Reichsinnenministerium (RMI), Dr. Conti, schließlich Reichsminister Wilhelm Ohnesorge und Bernhard Rust8 entstammten diesem Milieu. Diese Nationalsozialisten waren durch den verlorenen Weltkrieg geprägt und empfanden, dass alle chauvinistische Euphorie und Hoffnungen, mit denen dieser Krieg 1914 begonnen wurde, traumatisierend jäh gebremst worden seien. Gewaltige mentale Energien kamen nicht zu dem ihnen zugedachten Zweck und wurden „aufgeschoben“.9 Die früheren Parteigenossen standen angsterfüllt vor den gewaltigen Umbrüchen der die alten Ordnungen destruierenden Moderne und waren voller mystisch übersteigerter Liebe zu Deutschland. Hier und bei diesen Menschen bildete sich eine frühe, wirkmächtige Keimzelle des Nationalsozialismus.

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Göttingen war für den jungen Gross die prägendste Stadt. Hier, aber auch während seines Medizinstudiums in München, Tübingen und Oldenburg, betätigte Gross sich aktiv politisch und wurde schon 1922 SA-Mann, Redner und stellvertretender Ortsgruppenleiter.10 Schon am 9. März 1925 wurde Gross mit der Mitgliedsnummer 2815 „Parteigenosse“ der NSDAP, außerdem Mitbegründer des NS-Studentenbundes (NSDStB). Im Wintersemester 1927/28 wurde „von fünf Studenten unter Führung des späteren Leiters des →Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, Dr. Groß, im ‚Frankfurter Hof‘ die Göttinger Hochschulgruppe des NSDStB gegründet“.11 Bald darauf verzeichnete man erste Erfolge, der Stimmenanteil der Nazis bei den AStAWahlen stieg allein von 1930 bis 1931 von 29% auf 54%. Für Gross war das frühe politische Leitbild Ludolf Haase, „der klarste und rücksichtsloseste Vertreter des Rassegedankens in der NSDAP“, ein Mann, der „das Rasseproblem von Anbeginn am schärfsten in den Mittelpunkt aller Politik rückte“12, was auch für Gross politikbestimmend werden sollte. Achim Gercke, die andere Leitfigur, hatte mithilfe der Bevölkerung und von Universitätsmitarbeitern eine „Judenkartei“ erstellt. Sie umfasste 500.000 Juden und sollte innerhalb der Reichsleitung als spätere „Partei-Nachweisstelle“ unentbehrlich werden. Diese Kartei diente auch zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 und brachte ihrem Urheber die Stellung eines „Sachverständigen für Rasseforschung“ im für die Rassenpolitik zuständigen RMI ein. Im Anschluss an seine Braunschweiger Assistentenzeit wurde Gross, nachdem klar war, dass die Anstellung nicht verlängert würde, durch den erwähnten Achim Gercke hauptamtlicher Mitarbeiter in der Reichsleitung der NSDAP und der Unterabteilung Volksgesundheit des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes (NSDÄB) in München. Bereits im März 1933 begründete Gross das Aufklärungsamt für Bevölkerungspolitik und Rassenpflege, den direkten Vorläufer des im Mai 1934 ebenfalls von ihm initiierten „Rassenpolitischen Amtes der NSDAP in der Reichsleitung“ in der Funktion eines Reichsamtsleiters; kurz vor Ende seines Lebens beförderte man ihn noch zum „Hauptdienstleiter“.13 Noch 1933 wurde Gross Leiter der Abteilung Rassenkunde und -pflege an der Deutschen Hochschule für Politik (DHP) in Berlin.14 Weitere zwei Jahre danach, am 15. April 1935, übernahm der nicht habilitierte Gross einen Lehrauftrag für „politische Rassenkunde“ an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, dem am 8. Juni 1937 der Antrag auf eine Honorarprofessur folgte, die am 17. März 1938 rechtswirksam wurde.15 Neben weiteren Gremienzugehörigkeiten und dem Ehrentitel eines Senators der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wurde Gross 1936 Reichstagsabgeordneter im oberschlesischen Wahlkreis Oppeln. Im gleichen Jahr erhielt er von der Stadt Hamburg den DietrichEckart-Preis für „seine volkstümliche und gleichzeitig wissenschaftlich überzeugende Aufklärungsarbeit in allen Gebieten der Rassenfrage“.16 Gross war nun etabliert. Als „alter Kämpfer“ wurde er zunehmend mit Ehrungen, aber auch mit weitreichenden Aufträgen und Erwartungen versehen. Gross verstrickte sich gleichzeitig immer dichter in die eliminatorische NS-Ordnungs- und

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rassenpolitische Vernichtungspolitik. Aktenkundige Beispiele sind die im RPA entstandene „Denkschrift ueber die Neuordnung im ehemals polnischen Raum“, die, auch an Himmler übersandt, „die Fragen der Rassenpolitik, der Eindeutschung, bzw. der Vernichtung [sic!] des nicht eindeutschbaren Bevoelkerungsanteiles behandelt“.17 Himmler schrieb Gross, nachdem er diese Gedanken Hitler vorgelegt hatte: „Der Führer […] fand sie sehr gut und richtig“, empfahl aber, den Text bei fortlaufender Geheimhaltung in nur wenigen Exemplaren als „Geheime Reichssache“ zu führen.18 Ein Kennzeichen des polykratischen NS-Staates und von Hitlers Führungsstil war, stets mehrere Instanzen mit derselben Aufgabe zu betrauen. Jede NS-Institution im „Führerstaat“ war bemüht, Gnade und Achtung vor den Augen Hitlers zu finden. Innerhalb der zwangsläufig entstehenden Konkurrenzen wählte Hitler jeweils die ihm passende Option aus. Dieser „Ämterdarwinismus“ führte zu Radikalisierungen, weil jede Einrichtung die jeweils konkurrierenden zu übertreffen suchte. Auch Gross’ Vorschläge wurden immer radikaler. Am 27. März 1941 hielt er in Frankfurt zur Eröffnung des Institutes zur Erforschung der Judenfrage, einer Außenstelle von Rosenbergs Hoher Schule, eine aufschlussreiche Rede vor einer großen Zahl von Vertretern der NS-Elite. Im Laufe seiner Rede unter dem Titel „Rassenpolitische Voraussetzungen zur Lösung der Judenfrage“ forderte er klar den Verzicht auf eine Gettoisierung, vielmehr müsse man die Juden komplett „ausscheiden“.19 Gross benannte im Bild des jüdischen Tod- und Universalfeindes den Hauptfeind gegen alles, wofür er kämpfte und eintrat. Seine Unerbittlichkeit war nicht nur öffentlich inszeniert, sondern auch privat spürbar. So antwortete er seiner Ehefrau im Winter 1941 auf die Frage, ob es zu verantworten sei, russische Kriegsgefangene einfach verhungern zu lassen: „Zu verantworten ja, aber tun möchte ich es nicht.“20 Darin zeigt sich, neben einer erschreckenden moralischen Indifferenz, die bedingungslose Akzeptanz der nationalsozialistischen Großraumziele, da nicht vorrangig ökonomische Rationalitäten den Ausschlag zur Vernichtungspolitik gaben, sondern vorher politisch entschieden wurde, „wer zu ernähren sei und wer zu verhungern habe“.21 Die keineswegs originelle NS-Ideologie vermochte an weit zurückreichende Kontinuitäten anzuknüpfen und band auch solche Menschen, die entweder glaubten, zumindest das kleinere Übel gewählt zu haben, oder sich durch programmatische Beliebigkeit täuschen ließen. Die Zustimmung zur NS-Bewegung war weit eher eine Haltung, ein Glaube als eine fundierte, rationale und politische Entscheidung. Die von den Nazis behauptete Politisierung war in Wahrheit das Gegenteil und zudem eine propagandistische Politikinszenierung mit irrationalen und mystischen Schwerpunkten, die rassen- und bevölkerungspolitische Begründungsvarianten legitimierte. Schließlich zur Tat aufrufend, gehorchte sie vermeintlich naturgesetzlich gebotenen Erfordernissen, aber nicht „irrational“, sondern fundiert durch „moderne, naturwissenschaftlich begründete und empirisch abgesicherte Theorie“, die jedoch primär ideologisch-politischen Vorgaben folgte.22

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Neben den aktivierenden Auswirkungen des Ämterdarwinismus führte ein den NS-Staat charakterisierendes „Kompetenzchaos“ auch zu Intrigen und ineffizienten Reibungsverlusten. Systemimmanente Eigendestruktivität zeigte sich bei Gross beispielsweise im „Fall Clauss“. In einer langjährigen Auseinandersetzung mit dem „Rassenseelenforscher“ und Husserl-Schüler Ludwig Ferdinand Clauss, der eine jüdische Assistentin beschäftigte, spielte Gross zuletzt Zünglein an der Waage und erzielte den Parteiausschluss Clauss’.23 Ein wesentlicher Aspekt dieser Auseinandersetzung war Gross’ Zweifel an der behaupteten Wissenschaftlichkeit der „Rassenseelenkunde“ von Clauss. Längst war der Punkt erreicht, an dem langjährige Mitstreiter nicht mehr darauf vertrauen konnten, unangreifbar zu sein. Eine ausgeprägte Konkurrenzsituation spitzte sich mit der Folge zu, dass mit Clauss auch ein Mitbegründer der „NS-Rassenlehre“ „geopfert“ wurde, wenn dies zweckmäßig erschien. Kriegsbedingt wurden „Theoretiker“ wie Gross zunehmend von (SS-)Praktikern überflügelt. Nun waren radikalere Maßnahmen und vor allem Taten gefragt. Da das RPA keine eigene Exekutive vorweisen konnte, war Walter Gross gezwungen, weiterhin vornehmlich propagandistisch zu agieren. Sein Einfluss gegenüber den Männern der Tat schwand zusehends, Versuche, auch „zu der praktischen Auslesearbeit im Osten“ hinzugezogen zu werden, scheiterten.24 1944 kam das weitgehende, kriegsbedingte Ende für die meisten Aufgaben des RPA. Gross bemerkte, dass er immer weiter an die Peripherie der Macht geschoben wurde. Sein Kontakt zu Rosenberg zahlte sich insofern aus, als er bei diesem bereits seit geraumer Zeit Leiter im Hauptamt Wissenschaft der Reichsleitung Rosenberg war, zuvor auch Leiter der Abteilung Naturwissenschaft.25 Dort hatte er direkten Zugang zu Rosenberg, leitete ein neu begründetes Institut für Biologie und Rassenlehre der Hohen Schule in Schelklingen/Württemberg, lektorierte wesentliche Veröffentlichungen zur Rassenpolitik und begann 1944, den wissenschaftlichen Kampf gegen feindliche Ideologien zu organisieren.26 Der Hauptfeind war das Judentum. In dieser „Weltfeindkonstruktion“ wurde behauptet, dass im Grunde alles Feindliche auf den verderblichen jüdischen Einfluss zurückzuführen sei. Deshalb sei, hieß es, mit dem Kampf und der Vernichtung des „jüdischen Weltfeindes“ auch der „Endsieg“ sicher. Es verwundert daher nicht, dass noch zum Ende des Krieges, am 17. Juli 1944, ein „Antijüdischer Kongreß“ in Krakau stattfinden sollte. Rosenberg hatte sich für diese internationale antisemitische Manifestation erwärmt und die Vorarbeiten bereits durch die Klippen des Kompetenzenchaos hindurchmanövriert. Nach der Landung der Alliierten in der Normandie und nicht zuletzt aufgrund fehlenden Interesses bei Hitler fiel der Kongress aus. Die Besetzung war international hochkarätig geplant und unter den Wissenschaftlern war auch Walter Gross vorgesehen.27 Gross wusste längst, dass der Krieg verloren ging, seine Familie wurde bereits im Sommer 1943 evakuiert. „Aufgeben“ konnte und wollte er nicht, vorzeitig von seiner Zyankalikapsel Gebrauch machen auch nicht.28 Zuletzt führte er in Nikolassee lange Gespräche mit seinem Freund und behandelnden Kardiologen Hans J. Storz und seiner engen Mitarbeiterin Marta Heß. Storz versuchte seinen verzweifel-

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ten Freund zur Flucht zu bewegen. Er glaubte schließlich, ihn überzeugt zu haben, als man in den ersten Morgenstunden des 25. April 1945, der Gross’ letzter Lebenstag sein sollte, auseinanderging und Walter Gross in sein Haus in Nikolassee zurückkehrte. Die Todesumstände sind ungewiss, die Schilderungen widersprüchlich und unvollständig. Sicher ist, dass an diesem 25. April die Rote Armee in Gross’ Wohngebiet am Schlachtensee und in Zehlendorf in heftigen Straßenkämpfen stand. Die amtliche Sterbebescheinigung, die erst Jahre später ausgestellt wurde, gab als Todesursache einen „Bombentreffer“ an. Wahrscheinlich aber hatten sich Walter Gross und Marta Heß noch bemüht, das Haus mit Waffengewalt zu verteidigen. Der bedrängte „Hauptdienstleiter“ versuchte, allem Anschein nach, weder zu fliehen noch überlebte er die Kampfhandlungen; augenscheinlich wollte er vielmehr als überzeugter und „aufrechter Nationalsozialist“ sterben.29

Roger Uhle

1 Schriftliche Mitteilung des Stadtarchivs Kassel vom 6.11.1996. 2 Alle Zitate: Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1995, S. 26ff. 3 Ernst Günther Gründel, Die Sendung der jungen Generation: Versuch einer umfassenden Sinndeutung der Krise, München 1932, S. 23ff. 4 Mündliche Mitteilung der Witwe, Frau Elfriede Gross, vom 26.10. und 24.11.1996. 5 BArch, ZA VI 3914 AK 29, Fragebogen Gross vom 14.5.1938. 6 Joseph Goebbels, Vorschlag zur Errichtung des Reichsrasseamtes, in: Ziel und Weg (1933) 11, S. 286. 7 Theodor Eschenburg, Also hören Sie mal zu. Geschichte und Geschichten: 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 280ff. 8 Uwe Lohalm, Völkischer Radikalismus: Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes 1919–1923, Hamburg 1970, S. 324ff. 9 Modris Ekstein, Tanz über Gräben: Die Geburt der Moderne und der erste Weltkrieg, Hamburg 1990. 10 BArch, ZA VI 3914 AK 29, Fragebogen Gross vom 14.5.1938. 11 Helga-Maria Kühn, Die nationalsozialistische „Bewegung“ in Göttingen von ihren Anfängen bis zur Machtergreifung (1922–1933), in: Kulturdezernat der Stadt Göttingen (Hg.), Göttingen unterm Hakenkreuz, Nationalsozialistischer Alltag in einer deutschen Stadt – Texte und Materialien, Göttingen 1983, S. 28. 12 Vermutlich Walter Gross, in: Ziel und Weg (1933) 11, S. 286f. 13 UAHUB, UK G 217, Bd. I, Bl.1, Prof. Dr. med. Walter Groß. 14 Volk und Rasse (1933) 7, S. 229. 15 Vgl. UAHUB, Az 1540/35-Pers.Akte Gross G 211; UK-G 217, Bd. II, Bl. 3 und: UK-G 217, Bd. II, Bl.6; auch: Volk und Rasse (1938) 5, S. 163. 16 Meyers Lexikon, 8. Auflage, Leipzig 1938, Bd. 5, Spalte 334 und: Neues Volk (1937) 4, S. 8. 17 Institut für Zeitgeschichte, IMT, NO 1679 vom 2.12.1939. 18 IMT, NO 1881, vgl. ferner Hedwig Conrad-Martius, Utopien zur Menschenzüchtung: Der Sozialdarwinismus und seine Folgen, München 1995, S. 246ff. 19 Walter Gross, Rassenpolitische Voraussetzungen zur Lösung der Judenfrage, in: Weltkampf (1941) 1/2.

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20 Persönliche Auskunft der Witwe, Frau Elfriede Gross, vom 24.11.1996. 21 Ulrich Herbert, Rassismus und rationales Kalkül: Zum Stellenwert utilitaristisch verbrämter Legitimationsstrategien in der nationalsozialistischen ‚Weltanschauung‘, in: Wolfgang Schneider (Hg.), „Vernichtungspolitik“: Eine Debatte über den Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialistischen Deutschland, Hamburg 1991, S. 31. 22 Ebd. S. 29. 23 Vgl. Peter Weingart, Doppelleben. Ludwig Ferdinand Clauss. Zwischen Rassenforschung und Widerstand, Frankfurt a. M. u.a. 1995. 24 Staatsarchiv Nürnberg, KV-Ankl. Dok. Fotok. Nr.: NO-2791 vom 25.5.1940. 25 Erich Stockhorst, Wer war was im 3. Reich: 5000 Köpfe, Kiel o. J., S. 166. 26 National Archives, Washington: T-454-Records of the Reich Ministery for the Occupied Eastern Territories, 1941–1945-roll 40, EAP 99/172, 000039 vom 11.3.1943. 27 Joseph Wulf, Martin Bormann – Hitlers Schatten, Gütersloh 1962, S. 92f. 28 Auskunft und Befragung von Elfriede Gross vom 24.11.1996. 29 Diverse Auskünfte und Zeugnisse: Bruno K. Schultz, wonach Gross beim Verteidigen seines Hauses erschossen wurde, „ein gesuchter Tod“, persönliche Auskunft vom 10.10.1995. Benno MüllerHill, Schreiben vom 23.10.1995. Letzterem gemäß habe Gross im Kreise von Mitarbeitern geäußert, er wolle kämpfend fallen, bevor die Russen kämen, mündliche Auskunft vom 1.7.1996. Außerdem: Standesamtlicher Sterbeeintrag Berlin-Zehlendorf, Nr. 1216 C, Dahlem, 25.4.1946.

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Hans F. K. Günther Hans Friedrich Karl Günther gilt als der Popularisator der NS-Rassenkunde und lieferte laut der Zeitschrift Der Kampfruf „der nationalsozialistischen Bewegung das geistige Rüstzeug“.1 Er lebte in einer Zeit, in der die Anthropologie den Pfad einer objektiven wissenschaftlichen Forschung verlassen hatte. Diese und mit ihr die Rassenkunde hatten erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Rang einer Wissenschaft gewonnen. Ab Mitte der 1920er Jahre stand die wissenschaftlich ausgerichtete rassenkundliche Forschung dann zunehmend im Blickpunkt des Interesses und geriet mehr und mehr zur Grundlage politischer Ideologien, die eine „Begründung“ von Höherwertigkeit einer und Minderwertigkeit einer anderen Menschengruppe zum Inhalt hatten. Hans F. K. Günther wurde am 16. Februar 1891 in Freiburg im Breisgau als Sohn des städtischen Kammermusikers Karl Wilhelm Günther und dessen Ehefrau Mathilde, geb. Kropff, geboren.2 Nach dem Besuch der Volksschule und Oberrealschule in Freiburg erwarb er im Sommer 1910 das Reifezeugnis. Die Vorliebe für die Sprachforschung, schon als Primaner lernte Günther Magjarisch, ließ ihn ein Studium der neueren Sprachen an der Universität Freiburg (1910/11 bis 1918/19) und einen Studienaufenthalt in Paris (1911) aufnehmen.3 Daneben studierte er auch finnisch-ugrische und altaische Sprachen bis Juli 1914 und legte parallel am Realgymnasium Villingen die Reifeprüfung in Latein ab. Die Sprachen waren seiner Meinung nach die Quelle seines späteren völkerkundlich-rassenkundlichen Interesses. Vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges promovierte er in Freiburg mit einer Arbeit „Über die Quellenherkunft des Volksbuches von Fortunatus und seinen Söhnen“ (1914) beim Sprachwissenschaftler Alfred Götze (1876‒1946).4 Als der Weltkrieg begann, meldete sich Günther freiwillig, wurde aber infolge einer Erkrankung (Gelenkrheumatismus) kurze Zeit später entlassen; bis Januar 1919 arbeitete er dann im Dienst des Roten Kreuzes. Nach dem Krieg ging Günther nach Dresden und bereitete sich hier für eine Kriegsteilnehmerprüfung für das höhere Lehramt vor, die er noch im selben Jahr bestand. Danach trat er bis zum Erlangen der sogenannten Anstellungsfähigkeit in den Dienst des Reformrealgymnasiums Dreikönigschule Dresden (1920‒ 1921).5 In dieser Zeit erschien sein erstes Buch „Ritter, Tod und Teufel“ (1920). Im Sommer 1920 trat der in völkischen Kreisen bekannte Münchener Verleger Julius Friedrich Lehmann (1864‒1935), den Günther während eines Treffens mit den Rassenhygienikern Alfred Ploetz (1860‒1940) und →Fritz Lenz (1887‒1976) kennenlernte, mit der Bitte an ihn heran, eine rassenkundliche Arbeit über die deutsche Bevölkerung zu verfassen. Günther war von diesem Vorschlag begeistert und widmete sich in den verbleibenden Monaten des Jahres dieser Aufgabe, insbesondere in der Anthropologischen Abteilung des Dresdener Zwingers, einer Abteilung, der Bernhard Struck (späterer Nachfolger von Günther in Jena) vorstand: „Als Günther im Jahre 1921 […] mit den Vorarbeiten zu diesem Buch begann, gab es in keinem anthropologischen Institut Deutschlands eine Sammlung von Rassentypen der deut-

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schen Bevölkerung. Günther musste daher das große Bildmaterial zu seinem Werk ganz selbständig sammeln.“6 Seit diesem Zeitpunkt beschäftigte sich Günther vorwiegend mit anthropologisch-eugenischen Themen, wobei ihn vordergründig indogermanistisch-sprachwissenschaftliche Probleme interessierten. 1922 erschien sein Buch „Rassenkunde des deutschen Volkes“ in zwei Auflagen, die „weiteren, jeweils nach sorgfältiger Sichtung der gegnerischen wissenschaftlichen Kritik umgearbeitet, zum Teil erweitert, in kurzen Abständen.“ Trotz guter Bezahlung durch den Münchener Verlag Lehmann reichte das Geld für den Unterhalt nicht aus, so dass Günther im Herbst 1922 nach Breslau ging, „weil man dort in diesem Jahre im Vergleich zu anderen Städten billiger leben konnte und [ich] dankbar [war], mit dem hier lehrenden Anthropologen Mollison in regen und freundschaftlichen Gedankenaustausch treten zu können.“7 Im Frühjahr 1923 übersiedelte er nach Norwegen (Skien, der Hauptstadt der Landschaft Telemark) und verheiratete sich im Sommer desselben Jahres mit der Norwegerin Maggen, einer Tochter des Studienrates Blom. Im Herbst 1923 arbeitete er dann für einige Zeit im Danziger Museum für Vorgeschichte und bearbeitete eine Schädelsammlung. Anfang 1924 hielt Günther eine Reihe von Gastvorlesungen an der Universität Uppsala, die im Rahmen der Vorlesungen des Schwedischen Staatsinstitutes für Rassenhygiene organisiert wurden. Später gab Günther auch Kurse in Anthropometrie an der Medizinischen Fakultät (Lehrgebiet Anatomie), weswegen er im Herbst 1925 mit seiner Familie nach Uppsala übersiedelte, „da sich mir dort vorteilhafte Arbeitsbedingungen zum Ausbau meiner der Reihe nach erschienenen und erscheinenden Bücher ergeben hatten.“8 Der Direktor des schwedischen Staatsinstitutes für →Rassenbiologie Hermann Lundborg (1868–1943) hatte ihn dazu eingeladen: „Der Umgang mit dem bekannten Vererbungs- und Rassenforscher Prof. Lundborg, die reichhaltige Universitätsbibliothek und dazu die Bücherei des Rassenbiologischen Institutes mit den neuesten Fachzeitschriften waren neuem Schaffen sehr förderlich.“9 Im Herbst 1926 übersiedelte Günther nach Lidingö, einer Insel vor Stockholm. Wegen finanzieller Probleme musste die Familie ab Sommer 1928 wieder zwischen Skandinavien und Deutschland pendeln, da die Buchhonorare weiterhin nicht für den Lebensunterhalt ausreichten. Der enge Kontakt mit Lundborg schlug sich auch im Austausch von Porträts und Bildern schwedischer EinwohnerInnen für Günthers Neuauflagen nieder. In einem Brief an Lundborg bedankte sich Günther: „Besonders erfreut war ich aber über die sieben schwedischen Schwestern, die Sie mir gesandt haben. Sie sind auch für den nicht-anthropologischen Blick entzückend […] Leider habe ich zuviel gebildete Gesichter, zu wenig volkstümliche Durchschnittsgesichter.“10 Trotz dieser beruflichen Missstände arbeitete Günther kontinuierlich weiter. So erschien im Herbst 1928 das Buch „Die Rassengeschichte des hellenischen und römischen Volkes“ und im darauffolgenden Jahr die „Rassenkunde des jüdischen Volkes“. Daneben entstanden die Schrift „Plato als Hüter des Leben“s (1928) und der „Volksgünther“, die kleine billige Ausgabe der „Rassenkunde des deutschen Volkes“ für jedermann. Um jedoch einen regelmäßigen Lebensunterhalt für die Familie

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nach Geburt der Tochter Ingrid 1926 zu sichern, ließ sich Günther im Gymnasium in Blasewitz bei Dresden anstellen (1930) und bezog als Aushilfslehrer ein halbes Gehalt.11 In dieser wirtschaftlich angespannten Situation erreichte ihn der Ruf nach Jena. Der nicht habilitierte Publizist Günther wurde am 14. Mai 1930 vom Volksbildungsminister Thüringens Wilhelm Frick (1877–1946) zum ordentlichen Professor für Sozialanthropologie an die Jenaer Universität berufen. Am 1. Oktober 1930 trat Günther sein Lehramt in Jena an und hielt am 15. November in der überfüllten Aula der Universität seine Antrittsvorlesung mit dem Titel „Über die Ursachen des Rassenwandels der Bevölkerung Deutschlands seit der Völkerwanderungszeit“ in Anwesenheit von u.a. Frick, Adolf Hitler (1889‒1945), Hermann Göring (1893‒1946), Hanno Konopath (1882‒1962), Paul Schultze-Naumburg (1869‒1949). Hitler war bei dieser Gelegenheit übrigens das erste und zugleich letzte Mal Gast an einer Universität.12 Am 9. Mai 1931, um 23.45 Uhr, erfolgte ein Mordanschlag auf Günther in Jena. Der Täter, der Günther und dessen Frau auf dem Nachhauseweg unauffällig gefolgt war, gab vor deren Wohnung drei bis vier Schüsse ab, von denen einer Günther in den linken Arm traf. Der Täter namens Karl Dannbauer, arbeitsloser Sohn eines österreichischen Maurerpoliers, hatte sich hierfür bewusst das an diesem Tage stattfindende Bezirkstreffen der SA in Jena ausgesucht, zu dem Hunderte von auswärtigen SA-Leuten gekommen waren. Die Tage zuvor hatte er sich bereits vergebens täglich etwa fünf Stunden in der Nähe der Güntherschen Wohnung in der Erwartung aufgehalten, auf Günther zu stoßen, was ihm nicht gelang. Am 9. Mai nahm er dann schließlich im Volkshaussaal an besagter Kundgebung der NSDAP teil, wo er Günther, den er nur aus Zeitschriftenabbildungen kannte, erstmals sah. Nach dem Ende der Kundgebung verfolgte er Günther zunächst bis auf den Markt und wartete dort, bis dieser den Heimweg antrat. Als Motiv gab er später an, in Günther einen der „wichtigsten geistigen Führer des Kapitalismus“ zu sehen, der Schuld an seiner Arbeitslosigkeit hätte.13 Zwei Tage später berichtete die örtliche Presse in verschiedenen Beiträgen über den Vorfall. So erschien beispielsweise ein Bericht in der Jenaischen Zeitung unter dem Titel „Mordanschlag auf Prof. Dr. Hans Günther. Zum Glück nur leicht verletzt.“ Am 4. Juni 1931 bedankte sich Günther in einem Brief an den Rektor bei allen Kollegen, die ihm ihre Anteilnahme entgegengebracht hatten. Günthers bester Freund, der Architekt Paul Schultze-Naumburg, sprach 1941 sogar noch davon, dass „Deutschland [am 9. Mai 1931] vor einem ungeheuren Verluste bewahrt worden“ sei, indem das Attentat scheiterte. Schultze-Naumburg vertrat die Ansicht, dass es die Juden gewesen seien, die damals die größten Motive für diese Tat gehabt hätten und „die sehr früh begriffen, daß es ihr Ende bedeuten müsse, wenn der Rassegedanke weiter um sich [greife]. Und so wurde denn auch der Mörder vorgeschickt, der den gefährlichen Mann beseitigen sollte. […] Die Gerichtsverhandlung konnte die Hintermänner nicht feststellen, nur ergab sich einwandfrei, daß die Tat nicht allein dem Gehirn des Attentäters entsprungen war.“14 Seine Jenaer Lehrtätigkeit beanspruchte ihn so stark, dass wenig Zeit für das Schreiben blieb: „Dem Unterzeichneten ist es aber nicht möglich, wenigstens eine

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oder vielleicht mehr als eine Umarbeitung [seiner Bücher] vorzunehmen neben seiner Lehrtätigkeit. Die Bücher im älteren Zustande weiter laufen zu lassen, muss indessen demjenigen Verfasser widerstreben, der gerne die beste ihm mögliche Fassung des behandelten Stoffes vorlegen möchte.“15 Trotz der Lehrbelastung erschienen weitere Werke; so ein Minister Frick gewidmeter Vortrag mit dem Titel „Volk und Staat in ihrer Stellung zur Vererbung und Auslese“ im April 1933, im September 1933 das Buch „Die nordische Rasse bei den Indogermanen Asiens“ bzw. folgte 1934 noch die Alfred Rosenberg (1893‒1946) gewidmete Schrift über „Die Verstädterung“. Günther war seit dem 1. Mai 1932 Mitglied der NSDAP (Nr. 1.185.391) und in der Ortsgruppe Freiburg (Gau Baden) organisiert. Später trat er noch dem NSD-Dozentenbund, der NSV (Volkswohlfahrt), dem NSLB sowie dem Reichsluftschutzbund bei. Im Jahre 1935 erhielt Günther als erster Wissenschaftler auf dem Parteitag der Freiheit der NSDAP in Nürnberg den von Hitler gestifteten „Staatspreis der Bewegung für wissenschaftliche Leistungen feierlich und bedeutsam verliehen.“ Im gleichen Jahr folgte Günther zum Wintersemester 1935/36 einem Ruf nach Berlin und damit seinem ehemaligen Gönner Frick, den Hitler 1933 in die Regierung der ‚nationalen Erhebung‘ als Reichsinnenminister berufen hatte. Im November 1935 hielt Günther seine Antrittsrede mit dem Titel „Die Erneuerung des Familiengedankens in Deutschland“ an der Universität Berlin. Bereits 1937 unterbreitete er dann bei einem Empfang am 30. November in Rosenbergs Haus seinem Gastgeber sowie Richard Walther Darré (1895–1953) den Wunsch, ihn doch lieber an eine ländlich gelegene Universität zu berufen, um damit die Lehre in Ländlicher Soziologie zu forcieren: „[da er] auf Dauer dem Aufenthalt in einer Großstadt nicht gewachsen [sei] und [ihn] auf die Dauer die Entfernung von wirklichem Bauerntum nicht befriedigen [werde].“16 Während seiner Berliner Zeit wurden Günther zwei weitere Ehrungen zuteil. So erhielt er um die Jahreswende 1936/37 die Rudolf-Virchow-Plakette der Berliner Gesellschaft für Ethnologie, Anthropologie und Urgeschichte (Vorsitzender Eugen Fischer). Des Weiteren erfolgte seine Berufung in den Vorstand der Deutschen Philosophischen Gesellschaft. Ferner wurde er 1941 als Mitglied in die Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt gewählt und war Mitherausgeber der Zeitschriften „Der Biologe“ sowie der „Zeitschrift für Rassenkunde“. Bereits 1934 hatte Günther, mit dem Rassen-Seelenforscher Ludwig Ferdinand Clauß (1892–1974), als Publikationsorgan des Nordischen Ringes die Zeitschrift „Rasse“ gründet, als deren Mitherausgeber er aber schon 1938 abgelöst wurde. Am 1. Oktober 1939 nahm Günther schließlich einen Ruf an seine ehemalige Heimatuniversität Freiburg an, wo er bis 1944 Rassenkunde, Völkerbiologie und Ländliche Soziologie lehrte und Untersuchungen in Kriegsgefangenenlagern an Osteuropäern durchführte.17

252  Biographien

In den letzten Kriegstagen hatte Günther Zuflucht bei seinem Freund Paul Schultze-Naumburg in Weimar gefunden. Als die Amerikaner dann dessen Villa beschlagnahmten, zog Günther in eine andere Wohnung, während die Familie über mehrere Häuser verteilt blieb.18 Kurze Zeit später flüchtete Günther vor den heranrückenden Roten Armee aber ins Badische. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Günther von der französischen Besatzungsmacht verhaftet und blieb bis 1948 interniert. Nach der Entlassung aus der französischen Lagerhaft und erfolgter Entnazifizierung (1949 Entscheidung der Spruchkammer Freiburg: „Minderbelasteter“; 1951 im Berufungsverfahren als „Mitläufer“ eingestuft), wurde er aus dem Universitätsdienst entlassen. Er konnte aber weiterhin publizistisch arbeiten. In den letzten zwei Lebensjahrzehnten legte er noch verschiedene seiner Bücher neu auf, teils unter Pseudonymen wie Heinrich Ackermann und Ludwig Winter, teils aber auch unter seinem richtigen Namen, und beschäftigte sich mit religiösen Fragestellungen. Die Krönung seines Schaffens nach 1945 stellt schließlich die 1969, kurz nach seinem Tod, erschienene Autobiographie mit dem Titel „Mein Eindruck von Adolf Hitler“ dar, an der er seit dem Winter 1967 gearbeitet hatte: „Als zu seinem 75. Geburtstag eine kurze Notiz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien, wonach der Rasseforscher Günther kein Nationalsozialist gewesen sei, schickte er prompt einen Leserbrief, um den Irrtum zu korrigieren.“19 Zeit seines Lebens blieb er ein dem Nationalsozialismus verbundener Zeitgenosse. Günther verstarb am 25. September 1968 in Freiburg.20

Uwe Hoßfeld

1 Vgl. den Klappentext in der 13. Auflage der „Rassenkunde des deutschen Volkes“, München 1933. 2 Vgl. weiterführend Uwe Hoßfeld, Die Jenaer Jahre des „Rasse-Günther“ von 1930 bis 1935. Zur Gründung des Lehrstuhles für Sozialanthropologie an der Universität Jena, in: Medizinhistorisches Journal 34 (1999), S. 47–103; Uwe Hoßfeld, „Er war Paul Schultze-Naumburgs bester Freund“: Eine Lebensskizze des Hans F. K. Günther (‚Rasse-Günther‘), in: Schriftenreihe Saalecker Werkstätten, Heft 3, 2001, S. 43–61; Uwe Hoßfeld, „Rasový papez“. Zivotopisná skica rasového badatele Hanse Fridricha Karla Günthera, in: Jaroslava Milotová [ed.]: Terezínské studie a dokumenty, Sefer, Praha 2005, S. 337–374; Susanne Zimmermann, Die Berufung von Hans F. K. Günther zum Professor für Sozialanthropologie an der Universität Jena im Jahre 1930, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 14 (1996), S. 489–97. 3 Vgl. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (ThHStAW), Akten des Thüringischen Volksbildungsministeriums (ThVBM), Abt. A V, Loc 2 G, Nr. 924. 4 Vgl. Lothar Stengel von Rutkowski, Hans F. K. Günther der Programmatiker des Nordischen Gedankens. Teil 1, in: NS Monatshefte 6 (1935), S. 962–997, 962. 5 Vgl. ThHStAW, ThVBM, Abt. A V, Loc 2 G, Nr. 924. 6 Vgl. NS Monatshefte 1 (1930), S. 199. 7 Beide Zitate in Stengel von Rutkowski, Günther der Programmatiker (wie Anm. 4), S. 985–986. 8 Vgl. Universitätsarchiv Jena (UAJ), N, Nr. 46/1, Bl. 168; Lennart Olsson u.a., German-Swedish Networks in Race Biology: Hans F. K. Günther and the Swedish Race Biology Institute, in: Uppsala newsletter History of Science 38 (2006), S. 6–7. 9 Vgl. Stengel von Rutkowski, Günther (wie Anm. 4), S. 986.

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10 Vgl. Briefsammlung Lundborg, Handschriftenabteilung Universität Uppsala, Brief Günthers an Lundborg vom 23.3. 1923. 11 Vgl. ThHStAW, ThVBM, Abt. A V, Loc 2 G, Nr. 924. 12 Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz. Der Professor im Dritten Reich, München 1991. 13 Uwe Hoßfeld, Vorbote einer düsteren Zeit in Jena, in: Ostthüringer Zeitung (OTZ) vom 18.11.2000. 14 Paul Schultze-Naumburg, Hans F. K. Günther zum 50. Geburtstage, in: Volk und Rasse 16 (1941), S. 22. 15 Vgl. ThHStAW, ThVBM, Abt. A V, Loc 2 G, Nr. 924. 16 Vgl. UAHUB, UK, PA G 246; Günther an die Dekane der Phil. Fak. Breloer und Koch vom 11.1.1937 und 16.2.1939. 17 Günther an Victor Franz vom 17.11.1943, NL Franz, Bestand O, Ernst-Haeckel-Haus. 18 Hans F. K. Günther, Mein Eindruck von Adolf Hitler, Pähl 1969, S. 125. 19 Elvira Weisenburger, Der „Rassepapst“. Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde, in: M. Kißener (Hg. u.a.), Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg, Konstanz 1997, S. 161–199, 197. 20 Peter Emil Becker, Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedanke. Wege ins Dritte Reich, Teil II, Stuttgart u.a. 1990, S. 291.

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Norbert Gürke Bereits Franz Neumann charakterisierte Norbert Gürke wegen seiner Beiträge zum NS-Völkerrecht als den „originellste[n] nationalsozialistische[n] Völkerrechtler“1, der als „kämpferischer Wissenschaftler“ auftrat und in relativ jungen Jahren eine akademische Karriere an den Universitäten München, Breslau und Wien aufnahm. Gürke wurde am 14. März 1904 in Graz als Sohn eines Ingenieurs geboren und war evangelischer Konfession. Er besuchte seit 1910 die Volksschule und seit 1914 die Realschule in Innsbruck, die er in Wien fortsetzte, wo er am 19. Juli 1922 die Reifeprüfung (Matura) ablegte.2 In den Jahren 1922 bis 1924 studierte Gürke zunächst Mathematik und Physik an der Technischen Universität Wien und ließ sich anschließend zum akademischen Turn- und Sportlehrer ausbilden. 1926 ging er neuerlich nach Innsbruck, um ein Studium der Staatswissenschaften an der Universität Innsbruck aufzunehmen, er wechselte aber bereits 1926/27 an die Universität Wien. Seit 1927 setzte Gürke seine rechtswissenschaftlichen Studien an der Universität Zürich fort, wo er beim Staatsrechtler Fritz Fleiner mit der Doktorarbeit „Staat und Volksgruppe – die Entwicklung des Nationalitätenrechtes und die Staatstheorie“ am 10. Februar 1932 promoviert wurde.3 Seine ausgezeichnete Vernetzung in völkischen und nationalsozialistischen Kreisen trug wesentlich dazu bei, dass Gürke unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland am 30. Januar 1933 wesentliche Grundsteine für seine akademische Karriere als einer der führenden NS-Völkerrechtler legen konnte: So trat er am 1. Oktober 1933 eine Assistentenstelle am Institut für Politik und öffentliches Recht bei Otto Koellreuter in München an. Seit dem 3. Februar 1934 vom austrofaschistischen Regime aus Österreich ausgebürgert, heiratete Gürke dessen Tochter Inge Koellreutter im September 1934. Sein Schwiegervater Koellreuter hatte schon in der Weimarer Republik dem demokratischen Parteienstaat kritisch gegenüber gestanden und wurde im Dritten Reich einer der einflussreichsten Staatsrechtslehrer. An der Universität München wurde Gürke bei Koellreutter mit seiner Studie Volk und Völkerrecht (1935) für Öffentliches Recht und →Volkskunde habilitiert.4 Im Zuge der Bestrebungen, die Universität Breslau zu einer „GrenzlandUniversität“ und die dortige rechtswissenschaftliche Fakultät zu einer „Stoßtruppfakultät“ auszubauen,5 wurde er 1935 als Privatdozent auf eine Breslauer Vertretungsstelle berufen, die durch „Arisierung“ frei geworden war. 1937 konnte er eine außerordentliche Professur für Völkerrecht, öffentliches Recht und Volkskunde an der Universität München antreten, jedoch erhielt er bereits zwei Jahre später als 35-jähriger einen Ruf an die Universität Wien. Dort übernahm er am 1. Oktober 1939 „auf Druck der NSDAP“6 als ordentlicher Professor für Verfassungs- und Völkerrecht die Lehrkanzel von Ludwig Adamovich senior, dem kurzzeitigen Justizminister im letzten Kabinett des „ständestaatlichen“ Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg, der 1938 von den neuen nationalsozialistischen Machthabern in Österreich zwangsweise in den Ruhestand versetzt worden war.7

Norbert Gürke  255

Gürke interessierte sich schon früh durch Wanderungen in den Siedlungsgebieten des sogenannten „Grenz- und Auslanddeutschtums“ für Fragen und Problemstellungen der deutschen Volkstumsforschung. Er kann damit als ein Repräsentant der Kriegsjugendgeneration angesehen werden, der nach 1918 in einer völkisch-nationalen Selbstbesinnung eine neue politisch-kulturelle Orientierung suchte. Es passt daher ins Bild, dass Gürke 1925 dem Arbeitsausschuss der Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit (ab 1930 Mittelstelle deutscher Jugend in Europa) des Deutschen Schutzbunds angehörte. 1926 gründete er zusammen mit dem gleichartigen Mediziner und Rassenhygieniker Karl Thums und Karl Ursin die „Gilde Greif zu Wien“8. Nachdem er mit der Promotion sein Studium abgeschlossen hatte, ging er zurück nach Wien, um bei dem großdeutsch, katholisch-national und pronationalsozialistisch eingestellten Rechtswissenschaftler →Karl Gottfried Hugelmann an der Universität Wien Forschungen über das altösterreichische Nationalitätenrecht zu betreiben.9 Im Nebenamt war er vom Oktober 1931 bis Mai 1932 Referent für Staatsrecht bei der Gauleitung in Wien. Im Mai 1932 wurde er Sachbearbeiter für Staatsrecht und Staatsverfassung, und seit Dezember 1932 figurierte er als Leiter der Abteilung Rechtspolitik der „Ostland Wien, NSDAP-Landesleitung für Österreich“. Der NSDAP war er bereits am 1. Oktober 1930 beigetreten, wobei er die Mitgliedsnummer 301.104 erhalten hatte. Seit 1938 hatte Gürke zudem innerhalb der SS den Rang eines Sturmbannführers inne.10 Gürke zählte ferner zu den Gründungsmitgliedern der 1931 in Wien ins Leben gerufenen →Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft (SOFG), die den „Anschluss“ Österrreichs an Deutschland und die Revision der Pariser Vorortsverträge vorbereiten sollte. Das von ihm und →Max Hildebert Boehm seit Anfang der 1930er Jahre entwickelte „Volksgruppenrecht“ stieß innerhalb der SOFG auf breite Zustimmung. Dieses „Volksgruppenrecht“ vermittelte eine wesentliche Legitimationsquelle, um den „deutschen Volksgruppen“ in Ostmittel- und Südosteuropa „Lebensrechte“ zuzusprechen, die sich gegen die Existenz der jeweiligen Nationalstaaten richteten und für die aggressive außenpolitische Expansion des Deutschen Reiches instrumentalisieren ließen.11 Diese Vorarbeiten zog Gürke nach 1933 dazu heran, um zusammen mit anderen Rechtsgelehrten und völkischen Wissenschaftlern – wie etwa →Karl Christian von Loesch, →Max Hildebert Boehm, →Hermann Raschhofer oder →Carl Schmitt – im „Unterausschuss für Minderheitenrecht“ des „Ausschusses für Nationalitäten“ der →Akademie für Deutsches Recht neue konzeptionelle Grundlagen für das →NS-Volksgruppenrecht zu entwickeln. „Bodenständigkeit“ als „Rechtskriterium“ wurde damit zu einem terminologischen Vehikel, um zwischen dem einund dem auszugrenzenden „Volkstum“ unterscheiden zu können.12 Gürke lehrte in Übereinstimmung mit der Ideologie des Nationalsozialismus, dass die völkerrechtlichen Begriffe „innenpolitisch bedingt“ seien und das Völkerrecht als politisches Recht von der „völkischen Gemeinschaft“ her zu denken sei.13 Dies war bereits 1932 in seinem Aufsatz „Der Nationalsozialismus, das Grenz- und Auslanddeutschtum und das Nationalitätenrecht“ deutlich erkennbar geworden:

256  Biographien

Gürke denunzierte darin den westlichen Begriff der Nation als ein Instrument des „Judentums“, das gegen das deutsche „Volkstum“ gerichtet sei. An Stelle des westlichen Nationsbegriffs setzte er einen als „Bluts- und Kultureinheit“ verstandenen Volksbegriff und behauptete, dass das Völkerrecht durch die Gemeinsamkeit der rassischen Abstammung erzeugt werde. Zum westlichen Verständnis der Nation stellte er klar: „Dieser [=der „westliche“] Nationsbegriff ist eine notwendige Folge der Gedankenwelt der Demokratie, des mechanischen Auszählens der vielen Gleichen […] All dies dient dem Streben des Judentums nach Gleichberechtigung, Ausbeuten und Herrschaft. Der Auffassung des Volkes als einer bestimmten Quantität von Menschen setzt der Nationalsozialismus mit aller Entschiedenheit den Begriff einer Qualität – der Arteigenheit und der Artbestimmtheit – des Volkes entgegen.“14 Gürke tat sich zudem durch radikale antisemitische Positionen hervor, die darauf abzielten, die jüdische Bevölkerung mit juristischen Mitteln aus der deutschen „→Volksgemeinschaft“ auszusondern: „Da aber die Menschen jüdischen Blutes nicht fähig sind […], dem deutschen Volke gemäß Werte zu schaffen, können sie – entsprechend dem Staatsgrundgesetze, das die Einordnung in den Staat nur über die Arbeitsleistung vornimmt – nicht zu Mitträgern des Dritten Reiches werden.“15 Das hergebrachte Völkerrecht galt Gürke hingegen als „juristischer Formalismus“16, das die „Volks-“ und „Rassezugehörigkeit“ des Einzelnen negiere. Gürkes Kritik an dem formalen und abstrakten Rechtsbegriff zielte daher auf eine „Verwandlung des Völkerrechts“ ab, die „das gesamte Weltsystem in Trümmer legen“ musste.17 Seine Lehrmeinungen vertrat Gürke auch bei der Tagung des NS-Rechtswahrerbunds im Oktober 1936, wo er sich durch sein Referat „Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist“ neuerlich als linientreuer Nationalsozialist auswies. In seinen pamphletartigen Schriften machte Gürke den „jüdischen Einfluß“ in der Völkerrechtslehre dafür verantwortlich, dass „die Rechtswissenschaft als eine jüdischem Denken angepaßte Normwissenschaft dem deutschen Volke entfremdet“ worden sei.18 Bedeutende deutsche und österreichische Rechtsgelehrte, Denker und Gelehrte wie etwa Hans Kelsen, Alfred Hermann Fried oder auch Sigmund Freud denunzierte Gürke als Juden. Indem er sie herabwürdigte und damit der Ächtung preisgab, brachte er nicht zuletzt seine offenkundig tiefsitzende Abneigung speziell gegen das in der altösterreichischen Kultur wurzelnde assimilierte Judentum zum Ausdruck.19 Nach Kriegsende wurden einige dieser Veröffentlichungen, darunter Volk und Völkerrecht (1935), Der Einfluß jüdischer Theoretiker auf die deutsche Völkerrechtslehre (1938) und Grundzüge des Völkerrechts (1942) in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) auf die Liste der auszusondernden Literatur gesetzt.20 Im April 1940 meldete sich Gürke freiwillig zum Kriegsdienst bei der Deutschen Wehrmacht.21 Während des Frankreich-Feldzugs erlitt er am 7. Juni 1940 bei Amiens einen Durchschuss am linken Unterarm und rechten Fuß und kam zur Behandlung in ein Wiener Lazarett.22 Als 1940/41 die Errichtung der deutschen →Reichsuniversität Straßburg im besetzten Elsass geplant wurde, sollte Gürke, der als verdienter Na-

Norbert Gürke  257

tionalsozialist galt, auf den völkerrechtlichen Lehrstuhl der dortigen Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät berufen werden. Für den Wiener Völkerrechtler Gürke setzte sich der Stab des Stellvertreters des Führers, namentlich der Leiter der Partei-Kanzlei Martin Bormann, nachdrücklich ein.23 Nach einer Operation, die an seiner Kriegsverletzung in Wien vorgenommen wurde, verstarb Gürke jedoch am 29. Juni 1941 in einem Wiener Lazarett an einer Blutvergiftung,24 ehe in der Straßburger Berufungssache eine endgültige Entscheidung getroffen werden konnte.

Alexander Pinwinkler

1 Franz L. Neumann, Behemoth: Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944, Frankfurt a.M. 1977 (zuerst 1942/44), S. 214. 2 Gürke, Norbert, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950 (ÖBL). Bd. 2, Wien 1959, S. 102; Herwig Schäfer, Juristische Lehre und Forschung an der Reichsuniversität Straßburg 1941– 1944, Tübingen 1999, S. 90. Archiv für Geschichte der Soziologie in Österreich. Gürke, Norbert. http://agso.uni-graz.at/sozio/biografien/g/guerke_norbert.htm (14.7.2016). 3 Reinhard Müller, Norbert Gürke, in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich. http:// agso.uni-graz.at/sozio/biografien/g/guerke_norbert.htm (14.7.2016). 4 Vgl. Norbert Gürke, Volk und Völkerrecht, Tübingen 1935. 5 Vgl. Thomas Ditt, „Stoßtruppfakultät Breslau“. Rechtswissenschaft im „Grenzland Schlesien“ 1933–1945, Tübingen 2011. 6 So Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. 3. Bd. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, München 1999, S. 294, der an dieser Stelle ergänzend hinzufügt: „Gürkes wissenschaftliche Verdienste waren gering, sein Rang in der Parteihierarchie dagegen hoch.“ 7 Vgl. Müller, Norbert Gürke. 8 Helmut Kellershohn, Im „Dienst an der nationalsozialistischen Revolution“. Die Deutsche Gildenschaft und ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 19 (1999–2004), S. 255–292, 18; vgl. auch Karl Ursin/Karl Thums, Der österreichische Wandervogel, in: Gerhard Ziemer (Hg. u.a.), Wandervogel und Freideutsche Jugend, Bad Godesberg 1961, S. 294–326. 9 Vgl. als ein Ergebnis seiner damaligen Forschungstätigkeit Norbert Gürke, Die Handhabung des Nationalitätenrechts in den einzelnen Kronländern: Die deutschen Erbländer, in: Karl Gottfried Hugelmann (Hg.), Das Nationalitätenrecht des alten Österreich, Wien 1934, S. 429–458. 10 Vgl. zu diesen Angaben Müller, Norbert Gürke. 11 Vgl. Michael Fahlbusch, Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft, in: Ingo Haar (Hg.u.a.), Handbuch der völkischen Wissenschaften, München 2008, S. 688–697, 692. 12 Vgl. Michael Fahlbusch, Volk ohne Raum – Raum ohne Volk. Der lange Schatten der DeutschVölkischen in der Weimarer Republik, in: Heidrun Kämper (Hg. u.a.), Demokratiegeschichte als Zäsurgeschichte. Diskurse der frühen Weimarer Republik, Berlin 2014, S. 253–283, 263; Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2002, S. 303f. 13 Gürke, Volk und Völkerrecht, S. 31. Vgl. hierzu auch Stolleis, Geschichte, S. 386. 14 Norbert Gürke, Der Nationalsozialismus, das Grenz- und Auslandsdeutschtum und das Nationalitätenrecht, in: Nation und Staat 6 (1932), S. 7–30, 8. 15 Ebd., S. 21. 16 Gürke, Volk und Völkerrecht, S. 4.

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17 So jedenfalls Dan Diner in seiner treffsicheren Analyse der katastrophalen Folgen für die internationalen Beziehungen, die von der Implementierung des nationalsozialistischen Völkerrechts notwendigerweise ausgehen musste: Dan Diner, Rassistisches Völkerrecht. Elemente einer nationalsozialistischen Weltordnung, in: VfZ 37 (1989), S. 23–56, 23. 18 Norbert Gürke, Der Einfluß jüdischer Theoretiker auf die deutsche Völkerrechtslehre, Berlin 1938, S. 28. 19 Vgl. ebd., S. 14, 20, 13. 20 Vgl. Liste der auszusondernden Literatur. Hg. von der Deutschen Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone, Berlin 1946. 21 Lothar Becker, „Schritte auf einer abschüssigen Bahn“: das Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) und die deutsche Staatsrechtswissenschaft im Dritten Reich, Tübingen 1999, S. 90. 22 Müller, Norbert Gürke. 23 Vgl. Stolleis, Geschichte, S. 298; Schäfer, Juristische Lehre, S. 90. 24 Müller, Norbert Gürke.

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Hans Harmsen Hans Harmsen, geboren am 5. Mai 1899, in Berlin aufgewachsen und zur Schule gegangen, war seit 1913 Mitglied der Wandervogelbewegung, hier des völkisch-nationalen Flügels.1 Noch während seiner Schulzeit meldete er sich 1916 als Freiwilliger für den Ersten Weltkrieg. Kurz vor Ende des Krieges beteiligte er sich im Oktober 1918 am „Grenzschutz Ost“ in Schlesien und Posen. Von 1919 bis 1932 war er Mitglied des national-sozial sowie „völkisch“ eingestellten Jungdeutschen Bundes, seit 1920 enger Mitarbeiter und Stellvertreter des Bundesleiters Frank Glatzel und von 1925 bis 1932 Herausgeber des Bundesblattes Jungdeutsche Stimmen. Er gehörte der Deutschen Akademischen Freischar Berlin und ab 1921 der Deutschen Burse zu Marburg und dem Institut für Grenz- und Auslandsdeutschtum an, übernahm 1926 die Leitung des Bevölkerungswissenschaftlichen Arbeitskreises des Deutschen Schutzbundes für das Grenz- und Auslandsdeutschtum (DSB), 1934 im Volksbund für das Deutschtum im Ausland (VDA) weitergeführt. Dieser war interdisziplinär ausgerichtet und in ihm trafen sich wichtige Vertreter der Volkstumsforschung, wie →Kleo Pleyer, →Gunther Ipsen, →Wilfried Krallert, →Emil Meynen, →Friedrich Burgdörfer, Hans Schwalm, Helmut Carstanjen und Otto Albrecht Isbert. Während im Deutschen Schutzbund die Bevölkerungsentwicklung in Osteuropa und der Sowjetunion sowie die Entwicklung deutscher Siedlungen in den Ostgebieten Gegenstände der Auseinandersetzung waren, verlagerte sich im VDA das Interesse auf die Erfassung von „Auslandsdeutschen“ im Baltikum und in Osteuropa sowie auf die „Dorfforschung“ als Grundlage zukünftiger Siedlungsformen „im Ausland“. Harmsens Profession war die der Bevölkerungspolitik. Er verstand sich als Schüler des Berliner Sozialhygienikers Alfred Grotjahn. Von 1919 bis 1923 studierte er an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin Medizin. 1921 wechselte er für zwei Semester an die Medizinische Fakultät in Marburg. Daran schloss Harmsen ein Studiensemester in München an, ging für einen Ferienkurs in die von dem Statistiker Wilhelm Winkler geleitete Abteilung Bevölkerungsstatistik im Bundesamt für Statistik in Wien, wo er sich mit der Bevölkerungsentwicklung an der „deutsch-slavischen Grenze“ beschäftigte. Er beteiligte sich im März 1923 aktiv am „Ruhrkampf“, erhielt 1924 seine ärztliche Approbation, wurde im selben Jahr an der Medizinischen Fakultät der Universität Berlin mit einer Arbeit über die „Französische Sozialgesetzgebung im Dienste der Bekämpfung des Geburtenrückgangs“ zum Dr. med. und 1927 an der Fakultät für Volkswirtschaft und Philosophie der Universität Marburg mit einer Arbeit über „Bevölkerungsprobleme Frankreichs“ zum Dr. phil. promoviert. Von 1924 bis 1926 war er Assistent am Hygienischen Institut der Universität Berlin und arbeitete in einem von der →Rockefeller Foundation geförderten Projekt über die soziale und wirtschaftliche Situation von Kriegerwitwen nach dem Ersten Weltkrieg sowie die Möglichkeit deren Heiratsvermittlung am Beispiel Magdeburgs. Von 1926 bis 1937 war Harmsen Geschäftsführer des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes, ab 1928 des Gesamtverbandes der deutschen evangelischen

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Kranken- und Pflegeanstalten und von 1928 bis 1937 Leiter des Referats Gesundheitsfürsorge und Kranken- und Pflegeanstalten im Centralausschuß für die Innere Mission in Berlin. Er übernahm hier von 1931 bis 1937 die Leitung der Fachkonferenz für Eugenik, ab 1933 den Ausschuß für Rassenhygiene und Rassenpflege. Auf seine Initiative ging 1931 die Gründung des Archivs für Bevölkerungspolitik, Sexualethik und Familienkunde zurück, das 1934 in Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik umbenannt wurde. Im Rahmen der Diakonie vertrat Harmsen das Konzept einer eugenisch ausgerichteten Gesundheits-, Sozial- und Wohlfahrtspolitik. Frühzeitig organisierte er die Mitwirkung der Diakonie an dem am 14. Juli 1933 verabschiedeten „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das die Zwangssterilisation von körperlich und sozial auffälligen Menschen vorsah. 1937 trat Harmsen aus dem Centralausschuß aus und wurde Geschäftsführer der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege. Gleichzeitig war er Mitarbeiter am Lehrstuhl für Hygiene der Universität Berlin. 1939 habilitierte er sich mit einer arbeitsmedizinischen Untersuchung, wurde noch vor Beginn des Zweiten Weltkrieges als Truppen- und Regimentarzt der Wehrmacht eingezogen, erhielt 1940 einen „Sonderauftrag“ zur Vereinheitlichung des Schwesternwesens, gehörte während des Krieges dem Afrikakorps an, leitete ab 1942 die Hygienisch-Bakteriologische Untersuchungsstelle W.K.III und arbeitete wissenschaftlich in der Militärärztlichen Akademie in Berlin. Ab Januar 1943 hielt er sich als beratender Hygieniker in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten Ost-Europas auf. Harmsen war nie Mitglied einer Partei. So gehörte er während des Nationalsozialismus weder der NSDAP noch einer ihrer angeschlossenen Organisationen an. Seit 1931 publizierte Harmsen auf breiter Datenbasis fußende Untersuchungen zur „praktischen Bevölkerungspolitik“, „Bevölkerungsbewegungen der deutschen Volksgruppen“ in Osteuropa, „Volksbiologische Entfaltungsgesetze“ und erarbeitete für den im Auftrag des Wehrmachtssanitätswesens herausgegebenen Seuchen-Atlas Karten zur Bevölkerungsentwicklung im Nahen und Mittleren Osten sowie in Osteuropa. Seiner „Praktische[n] Bevölkerungspolitik“ lag mit dem Programm der „differenzierten Fürsorge“ ein biologistisches Konzept zugrunde.2 Ziel war die postulierte Homogenität der deutschen Bevölkerung, in deren Zentrum die „Familie“ als „ursprüngliche natürliche Gliederung des Volkes“, als „Blutsgemeinschaft, Erziehungsgemeinschaft, sowie Nahrungs- und Sorgegemeinschaft“ sowie als „Zelle des völkischen sozialen Organismus“ stand.3 Da von der Familie als „Bewahrerin des Rassenerbgutes“ die „biologische Bestandserhaltung des Volkes“ abhinge, sollten nach qualitativer Selektion die „Tüchtigen“ etwa durch „Familienlastenausgleich“ wirtschaftlich gefördert werden, um bei ihnen in quantitativer Hinsicht eine Steigerung der Reproduktionsraten zu erreichen. Demgegenüber sollten die in dem Ausleseprozess als nicht „tüchtig“ definierten, wenn nötig sogar mit Zwangsmitteln, von der Reproduktion ausgeschlossen werden. Die postulierte „drohende Gefahr des Überwucherns der Erbbelasteten“, das „Eindringen fremder Rassen in das dt. Volk“, die „Gefahr der Rassenmischung bis hin zur Volkszersetzung“ oder die „Bas-

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tardisierung mit artfremder Rasse“ sollten mit präventiven Mitteln verhindert werden. Mit seiner Vorstellung eines „artgemäßen Rechtsempfindens“, dessen Vermittlung er an die Familie band, konterkarierte er den Grundsatz von der Gleichheit aller vor dem Recht. Ausgehend vom Postulat der Homogenität des „Volkes“, dem konstruierten Zusammenhang von „Rasse und Raum, Blut und Boden“ im „geschlossenen Siedlungsboden“4 sowie der unterstellten Konstante des Kampfes, ging er nicht nur in Abwehrstellung gegen eine „slawische Flutwelle“,5 sondern griff mit seinen Überlegungen auch über Staatsgrenzen hinweg und entwickelte Konzepte für den „Volkstumskampf“ in osteuropäischen Ländern, die sich in den bevölkerungspolitischen Szenarien des →„Generalplan Ost“ wieder finden.6 Dabei betrachtete Harmsen jüdische Bevölkerungsteile ebenso wie etwa Russen, Letten oder Polen als geschlossene „fremdrassige“ Gruppe und separierte sie aus der deutschen Bevölkerung.7 Nach 1945 sah sich Harmsen nicht genötigt, seine thematische Orientierung und den damit verbundenen Vorstellungen einer Revision zu unterziehen. Im Dezember 1945 wurde er von den britischen Besatzungsbehörden mit dem Aufbau der Akademie für Staatsmedizin in Hamburg beauftragt, die er bis 1967 leitete. Von 1946 bis 1969 war er ordentlicher Professor für Allgemeine- und Sozialhygiene an der Universität Hamburg und gleichzeitig Direktor des Hygienischen Instituts der Freien und Hansestadt Hamburg. In diesen Funktionen betrieb Harmsen die Reetablierung von Bevölkerungswissenschaft/-politik in der Bundesrepublik. Harmsen stellte wieder ein Netz von Verbindungen und Beziehungen her, das von Mitgliedern der völkischen Bewegung bis hin zu Gesundheitspolitikern reichte, wobei sich diese Kreise auch überschnitten. In der Bundesrepublik wurden die seit der Weimarer Republik erhobenen Daten, diskutierten Fragestellungen, erarbeiteten Methoden und Deutungsmuster sowie die daraus entwickelten Schlussfolgerungen weiterhin nachgefragt. Dieses findet Ausdruck in den Funktionen, die Harmsen in der Folgezeit bekleidete und seine wissenschaftliche Karriere kennzeichnen. So war er von 1948 bis 1957 der Leiter des Studienkreises Geburtenregelung und Eugenik an der Evangelischen Akademie in Hamburg; 1952 Gründungsmitglied der International Planned Parenthood Federation (IPPF) in Bombay sowie von deren deutschen Unterorganisation Pro Familia, Deutsche Gesellschaft für Ehe und Familie. Mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft e.V. 1952 (Übernahme der Präsidentschaft 1955) und der Deutschen Akademie für Bevölkerungswissenschaft in Hamburg (Präsident und Vorsitzender 1953) sammelte er nicht nur Personen um sich, die ihre wissenschaftliche Expertise in den Dienst der NSRassepolitik und deren Umsetzung zur Verfügung gestellt hatten, sondern schuf eine institutionelle Plattform, von der aus nicht nur die demographische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland studiert, sondern auch auf Familienpolitik/Bevölkerungspolitik Einfluss genommen werden sollte. Von Interesse waren weiterhin die „Minderheitenforschung“ (Erarbeitung eines demographischen Handwörterbuches unter Leitung Wilhelm Winklers), die methodische Weiterentwicklung der Be-

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völkerungsstatistik und -wissenschaft sowie die Bevölkerungsentwicklung Osteuropas und der Sowjetunion. Zu den Mitgliedern der Gesellschaft und/oder der Akademie gehörten unter anderem Friedrich Burgdörfer, →Werner Conze, Josef Götz, →Gunther Ipsen, →Erich Keyser, Martin Kornrumpf, Karl Valentin Müller, Elisabeth Pfeil, Helmut Schelsky, →Ilse Schwidetzky, Hans Schwalm und Otmar von Verschuer.8 1952 war Harmsen Mitbegründer der Deutschen Nansen-Gesellschaft, deren Präsident er von 1962 bis 1966 war. 1962 war er Vizepräsident der Deutschen Sektion der Forschungsstelle des Weltflüchtlingsproblems (AWR), 1963 deren Präsident. Hier war die Integration von Flüchtlingen aus der SBZ/DDR sowie von Heimatvertriebenen in die bundesrepublikanische Gesellschaft Ziel seiner Bemühungen. 1964 übernahm Harmsen die Leitung des Arbeitsausschusses Bevölkerung und Familie in der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege in Frankfurt am Main; 1965 wurde er Mitglied der Union Internationale pour l’Etude de la Population, Belgien, sowie der International Union for the Scientific Study of Population, New York; 1966 Präsident des Centre Européen d’Etude de Population (Europäische Mittelstelle für Bevölkerungsforschung), Straßburg. Er war Mitglied des Ausschusses für Sozialwissenschaft der Deutschen UNESCO Kommission; des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums für Familie und Jugend; der Deutschen Akademie für Raumforschung und Landesplanung; der Union Internationale pour l’Etude Scientifique de la Population, Ehrenmitglied der Baden-Württembergischen Gesellschaft für Sozialhygiene. In diesen Zeitraum fällt die Herausgabe der Zeitschrift Städtehygiene und Umwelthygiene, später Forum Umwelthygiene, und der Schriftenreihe „Zur Entwicklung und Organisation des Gesundheitswesens in der DDR unter Mitberücksichtigung der UdSSR und ostdeutschen Volksdemokratien“ (1955 bis 1978/9). Für sein Lebenswerk erhielt er folgende Auszeichnungen: 1967 die Ernst BergmannPlakette der Bundesärztekammer, 1968 die Hufeland-Medaille, 1970 das Große Bundesverdienstkreuz und 1974 die Johann-Peter-Frank-Medaille des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Unter den verschiedenen politischen Systemen – Diktatur und Demokratie – war es Harmsen in der Doppelrolle als Sachverständiger und Interessenvertreter durch öffentliche wie interne Stellungnahmen möglich, auf die Gestaltung und gesetzgeberische Aktivitäten Einfluss zu nehmen. Er verfügte über die Fähigkeit, seine jeweils nachgefragte wissenschaftliche Kompetenz so zu arrangieren, dass sie unter den jeweiligen politischen Systemen problemlos rezipiert werden konnte. Erst seit Beginn der 1980er Jahre wurden Harmsens bevölkerungspolitischen Konzepte sowie seine wissenschaftliche Ausrichtung und Methodik einer Kritik unterzogen.9 Er verstarb am 5. Juli 1989.

Sabine Schleiermacher

1 Vgl. Sabine Schleiermacher, Sozialethik im Spannungsfeld von Sozial- und Rassenhygiene. Der Mediziner Hans Harmsen im Centralausschuß für die Innere Mission, Husum 1998, und dies., Ex-

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perte und Lobbyist für Bevölkerungspolitik. Hans Harmsen in Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Bundesrepublik, in: Stefan Fisch (Hg. u.a.), Experten und Politik: Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004, S. 211–238. 2 Hans Harmsen, Praktische Bevölkerungspolitik. Ein Abriß ihrer Grundlagen, Ziele und Aufgaben, Berlin 1931, S. 49ff. 3 Vgl. Hans Harmsen, Familie, in: Carl Petersen (Hg. u.a.), Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums, Breslau 1936, S. 482–489. 4 Hans Harmsen, Volksbiologische Entfaltungsgesetze, in: ders. (Hg. u.a.), Bevölkerungsfragen. Bericht des Internationalen Kongresses für Bevölkerungswissenschaft in Berlin. 26. August – 1. September 1935, München 1936, S. 355–360, 356f. 5 Hans Harmsen, Die Arbeiten des Bevölkerungspolitischen Ausschusses des deutschen Schutzbundes, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 368ff. 6 Vgl. Mechtild Rössler (Hg. u.a.), Der „Generalplan Ost“. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993. 7 Hans Harmsen, Bestandsfragen der deutschen Volksgruppen im osteuropäischen Raum, Berlin 1935, S. 8, 13, 29. 8 Archiv Forschungsschwerpunkt Zeitgeschichte der Medizin, IGM, Charité – Universitätsmedizin Berlin, NL Erwin Jahn, Mitgliederliste der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungspolitik e.V. vom 1.1.1966. 9 Vgl. Heidrun Kaupen-Haas, Eine deutsche Biographie – der Bevölkerungspolitiker Hans Harmsen, in: Angelika Ebbinghaus (Hg. u.a.), Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg. Bevölkerungsund Gesundheitspolitik im Dritten Reich, Hamburg, 1984, S. 41ff.

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Werner Hasselblatt Werner Hasselblatt, in Dorpat (Tartu), Estland am 22. Juni 1890 geboren und am 24. Januar 1958 in Lüneburg gestorben, gehörte zu denjenigen baltendeutschen Volkstumspolitikern und Volksgruppenrechtlern, die in der Zwischenkriegszeit die Publizistik über die praktische Umsetzung der Minderheitenpolitik von Völkerbund und Nationalstaaten dominierten. Hasselblatt wurde nach 1931 zu einer Schlüsselfigur der deutschen Volksgruppenpolitik und trug während des Krieges als Berater zur NS-Bevölkerungspolitik im besetzten Osteuropa bei. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften ging Hasselblatt zunächst in den Justizdienst, wurde später Rechtsanwalt und war von 1923 bis 1932 deutscher Abgeordneter im estnischen Parlament. Hasselblatt erlebte die Russifizierung des Baltikums, wurde von den Russen verschleppt und trat nach seiner Rückkehr aus Sibirien dem Baltenregiment bei. Hasselblatt galt als geistiger Vater der auf dem Personalitätsprinzip basierenden Kulturautonomie der deutschen Volksgruppe in Estland, mit der sich die Deutschen vorübergehend ihr kulturelles Eigenleben gesichert hatten. Die Kulturautonomie gehörte bald zu den höchsten Vorkriegszielen aller deutschen Volksgruppen im Ausland. Seine Mitarbeit am Minderheitengesetz Estlands öffnete Hasselblatt den Zugang zu den Ministerien und Institutionen der Volkstumspolitik in Deutschland. Hasselblatt gehörte zu den Gründern des Europäischen Nationalitätenkongresses im Jahre 1925 und übernahm dessen Publikationsorgan, die Zeitschrift →Nation und Staat, ab 1942 als Alleinherausgeber. Er bekleidete von 1931 bis Kriegsende das Amt des Rechtsberaters bzw. Geschäftsführers im später so genannten Verband der deutschen Volksgruppen in Europa, an dessen Gründung er ebenfalls beteiligt gewesen war. Seit 1932 in Berlin und seit 1940 zunächst heimlicher Reichsbürger und NSDAP-Mitglied, gehörte Hasselblatt zu den gut vernetzten, äußerst rührigen und rationalen Planern der Besiedelung des deutschen „Lebensraums“ im Osten. Seine in den ethnischen Konflikten der Zwischenkriegszeit und im Zarenreich gewonnenen praktischen Erfahrungen im Umgang der Mehrheitsvölker mit nationalen Minderheiten nutzten ihm im Kampf gegen die Völker des Ostens. Andererseits fungierte er in den europäischen Einrichtungen des Minderheitenschutzes als Multiplikator für die deutschen Interessen. Bei der Gleichschaltung der deutschen Volksgruppen durch den NS spielte er eine tragende Rolle. Hasselblatt arbeitete eng mit dem Deutschen Schutzbund für das Grenz- und Auslandsdeutschtum und dem →Institut für Grenz- und Auslandsstudien zusammen. Seit 1933 war er Vorstandsmitglied der Gesellschaft zum Studium Osteuropas und Mitglied im Volksdeutschen Rat, bis dieser 1936 von der Volksdeutschen Mittelstelle abgelöst wurde. Im Nationalitätenrechtlichen Ausschuss der →Akademie für Deutsches Recht war er zunächst korrespondierendes, nach seiner Einbürgerung dann ordentliches Mitglied. Er pflegte enge Kontakte zum Auswärtigen Amt und zum Ministerium für die besetzten Ostgebiete von Alfred Rosenberg. Weitere Positionen wie etwa im Minderheitenausschuss der →Deutschen Stiftung, in der →Südostdeutschen

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Forschungsgemeinschaft und der →Stiftung FVS Alfred C. Toepfers rundeten das Bild des Volkstumsaktivisten ab.1 Ob zwischen dem minderheitenpolitischen Engagement Hasselblatts vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und seinem Einsatz in der nationalsozialistischen Ostpolitik während des Krieges eine unerklärliche Zäsur liegt,2 ist umstritten. Hasselblatt war von der kulturellen Überlegenheit des deutschen Volkes als „Werkzeug einer höheren Weltordnung“ gegenüber den Ostvölkern überzeugt.3 Bereits sein Vorkriegs-Europabild drehte sich um einen nordisch-protestantischen Kulturkreis und drängte zur Abwehr des slawischen Ostens.4 Hasselblatt schrieb beharrlich gegen das Minderheitenschutzsystem des Völkerbundes an, weil er mit diesem System eine Entwertung der nationalen Minderheiten als „Schönheitsfehler“ durch das machtpolitische, arithmetische Denken des Nationalstaats verknüpfte.5 Seine Kritik an der vermeintlich nicht gewürdigten deutschen Überlegenheit in ostmittel- und Osteuropa, der Verlust der Pfründe der deutschen Elite im Baltikum, der Frust über die Defizite des rechtlichen Minderheitenschutzes durch den Völkerbund und sein antiliberales, im Ständischen und im Organischen wurzelndes Staatsverständnis boten Einfallstore für die NS-Ideologie.6 Auch seine vielen und einander überlappenden Mitgliedschaften in den Volkstumsinstitutionen seit Beginn der 1930er Jahre sprechen nicht für eine Distanzierung vom NS. Die völkische Fundierung des Nationalsozialismus kam den Zielen der deutschen Volksgruppen insgesamt entgegen, so dass die NS-Ideologie dort auf fruchtbaren Boden fiel. Hasselblatt, der bereits seit 1930 die nationalsozialistische Bewegung in Estland gefördert haben soll,7 war schnell als Berater in das →NS-Volksgruppenrecht und die Neuformierung der deutschen Volksgruppenpolitik verstrickt. Bereits 1927 hielt er vom Rechtsstaat nicht mehr viel und hoffte auf einen „ethischen Stimmungsumschwung, aus dem sich eine Glaubensformel für weitblickende Führer“8 prägen ließe. Als sehr agiles Mitglied des Europäischen Nationalitätenkongresses hing er aber zunächst nicht der Rassentheorie an, sondern votierte für die subjektive Bekenntnisfreiheit zum Volkstum. Hasselblatt ließ das Kriterium der Blutsgemeinschaft zunächst nur tastend in seine Schriften einfließen.9 Gleichwohl fiel es ihm nicht schwer, hinter den Kulissen des Nationalitätenkongresses der dort vertretenen Minderheit der Juden in den Rücken zu fallen, wie seine Denkschrift „Außenpolitik und Rassenkampf“ von 1933 zeigte. In dieser Schrift brachte er die deutsche Volksgruppenpolitik im Ausland mit der Entrechtung der Juden im Inland in Übereinstimmung: Die Juden galten nicht mehr als eigenständige Volksgruppe. In späteren Dokumenten sprach er stets von den „parasitären Juden“, die es insgesamt auszuschalten gelte.10 1938 stieß er in das Horn derjenigen ein, die Hitler bejubelten, weil er das Deutsche Reich zu neuer Größe geführt habe. 1939 forderte er öffentlich die Neuordnung Europas aus dem völkischen Denken heraus und propagierte den Krieg gegen Polen.11 Durch seine Mitarbeit in den NS-Institutionen, insbesondere auch in der Akademie, war ihm bekannt, dass das künftige Volksgruppenrecht dazu gedacht war, einen Rechtsschleier um die Brutalität zu legen, mit der der National-

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sozialismus den „Lebensraum“ des deutschen Volkes im „Osten“ sicherte und die rechtliche Einstufung der Völker nach ihrem Wert für die Deutschen vornahm. Hieran arbeitete Hasselblatt aktiv mit, so durch Vorarbeiten zu dem Begriff und den Rechten der Schutzangehörigen des Deutschen Reichs.12 Grenzrevisionen waren kein Tabu für ihn und auch Umsiedlungen sowie die Vernichtung von Völkern nahm Hasselblatt zur Lösung der Nationalitätenprobleme in sein Repertoire auf.13 Stolz darauf, dass der NS die Akademie des Deutschen Rechts „zur unendlich wichtigen Aufgabe der Neugestaltung des befreiten Ostraums“ heranzog, stellte er im Nationalitätenrechtlichen Ausschuss 1940 seine Denkschrift zur „Rechtsgestaltung deutscher Polenpolitik nach volkspolitischen Gesichtspunkten“ als „kleinen Knigge für volkspolitische Fragen“ vor. Die Denkschrift enthielt Zahlen und Pläne zur Deportation und Reduktion von Polen und Juden, warnte vor einer →Umvolkung der Slawen und beinhaltete ein eigenes Kapitel zum biologischen Volkstumskampf gegen die Polen.14 Hasselblatt hielt bis zum Ende des Dritten Reichs aktiv an der Ideologie von Blut und Boden, dem Anspruch der Deutschen auf die Hegemonie in Mittel- und Osteuropa und seinen Glauben an den Sieg fest.15 Anfang der 1940er Jahre machte er eigene Vorschläge für die Neuordnung der eroberten Ostgebiete, mit denen er die angeblich kulturüberlegenen Deutschen in die staatlichen Schlüsselpositionen setzen wollte, die beherrschten Völker dagegen auf den ihrer Arteigenheit gemäßen unteren Stufen eingruppierte, ihnen die Fähigkeit zur Eigenstaatlichkeit absprach und ihnen gar die Liquidation ihrer Volkspersönlichkeit in Aussicht stellte. Selbst als ein Scheitern des Russlandfeldzugs abzusehen war, veröffentlichte er in seiner Zeitschrift →Nation und Staat bis zu ihrer Einstellung 1944 noch eine Serie über „Die Völker des Ostens“,16 deren Subtext sich als Manual für die Bevölkerungsplaner und ihr Programm der ethnischen Flurbereinigung lesen lässt. Hasselblatt gab auf dem Rassengedanken beruhende Tipps, welche Völker von den Deutschen entweder vertrieben und vernichtet oder als Aktivposten der Deutschen eingesetzt werden könnten, um die Beherrschbarkeit des Ostens sicherzustellen. Eine Germanisierung des Ostens im Sinne einer Schmelztiegelpolitik hielt er zwar für abträglich, entwickelte aus der Not des Mangels an deutschen Menschen heraus aber eine Nomenklatur zur Eindeutschbarkeit der Ostvölker.17 Der Gefahr einer Unterwanderung der deutschen „Rasse“ aus dem „Osten“ im „Raum ohne Volk“ setzte Hasselblatt eine ausgeklügelte, am Zarenreich orientierte Divide-et-impera-Politik entgegen, die die gezielte Auseinanderentwicklung eines Volkstums und das absichtliche Säen von Zwist zwischen den nichtdeutschen Völkern umfasste, um diese politisch gegeneinander zu isolieren. Zahlreiche weitere, nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Denkschriften aus seiner Feder belegen,18 dass frühe Hagiographen Hasselblatts dessen Verquickung mit dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat zumindest unzureichend würdigten.19 Hasselblatts Versuche, die Baltendeutschen nach dem

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Krieg zusammenzuführen, scheiterten. Nach langer Krankheit starb er am 24. Januar 1958 in Lüneburg.

Kathrin Groh

1 Biographien bei Hellmuth Weiss, Hasselblatt, Werner Richard Karl, in: Neue Deutsche Biographie, Band 8, Berlin 1969, S. 43–44; Erik Thomson, Werner Hasselblatt, Arbeitshilfe Nr. 57/1990; Mads Ole Balling, Von Reval bis Bukarest. Statistisch-Biographisches Handbuch der Parlamentarier der deutschen Minderheiten in Ostmitte- und Südosteuropa 1919−1945, Band I, Kopenhagen 1991, S. 124–125; Archivhinweise bei Jörg Hackmann, Werner Hasselblatt (1890−1958), in: Gert von Pistohlkors (Hg.), Staatliche Einheit und nationale Vielfalt im Baltikum, München 2005, S. 175–205. 2 Ein unvollständiges Literaturverzeichnis von Hasselblatt bei Michael Garleff, Deutschbaltische Publizisten: Ewald Ammende, Werner Hasselblatt, Paul Schiemann, in: Berichte und Forschungen 2 (1994), S. 189–229, 201–215. 3 Werner Hasselblatt, Eugen Naumann. Zum Gedächtnis und Dank, in: NuS 13 (1939), S. 386–390, 389. 4 Ders., Der nordisch-protestantische Kulturkreis und die baltischen Länder, in: Ernst Schubert (Hg.), Auslandsdeutschtum und evangelische Kirche, München 1933, S. 145–154. 5 Ders., Geistige Verkehrshindernisse, in: NuS 1 (1927/28), S. 330–337. 6 Ders., Der Stand des Minderheitenproblems, in: Deutsche Rundschau 55 (1929), S. 177–185. 7 Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften von 1931–1945, Baden-Baden 1999, S. 474–477. 8 Werner Hasselblatt, Der baltische Deutsche in der Nationalitätenfrage, in: Europäische Revue 2 (1927), S. 418–425, 418f. 9 Ders., Die Kulturautonomie der Slowenen in Kärnten, in: NuS 1 (1927/28), S. 3–11, 11; ders., Notwendigkeit, Schwierigkeit und Ziel der überstaatlichen deutschen Volksgemeinschaft, in: Karl Haushofer (Hg.), Deutschlands Weg an der Zeitenwende, München 1931, S. 146–155, 150; ders., Überstaatliche Volksgemeinschaft, in: Baltische Monatshefte 1932, S. 1–3, 3. 10 Werner Hasselblatt, Beiträge (1940), in: Werner Schubert (Hg.), Akademie für Deutsches Recht 1933−1945. Protokolle der Ausschüsse, Band XIV, Frankfurt a.M. 2002, S. 568, 595ff.; anders noch ders., Kulturautonomie, in: Ethnopolitischer Almanach 1930, S. 10–19, 14. 11 Ders., Sudetendeutsche Freiheit und deutsche Volksgruppen, in: NuS 12 (1938/39), S. 2–4; ders., Die Saat von 1919 geht auf, in: NuS 12 (1938/39), S. 730–734, 734. 12 Heinrich Behrends (1939), in: Schubert (o. Fußn. 12), S. 459; Werner Hasselblatt, Beitrag (1942), in: ebd., S. 545. 13 Werner Hasselblatt, Die Völker Europas, in: Monatshefte für Auswärtige Politik 6 (1939), S. 655– 661; anders noch ders., Strafrechtlicher Schutz des Nationalitätsbekenntnisses, in: ZaöRV 2 (1931), S. 297–304, 300. 14 Ders., Beitrag, in: Schubert (wie Anm. 12), S. 472; ders., Denkschrift, in: ebd., S. 477–504. 15 Ders., Zukunftsgestaltung aus Volkstum, in: NuS 19 (1944), S. 176–185, 183f.; ders., Völkerpolitik als Weg zur Lebenseinheit Europa, in: NuS 19 (1944), S. 224–231. 16 Werner Hasselblatt, Die Völker des Ostens, in: NuS 15 (1941), S. 300–312, 352–360, 400–410; NuS 16 (1942), S. 76–84, 124–130, 190–198, 217–224, 314–321; NuS 17 (1942/43), S. 6–12; NuS 18 (1943), S. 46–57; NuS 19 (1944), S. 7–11, 67–70. 17 Hasselblatt, (wie Anm. 17), S. 501 (Zitat); ders., Beitrag (1941), in: ebd., S. 604ff.; ders., Germanisieren?, in: NuS 17 (1943), S. 35–36; Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung, Hamburg 1991, S. 423f.

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18 Jörg Hackmann, Concepts of German Nationalities Policy in Eastern Europe during the Second World War: The Case of Werner Hasselblatt, in: David Gaunt (Hg. u.a.), Collaboration and Resistance during the Holocaust, Bern 2004, S. 95–110. 19 Max Hildebert Boehm, Werner Hasselblatt, in: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 1959, S. 72– 74; Thomson, (wie Anm.1), S. 11; Arnold Weingärtner, Nation und Staat, Wien 1979, S. 59ff, 62; unentschieden Michael Garleff, Nationalitätenpolitik zwischen liberalem und völkischen Anspruch, in: Jürgen von Hehn (Hg.), Reval und die baltischen Länder, Marburg 1980, S. 113–132, 123ff.; dezidiert Martyn Housden, Ambiguous Activists. Estonia’s Model of Cultural Autonomy as interpreted by two of its Founders: Werner Hasselblatt and Ewald Ammende, in: JBS 35 (2004), S. 231–253; Xosé M. Nunez, Internationale Politik, Minderheitenfrage und nationale Autonomie: Der Europäische Nationalitätenkongreß (1925−1938), in: Heiner Timmermann (Hg.), Nationalismus und Nationalbewegung in Europa 1914−1945, Berlin 1999, S. 39–70, 56, 66.

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Hugo Hassinger Hugo Hassinger, geboren am 8. November 1877 in Wien, wuchs in einer bürgerlichen Familie auf. Nachdem er 1896 das Gymnasium abschloss, studierte er Geschichte bei Heinrich von Srbik und Geografie bei →Albrecht Penck an der Universität Wien. Als Student wurde er Mitglied im Verein der Deutsch-akademischen Leseund Redehalle, der seiner deutsch-nationalen Geisteshaltung entsprach. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in Wien eine Vielzahl von Vereinen mit kultureller, deutsch-nationaler oder sozialer Ausrichtung. Diese Vereine dienten als Plattformen zum Austausch reformerischer Ideen seiner zahlreichen prominenten Mitglieder.1 Bereits während seiner Studienzeit fand Hassinger öffentlich Beachtung und sein Doktorvater Albrecht Penck protegierte ihn entsprechend.2 1903 promovierte er über ein geomorphologisches Thema und unterrichtete in einem Gymnasium in Wien von 1902 bis 1904.3 Anschließend erhielt er eine Anstellung im Gymnasium in Mährisch-Weißkirchen. Diese Zeit empfand er als „Nationalitätenkampf“ in diesem gemischtsprachigen Gebiet und bestärkte ihn in seinem Vorurteil, dass die „deutschen Kinder zwar in der Minderheit waren, aber geistig und kulturell viel höher standen als die Slawenkinder“.4 Nach Ablauf dieser zwei Jahre kehrte Hassinger zurück, heiratete, gründete eine Familie mit zwei Söhnen und unterrichtete wieder an einem Gymnasium.5 Parallel dazu betätigte er sich wissenschaftlich in geographischen Bereichen und bewarb sich 1915 als Privatdozent an der Universität Wien.6 Dort begann er seine Tätigkeit mit der Erfassung der Wiener Baudenkmäler. Das Ergebnis seiner heimat- und landeskundlichen Arbeit setzte er im kunsthistorischen Atlas der Stadt Wien um.7 Darüber hinaus verstand er sich als Anthropogeograph. Diese Fachrichtung, die als Vorläuferin der Humangeographie gilt, war zu dieser Zeit ein „junger Wissenschaftszweig“. Hassinger wollte den Zusammenhang zwischen den Menschen und der Umgebung feststellen, in der sie leben. Als Faktoren zählte er das Klima, die Familiengrößen, die Arbeitsmöglichkeiten und die Lebenshaltungskosten. Die Ergebnisse sollten in der Sammlung der „Angewandten Geographie“ Hans Grothes aufgenommen werden, doch durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges blieb das Manuskript unveröffentlicht.8 Sein weiteres Anliegen konzentrierte sich auf die Erhaltung der deutschen Sprachinseln in den böhmischen und mährischen Gebieten. Hier führte er besonders die Iglauer Sprachinsel als warnendes Beispiel an, wo die deutschsprachige Bevölkerung abwanderte, bedingt durch wirtschaftliche Stagnation. Mit Belebung der Wirtschaft, die durch staatliche, finanzielle Zuschüsse erfolgen solle, natürlicher Zuwachsrate, Heranziehung deutscher Arbeitskräfte und Verhinderung slawischen Zuzugs, wollte er dem „Untergehen der Inseln“ entgegenwirken.9 Er wies auf die Richtlinien hin, wie sie in der „Deutsch-österreichischen Beratungsstelle für Volkswohlfahrt“ festgelegt waren, um die Kindersterblichkeit zu reduzieren, nämlich durch die Ausbildung von Hebammen, das Gewähren von Still-

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prämien, durch Auskunftsstellen für Mütter und die Einrichtung von Tageskrippen.10 1918 folgte er dem Ruf der Universität Basel als Professor für Geographie und reformierte als erste Tätigkeit die Schulwandkarten mit einer Vereinheitlichung der Signaturen, außerdem vergrößerte er die Bibliothek und die Kartensammlung um mehr als die Hälfte. Er war Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für →Volkskunde, gründete die Geographisch Ethnographische Gesellschaft und leitete die Naturforschende Gesellschaft.11 Wieder widmete er sich seinem bevorzugten Sachgebiet, der jungen Anthropogeographie. So stellte Hassinger einen anthropogeografischen Literaturbericht zusammen, der seit 1914 Beachtung fand. Darin verwies er auf die „vielseitige Beziehungsfähigkeit der Geographie des Menschen“, und dass Entsprechendes in der historischen, prähistorischen, anthropologischen, volkskundlichen, statistischen, technischen und volkswirtschaftlichen Literatur zusammengetragen werden müsse.12 Die Aufteilung des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn durch die Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg führte im „Restösterreich“ in das politische und in das wirtschaftliche Desaster. Österreich war von den ehemaligen Rohstoffquellen abgeschnitten, in Wien befanden sich die Verwaltungszentren ohne Hinterland. Offensichtlich fehlte es auch Hassinger an entsprechender Orientierung, wie er sich in die neuen Verhältnisse „Restösterreichs“ anpassen konnte. So ist auch die Abhandlung zu verstehen, die er über die Tschechoslowakei verfasste. Darin hielt er fest, dass die ČSR einzig durch den Beschluss der Enquete entstanden sei, da es sich seit dem 8. Jahrhundert um keine eigene Nation handelte.13 In Ewald Banses Lexikon für Geographie beschrieb Hassinger den „Deutsch-Österreicher“ folgendermaßen: „Der Deutschösterreicher bringt dem deutschen Wesen manche wertvolle Ergänzung, wenn ihm auch im Durchschnitt ein weniger an männlicher Tatkraft, zielsicherer Festigkeit gegeben ist: nämlich ein gutes Maß von Begabung, schöner Menschlichkeit und Güte. Vielleicht wird dieser feinfühlende, verstehende Mensch, der an der Grenze der Gegensätze wurde, für die Menschheit, die ohne Lösung des Problems Mitteleuropa, ohne Ausgleich von West und Ost nicht reifen kann, noch einmal von entscheidender Bedeutung werden.“14 1927 wechselte Hassinger an die Universität Freiburg im Breisgau, wo er die Badischen Geographischen Abhandlungen herausgab.15 In seinem vielbeachteten Vortrag zum Thema „Natur und Mensch im Böhmerwald“ betonte er das gefährdete Deutschtum in der Tschechoslowakei, wobei der Niedergang seit 1918 starke Ausmaße angenommen habe.16 Mit seinem Doktorvater Albrecht Penck erstellte er die „Volks- und Kulturbodenkarte“. Dabei versuchten sie „Sprache“, „Abstammung“, „Rasse“ und „Volksbewußtsein“ der deutschen Sprachinseln zu erfassen. Diese Karte kam als Anschauungsmittel in politischen, wirtschaftlichen oder propagandistischen Bereichen zur Anwendung.17 Hassinger folgte 1931 als Nachfolger Eugen Oberhummers dem Ruf an die Wiener Universität. In seiner historisch-kulturgeographischen Antrittsrede wies er auf

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die Bedeutung des Ostens hin und erinnerte rückblickend daran, dass diese Gebiete bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Teile der k.k. Monarchie Österreich-Ungarns gewesen seien. Er wollte das Bewusstsein wecken, dass der Südosten geographisch wie kulturell, politisch wie wirtschaftlich ein Teil des mitteleuropäischen Raumes sei.18 Schließlich gründete er 1931 die →Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft, zusammen mit dem Volkskundler Viktor Geramb, dem Historiker →Hans Hirsch, später mit →Otto Brunner, und dem Geographen Fritz Machatschek. Im Rahmen der deutschen Volkstumsforschung fanden die Ergebnisse in Zeitschriften und Sammelwerken wie Deutsches Archiv für Landes- und Volksforschung, Geographisches Institut, →Nation und Staat, Alpenländisches Monatsheft, Volk und Rasse, Deutschungarisches Heimatblatt, Der Auslandsdeutsche und →Handwörterbuch für das Grenz- und Auslandsdeutschtum ihren Niederschlag.19 Dort trat Hassinger für die Idee der deutschen Kolonialisierung des Ostens ein. Ausgehend von der „Gelben Gefahr“, ein Schlagwort für eventuell eindringende Chinesen aus dem Osten, sollten Wehrbauern im Osten als Bollwerke dienen.20 Der Begriff der „Gelben Gefahr“ wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch demographische Berechnungen begründet und dem allmählich auseinanderbrechenden Vielvölkerstaat als gemeinsamer Feind der k.k. Monarchie Österreich-Ungarn vorgestellt. Hugo Hassinger unterhielt enge Kontakte zu den Kollegen in Südost-Europa und nach Deutschland. Er betonte immer wieder die Bedeutung Wiens als zentrale Forschungsstelle.21 Er gehörte ferner der Deutschen Akademie an und war im wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Ausland-Instituts. Nach dem „Anschluss“ an Deutschland von 1938 verschob sich der Schwerpunkt der Forschung nach Osten, was Hassinger sehr gelegen kam.22 Dennoch kritisierte er die finanzielle und weisungsgebundene Abhängigkeit von Berlin, denn er wollte die Vormachtstellung Wiens bewahren.23 Als Leiter der Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung der Wiener Hochschulen 1938 setzte er sich entsprechend für die Expansion in die Donauländer ein; kulturpolitisch trat er als Vorsitzender des Prinz Eugen von Savoyen-Preises der Goethe-Stiftung in Erscheinung, einer Tochterstiftung der →Stiftung FVS. Auf Wunsch des Volksbundes für das Auslanddeutschtum (VDA) in Wien arbeitete Hassinger 1939 mit Hans Graul und Walter Strzygowski die Denkschrift über die Zukunft der Deutsch-Südtiroler und ihre eventuelle Ansiedlung im Beskidenraum aus. Vorausgegangen war das Abkommen zwischen Mussolini und Hitler, das Südtirol bei Italien beließ. Die „wertvolle Volksgruppe der Deutsch-Südtiroler“ sollte gemeinschaftlich in die neuen Siedlungsräume Teschen, Auschwitz und Zator umgesiedelt werden, ergänzt mit deutschen Volksgruppen aus Ungarn und Rumänien, so dass eine einheitliche, flächendeckende, deutschsprachige Bevölkerung „Wurzeln schlagen“ könne: „Es ist nicht damit getan, dem einzelnen Südtiroler den Anschluß an den Gesellschaftskörper des deutschen Muttervolkes zu ermöglichen, sondern es muß vielmehr der Kern der ganzen Volksgruppe in ihrer hergebrachten blut- und gesellschaftlichen Bindung in einem Siedlungsraum geschlossen vereinigt

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werden“.24 Die bereits dort lebende polnische Bevölkerung müsse in die Gegend San – Weichsel deportiert werden, die deutschfreundlichen Slonzaken hätten bleiben dürfen. Das geplante Projekt fand in Berlin begeisterte Aufnahme.25 Die →Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung (RAG) der Universität Freiburg i. Br., die ebenfalls von Hassinger ein Exemplar des Projektes erhielt, meldete Bedenken bezüglich der Durchführbarkeit der geschlossenen Umsiedlung der Südtiroler an. Es wurde bezweifelt, dass die slawische Bevölkerung deportiert werden könne. Außerdem sei das Projekt nach Beendigung des Krieges und der Festlegung der neuen Grenzen neu zu überdenken. →Wilfried Krallert, Otto Brunner und Raimund von Klebelsberg würden noch beraten. In dem Begleitschreiben monierte Hassinger, dass er für dieses Projekt von der Reichsstelle für Raumordnung keinen Kostenersatz erhalten hätte, was von der Universität Freiburg bedauert, aber auf die Kürzung des Etats zurückgeführt wurde.26 Als Leiter der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung arbeitete Hassinger mit den Arbeitsgemeinschaften in Innsbruck, Graz, Brünn und der Kommission für Raum- und Bodenforschung der Sudetendeutschen Anstalt für Heimatforschung in Reichenberg zusammen. Er schrieb an Felix Kraus, den Leiter der Volksdeutschen Mittelstelle (VoMi) in Wien, dass eine Bestandsaufnahme der deutschen Volksgruppen des Südostens nach landwirtschaftlichen und gewerblichen Schwerpunkten durchgeführt werde. Das Ziel dieser Erhebungen sollte die „Vorbereitung einer inneren Volksraumplanung im Donauraum“ sein. Zugleich war beabsichtigt, die landwirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Volksdeutschen in der Slowakei zu untersuchen. Die geopolitische Wertung der deutschen Siedlungsgebiete würde durch das Wiener Geographische Institut erfolgen. Der offizielle Titel des Arbeitsunternehmens hieß „Bestandsaufnahme“.27 1942 schrieb Hassinger für den Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften in „Lebensraumfragen europäischer Völker“, und betonte weiterhin die Sonderstellung Wiens als Drehscheibe der „deutschen Sendung“ im Donauraum. Indessen unterhielt er enge Kontakte zur Ost- und Südostforschung des Dritten Reiches. Zudem plante er noch 1943 einen Geographen-Kongress, der aber aus Kostengründen abgelehnt wurde, und beantragte die Durchführung von Projekten, die Detailuntersuchungen im österreichischen Raum beinhalteten, und die die VoMi aus Desinteresse und Sparmaßnahmen größtenteils ablehnte.28 1944 wurde das Manuskript von Hassingers „Lebensraum“ bei einem Luftangriff zerstört. In den letzten Kriegstagen sorgte er noch dafür, dass seine Arbeitsunterlagen in Strobl am Wolfgangsee gesichert wurden und wollte in Innsbruck weiterarbeiten. Nach dem Krieg stellte er sich im universitären Bereich als Mann der ersten Stunde vor. 1948 gab er im Zuge der Entnazifizierung eine eidesstattliche Erklärung ab, nie ein Mitglied der NSDAP gewesen zu sein, obwohl er dem NS-Beamtenbund angehört hatte. Bis 1951 bekleidete er die Stelle eines Universitätsprofessors, war am Aufbau der Akademie der Wissenschaften beteiligt, suchte Sponsoren für das geographische Institut, schrieb das Buch Österreichs Anteil an der Erforschung der

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Erde und stellte den Wegweiser für die Landes- und Volksforschung zusammen. Am 13. März 1952 verstarb Hassinger nach einem Unfall.

Christine Zippel

1 Vgl. Christine Zippel, Die österreichische Bevölkerungspolitik auf der Grundlage der Statistik und der sozialen Strukturen mit besonderer Berücksichtigung von Dr. Viktor Mataja und Dr. Eugen von Philippovich, 1850–1918, Diss. Univ. Wien 2003, S. 265ff. 2 Neue Freie Presse vom 17.12.1901. 3 UAW, Akademischer Senat, Curriculum vitae. 4 Hans Bobek, Nachruf für Hugo Hassinger, Wien 1952, S. 1. 5 UAW, Akademischer Senat, Personalblatt der Universität Wien. 6 UAW, Akademischer Senat, Beilage zum Curriculum vitae. 7 UAW, Akademischer Senat, Personalblatt der Stadt Wien. 8 Hugo Hassinger, Über Aufgaben der Städtekunde, in: PGM (1910), 6, S. 293. 9 Hugo Hassinger, Entwurf, S. 13; wurde auch abgedruckt in: Der getreue Eckhart. 30 Jahre deutscher Schulverein seit 1880. Monatsschrift für die Gesamtinteressen deutscher Schutzarbeit (1911) 2, S. 24–49, und (1911) 3, S. 80–88. 10 Vgl. Hassinger, Entwurf. S. 14, und Christine Zippel, Die österreichische Bevölkerungspolitik, S. 272. 11 Hans Bobek, Nachruf für Hugo Hassinger, S. 1–4. 12 Hugo Hassinger, Neuere Arbeiten zur Anthropogeographie der Schweiz, in: Sonderabdruck aus der Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin (1924) 3–4, S. 98ff. 13 Hugo Hassinger, Die Entwicklung des tschechischen Nationalbewusstseins und die Gründung des heutigen Staates der Tschechoslowakei, in: Anstalt für sudetendeutsche Heimatforschung der Deutschen Wissenschaftlichen Gesellschaft in Reichenberg, Kassel 1928. 14 Wiener Stimmen Nr. 9 vom 11.1.1924. 15 UAW, Akademischer Senat, Personalblatt der Universität Wien. 16 Schwäbischer Merkur, Nr. 574 vom 6.12.1928; Staats-Anzeiger, Nr. 288 vom 7.12.1928; Süddeutsche Zeitung, Nr.576 vom 8.12.1928, und Stuttgarter Neues Tagblatt, Nr. 588 vom 14.12.1928. 17 Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienste der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945, Baden-Baden 1999, S. 57. 18 Ebd., S. 262. 19 Ebd., S. 252. 20 Wiener Neueste Nachrichten vom 5.11.1936. 21 UAW, Bundesministerium an die Phil. Fakultät der Universität Wien, Zl.32098-I-1 vom 26.9.1936. 22 UAW, Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung aus Berlin vom 29.9.1939. 23 Hugo Hassinger, Wien, die kulturelle Hauptstadt, Wien 1940. 24 Ders., Möglichkeiten der Neuansiedlung, und Hans Graul, Der beskidische Siedlungsraum, in: Die Zukunft der Deutsch-Südtiroler, Wien November 1939, und Fahlbusch, Wissenschaft, S. 513ff. 25 UAW, Akademischer Senat, Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung aus Berlin vom 22.11.1939, und der Leiter der Reichsstelle für Raumordnung aus Berlin vom 27.11.1939. 26 UAW, RAG, Universität Freiburg i. Br. vom 7.12.1939. 27 UAW, Hassinger an Felix Kraus vom 9.11.1942. 28 UAW, Volksdeutsche Mittelstelle aus Berlin vom 15.3.1943.

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Jakob Wilhelm Hauer Der Religionswissenschaftler und Indologe Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962) ist nicht so sehr wegen seiner wissenschaftlichen Leistungen, sondern vor allem auf Grund seiner religiösen Aktivitäten während des Dritten Reiches eine bekannte Figur der jüngeren Zeitgeschichte. Kein anderer Wortführer der deutschgläubigen Bewegung verkörperte so wie er die ehrgeizigen Ansprüche des sogenannten „Neuheidentums“.1 Hauer, 1881 in Ditzingen bei Stuttgart geboren, stammte aus einem stark pietistisch geprägten Elternhaus. Nach einer theologischen Ausbildung am Basler Missionsseminar und einem mehrjährigen Aufenthalt als Missionar in Indien trat er 1915 in die Dienste der württembergischen Landeskirche. Den Wunsch, Pfarrer zu werden, gab er jedoch bald auf. Stattdessen wandte er sich an der Universität Tübingen dem Studium der →Indologie und Allgemeinen Religionsgeschichte zu. Hauer war ein tief religiöser Mensch, der sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg mit ganzer Kraft für eine Neuorientierung der evangelischen Kirche einsetzte, die aus seiner Sicht in überholten Strukturen und einer lebensfeindlichen Dogmatik zu erstarren drohte. Neben Promotion (1918), Habilitation (1921) und Professur (seit 1925) leitete er eine dem religiösen Flügel der Jugendbewegung zuzurechnende kirchliche Gruppe junger Erwachsener, die sich nach dem Ort ihrer Gründung Köngener Bund nannte. Durch einen in Kleidung und Lebensstil demonstrativ zum Ausdruck gebrachten Nonkonformismus unterstrich Hauer sein Anliegen, über die junge Generation eine Erneuerung des geistigen Lebens in Deutschland zu erreichen. Das verschaffte ihm in seinem jugendlichen Umfeld Respekt und sogar Verehrung, doch in derart konservativen Institutionen wie Kirche und Universität geriet er dadurch in die Rolle eines Außenseiters. Hinzu kam, dass er sich in der ökumenischen Friedensbewegung betätigte und in theologischer Hinsicht ausnehmend liberale Ansichten vertrat, die eine gewisse Tendenz zum religiösen Sozialismus aufwiesen. Hauer, der sich mehr und mehr von den kirchlichen Positionen und gesellschaftspolitischen Vorstellungen des offiziellen Christentums entfernte, ist ein gutes Beispiel für die in der Religionsgeschichte oft zu machende Beobachtung, dass die Entstehung und Radikalisierung neuer religiöser Bewegungen in besonderem Maße durch äußeren Druck und eine feindlich gesonnene Umwelt befördert wird. Mit Blick auf Hauers biographischen Werdegang wird leicht verständlich, wie – parallel zu seiner Entfremdung vom Christentum – ein zunächst rein apologetisch missionarisches Interesse an der Religionsgeschichte Indiens in Faszination und schließlich sogar in Identifikation umschlug. Diese Entwicklung verselbständigte sich bei Hauer am Ende der zwanziger Jahre und kulminierte nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in der prophetischen Verkündigung einer neuen Religion. Als es im Juli 1933 in Eisenach zum organisatorischen Zusammenschluss verschiedener religiöser Gruppierungen und Einzelpersönlichkeiten aus dem völkischen Lager kam, wurde Hauer einhellig zum Führer des sich den Namen einer Ar-

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beitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung gebenden Dachverbands ausgerufen. Diesem Treffen wohnten unter anderem Ernst Bergmann, Ludwig Ferdinand Clauss, Arthur Dinter, →Hans F.K. Günther, Werner Hülle, →Johann von Leers, →Kleo Pleyer, Graf Ernst zu Reventlow, Paul Schultze-Naumburg, →Lothar Stengel von Rutkowski, Karl Maria Wiligut, →Herman Wirth und Matthes Ziegler bei.2 Unter Hauers maßgeblicher Mitwirkung ging daraus an Pfingsten 1934 eine neue Religion, die Deutsche Glaubensbewegung, hervor. Ins Leben gerufen, um dem zu Beginn äußerst kirchenfreundlichen Kurs der NS-Regierung entgegenzutreten, forderte sie den Status einer gleichberechtigten dritten Konfession, doch wollte man nach kurzer Zeit nichts weniger als die neue Staatskirche des „Dritten Reiches“ werden. Allerdings hielt der in seinen Ausmaßen von Freund und Feind überschätzte Höhenflug der Deutschen Glaubensbewegung nicht lange an. Die programmatische Heterogenität der beteiligten Gruppen und das persönliche Machtstreben einzelner Führer waren die Hauptgründe dafür, dass dieser in der deutschen Geschichte einzigartige Versuch, dem lockeren Netzwerk völkisch religiöser Gemeinschaften eine eigenständige Organisationsform zu geben, schon nach kurzer Zeit in die Brüche ging. Dass für das Scheitern der Deutschen Glaubensbewegung, wie von Hauer und anderen später behauptet wurde, ein Gegensatz zur Ideologie des Nationalsozialismus verantwortlich zu machen sei, trifft nur insofern zu, als dass das überspannte Sektierertum vieler „Neuheiden“ von offizieller Seite als potentieller Störfaktor angesehen wurde. Bis heute wissen wir kaum etwas darüber, wie sich der pagane Aufbruch der deutschgläubigen Bewegung in bestimmten Bereichen der nationalsozialistischen Gesellschaft fortsetzte und welche Formen teils traditioneller, teils zivilreligiöser Art er dabei annahm. Hauer zog sich jedenfalls nicht in die innere Emigration zurück, nachdem er im April 1936 die Führerschaft der Deutschen Glaubensbewegung niedergelegt hatte. Ganz im Gegenteil verstärkte er seine Anstrengungen noch, um dem Herrschaftsanspruch des Nationalsozialismus Geltung zu verschaffen. Bereits im Sommer 1934 war er im Beisein von Himmler und Heydrich in die SS und den SD aufgenommen worden. Mit Werner Best, dem Führer des SD-Oberabschnitts Südwest, ging er ein enges Arbeitsverhältnis ein. Bestand Hauers Haupttätigkeit für den SD am Anfang darin, die Deutsche Glaubensbewegung so weit als möglich gleichzuschalten, verlagerte sich sein Arbeitsschwerpunkt nun auf die weltanschauliche Gegnerbekämpfung und die NS-Hochschulpolitik. Als Beauftragter des SD für die Universität Tübingen hielt er den Sicherheitsdienst über alle relevanten Entwicklungen vor Ort auf dem Laufenden. Dass er sich die Gelegenheit nicht entgehen ließ und auf diesem Wege die Religionswissenschaft gegenüber der Theologie in Stellung brachte, versteht sich von selbst. Fast alle Bücher und Aufsätze, die Hauer nach 1933 veröffentlichte, dienten außer der religiösen Propaganda hauptsächlich dem Zweck, die neue deutschgläubige Religion in die geistesgeschichtliche Tradition des Arier- beziehungsweise Indogermanentums einzuordnen, um ihr dadurch eine wissenschaftliche Grundlage zu ver-

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schaffen.3 Besonders seine Deutsche Gottschau von 1934 wollte in diesem Sinn eine theologische Programmschrift sein. Hauer entwickelte in ihr seinen alten phänomenologischen Ansatz einer organischen Verbindung von Religion und Wissenschaft weiter, nun aber mit einer exklusiven Ausrichtung auf das völkische Leben und die Religion der Arier. Indem Hauer sein methodologisches Programm beibehielt und nur den religiösen Inhalt auswechselte, mussten seine theoretischen Überlegungen zwangsläufig in eine völkische Gegentheologie einmünden. Den Dreh- und Angelpunkt seiner Religionstheorie bildete die Idee der Rasse, die von Hauer auf die allgemeine Religionsgeschichte angewandt wurde. Über die Verallgemeinerung und Systematisierung der Rasse-Religion-Beziehung wollte Hauer die Arbeitsweise der völkischen Religionswissenschaft deutlich machen. Doch anstatt die religionswissenschaftliche Forschung auf ein neues wissenschaftstheoretisches Fundament zu stellen, beschränkte sich Hauer auf die Variation altbekannter Gemeinplätze über die dem indogermanischen oder arischen Menschen angeblich von Natur aus eigentümlichen Wesensmerkmale, die nicht zufällig oftmals gerade das Gegenteil von dem waren, was als typisch christlich oder typisch jüdisch galt. Abgesehen von der grundsätzlichen Haltlosigkeit jeder rassischen Typologisierung, bestand die strukturelle Schwäche von Hauers völkischem Theorientwurf ganz eindeutig darin, dass er eine nachträgliche Rationalisierung und Legitimierung seiner geänderten religiösen Ansichten darstellte. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre ergab sich für Hauer die günstige Situation, dass er mit dem württembergischen Ministerpräsidenten und Kultusministers Christian Mergenthaler einen Verbündeten gewann, dessen antikirchliche Hochschulpolitik sich mit seinen eigenen Interessen weitgehend deckte. Mit dem für einen Renegaten charakteristischen Glaubenseifer unterstützte Hauer Mergenthaler bei seinem Kampf um Zurückdrängung der theologischen Fakultäten. Im Gegenzug erfuhr Hauer dafür eine ganz ausserordentliche Förderung seiner eigenen universitären Bestrebungen. Ausser der Erweiterung seines bis dahin auf Indologie und Allgemeine Religionsgeschichte lautenden Lehrauftrags um Arische Weltanschauung erhielt er überaus grosszügige Forschungsbeihilfen sowie zusätzliches Personal, dessen Finanzierung zum Teil auf umgewidmeten theologischen Lehrstellen beruhte. Im April 1940 wurde er zum Direktor eines an der Universität Tübingen eigens für ihn eingerichteten Arischen Seminars ernannt, das zwei Jahre später zum Arischen Institut ausgebaut wurde.4 Die vorbehaltlose Ausrichtung seines Wissenschaftsbegriffs auf die Belange des völkischen Staates ging, wie könnte es anders sein, mit dem Verlust an Seriosität einher. Weit davon entfernt, dem „Dritten Reich“ eine neue ideologische Grundlage zu verschaffen, wurde Hauer vielmehr dessen Handlanger und Erfüllungsgehilfe. Im Zusammenhang der von Hauer dabei unternommenen Auftragsarbeiten ist an erster Stelle ein umfangreiches Projekt zu nennen, bei dem das Arische Seminar die Unterrichtsmaterialien für den in Württemberg geplanten Weltanschauungsunterricht erarbeiten sollte. Das schloss die Erstellung von Schul- und Textbüchern ein,

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beinhaltete aber auch die Ausbildung des Lehrpersonals. Hauer prüfte schliesslich sogar Studenten für das Lehramt an höheren Schulen in nationalsozialistischer Weltanschauung. Noch bedenklicher gestaltete sich die Beziehung Hauers zum Sicherheitsdienst der SS. Hatte er bereits 1935 mit einem Gutachten entscheidend zum Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft beigetragen, wandte er sich nach dem Englandflug von Rudolf Heß mit drei ausführlichen Schreiben an Himmler, in denen er den verhängnisvollen Einfluss der Anthroposophie auf Heß zu kennen vorgab, um sich sodann als Experte bei der endgültigen Ausschaltung von Anthroposophie und Christengemeinschaft ins Spiel zu bringen.5 Daraufhin wurde Hauer von Heydrich nach Berlin gebeten, um Ende Mai 1941 das geheimpolizeiliche Vorgehen gegen nicht genehme Weltanschauungsgemeinschaften vorzubereiten, das am 9. Juni 1941 als „Aktion gegen Geheimlehren und Geheimwissenschaften“ zur Durchführung kam.6 Die von der Gestapo hierbei beschlagnahmten Bücher gingen zu einem beträchtlichen Teil an Hauers Arisches Seminar, wo sie wissenschaftlich ausgewertet wurden. Diese im Juni 1941 erfolgte innenpolitische Flurbereinigung ist auch deswegen von Bedeutung, weil sie in gewisser Weise eine Vorstufe zu dem kurz darauf in Gang gesetzten Weltanschauungskrieg gegen die Sowjetunion bedeutete. Acht Tage später nahm Hauers Zögling und frühere Generalsekretär der Deutschen Glaubensbewegung Paul Zapp an der ebenfalls im Reichssicherheitshauptamt in Berlin abgehaltenen Zusammenkunft vom 17. Juni 1941 teil, auf der Heydrich das leitende Personal der Einsatzgruppen auf seine bevorstehenden Aufgaben im Osten einstimmte.7 Eine besondere Rolle spielte Hauer auch im sogenannten Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften, bei dem er der Gruppe „Lebensmächte und Wesen des Indogermanentums“ vorstand.8 Ausserdem wurde Hauer mit der Leitung einer indologischen Unterabteilung betraut, nachdem das Amt VI des Reichssicherheitshauptamtes 1943 an der Universität Tübingen eine universitäre Aussenstelle eingerichtet hatte. Die hauptsächliche Aufgabe dieser den harmlosen Namen einer „Forschungsstelle Orient“ tragenden Einrichtung bestand darin, die Arbeit der Universitätsorientalistik in grösstmöglichem Umfang der militärischen Kriegsführung dienstbar zu machen. Hauers am Arischen Seminar geleistete Arbeiten hatten vor allem den Kampf gegen den englischen Kriegsgegner zum Ziel, der über seine indische Kolonie attackiert werden sollte.9 An der engen Verflechtung zwischen Hauers völkischer Religionswissenschaft und der nationalsozialistischen Kriegspolitik wird deutlich, wie sehr der völkische Wissenschaftsgedanke auf Kampf und Krieg ausgerichtet war. So wenig sich ein friedliches Nebeneinander der Staatengemeinschaft unter völkischen Vorzeichen denken ließ, so wenig konnte es einen gleichberechtigten Interessensausgleich innerhalb der nationalsozialistischen →Volksgemeinschaft geben. Auch die Universitäts- und Religionspolitik waren für Hauer Kampfplätze, auf denen es um Überwindung und Ausschaltung des weltanschaulichen Gegners ging.

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Obwohl nach dem militärischen Zusammenbruch Deutschlands zunächst nur wenig über Hauers frühere Aktivitäten ans Tageslicht kam, wurde er als herausragender Exponent der Deutschen Glaubensbewegung im Mai 1945 gefangen genommen und bis August 1947 interniert. Eine Rückkehr an die Universität stellte sich für ihn, den wahrscheinlich bekanntesten „Neuheiden“ des Dritten Reiches, als aussichtslos heraus. Zwar setzten sich verschiedene Persönlichkeiten, unter anderem →Herbert Grabert mit seinem „Verband der nichtamtierenden (amtsverdrängten) Hochschullehrer“, für ihn ein, doch blieb Hauer einer der ganz wenigen Professoren der Universität Tübingen, bei denen eine Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit prinzipiell nicht in Frage kam. Hauer fand aber im Umfeld der Religionsgemeinschaft der Deutschen Unitarier (DUR) ein neues Betätigungsfeld. Mit der von ihm selbst initiierten Arbeitsgemeinschaft für freie Religionsforschung und Philosophie und der Freien Akademie schuf er sich 1950 und 1956 Foren, auf denen er seine Ideen verbreiten konnte. In diesen Kreisen galt er bis zu seinem Tod im Jahr 1962 als herausragender Vorkämpfer einer freien Religiosität und als Wegbereiter für eine neue Rückbindung des Menschen an das Religiöse.10 In jüngster Zeit erlebt Hauers völkisches Religionsmodell vor allem innerhalb der Neuen Rechten eine Renaissance. Im Gegensatz zum sogenannten „Judäochristentum“ wird es als Ausdruck der religiösen Selbstbestimmung eines erstarkenden Europas angesehen.

Horst Junginger

1 Der Ausdruck „Neuheidentum“ wird hier in Anführungszeichen gesetzt, weil es sich bei ihm nicht um einen analytisch deskriptiven Begriff, sondern um eine pejorative Zuschreibung religiöser Polemik handelt. 2 Vgl. Ulrich Nanko, Die Deutsche Glaubensbewegung, Marburg 1993, S. 143ff., 332–342. 3 Folgende Schriften Hauers weisen eine wissenschaftstheoretische Zielsetzung auf: Deutsche Gottschau. Grundzüge eines deutschen Glaubens, Stuttgart 1934; Eine indo-arische Metaphysik des Kampfes und der Tat. Die Bhagavadgita in neuer Sicht, Stuttgart 1934; Die biologische Wurzel des religiösen Artbildes, in: Der Biologe (1935), S. 397–404; Die indo-arische Lehre vom Selbst im Vergleich mit Kants Lehre vom intelligiblen Subjekt, in: Die kulturelle Bedeutung der komplexen Psychologie. Festschrift zum 60. Geburtstag von C.G. Jung, hg. vom Psychologischen Club Zürich, Berlin 1935, S. 220–236; Die vergleichende Religionsgeschichte und das Indogermanenproblem, in: Germanen und Indogermanen. Festschrift für Hermann Hirt, Heidelberg 1936, S. 177–202; Glaubensgeschichte der Indogermanen. Das religiöse Artbild der Indogermanen und die Grundtypen der indo-arischen Religion, Stuttgart 1937; Religion und Rasse, in: ders. (Hg.), Glaube und Blut, Karlsruhe 1938, S. 64–115; Zum gegenwärtigen Stand der Indogermanenfrage, in: ARW (1939), S. 1–63; Die Bedeutung der Sprach- und Religionswissenschaft für das völkische Leben, in: Deutschlands Erneuerung (1940), S. 69–75. 4 Vgl. Horst Junginger, Das ‚Arische Seminar‘ an der Universität Tübingen 1940–1945, in: Heidrun Brückner (Hg. u.a.), Indienforschung im Zeitenwandel. Analysen und Dokumente zur Indologie und Religionswissenschaft in Tübingen, Tübingen 2002, S. 174–205. 5 BArch, ZB I 904, Bl. 11–14, Briefe Hauers an Himmler vom 13. und 16.5.1941. Vgl. Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, Stuttgart 1999, S. 204ff.

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6 BArch, Sammlung Schumacher, 267–2, Schnellbrief Heydrichs vom 4.6.1941 über die „Aktion gegen Geheimlehren und sogenannte Geheimwissenschaften“. Vgl. Junginger, Religionswissenschaft, S. 207ff. 7 Vgl. Ralf Ogorreck, Die Einsatzgruppen und die ‚Genesis der Endlösung‘, Berlin 1996, S. 96ff.; BArch, Sammelakte Zapp II 213 AR 1900/46. Zapp wurde Leiter des Einsatzkommandos 11a der Einsatzgruppe D. 8 Vgl. Frank-Rutger Hausmann, ‚Deutsche Geisteswissenschaft‘ im Zweiten Weltkrieg. Die ‚Aktion Ritterbusch‘ (1940–1945), Dresden 1998; ders., ‚Vom Strudel der Ereignisse verschlungen‘. Deutsche Romanistik im ‚Dritten Reich‘, Frankfurt a.M. 2000, S. 407ff. 9 IfZ, MA-1115, Bl. 2/760228, „Aufgabenstellung für das Indien-Institut Tübingen“ vom 3.10.1944. 10 Vgl. Margarete Dierks, Jakob Wilhelm Hauer 1881–1962. Leben, Werk, Wirkung, Heidelberg 1986, S. 347ff.

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Karl Haushofer Karl Haushofer (1869–1946) wurde am 27. August 1869 als Sohn des Professors an der TH München Max Haushofer und seiner Frau Adelheid, Tochter des Direktors der Tierärztlichen Hochschule Karl Fraas in München geboren. Väterlicherseits stammte die Familie aus Bayern, die Mutter war friesischer Herkunft. Nach dem Besuch des Gymnasiums trat Haushofer in die bayerische Armee ein; von 1887 bis 1889 besuchte er die Kriegsschule in München, die er „mit Allerhöchster Belobigung“ verließ. Von 1890 bis 1892 wurde er in der Artillerie- und Ingenieurschule ausgebildet, und von 1895 bis 1898 besuchte er Lehrgänge in der Kriegsakademie. Schließlich diente er von 1898 bis 1899 als Adjutant in der 1. Feld-Artillerie-Brigade. Er gelangte am 1. August 1899 in den Generalstab. Ab 1904 wirkte Haushofer als Dozent für Neuere Kriegsgeschichte an der Bayerischen Kriegsakademie. Zwischen 1908 bis 1910 wurde er nach Japan abkommandiert. In Indien traf er den Oberkommandierenden der britischen Truppen Lord Kitchener, den er sehr bewunderte, und schloss in Burma Freundschaft mit Stefan Zweig. Die Reise unternahm er mit seiner Frau Martha, geb. Mayer-Doss, die er am 8. August 1896 geheiratet hatte. Sie war jüdischer Abstammung, die beiden Söhne Albrecht (geb. 1903) und Heinz (geb. 1906) waren daher nach der nationalsozialistischen Rassenideologie Vierteljuden, was die Situation der Familie in den Jahren des Dritten Reichs nicht erleichterte, trotz eines „Schutzbriefes“, den Rudolf Heß 1933 ausstellte. Karl Haushofer stammte aus einer politisch liberalen Familie, sein Vater war zeitweilig liberaler bayerischer Landtagsabgeordneter, mit alldeutschen Tendenzen. Haushofers geistige Vorbilder waren der Germanist Felix Dahn, der im Haus seines Vaters verkehrte, und dessen Roman „Ein Kampf um Rom“, die Pflichtlektüre für die „nationalbewußte“ Jugend vom Kaiserreich bis zum Ende des Deutschen Reiches war. Das zweite geistige Vorbild Haushofers war der Geograph Friedrich Ratzel, ein Schüler des Volkskundlers Heinrich Wilhelm Riehl, der wiederum zum Freundeskreis von →Ernst Moriz Arndt gehörte. Ratzel hat in seinen zahlreichen Veröffentlichungen das Gesetz des räumlichen Wachsens der Staaten aufgestellt und mit rassistischen Argumenten die Gesetzmäßigkeit der Ausdehnung der Staaten behauptet. Seine geographisch-politischen Theorien fanden im Kaiserreich große Verbreitung und dienten als Begründung der imperialistischen Politik. Auf Ratzel berief sich der schwedische Staatswissenschaftler Rudolf Kjellén, auf den der Begriff „Geopolitik“ (1899) zurückgeht, dessen Bücher Haushofer sehr schätzte und die in Deutschland während des Ersten Weltkriegs mit großem Interesse rezipiert wurden. Ratzel war Mitbegründer des →Alldeutschen Verbandes, ebenso wie der Zoologe und Sozialdarwinist Ernst Haeckel, dessen Buch „Die Welträtsel“, in dem er seine monistische Philosophie entwickelt hatte, im Kaiserreich ein Bestseller war. Auch Haeckel gehörte zum Freundeskreis von Max und Karl Haushofer. Max Haushofer hielt im Ortsverein des Alldeutschen Verbandes auf Einladung des Vorsitzenden

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Graf Du Moulin Eckart, Professor für Geschichte an der TH München, Vorträge. Ein weiterer Bekannter im Hause Haushofer war der völkisch-nationalistische Verleger Julius Friedrich Lehmann, in dessen Villa sich Adolf Hitler nach seinem gescheiterten Putsch vom 19. November 1923 versteckte. 1907 war Haushofer aus der katholischen Kirche ausgetreten und zum Protestantismus konvertiert, weil der katholische Pfarrer sich geweigert hatte, seinen Vater wegen dessen politischer Überzeugungen zu bestatten. In den Briefen an seine Frau äußerte sich Haushofer während des Ersten Weltkrieges und des Zusammenbruchs der Monarchie 1918/19 feindselig gegenüber dem Liberalismus und Demokratie, wobei er sich gegen Ende des Krieges immer häufiger antisemitisch äußerte. Sein →Antisemitismus wurde genährt durch seine Begeisterung für den Historiker Heinrich von Treitschke, dessen Werke Haushofer während seiner Dienstzeit in der Kriegsakademie studiert hatte. Während seiner Dienstzeit hatte er während eines Manövers im Jahre 1905 als Stabsoffizier unter dem General Freiherr von Gebsattel gedient, der stellvertretender Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes neben →Heinrich Claß war und im Februar 1919 den Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutz-Bund mitgegründet hatte. 1919 schied Haushofer als Generalmajor aus dem aktiven Dienst aus und widmete sich seiner akademischen Karriere an der Universität München. Dort wurde er 1921 zum Honorarprofessor ernannt. 1919 hatte Haushofer den Studenten Rudolf Heß kennen gelernt, der damals Mitglied der Thule-Gesellschaft war. Mit Heß verband Haushofer eine persönliche Freundschaft, die bis zum Englandflug von Heß im Mai 1941 dauern sollte. Da Heß seit 1919/1920 Anhänger und enger Mitarbeiter Hitlers war, wird angenommen, dass Haushofer Hitler über Rudolf Heß mit seinen geopolitischen Ideen beeinflusst hat.1 Haushofer soll auch Hitler während seiner Festungshaft in Landsberg zu seinem Buch „Mein Kampf“ inspiriert und angeregt haben, ebenso das erst 1962 veröffentlichte Manuskript „Hitlers Zweites Buch“. Zumindest vertraten Haushofer und Hitler beide das sozial-darwinistische Prinzip vom „Kampf um den Lebensraum“. Weitere Freunde Haushofers aus der NSDAP waren General Ritter von Epp, Konstantin Hierl und der Historiker →Karl Alexander von Müller. Die wissenschaftliche Frucht von Haushofers Aufenthalt in Japan war sein 1913 erschienenes Buch Dai Nihon (Groß-Japan). Darin verherrlichte Haushofer die kriegerische Haltung der Samurai-Kaste und bewunderte die Eroberung Koreas durch die japanische Militärmacht im Jahre 1910. Den liberalen und demokratischen Kräften in Japan zeigte er in seinem Werk seine offene Verachtung. Am 13. November 1913 promovierte Haushofer als aktiver Offizier beim Münchner Geographen Erich von Drygalski. 1919 habilitierte er sich, ebenfalls bei Drygalski, mit dem Buch Grundrichtungen in der geographischen Entwicklung des japanischen Reichs (1854–1919). Karl Haushofer und mit ihm die Nachkriegsgeographen verankerten die Geopolitik als handlungsleitende Maxime in ihr Repertoire der politischen Geographie

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und der Heimatkunde, die sie den Gegebenheiten der Versailler Friedensordnung entgegensetzten. Haushofer adaptierte nicht nur den organischen Staatsbegriff Rudolf Kjelléns, sondern er entwickelte seine Geopolitik zu einem umfassenden raumpolitischen Instrument einer „deutschen Wissenschaft“, die sich des „Antiliberalismus“, des „Antisemitismus“, der Großstadtfeindschaft, der Angelsachsenfeindschaft, eines antimaritimen Imperialismus und Militarismus genauso verbunden fühlte wie einer „ethnozentrischen, äußere Räume“ wägenden imperialistischen Außenpolitik, in der den Grenz- und Auslandsdeutschen ein Sonderstatus eingeräumt werden sollte.2 Er war jener Geopolitiker, der nachhaltig die Begriffe von „geopolitischer Flurbereinigung“ in Europa in das öffentliche Gedächtnis seiner Zeit einbrannte. „In der Erkenntnis, daß eine Zeit geopolitischer Flurbereinigung, der Neuverteilung der Macht auf der Erde mit dem Weltkrieg nicht abgeschlossen ist, sondern angefangen hat“, traf er allerdings den Nerv jener Politiker, die sich jungkonservativer Politikberatung bedienten, um ihre Revisionspolitik durchzusetzen. Originär Neues leistete Haushofer indes nicht. Mit jungkonservativen Modebegriffen wie „Volk ohne Raum“ förderte er jedoch eine Vermengung militärischer, politischer und wissenschaftlicher Standpunkte. Er vertrat einen Raumbegriff von Mitteleuropa, den er von den Volkstumswissenschaftlern der Weimarer Republik übernahm und leicht modifizierte: 1. das deutsche Wehrgebiet, das 1934 noch kleiner als das Deutsche Reichsgebiet war, 2. das deutsche Reichsgebiet, 3. den „geschlossenen deutschen Volksboden“, also die deutschsprachigen Gebiete Deutschland, der polnische Korridor, das Sudetenland, Oberschlesien, Österreich, Schweiz, Elsass-Lothringen und das südliche Dänemark, 4. den „deutschen Kulturboden“, den Bereich deutschen Kultureinflusses, und 5. den flämisch-niederländischen Raum.3 Haushofer erweiterte sein geopolitisches Konzept um eine ethnopolitische Variante, obwohl er 1931 den absoluten Ausschließlichkeitsanspruch der „Pan-Ideen“ als „verurteilt zum Rassentod durch Inzucht“ bezichtigte. Größere „Erdräume“ seien damit auf Dauer nicht zu halten.4 Bereits 1932 verwies er auf die ideologische und schulebildende Macht der ethnozentrischen Politik, die schließlich im Nationalsozialismus zur Grundlegung einer deutschen Monroe-Doktrin, dem deutschen „Grundbuch des Planeten“ führte. Er sah in →Max Hildebert Boehm nach dem Erscheinen dessen Buches Das eigenständige Volk, welches in der Originalausgabe den Untertitel Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaften trug, als „praeceptor Germaniae“.5 1940 sah sich Haushofer in seinem Raumdenken zunehmend der Kritik durch Rassenideologen ausgesetzt. Dies veranlasste ihn, selbst Friedrich Ratzel als Vordenker der Rassenideologie einzuverleiben und eine Linie von Ratzel zu Hitlers Staatsideen zu konstruieren.6 Politisch engagierte sich Haushofer während der Weimarer Republik für kurze Zeit in der DVP, war aber ein scharfer Gegner der Außenpolitik Gustav Stresemanns; gleichzeitig hatte er Kontakte zu dem rechtsradikalen Bund Oberland. 1923 begannen die ersten Besprechungen zwischen Haushofer und dem Verleger Kurt Vowinckel über die Gründung eines gemeinsamen publizistischen Projekts; das ein Jahr

Karl Haushofer  283

später realisiert wurde: im Kurt Vowinckel Verlag erschien von 1924 bis 1944 Haushofers Zeitschrift für Geopolitik. Als Mitherausgeber gewann Haushofer die Geographen Erich Obst, Hermann Lautensach, den Staatswissenschaftler Kurt Hesse sowie den Geographen und Völkerkundler Fritz Termer. Mit der Zeitschrift für Geopolitik verbreitete Haushofer pseudowissenschaftliche Ideen, wie er sie während seines Japan-Aufenthalts von japanischen Politikern erlebt hatte und – so nahm er es an – wie die preußischen Reformer bei der Vorbereitung der Befreiungskriege 1813 bis 1815 ebenso gewirkt hatten. Die Volkserziehung sollte zum Handeln führen, zum Sturz der europäischen Nachkriegsordnung und zur Wiederherstellung der deutschen Weltmachtstellung. Zugleich wurde Haushofer Mitglied des VDA, ein Jahr später wurde er zum Vorsitzenden des Landesverbandes Bayern des VDA gewählt. 1933, nach der nationalsozialistischen Machtübernahme, wurde Haushofer zum ordentlichen Professor für Geographie an der Universität München ernannt. Im selben Jahr berief Rudolf Heß, den Hitler mit der Zusammenfassung der Volkstumsarbeit beauftragt hatte, Haushofer zum Präsidenten des Volksdeutschen Rats einem Koordinierungsorgan der Volkstumsarbeit, Geschäftsführer dieses Rats war →Hans Steinacher. 1934 übernahm Haushofer zusätzlich das Amt des Präsidenten der 1924 gegründeten Deutschen Akademie „zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums“ mit Sitz in München, die seit ihrer Gründung im Jahre 1924 im Ausland für die Verbreitung der deutschen Kultur warb. 1938 wurde Haushofer als Nachfolger Steinachers zum Bundesleiter des VDA ernannt; diesen Posten legte er auf Anraten seines Sohnes Albrecht 1941 nieder. 1939 hielt er seine Abschiedsvorlesung und zog sich aus dem akademischen und politischen Leben weitgehend zurück; er lebte mit seiner Frau auf dem Hartschimmelhof am Ammersee. In seiner geopolitischen Arbeit wurde Haushofer von seinem Sohn Albrecht unterstützt, der an der Zeitschrift für Geopolitik mitarbeitete und nach 1933 zunächst im Stab Heß und später im Büro Ribbentrop arbeitete. Seit dem „Röhmputsch“ von 1934 stand Albrecht Haushofer dem NS-Regime zunehmend kritisch gegenüber und suchte Ende der 1930er Jahre die Verbindung zum deutschen Widerstand. Trotzdem betätigte er sich 1941 noch zusammen mit →Karl-Christian von Loesch als Berater des kroatischen Ustascha-Regimes von Ante Pavelič. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 versteckte sich sein Sohn Albrecht in Garmisch Partenkirchen, wo er am 7. Dezember 1944 von der Gestapo aufgespürt und verhaftet wurde. Karl Haushofer war am 28. Juli 1944 verhaftet und in das KZ Dachau eingeliefert worden, aus dem er am 27. August 1944 entlassen wurde. Am 22./ 23. April 1945 wurde Albrecht von der Gestapo erschossen. Sein Bruder Heinz wurde am 25. August 1944 ebenfalls verhaftet und am 23. April aus der Haft entlassen. Die Eltern erfuhren erst am 6. Juli 1945 durch Heinz von Albrechts Schicksal. Von diesem Schlag hat sich das Ehepaar nicht mehr erholt. Karl und Martha Haushofer gingen am 10. März 1946 auf ihrem Hof gemeinsam in den Freitod.

284  Biographien

Während des Zweiten Weltkriegs ist insbesondere in der angelsächsischen Literatur Karl Haushofer unterstellt worden, er sei der Vordenker und geistige Wegbereiter der nationalsozialistischen Expansionspolitik gewesen. Bruno Hipler hat 1996 mit einem Indizienbeweis diese These zu untermauern versucht und darüber hinaus behauptet, Haushofer sei der Schöpfer des Hitler-Mythos gewesen. Auf Hitlers Außenpolitik nach 1933 hat Karl Haushofer jedenfalls keinen wesentlichen Einfluss genommen.

Tilman Koops

1 Vgl. Bruno Hipler, Hitlers Lehrmeister. Karl Haushofer als Vater der NS-Ideologie, St. Ottilien 1996. Zur neueren Einschätzung der Geopolitik allgemein Irene Dieckmann (Hg. u.a.), Geopolitik – Grenzgänge im Zeitgeist I: 1890–1945, 2. Bd., Berlin 2000. 2 Dan Diner, „Grundbuch des Planeten“. Zur Geopolitik Karl Haushofers, in: VfG 32 (1984), S. 1–28, 2ff. 3 Karl Haushofer, Die geopolitische Betrachtung grenzdeutscher Probleme, in: Karl Christian von Loesch (Hg.), Volk unter Völkern, Breslau 1925, S. 188–192; ders., Weltpolitik von heute, Berlin 1934, S. 57. 4 Karl Haushofer, Geo-Politik der Pan-Ideen, Berlin 1931, S. 85. 5 Hans-Adolf Jacobsen, Karl Haushofer. Bd. 2, S. 105; Max Hildebert Boehm, Das eigenständige Volk. Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaften, Göttingen 1932. 6 Karl Haushofer (Hg.), Friedrich Ratzel. Erdenmacht und Völkerschicksal. Eine Auswahl aus seinen Werken, Stuttgart 1941.

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Adolf Helbok Der am 2. Februar 1883 in Hittisau im Bregenzerwald (Vorarlberg) geborene und am 29. Mai 1968 in (Neu-)Götzens bei Innsbruck in Tirol verstorbene Adolf Helbok1 zählte zusammen mit Rudolf Kötzschke und seinem Studienfreund →Hermann Aubin zu den profiliertesten Vertretern der sogenannten „Volksgeschichte“, einer zwischen 1919 und 1945 prosperierenden Richtung in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft, die sich anstelle von Staats- und Personengeschichte vielmehr mit Forschungsfeldern wie Landesgeschichte, Siedlungsgeschichte und →Volkskunde befasste. In Bezug auf solche Forschungsschwerpunkte sowie die von diesen erforderte interdisziplinäre Ausrichtung ist für die deutschsprachige „Volksgeschichte“ durchaus eine gewisse Nähe zur französischen „Annales“-Schule zu konstatieren, doch handelte es sich bei ersterer im Gegensatz zu letzterer erklärtermaßen von Anfang an um eine cum ira et studio betriebene Geschichtsforschung, die den vorgeblichen Interessen des deutschen Volkes verpflichtet sein sollte. Der einer deutschnational empfindenden Familie entstammende Helbok tat sich diesbezüglich besonders hervor, so trug schon sein 1921 erschienenes erstes einschlägiges programmatisches Werk, das Heftchen „Siedelungsforschung“, gleich den Untertitel „Ein Weg zur geistigen und materiellen Wiederaufrichtung des deutschen Volkes“, und dessen Vorwort endete mit dem Ausruf „Kein Boden ist reicher als der deutsche und kein Volk tüchtiger als das deutsche. Stehen beide in gesunder und kräftiger Wechselwirkung, dann ist gegen dies Achtzig-Millionenvolk die ganze Welt zu klein!“ Der spätestens 1937 hinzugefügte Schlusssatz seines umfänglichsten zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Werkes „Grundlagen der Volksgeschichte Deutschlands und Frankreichs – vergleichende Studien zur deutschen Raum-, Kultur- und Staatsgeschichte“ lautete dann: „Was vor Jahrtausenden sich erfüllt hat, soll und wird wieder wahr werden: Am deutschen Wesen wird die Welt genesen!“ Von 1905 an absolvierte Helbok ein Studium der Geschichtswissenschaften in Innsbruck, und zwar vornehmlich bei →Hermann Wopfner und dann auch bei →Harold Steinacker, die sich beide schon ihrerseits den Inhalten der späteren „Volksgeschichte“ annäherten, und schloss es 1910 mit einer Dissertation über „Die Verfassung und Verwaltung der Stadt Bregenz am Bodensee bis ins 18. Jahrhundert“ ab. Aus gesundheitlichen Gründen von einer aktiven Teilnahme am Ersten Weltkrieg verschont, vermochte er sich 1919 gleichfalls in Innsbruck kumulativ für „Österreichische Geschichte und allgemeine Wirtschaftsgeschichte“ zu habilitieren. In den Jahren 1923 und 1924 stieg er in der Folge vom Privatdozenten schlussendlich zum beamteten außerordentlichen Professor ad personam auf. Er war dann maßgeblich an der 1928 erfolgten Grundlegung des „Atlas der deutschen Volkskunde“ beteiligt, dessen Zentralstelle in Berlin angesiedelt wurde, weswegen er in der Folge immer wieder in die deutsche Hauptstadt reiste; 1932 übernahm er im Anschluss an vom damaligen technischen Leiter des Projekts Eduard Wilhagen ausgelöste Querelen vorübergehend sogar die wissenschaftliche Leitung. Spätestens bei diesem konti-

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nuierlichen Berliner Aufenthalt freundete er sich mit dem Leiter des Instituts für Anthropologie und Eugenik der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Eugen Fischer an, der vor 1933 eine Verbindung von „Ariern“ mit gebildeten Juden als eine eugenisch positive Maßnahme empfahl. Offenbar auf Empfehlung Fischers nahm der damalige Rotarier Helbok auch an Treffen des konservativen „Herrenklubs“ teil; bei beiden Vereinigungen handelte es sich nach antisemitischer Auffassung um jüdische Einflussorganisationen. Obwohl seit 1925 Mitherausgeber der Zeitschrift „Volk und Rasse“, zeigte er bis 1933 für „Rassefragen“ eher nur ein marginales Interesse und gebrauchte den Terminus „Rasse“ wie viele seiner Zeitgenossen zumeist als bloßes Synonym von „Volk“; umso mehr faszinierte ihn damals die später bei den Nationalsozialisten verpönte „Zweischichtentheorie“ Hans Naumanns. Das Jahr 1933 brachte dann aber eine Zäsur. Unter dem Eindruck des von ihm in Berlin miterlebten Machtantritts der Nationalsozialisten begann er in diesen die besten Sachwalter der völkischen Agenda zu sehen, so dass er der NSDAP am 12. April 1933 gemeinsam mit seiner Frau offenbar in Innsbruck beitrat, nur kurz vor dem Verbot dieser Partei in Österreich am 19. Juni 1933 – dementsprechend erhielten beide niedrige Mitgliedsnummern. Andererseits begann er nun in seinen Schriften – wie jedenfalls später von ihm selbst behauptet, unter dem Einfluss seines Freundes Fischer – mit einem zunehmend inflationären Gebrauch des Begriffs „Rasse“, der nun auch als zentrales Element seiner programmatischen Schriften fungierte, und mit der Behauptung einer Vorzugsstellung der „Nordrasse“. Letzteres Ideologem brachte er freilich nicht gegen „die“ Juden in Stellung – antisemitische Äußerungen sind in seinem veröffentlichten Werk ausgesprochen selten –, vielmehr suchte er auf diese Weise die von ihm seit jeher aus völkischen Gründen behauptete Inferiorität der von ihm mit einer Art Hassliebe überzogenen Franzosen nunmehr „rassenbiologisch“ zu erklären. Eine weitere Spezialität Helboks war dann, für die von der NS-Rassenlehre in Österreich angesiedelte „dinarische Rasse“ eine weitgehende Gleichwertigkeit mit der „Nordrasse“ zu propagieren. Offenbar ebenfalls unter dem Einfluss Fischers trat er nun auch für eine positive Eugenik ein, während er die Existenz der negativen Eugenik verdrängte. Vom austrofaschistischen „Ständestaat“ wurde Helbok, der mittlerweile sogar (amtsbekannterweise) seinen Weihnachtsbaum mit Hakenkreuzen schmückte, als manifester NS-Aktivist im Frühjahr 1934 unter dem Vorwand einer Einsparungsmaßnahme „gegen Wartegeld beurlaubt“, doch konnte er seine Lehrtätigkeit gleich darauf in NS-Deutschland fortsetzen, zunächst als Gastprofessor in Berlin, ab 1935 als Nachfolger des mittlerweile emeritierten Rudolf Kötzschke in Leipzig; den dafür notwendigen Übertritt vom katholischen zum evangelischen Glauben hatte er schon zuvor vollzogen. Wenn auch alle Schüler Kötzschkes ihrerseits (spätestens seit 1937) der NSDAP angehörten, so kam es mit ihnen bald zu Friktionen: einerseits hatte eine Untermenge von ihnen selbst die Nachfolge ihres Lehrers anzutreten gehofft, andererseits brachte Helbok eigene Schüler aus Österreich mit, die er zu bevorzugen schien. Des Weiteren sah er sich binnen kurzem heftigen Angriffen aus dem Amt

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Rosenberg ausgesetzt (wo nun sein alter Widersacher Eduard Wildhagen die Fäden zog), andererseits wollte ihm aber auch die SS keinen Zugriff auf das Material des „Atlas“ gewähren – er galt gemeinhin als Konjunkturritter, weil er vor 1933 doch eindeutig dem „Boden“ den Vorzug vor dem „Blut“ gegeben hatte. Als sich seine Situation in Leipzig immer unerfreulicher gestaltete, retteten ihn seine Lehrer Wopfner und Steinacker, indem sie in Innsbruck ein Ordinariat für „Volkskunde“ einrichteten, auf das er umgehend (im Jahr 1941) berufen wurde. Nach der Befreiung wurde er seines Amtes enthoben, und trotz einer Rückkehr zur katholischen Konfession gelang ihm keine Rückkehr auf einen österreichischen Lehrstuhl mehr. In seinen Publikationen aus der Zeit nach 1955, insbesondere in seinen 1963 erschienenen „Erinnerungen“, hat er dem Nationalsozialismus ein ausgesprochen positives Zeugnis ausgestellt. Dabei ist Helbok eigentlich gar kein typischer Nationalsozialist gewesen: die Idee einer egalitären →Volksgemeinschaft war ihm eher unsympathisch – er schwärmte vielmehr für deutsche Adelsherrschaft und ständestaatliche Ordnung –, als Vertreter einer positiven Eugenik neigte er eher zu Pazifismus, da die moderne Kriegsführung seiner Meinung nach gerade auch die Begabtesten und charakterlich Besten an der Reproduktion zu hindern angetan war, und das Schicksal der Juden hat ihn augenscheinlich weder im Guten noch im Bösen beschäftigt. Dementsprechend hat er in seinem Alterswerk den Holocaust weder geleugnet noch gerechtfertigt, sondern einfach beschwiegen. Einer wirklichen Nutzbarmachung seiner ungewöhnlich vielseitigen Interessen und Kenntnisse standen ein überbordender Nationalismus, ein weitgehender Mangel an Empathie und ein polemisches Naturell entgegen – alles Eigenschaften, die schon eine langjährige Freundin des Ehepaares Helbok, die weltläufige Vorarlberger Schriftstellerin Grete Gulbransson, bei ihm konstatierte.

Martina Pesditschek

1 Am ausführlichsten zuletzt Martina Pesditschek, (Johann Anton) Adolf Helbok (1883−1968). „Ich war ein ‚Stürmer und Dränger‘“, in: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker. Lebensläufe und Karrieren 1900−1945, Bd. 3, Wien u.a. 2017; alle Angaben und Urteile des vorliegenden Eintrags werden dort ausführlich belegt bzw. begründet. Archivalien in BArch; ÖStA; AdR; UA Innsbruck; UA Leipzig.

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Willibald Hentschel Willibald Bernhardt Hentschel wurde am 7. November 1858 als viertes von elf Kindern in Łódź geboren. Sein Vater, Eduard Hentschel (1832–1897), war Leiter einer Textilfabrik und stammte aus einer Weberfamilie, die sich zunächst im 1750 gegründeten Johannesdorf (Janov/Lausitz) in Böhmen angesiedelt hatte. Die Herkunft der Mutter, Marie Autrytt (auch Audrit, 1834–1905), ist auf hugenottische Ursprünge zurückzuführen. Nachdem die Familie 1874 nach Dresden gezogen war, legte Willibald Hentschel 1875 dort sein Abitur ab und begann mit dem Studium der Fächer Chemie und Physik. 1877 wechselte er zum Biologiestudium unter Ernst Haeckel nach Jena, wo er 1879 mit einer Arbeit „Über den gegenwärtigen Stand ursächlicher Erklärungen in der Vererbungserscheinung“ promovierte. Das Rigorosum legte er im Hauptfach Biologie bei Haeckel und in den Nebenfächern Chemie und Physik bei Anton Geuther und Ernst Abbe ab. Danach blieb Hentschel noch einige Zeit Haeckels Assistent, bevor er die gleiche Position bei Rudolf Wilhelm Schmidt an der TH Dresden antrat.1 Zusammen entwickelten sie ein neues Verfahren zur Herstellung von Salicylsäure, was Hentschel mit den nötigen finanziellen Mitteln versah, um zwei Rittergüter seines verstorbenen Schwagers in Schlesien zu kaufen, eines davon im siebengebirgischen Seiffersdorf (Radomierz), Landkreis Hirschberg. Bereits während seines Studiums in Dresden lernte er Hellen Zimmermann (1861–1947) kennen, die Tochter des Leiters einer großfürstlichen Lederfabrik bei Kiew. Die Briefe von Willibald Hentschel an seine Braut Hellen2 aus der Jenaer Zeit geben Einblick in Hentschels Gedankenwelt, die bereits durch eine romantisierte Naturbezogenheit, epigonenhafte Goetheverehrung3 und zugleich misanthropische Züge sowie kulturelle Untergangsvisionen – wenn auch noch nicht in späterer Radikalität – geprägt ist. 1881 heiratete Hentschel Hellen Zimmermann in Dresden. Aus der Verbindung gingen fünf Töchter hervor. 1885 schloss sich Hentschel der Afrika-Expedition der Gesellschaft für deutsche Kolonisation, später als Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft bekannt, unter der Leitung von Carl Peters und Joachim Graf Pfeil an. Hentschel wollte das Unternehmen, bei dem von Sansibar aus Teile des afrikanischen Festlandes als Grundlage der späteren Kolonie Deutsch-Ostafrika erworben wurden, durch meteorologische Untersuchungen fördern. Aufgrund des Verlustes einiger Messgeräte konnte er seine „Absichten“ nicht verwirklichen, glaubte aber durch sein „Urtheile mindestens anregend wenn nicht entscheidend auf den Gang der Dinge wirken“ zu können. Seiner Ansicht nach saß „der Karren der ostafrikanischen Gesellschaft […] im Dreck“. Er glaubte dazu berufen zu sein, „diese Unternehmungen auf einen ganz neuen aber durch die Sachlage notwendig gegebenen Boden zu stellen – eine Arbeit, die wahrscheinlich Jahre in Anspruch nehmen“ würde. Den überwiegenden Teilnehmern der Expedition sprach er die Fähigkeit ab, „hier ein zukünftiges Deutschland“ aufbauen zu können: „etwas Fieber und etwas gekränkte Eitelkeit und sie verließen den Schauplatz ihrer geträumten Heldenthaten; mit solchen Schlappbeinen will der

Willibald Hentschel  289

Dr. Peters Kolonien gründen!“4 Sein Plan, eine weitere Expedition in die Region „Uhehe“ zu begleiten, scheiterte an einer Malariaerkrankung. Mit der Rückreise an die afrikanische Küste (Saadani) hatte er bereits das Interesse am deutschen Kolonialprojekt verloren. Die „ganze Ostafrikanische Kolonialgeschichte“ hielt er für „so stark verplempert, dass sie eigentlich zu Grabe geläutet werden könnte“.5 Nach seiner Rückkehr zu seiner Frau nach Jena zog Hentschel mit der Familie nach Leipzig, wo er bei dem Chemiker Johannes Wislicenus eine Assistentenstelle erhielt. Patentierte Erfindungen zur künstlichen Indigogewinnung brachten Hentschel erneut Zuwachs an wissenschaftlicher Reputation und finanziellen Mitteln. Ende der 1880er Jahre ging er nach Heidelberg, um am Chemischen Institut der Universität und in der Industrie zu arbeiten. Dort lernte er neben Theodor Fritsch antisemitische Denker wie Max Liebermann von Sonnenberg, Bernhard Förster und Otto Glagau kennen. Als Mitglied dieses Kreises wurde Hentschel durch Reden und Schriften einer breiteren Öffentlichkeit als Verfechter einer antisemitischen Gesinnung bekannt, welche er bis dahin schon in seiner Korrespondenz vertreten hatte. Er avancierte zu einer Führungsfigur des Deutschen Reform-Vereins, unterstützte die Gründung der Deutsch-Sozialen Partei, deren Vorstand er im Jahr 1890 angehörte, und wurde engagierter Mitarbeiter der Deutsch-sozialen Blätter und begründete die Zeitschrift Hammer mit.6 Zudem war Hentschel ein Mitbegründer der Deutschen Erneuerungsgemeinde und Mitglied der Gobineau-Vereinigung. Als Protagonist der antisemitischen Bewegung wurde Hentschel schnell zu einer umstrittenen öffentlichen Persönlichkeit, so dass die badische Regierung sein Naturalisationsgesuch um Aufnahme in den deutschen Untertanenverband 1890 ablehnte. Daraufhin zog er sich auf sein schlesisches Rittergut Seiffersdorf zurück, wo im Kreise verschiedener antisemitischer Denker der Titel der antisemitischen Zeitschrift Hammer entstand.7 Hentschel selbst verfasste programmatische Schriften wie Varuna (1901) und Mittgart (1904). Varuna stellt Hentschels rassentheoretisches Hauptwerk dar, das als „eine Welt- und Geschichtsbetrachtung vom Standpunkte des Ariers“ (Untertitel der ersten Auflage) „Das Gesetz des aufsteigenden und sinkenden Lebens in der Völkergeschichte“ (Untertitel seit der zweiten Auflage) auf über 600 Seiten untersuchte.8 In der Tradition von Ernst Haeckel ist in Hentschels Werk – benannt nach der vedischen Gottheit Varuna, welche die kosmische Ordnung aufrecht hält – die Weltgeschichte ein Teil der organischen Entwicklungsgeschichte.9 Sie wird mit Bezügen zu Gobineau eine Rassengeschichte. Mit diesem rassegeschichtlichen Entwurf, der dem Hammer als Programmschrift diente,10 verfolgte Hentschel das Ziel, „die Wurzeln der geistigen und sittlichen Verwirrung aufzudecken“ und zu zeigen, „daß die falsche Bewertung nationaler, sozialer und wirtschaftlicher Verhältnisse mit der Hintansetzung aller sittlich-erhebender und züchterisch-tragender Momente das Hauptübel“ seiner Zeit bildeten. Er versuchte dabei, „den extremen Gobineau’schen Rassengedanken auf seinen rationellen Umfang zurückzuführen und damit seine Beachtung“ zu erzwingen. Denn seiner Ansicht nach war der landläufige →Antise-

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mitismus in Äußerlichkeiten und Missverständnissen stecken geblieben und der Heilsweg der arischen Völker sei nur aufgrund einer wahrhaft nationalen Politik und der planvollen Züchtung der hellen Rasse zu erreichen.11 Im Gegensatz zu Gobineau vertrat Hentschel damit einen rassehygienischen Optimismus, der dem arischen Menschen trotz „Entartung“ und „Semitierung“ eine aussichtsreiche Zukunft prognostizierte. Grundlegend für diese rassenökonomische Vision war die Annahme, dass der „Semitismus […] an keine besondere Rasse gebunden“ sei, sondern „in jedem Volke und in jeder Rasse Platz greifen“ konnte.12 Indem Hentschel „rassische“ Merkmale beziehungsweise Verfallserscheinungen als „Semitierung“ mit sozio-kulturellen Entwicklungen – der Industrialisierung, einem ungesunden Lebenswandel oder etwa der bürgerlichen Gesetzgebung – verband, hoffte er durch die Zurückdrängung solcher „rasseschädlicher“ Elemente und gezielter Menschenzucht auf eine „germanische Rassenerneuerung“. Die Bedingung der Möglichkeit eines Zusammenwirkens von Eugenik, politischer Rassenanthropologie und →Antisemitismus, die Hentschel nicht nur theoretisch erläutern wollte, stellte er 1904 in seiner Utopie „Mittgart. Ein Weg zur Erneuerung der germanischen Rasse“ auch praktisch vor. Mittgart, nach altnordischer Vorstellung das Land der Menschen zwischen Asgard (Reich der Götter) und Niflheim (Unterwelt), diente Hentschel als Namensgeber für ein germanisch-arisches Siedlungsmodell zur „rassischen“ Züchtung beziehungsweise „Aufladung“.13 In Abgrenzung von der Gartenstadtidee, die er als wirkungslos ansah,14 und mit Betonung der Theorie des Philosophen Christian von Ehrenfels beabsichtigte Hentschel seinen „Menschen-Garten“ auf einem Gut mit der Fläche von 3.000 Morgen Ackerland, 1.000 Morgen Wald, 1.000 Morgen Wiese und 1.000 Morgen Koppel zu errichten. In dieser Siedlung sollten eintausend Frauen mit einhundert Männern, die zuvor unter körperlich-rassistischen Aspekten selektiert wurden, in naturverbundener, möglichst autarker und vor allem polygyner Lebensform eine neue „völkische“ Oberschicht erzeugen. Nach den genauen Plänen von Hentschels archaisch-aristokratischer Gesellschaftsordnung, gingen die fortwährend getrennt lebenden Geschlechter nur für eine kurze Zeit Ehen ein. Mit der Schwangerschaft wurde diese Verbindung wieder nichtig. Vor der nächsten Vermählung sollte die Frau in den kommenden „2 – 2 ½ Jahren ihren Mutterpflichten“ nachgehen, bevor mit dem sechsten Lebensjahr die Kinder den Geschlechtergemeinschaften zugewiesen würden. Mit 16 Jahren würden die handwerklich geschulten, durch Faustrecht erzogenen, aber gänzlich ungebildeten Jugendlichen in die Kulturwelt außerhalb Mittgarts entlassen und aus insgesamt etwa 300 Siedlungen „einem jährlichen Zustrom von 100.000 frischen, ungebrochenen, aufsteigenden Menschenkindern in die Adern“ des deutschen Volkes bewirken. Nach Errichtung der Häuser durch die „Mittgart-Männer“ rechnete Hentschel schon bald nach Erscheinen seines Züchtungsplans mit der Eröffnung einer ersten Siedlung. Zu diesem Zweck gründete er 1906 den Mittgartbund mit einer eigenen Zeitung, den MittgartBlättern (1907–1935). In diesem Bund unter seiner Leitung als „Bundesältester“ ver-

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sammelte er die Anhänger vom „Zucht- und Hegegarten des neuen Menschen“. Aufgrund der dafür vorgesehenen Rechtsordnung, die einen autoritativen Staatswillen vorsah, der kleinen Jüngerschar und begrenzter finanzieller Mittel geriet das Projekt allerdings schnell ins Stocken. Das vom Bundesmitglied Heinrich van der Smissen geplante „Frauenhaus“ auf seiner Besitzung Klingberg wurde 1914 durch den Kriegsbeginn vereitelt. Nachdem Seiffersdorf 1905 verkauft worden war, kehrte Hentschel 1911 als Mitarbeiter der Chemischen Fabrik von Heyden in Radebeul nach Dresden zurück, um gemeinsam mit dem Chemieunternehmen sein Patent der Indigo-Herstellung auszuwerten. Streitigkeiten führten allerdings bereits im folgenden Jahr zum Bruch mit der Firma und einem jahrelangen Rechtsstreit. Während des Ersten Weltkrieges arbeitete Hentschel in einem chemischen Betrieb in Schreckenstein (Střekov) bei Aussig (Ústí nad Labem) an der Elbe und verlor sein ganzes, in Aktien angelegtes Vermögen. Daraufhin zog er sich an die Unterelbe, Kreis Wester-Wanna, zurück, um sich aus eigenen Kräften ein Haus nach dem Mittgart-Vorbild zu errichten, das er Niegard nannte. Hier versammelte er 1922 die Reste des Mittgartbundes, der noch 49 Mitglieder und ein Vermögen von 7.439 Mark zählte, und erklärte Niegard zu einer „Keim-Siedlung“ seines utopischen Projekts. Laut eines Anhängers sollte Niegard „kein Erwerbs-, sondern ein Versuchsunternehmen sein“, nach dessen Vorbild in der Wirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit einem Großteil der deutschen Bevölkerung – deshalb von Hentschel auch als „Chinesenprogramm“ bezeichnet – eine Lebensgrundlage geschaffen werden könnte.15 Ferner rief er 1923 in den Blättern aus Niegard zur Gründung eines neuen „Heils-Heeres“ auf, „eine ritterliche Kampfgenossenschaft auf deutscher Erde“, die er mit „Artam“ bezeichnete.16 Als Teil der „Varuna-Ordnung“ sollten sich freiwillige junge Männer und Frauen auf einem ostelbischen Rittergut unter hierarchischer Führung handwerklichen und technischen Arbeiten widmen, um dem kulturellen Verfall und der „slawischen Völkerwelle“ entgegenzuwirken.17 Wie Hentschel 1941 selbst an Niels Hjorth schrieb, kam sein Aufruf „in die Hände eines gewissen Bruno Tanzmann […], der die Anregung dann in die Tat umsetzte“. Dieser gründete mit Wilhelm Kotzde den Artamanenbund: dessen Namensgeber und geistiger Vater aber Hentschel war.18 1933 folgte das Wannaer Programm, das die staatliche Bereitstellung von Düngemittel für 20 Hektar große Ackerflächen vorschlug. Die zur Bewirtschaftung der Felder nötigen Hilfskräfte sollten „junge Menschen deutscher Herkunft“ sein, die zuvor eine „rassenhygienische Bewertung“ bestanden hatten.19 Ziele des Programms waren die Senkung der Arbeitslosenzahlen, Rückführung des deutschen Volkes zur Agrarwirtschaft, Begrenzung der Auslandsverschuldung und Aufhebung der Geldwährung. Wie sich anhand der letzten Mittgart-Blätter zeigte, schwanden Hentschels anfänglich großen Hoffnungen schnell, seine Programme mit Hilfe der Nationalsozialisten verwirklichen zu können. Seine NSDAP Parteimitgliedschaft (Nr. 144.649) vom 1. August 1929 hatte er, laut Meldung des NSDAP-Gaues Osthannover, bereits wieder im Dezember 1932 aufgegeben.20

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Aus seinen Tagebuchaufzeichnungen geht allerdings hervor, dass Hentschel auch in den folgenden Jahren nicht von seiner Utopie abließ, die er – trotz breiter Kritik selbst aus völkischen Kreisen – weiterhin verteidigte.21 Im Zweiten Weltkrieg, mittlerweile bei seiner ältesten Tochter Hellen in Leoni am Starnberger See wohnend, arbeitete er in der Regensburger Fabrik seines Schwiegersohnes Wilhelm Krankenhagen und entwickelte dort einen Rückstoßmotor für Fahrzeuge jeder Art, der allerdings auf dem Transport nach Berlin zerstört worden sein soll.22 Unmittelbar nach Kriegsende veröffentlichte er 1945 seine Kulturgeschichte der „Normannen, Kelten, Thraker und Wir. Im Rahmen des Weltganzen“. Am 2. Februar 1947 starb Willibald Hentschel, zwei Wochen nach seiner Frau Hellen. Neben bekannten Mittgart-Jüngern wie Karl Zoubek (Konrad), Kurt Gerlach, Martin Otto Johannes (Rädlein) oder Erich Mathes hatte Hentschel zahlreiche überzeugte Anhänger. Sein Lehrer Haeckel etwa teilte die „Ansichten über die ‚RassenHygiene‘“, war aber bei „seiner rein theoretischen Begabung – leider! – nicht im Stande, dieselbe[n] praktisch zu fördern!“.23 Doch er hoffte, „daß trotz aller Schwierigkeiten“ Hentschels „gesunde auf richtiger biologischer Basis ruhenden Bemühungen den verdienten Erfolg erreichen“ werden.24 Ebenso fand er Bewunderer in Erich Ludendorff, der noch 1927 Varuna „große Aufgabe“ am deutschen Volk prophezeite,25 und Adolf Hitler, der dem diamantenen Ehepaar Hentschel – trotz Parteiaustritt – 1941 noch handschriftlich gratulierte. In der Forschung wird die Ansicht vertreten, dass Hentschels symbolreiches Vermächtnis an die NS-Bewegung neben dem völkisch-rassistischen Gedankengut, wie es sich schließlich auch im Lebensborn e.V. äußerte,26 vor allem in der Durchsetzung des von ihm initiierten Heil-Grußes bestand.27

Gregor Pelger

1 Auch nach seiner Hinwendung zur Biologie befasste sich Hentschel mit Fragen der Chemie und Physik. Er veröffentlichte Werke über Radioaktivität (Ein naturphilosophisches Problem, Leipzig 1889; Ein naturwissenschaftliches Problem. Über die Umkehrbarkeit radioaktiver Vorgänge im Weltraum, Leipzig 1925) und legte Einsteins Relativitätstheorie im Sinne seiner rassischen Weltordnung aus (Das Relativitätsprinzip im Rahmen einer Gesamtsicht von Welt und Mensch, Leipzig 1921). 2 Privatnachlass Willibald Hentschel im Besitz der Nachkommen Familie Schwaab (nachfolgend Bestand Schwaab). 3 Vgl. Dieter Löwenberg, Willibald Hentschel (1858–1947). Seine Pläne zur Menschenzüchtung, sein Biologismus und Antisemitismus, Mainz 1978, S. 1ff. 4 Bestand Schwaab, Willibald an Hellen Hentschel vom 19.9.1885. 5 Ebd., Willibald an Hellen Hentschel vom 8.11.1885. 6 Sein Buch „Vom aufsteigenden Leben. Ziele der Rassenhygiene“, Leipzig 1910, publizierte er in Teilen im Hammer. 7 Vgl. Willibald Hentschel, Wie der „Hammer“ entstand, in: Festschrift zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Hammer. Den Mitstreitern zugeeignet, Leipzig 1926, S. 58–63, 61. 8 Vgl. ders., Vom Vormenschen zum Indogermanen. Gedanken über Menschwerdung und Rassebildung, Leipzig 1925.

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9 Vgl. Ernst Haeckel, Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie, Stuttgart o. J.; ders., Die Lebenswunder. Gemeinverständliche Studien über Biologische Philosophie. Ergänzungsband zu dem Buche über die Welträtsel, Stuttgart o. J. Zu „Varuna“ ausführlich vgl. Julian Köck, „Die Geschichte hat immer Recht“. Die völkische Bewegung im Spiegel ihrer Geschichtsbilder, Frankfurt a. M. 2015, S. 248–282. 10 Annonce, in: Hammer 2 vom 1.3.1903. 11 Willibald Hentschel, Varuna. Eine Welt- und Geschichts-Betrachtung vom Standpunkt des Ariers, Leipzig 1901, S. 13. 12 Ders., Varuna. Das Gesetz des aufsteigenden und sinkenden Lebens in der Geschichte, Leipzig 1907, S. 419. 13 Zu „Mittgart“ ausführlich siehe Uwe Puschner, Mittgart – Eine völkische Utopie, in: Klaus Geus (Hg.), Utopien, Zukunftsvorstellungen, Gedankenexperimente. Literarische Konzepte von einer „anderen“ Welt im abendländischen Denken von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2011, S. 155–185. 14 Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001, S. 163, 189; Ulrich Linse, Völkisch-rassische Siedlung der Lebensreform, in: Uwe Puschner (Hg. u.a.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1999, S. 397– 410, 402. 15 Johann Ohneland, Niegard und das Chinesenprogramm, in: Hammer 22 (1923), S. 442ff., 442f. 16 Willibald Hentschel, Was soll nun aus uns werden? In: Blätter aus Niegard, Nebelung [November] 1923, S. 7–11, 10. 17 Ders., Varuna. Das Gesetz des aufsteigenden und sinkenden Lebens in der Völkergeschichte. 3. Teil. Das Deutschtum, sein Werden, seine Not und seine zukünftigen Sicherungen, Leipzig 1925, S. 154. 18 Vgl. Peter E. Becker, Zur Geschichte der Rassenhygiene, Stuttgart 1988, S. 219–276, 253ff. Hier auch das Briefzitat. Vgl. Rudolf Linke, Willibald Hentschel und der Artam-Gedanke (Sonderdruck aus dem „Hammer“ Nr. 579 vom 1.8.1926). Vgl. auch Stefan Brauckmann, Die Artamanen als völkisch-nationalistische Gruppierung innerhalb der deutschen Jugendbewegung 1924–1935, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 2 (2005), S. 176–196; Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008, S. 218–221. 19 Hentschel, Zur Gesundung unseres Wirtschafts- und Volkskörpers. (Wannaer Programm), Westerwanna 1933, S. 3. 20 BArch, BDC (Willibald Hentschel), NSDAP-Mitgliederkartei. 21 Vgl. Löwenberg, Willibald Hentschel, S. 74ff.; Puschner, Die völkische Bewegung, S. 191ff.; zuletzt ders., Völkische Intellektuelle? Das Beispiel Willibald Hentschel, in: Richard Faber/Uwe Puschner (Hg.), Intellektuelle und Antiintellektuelle im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2013, S. 145–163. 22 Vgl. Löwenberg, Willibald Hentschel, S. 5. Offenbar existierte der Motor aber gar nicht. 23 Bestand Schwaab, Haeckel an Hentschel vom 11.1.1911. 24 Ebd., Haeckel an Hentschel vom 1.5.1911. 25 Ebd., Ludendorff an Hentschel vom 21.8.1927. 26 Becker, Zur Geschichte der Rassenhygiene, S. 271ff. 27 Vgl. Puschner, Die völkische Bewegung, S. 188.

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Johann Gottfried Herder Johann Gottfried (von) Herder (1744–1803; 1802 geadelt) war der wohl einflussreichste Vordenker des deutschen Nationalismus und zugleich einer der wichtigsten deutschen Aufklärer und ein bedeutender, in seiner Zeit sehr erfolgreicher Schriftsteller. Da seine Metaphorik stark organologisch geprägt war und die Muttersprache das wichtigste Kriterium für die Zugehörigkeit zu einem Volk war, ist er auch einer der Urheber völkischen Denkens, obwohl derartige Fragen keineswegs im Mittelpunkt seines vielfältigen Œuvres standen. Viele Völkische des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts haben sich auf seinen ethnisch-kulturellen Volksbegriff bezogen und sein Denken radikalisiert, oft auf der Basis weniger Stellen und unter Vernachlässigung der aufklärerischen Grundtendenz seiner Veröffentlichungen. Herder stammte aus einem pietistischen Elternhaus in Ostpreußen (sein Vater war Lehrer und Kantor), das dem hoch begabten Sohn eine solide Schulbildung zuteil werden ließ.1 1762 verließ er seine Vaterstadt Mohrungen in Richtung Königsberg, um dort zu studieren. Er gehörte zu den Schülern Immanuel Kants, bei dem er das gesamte Spektrum seiner Lehrveranstaltungen – von Naturwissenschaften bis zur Philosophie – besuchte. Er lobte zeitlebens die Anregungen, die er bei Kant erhielt, der nicht nur ein „wahrer Lehrer der Humanität“ gewesen sei, sondern bei seinen Schülern das „eigen Denken“ gefördert habe. Auf dieser Basis entwickelte er aus der Kritik an Kants abstrakter Philosophie und 25 Jahre vor der Französischen Revolution einen zentralen Gedanken, der sein ganzes Œuvre durchzieht, aber vor allem für seine Fundierung eines deutschen Nationalismus wichtig war: dass die Muttersprache das Denken präge und die Grundlage des jeweiligen „Nationalcharakters“2 bilde. Seine erste Anstellung erhielt Herder 1764 als Lehrer an der Domschule in Riga, der Hauptstadt der damaligen Republik Livland; 1765 stellten ihn außerdem zwei Rigaer Kirchengemeinden als Hilfspfarrer ein. In diese Zeit fielen auch die ersten Aufsehen erregenden Publikationen des 20-jährigen. In Literaturkritiken bettete er Dichtung in ihren sozialen und historischen Kontext ein und entwickelte seine Leitidee, dass für jedes Volk eine spezifische literarische Ausdrucksweise typisch sei, die mit der „Volkssprache“, populären Märchen, Mythen und Traditionen sowie mit der Landesnatur und den politisch-sozialen Verhältnissen zusammen hänge. „Volk“ bezeichnete in der politischen Sprache bis ins späte 18. Jahrhundert hinein die Unterschichten, mit in der Regel pejorativen Konnotationen.3 Herder definierte Volk und Nation nun grundlegend neu und wertete „Volk“ und daraus abgeleitete Komposita, vielfach Neuschöpfungen wie „Volksgeist“ oder „Volkscharakter“, grundsätzlich positiv und als fundamentales Potenzial, auf das sowohl eine angemessene politische Ordnung als auch die literarisch-ästhetische Hochkultur aufbauen müssten. Herders Neukonzeption wurde nicht nur für den deutschen Sprachraum prägend, sondern wirkte weit darüber hinaus. Vor allem süd- und osteuropäische Nationalisten bezogen sich immer wieder auf Herder. Seine Theorie besagt, dass Poesie

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und Sprache ein Volk und eine Nation erst als spirituelle Gemeinschaft konstituieren, dass sie den Gleichklang innerer Werte erzeugen, der die Nation ausmache. Herder zufolge erwarb man die Volkszugehörigkeit mit der Muttersprache, also in einem frühen Stadium der individuellen Entwicklung. Vor dem Hintergrund der Gleichsetzung und Aufwertung von Ursprünglichkeit und Natürlichkeit wurde Volkszugehörigkeit damit zu einer quasinatürlichen, positiven Eigenschaft, derer man sich kaum entäußern konnte. 1769 verließ Herder Riga, um sich auf eine Bildungsreise zu begeben, die ihn durch die Ost- und Nordsee bis nach Nantes brachte.4 Dort erreichte ihn das Angebot des Erbprinzen von Holstein-Gottorf, ihn auf einer Bildungsreise zu begleiten, die ihn von Hamburg nach Darmstadt, wo er seine Ehefrau Caroline (Heirat 1773) kennen lernte, und weiter nach Straßburg führte. Auf diesen Reisen begegnete der vielseitig talentierte und interessierte Kantschüler den führenden Intellektuellen seiner Zeit (wie Spinoza, Lessing, Goethe, Claudius) und diskutierte mit ihnen. Seine anthropologischen und philosophischen Theorien zur Entstehung der menschlichen Sprache(n) und ihrer kulturellen Bedeutung fasste er 1770 in einer Abhandlung „Über den Ursprung der Sprache“ zusammen. Einerseits wandte er sich darin gegen religiöse Theorien vom göttlichen Ursprung der Sprache. Andererseits kritisierte er die schematische Gegenüberstellung von tierischer Natur und menschlicher Vernunft, die das aufklärerische Denken bestimmte. Die Entstehung der Sprache leitete Herder vielmehr dialektisch aus organischen Dispositionen des Menschen und aus dem geselligen Zusammenleben ab. Er nahm damit nicht nur Evolutionstheorien vorweg, sondern positionierte sich jenseits beider dominanter Welterklärungsmodelle – des religiösen wie des aufklärerischen. Dies machte ihn zum philosophischen Kopf des damals entstehenden, autoritätskritischen „Sturm und Drang“, der an die „Stimme des Herzens“ und „die Natur“ als Gegenkräfte zur aufklärerischen Vernunft erinnerte. In der von Goethe herausgegebenen Programmschrift der neuen literarisch-politisch-kulturellen Strömung „Von deutscher Art und Kunst“ (1773) plädierte Herder unter anderem für die systematische Sammlung von „Volkslieder[n], Provinziallieder[n], Bauerlieder[n] […] auf Straßen, und Gassen und Fischmärkten“, deren „Lebhaftigkeit und Rhythmus, und Naivetät und Stärke der Sprache“ er rühmte.5 Diese Auffassung bedeutete einen revolutionären Bruch mit den literarischen Konventionen seiner Zeit, indem sie das einfache Volk zum ästhetischen Maßstab erklärte. Graf Wilhelm von Schaumburg-Lippe wollte seinen Hof mit dem Aufsehen erregenden Starintellektuellen (als Nachfolger Thomas Abbts) schmücken und berief Herder 1771 als Oberprediger und Konsistorialrat nach Bückeburg. Das feste Gehalt ermöglichte ihm zwar die Heirat. Er fand Muße für zahlreiche weitere theologische, philosophische und ästhetische Publikationen – darunter sein frühes Hauptwerk „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ (1774). Mit der Gräfin Maria verband Herder eine intellektuelle Freundschaft, was aber sein Verhältnis zum autoritären Grafen Wilhelm belastete, in Johann Christoph Bach fand er

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einen ästhetisch kongenialen Freund. Nach dem Tod der Gräfin 1776 wurde Herder das Residenzstädtchen dennoch zu eng, und er folgte erfreut der von Goethe veranlassten Berufung nach Weimar zum Generalsuperintendenten, wo Herder zusammen mit Wieland, Goethe und Schiller zum Leitstern der „Weimarer Klassik“ wurde. Das Œuvre Herders ist sehr heterogen, und Herder hat seine Vorstellungen über die deutsche Nationsbildung nie systematisch entwickelt. Einige Auszüge aus Herders Werken, in denen an verschiedenen Stellen seine Ideen zu Volk und Sprache entwickelt werden, sollen dennoch veranschaulichen, warum er am Anfang eines völkischen, d.h. ethnisch-kulturellen „objektiven“, auf der Vorstellung vom Volk als Abstammungsgemeinschaft beruhenden Nationalismus6 und der Suche nach „wissenschaftlichen“ Argumenten für diese Perspektive auf die Gesellschaft stand: „Die Natur hat Völker durch Sprache, Sitten, Gebräuche, oft durch Berge, Meere, Ströme und Wüsten getrennt. […] Die Verschiedenheit der Sprachen, Sitten, Neigungen und Lebensweisen sollte ein Riegel gegen die anmaßende Verkettung der Völker, ein Damm gegen fremde Überschwemmungen werden: denn dem Haushalter der Welt war daran gelegen, daß zur Sicherheit des Ganzen jedes Volk und Geschlecht sein Gepräge, seinen Charakter erhielt. Völker sollten neben einander, nicht durch- und übereinander drückend wohnen. […] Wer in derselben Sprache erzogen ward, wer sein Herz in sie schütten, seine Seele in ihr ausdrücken lernte, der gehört zum Volk dieser Sprache. […] Nicht der Schriftsteller gehöret zu diesem Publicum allein, sondern auch der mündliche Unterweiser, der Gesetzgeber, der Feldherr, der Redner, der Ordner. Mittelst der Sprache wird eine Nation erzogen und gebildet: mittelst der Sprache wird sie Ordnung- und Ehrliebend, folgsam, gesittet, umganglich, berühmt, fleißig und mächtig. Wer die Sprache seiner Nation verachtet, entehrt ihr edelstes Publicum; er wird ihres Geistes, ihres inneren und äußeren Ruhms, ihrer Erfindungen, ihrer feineren Sittlichkeit gefährlichster Mörder.“7 „Nationalism! Das Vorurteil ist gut, zu seiner Zeit: denn es macht glücklich. Es drängt Völker zu ihrem Mittelpunkte zusammen, macht sie fester auf ihrem Stamme, blühender in ihrer Art, brünstiger in ihren Neigungen und Zwecken. Die unwissendste, vorurteilendste Nation ist in solchem Betracht oft die erste: das Zeitalter fremder Wunschwanderungen und ausländischer Hoffnungsfahrten ist schon Krankheit, Blähung, ungesunde Fülle, Ahndung des Todes.“8 Herder steht am Anfang einer folgenreichen Ontologisierung und Biologisierung und damit zugleich der Entpolitisierung des Volksbegriffs: Herder schrieb über Völker am liebsten in organologischen Metaphern, ließ sie „wie Gewächse“ wachsen und schrieb ihnen menschliche Eigenschaften wie Gesinnung, Geist und Seele zu. Diese Bildsprache implizierte, dass die Abgrenzung von Völkern gegeneinander möglich, ja dass sie sogar notwendig sei für eine günstige Entwicklung des „Volkskörpers“. Die Natur habe die Völker durch Sprache, Sitten und Gebräuche getrennt. Die Vermischung von Völkern war seit Herder negativ konnotiert.9 Die Abgrenzung von Völkern über ihre Sprache und damit, anders als in der französischen und amerikanischen Revolution, nicht über historische oder politi-

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sche Kategorien (zum Beispiel territoriale Grenzen oder Staatsbürgerschaft), sowie die organologische Metaphorik führten zu ethnischer Exklusion, zu einer negativen Bewertung der Völkermischung und zu Xenophobie (Angst vor dem „Fremden“). Herders Ideal einer getrennten Entwicklung der Nationen stieß unter den deutschen Intellektuellen um 1800 auf große Resonanz. Der vielfache Appell nicht allein deutscher Nationalisten, die europäischen Völker gegeneinander abzuschotten, kann interpretiert werden als der Versuch, der zunehmenden Mobilität und sozialen Differenzierung, die zur Auflösung älterer gesellschaftlicher Bindungen führte, durch neue Inklusionscodes entgegenzuwirken. Im deutschen Sprachraum gab es, anders als in Westeuropa, keine Staatlichkeit, die in einen Nationalstaat umdefiniert werden konnte. Es existierten auch sonst keine massenwirksamen Identifikationsangebote (wie etwa eine Revolution), auf die etwa ein Verfassungspatriotismus oder politischer (subjektiver) Nationalismus sich hätten beziehen können.10 Deshalb boten sich hier vor allem Sprache und Abstammung als wirksame Inklusionscodes an. Auch die religiöse Aufladung der Nationalität, also der Beginn der Verwandlung des deutschen Nationalismus in eine moderne politische Religion, ist bereits bei Herder angelegt. Indem er das Wort Religion etymologisch (falsch) ableitete von lateinisch „religare“ (an- oder zurückbinden) stellte er fest: „Wer sich seiner Nation und seiner Sprache schämt, hat die Religion seines Volks, also das Band zerrissen, das ihn an die Nation knüpfet“. Diese Sichtweise lief ebenso auf Exklusion hinaus wie die Definition der Volkszugehörigkeit über die Muttersprache. Sie richtete sich tendenziell gegen Katholiken und Juden. Denn Herder fuhr fort: Wer sich mit dem Vaterland identifiziere, setze „das Werk Luthers“ fort und fördere „Nationalreligion im engsten Sinne des Wortes“.11 Herders Zielvorstellung war eine deutsche Nationalkirche auf der Basis der Reformation. Wie durch ihre Sprachen sollten die Völker auch durch eine je eigene Religion separiert werden. Beide zusammen machten den „Nationalcharakter“ aus. Viele Ideen Herders und der Romantiker wurden vom späteren nationalistischen Diskurs in einer Weise politisiert, die ihren Intentionen wahrscheinlich widersprach. Jedenfalls konnte sich Herder gegen die Vereinnahmung durch rechtsextremistische Völkische nicht mehr wehren. Und bis heute ist die Deutung Herders als Vorläufer völkischen Denkens umstritten.12

Christian Jansen

1 Der folgende biografische Abriss basiert auf den Artikeln in der Neuen Deutschen Biographie sowie in Wikipedia (25.8.2016); weiterführend: Michael Maurer, Johann Gottfried Herder. Leben und Werk, Köln 2014. Zum Kontext siehe Christian Jansen, The Formation of German nationalism (1750–1850), in: Helmut Walser Smith (ed.), Oxford Handbook of Modern German History, Oxford 2011, S. 234–259; Christian Jansen/Henning Borggräfe, Nation – Nationalität – Nationalismus, Frankfurt a.M. 2007, S. 33–81.

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2 Dieser einflussreiche Schlüsselbegriff findet sich bereits 1764 in „Über den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen“. 3 Vgl. Reinhart Koselleck u.a., „Volk, Nation, Nationalismus, Masse“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 315, mit zahlreichen Hinweisen und Belegen. 4 Sein faszinierendes „Journal meiner Reise im Jahre 1769“, das zahlreiche Essays und Konzepte zu politischen, philosophischen und pädagogischen Fragen enthält, wurde erst postum veröffentlicht. 5 Johann Gottfried Herder, Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker, in: Von deutscher Art und Kunst, Neuauflage Stuttgart 1999, S. 7–62, 43. Herders proto-völkische Begeisterung stieß aber bereits unter aufgeklärten Zeitgenossen auf Spott. So ging Wieland wie Herder davon aus, dass „jede Nation ihre ursprüngliche, von der Natur allein hervorgebrachte Poesie“ gehabt habe, aber: „Unsre Verfassung, unsre Lebensart, unsre Sitten, unser ganzer Zustand ist, Dank sey dem Himmel! so sehr von dem verschieden, was unsre Vorfahren zur Zeit der Barden waren, dass kaum ein gewisseres Mittel wäre, unsre Poesie unbrauchbar und lächerlich zu machen“, als sie an bardischen oder ähnlichen Maximen zu orientieren. „Warum sollten wir unsre Modelle nicht lieber von einer Nation herholen, in deren Schooße jede edle und schöne Kunst, die den Menschen in den Besitz seiner Vorrechte über Thiere setzt, bis zur Vollkommenheit getrieben wurde? Sind die Griechen nicht die Lehrmeister aller übrigen polizirten Völker der ganzen Welt gewesen?“ (Christoph Martin Wieland, „National-Poesie“ (1773), in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 35, Leipzig 1858, S. 329). 6 Zur Begrifflichkeit vgl. Jansen/Borggräfe, Nation – Nationalität – Nationalismus, S. 12f. 7 Johann Gottfried Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität [1793–97], in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. 17/18, Hildesheim [Reprint] 1967, S. 235f. und 287. 8 Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit [1774], Stuttgart 1990, S. 36. 9 Ähnlich Friedrich Schlegel, Philosophische Vorlesungen (1806): es sei ein „Gebot der Natur“, daß die Menschen „streng abgesondert“ als Nationen lebten. Die Ablehnung der „Vermischung mit fremdem Blut“ findet sich bei zahlreichen nationalistischen Vordenkern, etwa bei Ernst Moritz Arndt (Über Volkshaß und über den Gebrauch einer fremden Sprache, Leipzig 1813) oder Carl Rotteck, Allgemeine Geschichte, Freiburg 1812–26, Bd. 3, 121f. (zitiert nach Jörg Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840), Frankfurt a.M. 1998, S. 322). 10 Zur Begrifflichkeit vgl. Jansen/Borggräfe, Nation – Nationalität – Nationalismus, S. 11f. 11 Johann Gottfried Herder, Über National-Religionen [1802], in: Adrastea 4 (1802), S. 117. Die falsche Etymologie von„Religion“ ist sehr verbreitet und geht auf Cicero zurück. 12 Vgl. etwa Stefan Greif (Hg. u.a.), Herder Handbuch, Paderborn 2016, S. 671–677.

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Hans Hirsch Dem Historiker Hans Hirsch kommt in der methodischen Innovation der deutschsprachigen Mediävistik und Rechtsgeschichte der Zwischenkriegszeit eine bedeutende Rolle zu.1 Er kann als einer der wichtigsten Begründer und Wegbereiter der modernen Urkundenforschung im Sinne seines Schülers Heinrich Fichtenau gelten, die urkundliche Quellen mit klassisch-diplomatischen Instrumentarien analysiert, aber über den hilfswissenschaftlichen Aspekt hinaus konsequent zur Erforschung weitergespannter allgemeinhistorischer (beziehungsweise rechtsgeschichtlicher oder auch mentalitätsgeschichtlicher) Zusammenhänge heranzieht. Hirsch verknüpfte dabei in wirkmächtiger Weise die Tradition der Urkundenlehre Theodor von Sickels mit dem rechtsgeschichtlichen Ansatz Julius von Fickers. Seine schriftlichen Arbeiten, auf der soliden Basis hilfswissenschaftlicher Kompetenz stehend, stellen deshalb meist dichte Studien zu (deutscher) Rechts- und Verfassungsgeschichte, Diplomatik und Kaiser- beziehungsweise Reichsgeschichte vor allem des hohen Mittelalters dar.2 Durch ein weitverzweigtes Netzwerk, das sich um seine Person in Österreich, Deutschland, der Schweiz und der Tschechoslowakei gruppierte (zu Hirschs Kollegen und Freunden zählten etwa Edmund E. Stengel, →Hermann Aubin, →Erich Gierach und →Albert Brackmann), nahm Hirsch in den 1920er und 1930er Jahren wesentlichen Einfluss auf zahlreiche Berufungsentscheidungen mediävistischer und hilfswissenschaftlicher, aber auch anderer historischer Lehrstühle. Hirsch, der einer (auch völkisch interpretierten) mittelalterlichen Reichsideologie anhing, nahm als „gesamtdeutscher“ Historiker zwar selbst nicht durch Publikationen am Diskurs der „Volkstumsforschung“ und „Volksgeschichte“ teil, galt aber mit einschlägiger Vortragstätigkeit als Experte für das „Auslands-“, vor allem das „Sudetendeutschtum“. Zwischen 1934 und 1939 leitete er als Nachfolger Hugo Hassingers und Vorgänger des von ihm besonders geschätzten und geförderten →Otto Brunner die →Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft und trug zur „Volksgeschichte“ zwar kaum als aktiv Forschender, aber als einer der wichtigsten Wissenschaftsorganisatoren bei. Hans Hirsch wurde am 27. Dezember 1878 in der niederösterreichischen Kleinstadt Zwettl geboren. 1897 nahm er das Studium der Geschichte (und Kunstgeschichte) an der Universität Wien auf und absolvierte von 1899 bis 1901 zusammen mit Wilhelm Bauer und →Heinrich von Srbik den Ausbildungslehrgang am Institut für Österreichische Geschichtsforschung. Als Schüler Engelbert Mühlbachers wurde er nach der mit der höchsten Auszeichnung („sub auspiciis imperatoris“) erfolgten Promotion 1903 Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica in Berlin und Wien, 1908 habilitierte er sich als Privatdozent für Geschichte des Mittelalters und historische Hilfswissenschaften in Wien, 1913 wurde er zum a.o. Prof. ernannt. 1918 folgte er dem Ruf als Ordinarius für die genannten Fächer an der Deutschen Universität Prag, wo er in tagespolitisch konnotierten Lehrveranstaltungen und Vorträgen im Sinne des deutschen „Volkstumskampfs“ Stellung bezog. In Prag förderte Hirsch

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dauerhaft vor allem seinen Lieblingsschüler →Josef Pfitzner. Im Rahmen der philosophischen Fakultät der Deutschen Universität, der er während des angefeindeten Rektorats Samuel Steinherz’ als Dekan vorstand, gehörte er – zusammen mit dem befreundeten Altgermanisten Erich Gierach, später Hirschs wichtigste Prager Kontaktperson für die Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft – dem kämpferischen völkischen beziehungsweise „arischen“ Lager (Selbstbezeichnung nach Pfitzner) an.3 1926 kehrte Hirsch nach Wien auf den Lehrstuhl Emil von Ottenthals zurück und übernahm 1929 von Oswald Redlich auch die Leitung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (damals: Österreichisches Institut für Geschichtsforschung). Seiner in den allgemeinhistorischen Lehrveranstaltungen in Prag und Wien geäußerten weltanschaulichen und wissenschaftlich-paradigmatischen Position (eine „gesamtdeutsche“ Geschichtsauffassung und eine romantische Amalgamierung von staufischer Reichsidee, völkischen Elementen und einem überkonfessionellen Christentum, mitunter ansatzweise zum Umriss einer erneuerten Lebensordnung und Kultur der „Gotik“ stilisiert) schlossen sich Schüler unterschiedlicher ideologischer Orientierung an. Bei verschiedener bündischer oder parteilicher Zugehörigkeit – Wandervögel, Neuländer, Sozialisten, (illegale) Nationalsozialisten – fühlten sich vor allem im weiteren Sinn „Jugendbewegte“ und „Katholisch-Nationale“ von Hirsch angezogen, der durchwegs als blendender Vortragender und charismatischer Lehrender geschildert wird. Seinen nach dem Verbot der Nationalsozialistischen Partei und dem missglückten Juli-Putsch 1934 in Österreich von Verhaftung und Internierung bedrohten Schülern und Mitarbeitern verhalf Hirsch zu Anstellungen im Deutschen Reich. Während etwa sein Wiener Lieblingsschüler Walter Wache illegaler Nationalsozialist und SS-Angehöriger war, förderte der persönlich antisemitische Hirsch andererseits – teils auch gegen den Widerstand seiner Kollegen – den fachlich ausgezeichneten, aus einer jüdischen Familie stammenden Gerhart B. Ladner. Die Leitung der Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft benützte Hirsch ebenso als Kommunikationsplattform für bereits arrivierte „Volkstumsforscher“ wie teilweise als Sprungbrett für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Die Einrichtung des von den deutschen Akademien und der Akademie der Wissenschaften in Wien 1934 gemeinsam geplanten Editionsunternehmens „Die Deutschen Inschriften“ auf Initiative des völkischen Heidelberger Altgermanisten Friedrich Panzer unterstützte er im Sinne der deutschen „Volksboden“- und „Kulturbodenforschung“ lebhaft. Parallel zu den Intentionen der Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft wollte Hirsch 1938/39 im Rahmen der „Deutschen Inschriften“ Siebenbürgen bearbeiten lassen. Den „Anschluß“ Österreichs an das Deutsche Reich hat Hirsch stets herbeigesehnt und dem politischen Ziel im Rahmen der Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft auch zugearbeitet. Eine parteipolitische Hinwendung zum Nationalsozialismus hat der am 20. August 1940 Frühverstorbene jedoch nicht mehr ganz voll-

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zogen. Sein Ende 1938 gestellter Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP wurde offenbar verschleppt und die Angelegenheit zu Lebzeiten des Anwärters nicht mehr zum Abschluss gebracht. Motiv für den opportunistischen Antrag dürfte der Wunsch des Wiener Rektors Fritz Knoll gewesen sein, Hirsch sollte als zukünftiger Prorektor der Universität (ab April 1939) Parteigenosse sein. An der Wiener Akademie der Wissenschaften war Hirsch bereits 1938, bald nach dem „Anschluß“, als Sekretär der philosophisch-historischen Klasse dem vormaligen Amtsinhaber und neuen Präsidenten Heinrich von Srbik nachgefolgt. In seinen gedruckten Arbeiten blieb Hirsch fast durchwegs dem Stil nüchterner (hilfs-)wissenschaftlicher Fachprosa verpflichtet. Eine Kennzeichnung seiner weltanschaulichen und politischen Standpunkte findet sich kaum explizit ausgedrückt, mitunter verweisen jedoch programmatische Einleitungs- oder Schlussabsätze in außerwissenschaftliche Zusammenhänge: „Das Beispiel, das Otto der Große gegeben hat, wird vielleicht nicht hinsichtlich der Staatsform, aber sicher hinsichtlich der Ausdehnung des Reiches vorbildlich bleiben müssen, solange es überhaupt ein deutsches Volk gibt. In dem Deutschland der Zukunft wird dann das mittelalterliche Kaisertum von jedem Gebildeten hoch in Ehren gehalten werden können. Es wird, nicht allein in dem Sinne, in dem es selbst ein sacrum Imperium zu sein angegeben hat, sondern sicher auch in unserem und damit höherem Sinne als h e i l i g [Sperrung im Original, Anm. AZ] verehrt werden dürfen“.4

Andreas Zajic

1 Mit der Person und dem Werk Hirschs hat sich der Verfasser an anderer Stelle ausführlich beschäftigt: Andreas Zajic, Hans Hirsch (1878–1940). Historiker und Wissenschaftsorganisator zwischen Urkunden- und Volkstumsforschung, in: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, Wien u.a. 2008, S. 307–417. 2 Vgl. Hans Hirsch, Die Klosterimmunität seit dem Investiturstreit. Untersuchungen zur Verfassungsgeschichte des deutschen Reiches und der deutschen Kirche, Weimar 1913, Köln 19672, und ders., Die hohe Gerichtsbarkeit im deutschen Mittelalter, Reichenberg 1922, Graz 19582. 3 Pavel Kolář, Die Geschichtswissenschaft an der Deutschen Universität Prag 1882–1938: Entwicklung der Lehrkanzeln und Institutionalisierung unter zwei Regimen, in: Hans Lemberg (Hg.), Universitäten in nationaler Konkurrenz. Zur Geschichte der Prager Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert, München 2003, S. 85–114, 106ff., und Pavel Kolář, Eine Brutstätte der Volksgeschichte? Überlegungen zur Geschichte der Prager deutschsprachigen Geschichtswissenschaft, in: Christiane Brenner (Hg. u.a.), Geschichtsschreibung zu den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert. Wissenschaftstraditionen – Institutionen – Diskurse, München 2006, S. 109–135, 109f. 4 Hans Hirsch, Der mittelalterliche Kaisergedanke in den liturgischen Gebeten, in: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 44 (1933) S. 1–20, 20.

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Hugo Höppener Hugo Reinhard Karl Johann Höppener, bekannt unter dem Künstlernamen Fidus, wurde am 8. Oktober 1868 in Lübeck als zweiter Sohn des Konditors Julius Höppener geboren. Ab dem zehnten Lebensjahr erhielt er einmal wöchentlich Zeichenunterricht durch eine Lehrerin. Mit zwölf Jahren wurde er in die Schülerklasse der Gewerbeschule aufgenommen. 1887 verließ er dann Lübeck, um in München Malerei zu studieren, und wurde am 30. April in der Vorschule der Bildenden Künste aufgenommen. Schon drei Monate später unterbrach er dieses Studium und wurde Schüler des Malers Karl Wilhelm Diefenbach im Isartal. Der Lebensreformer Diefenbach, der für Höppener schnell zu einem Mentor wurde, war es denn auch, der ihm den Namen „Fidus“ – der Getreue – gab. Diesen Namen behielt Höppener auch nach der Trennung von Diefenbach bei und wurde unter ihm berühmt.1 Es war zum Bruch zwischen Meister und Schüler gekommen, nachdem Diefenbach bei einer gemeinsam organisierten Ausstellung „eigentlich garnichts“ verkaufen konnte.2 Im Herbst 1889 nahm Höppener sein Studium in München wieder auf und traf auf Wilhelm Hübbe-Schleiden, der ihn in die Theosophie einführte. Mit diesem siedelte er 1892 nach Berlin-Steglitz über und wurde Mitglied der Theosophischen Gesellschaft. Er lernte Dichter und Schriftsteller wie Rainer Maria Rilke oder Bruno Wille kennen. 1893 ermöglichte ihm Justus Brinckmann die erste Ausstellung seiner Werke im Kunstgewerbe-Museum Hamburg.3 Zur Zeit der Jahrhundertwende war Höppener einer der populärsten Zeichner Deutschlands geworden. Bekannt wurde er vor allem durch seinen Buchschmuck und die rege Mitarbeit an den Kunstzeitschriften „Pan“, „Jugend“ und „Simplicissimus“. Diese Arbeiten trafen den damaligen Massengeschmack; es handelt sich dabei vornehmlich um Akte von Männern, Frauen und Kindern, die sich der Kunstgattung Jugendstil zuordnen lassen. Weniger bekannt sind seine Architekturentwürfe zu monumentalen Tempelbauten, die zwar prinzipiell durchaus realisierbar wären, aber nie einen Investor gefunden haben.4 Höppener bewegte sich in einem Netzwerk aus künstlerisch, lebensreformerisch und neureligiös orientierten Personen. In diesem sozialen Umfeld mischten sich – zumindest bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges – sowohl linke als auch rechte Strömungen.5 Nachweisbar sind in diesem Kontext Mitgliedschaften Höppeners in der Theosophischen Vereinigung, der Richard-Wagner-Gesellschaft, dem Verein für Körperkultur und schließlich der Germanischen Glaubens-Gemeinschaft (GGG), welche durch den mit ihm befreundeten Künstlerkollegen Ludwig Fahrenkrog gegründet wurde.6 In der Phase zwischen den beiden Weltkriegen skizzierte Höppener in diversen Publikationen ein Weltbild, welches Elemente aus diesen Ideenkomplexen kombiniert. Maßgeblich war für ihn ein ästhetisches Ideal, welches den christlich geprägten Vorstellungen von Scham und Schuld ein positives Verhältnis des (europäischen) Menschen zu seinem eigenen Körper entgegenstellt. „[Es] mag uns auch als notwendig eingehen, daß bei den großen blonden Völkerstämmen die zwiespäl-

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tige Kirchenlehre dazu verholfen hat, Haudegentum und Bärenhäuterei in Gefühlssinnigkeit und Denkkraft umzuwandeln. Aber, daß die widernatürliche Umkehr aller irdischen Triebe und die daraus gezüchtete Verwahrlosung des Leibes gottebenbildlich und schön gewesen wären, das müssen wir uns abgewöhnen, archäologisch oder frömmelnd nachzubeten.“7 Diese Melange aus „Naturreligion“ und Sakralisierung des Körpers findet bei Höppener sowohl sprachlich als auch künstlerisch in Licht- und Sonnenmetaphern Ausdruck. Beispielhaft für letzteres ist sein bekanntestes Bild, das „Lichtgebet“. Jenes fand vor allem als Postkarte Verbreitung und avancierte zur Ikone der Jugendbewegung und Lebensreform. Seine Briefe unterschrieb er teilweise „mit lichtdeutschem Gruß“. Höppener wurde zur zentralen Figur der Lebensreformbewegung, was sich vor allem in der Mitgliedschaft lebensreformerischer Vereinigungen zwischen 1880 und 1930 niederschlug.8 Zu nennen wären hier der Friedrichshagener Dichterkreis oder die Neue Gemeinschaft, in denen Höppener neben Sozialisten und Anarchisten Mitglied war. Es greift daher zu kurz, Höppeners Weltbild aufgrund seines „germanischen“ Ideals auf eine politisch rechtslastige, völkische Orientierung zu reduzieren. So zog Höppener etwa das Wort „volklich“ – als Analogie zu „kindlich“ – dem Wort „völkisch“ vor, weil es ihm in erster Linie um die lebensreformerische Idee einer neuen Religion ging. Sein Ansatz war nicht biologistisch, sondern spirituell ausgerichtet.9 In seinem Essay „Von neuer Schönheit“ zeichnet er das Bild einer entsprechenden Tradition, in die er sich selbst eingereiht sieht: „Was einst Rousseau erahnte, was unser Goethe, unser Schiller verdichtete, was die Emersons, Ruskins und Whitmans verbreiteten, was Richard Wagner gestaltete, was mein Meister Diefenbach in echt deutscher Zwiespältigkeit und Zerfahrenheit ganz abseits verwirklichen wollte, das erleben wir jetzt in tausend tätigen Anläufen auf allen Pfaden der modernen Kultur: Die Gestaltung des Lebens aus der inneren Wahrhaftigkeit heraus, losgelöst von allen alten Dogmen.“10 Rainer Y konstatiert, es lasse sich ab 1908 ein deutlicher Qualitätsabfall in Höppeners Kunst feststellen, da er häufig nur noch vereinfachte Neufassungen seiner älteren Werke produziert habe. Zudem habe eine Propaganda für sein „kommendes Werk“ die lebensreformerischen und naturmystischen Motive seiner Kunst abgelöst. Unabhängig davon, ob Y mit dieser Einschätzung richtig liegt, hatte Höppener für den Rest seines Lebens mit finanziellen Problemen zu kämpfen, die nur in den 1920er-Jahren etwas abgemildert wurden.11 Wenn Höppener sich als Avantgardist einer neuen Epoche zu präsentieren versuchte, so lässt sich darin durchaus der Versuch sehen, eine Nachfrage für seine eigenen Produkte zu antizipieren. Der dennoch anhaltende wirtschaftliche Misserfolg Höppeners, die schwindende Anerkennung als Künstler und persönliche Enttäuschungen gingen mit einem immer deutlicher werdenden Ressentiment einher. Rückblickend schrieb er, durch „das jüdische System, das in kulturlichen Dingen ja schon seit der Aufhebung des Ghettos begann, wurde mein Wirken möglichst abgedrosselt, weil es boden- und rassetreu, und natürlich-aufartend war.“12

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Nach dem endgültigen Bruch mit seiner jüdischen Partnerin Amalie Reich beklagte er sich: „Es gibt eben auch keine ‚wohlhabenden Freunde‘ mehr, auch nicht, als St. Georgsbund! Und die mir früher halfen, sind, weil sie edle Juden waren, an mir irre geworden, weil ich infolge meiner reinsachlichen Stellungnahmen und ‚germanischen Kunst‘ zum Antisemiten verschrien wurde.“13 Frecot, Geist und Kerbs schreiben Höppener an dieser Stelle einen →Antisemitismus zu, der sich aus einem Unterlegenheitsgefühl gegenüber seiner Partnerin Amalie gespeist habe, zugleich aber auch auf die Lektüre von →Julius Langbehn, →Arthur Moeller van den Bruck und Richard Wagner zurückzuführen sei.14 Sein „ältester Freund“ Jakob Feldner charakterisierte Fidus dahingehend, dieser „habe immer die Zusammenwirkung aller sichtbaren Künste zu Raumwerken erstrebt; die der volksgemeinschaftlichen Belebung und Erhebung bis zur Andacht dienen sollen“ und nannte ihn einen „bewußten Diener des Volkes in einer von ihm vorausgeahnten Bewegung“.15 Inwieweit antisemitische Einstellungen tatsächlich Höppeners persönlichem Überzeugungssystem entsprangen oder aus Frust über den anhaltenden wirtschaftlichen Misserfolg resultierten, ist schwer zu beurteilen. Belegt ist, dass sich Höppener zu Beginn der 1930er Jahre der nationalsozialistischen Bewegung gegenüber öffnete. Am 1.Mai 1932 trat er der NSDAP bei.16 Die Machtergreifung Hitlers 1933 deutete Höppener als Beginn einer neuen Epoche, in der endlich seine lang gehegten Wünsche und Sehnsüchte realisiert werden könnten – eine Vorstellung, die er mit vielen Anhängern der Lebensreform und der Jugendbewegung teilte. Dies gipfelte in der völlig illusorischen Vorstellung, er könne die künstlerische Ausrichtung des Dritten Reiches maßgeblich prägen.17 Diese Hoffnungen zerschlugen sich schnell, da er keine Aufträge mehr bekam. Zwischen 1932 und 1935 erhielt er insgesamt 1.435 RM Wohlfahrtsfürsorge, 1937 und 1938 zusätzlich mehrere kleinere Beträge aus der Spende „Künstlerdank“. Seine monatlichen Einnahmen gestalteten sich „nicht gerade rosig“, sie beliefen sich aufgrund von „Alter und Auftragsmangel“ auf durchschnittlich 150 RM.18 1936 wurde er in der SSZeitschrift Das Schwarze Korps gar zu den „Verkitschern der nordischen Kunst“ gezählt. 1937 warf der führende NS-Kunsttheoretiker Wolfgang Willrich zudem Höppener vor, er sei das „Opfer von Okkultbeeinflussungen“.19 Höppener wich dennoch nicht von seiner opportunistischen Haltung gegenüber der NS-Führung ab und versuchte – vergeblich – persönlichen Kontakt zu Hitler aufzunehmen. Auch an Joseph Goebbels schrieb er mehrfach und bat darum, persönlich „einige kulturfachliche Vorschläge“ unterbreiten zu dürfen.20 Im Herbst 1941 wurde ein von ihm angefertigtes Hitler-Portrait mit dem Titel „Das Haupt des Führers“ von den offiziellen Stellen verboten. Zu seinem 75. Geburtstag im Jahre 1943 verlieh ihm Hitler dann den Titel „Professor h.c.“ und setzte ihm einen kleinen Ehrensold aus.21 Höppeners Alterssitz in Woltersdorf, einem Villenvorort von Berlin, blieb während des Zweiten Weltkrieges von größeren Bombenangriffen und Kampfhandlungen verschont. Für die russischen Besatzer malte er nach dem Ende des Krieges Portraits von Lenin, Stalin und Rudolf Breitscheid von der SED. Zur Entlohnung

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wurde er mit Nahrung versorgt. 1946 trat Höppener einer freireligiösen Gemeinde in Berlin bei und hielt in seinem Tagebuch fest, er habe die CDU gewählt. Am 23.Februar 1948 verstarb er an einem Schlaganfall in seinem Haus.22

Ulrich Alexander Goetz

1 Vgl. Rainer Y, Fidus, der Tempelkünstler. Interpretation im kunsthistorischen Zusammenhang mit Katalog der utopischen Architekturentwürfe. Teil I: Text, Göppingen 1985, S. 3; vgl. BArch, VBS 150/ 2402002521, Bl. 270, Lebenslauf Hugo Höppener, verfasst von Jakob Feldner im September 1938, S. 1. 2 Vgl. Janos Frecot u.a., Fidus 1868–1948: Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen, Hamburg 1997, S. 76–80. 3 Vgl. Rainer Y, Fidus, S. 4. 4 Vgl. ebd., S. 1. 5 Vgl. Meike Sophia Baader, Erziehung als Erlösung. Transformationen des Religiösen in der Reformpädagogik, Weinheim u.a. 2005, S. 47. 6 Vgl. Daniel Junker, Gott in uns! Die Germanische Glaubens-Gemeinschaft. Ein Beitrag zur Geschichte völkischer Religiosität in der Weimarer Republik, Hamburg 2002, S. 62. 7 Hugo Höppener, Von neuer Schönheit, in: Richard A. Giesecke (Hg.), Die Schönheit – Fidus-Heft, Dresden 1919/1920, S. 20f. 8 Vgl. Baader, Erziehung als Erlösung, S. 86; die Verwendung „lichtdeutscher Gruß“ findet sich in Briefen vom 18.9.1937, 23.7.1937 und 13.1.1940, vgl. BArch, VBS 150/ 2402002521, Bl. 298, 290, 330. 9 Vgl. ebd., S. 96. 10 Höppener, Von neuer Schönheit, S. 22. 11 Vgl. Rainer Y, Fidus, S. 5f. 12 BArch, VBS 150/ 2402002521, Bl. 328, Hugo Höppener an die Spende „Künstlerdank“ vom 13.1.1940. 13 Frecot u.a., Fidus 1868–1948, S. 185. 14 Vgl. ebd., S. 187f. 15 BArch, VBS 150/ 2402002521, Bl. 271, Lebenslauf Hugo Höppener, verfasst von Jakob Feldner im September 1938, S. 2. 16 Vgl. BArch, NSDAP-Ortsgruppenkartei Hugo Höppener, Mitglieds Nr. 1.109.839, Ortsgruppe Woltersdorf, Gau Brandenburg 46. 17 Vgl. Frecot u.a., Fidus 1868–1948, S. 199f. 18 Vgl. BArch, VBS 150/ 2402002521, Bl. 289, Vermerk vom 10.4.1937 zum Antrag Hugo Höppeners an die Spende „Künstlerdank“ vom 1.3.1937 u. Bl. 320, Fragebogen betr. Spende „Künstlerdank“ vom 8.11.1939; u. Bl. 324f., Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda an die Gauamtsleitung der NSV Berlin-Wilmersdorf vom 11.11.1939. 19 Frecot u.a., Fidus 1868–1948, S. 201f. 20 Vgl. ebd., S. 203; vgl. BArch, VBS 150/ 2402002521, Bl. 298, Hugo Höppener an Joseph Goebbels vom 18.9.1937. 21 Vgl. Frecot u.a., Fidus 1868–1948, S. 207, 209. 22 Vgl. ebd., S. 210.

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Karl Gottfried Hugelmann Karl Gottfried Hugelmann gehörte zu denjenigen Staatsrechtslehrern des NS, der seinen katholischen Glauben nicht nur mit der Rassentheorie des Nationalsozialismus in Übereinstimmung bringen konnte, sondern der auch bereit war, die nationalsozialistischen Ideologien vom Reich und von der deutschen Herrschaft in Mittel- und Osteuropa religiös zu fundieren. Hugelmann selbst nannte dies eine gelungene Synthese zwischen Christentum und Deutschtum. Er redete einer Vergottung des Volkes das Wort und bescheinigte dem völkischen Staat der Nationalsozialisten, dass dieser, vertreten durch den „Führer“, Gottes Auftrag verfolge. Hugelmann zählte zu den gut vernetzten Wissenschaftlern des NS, die (rechts-)historische Belege für den Anspruch der Deutschen auf den Osten Europas suchten und fanden. Hugelmann wurde am 26. September 1879 in Wien als Sohn eines angesehenen Richters und Hochschullehrers geboren. Er war bis 1932 Mitglied der Christlichsozialen Partei Österreichs, die bereits in ihr Silvesterprogramm von 1926 offen antisemitische Propaganda aufgenommen hatte, und er war stellvertretender Vorsitzender des österreichischen Bundesrats. 1905 promoviert und 1909 habilitiert,1 wurde ihm nach Abstechern in den Justizdienst und die österreichische Ministerialbürokratie, 1918 in Wien eine außerordentliche Professur angetragen, auf der er 1924 verbeamtet wurde. Der nationalsozialistischen Umtriebe im „Juliputsch“ verdächtigt und verhaftet, musste er 1934 nach dem Attentat auf Dollfuß die Universität Wien verlassen und wurde an die Universität in Münster berufen. Dieser Universität stand er von 1935 bis 1937 als Rektor vor. In Münster baute Hugelmann eine nationalitätenrechtliche Abteilung in der Fakultät für Rechtswissenschaft auf. 1947 wurde er im Spruchkammerverfahren in die Kategorie V (Entlasteter) eingestuft. 1944 emeritiert, übersiedelte Hugelmann nach Göttingen und starb dort am 1. Oktober 1959.2 Das wissenschaftliche Werk Hugelmanns konzentrierte sich auf mehrere Stoffkreise,3 die letztlich in seinem Hauptwerk aus dem Dritten Reich „Volk und Staat im Wandel des deutschen Schicksals“ von 1940 zusammenflossen, das er selbst als bescheidenen Beitrag zu der im Aufbau befindlichen nationalsozialistischen Staatslehre bezeichnete.4 Zu diesen Stoffkreisen zählten das kanonische Recht und die katholische Rechtsphilosophie, die österreichische und deutsche Rechts- und Verfassungsgeschichte, die Volkstumslehre, das Nationalitäten- und Volksgruppenrecht, das Staatsrecht und die Staatstheorie. Seine Einstellung war antiparlamentarisch und ständestaatlich. Hugelmann kam aus der deutschrechtlichen Überlieferung, die ihren Kampf gegen das römische und später das liberale französische Recht mit der kulturellen Überlegenheit der Deutschen begründete,5 und er dachte großdeutsch. Er stellte sich auch im NS noch in die Tradition der organischen Staatslehre Otto von Gierkes und legitimierte die Aufhebung aller Gewaltenteilung im Führerprinzip als organischen und damit urgermanischen Gedanken.6 Das Minoritätenrecht des Völkerbundes lehnte er als Majorisierung von strukturellen Minderheiten ab und wähnte die Deutschen durch Ver-

Karl Gottfried Hugelmann  307

sailles um ihr Selbstbestimmungsrecht „aus reiner Bosheit und Schadenfreude“ betrogen.7 Dass Hugelmann einer der „letzten Vertreter einer volkstumsbezogenen, großdeutsch im älteren, vornationalsozialistischen Sinne verstandenen Politik“8 gewesen sei, mag für eine frühe Phase seines Lebens zutreffen, in der er politisch und publizistisch auch als Herausgeber des Deutschen Volksblattes (1919–1922) für den „Anschluss“ Österreichs kämpfte,9 seine tatsächlich wissenschaftlich neutral klingenden ersten Studien zum Nationalitätenrecht des Mittelalters mit Hilfe einer Auswertung zeitgenössischer Landrechts- und Weistumsbücher schrieb,10 oder das Nationalitätenrecht Altösterreichs kompilierte.11 Ob er ein steter „Wanderer zwischen den Welten der Nationalkonservativen und der Nationalsozialisten“ oder nicht doch eher ein Überläufer gewesen ist,12 bleibt allerdings fraglich. Hugelmann gehörte zu den Mitbegründern der →Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft, der →Alpenländischen Forschungsgemeinschaft und arbeitete im Nationalitätenrechtlichen Ausschuss der →Akademie für Deutsches Recht mit den Planern für die Besiedelung des „Ostraums“ zusammen. In die weitere Reihe dieser Institutionen, in denen Hugelmann Mitglied war, zählen die Deutsche Gesellschaft für Nationalitätenrecht und die Historische Kommission der Sudetenländer. Für Hugelmann entstanden Nationen letztlich durch göttliche Einsetzung. Da es dem Bedürfnis des nationalsozialistischen Staates entsprach, auch historisch zu beweisen, dass das leistungsfähige deutsche Volk mit seinem tausendjährigen Reich zur Herrschaft in Mittel- und Osteuropa bestimmt sei, datierte Hugelmann pflichtbewusst die Entstehung des deutschen Nationalstaats im Mittelalter, genauer auf der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert, an der das deutsche Volk seine christliche Vormachtstellung in Europa behauptet habe.13 Hierzu schrieb Hugelmann eine an belastbaren Beweisen eher magere „Gefühlsgeschichte“ des deutschen Volkes und berief sich als zusätzliche Absicherung seiner Beweisführung auf die katholische Philosophie, namentlich auf Nikolaus von Kues.14 Hugelmann bediente die nationalsozialistische Ideologie, die die Weltgeschichte als eine Aneinanderreihung von Reichen auslegte: Wegen ihrer göttlichen Sendung hätten die Deutschen ihren Herrschaftsbereich im Mittelalter als Reich titulieren dürfen und dürften ihn im NS auch Drittes Reich nennen, da ihre kulturelle Überlegenheit sie zur raumordnenden Macht in Europa bestellt hätte. Der Unterjochungsanspruch der Deutschen in „Mitteleuropa reicht so weit, wie der Deutsche der Erde die Spuren seines Geistes aufgeprägt hat“.15 Die Deutschen hatten für Hugelmann die besseren, weil älteren und gottgegebenen Rechte auf Herrschaft in Mittel- und Osteuropa. Staatsrechtlich konstruierte Hugelmann das Deutsche Reich als eine Ethnokratie, nämlich als einen Großraum, der mehrere Völker beherberge. Die den Großraum beherrschende Macht, das Deutsche Reich, habe die Befugnis, den beherrschten Völkern ein jeweils auf ihre Bedürfnisse und ihren völkischen Wert zugeschnittenes Lebensrecht zuzuweisen.16 Das Recht dazu nahmen sich die Deutschen aus ihrer Geschichts- und Kulturtiefe sowie ihrem Geschick als staatsbildendes Volk. Als einer der wichtigsten Vertreter des NS-Volksgruppenrechts lag Hugelmann mit seinen

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Publikationen aus diesem Themenfeld auf der Linie der nationalsozialistischen Expansionspolitik. Seiner Auffassung nach funktionierte das ursprünglich als Autonomieförderung gedachte Volksgruppenrecht in einem völkischen Staat, der sich aus dem Dienst an allein einem Volke rechtfertigte, nur sehr bedingt, und hatte – in der Terminologie Hugelmanns – auch bei „artgleichen“ Völkern in einem Staat deren Lebensrechte nur wesensgemäß anzuerkennen. Im „Großraum“ musste zudem das „Lebensrecht“ der Völker vom Recht des leistungsstärkeren Volkes auf Führung überlagert werden. Hugelmann sprach sich dafür aus, das Nationalitätenrecht zur Entrechtung und Verdrängung anderer Völker einzusetzen, und auch hierbei spürte er „ehrfürchtig den Auftrag von Gott“.17 Während er sich 1917 noch als „frei von antislawischer Voreingenommenheit“ wähnte,18 ging er seit der Machtergreifung mit der NS-Politik gegen die Juden, Polen und Tschechen konform. Während sich die Deutschen an den Polen rächen durften – Hugelmann nannte dies völkerrechtliche „Retorsion“19 – und die Tschechen unterwerfen mussten, um sich selbst zu erhalten, weil diese den geschlossenen deutschen Siedlungsboden auseinanderrissen, hatten sie ebenso die Pflicht, die Juden, deren „Artfremdheit“ und „Unwert“ für das deutsche Volk Hugelmann bereits gegen Ende der 1920er Jahre geschichtlich hergeleitet hatte, im Rahmen der Flurbereinigung aus Volk und Raum zu jagen. Hugelmann arbeitete deshalb im Nationalitätenrechtlichen Ausschuss der Akademie für Deutsches Recht an der rechtsterminologischen Aufbereitung der Nürnberger Rassengesetze für die Verwaltung und an der Ausformulierung des Rechtsstatus der Schutzangehörigen des Reichs mit.20 Vorlesungen, die er nach dem Krieg an der Universität Göttingen zum Nationalitätenrecht anbot, Aufsätze aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, in denen er nicht das nationalsozialistische Unrecht an den Völkern Osteuropas, sondern vorrangig die Vertreibungen der Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei als Dämonie verurteilte, und auch sein wissenschaftliches Alterswerk „Stämme, Nation und Nationalstaat im deutschen Mittelalter“, zeugen davon, dass Hugelmann seiner Thematik auch nach dem Kriege treu geblieben ist.21

Kathrin Groh

1 Karl Gottfried Hugelmann, Die deutsche Königswahl im corpus iuris canonici. Untersuchungen der deutschen Staats- und Rechtsgeschichte von Dr. O. Gierke, Breslau 1909. 2 Lebensläufe bei Ernst Schönbauer, Nachruf Karl Gottfried Hugelmann, in: Österreichische Akademie der Wissenschaften 110, Almanach für das Jahr 1960, Wien 1961, S. 377–390; Michael Grüttner, Hugelmann, in: Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2004, S. 80; Nachlass im Landesarchiv NRW Abt. Westfalen, Sign.: A 521 Nl Hugelmann. 3 Ein unvollständiges Literaturverzeichnis findet sich in der zweibändigen Festschrift zu seinem 80. Geburtstag von Wilhelm Wegener (Hg.), Festschrift Karl Gottfried Hugelmann, Aalen 1959, S. 845– 879. 4 Karl Gottfried Hugelmann, Volk und Staat im Wandel des deutschen Schicksals, Essen 1940, S. XIII.

Karl Gottfried Hugelmann  309

5 Z.B. Karl Gottfried Hugelmann, Deutsche Rechtsgedanken im allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche, in: Allgemeine österreichische Gerichts-Zeitung 62 (1911), S. 172–177. 6 Karl Gottfried Hugelmann, Otto von Gierkes Staatslehre und unsere Zeit, in: Braune Wirtschaftspost 5 (1936), S. 990–993; ders., Gedanken über die wissenschaftliche Erfassung des nationalsozialistischen Staatsrechts II, in: Braune Wirtschaftspost 4 (1935/36), S. 1289–1291. 7 Karl Gottfried Hugelmann, Das Recht der Minoritäten I u. II, in: Das Neue Österreich 3 (1918), S. 1– 5, 18–22; ders., Der Anschluß Deutschösterreichs an Deutschland, Wien 1919, S. 10. 8 Wilhelm Wegener/Karl Gottfried Hugelmann, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 10, Berlin 1974, S. 9–10, 10. 9 Karl Gottfried Hugelmann, Die Aktion Wirth und der Anschluß, in: Politische Wochenschrift 2 (1926), S. 1042–1045; ders., Gedanken eines Österreichers über großdeutsche Kulturpflege, in: Volk und Reich 1926, S. 37–39. 10 Ders., Studien zum Recht der Nationalitäten im Mittelalter, in: HJb 47 (1927), S. 275–196. 11 Ders. (Hg.), Das Nationalitätenrecht des alten Österreich, Wien 1934. 12 Siegfried Koß/Karl Gottfried Hugelmann, in: Biographisches Lexikon des KV, Teil 7, Essen 2010, S. 65–67, 66. 13 Karl Gottfried Hugelmann, Das Abendland und der deutsche Nationalstaat, in: Abendland 1 (1926), S. 227–229; ders., Die deutsche Nation und der deutsche Nationalstaat im Mittelalter, in: HJb 51 (1931), S. 445–484; ders., Nationalstaat und Reichsgedanke im deutschen Mittelalter, in: Die Welt als Geschichte 1935, S. 265–270. 14 Karl Gottfried Hugelmann, Der Reichsgedanke bei Nikolaus von Kues, in: Karl Larenz (Hg.), Reich und Recht in der deutschen Philosophie, Stuttgart 1943, S. 1–32. 15 Hugelmann, (wie Anm. 4), S. 45, 218; ders., Nationalstaat und Reichsgedanke, in: Braune Wirtschaftspost 4 (1935), S. 74–77. 16 Ders., Die Lehre von Volk und Staat und die Südostpolitik des Reiches, in: Essener Almanach 1939, S. 29–36. 17 Hugelmann, (wie Anm.4), S. 221. 18 Karl Gottfried Hugelmann, Das österreichische Problem, in: Hochland 2 (1917), S. 704–709, 707. 19 Hugelmann, (wie Anm. 4), S. 169f. 20 Werner Schubert (Hg.), Akademie für Deutsches Recht 1933–1945. Protokolle der Ausschüsse, Band XIV, Frankfurt a.M. 2002, S. 387ff., 408, 610; Sebastian Felz, Im Geiste der Wahrheit? Die Münsterschen Rechtswissenschaftler von der Weimarer Republik bis in die frühe Bundesrepublik, in: Hans-Ulrich Thamer (Hg. u.a.), Die Universität Münster im Nationalsozialismus, Münster 2012, S. 347–412, 350ff. 21 Karl Gottfried Hugelmann, Die Europäische Bedeutung des Sudetendeutschtums, in: Stifter Jahrbuch 1951, S. 7–22; ders., Das Volk in der Philosophie und Theologie des Nikolaus von Kues, in: Münchner Theologische Zeitschrift 10 (1959), S. 29–37; ders., Stämme, Nation und Nationalstaat im Deutschen Mittelalter, Stuttgart 1955.

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Alfred Huggenberger Alfred Huggenberger wurde 1867 als Kleinbauernsohn in einem Weiler im Grenzgebiet der Kantone Zürich und Thurgau geboren. Er genoss wenig formale Schulbildung und war früh zur Mithilfe im landwirtschaftlichen Betrieb gezwungen. Daneben aber hing er einem Bildungstraum an; unermüdliche Lektüre führte ihn zur literarischen Selbstbildung. Früh begannen die Schreibversuche des Autodidakten, anfänglich in historisierenden Gedichten und Produktionen für die ländliche Laienbühne. Ab 1903 fand er Anschluss im Literarischen Klub in Zürich, Ausdruck wachsender Anerkennung in städtisch-bildungsbürgerlichen Kreisen. Der Durchbruch begann im Herbst 1907 mit einem Gedichtband, der sich von den altertümelnden Stoffen und Ritterballaden abwandte und den bäuerlichen Alltag zum Thema machte. Getragen von erheblichem Ehrgeiz versandte Huggenberger den kleinen Band an zahlreiche Schriftsteller und Kritiker im deutschen Sprachraum und verschaffte sich damit erste Aufmerksamkeit außerhalb seiner engeren Heimat. Die ab 1909 erscheinenden Erzählungen vertieften den Erfolg. Zugleich tauschte er den ansehnlich gewordenen Hof gegen ein kleineres Anwesen, baute nun also zur Hauptsache auf eine literarische Existenzsicherung. Im Zug dieses ehrgeizigen Anspruchs wechselte Huggenberger 1912 den Verlag und ging zu Alfred Staackmann (Leipzig), der neuerdings auch diverse österreichische Autoren publizierte und das „Grenzlanddeutschtum“ pflegte. Huggenberger war sein erster Schweizer Autor; in seinem Selbstbild stilisierte er sich fortan als ein in der Heimat Verkannter, der erst über das Ausland zum Erfolg gefunden habe. Die Verbindung zu Staackmann erhöhte die Wahrnehmung des bald einmal als „Bauerndichter“ gerühmten Autors im deutschen Sprachraum. Mit dem Erfolg und Huggenbergers unermüdlichen Werbeanstrengungen in eigener Sache kam es noch vor 1914 zu ersten Kontakten in völkische Kreise, so zu Adolf Bartels oder Will Vesper. Im Weltkrieg fand sich Huggenberger auf der Seite der Parteigänger Deutschlands, die in der deutschen Schweiz besonders während der ersten Kriegsphase stark waren. Entsprechende organisatorische Netzwerke lebten nach dem Krieg fort, unter anderem in dem 1921 gegründeten germanophilen Volksbund für die Unabhängigkeit der Schweiz, dem Huggenberger angehörte. →Hektor Ammann, ein früher Schweizer Nationalsozialist, betreute das Sekretariat. Huggenbergers Kontakte und diskrete organisatorische Zugehörigkeiten hatten einen innenpolitischen Zug – gegen die politische Linke – und eine außenpolitische Seite, gegen die Versailler Friedensordnung. Öffentlich exponieren mochte er sich allerdings nie, es entsprach nicht seinem Naturell, auch wollte er potentielle Leser nicht abschrecken. Die Verbindungen ins deutsch-völkische Milieu, teilweise vermittelt durch Alfred Staackmann, betrafen diverse obskure Organisationen und Zeitschriften (Bruno Tanzmann, Deutsche Bauernhochschule). Praktische Bedeutung hatten sie nicht. Was man von deutsch-völkischer Seite mit den Texten Huggenbergers anfangen konnte, bleibt letztlich unklar. Rassistisch-feindselige Anschauungen bediente er nicht. Als

Alfred Huggenberger  311

schreibender Bauer war er eine attraktive Figur für antimodern gestimmte Geister sehr unterschiedlicher politischer Ausrichtung. Mit der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten 1933 stellte Huggenberger sich schnell auf die neuen Verhältnisse ein. Er schloss sich dem Reichsverband deutscher Schriftsteller an, der politisch kontrollierten neuen Einheitsorganisation. Damit verbunden war eine Loyalitätserklärung gegenüber dem Regime. Seinen deutschen Absatzmarkt, wichtigste literarische Einnahmequelle, mochte er nicht gefährden. Seine höchst populären Lesereisen setzte er fort. Sie waren nun, was Deutschland betraf, in erhöhtem Maß aus dem Hintergrund politisch gesteuert, wenn auch der eigentliche Anlass frei von unmittelbar politischen Tönen blieb. Darauf legte Huggenberger wert. Zwei Preisverleihungen während der nationalsozialistischen Herrschaft brachten ihm erstmals unfreundliches Echo in der Schweiz. Im Mai 1937, dem Jahr seines 70. Geburtstags, sprach ihm Reichsstatthalter Robert Wagner von Baden (1946 in Frankreich verurteilt und hingerichtet) den Johann Peter Hebel-Preis zu, der 1935 geschaffen worden war und die grenzüberschreitende „alemannische“ Verbundenheit auszeichnete. Der Vorgang führte zu einer Pressepolemik in der Schweiz; Huggenberger verteidigte seine Annahme des Preises unter Hinweis auf die einst erfahrene Förderung in Deutschland. Im gleichen Jahr 1937 erschien sein letzter Roman, der in Sprache und Pathos eine unverkennbare Annäherung an völkische Literaturformen betrieb. Anfang 1938 empfing ihn Joseph Goebbels in Berlin. Organisiert waren die deutschen Lesetourneen vom Vortragsamt, einer Abteilung im Propagandaministerium unter der Leitung von Otto Henning, der sämtliche deutsche Reisen Huggenbergers von 1937 bis 1942 betreute. Der deutsche Absatz seiner Bücher nahm kräftig zu und erreichte während des Kriegs einen Höhepunkt. Im Herbst 1942 wurde Huggenberger noch einmal geehrt und erhielt den mit 10.000 RM hoch dotierten, von →Alfred C. Toepfer gestifteten Erwin von SteinbachPreis der →Johann Wolfgang Goethe-Stiftung. Huggenbergers Name war schon 1937 gefallen, eine Schlüsselrolle spielte der Kulturgeograf →Friedrich Metz an der Universität Freiburg i. Br. Vordergründig unpolitisch, standen diese Preise im Rahmen einer „volksdeutschen“ und „alemannischen“ Propaganda. Die Beachtung in der schweizerischen Öffentlichkeit war nun allerdings nur noch gering. Dasselbe galt für die Teilnahme Huggenbergers an den Weimarer Tagungen der Europäischen Schriftstellervereinigung im Oktober 1941 und 1942, der er als einer von wenigen Schweizer Autoren beigetreten war. Sie waren eine Heerschau der völkisch-nationalsozialistischen und konservativen Literatur. Noch ein letztes Mal, im November 1942, stellte er sich der NS-Kulturpropaganda für eine Lesereise zur Verfügung, die im besetzten Elsass endete. Eine Neuanfrage 1943 wehrte er mit einer Entschuldigung ab. Gewisse Kontakte in die deutsch-völkische Szene von Österreich waren auch nach 1945 noch zu verzeichnen. Sie gewannen, angesichts des Alters des Autors und ausbleibender neuer Publikationen, keine Bedeutung mehr. Auch hatte sich

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das kulturpolitische Klima verändert; die Nachfrage nach bäuerlichen Idyllen ließ in der Schweiz, wie im deutschen Sprachraum generell, deutlich nach. Zu seinen Verwicklungen in den nationalsozialistischen Kulturbetrieb und seinem Schweigen gegenüber den Verbrechen des Regimes fand Huggenberger nie ein Wort des Bedauerns. Er hielt starr an seinem Selbstbild des „Unverstandenen“ fest. Erst Jahrzehnte nach seinem Tod 1960 stießen seine moralische Indifferenz und sein Opportunismus auf wachsende Kritik, die 2009 einen Auftrag des Kantons Thurgau zur Erstellung seiner umfassenden Biografie auslöste.1

Mario König

1 Rea Brändle/Mario König, Huggenberger. Die Karriere eines Schriftstellers, Historischer Verein des Kantons Thurgau, Frauenfeld 2012. Der Nachlass Huggenbergers wurde nach dieser Publikation von der Kantonsbibliothek ins Staatsarchiv des Kantons Thurgau verlegt, wo das Findmittel digitalisiert und in absehbarer Zeit öffentlich zugänglich gemacht wird. Weitere wichtige Literatur vgl. Manfred Bosch, Der Johann Peter Hebel-Preis 1936–1988. Eine Dokumentation, Karlsruhe 1988; Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?, Baden-Baden 1999; Frank-Rutger Hausmann, „Dichte, Dichter, tage nicht!“ Die Europäische Schriftstellervereinigung in Weimar 1941–1948, Frankfurt a.M. 2004; Otto Henning Jatho, Im Schatten von Goebbels. Dr. Otto Henning. Vom Gründer des Goethe-Bundes Giessen zum Leiter des Vortragsamts in Berlin. Zur Karriere eines Literatur-Funktionärs, Giessen 2003; Burkhard Stenzel, „Buch und Schwert“. Die „Woche des deutsches Buches“ in Weimar (1934–1942). Anmerkungen zur NS-Literaturpolitik, in: Ursula Härtl (Hg. u.a.), Hier, hier ist Deutschland … Von nationalen Kulturkonzepten zur nationalsozialistischen Kulturpolitik, Göttingen 1997, S. 83–121; Jan Zimmermann, Die Kulturpreise der Stiftung F.V. S. 1933–1945. Darstellung und Dokumentation, Alfred Toepfer Stiftung F.V.S, Hamburg 2000.

_____________________________________________________________________Hartwig Hundt-Radowsky  313

Hartwig Hundt-Radowsky Hartwig von Hundt-Radowsky (1780–1835), war ein Vordenker des völkischen Denkens und der Judenvernichtung im frühen 19. Jahrhundert. Am einflussreichsten war sein Pamphlet „Der Judenspiegel. Ein Schand- und Sittengemälde alter und neuer Zeit“, das erstmals 1819 erschien. Innerhalb weniger Monate verkaufte HundtRadowsky zwei Auflagen à 5.000. Damit war „Der Judenspiegel“ angesichts eines Lesepublikums von nur rund 30.000 Personen in den deutschen Staaten ein Bestseller. Weil aufgrund der Karlsbader Beschlüsse 1819 die Behörden die Zensur verschärften und Hundt als Demagogen verfolgten, erschienen 1821 und 1848 nur noch gekürzte und entschärfte Neuauflagen.1 Ähnlich wie andere Autoren (→Ernst Moritz Arndt, Ludwig Jahn oder Hans Fries) früher nationalistischer Texte, die am Anfang des völkischen Denkens stehen, weil sie das Wort „Volk“ in seiner Doppelbedeutung demos/ethnos sowohl mit demokratischer Opposition als auch mit rassistischer Exklusion verbanden, war von Hundt-Radowsky darauf angewiesen, mit seinen Veröffentlichungen Geld zu verdienen. Der Sohn eines (nicht adeligen) Gutsbesitzers aus der Nähe von Parchim in Mecklenburg hatte seinen geerbten Besitz mit Spiel- und Alkoholsucht durchgebracht, Frau und Sohn verlassen und lebte in prekären Verhältnissen als Hauslehrer und Schriftsteller. Um sich interessant zu machen, nannte er sich als Autor „von Hundt-Radowsky“ oder auch „Hundt von Radowsky“.2 Man kann nur verstehen, warum es um 1800 zu einem derartigen Aufschwung oppositioneller politischer Publikationen und in diesem Kontext zu einer Radikalisierung nationalistischer wie judenfeindlicher Topoi kam, wenn man sich bewusst macht, dass im Übergang von der Stände- zur marktorientierten Klassengesellschaft eine Schicht prekärer Intellektueller entstand, die es in der Ständegesellschaft nicht gegeben hatte. Sie hatten aufgrund ihrer politischen Opposition (wie Arndt und Jahn) oder wie Hartwig Hundt aufgrund seines exzessiven Lebens die materielle Basis ihrer bürgerlichen Existenz verloren und mussten deshalb mit dem, was sie schrieben, ihr Brot verdienen. Damit verbietet sich auch eine rein geistesgeschichtliche Betrachtung solcher Publikationen. Denn sie schrieben nicht allein das, was sie meinten (auch wenn sie sich gerne zu Überzeugungstätern stilisierten). Sie schrieben, was sie für marktgängig hielten, denn sie wollten möglichst viele Bücher verkaufen, weil allein ihr soziales Kapital als gefragte Autoren ihre Existenzgrundlage sichern konnte. Sie waren populistisch aus kommerziellem Interesse, und diese Marktorientierung macht ihre Texte zu nachträglich ablesbaren Seismografen des Zeitgeistes. Hundt schrieb erst einen mäßig erfolgreichen Band mit nationalistischen Gedichten („Harfe und Speer“ 1815), der sich sowohl im Titel wie auch in seiner antinapoleonischen Tendenz an den Erfolg von Theodor Körners „Leyer und Schwert“ anhängte. Hundt arbeitete am Brockhaus-Lexikon mit, verkaufte dieselben Texte an verschiedene Verleger gleichzeitig, was ihm erheblichen Ärger eintrug, und versuchte schließlich 1819 die judenfeindlichen „Hep-Hep“-Krawalle in Süddeutsch-

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land auszunutzen, indem er seine antisemitischen Überzeugungen zu einem Bestseller bündelte. Denn 1819 kam es zu einer Welle von antijüdischen Pogromen vor allem in deutschen Territorien, aber auch außerhalb des 1806 aufgelösten Reichs, die eine Reaktion der Zünfte und vieler Bürger auf die beginnende Judenemanzipation waren. Hundt sah in diesen Aufständen offenbar den Beginn einer nationalen Revolution, die er sich als „in organisierte Bahnen zu lenkenden Pogrom“3 vorstellte. Er ließ sein Buch nicht nur in Würzburg, dem Ort, an dem die „Hep-Hep“-Krawalle begonnen hatten, erscheinen, sondern bezog sich an mehreren Stellen des Textes auf diese Krawalle und auf die „Hepp-Hepp-Männer“. Das Pamphlet endet mit dem antisemitischen Hetzruf „Hepp, hepp!“ und einem Verweis auf die Karlsbader Beschlüsse, die auf die Ermordung des Schriftstellers von Kotzebue durch den Burschenschafter Karl Ludwig Sand, vor allem aber auf die „Hep-Hep“-Pogrome reagierten. Mit der Verschärfung der Zensur, mit dem Verbot der Burschenschaft und der Schließung der Turnplätze leiteten die Karlsbader Beschlüsse die „Demagogenverfolgung“ ein. Hundt interpretierte sie verschwörungstheoretisch als Werk der allgegenwärtigen Juden und nahm auch darin völkisches Denken vorweg. Nach einer mehr als 40 Seiten langen Exegese von Stellen aus dem Alten Testament, gewissermaßen als Kronzeugen für die barbarische, verbrecherische und perverse Natur der Juden, spitzte Hundt seine antisemitischen Tiraden unter Verwendung des nationalistischen Topos vom „Volkscharakter“, der auf →Johann Gottfried Herder und Ludwig Jahn zurück geht, rassistisch zu: „Heimtückisch lauernde Arglist, schmutziger Geiz und Wuchersinn, ein unbesieglicher Hang zu Betrügereien und Ränken, Neid, eitler Hochmuth verbunden mit sklavischer, schmarotzender Kriecherei, Wollust, unerbittliche Rachgier und Grausamkeit, trotziges Prahlen und verzagte Feigheit im Unglück: dies waren und sind, und werden ewig die Grundbestandtheile des jüdischen Volkscharakters seyn. Hierzu kommt noch ihr specifischer Geruch, den sie durch ihre unnatürlichen Laster, als ein Allen gemeinschaftliches Erbgut, erworben haben.“ An anderer Stelle erklärt Hundt den „erblichen specifischen Judengeruch“ mit einer Mischung aus theologischen und medizinischen Argumenten: „Die Juden hatten durch ihre abscheulichen und widernatürlichen Laster, deren sie häufig in der Bibel bezüchtigt worden, sich eine, unter dem südlichen Himmel höchst fürchterliche Krankheit, den Aussatz (Erbgrind), nach anderen die Elephantiasis zugezogen, woran auch der selige Hiob so sehr litt. Mit dieser Krankheit war der widerliche, verpestende Geruch verbunden […]. Daß Abrahams Saame noch mit eben jenem pestilenzintischen [sic!] Erbübel unheilbar behaftet ist, wird Niemand bezweifeln, der nur einmal Juden gesehen – und gerochen hat.“4 Mit dem „specifischen Geruch“ erweiterte Hundt den verbreiteten Katalog negativer jüdischer Charaktereigenschaften um eine körperliche Eigenart, die er ausdrücklich als erblich bezeichnet. Die Bezeichnung aller Juden als „Abrahams Saame“ zeigt ebenfalls, dass Hundt von der „Reinrassigkeit“ der Juden ausging, also annahm, dass sie sich über Jahrtausende nur innerhalb der eigenen Gemeinschaft fortgepflanzt hät-

Hartwig Hundt-Radowsky  315

ten, was zwar die orthodoxen Heiratsvorschriften verlangten, aber jeder Plausibilität entbehrt. Von diesen „unvertilgbaren Beschaffenheiten des Gemüths und des Körpers“ der Juden ausgehend sprach sich Hundt gegen jede Art der Freundschaft „oder gar Verschmelzung“ (gemeint sind offenbar sexuelle Beziehungen) mit Juden aus. „Eine solche Annäherung oder Verschmelzung würde für jedes nichtjüdische Volk ein gänzliches physisches und sittliches Verderben zur Folge haben. Daher sollte man […] jedem Juden den Uebertritt zum Christenthume wehren, damit nicht das Gift der physischen und moralischen, den Israeliten anklebenden Krankheiten auch den Christen eingeimpft werden.“5 Für Hundt waren die Juden also verschieden von allen anderen Völkern, ein gefährliches Gegenvolk, dessen Mitglieder alle, die sich näher mit ihnen einließen, vergifteten oder infizierten. Er verwarf auch jede Möglichkeit, aus dem Judentum auszutreten, etwa durch Konversion: „Der Mauschelund Schachergeist klebt den Hebräern an, wie der Zwiebelgeruch und der Erbgrind und kann weder durch die Taufe abgewaschen, noch durch ein Diplom erstickt werden.“6 Das letzte Kapitel seines Pamphlets widmete Hundt der „Ausrottung und Vertreibung der Juden“. Erneut verwarf er die Taufe als Ausweg und betonte, dass den Juden ihre Negativität körperlich eingeschrieben sei: „Ein Jude kann nie besser werden, denn das wenige Gute, das an ihm ist, wird schon bei der Beschneidung weggeschnitzt.“ Den Gedanken der bürgerlichen Verbesserung der Juden, also ihre Assimilation an die christlich-deutsche Mehrheitsgesellschaft, nannte Hundt – „gewiß eine der lächerlichsten Thorheiten des aufgeklärten achtzehnten Jahrhundertes. Abrahams Saame hat noch mehr Erbsünden, als Erbgrind; dies wäre das Einzige, was die Christen durch eine Verschmelzung oder Vereinigung mit ihm, gewinnen könnten.“7 Abschließend machte Hundt „mehrere Vorschläge, wodurch die Heppmänner befriedigt, und allem Ungemach der Juden ein Ziel gesetzt würde. 1) Man verkaufe Israels Kinder an die Engländer, welche sie statt der Schwarzen in ihren indischen Pflanzungen vortrefflich gebrauchen könnten. 2) Bekanntlich haben die Juden ein herrliches Spürorgan für die edeln Metalle und Steine, und würden daher gut zum Bergbau sich passen. Will man sie also den Britten nicht käuflich überlassen, so mache man Bergleute aus ihnen, gebe ihnen aber ja solche Kleider, die weder Taschen noch Unterfutter haben; und versiegle ihnen jedesmal den Mund, damit sie weder Erze noch Edelgesteine verschlucken und krimpeln können. […] 3) Damit die Juden sich ferner nicht fortpflanzten, könnte man auch Alles, was von ihnen an die Wand p-k-lt, statt es beschneiden, künftig verschneiden lassen.“8 Hier (wie an einer anderen Stelle seines Textes9) schlägt Hundt die Sterilisation aller männlichen Juden vor – ein weiterer Beleg für seine rassistische Überzeugung von der Unverbesserlichkeit der Juden und für die Modernität seines genetischen Verfolgungsprogramms. Unumstößlich stand für ihn fest, dass nur eine vollständige Eli-

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mination des Judentums die Mehrheitsgesellschaft retten könne: „Am Beßten wäre es jedoch, man reinigte das Land ganz von dem Ungeziefer, und hiezu giebt es gleichfalls zwei Mittel. Entweder, sie durchaus zu vertilgen, oder sie […] zum Lande hinausjagen. […] Am Gerathensten wäre es daher, man brächte die Juden, welche in Deutschland […] sämmtlich auf den Schub, und nach dem gelobten Lande hin.“10 Von der Forderung nach einer Kastration aller Juden, denen Hundt einen „ungezügelten, kaninchenartige [sic] Begattungs- und Fortpflanzungstrieb“11 bescheinigte, und allerlei sadistischen Fantasien über die Gleichsetzung der Juden mit Ungeziefer und Parasiten bis hin zu diversen Ideen zur Judenvernichtung ist in dieser Schlusspassage das gesamte Programm des völkisch, eliminatorischen →Antisemitismus bereits ausformuliert: Da in dieser rassistischen Perspektive Judentum eine unheilbare und für die christliche Umgebung gefährliche Krankheit bedeutet, liegt die einzige Lösung der Judenfrage in einer vollständigen Vertreibung, Vernichtung durch Arbeit (in Bergwerken) und in letzter Konsequenz ihre Ausrottung. In bizarrer Weise hat Hundt bereits 1819 verschiedene, im Dritten Reich praktizierte Möglichkeiten (Zwangssterilisierung, Umsiedlung und Zwangsarbeit) vorgedacht. Dieser Vernichtungsdiskurs war also in der deutschen Gesellschaft seit dem frühen 19. Jahrhundert vorhanden. Hundts „Judenspiegel“, in dem er diese Ideen entfaltete, war 1819, nach den „Hep-Hep-Krawallen“ beim lesehungrigen bürgerlichen Publikum ein großer Erfolg – bis die Zensur einschritt und den antisemitischen Hetzer als Demagogen ins Exil vertrieb. Wie der Vernichtungsdiskurs gegen die Juden sich dann unter den Bedingungen der Zensur und Demagogenverfolgung ausbreitete, ist wohl kaum präzise nachzuzeichnen. Jedenfalls bleibt festzuhalten, dass die staatliche Autorität des – nota bene! – Obrigkeitsstaates die Juden während des 19. Jahrhunderts vor Pogromen und der „Realisierung des Utopischen“ (Hans Mommsen) geschützt hat. Die Staatsmacht stellte zwar „Ruhe und Ordnung“ wieder her und beschützte die Juden als Untertanen, aber nicht als Juden und setzte sie als Preis für diesen Schutz einem hohen Assimilationsdruck aus. Hundt wurde nach 1819 als Oppositioneller („Demagoge“) verfolgt. Er ging zunächst in liberale Kleinstaaten und flüchtete dann in die Schweiz. Dort setzte er seine antisemitische Propaganda fort, u.a. mit dem dreibändigen, mehr als 1.100 Seiten langen Pamphlet „Die Judenschule, oder gründliche Anleitung, in kurzer Zeit ein vollkommener schwarzer oder weißer Jude zu werden“ (Aarau 1822/23). Nach der Julirevolution (1830) ging Hundt nach Frankreich, in der Hoffnung auf publizistischen Erfolg. Da er auch dort politisch verfolgt wurde, kehrte er in die Schweiz zurück. Seine letzte Zuflucht war Burgdorf im Kanton Bern, wo er am 15. August 1835 verarmt am Alkoholismus und Folgeerkrankungen gestorben ist. Nach seinem Tod wurde es erst einmal still um diesen Vordenker der Vernichtung. Seine Rezeptionsgeschichte ist unerforscht. Insofern lässt sich nicht nachzeichnen, wie die Überlieferungsstränge verlaufen zur Rezeption dieses wohl umtriebigsten Judenhassers des frühen 19. Jahrhunderts in der völkischen Wissen-

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schaft der 1920er Jahre, als sich Adolf Bartels und →Karl Alexander von Müller positiv auf Hundt bezogen.12

Christian Jansen

1 Die Biografie und das Œuvre von Hundt-Radowsky sind gut erforscht durch Peter Fasel, Revolte und Judenmord. Hartwig von Hundt-Radowsky (1780–1835). Biografie eines Demagogen, Berlin 2010. Auf dieses Buch stützen sich meine Ausführungen. 2 Fasel, Revolte und Judenmord, S. 90. 3 Ebd., S. 123. 4 Hartwig von Hundt-Radowsky, Judenspiegel. Ein Schand- und Sittengemälde alter und neuer Zeit, Würzburg 1819, S. 51, 54. 5 Ebd., S. 52. 6 Ebd., S. 129f. 7 Ebd., S. 142. Interpunktion wie im Original. 8 Ebd., S. 143f. 9 Ebd., S. 80. 10 Ebd., S. 143–146. 11 Ebd., S. 80; dort auch bereits der Wunsch nach einer Kastration der angeblich so fruchtbaren Juden. Dieses Argument erinnert auf bizarre Weise an aktuelle Ängste vor einer überproportionalen Vermehrung der Moslems. 12 Für die Hinweise zur Rezeptionsgeschichte vgl. Michael Fahlbusch, Volk ohne Raum – Raum ohne Volk. der lange Schatten der Deutsch-Völkischen in der Weimarer Republik, in: Heidrun Kämper (Hg. u.a.), Demokratiegeschichte als Zäsurgeschichte, Berlin 2014, S. 253–283, 258.

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Otto Huth Otto Huth wurde am 9. Mai 1906 als Sohn eines Nervenarztes in Bonn geboren.1 In Bonn besuchte er auch das städtische Gymnasium, wo er an Ostern 1925 die Reifeprüfung ablegte. Im darauffolgenden Wintersemester begann Huth mit dem Studium der evangelischen Theologie, um im Mai 1932 mit der Arbeit „Janus. Ein Beitrag zur altrömischen Religionsgeschichte“ im Fach Allgemeine Religionsgeschichte zu promovieren. Sein Doktorvater war der bekannte Bonner Religionshistoriker Carl Clemen, dessen eigene Arbeiten, und im allgemeinen auch die seiner Schüler, keine völkischen oder deutschgläubigen Bezüge aufweisen.2 Huth bildete hier die Ausnahme von der Regel. Die in seiner Dissertation vorgetragene These von einem engen Verwandtschaftsverhältnis zwischen germanischem und römischem Kulturkreis baute Huth in den folgenden Jahren systematisch aus. Unter Einbeziehung des Rassegedankens konzentrierte sich sein Interesse dann vornehmlich auf die Religion und Kultur der Indogermanen. Huth hatte sich schon sehr früh mit völkischem Gedankengut angefreundet. Dabei mag eine Rolle gespielt haben, dass sein Vater den Jenaer Verleger Eugen Diederichs gut kannte. Diederichs, der mit seinem Verlagsprogramm zur geistigen Erneuerung und völkischen Wiedergeburt Deutschlands beitragen wollte, brachte 1928 auch Herman Wirths „Der Aufgang der Menschheit“ heraus. Außer mit →Herman Wirth setzte sich Huth besonders mit der Philosophie von Ludwig Klages auseinander, dessen bekanntes Buch über den „Geist als Widersacher der Seele“ eine urtümliche Einheit von Leib und Seele propagierte, die aber durch einen außer Kontrolle geratenen Intellektualismus zerstört worden sei. 1936 veröffentlichte Huth eine völkische Agitationsschrift, in der er unter Berufung auf die Klages’sche Unterscheidung zwischen „logozentrischem“ und „biozentrischen“ Denken die Christianisierung der Germanen als einen bewussten Akt der Vernichtung altindogermanischer Lebensweise und Kultur interpretierte. Die für den indogermanischen Menschen angeblich charakteristische Leib-Seele-Einheit sei durch das Christentum gewaltsam zerschlagen worden. So von einer artfremden Weltanschauung geistig heimatlos gemacht, verloren die Germanen ihre spirituelle Verwurzelung und ihre natürliche Instinktsicherheit. Dagegen polemisierte Huth und dagegen suchte er eine neue, gleichwohl auf uralte Traditionen zurückgehende, völkische Religiosität in Stellung zu bringen. Einem „rassisch gesunden Menschen“ sei es völlig unmöglich, Christ zu sein.3 Überdies gehörte Huth einem an der Metaphysik und Ausdrucksforschung von Klages orientierten „Arbeitskreis für biozentrische Forschung“ an, für den er 1934 in den Führerrat der ‚neuheidnischen‘ Deutschen Glaubensbewegung eintrat. Die für sein weiteres Leben entscheidende Begegnung hatte Huth im Jahr 1929, als er während eines Marburger Studiensemesters den holländischen Germanisten und Symbolforscher Herman Wirth kennen lernte. Nach Abschluss des Studiums arbeitete Huth als Assistent Wirths und half ihm, die Ausstellung „Der Heilbringer“

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zu organisieren, die Wirth im Mai 1933 in Berlin durchführte. Ziel dieser Ausstellung war es zum einen, jenes uralte geistige Erbgut des nordischen Kulturkreises wieder ins Bewusstsein zu rücken, das ein fremdvölkischer, das heißt morgenländischer Einfluss bis zur Unkenntlichkeit überlagert hatte. Dafür trug Wirth im Laufe der Zeit eine Unmenge an Zeugnissen der schriftlichen Überlieferung, an Sinnbildern und Artefakten aller Art zusammen, deren systematische Stringenz einem unvoreingenommenen Beobachter, ganz zu schweigen der Fachwissenschaft, freilich verborgen bleiben musste. Wirth kam nie über die Stufe des von einer fixen Idee besessenen Sammlers und Laienforschers hinaus. Zum anderen wollte Wirth Geld für sein →Forschungsinstitut für Geistesurgeschichte sammeln, das er seit 1932 im mecklenburgischen Bad Doberan leitete und das er später als eine Vorform des „Ahnenerbes“ der SS bezeichnete. Dem die Ausstellung unterstützenden wissenschaftlichen Komitee gehörten unter anderem →Jakob Wilhelm Hauer und →Walther Wüst an.4 Auf Vermittlung Wirths erhielt Huth ein Stipendium der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, um den indogermanischen Dioskuren-Mythos im „Lichte der kultsymbolischen Denkmäler“ zu erforschen. Daran schloss sich 1935/36 ein weiteres Forschungsvorhaben an, in dem Huth dem Feuerkult der Indogermanen nachging. Wie bei seinem ersten Projekt und wie bei fast allen seiner Veröffentlichungen suchte Huth den Nachweis eines urindogermanischen Geisteszusammenhanges zu führen, dem auch der Kult des ewigen Stammesfeuers zuzurechnen sei. Anstatt das behauptete gemeinarische Kulturerbe über die Analyse konkreter Beispiele zu belegen, ging Huth umgekehrt vor und ließ Feuerkult wie Dioskurenmythos daraus hervortreten. Das, was er beweisen wollte, wurde von ihm bereits vorausgesetzt. Immer dort, so Huths tautologische Formulierung, wo die indogermanische Rasse vorherrschte, sei von einem indogermanischen Feuerkult auszugehen, der sich unter rassischen Gesichtspunkten von ähnlichen Erscheinungen anderer Kulturen – einen gewissen Feuerkult gibt es bei allen Völkern der Erde – unterscheiden lasse. Der Rassegedanke hatte hier ganz offenkundig die Funktion, die Schwächen und inneren Widersprüche der Beweisführung Huths auszugleichen. Bei einem anderen von Huth bearbeiteten Beispiel, dem indogermanischen Lichterbaum, war es paradoxerweise gerade das Fehlen eines historischen Vorkommens, das ihm als Beweis für seine Existenz galt. Dass der Weihnachtsbaum vor dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts so gut wie keine Verbreitung fand, belege doch nur den übermächtigen Fremdeinfluss und die Unterdrückung durch das Christentum.5 Auf dieser Grundlage habilitierte sich Huth 1939 mit seiner Studie über den Feuerkult der Indogermanen. Die Arbeit erschien 1943 als Beiheft des mittlerweile unter SS-Ägide herausgegebenen →Archivs für Religionswissenschaft. Noch stärker kennzeichnet die Methode der synthetisch intuitiven Zusammenschau auf rassentypologischer Grundlage Huths Beiträge für die Zeitschrift Germanien, für die er schon schrieb, als sie noch das Organ der Vereinigung der Freunde germanischer Vorgeschichte war. Neben dem Hauptschriftleiter Joseph Otto Plaßmann wurde Huth zum wichtigsten Mitarbeiter von Germanien. Zwischen 1933 und

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1945 verfasste er annähernd dreißig kleinere Artikel und etwa das Zehnfache an Rezensionen. Nachdem der im Juli 1935 unter Beteiligung Himmlers gegründete Verein Deutsches →Ahnenerbe. Studiengesellschaft für Geistesurgeschichte immer stärker in das Fahrwasser der SS geriet und der frühere Spiritus rector Herman Wirth an den Rand und dann ganz aus dem „Ahnenerbe“ hinausgedrängt wurde, hatte sich Huth zu entscheiden, ob er seinem ehemaligen Mentor die Treue halten sollte, oder ob er auf die besonders von Walther Wüst vertretene Linie der „Verwissenschaftlichung“ des „Ahnenerbes“ einschwenken wollte.6 Huth entschied sich für das Zweite und trat im März 1937 offiziell dem „Ahnenerbe“ bei. Bereits im Jahr darauf wurde er zum kommissarischen Abteilungsleiter der Forschungsstätte für indogermanische Glaubensgeschichte ernannt. Am Ende des Jahres 1938 wandte sich Huth an den Tübinger Religionswissenschaftler Jakob Wilhelm Hauer, um seine noch ausstehende Habilitation voranzutreiben, die ihm nach Überwindung etlicher fachlicher Schwierigkeiten Ende 1939 gelang. Die sich daran anschließende beamtete Dozentur brachte für das „Ahnenerbe“ nicht nur den erstrebten Anschluss an die Universitätsforschung, sondern entlastete den eigenen Finanzetat auch um ein Abteilungsleitergehalt. Wie sein Schwager Otto Rössler, der im „Ahnenerbe“ später die Forschungsstätte für Nordafrikanische Kulturwissenschaft übernahm, arbeitete Huth an Hauers Religionswissenschaftlichem beziehungsweise Arischen Seminar. Auf Drängen Hauers trat Huth Ende 1939 in die NSDAP und Anfang 1940 in die SS ein. Seinen eigenen Aussagen zufolge reichte Huths völkisches Engagement bis in die frühen zwanziger Jahre zurück. Schon 1924 habe er der mit der NSDAP liierten DeutschVölkischen Freiheitsbewegung angehört. 1928 schloss er sich der SA und dem NSStudentenbund an. Am 30. April 1941 wurde Huth zum Untersturmführer und am 9. November 1943 zum Obersturmführer der SS ernannt. Zweifellos hatte es Huth seinen politischen Beziehungen zu verdanken, dass er im April 1942 auf eine neu eingerichtete außerordentliche Professur für Religionswissenschaft an der →Reichsuniversität Straßburg berufen wurde. Es bedurfte eines erheblichen Drucks von Seiten der SS, um das Sträuben des Finanzministeriums zu überwinden. Obwohl sich kaum eine Handvoll Studenten bei Huth einfanden, firmierte er nun als Leiter des im Großseminar für Frühgeschichte und Altertumskunde angesiedelten Religionswissenschaftlichen Seminars der Reichsuniversität Straßburg. Die geringe Arbeitsbelastung ermöglichte es ihm andererseits, sich für den SD zu engagieren. Ende 1943 nahm Huth am Germanischen Wissenschaftseinsatz der SS teil, wobei er eine umfangreiche Reise- und Vortragstätigkeit entfaltete. So vertrat er den nach 1945 unter dem Namen Hans Schwerte bekannten Leiter des Einsatzes Hans Ernst Schneider mehrfach bei Auslandstagungen. Als nach Schließung der Universität Oslo im Dezember 1943 circa 650 norwegische Studenten nach Deutschland verschleppt wurden, kam die eine Hälfte von ihnen in das KZ Buchenwald, die andere Hälfte in ein nahe Straßburg gelegenes Schulungslager der SS. Dort sollten sie mit dem nötigen Nachdruck und mit Hilfe weltanschaulicher Belehrungen, als Referenten waren unter anderem Huth und Wüst vorgesehen, von der Richtigkeit

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des großgermanischen Gedankens überzeugt werden. Da sich die norwegischen Studenten tapfer verweigerten, mussten sie Zwangsarbeit leisten und wurden nach dem Fall Straßburgs zum größten Teil ebenfalls in das KZ Buchenwald überstellt. Dieser sich nicht nur im Zusammenhang des Germanischen Wissenschaftseinsatzes manifestierende politische Aktivismus Huths belegt eindringlich, wie stark die nachrückende Generation völkischer Wissenschaftler in das Herrschaftssystem des Dritten Reiches eingebunden war. Ihre wissenschaftliche Leistung, soweit man überhaupt davon sprechen kann, reduzierte sich fast vollständig auf die Legitimierung und praktische Umsetzung der NS-Ideologie. Wie viele ehemalige Mitarbeiter des „Ahnenerbes“ behauptete Huth dagegen nach 1945, Himmlers Wissenschaftsorganisation hätte mit der Politik „Dritten Reiches“ nichts zu tun gehabt. Aufgrund seiner politischen Belastung blieb ihm die Rückkehr an die Universität jedoch versperrt. Huth arbeitete deswegen bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1971 als Fachreferent für Theologie und Religionswissenschaft an der Universitätsbibliothek in Tübingen, wo er 1998 verstarb.

Horst Junginger

1 Vgl. Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, Stuttgart 1999, S. 248–268. 2 Vgl. Ulrich Vollmer, Carl Clemen (1865–1940) als Emeritus, in: ZfR 9 (2001), S. 185–203, zu Huth ebd., S. 200. 3 Otto Huth, Die Fällung des Lebensbaumes. Die Bekehrung der Germanen in völkischer Sicht, Berlin 1936, S. 10f. 4 BArch R 73, 11853, Schreiben Wirths an die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft vom 5.4.1933 mit beigefügter Ausstellungsankündigung und Auflistung der Ausschussmitglieder. 5 Otto Huth, Der Lichterbaum. Germanischer Mythos und deutscher Volksbrauch, Berlin 1938. Himmler verschenkte Huths Lichterbaum zum Julfest 1937 an alle Mitarbeiter seines Persönlichen Stabes. 6 Vgl. grundlegend dazu Michael H. Kater, Das ‚Ahnenerbe‘ der SS, Stuttgart 1974, S. 130ff.

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Gunther Ipsen Gunther Carl Julius Ipsen wurde am 20. März 1899 als Sohn des Mediziners Carl Ipsen in Innsbruck geboren. Nach seinem vorzeitigen Abitur, das er „mit Auszeichnung“ bestand, leistete er 1915 vier Monate freiwilligen Landsturmdienst. Im März 1917 stieß er als Einjährig-Freiwilliger zum I. Regiment der Tiroler Kaiserjäger und nahm „in verschiedenen Verwendungen“ an den Kämpfen an der italienisch-österreichischen Front teil. Im selben Jahr absolvierte er als Bester einen Reserveoffizierslehrgang, im Juli 1918 wurde ihm das Karl Truppenkreuz, einen Monat später die bronzene Tapferkeitsmedaille verliehen. Vom 4. November 1918 bis zum 31. August 1919 befand er sich in italienischer Kriegsgefangenschaft. Ipsen strebte eine Militärkarriere an, wurde aber als Reserveoffizier aus dem Heer entlassen, auch spätere Gesuche um Wiederaufnahme blieben erfolglos. Wie viele seiner Landsleute forderte er vehement die großdeutsche Lösung eines Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich, die aber von den Siegermächten verboten wurde. Politisch enttäuscht kehrte er Österreich den Rücken und brach den Kontakt zu fast allen Freunden und Verwandten ab. 1919 siedelte er nach Leipzig über und nahm die deutsche Staatsangehörigkeit an.1 Zum Wintersemester 1920/21 immatrikulierte sich Ipsen am Institut für Kulturund Universalgeschichte der Universität Leipzig, wo er ein breitgefächertes Studium in Philosophie, Psychologie, klassischer Altertumswissenschaft, Indogermanischer Sprach- und Altertumskunde und Orientalistik begann. Dabei orientierte er sich stark an der holistisch argumentierenden „Ganzheitstheorie“ des Philosophen und Psychologen →Felix Krueger. Dessen Denkweise kombinierte psychische, physische und biologische Aspekte zu geschlossenen Einheiten – den „Gestalten“ – deren einzelne Teile nur durch den Gesamtkontext bestimmt wurden. „Ganzheit“ diente Ipsen als Schablone und normatives Deutungsmuster auch zur Erklärung sozialer Phänomene, was ihn bestärkte, „Gesellschaft“ nicht als Summe frei denkender und handelnder Individuen zu sehen, sondern als kulturell geprägtes und „geschichtlich“ determiniertes Kollektiv. Diese Denkweise korrelierte mit Ipsens ideologischer Nähe zu Teilen der radikalisierten Jugendbewegung. Wie viele Angehörige der „Frontkämpfergeneration“ verstand Ipsen seinen Kriegseinsatz als sinnstiftendes Erlebnis.2 Nach 1918 wurden die Begriffe „Volk“ und „Gemeinschaft“ zu Kampfbegriffen der zunehmend antisemitischen Studentenschaften um die Deutsche Akademische Gildenschaft, die zusammen mit der völkischen, „jungdeutschen“ Bewegung die Überwindung der Versailler Nachkriegsordnung zum Ziel hatten. Der Rückgriff auf →Fichte, Hegel und weitere exponierte Vertreter der Deutschen Bewegung diente ihnen dabei zur Legitimierung einer kulturellen „→Volksgemeinschaft“ und zur Abgrenzung gegen die republikanischen und liberalen Traditionen der Französischen Revolution.3 1922 legte Ipsen mit seiner viel gelobten Dissertation „Über Gestaltauffassung“ ein ganzheitliches, empirisch untermauertes, erkenntnistheoretisches Konzept vor,

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das zur Grundlage seiner späteren soziologischen und bevölkerungspolitischen Arbeiten wurde. Auch in der Habilitation von 1925 kombinierte Ipsen philosophische Erkenntnistheorie und ganzheitliche Theorie zu einem gesellschaftlichen Ordnungsmodell. Ordnung, so Ipsen, „erzeugt […] ein Relief, worin übergeordnete Glieder die anderen tragen, neben geordnete sich schichten. Diesen Sachverhalt vor Augen, hat man die Ordnung von Gestalten seit Platon mit einem Bilde wiederholt „Gemeinschaft“ genannt“.4 Nach seiner Promotion arbeitete Ipsen für ein Jahr als Lehrer an der 1906 von dem Reformpädagogen Gustav Wyneken gegründeten Freien Schulgemeinde Wickersdorf (FSGW), die als pädagogisches Modellprojekt aus den modernitätskritischen Idealen der Jugendbewegung hervorgegangen war. Als Kulturschule sollte sie einer „schöpferischen“ kollektivistischen Gemeinschaftserziehung dienen und zur Bildungsstätte einer „neugeartete[n] Generation“ avancieren. Das Ideal eines „neuen Sparta“ vor Augen, betätigte sich Ipsen während dieser Zeit als „Gemeinschaftsführer“, der sich neben dem Unterricht in Deutsch, Geschichte und Geographie vor allem der Aufgabe widmete, „individualistisch-anarchistische Bedürfnisse“ aufzulösen und in das „geistige Heerlager Wickersdorf“ zu transformieren.5 Praktische Erfahrungen dieser Art bestärkten Ipsen darin, organisch-kollektive Erziehungsmodelle wie die des späteren NS-Pädagogen Ernst Krieck positiv zu rezipieren.6 Vor allem die Sprache verstand Ipsen als zentrales konstituierendes Element einer „Volksgemeinschaft“. 1930 veröffentlichte er eine in der Fachwelt viel beachtete sprachphilosophische Studie7, in der er den „Wiener Kreis“ um Ludwig Wittgenstein und Rudolf Carnap bewusst ignorierte und eine ganzheitliche Sprachphilosophie mit dem deutschen Volkstum als zentralem Paradigma postulierte. Die geographische Ausdehnung Deutschlands war für Ipsen dabei identisch mit der „Lebenswirklichkeit“ des deutschen Sprachraums.8 Durch seine Lehrer Wilhelm Streitberg und Eduard Sievers wurde er ab 1924 Teil eines jungkonservativen sprachwissenschaftlichen Netzwerks, zu dem auch der spätere Sprachforscher des SS-Ahnenerbes Leo Weisgerber, der Mitbegründer der völkischen „Sprachinselforschung“ →Walter Kuhn und der Niederlandist und spätere Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) André Jolles gehörten.9 1926 wechselte Ipsen an das neue soziologische Institut, auf dessen Lehrstuhl 1925 der Kulturphilosoph Hans Freyer berufen worden war. Freyer, Duzfreund und wichtiger Mentor Ipsens, teilte dessen jugendbewegten Gemeinschaftserfahrungen. Das Kriegserlebnis als „Basis einer neuen weltanschaulichen Klärung“ modifizierte Freyer zur Grundlage einer intuitiven, lebensphilosophischen Ganzheitsethik, die er „Wirklichkeitswissenschaft“ nannte. Diese „historisch-existentialistische“ Soziologie erklärte das „geschichtliche Volk“ zum „Subjekt historisch-gesellschaftlicher Genese“, dessen „Endzweck“ die Gleichstellung von Volk und Gemeinschaft innerhalb eines „Schicksalsraums“ mithilfe „politischer Formung“ sei.10 Ipsen selbst hatte sich laut eigener Aussage bereits „seit 1922 […] mit soziologischen Untersuchungen

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über den Aufbau und die Gliederung Deutschlands“11 beschäftigt und verschmolz seine interdisziplinäre Methodik mit den Lehren Freyers und Kruegers ab Mitte der 1920er Jahre zu einer volkstümlichen „Deutschen Soziologie“. Für Ipsen lagen Wert und Sinn der Soziologie in der Synthese von Theorie und Praxis, wobei ihn die Prämisse vom deutschen Volk als „geschichtlichem“ Subjekt so sehr beeinflusste, dass er die soziologische Forschung selbst zum kollektiven Akt der „Volkwerdung“ stilisierte: „dieses Verhältnis [gehört] ganz und ursprünglich schon zum Ansatz der Soziologie selbst […] Einsichten in die Bewegungsgesetze der sozialen Wirklichkeit und die Erkenntnis der gegenwärtigen Lage vermögen selbst geschichtliche Kräfte zu werden. Diese Wirkung und ihre Bestätigung durch die Geschichte ist die höchste Rechtfertigung und das letzte Ziel aller soziologischen Forschung.“12 Zentral in Ipsens Soziologie wurde das metaphysisch aufgeladene „Deutsche Bauerntum“. Der Bauer repräsentiert Herrschaft, Familie und Gemeinschaft und wurde zur tragenden Säule von Ipsens Agrarsoziologie. Als völkischer Reproduktionspool des „Organischen“ steht die Lebenswelt der „ewigen Bauern“ der liberalkapitalistischen Moderne diametral gegenüber, ein paradigmatischer Leitfaden in Ipsens gesamtem wissenschaftlichen Werk. Das Industriesystem deutete Ipsen als „Entartung der Volksordnung“. Die Aufhebung feudaler Strukturen führt zu einer kapitalistischen Agrarordnung, deren negatives Leitbild Ipsen in der „liberalen Idee des Landwirts“ sieht.13 Von Hegels Lehre von Herr und Knecht beeinflusst, erklärte Ipsen das Bauerntum zum Bewahrer patriarchalisch-germanischer Herrschaftsstrukturen: „Die Herrschaft war aus den Bedingungen des Bauerndaseins entwickelt […] Durch seine Bindung an den Herrn hatte der Bauer unmittelbar teil an der politischen Führung und Gestaltung.“14 Eine mythisch überhöhte Führerfigur erachtete Ipsen als notwendig für eine volkstümliche Lebensordnung, und er negierte individuelle Entscheidungsfreiheit und persönliche Verantwortung: „Führertum ist die Brücke zwischen der bloßen Möglichkeit und der Wirklichkeit des Volkes; es erhöht ein Volk aus dem Dämmer unbewußten Daseins zu geschichtlicher Wirklichkeit.“15 Die Aufgabe des sesshaften, „schollenpflichtigen“ Bauern lag für Ipsen auch in der Aufrechterhaltung eines „Walls“ gegenüber dem „Bevölkerungsdruck“ der geburtenstarken Länder Osteuropas, um eine „→Umvolkung“ zu vermeiden: „er [der Bauer] führt in vorderster Linie den Kampf um den Nahrungsspielraum, er gibt der staatlichen Machtentfaltung grenzwärts den wirklichen Widerhalt in täglich neu erworbenem Besitz.“16 Zusammen mit Studenten und Angehörigen der Deutschen Freischar wurden ab 1928 die „realsoziologischen Dorfwochen“, zumeist in Polen und Rumänien, als Gemeinschaftsprojekte des soziologischen Instituts der Universität Leipzig, dem schlesischen Grenzschulheim Boberhaus in Löwenberg/Schlesien und der Pädagogischen Akademien Beuthen, Breslau und Halle realisiert. Das „Boberhaus“, zu dem

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über Ipsens Studenten Helmut Klocke und Helmut Haufe enge Kontakte bestanden, fungierte bereits ab 1926 als Treffpunkt zukünftiger „Ostforscher“. Den Exkursionsteilnehmern wurde mit den Fahrten in deutschsprachige Dörfer Osteuropas die Theorie des deutschen Volks- und Kulturbodens ebenso nahegebracht wie das pädagogische, mystische „Erlebnis der Gemeinschaft“ in der Gruppe: „Wir haben auf unseren Fahrten Landschaft, Leben und Menschenart kennen gelernt und wir haben zu der sinnlich eindringlichen Anschauung ein Gefühl für die tieferen Kräfte, für die bildenden Mächte des Raums und des Volkstums gewonnen.“17 Die Dorfwochen dienten als wissenschaftliche Grundlagenforschung auch der Verknüpfung agrarsoziologischer Theorien mit praktischem „Arbeitsdienst“ und zielten auf die Begründung einer „deutschen Agrarsoziologie“ ab. Sie sollten „eine der ersten Voraussetzungen jeder deutschen Ostpolitik – der äußeren wie der inneren“ sein und der Sicherung der deutschen Hegemonie in Osteuropa Vorschub leisten.18 Ipsens „Realsoziologie“ fungierte in erster Linie als praktische „Deutschtumsarbeit“, die der späteren →Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung (RAG) vorausgriffen. Die häufig als „innovative“ Methodik bezeichnete19 empirische und statistische Arbeitsweise Ipsens diente zur formalen Bestätigung revisionistischer politischer Forderungen im Rahmen der Erforschung des deutschen „Lebensraums“. Die nach 1918 entstandenen Staaten in Osteuropa waren in Ipsens Augen lediglich historisch-politische Strukturanomalien. Er bezeichnete die Idee des nichtvölkischen Nationalstaats als „leeres Gedankending ohne die zugehörige Wirklichkeit“ und als „Pseudomorphose“.20 Als „Prototyp des NS-Wissenschaftlers“ erklomm Ipsen nach der „Machtergreifung“ rasch die Karriereleiter.21 Am 1. Mai 1933 wurde er Leiter des vom Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) und Hans Freyer initiierten Seminars für politische Erziehung in Leipzig und beteiligte sich aktiv an der Transformation der republikanischen Lehrerausbildung in die Doktrinen des Nationalsozialismus. Als Lektor für Vorgeschichte und →Volkskunde trat er 1933 in den Dienst der als Zensurbehörde arbeitenden Reichsstelle zur Förderung des Deutschen Schrifttums.22 1937 wurde er Parteimitglied (Nr. 5.089.913), war aber bereits 1933 der SA beigetreten und seit 1934 Mitglied im NS-Lehrerbund. Am 9. November 1938, dem Tag der Reichspogromnacht, wurde er zum SA-Obertruppführer befördert.23 Zum 1. Oktober 1933 wurde Ipsen als Professor für Philosophie an die „Grenzlanduniversität“ Königsberg berufen, 1935 zusätzlich zum Direktor des philosophischen Instituts ernannt und seine Professur um „Volkslehre u. Volksforschung“ erweitert.24 Ipsens Denken entwickelte und verfestigte sich inhaltlich und terminologisch immer mehr in Richtung einer nationalsozialistischen „Volksgeschichte“.25 Die Wirkungsstätte Königsberg verhalf ihm innerhalb des NS-Wissenschaftsbetriebes schnell zu einem gefragten Experten aufzusteigen. Ipsens in Leipzig entwickelte „Deutsche Soziologie“ wurde in Königsberg zielgerichtet zur Disziplin der „Volksforschung“ ausformuliert und schuf Methoden und Techniken zur Festigung des

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von den Nationalsozialisten geforderten, auf rassistischen und antisemitischen Grundlagen beruhenden Großdeutschlands. 1933 veröffentlichte Ipsen die „Soziologie des deutschen Volkstums“, in der er das „Schichtengefüge“ des deutschen Volkstums (organisch, pluralistisch, politisch) beschrieb. Ipsen vertrat die Vorstellung vom Deutschen Volk als einem großen handelnden „Subjekt“ im Sinne des NS-Volksgruppenrechts, dessen Teile (Inund Auslanddeutschtum) nicht trennbar sind, ohne die Fähigkeit zu sinnvollen Handlungsentscheidungen zu unterminieren.26 Im Frühjahr 1933 setzte er sich außerdem nachhaltig für das „Reichserbhofgesetz“ ein, das deutsche Bauernhöfe zu „unveräußerlichem Gut“ erklärte. Ipsen begrüßte dessen rassistische Erbfolgekriterien, die „sich nicht mit der Reinheit bis ins zweite Glied [beschränkten], sondern […] grundsätzlich unbeschränkt jüdische oder farbige Beimischung aus[schlössen]“27. Als Mitautor des →Handwörterbuchs des Grenz- und Auslanddeutschtums (Hdwb) steuerte Ipsen zwischen 1933 und 1938 mehrere Artikel bei, die sein biopolitisches Denken und seine Forderung nach einer qualitativen Bevölkerungspolitik unter Ausschluss der Juden offenlegen. Das liberale, kapitalistische Industriesystem, so Ipsen, „bietet dem Eindringen des Judentums als Nutznießer u. Ausbeuter die notwendige Tarnung. […] Der jüdische Rasseninstinkt ersieht im proletarischen Klassenkampf eine zweite Erfolgsmöglichkeit, indem er den Minderhaß als Aufstand des Untermenschen mobil macht: die Unterwerfung […] unter das Judentum hat begonnen.“28 Derartige antisemitische Deutungsmuster standen in unmittelbarem Zusammenhang mit den bevölkerungspolitischen Plänen des radikalen Nationalsozialisten und Leiters des Volkswissenschaftlichen Arbeitskreises (VwA) →Kleo Pleyer. Der VwA diente der Vernetzung NS-konformer Wissenschaftler und sollte der „Volkslehre“ als „kämpfender Wissenschaft“ zum Durchbruch verhelfen. Hier besprach Ipsen Konzepte zur künftigen Neuordnung Europas, unter anderem mit →Max Hildebert Boehm, →Emil Meynen, →Theodor Oberländer, →Hermann Raschhofer, Walter Kuhn, Karl Heinz Pfeffer, →Friedrich Metz und Hans Schwalm. „Volkslehre“ interpretierte der VwA als Wissenschaft „in verantwortlichem Dienst an der Führung“, „die jenes System [Versailles] geistig überwindet“.29 Seit 1935 gehörte Ipsen neben →Theodor Schieder zum Kuratorium des von →Alfred C. Toepfer gestifteten, „volksdeutschen“ Johann-Gottfried-Herder-Preises. Ab 1938 gab er außerdem zusammen mit Heinrich Harmjanz die Zeitschrift für Volkskunde heraus. Ipsens stark vergeistigte und gleichzeitig praxistaugliche „Realsoziologie“ im Geiste W.H. Riehls zog Forscher wie →Karl-Heinz Pfeffer, Werner Markert, →Werner Conze und Hans Linde in ihren Bann. Conzes „Agrarverfassung und Bevölkerung im Gebiet des alten Großfürstentums Litauen“ ging genauso wie Lindes „Preußischer Landesausbau“ auf Ipsens „seit 1931 planmäßig im Osten des deutschen Lebensraums durchgeführt[en]“ Untersuchungen zurück.30 Im November 1935 wurde Conze Ipsens Assistent und folgte ihm später nach Wien, um „dem Ausbau der For-

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schung und des Unterrichts in der Volkslehre zu dienen.“ Als Gutachter von Conzes Habilitation rechnete er diese „zu den reizvollsten und lehrreichsten“ Arbeiten über „die Einnistung des Judentums in die Risse und Hohlräume eines aus rassischen Gründen unstimmig gewordenen Gefüges“.31 Ipsens exponierte Position als einflussreicher, „zuverlässiger Soziologe“ veranlasste das Reichswissenschaftsministerium (REM), ihm die Leitung des 14. Internationalen Soziologenkongresses 1939 in Bukarest anzuvertrauen. Ipsen lieferte dem Ministerium bereitwillig Informationen über Teilnehmer früherer Kongresse – „ich habe die deutschen Teilnehmer rot angestrichen und die Juden von deutschen Hochschulen eigens benannt“. Von einer Teilnahme am Kongress 1937 in Paris riet er ab, da dort „Nationalsozialistische Wissenschaft […] nicht wirksam zur Geltung gebracht werden“ könnte.32 In seinem Beitrag für den Bukarester Kongress stellte Ipsen die „Daseinsmächtigkeit der Rasse“ durch die „züchterische Auslese“ der bäuerlichen „Familienverfassung“ in den Vordergrund, deren Sinn eine „schöpferische Erschließung neuen Lebensraums“ sei.33 1939 erhielt Ipsen einen Ruf an die Universität Wien, wo er als Leiter der philosophischen Fakultät zusammen mit seinem Wunschpartner und ehemaligen Studenten Arnold Gehlen die Philosophische Anthropologie zu etablieren versuchte. 1940 erschien Gehlens Hauptwerk Der Mensch, das zu großen Teilen auf Einflüsse Ipsens zurückgeht. In einer Vorlesung vom April 1939 über „philosophische Anthropologie“ forderte Ipsen, die Deutsche Universität solle zu einer „Stätte für Männer“ geformt werden, „dem politischen Soldatentum auf der Hochschule eine Stätte bereiten und umgekehrt die Hochschule zu einem Standort politischer Soldaten entwickeln“.34 Im August 1939 zur Wehrmacht einberufen, diente Ipsen bis Mai 1945, zuletzt im Rang eines Majors. Am 18. Januar 1942 wurde er Generalstabsoffizier der 18. Armee zuständig für die Feindabwehr. Ipsen nahm am Überfall auf Polen, am Frankreichfeldzug und der Belagerung von Leningrad teil, zuletzt an der Verteidigung der „Festung Königsberg“; 1939 erhielt er das Eiserne Kreuz Zweiter Klasse, im Juli 1940 Erster Klasse, am 5. Oktober 1941 bekam er als 70. Träger überhaupt das Deutsche Kreuz in Gold verliehen. Ipsens Auffassung vom Kriegsdienst kann als empathisch bezeichnet werden, er tat alles in seiner Macht Stehende, um den Angriffskrieg als Ausgangspunkt einer Neuordnung Europas unter deutscher Führung siegreich zu beenden. Er sei wieder „zur praktischen Philosophie übergegangen [… und] mit Leidenschaft und Stolz Chef einer aktiven Kompanie“. Ipsen war sich bewusst, dass der Angriff auf Polen in das Szenario eines umfangreichen Vernichtungskriegs gegen die polnische Bevölkerung und den polnischen Staat eingebunden war. Er schrieb, „dieser Feldzug in Polen [… wird] nicht nur als größte Folge von Vernichtungsschlachten in die Geschichte eingehen […], sondern als der erste Vernichtungskrieg, der eine ganze Nation austilgt und als der Anfang vom Ende der britischen Weltmacht“. 1943 wurde Ipsen zum NS-Führungsoffizier ernannt.35

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Im weiteren Verlauf des Krieges wurde es sein erklärtes Ziel, nationalsozialistische Wissenschaft unter vermehrtem Ausschluss der Juden und „in einem Zweikampf mit den USA“ voranzutreiben. 1941 empfahl Ipsen dem REM, er „halte nach wie vor den wissenschaftspolitischen Einsatz der deutschen Soziologie für besonders wichtig […], die starke Verjudung der internationalen Soziologie [beweise] ihre hervorragende Bedeutung als politische Schlüsselstellung in der Wissenschaftsarbeit […] im deutschen Machtbereich.“36 Zu diesem Zweck beauftragte er seinen Assistenten Helmut Haufe im Winter 1940/41, die Bestände des Institut International de Sociologie (IIS) in Paris zu sichten und den französischen Soziologen ihre „überkommene westliche Denkform und Geisteshaltung“ auszutreiben. Die deutsche Soziologie sollte als europäisches Ordnungsmodell gegenüber den USA und den westlichen Demokratien in Stellung gebracht werden. Zu diesem Zweck war bereits vor dem Krieg eine enge Zusammenarbeit mit dem faschistischen italienischen Statistiker und Soziologen Corrado Gini vereinbart worden.37 Die Kapitulation unterbrach jäh Ipsens Karriere. Er wurde in Wien außer Dienst gestellt und verbrachte sechs Jahre in Innsbruck, wo er sich „freiberufliche[r] wissenschaftliche[r] Tätigkeit“ widmete. Unter anderem arbeitete er sporadisch für zwei Innsbrucker Verlage.38 Parallel ließ er seine alten Kontakte spielen, vor allem zu Werner Conze, von dem er sich Hilfe bei der Wiedereingliederung in den Universitätsbetrieb erhoffte. 1950 publizierte Ipsen eine Sammlung glorifizierender und revisionistischer Ostpreußen-Aufsätze, für die neben der Hitlerverehrerin Agnes Miegel auch Conze und Theodor Schieder längere Beiträge lieferten.39 Ipsen hielt weiterhin unbeirrt an den theoretischen Pfeilern seiner Volkslehre fest. Zusammen mit anderen Vertretern der „Deutschen Soziologie“ wie Karl Valentin Müller, Egon von Eickstädt und Wilhelm Emil Mühlmann opponierte er gegen eine „Amerikanisierung“ durch remigrierende deutsche Sozialwissenschaftler innerhalb der neugegründeten Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS). Wiederholte Versuche einer Rechtsausrichtung der deutschen Nachkriegssoziologie, unter anderem wurde dazu das IIS unter der Führung Ginis wiederbelebt, wurden unter dem 1951 von Ipsen geprägten Schlagwort „Bürgerkrieg in der Soziologie“ bekannt.40 1950 wurde er Mitglied im Beirat des 1946 gegründeten →Göttinger Arbeitskreises, in dem Hochschullehrer der ehemals deutschen Ostgebiete revisionistische Forschungen unter dem Deckmantel der Vertriebenenforschung durchführten. Unter Bezug auf die „Werte der Menschlichkeit“ bat der Arbeitskreis im Juni 1951 die alliierten Hochkommissare um die Freilassung des „Führernachfolgers“ Großadmiral Karl Dönitz.41 1959 beklagte Ipsen in einem Vortrag über die Flüchtlingsaufnahme in Westdeutschland die „Entdeutschung Ostmitteleuropas“ durch die Sowjetunion, ignorierte aber die von Deutschen verübten Verbrechen als Ursache von Flucht und Vertreibung.42 Ab 1949 engagierte er sich im →Johann Gottfried Herder Forschungsrat, der als Nachfolgeorganisation der NOFG konzipiert wurde. Auf einer Tagung über „Polen in der Zwischenkriegszeit – Forschungslage und Problemstellungen“ 1961, referierte Ipsen über die mangelhaften statistischen Grundlagen der „Lebens-

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bilanz Polens“ und meldete starke „Zweifel“ an, dass „ein Großteil der polnischen Intelligenz durch die zwei Besatzungsmächte ausgelöscht worden“ sei.43 Im März 1951 wurde Ipsen mit Unterstützung seines früheren Königsberger Kollegen Carl Jantke zum Abteilungsleiter der Abteilung für Soziographie (Demographie) und Sozialstatistik in der Dortmund (SFS) ernannt, dem größten sozialwissenschaftlichen Institut der Nachkriegszeit in Europa.44 Viele NS-Forscher unterschiedlichster Couleur fanden hier eine neue institutionelle Heimat. Ipsen plante, parallel zu den Großstadt- und betriebssoziologischen Feldforschungen der SFS auch seine „eigenen wissenschaftlichen Anliegen“ weiterzuführen, worunter auch die Ausarbeitung seiner noch im „Puppenstadium“ befindlichen Bevölkerungslehre fiel.45 Als Mentor junger bundesrepublikanischer Wissenschaftler hatte Ipsen in der SFS großen Einfluss, auch floss seine Bevölkerungslehre neben den Lehren Gerhard Mackenroths in die bundesdeutsche Bevölkerungswissenschaft ein. Vor allem Werner Conze transformierte Ipsens bevölkerungswissenschaftliche Paradigmen inhaltlich und sprachlich in die westdeutsche Sozialgeschichte. Das ursprünglich rassisch motivierte „Gefüge“ des Volkstums sowie der „Bevölkerungsdruck“ dienten Conze weiterhin als „Denkfigur der ‚Überbevölkerung‘“, die „als soziales und ökonomisches Problem“ aufrechterhalten wurden. Ipsen selbst verwendete den Begriff „Leistungsgefüge“. Conze war noch 1975 „fasziniert[…]“ von den „bevölkerungs- und agrarsoziologischen Methoden Ipsens“ und bezeichnete den Artikel „Bevölkerung“ aus dem Hdwb als „unverzichtbar“.46 Auch Conzes Schüler Wolfgang Köllmann, von 1953–1955 Ipsens Assistent in der SFS, rezipierte Ipsens soziologische Werke und dessen Bevölkerungslehre noch 1972 äußerst positiv.47 Hans Linde, ab November 1933 SS-Mitglied und ab 1938 im Stabsamt des Reichsbauernführers beschäftigt,48 arbeitete ab 1956 in der SFS, genau wie der Geograph →Walter Christaller, der stark von Ipsen protegiert wurde. Auch Elisabeth Pfeil, ehemalige Assistentin von →Albert Brackmann, war mehrere Jahre Ipsens Mitarbeiterin an der SFS und eine enge Vertraute. 1959 erhielt Ipsen eine „131er Professur“49 an der Universität Münster. Federführend für seine Ernennung waren ein positives Empfehlungsschreiben von Andreas Predöhl sowie der Einfluss von Hans-Jürgen Seraphim und Hans Freyer, die Ipsen auch gegen anfängliche Bedenken der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät ins Amt heben konnten. 1960 versuchte Ipsen als „freier leitender Mitarbeiter“ der SFS einen nur ihm unterstellten Forschungsbereich, die „Gruppe Ipsen“, zu etablieren, überwarf sich aber mit dem neuen Direktor Helmut Schelsky und verließ die SFS Ende 1960.50 Danach lebte er am Starnberger See, hielt von 1962–1965 noch

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einige Vorlesungen an der Universität München und zog später nach Oberursel, wo er 1984 starb.

David Hamann

1 Vgl. Landesarchiv Tirol (LAT), Hauptgrundbuchblatt Gunther Ipsen vom 27.2.1917, S. 1f.; vgl. UAM, Ms B. 8, Nr. 8842, Bd. 1, Bl. 6, Abschrift des am 6.3. ausgestellten Reifezeugnisses vom 20.11.1951; vgl. UAL, PA 600, Bl. 3, handgeschriebener Lebenslauf Ipsen vom 6.7.1924; vgl. Claudia Hentschel, Zum Leben und Werk von Gunther Ipsen. Ein Beitrag zur Geschichte der Soziologie, Münster 1984, S. 7. 2 Vgl. Ulrich Herbert, Arbeit, Volkstum, Weltanschauung. Über Fremde und Deutsche im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M., 1995, S. 31f. 3 Vgl. Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus, Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2002, S. 25–80. 4 Vgl. UAL, Phil. Fak. Prom. 1260, Bl. 2, Bewertung von Ipsens Dissertation von Felix Krueger vom 8.11.1922; vgl. ebd. PA 600, Bl. 5, Empfehlungsschreiben Wilhelm Streitbergs für Ipsens Habilitation vom 12.7.1924; vgl. Gunther Ipsen, Über Gestaltauffassung (Erörterung des Sanderschen Parallelogramms), in: Felix Krueger (Hg.), Komplexqualitäten. Gestalten und Gefühle, Neue Psychologische Studien, Bd. 1, München 1926, S. 167–278; vgl. ders., Zur Theorie des Erkennens, Untersuchung über Gestalt und Sinn sinnloser Wörter, in: Krueger (Hg.), Komplexqualitäten, S. 279–372; zum Komplex Ipsen/Gestalttheorie vgl. David Hamann, Gunther Ipsen in Leipzig, Die wissenschaftliche Biographie eines „Deutschen Soziologen“ 1919–1933, Frankfurt a.M. 2013, S. 35–68. 5 Vgl. UAL, PA 600, Bl. 4, Lebenslauf Ipsen vom 6.7.1924; vgl. Peter Dudek, „Versuchsacker für eine neue Jugend“, Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf 1906–1945, Bad Heilbronn 2009, S. 27–54; Gustav Wyneken, Die zentrale Autonomie der Pädagogik, zit. nach: Ulrich Herrmann, Das Prinzip Wickersdorf, Freie Schulgemeinde als „Burg der Jugend“ und Jugendkultur durch „Dienst am Geist“, in: Historische Jugendforschung, Jb. des Archivs der deutschen Jugendbewegung NF 3 (2006), Schwalbach 2007, S. 41; vgl. Walter G. Klein, Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf, Jena 1921, zit. ebd., S. 16; Gustav Wyneken, Wickersdorf, Lauenburg (Elbe), 1922, S. 51. 6 Vgl. Gunther Ipsen, Rezension zu Ernst Krieck, Philosophie der Erziehung, in: Werkland, Zeitschrift für das Deutschtum (1924) 1, S. 65–68. 7 Vgl. Gunther Ipsen, Sprachphilosophie der Gegenwart, Berlin 1930. 8 Vgl. Gunther Ipsen, Das deutsche Volkstum im Zeitalter Napoleons, in: Blätter für Deutsche Philosophie (BfDPh), Bd. 5 (1931/32), S. 53–55. 9 Vgl. David Hamann, Gunther Ipsen in Leipzig, S. 83ff. 10 Vgl. UAM B. 8, Nr. 8842, Bd. 1, Personalunterlagen Ipsen, Vita vom 12.5.1958); vgl. Hans Freyer, Antäus, Grundlagen einer Ethik des bewußten Lebens, Jena 1918; vgl. ders., Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, Logische Grundlegung des Systems der Soziologie, Leipzig 1930; Willi Oberkrome, Volksgeschichte, Methodische Innovationen und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft, 1918–1945, Göttingen 1993, S. 113; vgl. Hans Freyer, Gemeinschaft und Volk, in: Felix Krueger (Hg.), Philosophie der Gemeinschaft. Sonderheft der Deutschen Philosophischen Gesellschaft (DPhG), Berlin 1929, S. 7–22, 19f., 22. 11 Vgl. BArch, R 73, 16870, S. 1, Antrag Ipsen an die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft vom 11.5.1928. 12 Privatnachlass Gunther Ipsen (PNLI), Manuskript Radiovortrag „Was verspricht die Soziologie?“ gehalten am 15.01. 1932 im Mitteldeutschen Rundfunk Mirag Leipzig, S. 3, 9, 10. 13 Vgl. Gunther Ipsen, Industriesystem, in: Carl Petersen (Hg. u.a.), Hdwb, Bd. 3, Breslau 1938, S. 168.

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14 Gunther Ipsen, Bauer und Staat. Dienstbarkeit, Entfremdung, Begegnung, in: Münchner Neueste Nachrichten vom 28.11.1933, S. 2. 15 Vgl. Gunther Ipsen, Grundsätze zur volksdeutschen Arbeit, in: Der Zwiespruch 13 (1931) 27.12.1931, S. 613–616 (Teil1), Zitat S. 614. 16 Ipsen, Agrarverfassung: III. Landvolk, soziale Struktur, in: Petersen (Hg. u.a.), Hdwb, Bd. 1, Breslau 1933, S. 39; ders., Das Landvolk, Hamburg 1933, S. 56–74 (Kapitel „Das Dorf und der Osten“). 17 Vgl. PNLI, Vorlesungsunterlagen sowie Manuskript zur „Arbeitsgemeinschaft zur Realsoziologie Mittel- und Osteuropas“, o. D. (SoSe 1932); Ipsen, Soziologische Dorfwochen, in: Die Volksschule vom 1.6.1932 (maschinengeschriebene Version aus dem PNLI, S. 2). 18 Vgl. BArch, R73/16870, Antrag Ipsens an die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft vom 20.5. 1930 sowie ein diesem Antrag beigefügter Aufsatz „Deutsch-rumänischer Hochschüler- und Schüleraustausch“, Sommer 1930 und 1931, Aufgaben und Studienfahrt nach Rumänien, S. 3. 19 Vgl. Christian von Gyldenfeldt, Gunther Ipsen zu VOLK und LAND. Versuch über die Grundlagen der Realsoziologie in seinem Werk, Münster 2008; als „wissenschaftlich ernste Soziologie“ werden Ipsens Dorfforschungen auch von Jörg Gutberger bezeichnet, vgl. Gutberger, Volk, Raum, Sozialstruktur. Sozialstruktur und Sozialraumforschung im „Dritten Reich“, Münster 2001, S. 298; vgl. Klingemann, Soziologie im Dritten Reich, Baden-Baden 1996, S. 230. vgl. Hentschel, Zum Leben und Werk von Gunther Ipsen, S. 72. 20 Gunther Ipsen, Gedanken zur soziologischen Erforschung des Deutschtums in Ostmitteleuropa, in: Deutsche Hefte für Volks- und Kulturbodenforschung, 3 (1933), S. 145. 21 Carsten Klingemann, Soziologie und Politik, Sozialwissenschaftliches Expertenwissen im Dritten Reich und in der frühen westdeutschen Nachkriegszeit, Wiesbaden 2009, S. 74. 22 Vgl. Matthias Middell, Weltgeschichtsschreibung, Bd. 2, Leipzig 2005, S. 675; BArch, R 56 V/ –65, Bl. 159, Arbeitsbericht des Vorlektorats der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums, o. D., (Ende Januar 1934). 23 Vgl. BArch, NSDAP-Mitgliedskarte Gunther Ipsen; vgl. ebd., BArch, SA-A, Bl. 89, SA Personalhauptamt an die Pressestelle des SA-Stabschefs vom 10.7.1942. 24 Vgl. ebd., R 4901, 13267, Hochschullehrerkartei des REM, Karte Gunther Ipsen von 1934. 25 Vgl. Josef Ehmer, Eine „deutsche“ Bevölkerungsgeschichte? Gunther Ipsens historisch-soziologische Bevölkerungstheorie, in: Demographische Informationen (1992/93, Wien 1993. 26 Vgl. Gunther Ipsen, Programm einer Soziologie des deutschen Volkstums, Berlin 1933, S. 9–13; ders, Grundsätze zur volksdeutschen Arbeit, in: Der Zwiespruch 13 (1931) (27.12.1931), S. 613–616 (Teil 1), BArch R 173/ -147, Bericht über die Besprechung der Hauptredaktion des Hdwb mit Prof. Dr. Ipsen in Wien am 4.10.1932, S. 2. 27 Vgl. UAL, Phil. Fak. Prom. 1260, Bl. 38, Gunther Ipsen an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig vom 20.10.1933; vgl. Gunther Ipsen, Programm einer Soziologie des Deutschen Volkstums, Berlin 1933; ders., Blut und Boden (das preußische Erbhofrecht). Kieler Vorträge über Volkstums- und Grenzlandfragen und den nordisch-baltischen Raum, Neumünster 1933, S. 22. 28 Gunther Ipsen, Industriesystem, in: Petersen (Hg. u.a.), Hdwb, Bd. 3, S. 168. 29 Vgl. BArch, R 8043, 1149, Bl. 220–240, Bericht von der Tagung des VwA im VDA zu Eisenach (Burschenhaus) am 4.–6.1.1935, zit. ebd., Bl. 223. 30 Ipsen, Vorwort in: Hans Linde, Preußischer Landesausbau. Ein Beitrag zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft in Süd-Osteuropa am Beispiel des Dorfes Piassutten/Kreis Ortelsburg, Leipzig 1939, S. III. 31 UAW, PA Ipsen, Ministerium für Innere u. Kulturelle Angelegenheiten an den Rektor der Universität Wien vom 15.6.1939; ebd., Bl. 51f., Gutachten über die Habilitationsschrift Dr. W. Conzes, 10.10.1940.

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32 Vgl. BArch, R4901/2979, Bl. 22, REM an Professor Mattiat vom 19.4. 1937; vgl. ebd., Bl. 24–27, Ipsen an REM vom 29.6.1937 mit Liste deutscher Kongressteilnehmer; ebd. Bl. 53A, Ipsen an REM vom 7.8.1937. 33 Ipsen, Agrarische Bevölkerung, in: Dimitri Gusti (Hg.), Arbeiten des XIV. Internationalen Soziologie-Kongresses, Bd. 1, Bukarest 1940, S. 209–220. 34 PNLI, Manuskript zur Vorlesung „philosophische Anthropologie“ (3 S.). 35 Vgl. WASt an Hamann vom 15.7.2010, vgl. PNLI, Ipsen an die „Kameraden der Hauptschriftleitung“ vom 28.9.1939; ULB Bonn, NL Rothacker, Brief Ipsen an Rothacker vom 21.4.1941; UAW, PA Ipsen, Ipsen an Dekan Christian vom 10.10.1940; BArch, SA 64-A, Bl. 97f., Erlebnisbericht Ipsen über den Kampf in Rußland); vgl. PNLI Ipsen, Weisungen zur nationalsozialistischen Führung Nr. 23 (31.3.1944) und Nr. 24 (28.4.1944), z.H. Major Ipsen; vgl. Nils Klawitter, Nationalsozialistischer Führungsoffizier, in: Wolfgang Benz (Hg. u.a.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 2001, S. 608. 36 BArch, R 4901/ 2979, Bl. 395, Ipsen an REM vom 23.12. 1941. 37 StA Köln, Nl René König, B.1671, Nr. 84, Franco Lombardi an René König, o.D., (Juni 1958), S. 1; ebd., „Nota Bio-Bibliografica Corrado Gini“; zu Gini vgl. Amparo Gomez (Hg. u.a.), Science Policies and Twentieth-Century Dictatorships. Spain, Italy and Argentina, Farnham 2015. 38 UAM, B.8, Nr. 8842, Bd. 1, Melde- und Personalbogen Ipsens vom 20.11. 1951, Anlage 3; ebd., Vita Ipsen; vgl. ULB Bonn, Nl Rothacker, Ipsen an Rothacker vom 29.5.1946. 39 Vgl. Gunther Ipsen, Heimat im Herzen, Wir Ostpreußen, Salzburg 1950. 40 Johannes Weyer, Der „Bürgerkrieg in der Soziologie“. Die westdeutsche Soziologie zwischen Amerikanisierung und Restauration, in: Sven Papcke (Hg.), Ordnung und Theorie. Beiträge zur Geschichte der Soziologie in Deutschland, Darmstadt 1986, S. 287. 41 ASD, I/9 Bl. 310f., Friedrich Hoffmann an Ipsen vom 31.5.1951. 42 PNLI, Vortrag gehalten auf dem Studienseminar des Auslandskomitees der Universität Münster in Altenau/Harz am 1. bis 5.3.1959, 10 S., 2. 43 PNLI, Johann-Gottfried-Herder-Institut an Ipsen vom 18.9.1962, angehängt eine Tonbandabschrift von Ipsens Vortrag, S. 27. 44 Vgl. Jens Adamski, Ärzte des sozialen Lebens, die Sozialforschungsstelle Dortmund 1946–1969, Essen 2009, S. 114. 45 ASD, I/ 17, Ipsen an Elisabeth Pfeil vom 11.5.1951. 46 Vgl. Werner Lausecker, „Volksgeschichte“ im Nationalsozialismus als wissenschaftliche Innovation? Bevölkerungsgeschichte, Sozialgeschichte, „Übervölkerung“ und die Perspektive der „Entjudung“ in Arbeiten von Werner Conze, unveröffentlichtes Manuskript, 2007, zit. S. 55. Ich danke Werner Lausecker für die Erlaubnis zur Nutzung. 47 Vgl. Alexander Pinwinkler, „Bevölkerungsgeschichte“ in der frühen Bundesrepublik Deutschland: Konzeptionelle und institutionengeschichtliche Aspekte. Erich Keyser und Wolfgang Köllmann im Vergleich, in: Historical Social Research 31 (2006) 4, S. 64–100, 92f.; vgl. ders., Historische Bevölkerungsforschungen. Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 2014, S. 237ff., 239; vgl. Adamski, Ärzte des sozialen Lebens, S. 246; vgl. Rainer Mackensen, Das regionale Leistungsgefüge, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft, Bd. 18 (1967), S. 80. 48 BArch, RS/ D5080, Bl. 2536, SS-Dienstleistungszeugnis vom 8.5.1939, ebd., 2536, Stabsamt Reichsbauernführer an das Rasse- und Siedlungshauptamt vom 6.10.1938. 49 Neufassung des §78a des Artikel 131: Hochschullehrer, die bis zum 8.5.1945 Bezüge erhielten, als „heimatvertrieben“ galten und das 58. Lebensjahr vollendet haben, konnten als Emeriti eingestellt werden. Die Kosten dafür trug der Bund. Die Höhe der Bezüge richtete sich nach denen, die der Betroffene am 5.8.1945 hatte. Ca. 200 Hochschullehrer sollten auf diese Weise untergebracht werden.

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50 HStA Düsseldorf, B. NW 172/ -541, Dekan Predöhl an Kultusminister des Landes NRW vom 12.5.1959; UAM, B. 31, Nr. 160, Beschluss der „engeren“ Fakultät anlässlich ihrer Sitzung vom 6.5.1959 über die Bildung einer Berufungskommission; vgl. Adamski, Ärzte des sozialen Lebens, S. 171ff.

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Viktor Kauder Viktor Kauder wurde am 25. Dezember 1899 in Lodz (Łódź) geboren. Seine Familie evangelischer Konfession war in Bielitz (Bielsko) ansässig, jedoch wegen des Berufs seines Vaters Rudolf zeitweilig nach Lodz umgezogen. Sein Vater arbeitete als Appreteur in der Firma Härtig und Söhne in Lodz, Pabianice und Tomaszow. Seine Mutter Luise, geb. Weber, stammte aus Lodz. 1926 heiratete Kauder Grete Ohrenstein aus Teschen (Cieszyn), die zwei Kinder gebar.1 Kauder besuchte in Lodz und Bielitz die Deutsche Volksschule und das Staatsrealgymnasium, das er 1918 mit dem Reifezeugnis abschloss. Die ersten Jahre des Ersten Weltkriegs verbrachte Kauder in Bielitz. 1917 wurde er zur österreichisch-ungarischen Armee einberufen; zuerst im Osten und danach auf dem Balkan eingesetzt.2 1919 begann er, an der Technischen Hochschule in Wien Chemie zu studieren. 1922 absolvierte er seine 1. Staatsprüfung, die 2. Staatsprüfung legte er aus unbekannten Gründen nicht ab.3 Den Beruf des Chemikers übte Kauder nur kurz aus. Nach seinem Umzug 1925 nach Poznań (Posen) widmete er sich in der Folgezeit bis gegen Ende des Zweiten Weltkrieges ganz der Deutschtumsarbeit in Polen, das heisst 1925 arbeitete er für den Verbleib des landwirtschaftlicher Flächen in deutschen Händen. 1926 war er in der Deutschen Bücherei in Posen angestellt, wo er sich mit der Gründung und Organisation des deutschen Bibliothekswesens in Großpolen und in Pommern befasste.4 Mitte Mai 1926 wechselte er nach Katowice (Kattowitz), um die Stelle des Geschäftsführers des Verbandes der deutschen Volksbüchereien anzutreten. Gleichzeitig fungierte er als Direktor der Deutschen Bücherei für Kunst und Wissenschaft. Diese Tätigkeit bekleidete er bis in die 1940 Jahre. Auf der neuen Stelle in Kattowitz als Verbandsleiter des Verbandes deutscher Volksbüchereien in Oberschlesien organisierte er die deutschen Bibliotheken in Oberschlesien, Galizien und in Wolhynien. Im Vergleich zu der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg vergrößerte er das deutsche Bibliothekswesen in diesen Gebieten erheblich. Nach dem Stand vom 1939 existierten dort 409 Bibliotheken, deren Gesamtzahl rund 150.000 Bände umfasste. Kauder leitete in Kattowitz die Bücherei für Kunst und Wissenschaft (ca. 28.000 Bände), die er zur zentralen wissenschaftlichen Bücherei des Deutschtums in Polen ausbaute.5 Sie stellte einschließlich der Schlesischen Bibliothek in Katowice eine Konkurrenzeinrichtung gegen polnische Bibliotheken dar. Das lag einerseits an der engen Zusammenarbeit mit den Führern der deutschen Minderheit in Polen und andererseits an der Unterstützung durch die →Deutsche Stiftung und die Mittelstelle für deutsches Auslandsbüchereiwesen. Die bibliothekarische Tätigkeit Kauders war nur ein Teil seiner Kultur- und Bildungsarbeit für das Deutschtum in Polen in der Zwischenkriegszeit. Von 1926 bis Mitte 1934 leitete er ehrenamtlich den Deutschen Kulturbund und baute die Erwachsenbildung der deutschen Minderheit aus (Sing- und Volkstanzwochen, Laienspielund Instrumentalkursen, Dichterlesungen, pädagogische Wochen zur Lehrerfortbildung, heimatkundliche Tagungen und Volkhochschulwochen) in Kattowice und

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Bielsko. Während seiner Leitung vereinigte der Deutsche Kulturbund 33 unterschiedliche Vereine mit 30.000 Mitgliedern (1937). Von 1933 bis 1938 war er geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutschen Theatergemeinde in Katowice, die deutschsprachige Theatervorstellungen veranstaltete.6 Kauder engagierte sich nicht nur in der Kulturarbeit der deutschen Minderheit, sondern organisierte auch Forschungen zu deren Geschichte im Osten, insbesondere in Polen. Schon seit 1914 betrieb er Heimatforschung, als deren erstes Ergebnis 1923 das Heft Die deutsche Sprachinsel Bielitz/Biala erschienen war, das sein völkisches Programm und seine künftigen Ziele enthielt. Von 1925 bis 1926 gab er gemeinsam mit →Hermann Rauschning die Monatsschrift Deutsche Blätter in Polen heraus, die zum geistigen Mittelpunkt für die wissenschaftliche Arbeit der deutschen Intelligenz in den abgetretenen Ostgebieten wurde.7 Von 1926 bis 1934 publizierte er in Katowice die kulturell-wissenschaftliche Zeitschrift der Deutschen in Polen Schaffen und Schauen mit Beiträgen zur Geschichte, →Volkskunde und Allgemeinwissen.8 Die Zeitschrift war Beilage der bibliografischen Umschau Der Bücherfreund, in der Neuerscheinungen des deutschen Schriftttums besprochen wurden. Infolge des Einflusses der →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG) veränderte er 1934 den Charakter der Zeitschrift in einen rein wissenschaftlichen. Sie hieß nun Deutsche Monatshefte in Polen und trug den Untertitel Zeitschrift für Geschichte und Gegenwart des Deutschtums in Polen (bis 1943). Infolge dieser Tätigkeiten wurde Kauder 1934 in den Kulturrat des DAI berufen und am 27. März 1940 zum Mitglied der Historischen Kommission für Schlesien ernannt.9 Kauders Hauptaufgabe war die Herausgabe populärwissenschaftlicher Werke über das Deutschtum in Polen. Er publizierte mehrere durch die NOFG geförderte Reihen. In der Reihe Deutsche Gaue im Osten erschien 1937 von Kauder der Bildband Das Deutschtum in Polen.10 Wegen dieses Bandes wurde er 1938 auf Grund des polnischen Pressegesetzes zu sechs Monate Gefängnis verurteilt und das Buch selbst beschlagnahmt. Eine Appellation und der Kriegsausbruch verhinderten seine Inhaftierung.11 Nach der Besetzung Polens im September 1939 wurde er stellvertretender Direktor der Oberschlesischen Landesbibliothek Beuthen-Kattowitz (vormals Oberschlesische Landesbibliothek Beuthen und Schlesische Bibliothek Kattowitz) und 1940 deren Direktor. Während des Krieges wuchsen die Anzahl der Leser in der Bibliothek und auch die Ausleihen. Kauder leitete gleichzeitig noch die Staatliche Büchereistelle, die 1.050 Erwachsenen- und 2.167 Schülerbüchereien im Regierungsbezirk Kattowitz umfasste.12 1944 wurde er zur Wehrmacht einberufen, wo er in der Luftwaffe diente. Er geriet in britische Gefangenschaft, aus der er 1946 nach Reutte/Tirol als Staatenloser (bis September 1939 war er polnischer Staatsbürger) entlassen wurde. 1951 erhielt er die österreichische Staatsbürgerschaft. Nach einiger Zeit der Arbeitslosigkeit fand er eine Beschäftigung bei dem Bau eines Kraftwerks; danach war er von 1949 bis 1954 in der Vereinigten Färberei AG in Reutte tätig. 1954 wurde er als Leiter der Bücherei

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des Deutschen Ostens in Herne berufen, deren Bestand er im Laufe seiner Amtszeit von 4.000 auf 35.000 Bände vergrößerte. Gleichzeitig betreute er in den Jahren von 1957 bis 1965 als Leiter die Städtische Hauptbücherei in Herne. 1962 wurde er Staatsamtsleiter in Herne. 1965 trat er in den Ruhestand.13 1975 zog er nach Innsbruck und verbrachte seine letzten Jahre bei seiner Tochter in Zirl/Tirol, wo er am 2. Juli 1985 starb. Kauder erhielt folgende Ehrungen: Die Silberne Plakette des →Deutschen Ausland-Instituts Stuttgart für Verdienste um das Deutschtum in Polen (1937), den Coppernicus-Preis der →Johann Wolfgang Goethe-Stiftung (1942), die Gauplakette für Oberschlesische Landesforschung (1943), Bundesverdienstkreuz am Bande (1976), Oberschlesisches Kulturpreis des Landes Nordrhein-Westfalen (1981).14

Zdzisław Gębołyś

1 Richard Breyer, Viktor Kauder (1899–1985). Ein Organisator deutscher Wissenschaft und Volkstumsarbeit, in: Jahrbuch Weichsel-Warthe 33 (1987), S. 85f.; Walter Kuhn, Das Lebenswerk Viktor Kauders. in: Der Kulturwart 17 (1969), S. 1–10; Edelgraud Spaude, Das Bildungsverständnis Viktor Kauders und dessen Bedeutung für seine Kulturarbeit. in: Oberschlesisches Jahrbuch 4 (1984), S. 147–159; Stefan Pioskowik, Schaffen und Schauen, in: Oberschlesische Stimme 15 (2012), S. 3; Laudatio auf Viktor Kauder, in: Waldemar Zylla (Hg.), Erbe und Auftrag. Oberschlesischer Kulturpreis 1965–1985, Dülmen 1988, S. 135–140; Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Baden-Baden 1999, S. 479. 2 Breyer, Viktor Kauder, S. 85ff.; Kuhn, Das Lebenswerk Viktor Kauders, S. 1ff.; Alexander Pinwinkler, Walter Kuhn (1903–1983) und der Bielitzer „Wandervogel e.V.“. Historisch-volkskundliche „Sprachinselforschung“ zwischen völkischen Pathos und politischer Indienstnahme, in: Zeitschrift für Volkskunde 105 (2009) 1, S. 34–43. 3 Technische Universität Wien, Hauptkatalog 1919/20 der Technischen Hochschule in Wien, Viktor Kauder, Matrikel-Nummer 227–1919/20. 4 Breyer, Viktor Kauder, S. 85ff.; Kuhn, Das Lebenswerk Viktor Kauders, S. 1ff.; Zdzisław Gębołyś, Biblioteki mniejszości niemieckiej w II Rzeczypospolitej, Katowice 2012, S. 95–112. 5 Breyer, Viktor Kauder, S. 85ff.; Kuhn, Das Lebenswerk Viktor Kauders, S. 1ff.; Gębołyś, Biblioteki mniejszości niemieckiej, S. 95ff.; vgl. Staatsarchiv Katowice, 40/0 Dyrekcja Policji w Katowicach (1922–1939), Sygn. 270 Deutscher Kulturbund fur Polnisch Schlesien (1936–39; 1927–1931; 1933– 1939), K. 81.; BArch, R 153 Publikationsstelle Berlin-Dahlem, Sign. 40; ebd., R 8043 Deutsche Stiftung, Sign. F 62 625, Deutsche Not in Oberschlesien (IV 1926), Bl. 81f. 6 Vikor Kauder, Die kulturelle Lage, Aufgabe und Leistung des Deutschtums in Polnisch-Schlesien, in: Viktor Kauder (Hg.), Das Deutschtum in Polnisch-Schlesien. Ein Handbuch über Land und Leute, Plauen 1932, S. 318–336. 7 Breyer, Viktor Kauder, S. 85ff.; Kuhn, Das Lebenswerk Viktor Kauders, S. 1ff.; Spaude, Das Bildungsverständnis Viktor Kauders, S. 147ff. 8 Zdzisław Gębołyś, „Schaffen und Schauen“ – niemieckie czasopismo bibliotekarskie w Polsce, in: Studia Śląskie, T. 62, S. 35–49. 9 Breyer, Viktor Kauder, S. 85ff.; Kuhn, Das Lebenswerk Viktor Kauders, S. 1ff. 10 Es handelt sich um Deutsche Gaue in Osten (11 Bände, 1931–1942), Ostdeutsche Forschungen (12 Bde, 1934–1943), Ostdeutsche Heimatbücherei (7 Bände), Ostdeutsche Heimathefte (12 Bände, 1935–

Viktor Kauder  337

1937). Vgl. Kuhn, Das Lebenswerk Viktor Kauders, S. 1ff.; Spaude, Das Bildungsverständnis Viktor Kauders, S. 147ff. 11 Breyer, Viktor Kauder, S. 85ff.; Kuhn, Das Lebenswerk Viktor Kauders, S. 1ff.; Wolfgang Kessler, Die Bücherei des deutschen Ostens – Geschichte, Bestand, Zukunft, in: Bücherei des deutsche Ostens. Bestandskatalog. Bd. 1: Nordostdeutschland, Ostpreussen, Westpreussen, Pommern, Mecklenburg, W. Kessler (Bearb.), Herne 1982, S. 5–11. 12 Viktor Kauder, Vom Büchereiwesen im Regierungsbezirk Kattowitz Ostoberschlesien, in: Die Bücherei, (1944) 11, S. 88–91; Sylwia Grochowina, Polityka kulturalna niemieckich władz okupacyjnych w okręgu Rzeszy Gdańsk – Prusy Zachodnie, w okręgu Rzeszy Kraj Warty i w rejencji katowickiej w latach 1939–1945, Toruń 2013, S. 141–143; Staatsarchiv Katowice, 189/118, Zarząd Prowincjonalny Górnego Śląska w Katowicach. 13 Vgl. die Artikelserie von Viktor Kauder über die Bücherei des deutsche Ostens in Herne, Viktor Kauder, in: Ostdeutsche Monatshefte, (1958), S. 39–41, ebd., 8 (1963) 1, S. 52–54; ebd., 9 (1964), S. 109–112. ders., 25 Jahre „Bücherei des Deutschen Ostens“, in: Kulturpolitische Korrespondenz (1973) 180/181, S. 11 und ders., Bücherei des deutschen Ostens in Herne, in: Der Schlesier 13 (1961) 2, S. 6. 14 Jan Zimmermann: Die Kulturpreise der Stiftung F. V. S. 1935–1945. Darstellung und Dokumentation. Hg. von der A. Toepfer Stiftung F. V. S., Hamburg 2000, S. 539–549; Breyer, Viktor Kauder, S. 85ff.; Kuhn, Das Lebenswerk Viktor Kauders, S. 1ff.; Cz, Ein Litzmannstädter wurde ausgezeichnet, in: Litzmannstädter Zeitung (1942) 341, S. 3.

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Erich Keyser Erich Keyser wurde am 12. Oktober 1893 als Sohn einer alteingesessenen Danziger Familie geboren. Er besuchte das Akademische Gymnasium in Danzig und studierte nach dem Schulbesuch Geschichte in Freiburg i. Br., Halle und Berlin. In seiner 1918 erschienenen Dissertation untersuchte er Fragen der ältesten Siedlungs- und Besitzgeschichte seiner Heimatstadt. Nachdem Keyser den Archivvorbereitungsdienst abgeschlossen hatte, wurde er 1920 Mitarbeiter des Danziger Staatsarchivs. Neben seiner Berufsarbeit betätigte er sich bei der Verbreitung deutschnationalen Gedankenguts in der Öffentlichkeit. In diesem Zusammenhang publizierte er Bücher und Artikel zur Danziger Stadtgeschichte sowie zur Landesgeschichte West- und Ostpreußens.1 Im Jahr 1931 zum ao. Prof. an der Technischen Hochschule Danzig berufen, entwickelte Keyser mit der „Bevölkerungsgeschichte“ einen eigenen Zweig der Geschichtswissenschaft, der neben den „Deutschen“ jene „Völker“ in die Forschung einbeziehen sollte, die mit diesen hinsichtlich ihrer Siedlungsweise historisch in Berührung gewesen waren. Aus diesen Bestrebungen heraus entstand 1938 die „Bevölkerungsgeschichte Deutschlands“, die die erste monographische Darstellung dieser Thematik war. In den dreißiger Jahren begann Keyser ferner das Projekt der Herausgabe eines mehrbändigen „Deutschen Städtebuchs“, mit dem er seine frühen Forschungen zur Geschichte Danzigs in Richtung einer vergleichenden städtegeschichtlichen Perspektive ausweiten wollte.2 Keyser war nicht nur Archivar und Hochschullehrer, sondern auch Museologe und rühriger Organisator wissenschaftlicher Aktivitäten. So rief er 1926 das Staatliche Landesmuseum für Danziger Geschichte in Oliva ins Leben, das er selbst bis zu seiner Flucht aus Danzig 1945 leitete. Die Gründung der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, die 1923 in Königsberg erfolgte, ging unmittelbar auf seine Anregung zurück. Im Westpreußischen Geschichtsverein übernahm er 1938 das Amt des ersten Vorsitzenden. Und innerhalb der Landeskundlichen Forschungsstelle des Reichsgaues Danzig-Westpreußen leitete er seit 1941 die Forschungsstelle für westpreußische Landesgeschichte. Bereitwillig stellte Keyser seine profunden Kenntnisse der Bevölkerungsstatistik der Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung. Während des Kriegs beteiligte er sich im Rahmen der „Eindeutschung“ des Gaus Danzig-Westpreußen an der Erstellung der Deutschen Volksliste. Ausgehend von den Daten der Volkszählung von 1939 berechnete der Gauamtsleiter Wilhelm Löbsack gemeinsam mit Keyser und dessen Assistenten Krannhals, dass etwa 30.000 Familien für eine „Eindeutschtung“ in Frage kämen. Keysers Forschungsstelle plante, im Dienst der ethnischen Flurbereinigung in den Ostgebieten des Deutschen Reichs die Zusammensetzung der Bevölkerung zu untersuchen. Im Februar 1943 nahm Keyser an einer „Besprechung der NOFG über bevölkerungshistorische Aufgaben“ teil, die in einem kriegswichtigen Sofort-Programm umgehend zur Anwendung gelangen sollten. Dabei ging es darum, die

Erich Keyser  339

deutschfreundlichen Minderheiten in Westpreußen und Pommern wie unter anderem die Masuren, Kaschuben, Schlonsaken „von den Polen zu trennen und in Volksdeutsche zu verwandeln“.3 Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs trat Keyser, der seit 1. Mai 1933 NSDAP-Mitglied gewesen war, bei der (Re-)Konstituierung des Netzwerks völkischer Forscher in Erscheinung. Er forderte dezidiert, dass die →Ostforschung wieder an ihre Wurzeln in der Vorkriegs- und Kriegszeit anknüpfen solle. 1950 war er einer der Mitbegründer des →Johann Gottfried Herder-Forschungsrates in Marburg a.d. Lahn. Das Publikationsorgan des mit diesem verbundenen Herder-Instituts, dem er bis 1959 als Direktor vorstand, die Zeitschrift für Ostforschung, wurde von Keyser bis zu seinem Tod am 21. Februar 1968 in Marburg a.d. Lahn mit herausgegeben.4 Die Schriften des Danziger Historikers sind nur vor dem Hintergrund seiner politischen Mentalität richtig einzuordnen. Keysers politische Anschauungen prägten sich nach dem Ersten Weltkrieg aus, als er die Erfahrung des Verlusts deutscher Machtansprüche gegenüber Polen machte. Im Freistaat Danzig, der vom polnischen Nachbarn vermeintlich in seiner Existenz bedroht war, gewann die völkische Geschichtsschreibung, wie sie von Keyser maßgeblich vertreten wurde, unmittelbar politische Bedeutung. Das soziale Milieu der Stadt- und Landesgeschichte Westund Ostpreußens bildete den Nährboden für seine These vom völkischen Gegensatz zwischen Polen und Deutschen als die bestimmende Kraft der Geschichte dieser Region.5 Die „Bevölkerungsgeschichte Deutschlands“, mit der Keyser die Politikgeschichte der Meinecke-Schule bis 1933 bloß ergänzen, nicht aber verdrängen wollte, sollte ein integraler Bestandteil der Volksgeschichte sein. Die von ihm angestrebte enge methodisch-diskursive Kooperation zwischen „Bevölkerungsgeschichte“ und einer familiengeschichtlich und archäologisch orientierten „Rassenforschung“, wie sie von →Hans F.K. Günther, Wolfgang La Baume oder Walter Scheidt maßgeblich vertreten wurde, bewirkte gleichwohl, dass Keyser innerhalb der völkischen Historiker eine Sonderstellung hatte. Seine Leitfrage nach dem „Werden“ und „Wesen“ des „deutschen Volkes“ zielte in ihrer Stoßrichtung gegen die „Juden“ und „Slawen“ darauf ab, im Lauf der Zeit in die deutsche Bevölkerungsgeschichte eingetretene „rassisch“ unerwünschte Elemente begrifflich zu fassen und vom „deutschen Volkskörper“ abzusondern. Auf diese Weise sollte ein spezifischer rassenbiologischer „Kern“ des „deutschen Volkes“ ausgemacht werden, der mit dem nationalsozialistischen Mythos des „nordischen“ Menschen identisch erschien. Dabei entwarf Keyser ein anachronistisches Bild von den Deutschen schlechthin, deren „seelische“ und „körperliche“ (rassenbiologische) Eigenschaften seit der indogermanischen Zeit unverändert geblieben wären.6 Die spezifische Ambivalenz der Keyserschen Geschichtsauffassung lag darin, dass in ihr Spuren aus vielfältigen, in erster Linie völkisch-rassistischen Diskursen und Denkmustern ein eigenartiges Amalgam bildeten. Nach 1945 strebte er danach, der völkischen Terminologie in seinen Publikationen ihre nationalsozialistische

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Spitze zu nehmen. So fehlte zum Beispiel seither der Begriffszusammenhang von „Blut“ und „Blutströmen“, der vorher ein Leitmotiv seiner Arbeiten gebildet hatte. Kaum verhüllt von der Europa-Rhetorik des Kalten Krieges, hielt Keyser indes an seiner Warnung vor der angeblichen Bedrohung aus dem „Osten“ fest. Das völkische Denken der Zwischenkriegs- und NS-Zeit blieb bei ihm nahezu ungebrochen. Er vertrat auch nach wie vor die Idee, dass die „Bevölkerungsgeschichte“ gegenüber der Politikgeschichte wie gegenüber der sozialwissenschaftlich orientierten Kulturgeschichte aufgewertet werden sollte.7

Alexander Pinwinkler

1 Es gibt bis heute keine monographische Biographie Keysers. Vgl. die affirmativen Würdigungen von Hermann Aubin („Zu den Schriften Erich Keysers“) in Ernst Bahr (Hg.), Studien zur Geschichte des Preußenlandes. Festschrift für Erich Keyser zu seinem 70. Geburtstag, Marburg 1963, S. 1–11 sowie E. Bahrs Nachruf auf Erich Keyser, in: ZfO 17 (1968), S. 288–291. Vgl. auch E. Keyser, Danzigs Geschichte, Danzig 1921. Sein Nachlass ist zwischen dem Herder-Institut Marburg und dem Institut für vergleichende Städtegeschichte in Münster i.W. aufgeteilt. 2 Erich Keyser, Die Geschichtswissenschaft, Aufbau und Aufgaben, München 1931; ders., „Bevölkerungsgeschichte Deutschlands“, Leipzig 1938 (19433); ders. (Hg.) (ab Bd. V/1, 1971 hg. von Heinz Stoob), Deutsches Städtebuch. Handbuch städtischer Geschichte. Stuttgart 1939–74. Bd. I. Nordostdeutschland, 1939. Bd. II. Mitteldeutschland, 1941. Bd. III. Nordwest-Deutschland: Niedersachsen, Stuttgart 1952; Westfalen, 1954; Rheinland, 1956. IV. Südwestdeutschland: Hessen, 1957; Baden, 1959; Württemberg, 1962. Rheinlandpfalz u. Saarland, 1964. V. Bayern: Unter-, Mittel- und Oberfranken, 1971; Ober-, Niederbayern, Oberpfalz und Schwaben, 1974. 3 Vgl. Bahr, Nachruf, S. 288f.; Michael G. Esch, „Gesunde Verhältnisse“. Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik in Ostmitteleuropa 1939–1950, Marburg 1998, S. 237; Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienste der nationalsozialistischen Politik?, Baden-Baden 1999, S. 583. 4 Vgl. Jörg Hackmann, Deutschlands Osten – Polens Westen als Problem der Geschichtsschreibung, in: Matthias Weber (Hg.), Deutschlands Osten – Polens Westen. Vergleichende Studien zur geschichtlichen Landeskunde, Frankfurt a.M. 2001, S. 222f., 227. Zu Keysers NSDAP-Mitgliedschaft vgl. BArch, BDC, NSDAP-Gaukartei. 5 Vgl. Bahr, Nachruf, S. 288f. 6 Vgl. Erich Keyser, Rassenforschung und Geschichtsforschung, in: Archiv für Bevölkerungswissenschaft (Volkskunde) und Bevölkerungspolitik 5 (1935), S. 1–8. 7 Vgl. Erich Keyser, Die Erforschung der Bevölkerungsgeschichte, in: Studium Generale 9 (1956), S. 495–500.

_____________________________________________________________________Otto Kletzl  341

Otto Kletzl Otto Kletzl wurde am 20. Juni 1897 in Česká Lípa (Böhmisch-Leipa) in Nordböhmen in eine sudetendeutsche Familie geboren. 1923 erwarb er an der Technischen Hochschule (TH) Prag das Ingenieur-Diplom in Architektur.1 1927 studierte er Kunstgeschichte dank eines Stipendiums des Vereins (Volksbund) für das Deutschtum im Ausland (VDA) in Leipzig und München. 1931 promovierte er in Kunstgeschichte mit einer Arbeit über Peter Parler an der TH Prag, wo er seit 1928 bereits als Assistent tätig war. 1931 wechselte er als Austauschstipendiat an das Preußische Forschungsinstitut für Kunstgeschichte in Marburg/Lahn.2 Er erhielt dort 1933 einen „Forschungsauftrag für grenz- und auslandsdeutsche Kunst“ und 1937 auf besondere Empfehlung von Konrad Henlein einen „Forschungsauftrag für grenz- und auslandsdeutsche Kunst mit besonderer Berücksichtigung des Sudetendeutschtums“, nachdem er sich bereits seit den 1920er Jahren in der sudetendeutschen Bewegung und der Henlein-Bewegung engagiert hatte.3 Bereits 1934 war Kletzl „wegen vorbildlicher Tätigkeit im Dienste des volksdeutschen Gedankens“ in den neu gebildeten Wissenschaftlichen Rat des →Deutschen Ausland-Instituts in Stuttgart berufen worden.4 1938 kämpfte er im sudetendeutschen Freikorps und nach Beginn des Zweiten Weltkrieges in der Wehrmacht, ehe er für kriegswichtige Aufgaben u.k. gestellt wurde. 1937 habilitierte er sich mit Unterstützung des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) in Marburg.5 Nachdem ein Gutachten des Reichsdozentenbundes seine Gesinnung als „aufrichtig deutsch“ beurteilt hatte, kam er schließlich 1941 an die neu gegründete →Reichsuniversität Posen (RU Posen).6 Zuvor war er aber an der Fotokampagne des Preußischen Forschungsinstituts für Kunstgeschichte im Baltikum beteiligt, die im Auftrag des REM sowie des →Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums und des Ahnenerbes der Dokumentation des „deutschen Kulturgutes“ diente.7 An der RU Posen wurde er zunächst zum kommissarischen Leiter und ab Januar 1943 zum außerordentlichen Professor am Kunsthistorischen Institut (KHI) ernannt.8 Er baute dort unter anderem ein Bildarchiv für Osteuropäische Kunst auf, das besonders die „deutsche Kunst“ und ihre Ausstrahlungen zu dokumentieren anstrebte.9 1944 konnte Kletzl, finanziert von der →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG) und vom Reichskommissariat Ostland, die Dokumentation im Baltikum fortsetzen.10 Seine eigenen Forschungsarbeiten, die von ihm vergebenen Dissertations- und Forschungsthemen und die Mitarbeit an der Landeskundlichen Forschungsstelle des Reichsgaus Wartheland, in der Historischen Gesellschaft, der →Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung, der →Reichsstiftung für deutsche Ostforschung und dem Heimatbund zielten darauf, das „Wartheland“ als „deutschen Kulturraum“ zu charakterisieren.11 Kletzl begann zahlreiche entsprechende Publikationsvorhaben, für die er auch Förderungen durch die Deutsche Akademie (DA) erhielt. Er übernahm in der

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von der NOFG unterstützten Reihe der Baltischen Lande mindestens einen Band12 und im Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften Publikationen über die Kunst im „Baltenland“ sowie im „Sudetenland“. Auch über den deutschen Verein für Kunstwissenschaft plante er ein umfangreiches Werk über die Kunst im Baltikum.13 Die →deutsche Ostkolonisation und die Bedeutung der deutschen Kunst für die kulturelle Entwicklung in Osteuropa waren Themen zahlreicher Vorträge.14 Die öffentlichkeitswirksame Verbreitung dieser germanozentrischen Perspektive suchte er auch durch Ausstellungen zu fördern. Er plante in Kooperation mit dem →Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete eine Ausstellung unter dem Titel Deutscher Bauwille im Ostland.15 Als Kunstberater für den Posener Universitätskurator empfahl er diesem führende Architekten des Dritten Reiches für die geplanten Universitätsneubauten, die die Bedeutung dieses neuen „Bollwerks deutscher Kultur im Osten“ deutlich machen sollten. Für die künstlerische Ausgestaltung der Universität brachte Kletzl Werke in Vorschlag, die die deutschen Aufbauleistungen dokumentieren und der ideologiekonformen Erziehung der Studierenden dienen sollten.16 Außeruniversitär engagierte er sich als Kunstberater für den Posener Oberbürgermeister zur Ausgestaltung der Stadt und eines Museums, um Posen eine deutsche Identität zu geben. Kletzl wies der Kunst eine wichtige Rolle in dem Volkwerdungsprozess zu.17 Zudem war er für den Generaltreuhänder für die Sicherstellung deutschen Kulturgutes in den angegliederten Ostgebieten tätig sowie für die vom Gauhauptmann gegründete Kunstschutzkommission. Er verfasste Gutachten zu der Frage, was von der Einrichtung der beschlagnahmten Kirchen und Schlösser zu bewahren sei. Durch seine Tätigkeit konnte er polnische Bibliotheken für das KHI „sichern“.18 Nach Übernahme der Sudetendeutschen Partei 1938 in die NSDAP stellte Kletzl für diese einen Aufnahmeantrag. Außerdem war er Mitglied im NS-Dozentenbund und eventuell in der Reichsschrifttumskammer.19 1944 erhielt er auf Vorschlag des Gaudozentenführers vom „Führer“ das Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse.20 Im Januar 1945 beim Volkssturm eingesetzt, geriet er in russische Gefangenschaft und wurde anschließend in polnische Hände übergeben. Er starb vermutlich Ende 1945 unter nicht geklärten Umständen in einem Posener Gefängnis und wurde vom Amtsgericht Marburg am 4. September 1952 für tot erklärt.21 Otto Kletzl publizierte bereits seit den 1920er Jahren über auslandsdeutsche Kunst, vor allem in der Tschechoslowakei, der allein 50 Aufsätze und eine Monographie gewidmet waren. 1943 und 1944 legte er je eine erste Veröffentlichung zur Kunst seines neuen Wirkungsortes vor.22 Auch wenn ihn in den 1920er-Jahren vor allem die einzelnen „deutschen“ Stämme interessierten, bildeten sie zusammen doch unhinterfragt ein deutsches Volk, das er auch als jenseits der Grenzen des Deutschen Reiches siedelnd erkannte. Die Kunst war für ihn ein Spiegel der stammlichen Wesenheiten. Nicht mehr Landes- und Provinzgrenzen sollten für die großdeutsche Kulturpolitik entscheidend sein, sondern die stammlichen Zusammenhän-

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ge.23 Allerdings war er der Auffassung, dass es keine einheitliche schlesische oder sudetendeutsche Kunst gebe, sondern er betonte deren Vielfalt.24 Ab 1938/39 ist eine Entwicklung zu beobachten, die, statt wie zuvor die Verbindungen der sudetendeutschen Kunst mit der Kunst im Altreich zu betonen, nun die Eigenständigkeit der sudetendeutschen Kultur herauszuarbeiten suchte. Er blieb zwar bei der Position, dass die Tschechoslowakei die Heimat zweier Völker sei, aber aus Nachbarn seien einander Fremde geworden. Einem handelnden Subjekt = „Deutscher“ stehe nur noch eine entvölkerte und vermeintlich kunstlose = „slawische Umwelt“ gegenüber. Der Kriegsbeginn markierte auch einen Wandel in der Perspektive auf den späteren Gau Wartheland. Vor dem Krieg war nur von Streudeutschtum die Rede, während er 1943 von einer wiederholten „Überflutung“ durch das Deutschtum sprach. Allerdings konstatierte er, dass das Gebiet diesem „bislang“ nie ganz gewonnen werden konnte. Konsequenterweise bezeichnete er das Wartheland daher als „neuen deutschen Osten“.25 Über das Aufzeigen der deutschen Kulturleistungen sollte aber auch hier der Führungsanspruch des Deutschen Reichs legitimiert werden. 1943 formulierte er eine nationalsozialistische →Volksgemeinschaft als anzustrebendes Ideal, zu deren Ausbildung die Kunst ihren Beitrag leisten könne.26 Kletzl schrieb der „deutschen“ Kunst den entscheidenden Einfluss auf die Kunstentwicklung im Osten zu und machte gemäß der Kulturträgertheorie die „Deutschen“ damit auch zu Hauptträgern der kulturellen Entwicklung in den böhmischen Ländern.27 Die Kunstwerke standen nicht als Kunstwerke im Fokus des Interesses, sondern als Manifestationen nationaler, gleich deutscher Leistung. Die Zielsetzung entstammte dem außerwissenschaftlichen Bereich und folgte einem nationalsozialistischen Wissenschaftsverständnis, das den nationalen Blickwinkel als Grundkriterium aller Forschungen forderte und von der Überlegenheit der deutschen Kultur ausging. Handlungsleitend ist eine Vielfalt von Motivationen anzunehmen: als Sudetendeutscher strebte Kletzl eine Würdigung der Grenzlande an; die Ausrichtung seiner Forschungsschwerpunkte nach der politischen Relevanz und die Indienstnahme der Kunst und der Wissenschaft für außerkünstlerische und außerwissenschaftliche Engagements zeigen eine auffällige Kohärenz mit den außenpolitischen Zielen des NS-Regimes. Auch dessen Postulat einer volksnahen Wissenschaft entsprach seiner Haltung. Dankbarkeit gegenüber dem REM und der Wille, das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen, dürften eine Rolle gespielt haben. Konkurrenz zu Kollegen und anderen KHIs und der Wunsch, sich im Feld der deutschen „Ostforschung“ zu etablieren, förderten die Bereitschaft, den Zugriff auf materielle Ressourcen und Gestaltungsmöglichkeiten zu nutzen, den die Besatzungssituation bot.

Sabine Arend

1 Instytut Historii Sztuki Uniwersytetu im. Adama-Mickiewicza w Poznaniu (IHSP), Kunsthistorisches Institut Reichsuniversität Posen (KI-RU Posen), Lebenslauf. Vgl. Schreiben des Rektors der

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TH Dresden an den Marburger Rektor vom 4.4.1936, abgedruckt in: Anne Christine Nagel (Hg.), Die Philipps-Universität Marburg im Nationalsozialismus. Dokumente zu ihrer Geschichte, Stuttgart 2000, S. 259; BArch, ZB II 1999 A. 1, unpag., Lebenslauf Otto Kletzl, Schloss Tännich/Thüringen Dozentenlager. Oktober 1937 und Lebenslauf Ing. Dr. r.t. habil. Otto Kletzl, 6 S., undatiert (nach dem 3.9.1939), Bl. 131, Kletzl an den Dekan der Phil. Fak. Universität Marburg vom 14.11.1938, Bl. 203; Mitteilung des Kurators der RU Posen an Reichsminister (RM) REM vom 5.6.1941; BStU, Archiv der Zentralstelle Ministerium für Staatssicherheit (MfS)-HA XX Nr. 10610, Bl. 2–5, Bl. 4, Lebenslauf; Wilfried Brosche, Otto Kletzl zum Gedenken, in: Sudetendeutsche Zeitung vom 25.3.1961, S. 6; Ingrid Schulze, Böhmische Kunst im Spiegel der bürgerlichen deutschen Kunstgeschichtsschreibung: eine wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zu Fragen der deutsch-slawischen Wechselseitigkeit auf dem Gebiet der Kunstgeschichte, Halle 1968; Adam S. Labuda, Das Kunstgeschichtliche Institut an der Reichsuniversität Posen 1941–1945, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 65 (2002) 3, S. 387–399; ders., Das Kunstgeschichtliche Institut an der Reichsuniversität Posen und die „nationalsozialistische Aufbauarbeit“ im Gau Wartheland 1939–1945, in: Jutta Held (Hg. u.a.), Kunstgeschichte an den Universitäten im Nationalsozialismus, Göttingen 2003, S. 143–160; Sabine Arend, Studien zur deutschen kunsthistorischen „Ostforschung“ im Nationalsozialismus. Die Kunsthistorischen Institute an den (Reichs-) Universitäten Breslau und Posen und ihre Protagonisten im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, phil. Diss. Berlin 2009. http://edoc.hu-berlin.de/browsing/dissertationen/ (25.01.2017); dies., „Die Faszination des Möglichen“: Die Beteiligung von Prof. Dr. Dagobert Frey (Universität Breslau) und von Prof. Dr. Otto Kletzl (Reichsuniversität Posen) am NS-Kulturraub im besetzten Polen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges, in: Regine Dehnel (Hg.), NS-Raubgut in Museen, Bibliotheken und Archiven. Viertes Hannoverschen Symposium, Frankfurt a.M. 2012, S. 217– 230; dies., Dagobert Frey (Universität Breslau) und Otto Kletzl (Reichsuniversität Posen): Netzwerke kunsthistorischer Ostforscher im Nationalsozialismus, in: Barbara Schellewald (Hg. u.a.), „Die Biographie. Mode oder Universalie?“, Berlin 2016, S. 17–28. 2 IHSP, KI-RU Posen, Lebenslauf; BArch, ZB II 1999 A. 1, unpag., S. 3, Lebenslauf, Ingr. Dr. r.t. habil. Otto Kletzl und Hans-Joachim Kunst, u.a., Die Geschichte des Kunstgeschichtlichen Seminars 1933–1945, in: Kai Köhler (Hg. u.a.), Die Marburger Germanistik und Kunstwissenschaften 1920– 1950, München 2005, S. 27–82, 73. 3 Vgl. IHSP, KI-RU Posen; BStU, Archiv der Zentralstelle MfS-HA XX Nr. 10610, Bl. 2–5, 3, Lebenslauf; BArch, ZB II 1999 A. 1, Bl. 68, Deutsche Akademie München (Wilhelm Pinder) an den Marburger Kurator Klingelhöfer vom 6.7.1933 und Lebenslauf sowie Bl. 207f, Rechenschaftsbericht von Kletzl an das REM vom April 1937 und Vorschlag zur Ernennung zum außerordentlichen Professor vom 4.2.1943; Protokoll der Vernehmung von Otto Kletzl durch Universitätsrat Kieckebusch vom 17.2.1936, abgedruckt in: Nagel, (Hg.), Die Philipps-Universität Marburg, S. 254; BStU, Archiv der Zentralstelle MfS-HA XX Nr. 10610, Bl. 2–5, 5, Lebenslauf. 4 BStU, Archiv der Zentralstelle MfS HA XX, Nr. 10610, Bl. 24–25, 24, Deutsches Ausland-Institut Stuttgart, Haus des Deutschtums/Der Leiter vom 31.3.1937; BArch, ZB II 1999 A. 1, unpag. Lebenslauf Otto Kletzl, Schloss Tännich/Thüringen Dozentenlager, Oktober 1937. 5 Vgl. Nagel (Hg.), Die Philipps-Universität Marburg, S. 250f. und Michael H. Sprenger, Das Kunstgeschichtliche Seminar und das Preußische Forschungsinstitut der Marburger Universität, in: ders. (Hg. u.a.), Kunstgeschichte im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte einer Wissenschaft zwischen 1930 und 1950, Weimar 2005, S. 71–84, S. 78, vgl. Arend, Studien, siehe Anm. 1, S. 592–597. 6 BArch, ZB II 1999 A. 1, Bl. 132–133, NSDAP Reichsleitung/NSD-Dozentenbund/Der Reichsdozentenführer/Hauptamtsleiter an Minister Wacker/REM vom 14.3.1939. 7 Ebd., Bl. 184, Kletzl an RM REM vom 29.9.1940 und das Kapitel IV.2.3.3 in Arend, Studien, siehe Anm. 1. 8 Ebd., Bl. 214, RM REM an Kletzl vom 27.2.1943.

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9 Archiwum Uniwersytetu im. Adama-Mickiewicza w Poznaniu (AUAM P), 78/193, fol. 41–42, Schreiben Kletzl an RM REM vom 27.7.1941; BArch, R 4901/13473, Bl. 42, Kurator der RU-Posen/ Berichterstatter Garbrecht an den RM Reichsministerium des Innern (RMdI) durch RM REM vom 27.3.1942. Ausführlicher Arend, Studien, siehe Anm. 1, S. 309–319. 10 IHSP, KI-RU Posen, Otto Kletzl, Verwendungsnachweis über die in der Zeit vom 25.3. bis 25.4.1944 durchgeführte Studienreise, mit Schreiben vom 15.5.1944 an die NOFG. 11 Siehe im Einzelnen dazu Arend, Studien, siehe Anm. 1, S. 311–328. 12 BU P, NL Wittram 3034/2, Protokoll der Zusammenkunft der baltischen Historiker vom 6.6.1941. 13 Vgl. IHSP, KI-RU Posen; Biblioteka Uniwersytecka w Poznaniu (BUP), Nl Wittram 3034, Otto Kletzl, Vorschlag betreffend die Herausgabe eines Werkes über „Baltendeutsche Kunst“. Gerichtet an den Deutschen Verein für Kunstwissenschaft in Berlin vom 31.3.1941 sowie vorläufiger Gesamtplan (Januar 1941), in: Hans H. Aurenhammer, Neues Quellenmaterial zum Kunstgeschichte-Programm im „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“ (1941), in: Jutta Held, Studien, siehe Anm.1. Abgeschlossen wurde nur das Manuskript „Parler’scher Kunst in Böhmen und Mähren“ für die Reihe I im Kriegseinsatz. IHSP, KI-RU Posen, Kletzl an Deutsche Akademie/Wüst vom 2.5.1944. 14 Als Beispiel seien seine Vorträge im Rahmen der Litzmannstädter Hochschulwochen genannt. Arend, Studien, siehe Anm. 1, S. 343–345. 15 IHSP, KI-RU Posen, RM für die besetzten Ostgebiete an Kletzl vom 22.12.1943. 16 Ebd., Kletzl an Sagebiel, Tessenow und Fick, Anlage zum Schreiben an den Kurator vom 24.11.1941, Kletzl an Kurator vom 24.9.1941 durch Rektor und Dekan der Phil. Fak.; Beispiele und Quellen in Arend, Studien, vgl. Anm. 1, S. 360–370. 17 BUP, NL Kletzl 1702, [Anonym:] Forschung im Dienste der Praxis, in: Ostdeutscher Beobachter Nr. 322 vom 21.11.1943; IHSP, KI-RU Posen, Kletzl an Schürer vom 17.5.1943. Vgl. dazu ausführlicher die Kapitel II.2.6.2 und IV.2.3.2 in Arend, Studien, siehe Anm. 1. 18 IHSP, KI-Ru Posen, Kletzl an Harmjanz/REM vom 1.10.1941 sowie Archiwum Państwowe Poznaniu (APP), 785/12, unpag., 34. Arbeitsbericht der Buchsammelstelle für die Zeit vom 1.10.–31.12.1942, Buchsammelstelle an den Kurator vom 15.1.1943. 19 BArch, BDC, Reichskulturkammer/Reichsschrifttumskammer (RK/RSK) II, Person 2101063515 Film Nr. I 281, Nr. 2568, Bl. 2576–2579, Bl. 2577f., Fragebogen zur Bearbeitung des Aufnahmeantrages für die Reichsschrifttumskammer, Otto Kletzl am 15.10.1942. 20 BArch, ZB II 1999, A. 1, Bl. 208, Kurator der RU Posen/Berichterstatter Amtsrat Plewa an RM REM vom 20.1.1944. 21 Vgl. Wilfried Brosche (Hg. u.a.), Leitmeritz und das böhmische Mittelgebirge. Ein Heimatbuch über den Kreis Leitmeritz in Böhmen, hg. v. Heimatkreis Leitmeritz zu Fulda in der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Fulda 1970, S. 506, und Mitteilung der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht an die Verfasserin vom 27.7.2005. 22 Otto Kletzl, Wartheländisch wehrhafte Baukunst, in: Hans Tintelnot (Hg.), Festschrift für Dagobert Frey zum 23.4.1943. Kunstgeschichtliche Studien, Breslau 1943, S. 158–178 (Kletzl 1943b) und ders., Alt-Posens Stadtgestalt, in: Gerhard Scheffler (Hg.), Ein Posener Buch, Posen 1944, S. 73–95. Ausführliche Bibliographie in Arend, Studien, siehe Anm. 1. 23 Kl.[etzl], Böhme oder Sudentendeutscher?, in: Sudetendeutsches Jahrbuch, 9 (1928), S. 3–8 (Kletzl 1928b), S. 6, 8; ders., Johann Lukas von Hildebrandt, ein Meister des Barock, in: Deutsche Arbeit 34 (1934) 4, S. 198–204 (Kletzl 1934a), S. 198, ders., Köpfe grenzdeutscher Gotik, in: Deutsche Arbeit 34 (1934) 12, S. 601–609 (Kletzl 1934b), S. 602; ders., Neuzeitliche Kunst im schlesischen Stammesgebiet der Sudetenländer, in: Schlesisches Jahrbuch für deutsche Kulturarbeit im gesamtschlesischen Raume 1 (1928), S. 88–93 (Kletzl 1928a), S. 88. Auf Kletzls „Großmachtträume“ in den 1930er Jahre hat bereits Schulze hingewiesen. Schulze, siehe Anm. 1, S. 348.

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24 Kletzl 1928a, S. 93; ders., Das Sudetendeutschtum im Spiegel seiner neuen Kunst, in: Deutsche Kultur im Leben der Völker. Mitteilungen der Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums 17 (1942) 2, S. 214–229 (Kletzl 1942b), S. 255; ders., Für Heimat und Volk! Die Künstler des Sudetendeutschtums, in: Deutsche Arbeit 38 (1938) 1, S. 13–20 (Kletzl 1938a), S. 20. 25 Otto Kletzl, Besprechung: „Georg Dehio, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler“, in: Deutsche Arbeit 36 (1936) 2, S. 102 (Kletzl 1936b); ders., Die politische Erziehung. Der „Jüngling“ von Meister Graevenitz, in: Die Bewegung. Zeitung der deutschen Studenten 11 (1943) 7, S. 1 (Kletzl 1943a), S. 1; Kletzl 1943b, S. 158. 26 Kletzl 1943a, S. 7. 27 Vgl. Kletzl 1928a, S. 88f.; ders., Böhmen und Mähren im Lebensraum deutscher Kunst, in: Ostdeutsche Monatshefte 20 (1939) 3, S. 141–146.

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Hans Koch Hans Koch wurde am 7. Juli 1894 in Lemberg (Lwów, L’viv) als Sohn eines deutschen Postbeamten geboren. In der zu Österreich gehörenden galizischen Vielvölkerstadt waren die Deutschen mit knapp 3 Prozent Bevölkerungsanteil zwar deutlich in der Minderheit, repräsentierten aber Staat und Verwaltung; die Mehrheit der Stadtbevölkerung war polnisch (51,1 Prozent), die nächst größeren Gruppen stellten Juden (28 Prozent) und Ukrainer (18 Prozent).1 Die Stadt, in der der junge Koch aufwuchs, war um die Jahrhundertwende nicht nur von den Zentrifugalkräften des Nationalismus, sondern auch von der Tatsache geprägt, dass sie als österreichisch-ungarische Garnison in Grenznähe zum Zarenreich den Spannungen zwischen Wien und St. Petersburg ausgesetzt war. Der sprachbegabte junge Koch erlernte zwar die Sprachen seiner Umgebung, blieb aber durch seine Erziehung in einem strikt protestantischen Elternhaus und seine Schulbildung erst an einer evangelischen Schule, dann am Deutschen Staatsgymnasium ausgesprochen deutsch. In einer Gegend, in der Religion und Nationalität oft eng miteinander verflochten waren – die Polen waren römisch-katholisch, die Ukrainer griechisch-katholisch –, fielen auch für den jungen Koch Deutschtum und Protestantismus in eins. Damals dürften sich die Ansichten herausgebildet haben, die ihn fürs Leben prägten: die Überzeugung, die Deutschen hätten einen Anspruch auf Vorherrschaft, seine Abneigung gegenüber polnischem Nationalismus und seine Wahrnehmung Russlands als Bedrohung. 1912 ging er zum Theologiestudium nach Wien2 und trat fast zur gleichen Zeit dem völkisch-antisemitischen →Alldeutschen Verband bei.3 Er schloss sich außerdem der Studentenverbindung „Wartburg“ an, die – so Koch – die „antisemitische[n] und großdeutsche[n] Grundsätze“ der Alldeutschen Bewegung vertrat.4 Kochs Weltanschauung war in ihren Grundfesten bereits vor dem Ersten Weltkrieg weitgehend festgelegt. Im Frühjahr 1915 unterbrach Koch sein Studium und meldete sich zum 1. April 1915 zur österreichischen Armee. Er soll einem Landwehrinfanterieregiment angehört haben, ihm wird jedoch auch immer wieder eine Tätigkeit im österreichischen Geheimdienst nachgesagt.5 Fast zwei Jahre später, am 1. Januar 1917, wurde Koch Leutnant in der Reserve. 1918 gehörte seine Truppe zum österreichisch-ungarischen Besatzungsheer im Süden der Ukrainischen Volksrepublik. Anfang 1919, nach seiner Rückkehr nach Galizien, nahm er als Offizier der Ukrainisch-Galizischen Armee (UHA) der Westukrainischen Volksrepublik (die fast ausschließlich aus Ostgalizien bestand) am Kampf gegen Polen teil.6 Diese kurze, bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzung, die durch besondere Brutalität gekennzeichnet war, hat Kochs Missachtung der Polen und seine Sympathie für die Ukrainer vermutlich noch vertieft. Bei der UHA, in der Koch bis zum Hauptmann aufstieg, lernte er Männer wie Alfred Bisanz, Dmytro Paliïv und Viktor Kurmanovyč kennen, von denen einige sich später als galizisch-ukrainische Politiker insbesondere der radikalen Rechten hervortun sollten.7

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Nach der Niederlage der UHA gingen manche Einheiten, darunter auch Kochs, zu den Streitkräften der Ukrainischen Volksrepublik über und kämpften an allen Fronten weiter – gegen Bolschewisten, zaristische Loyalisten oder Polen. Im April 1920 wurde Kochs Formation durch die Sowjets gefangengenommen. Als Österreich-Deutscher an der Spitze einer UHA-Einheit hätte er durchaus erschossen werden können; stattdessen setzte er, nun im Dienste der Sowjets, den Kampf gegen den polnischen Nationalstaat fort. Als Polen und die Sowjetunion im März 1921 in Riga Frieden schlossen, blieb Koch laut eigenen Angaben als Kommandant einer Kadettenschule und Vikar der deutschen Gemeinde zunächst in Kiew. Mit Hilfe des Roten Kreuzes konnte er die Stadt am 21. Oktober 1921 verlassen.8 Nach mehr als sechseinhalb Jahren, in denen Koch Kriege, Bürgerkrieg, Pogrome, Pandemien, Hungersnot und Kriegskommunismus erlebt hatte, kehrte er nach Wien zurück. Welche Auswirkungen diese Konfrontationen mit Massentötung und Massensterben auf ihn gehabt haben mochten, behielt Koch für sich. Er umgab sich mit dem Nimbus des Geheimnisvollen. Ein jüngerer Mann, der ihm Mitte der zwanziger Jahre begegnete, berichtete: „Es gingen die abenteuerlichsten Gerüchte über seine Vergangenheit um. Was uns rätselhaft und undurchdringlich schien war sein Gesicht. Es gab kaum ein Mienenspiel. Es schien, als sollte keine Gemütsbewegung erkennbar werden […]. Es war viel, wenn einmal ein dünnes Lächeln auf seine Lippen trat […] Nach dem Vaterunser blieb er schweigend sitzen […] Zwar regte er den Kopf nicht, aber man fühlte sich still beobachtet.“9 In Wien setzte Koch sein Studium fort und promovierte 1924 im Fach Geschichte zum Thema „Die Slavisierung der griechischen Kirche im Moskauer Staate als bodenständige Voraussetzung des russischen Raskol“. Den Doktor in Theologie erwarb er 1927 mit einer Arbeit über „Die russische Orthodoxie im Petrinischen Zeitalter“. 1929 folgte die Habilitation „Studien zur Kirchengeschichte Russlands“.10 Auch im praktischen Sinne wurde er als Theologe tätig: als Vikar einer Wiener Gemeinde, Inspektor eines evangelischen Theologenheims und Leiter des evangelischen Presseverbandes.11 Bis zum Frühjahr 1927 arbeitete Koch als Hilfslehrer für Religion an verschiedenen Wiener Realschulen und Gymnasien; danach lehrte er im Beamtenverhältnis, ab 1929 als Privat-Dozent.12 Das Jahr 1931 verbrachte er großenteils auf Studienreisen, darunter zum Päpstlichen Orientalischen Institut in Rom und zum Heiligen Berg Athos in Griechenland.13 Zu verdanken hatte er diese Reisen einem Preis für einen Aufsatz über die Lage der Kirchen in der Sowjetunion, der ihn mit den nötigen Barmitteln versorgte.14 Wissenschaftliche Artikel veröffentlichte er in den fünf Jahren nach der Habilitation jedoch kaum, und wenn er publizierte, dann nicht in Fachzeitschriften wie Osteuropa oder den Jahrbüchern für Kultur und Geschichte der Slaven, sondern vor allem in Zeitschriften wie den Deutschen Blättern in Polen oder dem Posener Evangelischen Kirchenblatt15 – großenteils Vorträge oder Berichte über den Protestantismus unter den Slawen, die Lage des Deutschtums im Osten und die Verfolgung christlicher Konfessionen in der Sowjetunion.16 Der Protestantismus war dabei für Koch nicht

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nur eine Religion, sondern gleichbedeutend mit Kultur. Diese aber könne nicht missioniert werden; es genüge das gute Beispiel. Das falle allerdings nicht bei allen Völkern auf fruchtbaren Boden. Die Polen etwa seien dafür unempfänglich, weil ihre „Volkwerdung nicht im Zeichen der Reformation erfolgte, sondern in dem der Gegenreformation. Was in neuester Zeit als polnischer Protestantismus abgesetzt wird, ist, ethnisch gesehen, verkümmertes Volkstum deutschen, litauischen oder schlonsakischen Ursprungs.“17 1934 engagierte er sich als Vorstandsmitglied des Evangelischen Bundes Österreichs.18 Auch außerhalb der Kirche war Koch politisch aktiv. Als überzeugter Antikommunist zog er zunächst nach Österreich (1922–1927), danach ins Rheinland und schließlich an die Ruhr (1929/1930) – nach eigener Aussage in den „Kampf gegen die Kommune“.19 Als „Mitglied und Kämpfer“ der nationalsozialistischen Bewegung bezeichnete er sich ungefähr ab 1930. Zum 1. Januar 1932 trat er formell der NSDAP in Österreich bei und war offenbar so aktiv, dass ein Verfahren gegen ihn angestrengt, letztlich aber wegen Mangel an Beweisen fallengelassen wurde. Der Gauleiter für Oberösterreich Andreas Bolek bescheinigte Koch am 20. Juni 1934, dieser habe sich als „dozierender Vorkämpfer der völkischen Idee“ hervorgetan, der „den alle verbindenden völkischen Gedanken in die Herzen seiner jungen Hörer einzuimpfen […] bestrebt gewesen“ sei. Beim Alldeutschen Verband trat Koch ebenfalls als Versammlungsredner auf.20 Auf den etwa vierzehn Jahre jüngeren →Hans-Joachim Beyer hinterließ Koch großen Eindruck. Beyer, damals Referent im Reichs- und Preußischen Erziehungsministerium, versuchte Koch für eine Stelle in Deutschland zu empfehlen. Für weitere Informationen über Koch verwies Beyer seine Vorgesetzten an →Hans Steinacher. 21 Woher die beiden sich kannten, ist unklar, vermutlich aus dem Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA).22 Die gegenseitige Bekanntschaft war jedoch für beide nützlich. Beyer protegierte Koch im Erziehungsministerium, Koch bezog Beyer in seine Publikationen mit ein.23 Zusammen gaben Koch und Beyer eine Festschrift für den Generalsekretär des evangelischen Hilfewerks Gustav-Adolf-Verein und Mitarbeiter des VDA Bruno Geißler heraus.24 Die Berufung an die Theologische Fakultät der Albertus-Universität in Königsberg im Mai 1934 dürfte Koch daher wenigstens zum Teil seinen politischen Verbindungen zu verdanken gehabt haben. Zu Beginn unterrichtete er hauptsächlich Theologie, nebenbei Polnisch; 1936 bot er mit seinen Kollegen →Theodor Oberländer (auch VDA, später Abwehr) und →Erich Maschke außerdem „Übungen zum Studium des polnischen Staates“ an. Zu den Kollegen an der Universität Königsberg zählten übrigens auch Georg Gerullis (später Abwehr) und →Franz Alfred Six (SD).25 Bereits im Juni 1934 hatte Koch die Leitung des Instituts für Rußlandkunde übernommen, das bald darauf in Institut zum Studium Osteuropas umbenannt wurde. Das Institut war gleichwohl bescheiden; es musste sich auf ein einziges kleines Zimmer beschränken.26 Kochs Verbindungen zum Institut für osteuropäische Wirtschaft

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unter Oberländer und →Peter-Heinz Seraphim, wo er schon 1927 als Mitarbeiter erwähnt wird, waren womöglich von größerer Tragweite.27 Mit der Gleichschaltung im Zuge der nationalsozialistischen Machtübernahme nahm Kochs Publikationstätigkeit deutlich zu. Fehlte er bis 1934 auffällig in Osteuropa, der Fachzeitschrift der deutschen Osteuropaforschung, die bis 1934 vom Nestor der deutschen Osteuropaforschung Otto Hoetzsch dominiert wurde, so veröffentlichte Koch nach Hoetzschs erzwungener Amtsniederlegung im Mai 1935 hier nun regelmäßig, in erster Linie einen jährlichen Rückblick über „Die orthodoxe Kirche des Ostens“.28 Eine zweite Hoetzsch-Zeitschrift – die Zeitschrift für Osteuropäische Geschichte – übernahm er zum Jahresende 1935 ganz und ließ sie 1936 in Kyrios: Vierteljahresschrift für Kirchen- und Geistesgeschichte Osteuropas umtaufen. Kochs Schwerpunkt lag weiterhin auf kirchlichen Themen. Als Fachvertreter für Kirchengeschichte und Osteuropäische und ostdeutsche Geschichte saß er im Beirat der →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG), in der er jedoch unauffällig blieb.29 Ab Oktober 1937 lehrte Koch an der schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau, diesmal hauptsächlich als Historiker, der gelegentlich Abstecher zu kirchlichen Themen unternahm.30 Wichtiger als seine Lehrtätigkeit war jedoch seine gleichzeitige Ernennung zum Direktor des Osteuropa-Instituts (OEI), das sich damals in keinem guten Zustand befand. Bereits im Januar 1937 hatte der SD die Russland-Bestände der OEI-Bibliothek – größtenteils für sein damals in der Gründung befindliches, eigenes Russland-Forschungsinstitut (besser bekannt als „→WannseeInstitut“) – beschlagnahmt. Die Budgets des Instituts wurden immer weiter beschnitten.31 Schließlich musste selbst die Zeitschrift Ostraumberichte vorübergehend eingestellt werden, in der Oberländer zuvor noch seine Theorie zur Überbevölkerung Polens weiterentwickelt hatte.32 Dass Koch vor allem an Kirchenfragen interessiert war, führte überdies zu einer Entfremdung zwischen dem Institut und der Gauleitung, die das OEI von der Universität zu trennen und „auf die lebenswichtigen Belange des Grenz- und Volkstumskampfes in Schlesien auszurichten“ wünschte.33 Dennoch verschränkte das Institut seine Lehr- und Forschungstätigkeit mit den politischen Zielen des NS-Regimes: Forschung zur Tschechoslowakei beispielsweise gehörte nicht zu den Kernthemen des Instituts, wie Koch selber schrieb, trat aber ab dem Frühjahr 1938 zunehmend in den Vordergrund, insbesondere was die damals zur Tschechoslowakei gehörende Karpathen-Ukraine anging.34 Als die KarpathenUkraine im März 1939 – nach der Abtretung des Sudetenlands an das Reich – aus der Tschechoslowakei auszutreten versuchte, wurde Koch sogar dorthin entsandt, im letzten Moment jedoch an der deutschen Grenze festgehalten.35 Der OEI-Mitarbeiter →Gotthold Rhode fertigte vor dem Überfall auf Polen einen Bericht „Die polnische Kriegsstimmung: Polnische Pressestimmen“ für das Auswärtige Amt an, das ihn für Propagandazwecke veröffentlichte. Koch selbst lehrte am Außenpolitischen Schulungshaus der NSDAP und war bis zum Kriegsausbruch als Parteiredner tätig.36

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Womöglich hat Koch schon in Königsberg für die Abwehr gearbeitet; in seiner Breslauer Zeit kann man mit Sicherheit davon ausgehen. Bereits in seinem ersten Tätigkeitsbericht als Institutsleiter wird die Zusammenarbeit mit der Abwehr erwähnt,37 und ab dem Sommer 1939 wurde Koch in die Kriegsvorbereitungen der Abwehrstelle Breslau einbezogen. Dabei waren vor allem seine Verbindungen zur Organisation der Ukrainischen Nationalisten (OUN), einer ostgalizischen, nach Kochs eigenen Worten „rechtsgerichtet[en], autoritär-revolutionär[en]“ Untergrundbewegung mit gesamt-ukrainischem Anspruch von Nutzen.38 Im Zusammenhang mit dem Überfall auf Polen plante die deutsche Seite einen ukrainischen Aufstand. Die Vorbereitungen trafen die Abwehrstelle VIII (Breslau) und XVII (Wien) mit Hilfe der OUN. Koch war der Verbindungsoffizier der Abwehrstellen VIII zur Abwehrstelle XVII. Sein ehemaliger UHA-Kollege Alfred Bisanz hatte im Auftrag der Abwehr eine „Kampforganisation“ in Ostgalizien aufgestellt, die aus 4.000 Mann bestanden haben soll.39 Doch die Organisation Bisanz kam nicht zum Einsatz; der Hitler-StalinPakt beließ Ostgalizien in der sowjetischen Besatzungszone, der Aufstand wurde abgeblasen.40 Koch wiederum half beim Aufbau des Besatzungsapparats in Krakau, vor allem bei der Betreuung der ukrainischen Minderheit im Generalgouvernement, bis er im November 1939 diese Aufgabe an Bisanz und Oberländer übergab und sich zum nächsten Auftrag meldete.41 Den Dezember 1939 und Januar 1940 verbrachte Koch in Lemberg als Teil der Umsiedlungskommission, die die ethnischen Deutschen aus der sowjetisch besetzten Hälfte Polens herausholte.42 Es folgte eine Berufung an die Wiener Universität, der er jedoch nie tatsächlich nachkam; das Auswärtige Amt schickte ihn stattdessen nach Sofia, wo er eines der →Deutschen Wissenschaftlichen Institute (DWI) aufbaute.43 Von dort im Frühjahr 1941 zurückbeordert, wurde Koch abermals im Dienste der Abwehr eingesetzt: bei der Aufstellung einer gemischten deutsch-ukrainischen Einheit namens „Nachtigall“.44 Die Ukrainer für diese Einheit stellte eine Fraktion der inzwischen gespaltenen OUN, die OUN-B unter der Führung Stepan Banderas. Sowohl geeignete ukrainische Verbündete für den Krieg gegen die Sowjetunion als auch deutsche Kenner der Verhältnisse in der Ukraine waren so rar, dass die deutschen Behörden bei der Suche nach beiden in Konkurrenz miteinander gerieten. Alfred Rosenberg, der spätere Chef des →Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete (RMO), musste sich nicht nur mit der Bitte um Ukrainer aus dem Umfeld der OUN als „Dolmetscher, Verwaltungsbeamte, Kommissare etc.“ an Abwehrchef Wilhelm Canaris wenden,45 sondern sich auch Hans Koch mit diesem teilen. Koch diente als Rosenbergs Beauftragter bei der Heeresgruppe Süd und zugleich als Offizier der Ic-Abteilung (Nachrichtendienst und Abwehr) im Oberkommando derselben Heeresgruppe.46 Dadurch wurde Koch auf politischer wie auf militärischer Ebene zum inoffiziellen Koordinator des heiklen Versuchs, die nationalen Bestrebungen einer unberechenbaren, sektiererischen Bewegung zu Gunsten deutscher Interessen zu lenken. Der Versuch misslang.

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Als die Wehrmacht am 30. Juni 1941 Lemberg eroberte, gehörte „Nachtigall“ – mit ihrem stellvertretenden Kommandeur Oberländer – zu den ersten Truppen, die die Stadt betraten.47 Noch am gleichen Abend erklärte die OUN-B in Kochs Anwesenheit die Wiederherstellung der ukrainischen Staatlichkeit und stellte die Bildung einer Regierung in Aussicht. Ein „Nachtigall“-Vertreter hielt eine kurze „Begrüßungsansprache“, und Koch „sprach die Begrüßungsworte der Wehrmacht aus“.48 Was Koch genau sagte, bleibt ungewiss, aber Rosenberg und seine Kollegen waren davon überzeugt, er habe „die ihm gegebenen Vollmachten selbstverständlich überschritten“.49 Zwar hatte Rosenberg für die Nachkriegszeit einen ukrainischen Staat von Lemberg bis Stalingrad anvisiert, doch Hitler war dagegen.50 Die OUN-B-„Regierung“ wurde im Verlauf der nächsten Tage verhaftet.51 Koch versuchte bis in den September, zwischen der OUN-B und Rosenberg zu vermitteln, aber die OUN-B weigerte sich trotz grundsätzlicher Bereitschaft zur Kooperation mit den Deutschen, die Staatlichkeit zu widerrufen. Ihre Anführer wurden daraufhin ins Konzentrationslager geschickt.52 Die Blamage für das Amt Rosenberg und die Abwehr färbte auf Koch ab, der – zumindest was das Amt Rosenberg anging – in Ungnade fiel. Die kurze Amtszeit der OUN-B-„Regierung“ war von einem Pogrom, das bis zum 2. Juli dauerte und über 500 Juden das Leben kostete,53 sowie der anschließenden Erschießung von 2.000 jüdischen Männern am 5. Juli durch Einheiten der Einsatzgruppen C und z.b.V. gekennzeichnet.54 In der Nacht vom 3. auf den 4. Juli wurden außerdem 38 polnische Hochschulprofessoren und ihre Familien umgebracht; es wird vermutet, daß Kochs Kollege Beyer damit zu tun hatte, der damals zur Einsatzgruppe C gehörte und mit Koch zusammen bei dem Metropoliten Graf Andrij Šeptyc’kyj untergebracht war.55 Bei seinem Aufenthalt in Lemberg geriet Koch nicht zum einzigen Mal mit der Vernichtungspolitik in der Ukraine in Berührung. Als Rosenbergs Vertreter bei der Heeresgruppe Süd gab er dessen politische Vorgaben an die Heeresgruppe Süd und deren rückwärtiges Heeresgebiet weiter und berichtete diesem umgekehrt über die Auswirkungen dieser Politik im Feld. So verfasste Koch am 5. Oktober 1941 einen Bericht, der zur Zusatzdokumentation zum Massaker von Babi Jar in Kiew gehört.56 Auch als Offizier der unterbesetzten, überarbeiteten Abteilung Ic des Oberkommandos der Heeresgruppe Süd konnte Koch der regelmäßigen Konfrontation mit der Judenvernichtung kaum entkommen. Die Abteilung Ic überwachte und koordinierte Feindlage, Abwehreinheiten, Zensur, Geheime Feldpolizei und Propaganda.57 Koch beispielsweise oblag es, ausländischen Journalisten gegenüber das Massaker von Babi Jar zu leugnen.58 Die Abteilung spielte außerdem eine Schlüsselrolle bei der Behandlung der Kriegsgefangenen59 und diente als Anlaufstelle für die Einsatzgruppen.60 Ende Oktober 1941 wurde Koch – teils wegen seines unklaren Verhaltens bei der fehlgeschlagenen Wiederherstellung des ukrainischen Staates, teils wegen seiner noch aus Königsberger Tagen rührenden Feindschaft zu Erich Koch, dem Gauleiter Ostpreußens und Reichskommissar für die Ukraine – seines Amtes als Rosenbergs Vertreter enthoben. Man beließ ihn an der Front.61 Im Herbst 1942 war Koch

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nachweislich bei der Abwehrgruppe 206 – einer Einheit der Abwehr II (Sabotage und Zersetzung) –, die der 4. Panzerarmee unterstellt war. Er nahm an der Schlacht um Stalingrad teil, erkrankte Anfang November 1942 an Gelbsucht und wurde evakuiert.62 Nach seiner Genesung arbeitete Koch seit Anfang 1943 von Berlin aus erneut für die Abwehr II – in deren Gruppe Ost beispielsweise mit anderen Ostforschern wie Werner Markert (Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas) und Hans Raupach (Universität Halle) –, und zwar vermutlich bis zum Sommer 1944.63 In dieser Zeit wurde er auch als Wissenschaftler wieder aktiv. Zusammen mit Beyer (→Reinhard-Heydrich-Stiftung), Gerhard von Mende (RMO und →Reichsuniversität Posen), →Fritz Valjavec (→Deutsches Auslandswissenschaftliches Institut Berlin und Südost-Institut München) sowie →Eduard Winter (Universität Prag und Reinhard-Heydrich-Stiftung) gehörte er 1943 zur Redaktion der Prager Studien und Dokumente zur Geistes- und Gesinnungsgeschichte Ostmitteleuropas.64 Er besuchte akademische Veranstaltungen und hielt Vorträge, etwa bei der Gründung der Zentrale für Ostforschung in Dresden im Oktober 194365 oder bei der Reinhard-Heydrich Stiftung im November desselben Jahres.66 Nach der Übernahme der Abwehr durch das Reichssicherheitshauptamt tauchte er als Leiter der Ukraine-Abteilung der Abwehr-Frontleitstelle II Südost auf, bis er im Oktober 1944 erneut ins Krankenhaus musste.67 Ende 1944 oder Anfang 1945 wurde Koch Direktor des erwähnten Wannsee-Instituts, das damals bereits nach Schloß Plankenwarth bei Gratwein in der Steiermark verlegt worden war.68 Diese Stelle soll er seinem ehemaligen Studenten →Wilfried Krallert (SD und Publikationsstelle Wien) zu verdanken haben.69 Über sein Schicksal in den letzten Kriegstagen setzte Koch selbst verschiedene Geschichten in Umlauf. Einer Version zufolge geriet er am 8. Mai 1945 am Tauernpaß in der Steiermark in amerikanische Kriegsgefangenschaft, während er „slavisch-baschkirische Verbände“ führte. Die Amerikaner sollen ihn dann an die Briten ausgeliefert haben, in deren Besatzungssektor Österreichs er bis 1949 in Dachstein geblieben sei.70 Laut einer anderen Fassung wurde er von einem „englischen Offizier“ erwischt, als er drei Lastwagen mit „einem archivalischen Millionenschatz“ in die Luft jagte.71 Bereits am 23. Juni 1945 ist er in Schladming gemeldet, wo seine Frau schon seit Anfang April wohnte.72 Angekommen sei er „innerlich gebrochen“ als entlassener Kriegsgefangener und Heimatvertriebener73 – eine Kriegsgefangenschaft Kochs lässt sich jedoch nicht nachweisen. Die Jahre von 1945 bis 1952 verbrachte Koch offenbar zurückgezogen als Religionslehrer in Aich-Assach (Dachstein).74 Erst allmählich trat Koch wieder in Erscheinung. Publizistisch wurde er 1948 wieder aktiv.75 Drei Jahre später nahm er an der ersten Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde teil, der Folgeorganisation der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas, und wurde in den Vorstand gewählt.76 1952 ging er nach München, wo er das Osteuropa-Institut neu aufbaute. Ab November 1953 war er Honorar-Professor an der Ludwig-Maximilian-Universität, ab April 1958 ordentlicher Professor und Prorektor der Hochschule für Politische Wissenschaften in Mün-

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chen. Diese Jahre waren akademisch seine produktivste Zeit. Er veröffentlichte über hundert Monographien, Artikel, Sammelbände und Besprechungen, fast zwei Drittel dessen, was er in seine offizielle (unvollständige) Bibliographie aufnahm, darunter auch eine Sammlung ukrainischer Lyrik in deutscher Übersetzung. Außerdem hielt der erbitterte Antikommunist Koch weiterhin Vorträge, übernahm den Vorsitz der deutsch-ukrainischen Herder-Gesellschaft (1952–1954) und war Bundessprecher der Landsmannschaft Weichsel-Warthe (ab 1954).77 In dieser Funktion dürfte er mit Oberländer, inzwischen Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, in Kontakt geblieben sein. 1955 begleitete er auf Empfehlung Oberländers Bundeskanzler Konrad Adenauer auf dessen Moskau-Reise.78 Auch die Zusammenarbeit mit Beyer blieb bestehen.79 Am 9. April 1959 erlag Hans Koch überraschend einem Herzinfarkt.

Ray Brandon

1 Eintrag in L’viv, in: Encyclopedia of Ukraine, Bd. III, Toronto 1988, S. 223. Weiterführende Literatur vgl. Andreas Kappeler, Hans Koch (1894–1959), in: Arnold Suppan (Hg. u.a.), Osteuropäische Geschichte in Wien. 100 Jahre Forschung und Lehre an der Universität, Innsbruck u.a. 2007, S. 227– 254; Karl W. Schwarz, Ein Osteuropäer aus ‚Profession‘: Hans Koch. Anmerkungen zu Biographie und Wirken, in: Marija Wakounig (Hg. u.a.), Nation, Nationalitäten und Nationalismus im östlichen Europa. Festschrift für Arnold Suppan zum 65. Geburtstag, Wien u.a. 2010, S. 641–658. Darüber hinaus beinhaltet Kai Struves Deutsche Herrschaft, ukrainischer Nationalismus, antijüdische Gewalt. Der Sommer 1941 in der Westukraine, München, 2015, zusätzliche Informationen zu Kochs Rolle als Verbindungsmann zwischen dem Deutschen Reich und der ukrainischen Nationalbewegung. 2 BArch, ZB II 4541, A.19, Personalakte Hans Koch vom REM. 3 BArch DH, ZB II 4541, A.19, REM, Personalakte Hans Koch, hier seine Mitgliedschaft im Alldeutschen Verband; ebd., R 76, I/50, Kurator der wissenschaftlichen Hochschulen in Wien, Personalakte Hans Koch; zum Verband vgl. Ian Kershaw, Hitler 1889–1936, Stuttgart 1998, S. 117. 4 Hans Koch, Die „Wartburg“ in Wien, in: Die Evangelische Diaspora 17 (1935), S. 198–206, 200. 5 PA, R84276, Lebenslauf von Koch vom 21.1.1922; vgl. Mirosław Cygański, Hans Koch i Peter Emil Nasarski – „Reformatorzy“ Bońskiego Rewizjonizmu, in: Przegląd Zachodnio-Pomorski 6 (1964), S. 97f.; Peter-Ferdinand Koch, DDR contra BRD – die feindlichen Brüder, Hamburg 1994, S. 358f.; Jim Downs, World War II: OSS Tragedy in Slovakia, Oceanside 2002, S. 318f. 6 PA, R84276, Abschrift seines Lebenslaufs. 7 Alfred Bisanz (1890–1949), Galiziendeutscher und Kommandeur der 7. Brigade der UHA, leitete 1942–1944 das Amt Bevölkerungswesen und Fürsorge im Distrikt Galizien und war damit in der Zivilverwaltung für ‚Judenumsiedlungen‘ verantwortlich. Später betreute Bisanz als Vorsitzender des Wehrausschusses die SS-Division „Galizien“. Er starb in sowjetischer Gefangenschaft. Vgl. Dieter Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941–1944, München 1996, S. 79, 185, 411. Dmytro Paliїv (1896–1944), Adjutant von Myron Tarnavs’kyj, dem Kommandeur des II. Korps und Oberbefehlshaber der UHA (Juli-November 1919), führte 1933–1939 eine eigene völkisch-antisemitische und autoritäre Bewegung in Ostgalizien, lehnte jedoch den revolutionären Kampf ab. Paliїv fiel als ranghöchster Ukrainer im Stab der SS-Division „Galizien“, vgl. Encyclopedia of Ukraine, Bd. III, Toronto 1984, S. 760. Viktor Kurmanovyč (1876–1945), Mitglied des österreichischen Geheimdienstes und von Februar bis Juni 1919 Chef des Generalstabs der UHA, gehörte

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dem obersten Führungsgremium der militant-chauvinistischen Organisation der Ukrainischen Nationalisten an. Er starb in sowjetischer Gefangenschaft, vgl. Viktor Kurmanovych, in: Encyclopedia of Ukraine, Bd. II, Toronto 1988, S. 719. 8 PA, R84276, Lebenslauf Koch. Zu Kochs Teilnahme am Krieg gegen Polen auf der Seite der Sowjets vgl. Karl Schwarz, Hans Koch (1894–1959) – ein Landsknecht Gottes aus Osteuropa, in: WartburgArgumente 3 (1995), S. 8. 9 So der Theologe Herbert Krimm (1905–2002), zitiert in: Schwarz, Hans Koch, S. 8; die posthum veröffentlichte Sammlung Kyr Theodor und andere Geschichten, Wien 1967, scheint Kochs einzig semi-autobiographisches Werk zu sein. 10 Günther Stökl, Hans Koch 1894–1959, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 7 (1959), S. 121. 11 Stökl, Hans Koch, S. 120. 12 BArch, ZB II 4541, A.19, Kurator der Albertus-Universität vom 12.7.1935. 13 UALMU, E-II-2040, Personalakte Hans Koch, Lebenslauf vom 15.7.1957. Vgl. Stökl, Hans Koch, S. 120. 14 UALMU, Lebenslauf vom 15.7.1957. Einen Preis erhielt er von der Olaus Petri-Stiftelsen (Stockholm), wohl für seinen Aufsatz Staat und Kirche in der Sowjetunion, in: Das Notbuch der russischen Christenheit, Berlin 1930, S. 65–113. 15 Das Posener Evangelische Kirchenblatt war eine rechtslastige Zeitschrift, die Arthur Rhode (der Vater Gotthold Rhodes) herausgab. Vgl. Rhodes Beitrag Rasse und Staatsbürgerschaft, in: Posener Evangelisches Kirchenblatt 11 (1933), S. 293. 16 Vgl. Alexander Adamczyk, Schriftenverzeichnis Hans Koch, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 7 (1959), S. 131ff. 17 Hans Koch, Konfession und Nation, in: Auslanddeutschtum und evangelische Kirche. Jahrbuch 1933, München 1933, S. 217–231, 221f. 18 Karl-Reinhart Trauner (Hg.), 100 Jahre Evangelischer Bund in Österreich: Probleme und Chancen in der Diaspora-Arbeit, Göttingen 2003, S. 77. 19 BArch, ZB II 4541, A.19, Koch erläutert seine Tätigkeit nicht weiter. 20 BArch, BDC, NSDAP Partei-Korrespondenz, Akte Hans Koch. Bolek stammte auch aus Ostgalizien. 21 Innerministerielle Mitteilung von Hans Joachim Beyer vom 6.11.1933, in: Gerd Voigt, Rußland in der deutschen Geschichtsschreibung 1843–1945, Berlin 1994, S. 386. 22 Beyer gehörte der Hauptversammlung des VDA an, vgl. Karl Heinz Roth, Heydrichs Professor. Historiographie des „Volkstums“ und der Massenvernichtungen. Der Fall Hans Joachim Beyer, in: Peter Schöttler (Hg.), Geschichte als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 271. 23 Hans Koch, Volk, Staat, Kirche, in: Posener Evangelisches Kirchenblatt 13 (1934), S. 51–54. 24 Hans Beyer (Hg. u.a.), Zwischen Völkern und Kirchen. Bruno Geißler zum 60. Geburtstag, Leipzig 1935. Geißler gab außerdem die Zeitschrift Die Evangelische Diaspora heraus, in der Koch und Beyer publizierten. 25 Vgl. die Vorlesungsverzeichnisse der Albertus-Universität Königsberg für die Jahre 1934 bis 1937. 26 Gabriele Camphausen, Die wissenschaftliche historische Rußlandforschung im Dritten Reich 1933–1945, Frankfurt a.M. 1990, S. 92. 27 Martin Burkert, Die Ostwissenschaften im Dritten Reich. Teil I: Zwischen Verbot und Duldung: die schwierige Gratwanderung der Ostwissenschaften zwischen 1933 und 1939, Wiesbaden 2000, S. 232. 28 Adamczyk, Schriftenverzeichnis, S. 135. Die letzte Abhandlung (für 1937) erschien im Juni und Juli 1938.

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29 Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards: A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988, S. 136; Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945, Baden-Baden 1999, S. 187. 30 Vgl. die Vorlesungsverzeichnisse der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau. 31 Burkert, Die Ostwissenschaften im Dritten Reich, S. 224. 32 Theodor Oberländer, Die ländliche Bevölkerung in Polen, in: Ostraumberichte 5 (1939), S. 43–67. 33 Heinz Boberach (Hg.), Meldungen aus dem Reich, Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938–45, Bd. 2, Herrsching 1984, S. 256f. 34 Hans Koch, 3. Oktober 1937 bis 31. März 1940, in: Jahrbuch des Osteuropa-Instituts zu Breslau 1942, Breslau 1943, S. 40–45, 42. 35 Burkert, Die Ostwissenschaften im Dritten Reich, S. 227. 36 Hans Koch, 3. Oktober 1937 bis 31. März 1940, S. 41, 45; BArch, NS 15/30, Reichshauptstellenleiter, Hauptstelle Kulturpolitisches Archiv, an das Amt Deutsches Volksbildungswerk vom 20.2.1940. 37 Hans-Jürgen Bömelburg, Das Osteuropa-Institut in Breslau 1930–1940. Wissenschaft, Propaganda und nationale Feindbilder in der Arbeit eines interdisziplinären Zentrums der Osteuropaforschung in Deutschland, in: Michael Garleff (Hg. u.a.), Zwischen Konfrontation und Kompromiß. Oldenburger Symposium: Interethnische Beziehungen in Ostmitteleuropa als historiographisches Problem der 1930er/1940er Jahre, München 1995, S. 63. 38 PA, R105191, Gutachten von Prof. Dr. Hans Koch über die Denkschrift Pantschenko-Jurewitsch vom 21.4.1941. 39 BArch MA, Rw 5/147, Lahousen an Ast VIII und Ast XVII vom 19.8.1939, und ebd., Anlage 5, KOrganisation Ost-Galizien vom 31.7.1939. 40 Heinz Höhne, Canaris, Patriot im Zwielicht, München 1978, S. 342ff. 41 Volodymyr Kubijovyč, Ukraïnci v Heneral’nij Hubernii 1939–1941: istorija Ukraïns’koho central’noho komitetu, Chicago 1975, S. 59f. 42 Die Ostgalizien-Deutschen wurden in die ehemaligen Westgebiete des geteilten Polen umgesiedelt. Ein Tagebuch von Koch über diese Tätigkeit findet sich in BArch, R 59, 305. 43 Frank-Rutger Hausmann, Auch im Krieg schweigen die Musen nicht. Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2001, S. 131ff. 44 Philipp-Christian Wachs, Der Fall Theodor Oberländer (1905–1998), ein Lehrstück deutscher Geschichte, Frankfurt a.M. 2000, S. 65. 45 BArch MA, Rw4/760, Chef Amt Ausland/Abwehr, Aktennotiz über die Besprechung mit dem Reichsleiter Rosenberg vom 31.5.1941. 46 PA, R27358, Vertreter der Dienststelle Rosenberg beim Osteinsatz, Eingangstempel 4.6.1941. 47 Zur Rolle von Oberländers Einheit bei der Besetzung Lembergs vgl. BArch, MA, WF-03/34170, Schlußmeldung über Einnahme Lemberg und vollzogene Objektsicherung. 48 Dokument 115, Aufzeichnung des Legationsrats Bruns (Büro RAM) in: Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945, Serie D, Bd. XIII, 1, Göttingen 1970, S. 131f., 132. Die Zitate sind einem Brief Volodymyr Stachivs vom 2.7.1941 entnommen, in dem dieser den Reichsaußenminister über die Ereignisse in Lemberg informierte. 49 Zur Ermittlung gegen Koch vgl. BArch, R 6, 150. Vgl. die Darstellungen von Gerhard von Mende und Otto Bräutigam, erläutert nach Frank Grelka, Die ukrainische Nationalbewegung unter deutscher Besatzungsherrschaft 1918 und 1941/42, Wiesbaden 2005, S. 261. Zum Zitat siehe Rosenberg gegenüber Generalgouverneur Hans Frank am 14.10.1941, in: Werner Präg (Hg. u.a.), Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen 1939–1945, Stuttgart 1975, S. 412. 50 Vgl. Timothy Mulligan, Politics of Illusion: German Occupation Policy in the Soviet Union, 1942– 1943, New York 1988, S. 10–13; Jürgen Förster, Das Unternehmen „Barbarossa“ als Eroberungs- und

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Vernichtungskrieg in: Ernst Boog (Hg. u.a.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4: Der Angriff auf die Sowjetunion, Stuttgart 1983, S. 418ff. 51 Vgl. Karel C. Berkhoff/Marco Carynnyk, The Organization of Ukrainian Nationalists and Its Attitude toward Germans and Jews: Iaroslav Stets’ko’s 1941 Zhyttiepys, in: Harvard Ukrainian Studies 23 (1999), S. 150. 52 Berkhoff, Iaroslav Stets’ko’s Zhyttiepys, S. 150. Die Bereitschaft zur Kooperation zeigt sich auch in Dokument 203, Bandera an Reichsminister Rosenberg vom 14.8.1941, in: Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945, S. 261f. 53 Nachrückende Marschgruppen der OUN-B und ihre Zellen vor Ort hatten solche Pogrome in Ostgalizien schon im Voraus geplant. Als Überblick zum Pogrom in Lemberg vgl. Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien, S. 57–62. Vgl. Franziska Bruder, „Den ukrainischen Staat erkämpfen oder sterben“. Die Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN) 1929–1948, Berlin 2007, S. 145–150. Ich danke Kai Struve für seine Einsichten zu den Opferzahlen. 54 Vgl. Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien, S. 69. 55 Zu den polnischen Professoren vgl. Roth, Heydrichs Professor, S. 190ff. und 330ff. Zu Koch und Beyer bei Šeptyc’kyj siehe Hans Beyer, Hans Koch (1894–1959), in: Südostdeutsches Archiv 3 (1960), S. 129. 56 Staatsarchiv Nürnberg, PS-53, Der Beauftragte des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete bei der Heeresgruppe Süd, Hptm Dr. Dr. Koch, Bericht 10 (abgeschlossen am 5. Oktober 1941), S. 4. Ich danke Karel Berkhoff für den Hinweis. 57 David Kahn, Hitler’s Spies: German Military Intelligence in World War II, New York 1978, S. 403. Auf der Ebene einer Heeresgruppe umfasste die Abteilung Ic einen Stab von 31 Offizieren und Unteroffizieren. 58 STAN, NOKW-3147, Auf einer Fahrt in das Operationsgebiet im Osten gemachte Beobachtungen und Feststellungen aus Berlin vom 23.10.1941. Als Autor des Berichts gilt Erwin Stolze, Leiter der Gruppe A (später Ost) innerhalb der Abwehr II; Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin 1982, S. 227, 231, 686. 59 Vgl. Christian Streit, Keine Kameraden: die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, Bonn 1991. 60 Vgl. zur Rolle des Ic-Offiziers der Heeresgruppe Mitte Johannes Hürter, Auf dem Weg zur Militäropposition: Tresckow, Gersdorff, der Vernichtungskrieg und der Judenmord. Neue Dokumente über das Verhältnis der Heeresgruppe Mitte zur Einsatzgruppe B im Jahr 1941, in: VfZ 3 (2004), S. 530ff., 535–541. 61 Otto Bräutigam, So hat es sich zugetragen…: ein Leben als Soldat und Diplomat, Würzburg 1968, S. 325f. Am 20.10.1941 verlangte Erich Koch von Rosenberg Hans Kochs Ablösung, vgl. Grelka, Die ukrainische Nationalbewegung, S. 396. Erich Koch und Reichsführer-SS Heinrich Himmler erörterten den Fall Hans Koch am 23.10.1941, in: Peter Witte (Hg. u.a.), Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, Hamburg 1999, S. 244. 62 BArch, R 76, I 50, Meldung des stellvertretenden Einheitsführers vom 5.11.1943. 63 Ebd., Gebührnisstelle des Oberkommandos der Wehrmacht vom 2.4.1943; BArch MA, Msg. 1/ 2812, zur Dauer des Dienstes dort und zur Anwesenheit Markerts und Raupachs. Vgl. dazu auch John Mendelsohn (Hg.), The Final Solution of the Abwehr, Bd. 13: Covert Warfare, New York 1989, Dokument 13. Koch wurde mit Wirkung vom 1.5.1944 zum Major befördert, vgl. Schreiben BArch MA an den Autor vom 18.5.2006. 64 Überliefert sind Eduard Winter, Der Josefinismus und seine Geschichte. Beiträge zur Geistesgeschichte Österreichs 1740–1848, Brünn 1943; ders. (Hg.), Der Bolzanoprozess: Dokumente zur Geschichte der Prager Karlsuniversität im Vormärz, Brünn 1944. 65 Voigt, Rußland in der deutschen Geschichtsschreibung, S. 275.

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66 Dorothee Franz, Hans Koch – Ideologe und Praktiker des Antikommunismus in der Weimarer Republik, Hitlerdeutschland und der westdeutschen Bundesrepublik, in: Informationen über die westdeutsche Ostpolitik und Ostforschung 4 (1967), S. 47, und Volkswissenschaftliche Feldpostbriefe 1 (1944), S. 1, eine Publikation der Reinhard-Heydrich-Stiftung. 67 Archiv Múzea Slovenského národného povstania (Banská Bystrica), Fond IX, Protokoll der Vernehmung Erwin von Thun-Hohensteins vom 4. bis 6.12.1945. Ich danke Julian Hendy aus Leeds für eine aus dem Russischen übersetzte Kopie. 68 Landesarchiv Berlin, B Rep. 057–01, Nr. Pw8 (Akte Georg Wagner), Zeugnis von Hans Koch vom 13.2.1952. 69 Michael Fahlbusch, The Role and Impact of German Ethnopolitical Experts in the SS Reich Security Main Office, in: Ingo Haar (Hg. u.a.), German Scholars and Ethnic Cleansing (1919–1945), New York 2005, S. 45. 70 UALMU, Lebenslauf vom 15.7.1957. 71 Koch gegenüber Herbert Krimm, vgl. Schwarz, Hans Koch, S. 16. 72 Mitteilung des Meldeamtes Schladming vom 13.4.2007. Kochs Frau war bereits seit dem 6.4.1945 dort gemeldet. 73 Leopold Achberger, Univ.-Professor Dr. Dr. Hans Koch zum Gedenken, in: Amt und Gemeinde 5 (1959), S. 42. 74 Mitteilungen der Deutschen Dienstelle (WASt) vom 22.3.2006 und 30.3.2007 sowie der Gemeinde Aich an den Autor vom 5.3.2007; vgl. Herbert Rampler, Die evangelische Kirche in der Steiermark 1945–1955. Umbrüche und Neuanfänge, in: Siegfried Beer (Hg.), Die „britische“ Steiermark 1945– 1955, Graz 1995, S. 408, 414, 417. 75 Vgl. Adamczyk, Schriftenverzeichnis, S. 136, 143. 76 Fünfzig Jahre Osteuropa-Studien. Zur Geschichte der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, Stuttgart 1963, S. 29. 77 Koch, Hans, in: Encyclopedia of Ukraine, Bd. II., Toronto 1988, S. 577, und Sepp Müller, Stationen des Wirkens und Schaffens zwischen Lemberg und München, in: West-östliche Begegnung (Juni 1959), S. 19. 78 Vgl. Werner Kilian, Adenauers Reise nach Moskau, Freiburg i. Brg. 2005, S. 330f. 79 Hans-Joachim Beyer, Die Mittelmächte und die Ukraine 1918, München 1956.

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Erwin Guido Kolbenheyer Der Name Erwin Guido Kolbenheyers ist heute nur noch wenigen ein Begriff. Dabei schuf der Schriftsteller mit seiner Paracelsus-Trilogie1 ein zeitgenössisch viel beachtetes und bewundertes Werk, das ihm seitens mancher Rezensenten gar den Ruf einbrachte, zum Nachfolger Goethes berufen zu sein.2 Später zählte Kolbenheyer zu den erfolgreichsten Autoren des Dritten Reichs. Umso mehr überrascht es, dass ihm bis heute keine wissenschaftliche Biografie zuteil geworden ist. Geboren wurde Erwin Guido Kolbenheyer am 30. Dezember 1878 in Budapest. Dieser für einen (deutsch-)völkischen Autor ungewöhnliche Geburtsort war der Arbeitstätigkeit seines Vaters Franz geschuldet, der damals in der Stadt als Architekt wirkte.3 Nach dem frühen Tod des Vaters – er starb bereits 1881, kurz vor seinem 40. Geburtstag –, verbrachte Kolbenheyer seine Kindheit zunächst im böhmischen Karlsbad, dem Geburtsort seiner Mutter Amalie. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Eger studierte er seit 1900 in Wien Philosophie, Psychologie, Kunstgeschichte und Zoologie. Eine mögliche wissenschaftliche Karriere, mit der Kolbenheyer nach erfolgreicher Promotion zunächst liebäugelte4, trat jedoch bald zugunsten der Schriftstellerei in den Hintergrund. Entscheidend hierfür war vor allem ein erfolgreiches Romandebut mit „Amor Dei“ (1908). Doch sollte Kolbenheyer in der Habsburgermonarchie nicht der Durchbruch zum Erfolgsautor gelingen; zu den Größen der Wiener Literaturszene, etwa Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Stefan Zweig, konnte er nicht annähernd aufschließen.5 Den Ersten Weltkrieg erlebte Kolbenheyer in erster Linie als „Papierkrieg“: Ausgemustert wegen eines „geringfügigen Fußleidens“6, wurde er 1915 in ein Kriegsgefangenenlager bei Linz abkommandiert, wo er bis Kriegsende mit administrativen Aufgaben betraut war. Der Einsatz als Frontsoldat blieb Kolbenheyer erspart – ein Umstand, der den Dichter in der Folgezeit mit einem Gefühl des Versagens und der unerfüllten Pflicht erfüllte und sein Verständnis von Kunst als „Dienst am Volk“ merklich prägte.7 In der unruhigen Zeit nach dem Kollaps der Habsburgermonarchie entschloss sich Kolbenheyer, Wien mit seiner jungen Familie zu verlassen und lebte ab 1919 in Tübingen, ehe er 1932 nach Solln bei München umsiedelte. Zum sichtbarsten Ausdruck der großen Anerkennung, die sich Kolbenheyer an der Universität Tübingen erwarb, wurde die Ehrendoktorwürde, die ihm die medizinische Fakultät 1927 anlässlich der mit großem Aufwand betriebenen Feierlichkeiten zum 450. Gründungsjubiläum der Universität verlieh.8 Auch im Œuvre Kolbenheyers markiert das Jahr 1919 einen Einschnitt, meldete er sich doch damals erstmalig als politisch-ideologischer Publizist zu Wort. In der Flugschrift „Wem bleibt der Sieg?“ forderte Kolbenheyer – vor dem Hintergrund der Bestimmungen des Versailler Vertrags und basierend auf dem sozialdarwinistischen Glauben, die Deutschen seien unter den europäischen Völkern ein dezidiert „junges“, biologisch unverbrauchtes und damit zur Führung berufenes Volk – seine Landsleute dazu auf, sich die „Unaustilgbarkeit“ ihrer „deutschen Art“ vor Augen

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zu führen und sich nicht etwa fatalistischen Untergangsgedanken hinzugeben. Auf den Tiefpunkt von Kriegsniederlage und Nachkriegszeit werde aufgrund der überlegenen biologischen Kraft des deutschen „Jungvolk[s]“9 naturnotwendig ein Wiederaufstieg „zu neuer innerer und äußerer […] Größe“10 folgen. Kolbenheyers Flugschrift fand zwar keine große Verbreitung, sicherte ihrem Autor jedoch die Anerkennung und Aufmerksamkeit verschiedener Autoren der deutschen Rechten, darunter nicht zuletzt →Hans Grimm und →Wilhelm Stapel. Mit letzterem verband ihn seit Beginn der 1920er Jahre eine sehr enge Freundschaft. Im Hinblick auf die Frage, wie Kolbenheyer nicht nur schriftstellerisch, sondern auch weltanschaulich auf seine Zeit einzuwirken versuchte, muss das Hauptaugenmerk der 1925 veröffentlichten Schrift „Die Bauhütte. Elemente einer Metaphysik der Gegenwart“ gelten – ein heute nahezu völlig vergessenes Werk, mit dem Kolbenheyer in den zwei Jahrzehnten nach seinem Erscheinen gerade im akademischen Milieu jedoch einige Bewunderer fand.11 Worin aber bestehen die Grundgedanken der Bauhütten-Philosophie, die als weltanschauliches Fundament spätestens seit Ende des Ersten Weltkriegs sämtliche Werke des Dichters durchziehen und ohne deren Kenntnis auch die Romane und Dramen Kolbenheyers nicht zu verstehen sind?12 Alles Leben, von der Pflanzen- über die Tierwelt bis hin zum Menschen und den einzelnen Völkern, so ein zentrales Credo der Bauhütte, müsse sich in ewigen Anpassungskämpfen bewähren und durchsetzen. Besonders hoch sei der Anpassungsdruck in krisenhaften „Schwellenzeiten“, in der sich Europa laut Kolbenheyer seit etwa 1800 befand.13 Anpassungen erfolgen durch eine „Ausdifferenzierung“ des vorhandenen „Plasmas“, verstanden als „organische Basis allen Lebens“ und „materielle Grundlage des Erbguts“.14 Doch differiere der Grad der Anpassungsfähigkeit, die „plasmatische Kapazität“, zwischen den einzelnen Völkern sehr stark. In dieser Situation sei den Deutschen als dem Volk mit der angeblich größten „volksbiologische[n] Mächtigkeit“15 innerhalb der „weißen Rasse“ eine Führungsfunktion zugewiesen, um eine neue, tragfähige „Bestandsform“ des Abendlandes zu etablieren. Diese Funktion werde indes durch die „naturwidrigen“ Bestimmungen des Versailler Vertrags unterbunden, die entsprechend restlos zu revidieren seien.16 Diese Argumentation ergänzte Kolbenheyer auf geistesgeschichtlicher Ebene um die Forderung, dem „Idealismus“ der Aufklärung als einer Form unzeitgemäßen Denkens abzuschwören, zugunsten eines „naturalistischen“ Verständnisses der Welt und des Menschen. Wesentliches Signum dieser Ontologie war es, dass alle Erscheinungen des Bewusstseins als „rassisch, völkisch und individuell“ geartete „wachstumsbedingte und wachstumsveranlagte Lebenserscheinung“17 anzusehen seien, alles Denken und Fühlen des Menschen also Ausdruck seines „volksspezifischen“ biologischen „Wachstumsbodens“ sei und demnach keinen gesamtmenschheitlichen Charakter aufweisen könne. „[D]as eigene Volk“, so Kolbenheyer noch nach dem Zweiten Weltkrieg, sei „der lebendige Wirkungskörper weitesten Ausmaßes“, der „dem Individuum eben noch gefühlsmäßig erlebbar“ werde. „Das Erlebnis ‚Menschheit‘“

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hingegen gebe es nicht, „es sei denn in der Phraseologie einer gewissen Propaganda“.18 Trotz der oben skizzierten Würdigung durch die Universität Tübingen war Kolbenheyers Verhältnis zu den deutschen Universitäten während der Weimarer Republik insgesamt keineswegs spannungsfrei. Vielmehr entschloss sich Kolbenheyer 1929 dazu, öffentlich all jene Versäumnisse anzuprangern, welcher sich die Universitäten in seinen Augen an der „artgerechten“ zeitgenössischen Literatur (und damit auch an seinen Werken) schuldig gemacht hätten. Ausgehend von der Behauptung, dass das „volkseigene Kunstempfinden“ infolge des Ersten Weltkriegs „überrannt“ worden sei, beklagte Kolbenheyer in seinem „Aufruf der Universitäten“ eine fortschreitende „Verniggerung“ des deutschen kulturellen Lebens. Vor diesem Hintergrund forderte er die Universitätsleitungen im Speziellen und die Professorenschaft allgemein dazu auf, dem angeblich sehr kleinen Segment „artgerecht“ Kulturschaffender konkrete Hilfeleistungen zu bieten. Ohne eine solche Unterstützung müsse die wahre deutsche Kunst über kurz oder lang „zerrüttet [und] vernichtet“19 werden. Während die Reaktionen seitens der Universitätsleitungen spärlich blieben, erhielt Kolbenheyer auf seinen Aufruf zahlreiche private Zuschriften, in denen sich Professoren mit seiner rassistischen Kulturkritik offen solidarisierten. Zu diesen Bewunderern zählten so unterschiedliche Wissenschaftler wie der Philologe Johannes Mewaldt, der Germanist →Josef Nadler, der Philosoph Friedrich Kainz und der Physiker Pascual Jordan.20 Nach 1933 diente sich Kolbenheyer bis zuletzt dem nationalsozialistischen Staat als williger Propagandist an.21 Dieser Sachverhalt darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kolbenheyers Haltung zum „Dritten Reich“ zugleich von erheblichen Vorbehalten gerade gegenüber dem vulgären Anti-Intellektualismus vieler NS-Ideologen wie auch großer Enttäuschung über die eigene, unverhofft randständige (kultur-)politische Stellung im NS-Staat gekennzeichnet war. Deutlichster öffentlicher Ausdruck dieser kritischen Distanz war der Text „Der Lebensstand der geistig Schaffenden und das neue Deutschland“, für dessen Verbreitung auch eine Vortragsreise Kolbenheyers im Winter 1933/34 sorgte. Doch auf seine Mahnungen, die ältere Garde der völkischen Bewegung stärker miteinzubeziehen, erntete Kolbenheyer nur höhnische Zurückweisung, insbesondere von Seiten Alfred Rosenbergs und dessen Schergen. Dennoch entschloss sich Kolbenheyer 1940 zum Eintritt in die NSDAP. Ausschlaggebend hierfür war seine Begeisterung für die Ergebnisse der nationalsozialistischen Expansionspolitik sowie insbesondere seine „Dankbarkeit für die Befreiung seiner Heimat vom Tschechenterror“22, so die verbrämende Umschreibung der Annexion des Sudetengebiets im Herbst 1938 in Kolbenheyers Erinnerungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Kolbenheyer ein – verglichen mit vielen anderen ähnlich stark belasteten Autoren – hartes Spruchkammerurteil zuteil: Im Oktober 1948 wurde er der Gruppe der „Belasteten“ zugeordnet und neben einem Vermögensentzug von 50% unter anderem dazu verurteilt, für fünf Jahre nicht als

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Schriftsteller oder in einem anderen freien Beruf arbeiten zu dürfen.23 In dieser Situation widmete sich Kolbenheyer zunächst dem Abschluss seiner Erinnerungen „Sebastian Karst über sein Leben und seine Zeit“, die auch als Pamphlet gegen die alliierte Besatzungsherrschaft konzipiert waren, ehe er anschließend seine vielbändige Gesamtausgabe letzter Hand fertigstellte. Seine politische Publizistik der 1920er und 1930er Jahre unterzog er dabei einer zum Teil starken Revision, insbesondere im Hinblick auf ihre rassenbiologischen Versatzstücke, die nun nicht mehr opportun erschienen und entsprechend kaschiert werden sollten.24 Ansonsten blieb Kolbenheyer der selbsterhobene Anspruch, auch nach dem Untergang des Dritten Reichs weiter auf Zeitgeist und Gesellschaft einwirken zu wollen, weitestgehend verwehrt. Jenseits rechtsradikaler Organe wie Nation Europa25 und randständigen Kulturzeitschriften wie den Klüter Blättern fand Kolbenheyer kaum mehr öffentliche Beachtung. Daran vermochte auch der Umstand nichts zu ändern, dass ein langjähriger Freund und Bewunderer des Dichters wie der Germanist Hermann Schneider noch im Oktober 1945 als Rektor der Universität Tübingen Kolbenheyer als wegweisenden Vertreter einer „moderne[n], biologisch gerichtete[n]“26 Philosophie beschrieb, die einen Weg für die Deutschen aus dem Elend ihrer Gegenwart in sich berge. Doch blieben solche Äußerungen Einzelfälle; die Zeit, in der Kolbenheyer in einem ernstzunehmenden Maß öffentlich für sein Weltbild hatte werben können und unter einem erheblichen Teil des deutschen Bildungsbürgertums auf Interesse und Gehör stieß, war mit dem Ende des NS-Staats definitiv besiegelt. Am 12. April 1962 starb Kolbenheyer in Geretsried bei München.

Thomas Vordermayer

1 Vgl. Erwin Guido Kolbenheyer, Die Kindheit des Paracelsus, München 1917; ders., Das Gestirn des Paracelsus, München 1921; ders., Das dritte Reich des Paracelsus, München 1925. 2 Vgl. Thomas Vordermayer, Bildungsbürgertum und völkische Ideologie. Konstitution und gesellschaftliche Tiefenwirkung eines Netzwerks völkischer Autoren (1919–1959), Berlin 2016, S. 122f. 3 Großvater Erwin Guido Kolbenheyers war der evangelische Theologe Moritz Kolbenheyer (1810– 1884). Geboren im österreichisch-schlesischen Bielitz wirkte Moritz Kolbenheyer nach seinem Studium an den Universitäten Wien und Berlin (1832–1835) ab 1836 auf ungarischem Boden – zunächst als Pfarrer in Eperies (Prešov), wo sein Sohn Franz geboren wurde, später als Superintendent in Ödenburg (Sopron). Moritz Kolbenheyer war mit Cornelie Medgyasszay, Tochter des in Wien tätigen ungarischen Großhändlers István Medgyasszay, verheiratet. Vgl. Szabolcs Boronkai, Moritz Kolbenheyer. Ein (Nach-)Dichter an der Sprachgrenze, in: Antal Mádl (Hg. u.a.), Schriftsteller zwischen (zwei) Sprachen und Kulturen. Internationales Symposium Veszprém und Budapest 6.–8.11.1995, München 1999, S. 75–84. 4 Kolbenheyers Promotion zum Thema „Die sensorielle Theorie der optischen Raumempfindung“ erfolgte 1905. 5 Zwar wurde Kolbenheyers zweitem Roman „Meister Joachim Pausewang“ (1910) ein weiterer Achtungserfolg zuteil (Bauernfeld-Preis 1911), der dritte Roman „Montsalvasch“ (1911) und die Novellensammlung „Ahalibama“ (1913) fanden in den Feuilletons hingegen kaum Beachtung.

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6 Erwin Guido Kolbenheyer, Sebastian Karst über sein Leben und seine Zeit, 3 Bde., Darmstadt 1957/58, Bd. 2, S. 233. 7 Wie sehr Kolbenheyer sein schriftstellerisches Schaffen gleichsam als Frontersatz verstand, geht besonders anschaulich aus einem Brief vom 3. Dezember 1930 an den Schweizer Schriftsteller Jakob Schaffner hervor: „Ich bin nicht an der Front gelegen und habe nicht das Leben eingesetzt, als das deutsche Volk von der Zivilisation und deren Hilfsvölker [sic!] hat umgebracht werden sollen; ich habe zwar nichts getan, um meine Kommandierung an die Front zu verhindern, aber ich habe auch nichts dafür getan, daß ich an die Front versetzt würde […] [E]s brennt mir heute noch auf der Seele. Die Frontkämpfer sind todesbefriedet oder sie haben die äußerste Lebenspflicht geleistet; ich bin nicht dienstentlassen.“ Zitiert nach: Vordermayer, Bildungsbürgertum, S. 58. 8 In seiner Laudatio begründete der damalige Dekan der Medizinischen Fakultät Alexander Schmincke die Ehrung Kolbenheyers nicht nur mit dessen literarischem Portrait Paracelsus’ als einem „der größten deutschen Ärzte“, sondern auch mit der ideologischen Konnotation von Kolbenheyers Trilogie, die ganz „im Dienste der seelischen und geistigen Gesunderhaltung unseres Volkes“ stehe. Zitiert nach: Mathias Kotowski, Die öffentliche Universität. Veranstaltungskultur der Eberhard-Karls-Universität Tübingen in der Weimarer Republik, Stuttgart 1999, S. 277. 9 Erwin Guido Kolbenheyer, Wem bleibt der Sieg?, Tübingen 1919, S. 5, 14. 10 Harald Lönnecker, „…Boden für die Idee Adolf Hitlers auf kulturellem Felde gewinnen“. Der „Kampfbund für deutsche Kultur“ und die deutsche Akademikerschaft, in: GDS-Archiv für Hochschul- und Studentengeschichte 6 (2002), S. 121–144, 129. 11 Vgl. Vordermayer, Bildungsbürgertum, S. 180–191. 12 Zu den Kerngedanken der Bauhütten-Philosophie vgl. ausführlich Franz Koch, Kolbenheyer, Göttingen 1953, S. 80–141; Vordermayer, Bildungsbürgertum, S. 170–179. 13 Als zentrales Kennzeichnen dieser modernen „Schwellenzeit“ galt Kolbenheyer das enorme Bevölkerungswachstum Europas seit etwa 1800. 14 Hans-Edwin Friedrich, Deformierte Lebensbilder. Erzählmodelle der Nachkriegsautobiographie 1945–1960, Tübingen 2000, S. 93. 15 Erwin Guido Kolbenheyer, Die Bauhütte. Grundzüge einer Metaphysik der Gegenwart. Neue Fassung, München 1940, S. 82. 16 Vgl. ders., Über aufgeklärten Nationalismus, in: Deutsches Volkstum. Monatsschrift für das deutsche Geistesleben 5 (1923), S. 211–216, 213ff. 17 Ders., Bauhütte, S. 19, 21. 18 Ders., Die Philosophie der Bauhütte, Wien 1952, S. 598, 601. 19 Ders., Aufruf der Universitäten, in: Deutsche Sängerschaft. Zeitschrift der Deutschen Sängerschaft und des Verbandes Alter Sängerschaftler 35 (1930), S. 115–121, 115f. Den Begriff „Nigger“ umschrieb Kolbenheyer dabei mit der „Vorherrschaft des primitiv Geschlechtlichen“ und „des primitiv Alimentären im wörtlichen und übertragenen Sinne“. Ebd., S. 116. 20 Vgl. Vordermayer, Bildungsbürgertum, S. 189f., 213–217. 21 Vgl. hierzu Erwin Guido Kolbenheyer, Zwei Reden. Das Geistesleben in seiner volksbiologischen Bedeutung. Jugend und Dichtung, München 1942. 22 Kolbenheyer, Sebastian Karst, Bd. 3, S. 266. 23 Diese Bestimmungen wurden indes bereits 1950 im Zuge eines Berufungsverfahrens entscheidend abgeschwächt. Kolbenheyer wurde nun der Kategorie der „Minderbelasteten“ zugeordnet, infolgedessen auch „das Verbot einzelner Werke […] aufgehoben“ wurde. Vgl. Jürgen Hillesheim u.a., Lexikon nationalsozialistischer Dichter. Biographien, Analysen, Bibliographien, Würzburg 1993, S. 291. 24 Entsprechende Vorsicht ist beim Umgang mit dem entsprechenden Band „Vorträge, Aufsätze, Reden“ notwendig. Manche Texte weichen erheblich von ihrem originalen Wortlaut ab und können

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allenfalls als Quellen für Kolbenheyers Selbstverschleierung nach 1945 dienen. Vgl. Vordermayer, Bildungsbürgertum, S. 27f. 25 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Zeitschriftenporträt, Nation Europa, in: Jahrbuch Extremismus und Demokratie 12 (2000), S. 305–322. 26 Zitiert nach: Vordermayer, Bildungsbürgertum, S. 189.

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Wilhelm Koppe Wilhelm Koppe, geboren am 28. September 1908 in Schleswig, besuchte die Volksund später die Domschule in seiner Heimatstadt. 1919 wechselte er auf das KaiserinAuguste-Viktoria Gymnasium nach Plön, wohin seine bürgerlich-protestantische Familie gezogen war. 1927 begann er das Studium der Geschichte sowie Englisch und Leibesübungen in Göttingen. In rascher Folge wechselte er nun zwischen dem Sommersemester 1927 und dem Wintersemester 1928/29 an die Hochschulen in Wien, Königsberg und Hamburg, bis er zum Sommersemester 1929 in seine schleswig-holsteinische Heimat zurückkehrte, wo er das Studium an der Kieler ChristianAlbrechts-Universität (CAU) fortsetzte. Hier kam er mit den akademischen Lehrern in Kontakt, die seine wissenschaftliche Laufbahn prägten: mit dem Hansehistoriker →Fritz Rörig sowie dem Ordinarius für Schleswig-Holsteinische, Nordische und Reformationsgeschichte →Otto Scheel. Bei Rörig promovierte Koppe 1931 über den „Lübeck-Stockholmer Handel von 1360–1400“; im folgenden Jahr bestand er seine Staatsprüfung für das höhere Lehramt. Auf Anraten seines Doktorvaters setzte Koppe zu Habilitationszwecken die wissenschaftliche Arbeit fort und forschte mithilfe verschiedener Stipendien der Deutschen Forschungsgemeinschaft in den Beständen der Archive in Dorpat, Lübeck, Reval, Riga und Stockholm. Im Juni 1936 erfolgte schließlich seine Habilitation an der CAU mit der Schrift „Der Haushalt des schwedischen Reiches unter Gustav Adolf und Christina“, die aufgrund der nüchternen Thematik, so das Resümee des Kieler Dozentenschaftführers, keinen Druckkostenzuschuss erhielt und daher nur als erheblich gekürzte Zusammenfassung erschien.1 Die Machtergreifung der Nationalsozialisten empfand Koppe, der zwischen 1925 und 1933 dem Jungdeutschen Orden und der Deutschen Staatspartei angehörte, als „Niederlage des besseren Deutschlands“. Er gab in der Reichstagswahl vom März 1933 seine Stimme der SPD, wie er später im Entnazifizierungsverfahren hervorhob.2 Um jedoch ein „Fortkommen auf der eingeschlagenen beruflichen Bahn zu ermöglichen“, trat Koppe zum 1. Mai 1933 der NSDAP und der SA bei.3 Trotz seiner anfänglichen Bedenken konnte sich Koppe in den folgenden Monaten und Jahren für die nationalsozialistische Idee immer mehr erwärmen und betonte bereits im November 1933 in einem Briefwechsel mit Fritz Rörig, dass er glücklich über die Gelegenheit sei, als „aktiver Nationalsozialist“ am Aufbau des neuen Deutschlands mitwirken zu können.4 1938 wurde er Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, 1940 erfolgte sein Eintritt in den Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbund. Seine ausgewiesene wissenschaftliche Beschäftigung mit Skandinavien und dem Ostseeraum sowie sein politischer Enthusiasmus waren ausschlaggebend dafür, dass Rörig noch im Sommer 1936, lediglich wenige Wochen nach Koppes Habilitation, den Kontakt zu →Albert Brackmann herstellte. Im Rahmen der →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG) sollte Koppe als Stipendiat und Referent für skandinavische und baltische Fragen mitarbeiten. Die NOFG berief Koppe nur kurze Zeit später als Gebietsvertreter in ihren Beirat, wo er gemeinsam mit Rörig

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den Fachbereich „Ostsee und Hanse“ übernahm. Seine vorrangige Aufgabe war jedoch eine andere: Er sollte „ein deutsches wissenschaftliches Organ schaffen, das das deutsche Interesse im Arbeitsraum der Baltic [and Scandinavian; Anm. d. Verf.] Countries vor internationalem Forum vertreten sollte“.5 Diese Aufgabe teilte er sich mit →Johannes Papritz, der die Gebiete Ostdeutschland, Polen und Litauen bearbeitete und seit 1937 als Geschäftsführer der NOFG fungierte. Koppe war für die Bearbeitung der vier skandinavischen Länder sowie Estlands und Lettlands zuständig. Die Arbeit fand in engem Kontakt mit dem Reichsministerium des Inneren (RMI), dem Auswärtigen Amt und der Volksdeutschen Mittelstelle statt, was die enge Verzahnung von Wissenschaft und Politik verdeutlicht. Im Rahmen der baltischen und skandinavischen Fragen betätigten sich Koppe und Papritz zudem als Herausgeber der neugegründeten Zeitschrift →Jomsburg. 1938 endete Koppes Anstellung als Referent im Dienst der NOFG, allerdings blieb er der Forschungsgemeinschaft im Rahmen seiner Tätigkeiten als Gebietsvertreter und Herausgeber der Jomsburg weiter erhalten. Er konzentrierte sich nun wieder verstärkt auf seine akademische Laufbahn. Im Mai 1938 hielt er an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität seine Antrittsvorlesung und wurde mit einem Lehrauftrag zur Deutschen Geschichte im Mittelalter sowie mit der Einführung in die mittelalterliche Geschichtswissenschaft betraut. Seine Dozentur übte er aber nicht lange aus. Nur zwei Monate nach seiner Ernennung zum Dozenten mit Diäten im September 1939 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen und im Frühjahr 1940 in Frankreich stationiert. Erst die im November desselben Jahres eingeleitete Rückberufung von Hochschullehrern an die deutschen Universitäten erlaubte es Koppe, die Wehrmacht einstweilen wieder zu verlassen und seine wissenschaftlich-politische Arbeit fortzusetzen. Nach der Besetzung Dänemarks und Norwegens sollten auf Brackmanns Anordnung die Haltung der deutschen Wissenschaftler zu Skandinavien geklärt und weitere Möglichkeiten zur Zusammenarbeit aufgezeigt werden.6 Ein Medium dafür bot die Jomsburg, in der sich Koppe noch zum Ende des Jahres 1940 gleich in zwei zeitpolitischen Beiträgen mit den besetzten skandinavischen Staaten beschäftigte. Im ersten Aufsatz befasste er sich mit der Neutralität Norwegens, die er als „Fassade“ und „Verrat an der deutschen Reichsregierung“ bezeichnete, deren Ursprung in „so trüben Quellen wie den hasserfüllten Ansichten der [englischen und französischen; Anm. d. Verf.] Emigranten und ihrer jüdischen und judenhörigen Freunde“ liege.7 Allerdings gab es nach Koppes Dafürhalten immer noch Hoffnung auf wissenschaftliche und politische Zusammenarbeit zwischen dem NS-Regime und den nordeuropäischen Staaten. Klarheit über die „wahre Situation, ungetrübte Einsicht in die nationalen, skandinavischen, germanischen und kontinentalen Verpflichtungen“ sei für die nordeuropäischen Völker überlebenswichtig, und nur so könne die „europäische Achse, die die Kontinentalpolitik trägt“, nach Norden hin verlängert werden, wie Koppe im zweiten Aufsatz unterstrich.8 Zur besseren Koordinierung dieser scheinbar dringenden Notwendigkeit reisten Papritz und Koppe, als Vertreter der

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NOFG, zu einer in Stralsund unter Federführung von →Peter-Heinz Seraphim veranstalteten Tagung zu Skandinavien. Die deutliche Ablehnung des Nationalsozialismus durch die ausländlichen Teilnehmer bescherte der Tagung jedoch keinen Erfolg.9 Das nordeuropäische Verhältnis zum Dritten Reich blieb in den Jahren 1940 bis 1942 nicht Koppes einzige zeitpolitische Beschäftigung im Auftrag der NS-Propaganda. In zwei weiteren Aufsätzen, für deren Vorbereitung er zeitweise in das Reichsministerien des Innern und in das Auswärtige Amt abkommandiert worden war, befasste er sich mit der polnischen Staatsgründung nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages und den Ursachen für den Kriegsausbuch im September 1939. Er zeichnete darin den „Drang der polnischen Slawen zum Meer“ während der Regierungszeit Mieszkos I. (960–992) nach, die er in einen engen Zusammenhang mit Polens Ostseezugang bei Gdingen stellte, der nach der deutschen Kriegsniederlage 1918 geschaffen wurde. Die seine Zeit betreffenden Forschungsergebnisse polnischer Historiker stellte Koppe als „haltlose Phantasien“ dar, da sie die reichhaltigen archäologischen „Funde der letzten Jahre aus politischen Gründen verheimlichen“ wollten. Aus den Ausgrabungsergebnissen deutscher Archäologen folgerte er vielmehr, dass der „polnische Staat von Skandinaviern gegründet worden sei“ und der Anspruch des Nachbarlandes auf freien Zugang zum Meer somit haltlos sei.10 Anhand einer stark antisemitischen Argumentation skizzierte er darüber hinaus die Gründe für den Niedergang des gegenwärtigen Polens und legitimierte die NS-Politik sowie den Angriff auf das Nachbarland. In Versailles sei ein „polnischer Vernichtungskampf gegen die deutsche Volksgruppe“ in Polen motiviert worden: „Das zivilisierte Europa sah […] in merkwürdigem Mißverhältnis zu den von ihm laut verkündeten humanitären Idealen diesem Vernichtungswerk gegen 2 Millionen Deutsche uninteressiert zu, während es sich des Jammerns nicht genug zu tun wußte, wenn einem Juden in Deutschland angeblich auch nur ein Haar gekrümmt wurde.“11 Sein im Auftrag des Reichskommissariats Ostland verfasstes, unveröffentlicht gebliebenes Manuskript zur Geschichte Lettlands und Estlands ist ebenfalls den völkischen Germanisierungsbestrebungen der →Ostforschung verpflichtet.12 Im April 1942 wurde Koppe erneut eingezogen und diesmal an die Ostfront abkommandiert. Im Februar 1943 erlitt er dort bei einem Gefecht eine so schwere Kopfverletzung, dass er im Oktober desselben Jahres aus dem Kriegsdienst entlassen wurde. Nach einer halbjährigen Genesungszeit vertrat er im Wintersemester 1943/ 44 und im Sommersemester 1944 den Direktor des Schwedischen Instituts an der Universität Greifswald. Spätestens im November 1944 erreichte ihn dann die Anweisung, den erkrankten ordentlichen Professor Leonid Arbusow an der →Reichsuniversität Posen zu vertreten. Der Zusammenbruch der Ostfront beendete Koppes Tätigkeit in Posen allerdings schon im Januar 1945. Er ließ sich umgehend bei der Ausweichuniversität Greifswald beurlauben und verbrachte die Frühjahrsmonate bei seiner Familie in Eutin. Erst Mitte April 1945 wandte er sich an die CAU mit der Bitte

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um weitere Verwendung. Noch am 1. Mai 1945 beauftragte ihn die Universität mit der Vertretung des Ordinarius’ für Mittlere und Neuere Geschichte Karl Jordan. Die Entlassung aus dem Hochschuldienst durch die britische Militärregierung im Juni 1945 währte nur wenige Monate. Bereits im November 1945 bekam er erneut einen Lehrauftrag an der CAU zugewiesen und wurde zudem Geschäftsführer der Schleswig-Holsteinischen Universitätsgesellschaft.13 Im Januar 1947 erfolgte die Ernennung zum außerplanmäßigen Professor für Nordische Geschichte, allerdings nur unter Vorbehalt, da die britische Militärregierung Zweifel an Koppes politischer Vergangenheit und Einstellung hegte.14 Erst im Juli 1948 erhielt er im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens eine Einstufung in die Kategorie V. Seine bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten zur nordischen Geschichte machten ihn für die universitäre Lehre und Forschung der CAU damals nahezu unabdingbar. Die schleswig-holsteinische Landespolitik verstand die Universität nach 1945 nun als Brücke zwischen Deutschland und Skandinavien, vornehmlich Dänemark. Im September 1952 wurde Koppes Lehrauftrag daher um die Hansische Geschichte und die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Nordens erweitert. 1957 ernannte ihn die CAU zum Wissenschaftlichen Rat und Professor. Seine unbestrittenen Leistungen auf dem Gebiet der →Hanseforschung veranlassten die Universität im Jahr 1965 sogar zum Versuch, eine eigene Professur für Hansische Geschichte am Historischen Seminar zu errichten. Obwohl die CAU damals als eines der wichtigsten Zentren zur Erforschung der hansischen Geschichte galt, wurde der Vorschlag vom schleswigholsteinischen Kultusministerium unbegründet abgelehnt.15 Zum 1. April 1972 ließ sich Koppe schließlich in den Ruhestand versetzen, da ihm die Langzeitfolgen seiner Kriegsverletzung im Alter immer merklicher zusetzten. Er starb am 11. Juni 1986 in Preetz. Wilhelm Koppe blieb in seiner Diktion auch nach 1945 den volksgeschichtlichen Ideen und Gedanken verpflichtet. Methodik und Inhalt der Volksgeschichte verband er dabei vielfach mit regionalgeschichtlichen Forschungsansätzen, wobei sich der räumliche Blick weg von der Ostforschung und verstärkt auf den europäischen Norden richtete: Seine wissenschaftliche Bedeutung liegt vornehmlich auf den Forschungsfeldern der Handelsregion Lübeck-Schweden, der regionalen Netzwerkbildung im Hanseraum sowie der schleswig-holsteinischen Landesgeschichte, der er sich ab den 1950er Jahren verstärkt zuwandte. Die von Koppe gewonnenen Erkenntnisse sind indes in der heutigen Hanse- und Netzwerkforschung spürbar in den Hintergrund getreten. Als Grund dafür lässt sich womöglich die in der Hanseforschung zeitweilig übermächtige Persönlichkeit Rörigs ausmachen. Zu Rörigs Lebzeiten gelang es Koppe nicht, aus dem Schatten seines Mentors herauszutreten. Nach Rörigs Tod gerieten dessen Person und Methodik zunehmend in Kritik, was eine Hypothek

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auch für Koppes Arbeit darstellte, da er gewissermaßen dessen Erbe inhaltlich fortführte.

Oliver Auge und Martin Göllnitz

1 Wilhelm Koppe, Der Haushalt des Schwedischen Reiches unter Gustav Adolf und Christina, Gräfenhainichen 1938; vgl. LASH, Abt. 460, Nr. 4392, Vermerk zu Koppes Habilitationsschrift. Zu Koppes wissenschaftlicher und politischer Karriere siehe ausführlich Oliver Auge/Martin Göllnitz, Hansegeschichte als Regionalgeschichte: Das Beispiel des Kieler Historikers Wilhelm Koppe (1908– 1986), in: Hansische Geschichtsblätter 131 (2013), S. 229–273. 2 LASH, Abt. 460, Nr. 4392, Entnazifizierungsfragebogen von Wilhelm Koppe; BArch, R 4901, 13268, REM Hochschullehrerkarteikarte von Wilhelm Koppe. 3 LASH, Abt. 47, Nr. 7255, Von Wilhelm Koppe verfasster Lebenslauf vom 26.3.1946. 4 AHStL, Nl Fritz Rörig, II. C. 70 (W. Koppe 7.11.1933). Ferne siehe auch Birgit Noodt, Fritz Rörig (1882–1952): Lübeck, Hanse und die Volksgeschichte, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 87 (2007), S. 155–180. 5 LASH, Abt. 47, Nr. 7255, Vermerk des Universitätskurators der CAU vom 18.7.1972; BArch, R 153, 1274, Ausarbeitung von Papritz und Koppe über Zweck und Ziel einer wissenschaftlichen Zeitschrift. 6 GStA-PK, Rep. 92, Nachlass Brackmann, Bl. 470–488, Bl. 471, Vertraulicher Bericht über die Zusammenkunft der NOFG in Stralsund vom 1.–2.2.1941. 7 Wilhelm Koppe, Die Neutralität der ehemaligen norwegischen Regierung, in: Jomsburg 4 (1940), S. 121–124, 123. 8 Ders., Dänemarks nordische Verpflichtung, in: Jomsburg 4 (1940), S. 255–258, S. 258. Vgl. dazu allgemein Robert Bohn (Hg.), Die deutsche Herrschaft in den „germanischen“ Ländern 1940–1945, Stuttgart 1997. 9 Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?, Baden-Baden 1999, S. 187; Hans-Christian Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik. Eine biographische Studie zu Peter-Heinz Seraphim (1902–1979), Osnabrück 2007, S. 179ff. 10 Wilhelm Koppe, Das Reich des Miseko und die Wikinger in Ostdeutschland, in: Hermann Aubin (Hg. u.a.), Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg, Leipzig 1942, S. 253–266, 255ff. 11 Ders., Die unmittelbaren Ursachen des deutsch-polnischen Krieges, in: Karl Schwarz (Hg.), Chronik des Krieges. Dokumente und Berichte Bd. 1: Der Krieg, seine Vorgeschichte und seine Entwicklung bis zum 1. Februar 1940, Berlin 1940, S. 399–407, 403f. 12 BArch, R 91, 222, Ungedrucktes Manuskript zur Geschichte des Ostlandes (Estland, Lettland) von Koppe, ohne Datum. 13 Kurt Jürgensen, Die Schleswig-Holsteinische Universitäts-Gesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Manfred Jessen-Klingenberg (Hg. u.a.), Universität und Land. Geschichte der SchleswigHolsteinischen Universitäts-Gesellschaft 1918–1993, Neumünster 1995, S. 87–120, 93. 14 LASH, Abt. 460, Nr. 4392, Beschluss des Military Government of Germany (Kiel) vom 8.3.1947. 15 Oliver Auge/Martin Göllnitz, Zwischen Grenzkampf, Völkerverständigung und der Suche nach demokratischer Identität: Die Landesgeschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel zwischen 1945 und 1965, in: Christoph Cornelißen (Hg.), Wissenschaft im Aufbruch. Beiträge zur Wiederbegründung der Kieler Universität nach 1945, Essen 2014, S. 101–129, S. 127.

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Gustaf Kossinna Der Germanist Gustaf Kossinna prägte als Inhaber des ersten außerordentlichen Lehrstuhls für deutsche Archäologie maßgeblich die Strukturen und Inhalte der deutschen archäologischen Forschung am Beginn des 20. Jahrhunderts. Vor allem seine Beiträge zum „germanophilen Migrationismus“1 wurden sowohl innerhalb als auch außerhalb der →Prähistorischen Archäologie als wichtige methodische und argumentative Impulse rezipiert.2 Da sich Kossinna in seinen Schriften zum Ursprung und zur Ausbreitung der Germanen auch eindeutig politisch positionierte, erfuhren seine Arbeiten vor allem nach 1918 innerhalb der völkischen Bewegung Anerkennung und Aufnahme und wurden auch für nationalsozialistische Kultur- und Raumkonzeptionen adaptiert.3 Seit über 30 Jahren werden Kossinnas Methodik und Argumentationen und deren Rezeption, vor allem aber seine „posthume Heroisierung“ im Nationalsozialismus und „folgerichtige Verdammung nach 1945“, wieder verstärkt kontrovers diskutiert.4 Kossinna wurde am 28. September 1858 als Sohn eines Gymnasialprofessors im ostpreußischen Tilsit (Sowetsk, Russland) geboren. Zwischen 1876 und 1881 studierte er in Göttingen, Leipzig, Berlin und Straßburg Klassische und Germanische Philologie und Altertumskunde sowie Geschichte, Kunstgeschichte und (Klassische) Archäologie und Geographie. Als seinen einflußreichsten Lehrer nannte Kossinna selbst den Germanisten Karl Müllenhoff (1818–1884), der ihn mit den Forschungen zur germanischen Altertumskunde bekannt machte. Nach der Promotion 1881 über „Die ältesten hochfränkischen Sprachdenkmäler“ an der Universität Straßburg arbeitete Kossinna als Bibliothekar an diversen Universitätsbibliotheken, bis er 1900 zum Professor an die Universität Berlin und dort 1902 auf die erste außerordentliche Professur für Deutsche Archäologie berufen wurde. Kossinna lehrte in mehrsemestrigen Zyklen regionale und europäische Ur- und Frühgeschichte und baute vor allem die praktische Übung zur archäologischen Formenkunde anhand mitteleuropäischer Kleinfunde als seinen pädagogischen Schwerpunkt aus. Dafür galt er am Vorabend des Ersten Weltkrieges auch unter seinen Kritikern als der beste archäologische Didaktiker in Zentraleuropa. Die archäologische und historische Darstellung der Germanen stand im Mittelpunkt seiner Lehrveranstaltungen und wurde von ihm konstant mit weltanschaulichen Bekenntnissen und zeitgeschichtlichen Bezügen ergänzt. Um 1910 hatte sich ein fester Kreis von Studenten (Kossinna-Schule) und älteren, völkisch orientierten Gasthörern um Kossinna geschart, die maßgeblich das Klima im Berliner Seminar prägten. Da für Kossinnas Studenten nur ein eingeschränktes Promotionsrecht galt, wechselten viele an andere Universitäten, so dass es zusätzlich zu einem weiträumigen Transfer von Kossinnas Methodik und auch Weltanschauung kam. In diesem Sinne wirkte auch das 1925 von ihm als fachinternes Informationsmedium begründete Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit. Kossinna wurde 1926 pensioniert und starb am 20. Dezember 1931 in Berlin.

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In Fortsetzung seiner durch Müllenhoff geweckten Leidenschaft hatte sich Kossinna für bibliographische und editorische Auftragsarbeiten, mit denen er sein Gehalt als Bibliothekar aufzubessern versuchte, mit zeitgenössischen Forschungen zur germanischen und indogermanischen Sprach- und Stammesgeschichte, der klassischen Philologie, der historischen Ethno- und Geographie sowie der →Volkskunde intensiv auseinandergesetzt.5 Der Philologe wurde so zum Altertumsforscher. Auf Grundlage der bereits etablierten ethnischen Deutung archäologischer Funde erweiterte er den bis dahin für die Germanische Altertumskunde gültigen Untersuchungshorizont extrem und behauptete: „Die Germanengruppe als solche ist nachweisbar mindestens bis in den Beginn des Megalithbaues, vielleicht noch bis in die erwähnte Übergangsepoche hinein; den Eintritt der germanischen Lautverschiebung und damit den Ursprung der germanischen Sprache brauchen wir aber kaum über die Periode der Ganggräber hinauszurücken (3000 v. Chr.)“.6 Archäologische Kulturen auf deutschem Boden wurden damit rückblickend bis in das Jungneolithikum zu potentiell germanischen Kulturen erklärt, deren Entwicklung, Raumordnungen und Charakteristika Kossinna fortan mit explizit nationalistischer Motivation durch seine siedlungsarchäologische Methode erforschen wollte.7 Ab 1894 extrahierte er aus dem damaligen Forschungsstand Daten zu den Verbreitungsgebieten archäologischer Funde, die in Stil oder Technologie einander entsprachen, und bildete daraus Einheiten, die er als ethnisch definierte Kulturen betrachtete.8 Entsprechend seinem Axiom „scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern oder Völkerstämmen“9 korrelierte Kossinna pragmatisch archäologische Einheiten mit historisch überlieferten Völkern und Stämmen. Diese „scheinbar ethnisch identifizierten archäologischen Kulturareale“ verfolgte er „an Hand typologischer und/oder chorologischer Kontinuität bei Beachtung räumlicher Schwerpunktverlagerungen in die schriftlich unbelegten ‚vorgeschichtlichen‘ Zeiten zurück“ und erklärte: archäologische „Kulturgebiete sind Volksgebiete“.10 Diskontinuitäten mit Formengut interpretierte Kossinna mit einem weiteren zentralen Axiom: kulturelle Veränderungen, die von Süden nach Norden verlaufen waren, bezeichnete er als „Kulturwellen“ oder „Kulturwandern“,11 also die Weitergabe von Ideen oder Moden. Veränderungen jedoch, die sich von Norden her ausbreiteten, betrachtete er als „gerichtete Verpflanzungen zusammenhängender Culturen oder charakteristischer Theile derselben“, also als „Völkerbewegungen“.12 Kurz vor der Jahrhundertwende begann Kossinna mit der archäologischen Identifizierung der sprachwissenschaftlich postulierten Ostgermanen13 und Überlegungen zum Ursprung der Indogermanen. Ab 1896 lokalisierte er das indogermanische Ursprungsgebiet vor allem im südwestlichen Ostseebecken einschließlich Südskandinaviens.14 1908 postulierte er schließlich zwei Regionalgruppen der Indogermanen: die Nord- und die Südindogermanen,15 aus denen sich im Verlauf von insgesamt vierzehn neolithischen „Wanderzügen“ die Kelten, Griechen, Italiker und Illyrer herausgebildet hätten. Die restlichen, im Norden verbliebenen Indogermanen

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hätten sich mit den nicht-indogermanischen, aber indogermanisch beeinflussten Urfinnen in Ostdänemark, Ostschweden und Schleswig-Holstein zu einer einheitlichen Kultur verbunden, die „als Ursprung der Germanen um 2000 v. Chr. betrachtet werden“ könne.16 Kossinna verknüpfte damit ältere methodische und inhaltliche Topoi der deutschen und europäischen Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie17: Die permanente Mobilität homogener ethnischer Einheiten in der Prähistorie, die Idee ihrer lokalisierbaren Ursprünge und schließlich die Vorstellung einer ethnischen Genealogie, welche die tribale Ur- und Frühgeschichte mit der nationalen Gegenwart Europas und des Deutschen Reiches zu verbinden schien. Ihm gelang damit nicht nur die Ansprache und chronologische Einordnung von Fundplätzen, bevor eine von der archäologischen Formenkunde unabhängige Datierungsform praktikabel war, sondern er lieferte auch eine Synthese des disparaten Forschungsstandes zu einem historischen Narrativ,18 womit Anknüpfungsmöglichkeiten zu den Kulturkonzepten anderer Disziplinen hergestellt wurden. Aber anders als beispielsweise die Vertreter der Anthropogeographie sah Kossinna dabei Territorialität als politisches Ziel und nicht als kulturelle Determinante. Um die Jahrhundertwende hatten Forschungen zur Germanischen Altertumskunde mit der allgemeinen „völkische[n] Codierung des Nationalen“19 eine Aufwertung erfahren und wissenschaftlicher Kompetenz zu diesem Forschungsfeld wurde das Potential politisch relevanter Expertise zugeschrieben.20 Der nationalkonservative Kossinna trug diese Entwicklung mit, indem er sein Fach als „Die deutsche Vorgeschichte eine hervorragend nationale Wissenschaft“ (Würzburg 1912) erfolgreich publizistisch positionierte. Seit 1896 war er Mitglied des Alldeutschen Verbandes und seit 1910 der Gobineau-Vereinigung und förderte aktiv völkische Tendenzen in der von ihm 1909 gegründeten archäologischen „Vereinigung Deutsche Gesellschaft für Vorgeschichte“ und ihrer Zeitschrift „Mannus“ sowie der Reihe „Mannus-Bibliothek“.21 Zusätzlich richtete Kossinna seinen akademischen Unterricht nach Kriegsende bis zu seiner Pensionierung „auf die völkische Bewusstseinsbildung“ aus.22 Vor allem aber publizierte er seine Forschungen als archäologische Expertisen zu Gegenwartsfragen, so verfaßte er für die Freie Vereinigung zum Schutze Oberschlesien die Schrift „Die deutsche Ostmark ein Urheimatboden der Germanen“ (1919) und für den Deutschen Volksrat für Westpreußen das Buch „Das Weichselland, ein uralter Heimatboden der Germanen“ (1919). In seinem Alterswerk von 1928 „Ursprung und die Verbreitung der Germanen“ stilisierte er vor allem die Migration selbst zum konstitutiven Prozess für die Ethnogenese und Kulturentwicklung der (Indo-)Germanen. Er lieferte damit auch Argumente für die zeitgenössischen politischen wie wissenschaftlichen Raumkonzepte und Grenzforschungen mit ihren revisionistischen Ansprüchen,23 wofür er ein völkisches Nationskonzept auf die rekonstruierten prähistorischen Verhältnisse übertrug. Dieser „neoromantisch-völkische Irrationalismus“ wurde von vielen deutschen Prähistorikern als Chauvinismus abgelehnt, auch wenn „viele nicht die nationale Aufgabenstellung der Wissenschaft prinzipiell in Frage stellten“.24 Seit 1909 veröffentliche Kossinna konsequent in völ-

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kischen Verlagen, die als „Entrepreneurs of Ideology“ wirkten.25 Kossinnas „Hausverlag“ Carl Kabitzsch in Würzburg wurde seit dem Kauf durch den Leipziger Medizinverlag Johann Ambrosius Barth (1916) als völkische Verlagsrubrik, geprägt durch Kossinnas Schriften sowie den Mannus (ab 1909) und die Mannus-Buchreihe (ab 1910/1911), kontinuierlich ausgebaut. Wegen finanzieller Schwierigkeiten des Verlages mußte Kossinna mit Buchprojekten unter anderem zum J. F. Lehmanns Verlag in München wechseln.26 Darüber hinaus unterstützte er mit vielfältiger Propagierung „altgermanischer Kulturhöhe“ als „Wehrmotivation“ u.a. die Erstausgabe der kulturpolitischen Monatsschrift Deutscher Volkswart des rechtsextremen Leipziger Verlages Theodor Weicher 1913.27 Mit Unterstützung von Alfred Rosenberg wurde Hans Reinerth 1934 Kossinnas Nachfolger auf den umgeformten Lehrstuhl für Vorgeschichte und germanische Frühgeschichte und zum Direktor des gleichnamigen Instituts an der Berliner Universität berufen. Gemeinsam mit anderen einflußreichen Schülern Kossinnas forcierte Reinerth dessen Glorifizierung und die Kanonisierung seiner Thesen durch die Neuauflage der propagandistisch wirkungsvollsten Bücher.28

Susanne Grunwald

1 Marc Andresen, Studien zur Geschichte und Methodik der archäologischen Migrationsforschung, Münster 2004, S. 95. 2 Herbert Jankuhn, Das Germanenproblem in der älteren archäologischen Forschung. Von der Mitte des 19. Jh.s bis zum Tode Kossinnas, in: Heinrich Beck (Hg.), Germanenprobleme aus heutiger Sicht, Berlin u.a. 1986, S. 298–309. 3 Heinz Grünert, Gustaf Kossinna (1858–1931). Vom Germanisten zum Prähistoriker. Ein Wissenschaftler im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Rahden/Westf. 2002, S. 336–342. 4 Ulrich Veit, Der Prähistoriker als ‚local hero‘. Gustaf Kossinna (1858–1931) und sein Kampf für die „deutsche Archäologie“, in: Stefanie Samida (Hg.), Inszenierte Wissenschaft: Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011, S. 297–315, 308; Günter Smolla, Das Kossinna-Syndrom, in: Fundberichte Hessen 19/20 (1980), S. 1–9; ders., Gustaf Kossinna nach 50 Jahren. Kein Nachruf, in: Acta Praehistorica et Archaeologica 16/17 (1984/1985), S. 9–14; Heinrich Härke, All quiet on the Western Front? Paradigmas, methods and approaches in West German Archaeology, in: Ian Hodder (Ed.), Archaeological theory in Europa. The last three decades, London 1991, S. 187– 222; Ulrich Veit, Gustaf Kossinna and his Concept of a National Ideology, in: Heinrich Härke (Ed.), Archaeology, Ideology and Society, Frankfurt a. M. 2000, S. 40–64; Stanisław Tabaczyński, From the history of eastern and western archaeological thought: An introduction to discussion, in: Peter Biehl (Hg. u.a.), Archäologien Europas. Geschichte, Methoden und Theorien, Münster 2002, S. 67– 76; Bernhard Mees, Hitler und Germanentum, in: Journal of Contemporary History 39 (2004) 2, S. 255–270. 5 Grünert, Kossinna, S. 26–46, 140–142. 6 Gustaf Kossinna, Herkunft der Germanen. Zur Methode der Siedlungsarchäologie, Würzburg 1911, S. 29. 7 Ders., Herkunft der Germanen, S. 17. Zur Bezeichnung seiner Methode gebrauchte Kossinna den Begriff „Siedlung“ als Synonym für „Stamm“ in der Bedeutung einer Kategorie vgl. Grünert, Kos-

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sinna, S. 71; vgl. auch Gustaf Kossinna, Die indogermanische Frage archäologisch beantwortet, in: Zeitschrift für Ethnologie 34 (1902), S. 161–222, 162. 8 Grünert, Kossinna, S. 75–90; Ulrich Veit, Gustaf Kossinna und V. Gordon Childe. Ansätze zu einer theoretischen Grundlegung der Vorgeschichte, in: Saeculum 35 (1984), S. 326–364, 340. 9 Kossinna, Herkunft der Germanen, S. 3. 10 Grünert, Kossinna, S. 74; Kossinna, Herkunft der Germanen, S. 4. 11 Gustaf Kossinna, Die deutsche Vorgeschichte eine hervorragend nationale Wissenschaft, Würzburg 1914, S. 13. 12 Ders., Die vorgeschichtliche Ausbreitung der Germanen in Deutschland. [überarbeitete Vortragsversion, Vortrag am 9.8.1895 in Kassel], in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 6 (1896), S. 1–14, 2; ders., Die indogermanische Frage, S. 162. 13 Grünert, Kossinna, S. 103. 14 Gustaf Kossinna, Ursprung und Verbreitung der Germanen in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, Leipzig 1928, S. 69. 15 Grünert, Kossinna, S. 109. 16 Kossinna, Ursprung und Verbreitung, S. 161. 17 Ingo Wiwjorra, Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2006. 18 Veit, Gustaf Kossinna und V. Gordon Childe, S. 337. 19 Bernhard Giesen u.a., Vom Patriotismus zum völkischen Denken: Intellektuelle als Konstrukteure der deutschen Identität, in: Helmut Berding (Hg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, Frankfurt a. M. 1994, S. 345–393, 369. 20 Rainer Kipper, Der Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich. Formen und Funktionen historischer Selbstthematisierung, Göttingen 2002; Uwe Puschner, Germanenideologie und völkische Weltanschauung, in: Heinrich Beck (Hg. u.a.), Zur Geschichte der Gleichung „germanisch – deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen. Erg.bde RGA 34, Berlin u.a. 2004, S. 103–129; aus Perspektive der Prähistorischen Archäologie vgl. Ingo Wiwjorra, Die deutsche Vorgeschichtsforschung und ihr Verhältnis zu Nationalismus und Rassismus, in: Uwe Puschner (Hg. u. a.), Handbuch der „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1999, S. 186–207; ders., Germanenmythos; Sebastian Brather, Ethnische Identitäten als Konstrukte der frühgeschichtlichen Archäologie, in: Germania 78 (2000), S. 139–177, 149–158. 21 Vgl. Grünert, Kossinna, S. 304, 241–242; Veit, Der Prähistoriker als ‚local hero‘, S. 305. Die von Kossinna gegründete Deutsche Gesellschaft für Vorgeschichte wurde 1913 in Gesellschaft für Deutsche Vorgeschichte umbenannt (ebd.). 22 Grünert, Kossinna, S. 302–303; S. 279. 23 Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993; Thomas Müller, Imaginierter Westen. Das Konzept des „deutschen Westraumes“ im völkischen Diskurs zwischen Politischer Romantik und Nationalismus, Bielefeld 2009, S. 107–125. 24 Grünert, Kossinna, S. 232, 236. 25 Gary D. Stark, Entrepreneurs of ideology. Neoconservative publishers in Germany 1890–1933, Chapell Hill 1981. 26 Wiebke Wiede, Rasse im Buch. Antisemitische und rassistische Publikationen in Verlagsprogrammen der Weimarer Republik, München 2011, S. 177; Grünert, Kossinna, S. 273; Gary D. Stark, Der Verleger als Kulturunternehmer: Der J.F. Lehmanns Verlag und Rassenkunde in der Weimarer Republik, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 16 (1976), S. 291–318. 27 Grünert, Kossinna, S. 272; Gustaf Kossinna, Altgermanische Kulturhöhe, in: Deutscher Volkswart 1 (1913/1914), S. 1–11. Der Einfluss dieser Verlage auf die Entstehung und Weiterentwicklung von Buchideen dürfte erheblich gewesen sein, wofür der vergleichsweise späte Einsatz von Karten in

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den Werken Kossinnas und die Konjunktur politischer suggestiver Kartographie nach dem Ersten Weltkrieg sprechen (Susanne Grunwald, Metaphern – Punkte – Linien. Zur sprachlichen und kartographischen Semantik vor- und frühgeschichtlicher Wanderungsnarrative bei Gustaf Kossinna, in: Felix Wiedemann (Hg. u.a.), „Vom Wandern der Völker“. Zur Verknüpfung von Raum und Identität in Migrationszählungen. Berlin Studies of Ancient World 41 (Berlin 2017) 273–310. 28 Gunter Schöbel, Hans Reinerth. Forscher – NS-Funktionär – Museumsleiter, in: Achim Leube (Hg.), Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933–1945, Heidelberg 2002, S. 321–396.

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Wilfried Krallert Wilfried Krallert wurde am 23. Januar 1912 in Wien als Sohn eines Beamten geboren. Mit nur 16 Jahren begann er seine politische Karriere, als er die Wiener Zelle des Deutschen Mittelschülerbundes (DMB) aufbaute, eine rechtsextreme Vereinigung von Sekundarschülern unter den Auspizien der SA. Von 1930 bis 1932 war er Mitglied der Deutschen Wehr, einer paramilitärischen Organisation, und Ludendorffs Tannenbergbund. Im April 1933 trat er der NSDAP bei und wurde zwei Monate später Blockwart. Drei Monate darauf betätigte er sich auch in der neu gegründeten Mittelstandarte Wien, die im April 1934 in die SS-Standarte 89 umgewandelt wurde. Seit 1934 gehörte er der SS an. Am Juli-Putsch gegen das Dollfuß-Regime nahm er als offizieller NSDAP-Historiker teil. Nach dem fehlgeschlagenen Putsch wurde Krallert zum SS-Hauptscharführer befördert und bei der SS-Standarte 89 beschäftigt. Er organisierte einen geheimen Briefdienst mit den im Internierungslager Wöllersdorf gefangenen Nazis, wo auch der Geograph →Friedrich Metz – späterer Leiter der →Westdeutschen Forschungsgemeinschaft – interniert war. Im selben Jahr wurde er zusätzlich auch Mitglied des SD-Hauptamts, für das er zwischen 1934 bis 1941 wie später auch für das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) VI Reisen in den Balkan durchführte, die als Forschungsreisen getarnt waren. Er studierte Geschichte und Geographie bei →Hans Hirsch und →Hugo Hassinger, den Leitern der Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft (SOFG) in Wien. Nach erfolgreicher Promotion war er neben seiner vielfältigen politischen Tätigkeit von 1935 bis 1940 Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica. 1937 wurde er Sekretär der Geschäftsstelle der SOFG und später Leiter der →Publikationsstelle (PuSte) Wien.1 Nach dem „Anschluß“ wurde er Mitglied der Blockstelle Wien, dem Vorläufer des RSHA VI/E. Von dieser Zeit an reiste er unter dem Alias Fritz Bergmann. Im Juli 1938 wurde er zum SS-Untersturmführer befördert. Ihm wurde die Medaille zur Erinnerung an den 1. Oktober 1938 (dem Münchner Abkommen) verliehen. Ein wichtiger Durchbruch für das RSHA war Krallerts Kontaktaufnahme zum rumänischen Bevölkerungsexperten →Sabin Manuilă, welchen er bei den vorbereitenden Verhandlungen zum Zweiten Wiener Schiedsspruch zwischen Ungarn und Rumänien 1940 kennen lernte. Im April 1941 nahm Krallert als Sonderführer „Z“ an der Besetzung Jugoslawiens teil und beschlagnahmte mit dem Sonderkommando Künsberg des Auswärtigen Amtes wichtige Dokumente und Karten. Diese Beutebestände wurden durch die PuSte Wien umgehend in ethnographische Karten umgesetzt und dazu benötigt, um die Ausbeutung des jugoslawischen Staates und die ethnischen Flurbereinigungen durch die SS und die Wehrmacht in die Wege zu leiten. Die PuSte Wien war zudem an den Verhandlungen und den Planungen zur ethnischen Segregation in Ost- und Südosteuropa beteiligt gewesen.2 Unmittelbar nach seinem Einsatz in Belgrad nahm Wilfried Krallert als Experte an der Sitzung vom 18. und 19. April 1941 in Wien teil, auf der die Grenzziehungsverhandlungen mit Italien

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vorbereitet und die Grundlinien der „Volkstumspolitik“ für Jugoslawien festgelegt wurden.3 Für diese Tätigkeiten und seine besonderen Einsätze in Russland wurde Krallert 1942 mit dem Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse mit Schwertern ausgezeichnet. Der „tatkräftige und zielbewußte Geschäftsführer“ der PuSte Wien wurde vom Volksgruppenführer in Rumänien und Schwiegersohn von SS-General Gottlob Berger, SS-Offizier Andreas Schmidt, in Himmlers Machtbereich weiterempfohlen und mit der Geschäftsführung des Kuratoriums für Länderkunde des →RSHA VI G betraut. Auf diese Weise kontrollierte es seit Herbst 1943 die gesamte Volkstumspolitik und -forschung. Krallert war nun federführend zuständig für die Nachrichtenbeschaffung sowie für die Planung des Raubs von Kulturgütern und wissenschaftlicher Bibliotheken in Osteuropa, die den dem RSHA unterstellten Forschungsinstituten zugeführt wurden. Die von Wilfried Krallert geleitete Amtsgruppe VI G befasste sich mit Volkstumspolitik und deren quantitativen, ‚wissenschaftlichen‘ Aufbereitung im weitesten Sinne. Sie war auch Initiator der Plünderung von jüdischen Buchhandlungen und Antiquariaten im Rahmen der „geplanten Gesamtlösung“ in Budapest im Mai 1944.4 Im Herbst 1944, als Krallert den Aufbau eines einheitlichen, deutschen Geheimdienstes aufnahm, scheint er den britischen Quellen nach zum SS-Sturmbannführer befördert worden zu sein.5 In den letzten Kriegstagen organisierte Krallert die Evakuierung der PuSte Wien nach dem Kloster St. Lambrecht in der Steiermark und reiste zudem nach Graz, um die Zusammenlegung mit dem dorthin ausgelagerten →Wannsee-Institut zu beaufsichtigen, bis er am 30. Mai 1945 verhaftet wurde. Während seiner Vernehmungen im britischen Kriegsgefangenenlager 373 PW Camp Wolfsberg in Kärnten, die bis 1948 andauerten, standen britischer und amerikanischer Geheimdienst in engem Kontakt. Aufgrund seiner Aussagen waren sie seit Spätherbst 1945 durch den ersten umfassenden Bericht über die geheimdienstliche Tätigkeit des RSHA VI G und den →Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften informiert. Aus seiner Gefangenschaft wurde Krallert 1948 entlassen; er arbeitete bis 1951 für die Briten, die ihn aber zunehmend skeptisch beurteilten: Krallert „[…] spent large sums of money on his journeys, and wild parties at Melle eventually caused the dismissal to the British staff. The general opinion on Krallert, gathered from our desk officers who knew him or of him during and after the war, may summed up as follows: A man of intelligence and great ambition. Conceited, ruthless, boasting and (despite his ambition) lazy. An Austrian of the worst type (from another Austrian!) a Nazi of the worst type. He appears also to have possessed the ‘finest’ collection of pornographic literature in Germany: a hobby for which he used his official appointments. While excercising his control over the Wannsee Institut he secure the dismissal of Achmeteli – then Director – and the appointment of his old tutor Prof. →Hans Koch, with whom he still has close contact. Koch is now head of the Ost-Europa-Institut of München University and must be expected strongly to support Krallert. Information on Krallert’s position around the time of the capitulation could probably be obtained from Dr.

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Harald Speer, who was with the Wannsee Institut in Graz, and is now with the Landesamt für Verfassungsschutz, Stuttgart. […] He was dismissed on this suspicion and for his general incompetence about February 1951, when he returned to Austria. Since his dismissial he appears to have acted as collector of material for various institutes and organizations, particularly for Prof. [Fritz] Valjavec in München (SüdOsteuropa-Institut), for Prof. Koch and for the Gehlen Organization.“6 Die veröffentlichten CIA-Akten weisen Krallert darüber hinaus als Agenten des französischen Geheimdienstes aus. Spätestens seit 1952 war er für die Organisation Gehlen tätig und anschließend für den Bundesnachrichtendienst, der allerdings sämtliche Auskünfte über Wilfried Krallert und →Fritz Valjavec verweigerte. Erst 1963/64 wurden von der CIA Bedenken über seine Kriegsaktivitäten auch in der Sowjetunion angemeldet.7 Im Gegensatz zu den anderen Gruppenleitern des RSHA, die vom Nürnberger Militärtribunal zum Teil zum Tode verurteilt und später begnadigt wurden, wurde Krallert aus unersichtlichen Gründen nicht angeklagt. Sein Wiener Büro inklusive seiner Tagebücher wurden im Kloster St. Lambrecht von den Briten (Document Section of the 8th British Army) beschlagnahmt und – nach Mitteilung des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts – später nach England transportiert, obwohl dies in den britischen Akten nicht belegt ist. Die Dokumente gelten als verschollen. Die Fundstellen im Public Record Office insbesondere der Control Commission for Germany and Austria’s Intelligence Bureau geben allerdings einen genauen Einblick in seine Kollaboration mit dem britischen Secret Intelligence Service bis 1955.8 Nach dem Krieg wurde Krallert offiziell als Mitarbeiter am Keesing Archives for Current Events in Wien geführt und leitete die redaktionelle Arbeit beim Wissenschaftlichen Dienst Südosteuropa von 1952–1955. Er wurde ferner Mitarbeiter der Arbeitsgemeinschaft Ost, die 1964 in Österreichisches Ost- und Südosteuropa-Institut in Wien umbenannt wurde. Zudem war er korrespondierendes Mitglied des Ständigen Ausschusses für die Rechtschreibung geographischer Namen, Schriftleiter der Wiener Quellenhefte zur Ostkunde und Mitinitiator des Atlas der Donauländer.9 Er starb 1969 an den Folgen einer Krankheit, die er sich im Krieg zugezogen hatte.

Michael Fahlbusch

1 Wilfried Krallert, Die Urkundenfälschungen des Klosters Weingarten, in: Archiv für Urkundenforschung 15 (1938), 235–304. Vgl. Bettina Pferschy-Maleczek, Die Diplomata-Edition der Monumenta Germaniae Historica am Institut für Österreichische Geschichtsforschung (1875–1990), in: MIÖG 112 (2004), S. 412–467, und Christine Zippel, Hugo Hassinger (1877–1952), in: Wiener Geschichtsblätter 61 (2006), S. 23–59; Michael Fahlbusch, Wilfried Krallert (1912–1969), ein Geograph und Historiker im Dienst der SS, in: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945, Wien 2008, S. 843– 886. 2 Hans-Ulrich Wehler bestreitet diese Zusammenarbeit. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Nationalitätenpolitik in Jugoslawien. Die deutsche Minderheit 1918–1978, Göttingen 1980, S. 53, 131.

Wilfried Krallert  379

3 PA, R 27531, Bericht Krallerts und V. Paulsens über die Tätigkeit im Rahmen des Einsatzkommandos des AA vom 3.5.1941, S. 9; Wehler, Nationalitätenpolitik, S. 53ff., 131, und ders., „Reichsfestung Belgrad“. Nationalsozialistische „Raumordnung“ in Südosteuropa, in: VfZ 11 (1963), S. 72–84. 4 BArch, Film Nr. 2431, Aufn. Nr. 971616–620, Aktenvermerke vom 22. und 23.4.1944 über die Bücheraktion Budapest; ebd., Film Nr. 2693, Krallert vom 31.7.1944 und Who is who 1956. Zu A. Schmidt vgl. Anthony Komjathy, German Minorities and the Third Reich. Ethnic Germans of East Central Europe between the Wars, New York 1980, S. 120ff.; Dirk Jachomowski, Die Umsiedlung der Bessarabien- Bukowina- und Dobrudschadeutschen. Von der Volksgruppe in Rumänien zur ‚Siedlungsbrücke‘ an der Reichsgrenze, München 1984, S. 34ff. Für die Auszeichnung mit den Orden BArch, ZR759, A.6 und ZR317, Bl. 18, sowie BArch, BDC (Wilfried Krallert), Ahnenerbe. 5 PRO, WO 208/5228, Wilfried Krallert, vol. 1, 1945–55, First Detailed Interrogation Report on SSSturmbannführer Wilfried Krallert (September 1945), Copy No. 32, S. 1ff.; ebd., Appendix „G“ Translation of an Introductory Summary to a Memorandum Concerning the Ideal Coordination of all German Intelligence Agencies, compiled by Lt-Col. von Dewitz and SS-StubaF Krallert in Dec. 44, from 18.12.1944, und Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Baden-Baden 1999, S. 257f. 6 PRO, WO 208/5228, Dr. Wilfried Krallert, vol. 1, 1945–55, Secret Memorandum of James E. Vine, 9th June 1955. 7 NA Washington, Name Files RG 263, declassified CIA file Krallert. 8 PRO, WO 208/5228 Dr. Wilfred Krallert, vol. 1, 1945–55; ebd., 252/1184 Special Document report No.1 (and supplement): The Benedictine Abbey, St. Lambrecht. 9 BArch, Film Nr. 2694, Aufn.Nr. 2874250, Krallert an Regierungspräsident von Niederdonau E. Gruber vom 24.6.1944; Geographisches Taschenbuch 1964/65. Zur Einschätzung W. Krallerts Leistung siehe PA, R100522, Aktenvermerk Goeken vom 28.5.1941. Krallert publizierte ferner den „Atlas zur Geschichte der deutschen Ostsiedlung“. Bearbeitet von Wilfried Krallert, Bielefeld 1958.

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Felix Krueger Felix Krueger wurde am 10. August 1874 als Sohn des Kaufmanns Stanislaus August Krueger geboren. Er besuchte das Humanistische Posener Gymnasium und machte 1893 das Abitur. Von 1893 bis 1897 studierte Krueger Philosophie, Geschichte und Nationalökonomie, Physik und Psychologie in Straßburg, Berlin und München. 1897 promovierte er in München über den „Begriff des absolut Wertvollen als Grundbegriff der Moralphilosophie“ und wechselte im selben Jahr an die Universität Leipzig, wo er sich „in Philosophie, Physiologie und Geschichte“ weiterbildete. Hauptsächlich arbeitete er an Wilhelm Wundts (1832–1920) Institut für experimentelle Psychologie. Hier unternahm er schwerpunktmäßig akustische Forschungen und machte sich innerhalb der psychologischen Fachwelt mit deren Veröffentlichung einen Namen.1 1899 wurde er Assistent am Psychologischen Institut der Universität Kiel, wo er seine experimentalpsychologischen Studien weiterführte und eine rege Lehrtätigkeit entwickelte. 1901 wechselte er an das Physiologische Institut und studierte physiologische Chemie und Anatomie. Parallel dazu arbeitete er bereits als Referent für mehrere psychologische und philosophische Fachzeitschriften. 1902 ging er zurück nach Leipzig, wo er Assistent Wilhelm Wundts am Institut für experimentelle Psychologie wurde. Im März 1903 habilitierte sich Krueger bei Wundt über „Das Bewußtsein der Konsonanz. Eine psychologische Analyse“. 1906 ging er für zwei Jahre an die Universität Buenos Aires, kam 1908 nach Leipzig zurück und übernahm 1910 schließlich eine Professur für Philosophie an der Universität Halle. Von 1912 bis 1913 lehrte Krueger an der Columbia University in New York. 1914 stieß er als Freiwilliger zum Heer und diente bis 1917 im Preußischen Feldartillerieregiment 54. Im April 1917 wurde er im Auftrag des preußischen Kriegsministeriums „zur besonderen Verwendung“ entlassen und mit Plänen zur psychologischen Kriegsführung – einer „geistigen Versteifung der Front“ – beauftragt, die wegen des Friedensschlusses aber nicht mehr zur Ausführung kamen. Auch war er an Kursen für Aufklärungsoffiziere in Berlin beteiligt und hielt im Sommer 1918 Vorträge vor in der Ukraine eingesetzten sächsischen Truppen.2 Dank Kruegers guten Beziehungen zum psychologischen Institut sowie durch Wundts persönliche Fürsprache für seinen „Meisterschüler“ wurde er 1917 ohne Gegenkandidat als Nachfolger für Wundts renommierten Lehrstuhl vorgeschlagen, den er am 1. Oktober 1917 übernahm.3 Damit erhielt Krueger institutionell, finanziell und personell die Möglichkeit, seine philosophisch-psychologischen Untersuchungen zu vertiefen, die schon seit den 1910er Jahren starke Aspekte einer nationalistisch aufgeladenen, ganzheitlichen Gemeinschaftstheorie aufwiesen. Krueger avancierte zum wichtigsten Vertreter der Leipziger Schule der Gestalttheorie, die auch als „Ganzheitspsychologie“ bezeichnet wurde. Diese völkisch argumentierende Theorie formierte sich in den 1920er Jahren zu einer ideologisch motivierten Wis-

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senschaft aus, deren Ziel in der Überwindung der republikanischen Gesellschaftsform lag. Krueger wurde während des Krieges ein überzeugter Verfechter des Deutschen Sendungsbewusstseins und nahm später als Freiwilliger des Leipziger Zeitfreiwilligenregiments an den antikommunistischen Kämpfen der Jahre 1919/20 teil. Zwischen 1919 und 1933 hielt er „zahlreiche nationale und völkische Reden in vaterländ[ischen] Verbänden, bei Gliederungen der NSDAP, in Universitäten und vor studentischen Verbänden“. Seit 1925 sah er sich selbst als einen „Vorkämpfer des Nationalsozialismus“ an; sein Kollege Johannes Rudert bezeichnete ihn 1944 als „eine [n] der wenigen Professoren, die sich schon vor 1933 zum →Antisemitismus bekannten“.4 Bereits 1919 argumentierte Krueger stark antisemitisch und konstatierte „im Rücken unserer Heere deutsche Schwärmer, seltsam untermischt mit Spekulanten“, die „den Willen zum Siege lahmzulegen“ versuchten. Er forderte die „völkisch gewachsenen Wurzeln jeder echten Gesittung“ gegen die Versailler Friedensverträge zu mobilisieren, um „gegen das organisierte Großkapital, das zur Ausbeutung Ostund Mitteleuropas entschlossen ist“ vorzugehen. Der deutschen Universität kam dabei als „geistiger Wegbereiter einer deutschen, national-geistigen Gesinnung“ die Aufgabe, nach der Niederlage den deutschen Wiederaufstieg vorbereiten.5 „Ganzheit“ im Sinne Kruegers war zunächst keine Wissenschaft im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr ein Laien und Intellektuellen gleichermaßen zugrunde liegendes Denkmuster, das aus dem Gefühl einer inneren, nationalen „Zerrissenheit“ resultierte und ab den 1890er Jahren einen immer größer werdenden Einfluss auf Literatur und wissenschaftliche Theoriebildung ausübte. Konzepte dieser Art lagen während dieser Zeit durchaus im Trend breiter Gesellschaftskreise. Der nach der Reichsgründung einsetzende Modernisierungsschub wurde von einem großen Teil der Eliten und des Bürgertums genauso skeptisch betrachtet wie die wachsende Verstädterung, die Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen, die Rufe der unteren Bevölkerungsschichten nach größerer politischer Partizipation sowie die sich insgesamt verstärkenden individualistischen Tendenzen innerhalb der Gesellschaft. Die Reichsgründung Bismarcks wurde als Absage an die wahre „Gestalt“ Deutschlands als naturgegebene, organische Einheit interpretiert. Parolen wie „Zurück zu Goethe“, die durch Friedrich Nietzsche propagierte psychisch-ästhetisch-politische Verbindung „apollinischer“ und „dionysischer“ Triebe, der Kult um das „Gesamtkunstwerk“ Richard Wagners und die schwärmerisch-romantischen Vorstellungen vieler Wandervögel waren von der kleindeutschen Realität sehr weit entfernt und speisten sich vielmehr aus einer völkischen Heroisierung der Freiheitskriege gegen das napoleonische Frankreich. Seit dem Börsencrash von 1873 erhielten zudem der Antiliberalismus und „moderne“ Formen des Antisemitismus großen Zulauf innerhalb des Bürgertums.6 Der verlorene Erste Weltkrieg, die Bestimmungen der Pariser Vorortverträge und die gesellschaftliche Krise der jungen Weimarer Republik verstärkten die latente Modernitätsfeindschaft vieler deutscher Intellektueller, die häufig in der Tradi-

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tion kulturpessimistischer Zivilisationskritik der Antisemiten Paul de Lagarde und →Julius Langbehn argumentierten.7 Die Suche nach synthetischen „Strukturen“ förderte die ganzheitliche Fokussierung innerhalb wissenschaftlicher Diskurse über soziale und historische Phänomene und nahm großen Einfluss auf die Auffassungen von „Wirklichkeit“ innerhalb der Geschichtswissenschaft und der jungen Soziologie. Impulsgeber für ganzheitliches Denken waren vor allem Gedanken aus der Lebensphilosophie. Diese Denkrichtung repräsentiert eine der großen Philosophien des 19. Jahrhunderts und gleichzeitig eine heterogene Gegenbewegung zum Rationalismus der von vielen romantisch geprägten Denkern als „kalt“ oder „emotionslos“ empfundenen Aufklärung. Ihre bedeutendsten Exponenten waren die Philosophen Arthur Schopenhauer (1788–1860) und Friedrich Nietzsche (1844–1900). Entscheidend für diese Denkweise ist die zentrale Bedeutung des „Lebens“ als einer der Welt innewohnenden, alles umgebenden Totalität, die logisch nicht oder nur ansatzweise erklärbar ist, jenseits vernünftiger und logischer Urteile steht und hauptverantwortlich für Charakter und Handlungen aller Menschen ist. Diese metaphysische Kraft wurde zumeist als „Wille“ bezeichnete. Schon der „preußische Staatsphilosoph“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) hatte ganzheitlichen Forschungen Vorschub geleistet, indem er in seiner Philosophie des Geistes eine synthetische Dialektik gefordert und logischen Prinzipien ein eigenes „Wesen“ zugeschrieben hatte.8 Die eigentliche Disziplin der Gestalttheorie entwickelte sich aus der experimentellen Psychologie heraus, deren erstes Institut Wilhelm Wundt 1879 in Leipzig gegründet hatte. Diese Disziplin bot den Vorteil, mithilfe experimenteller Versuchsreihen konkrete Ergebnisse jenseits abstrakter Denkmodelle und philosophischer „Wolkenkuckucksheims“ vorzuweisen. Die psychologischen Darstellungen zufälliger Assoziationen des menschlichen Geistes dienten als wissenschaftliche Beweise für den geistigen Aufbau der Welt und die verborgenen Gesetze des Ganzen; sie fungierten innerhalb „geschichtlicher“ geisteswissenschaftlicher Diskurse als Modell für gesellschaftliche Phänomene.9 Felix Krueger und andere Gestalttheoretiker wandten sich dieser psychologisch-philosophischen „Metawissenschaft“ zu und versuchten Gesetzmäßigkeiten jenseits menschlicher Sinneswahrnehmung zu ergründen. Diffus klingenden Begriffe und Fachtermini wie „Gestalt- und Komplexqualitäten“10 dienten dazu, die Resultate der erkenntnistheoretisch-empirischen Versuchsreihen zu beschreiben und die psychologisch wahrnehmbaren Strukturen „hinter“ der sichtbaren Realität mit dieser in eine semantische Ordnung zu bringen. Zu Beginn der 1920er Jahre differenzierte sich die Gestalttheorie erheblich aus. Unstimmigkeiten bestanden hauptsächlich in Bezug auf Begrifflichkeiten und theoretische Schwerpunktsetzung, die experimentellen Methoden blieben einander relativ ähnlich. Die „Berliner Schule“ um Max Wertheimer (1880–1943), Wolfgang Köhler (1887–1967) und Kurt Koffka (1886–1941) lehnte eine metaphysische Überhöhung der „Gestalt“ ab und bemühte sich um konstruktive Lösungsansätze für die

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gesellschaftlichen Probleme der jungen Weimarer Republik. Kurt Lewin (1890– 1947) etwa unternahm praxisorientierte Schul- und Fabrikuntersuchungen, Kurt Goldstein (1887–1965) und Adhémar Gelb (1887–1936) widmeten sich der psychologischen Behandlung traumatisierter und verstümmelter Weltkriegssoldaten.11 Die „Leipziger Schule“ um Krueger hingegen radikalisierte sich innerhalb des deutschen Gestaltdiskurses immer deutlicher zu einer deutsch-nationalistischen Philosophie der „Gemeinschaft“, die sich unter anderem an der Rassenlehre →Houston Stewart Chamberlains (1855–1927) orientierte, der Gestalten als „ordnende“ Baupläne allen Lebens und „innere Kohärenz“ des Volkes ansah. Gegenüber den Berlinern fallen harsche Differenzierungen in Terminologie und thematischer Fokussierung auf, die vor allem den nationalistischen, rechtskonservativen Ambitionen der Leipziger Protagonisten geschuldet sind. Ein Grund dafür war eine auf das Emotionale ausgerichteten Schwerpunktforschung Kruegers, die als „Ganzheitstheorie“ beziehungsweise „Ganzheitspsychologie“ bezeichnet wurde. Ihre Grundlage war neben Wundts Theorie der „ästhetischen Elementargefühle“ auch der metaphysische „Wille“ der Lebensphilosophen. Vor allem die von Wilhelm Dilthey (1833–1911) entwickelte Theorie der psychologisch-geisteswissenschaftlichen Hermeneutik bot Krueger ein brauchbares theoretische Rüstzeug. Diltheys spezifisch „geisteswissenschaftliche“ Methodik forderte das individuelle „Erlebnis“ als Grundlage aller Erkenntnis gegenüber einer „erklärenden“, relativistischen naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise. Diese „Hermeneutik des Lebens“ hatte als Wissenschaftsparadigma innerhalb ganzheitstheoretischer Kreise sehr rasch an Einfluss gewonnen und wurde durch das „Fronterlebnis“ vieler Wissenschaftler weiter in eine völkische Richtung gedrängt.12 Den „Drang nach umfassenden Synthesen“ führte Krueger in hohem Maße auf dieses „Erlebnis“ zurück: „unter allen Gebilden des Wirklichen, von denen wir wissen, scheint die Erlebnisform im höchsten Maße dazu bestimmt, Lebensganzheit zu ermöglichen, zu erhalten und entwicklungsgemäß, also mit Stetigkeit in bestimmbaren Richtungen zu steigern“.13 Schon 1915 hatte Krueger den Fokus auf eine historisch gewachsene „Gemeinschaft“ gelegt, die einer ähnlichen Kraft unterlag wie dem „Willen“ Schopenhauers und soziale Gebilde als Ergebnis einer psychogenetischen Abfolge definierte. Er forderte eine „Psychologie der Kulturentwicklung […], die vorurteilslos und weit genug, ausdrücklich darauf gerichtet ist, das gemeinschaftliche Geistesleben zusammenwirkender Menschen (und Generationen) in seinem stetigen Werden als gesetzlich notwendig zu begreifen“.14 Krueger benannte die „Theorie des Lebensgeschehens“ als das zentrale Anliegen der Leipziger Schule und warf den Berliner Gestalttheoretikern eine „materialistische“ Lehre und eine „Psychologie ohne Seele“ vor. Edmund Husserl (1859– 1938) und die Phänomenologen charakterisierte er als „verkappte Metaphysiker“ und sah sein zentrales wissenschaftliches Anliegen im „Kampfe gegen den dogmati-

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schen Rationalismus der Cartesianer und den Sensualismus der britischen Erfahrungsphilosophen“.15 In Kruegers Lehre verschmelzen politisch-kulturelle Einstellungen mit wissenschaftlichen Absichten zu einem antiwestlichen, antirationalistischen Deutungsmuster, das die deutsche Kultur unter Rückgriff auf Hegel und Dilthey als Teil eines „objektiven Geistes“ versteht und als moralisch-sittlich überlegen darstellt.16 Krueger verstand entsprechend die „Volksgeschichte“ als einen integralen Bestandteil einer neu zu schaffenden Kulturlehre, wobei die Ganzheitstheorie als zentrale Wissenschaft von der Gemeinschaft fungieren sollte. Wissenschaftliche Anleihen bezog er auch bei Protagonisten der „Deutschen Bewegung“ wie →Ernst Moritz Arndt, Freiherr vom Stein, Justus Möser, Friedrich Ludwig Jahn und Wilhelm Heinrich Riehl.17 Die Ganzheitstheorie Felix Kruegers hat viele junge Wissenschaftler beeinflusst und in ihren Bann gezogen. Kruegers „Ganzheit“ stand Pate beim Aufstieg der „Volkskörperforschung“, die etwa vom Krueger-Schüler →Gunther Ipsen (1899– 1984) betrieben wurde. Auch der spätere Ministerpräsident des südafrikanischen Apartheidstaates Hendrik Verwoerd (1901–1966) wurde stark von Kruegers Lehren beeinflusst. Ein weiterer bekannter Schüler Kruegers war der Philosoph Hans Freyer (1887–1967).18 1933 unterzeichnete Krueger das „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“, das die Machtergreifung der Nationalsozialisten frenetisch begrüßte. „Ganzheit“ im Sinne Felix Kruegers wurde im Dritten Reich fächerübergreifend als intellektuelles Fundament eines Neuen Deutschlands begrüßt und von Historikern wie →Reinhard Wittram (1902–1973) und führenden Vertretern der „Deutschen Physik“ gleichermaßen als zentraler Aspekt eines spezifisch deutschen Wissenschaftsverständnisses interpretiert.19 Gänzlich vom völkischen Aufbruch überzeugt, forderte Krueger auf dem 14. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, dessen Vorsitzender er 1933 wurde, am 23. Mai 1934 die deutschen Psychologen dazu auf, „Rasse“ und „Erbmasse eines Volkes“ als die „Träger eines Ganzheitsgefüges von inneren Bereitschaften“ zu verstehen und am Aufbau des Dritten Reiches mitzuwirken, da Deutschland mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in eine Epoche „weit hinaus über alle Revolutionen und auch alle Evolutionen“ eingetreten sei.20 Zwischen 1935 und 1936 war er Rektor der Universität Leipzig und wurde als Philosoph der „lebendigen Ganzheit“ und als „Vorkämpfer des nationalen Widerstandes“ gefeiert.21 Kruegers Karriere endete jäh 1936, als er in einer Vorlesung den Philosophen Baruch de Spinoza als „edlen Juden“ bezeichnete und vom Amt des Rektors zurücktreten musste. Möglicherweise als Folge dieser Affäre geriet er 1937 in Konflikt mit der Reichsstelle für Sippenforschung, die ihm einen jüdischen Großvater zur Last legte und ihn als „Mischling“ einstufte. Krueger legte dagegen erfolgreich Widerspruch ein, indem er seine „jahrzehntelange“ „tatbereite völkische Gesinnung“ hervorhob und seiner Großmutter eine außereheliche Affäre mit einem Posener Kauf-

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mann attestierte.22 1938 wurde er – offiziell aus gesundheitlichen Gründen – emeritiert und lebte bis Anfang 1945 in Potsdam. Danach siedelte er nach Basel über, wo er 1948 starb.

David Hamann

1 Vgl. UAL, PA 664, Bl. 1–3, Lebenslauf Felix Krueger zum Zwecke seiner Habilitation (März 1903); vgl. Felix Krueger, Zur Theorie der Combinationstöne, in: Philosophische Studien 17 (1901), S. 311– 430. 2 Vgl. UAL, PA 664, Bl. 151, Personalkarteikarte Felix Krueger (1934). 3 Vgl. ebd., Bl. 27, Sitzung der Commission für die Nachfolge Wundt vom 6. Februar 1917; ebd., Bl. 31–28, Dekan der philosophischen Fakultät an das Kgl. Sächsische Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts vom 7.3.1917; Matthias Middell, Weltgeschichtsschreibung im Zeitalter der Verfachlichung und Professionalisierung. Das Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte 1890–1990, Bd. 2, Leipzig 2005, S. 543. 4 Felix Krueger, Selbstbestimmung in deutscher Not. Rede an die aus dem Felde Zurückgekehrten der Universität Leipzig, dem Historiker Dr. Bruno Golz meinem Feldzugskameraden nach zwei Jahrzehnten geistiger Gemeinschaft gewidmet, Stuttgart 1919, S. 8; vgl. UAL, PA 664, Bl. 151, Personalkarteikarte Felix Krueger (1934); vgl. ebd., Bl. 110d, Johannes Rudert an Professor Lenk vom 21.6.1944. 5 Krueger, Selbstbestimmung in deutscher Not, S. 6, 15, 10, 15. 6 Vgl. Anne Harrington, Die Suche nach Ganzheit. Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren: Vom Kaiserreich bis zur New-Age Bewegung, Hamburg 2002, S. 63–69; Mitchell G. Ash, Gestalt psychology in German culture, 1890–1967. Holism and the quest for objectivity, Cambridge 1995; Olaf Breidbach, Gedanken zu Goethes Metamorphosenlehre. Vortrag in der Arbeitsgruppe Gestaltung – Umgestaltung: Goethes Metamorphosenlehre, in: Werner Frick (Hg. u.a.), Goethe Jahrbuch 2008, Göttingen 2008, S. 95–11; Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, München 1999; Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus, Göttingen 2002, S. 71f.; Werner Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, München 2002, S. 38–51; Heinrich August Winkler, Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000, S. 226–236, 282f. 7 Vgl. Fritz K. Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine, Stuttgart 1983. 8 Vgl. Karl Albert, Lebensphilosophie. Von den Anfängen bei Nietzsche bis zu ihrer Kritik bei Lukács, München 1995, S. 9ff.; Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Phänomenologie des Geistes, Köln 2002, S. 29; Otto G. Oexle, Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932, Göttingen 2007, S. 35f. 9 Vgl. Ash, Gestalt psychology, S. 8f. 10 Vgl. Christian von Ehrenfels, Ueber Gestaltqualitäten, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie 14 (1890), S. 249–292. 11 Vgl. Harrington, Die Suche nach Ganzheit, S. 198f., 219f. 12 Vgl. Ute Geuter, Das Ganze und die Gemeinschaft – Wissenschaftliches und politisches Denken in der Ganzheitspsychologie Felix Kruegers, in: C.-F. Graumann (Hg.), Psychologie im Nationalsozialismus, Berlin u.a. 1985, S. 64–66; Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus, München 2004, S. 100f.; Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a.M. 1981, S. 93f., 162f.; Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Hamburg 2008, S. 178–181; Albert, Lebensphilosophie, S. 70; vgl. Hügli (Hg. u.a.), Philosophie im 20. Jahrhundert, Bd. 1, Phänomenologie, Hermeneutik, Existenzphilosophie und Kritische Theorie, Hamburg 1992, S. 53–67.

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13 Felix Krueger, über psychische Ganzheit, in: ders. (Hg.), Neue Psychologische Studien, Bd. 1 (1926), S. 5–121, 12, 13; vgl. Harrington, Die Suche nach Ganzheit, S. 235. 14 Felix Krueger, Über Entwicklungspsychologie. Ihre sachliche und geschichtliche Notwendigkeit, Leipzig 1915, S. 128; vgl. Geuter, Das Ganze und die Gemeinschaft, S. 64–70. 15 Felix Krueger, Der Strukturbegriff in der Psychologie, abgedruckt in: E. Heuss (Hg.), Zur Philosophie und Psychologie der Ganzheit, Berlin 1953, S. 129, 125. 16 Ash, Gestalt psychology, S. 311f. 17 Krueger, Der Strukturbegriff in der Psychologie, S. 144f. 18 Vgl. David Hamann, Gunther Ipsen in Leipzig. Die wissenschaftliche Biographie eines „Deutschen Soziologen“ 1919–1933, Frankfurt a.M. 2013; Middell, Weltgeschichtsschreibung, Bd. 2, S. 426; Christoph Marx, Hendrik Verwoerd and the Leipzig School of Psychology in 1926, in: Historia 58 (2013), S. 91–118. 19 Vgl. http://www.catalogus-professorum-halensis.de/kruegerfelix.html (07.1.2016); Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat, überreicht vom Nationalsozialistischen Lehrerbund Deutschland/Sachsen, Dresden 1933, S. 136; Geuter, Das Ganze und die Gemeinschaft, S. 71f., Oexle, Krise des Historismus, S. 105, 107f. 20 Felix Krueger, Psychologie des Gemeinschaftslebens, in: Otto Klemm (Hg.), Bericht über den XIV. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Jena 1935, S. 15, 13. 21 UAL, PA 664, Bl. 68, Leipziger Neueste Nachrichten vom 31.3.1935. 22 Ebd., PA 664a, Bl. 17–19, zit. Bl. 17, Felix Krueger an das Dresdner Ministerium für Volksbildung vom 4.1.1938.

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Walter Kuhn Walter Kuhn wurde am 27. September 1903 in Bielitz geboren. Hier war sein Vater, Josef Kuhn, als Professor für Maschinenbau und ab 1917 als Direktor in der Staatsgewerbeschule tätig. Walter Kuhn beschrieb seinen Vater in seiner Lebenserinnerung als einen Anhänger der „großdeutschen Richtung Schönerers“ und ordnete auch die Konversion seiner Mutter Therese sowie seine eigene evangelische Taufe in diesen Kontext ein.1 Der Eintritt Walter Kuhns in den Bielitzer Wandervogel im Februar 1919 war für seinen Werdegang richtungsweisend. Hier traf er mit Alfred Karasek, →Viktor Kauder, Joseph Lanz und anderen Bielitzern zusammen, die in den folgenden Jahren mit zahlreichen Arbeiten über die deutschsprachige Bevölkerung Polens an die Öffentlichkeit treten sollten. Vor allem Kauder sollte als Herausgeber von Reihen und Zeitschriften eine Schlüsselfunktion ausüben. Ihre 1921 gegründete Heimatkundliche Arbeitsgemeinschaft hatte sich unter dem Einfluss von Emil Lehmanns Böhmerlandbewegung das Motto Heimatbildung durch Heimatforschung zu eigen gemacht.2 Die Fahrten der Wandervögel führten gezielt zu deutschsprachigen Bevölkerungsteilen des näheren Umlands und schließlich weiterer Regionen Polens. Für die Feldforschungen Kuhns wurde eine Fahrt durch Wolhynien 1926 besonders wichtig.3 Die Aufsätze, die Kuhn und Karasek mit einem Vorwort Kurt Lücks im Anschluß an die Fahrt in den „Deutschen Blättern in Polen“ über Wolhynien veröffentlichten, verfolgten vor allem das Ziel, auf die deutschsprachige Bevölkerung Ostpolens aufmerksam zu machen. Die Aufsätze, die auf sozialdarwinistisch geprägten Voraussetzungen basieren, standen im Zeichen von Kuhns frühen Sprachinseltheorien, die sich an Begriffen Wilhelm Heinrich Riehls orientierten und die Kuhn unter dem Titel „Versuch einer Naturgeschichte der deutschen Sprachinsel“ zuvor ebenfalls in den „Deutschen Blättern in Polen“ veröffentlicht hatte.4 Kuhns Lehr- und Wanderjahre wurden von einem ungeliebten Studium der Elektrotechnik begleitet, das er nach seinem Abitur 1921 seinem Vater zuliebe in Graz begonnen hatte und 1927 in Wien mit der zweiten Staatsprüfung abschloss. Der Aufenthalt in den Universitätsstädten ermöglichte ihm unter anderem den Besuch von volkskundlichen Vorlesungen bei Rudolf Meringer sowie Michael und Arthur Haberlandt. Mit einem Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes konnte Kuhn schließlich ein Zweitstudium in Geschichte und →Volkskunde in Wien aufnehmen, im Zuge dessen er das Sommersemester 1930 in Tübingen verbrachte. Schon vor Studienbeginn hatte er als Sprachinselforscher einen Namen, und seine 1930 erschienene Arbeit über die galizischen Sprachinseln sollte im Jahr nach ihrer Veröffentlichung von Arthur Haberlandt als Dissertation in Volkskunde angenommen werden.5 Nach seinem Studienabschluss fand Kuhn 1932 eine Anstellung als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter in dem von Viktor Kauder geleiteten Deutschen Kulturbund in Kattowitz. Hier schrieb Kuhn sein Grundlagenwerk „Deutsche Sprachinselforschung“.6 Es vertritt zwar einerseits Ansätze moderner Feldforschung, gründet

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aber andererseits auf dem ideologisch verzerrten, organischen Geschichtsbild, den ethnozentristischen Perspektiven und sozialdarwinistischen Voraussetzungen seiner „Naturgeschichte“ von 1926. Das Buch wurde später bei der Berufung Kuhns an die Universität Breslau als habilitationsadäquate Leistung anerkannt. Von besonderer Bedeutung für die Karriere Kuhns waren ab 1933 die Einladungen der von →Albert Brackmann und →Hermann Aubin geführten →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG). Unter anderem dem Einfluss Aubins hatte Kuhn seine Berufung als Professor für „Volkskunde und ostdeutsches Volkstum“ an das Deutsche Institut der Universität Breslau 1936 zu verdanken. Nach einer turbulenten Auseinandersetzung um die Besetzung wurde Kuhn am 1. Juli 1937 das Extraordinariat für deutsche Volkskunde und ostdeutsches Volkstum verliehen, obwohl Kuhn sich eigentlich nicht als Volkskundler verstand, sondern sein Forschungsfeld in den deutschsprachigen Kolonien Ostmitteleuropas sah. Gleichzeitig wurde er Direktor des Deutschen Instituts in Breslau und übernahm die Außenstellenleitung des „Atlas der Deutschen Volkskunde“.7 Im März 1939 wurde er zum Vorsitzenden der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde gewählt8 und war im selben Jahr als Vertreter der NOFG im Hauptschulungsamt der NSDAP tätig. Ebenfalls 1939 wurde Kuhn für seine wissenschaftlichen Arbeiten auf Vorschlag von →Hans Koch mit dem von →Alfred C. Toepfer ausgesetzten Nikolaus Kopernikus-Preis der Johann Wolfgang Goethe-Stiftung geehrt.9 Im folgenden Jahr wurde er Mitglied des Kuratoriums. Seine umfassenden Kenntnisse über die deutschsprachige Bevölkerung Ostpolens prädestinierten Kuhn für seine Tätigkeit als Berater der SS während der Umsiedlungen von sogenannten Volksdeutschen 1940.10 Bereits Anfang September 1939 hatte er eine Denkschrift über „Deutsche Dörfer“ in Mittelpolen verfasst, wobei er sich für eine Verschiebung der künftigen deutschen Grenze über die Linie von 1914 hinaus einsetzte.11 Während der Umsiedlungen plädierte er entsprechend seines theoretisch-ideologischen Hintergrunds für die Ansiedlung der Betroffenen in Regionen mit Klima- und Bodenverhältnissen, die denjenigen der jeweiligen Aussiedlungsgebiete in Ostpolen entsprachen.12 Bevor er im Februar 1943 als Kanonier zum Heer eingezogen wurde und 1944 an der Westfront in Gefangenschaft geriet, hatte Kuhn 1942 noch die Gelegenheit, mit seinen verbliebenen Studenten in das östliche Wolhynien zu reisen, das ihm während seiner Forschungen in den zwanziger und dreißiger Jahren nicht zugänglich war. Bereits vier Monate nach seiner Rückkehr aus der englischen Kriegsgefangenschaft im Februar 1947 erhielt Kuhn einen Lehrauftrag für Deutsche Volkskunde an der Universität Hamburg. Es war erneut Hermann Aubin, der Kuhn in diese Stelle vermittelte. Die Professur für Siedlungsgeschichte und Volkstumsforschung an der Universität Hamburg, die er nach dem Verlust seines Forschungsgebiets der Sprachinseln angestrebt hatte, erhielt er 1955. Im Jahr zuvor hatte Kuhn eine Siedlungsgeschichte Oberschlesiens veröffentlicht.13

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Neben seiner Lehrtätigkeit engagierte er sich nach dem Krieg im →Göttinger Arbeitskreis und wurde Mitglied im →Johann Gottfried Herder-Forschungsrat sowie mehreren ostdeutschen historischen Kommissionen, darunter die Kommission für Volkskunde der Heimatvertriebenen und die Historischen Kommission für Posen und das Deutschtum in Polen, deren Vorsitzender er von 1952 bis 1968 war. In seinen Lebenserinnerungen fasste Kuhn schließlich seine Ehrungen der Nachkriegszeit zusammen. So erhielt er 1965 den Oberschlesischen Kulturpreis des Landes Nordrhein-Westfalen und 1971 den Dehio-Preis der Künstlergilde Esslingen.14 Walter Kuhn starb am 25. August 1983. Nach dem Krieg wurde recht bald auch Kritik an der Arbeit Walter Kuhns laut. Vor allem die Volkskundlerin Ingeborg Weber-Kellermann hielt ihm vor, dass interethnische Aspekte in seinen ethnozentristischen Arbeiten zu kurz gekommen seien und er die Polarisierungen zwischen der deutschsprachigen und der polnischsprachigen Bevölkerung forciert habe.15 Seine Tätigkeiten für die SS während der Umsiedlungen von 1939/40 sollten freilich erst später angesprochen werden. Dabei ist hervorgehoben worden, dass Kuhn nicht nur durch seine Beratungstätigkeit gestalterisch tätig wurde, sondern mit seinen Arbeiten nach dem Motto „Heimatbildung durch Heimatforschung“ früh ein Identitätsmanagement betrieb, das jene Stereotypen aufbaute, die später während der Umsiedlungen die Propaganda bestimmten.16

Wilhelm Fielitz

1 Vgl. Walter Kuhn, Eine Jugend für die Sprachinselforschung. Erinnerungen, in: Jahrbuch der schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 23 (1982), S. 225–278. 2 Kuhn, Eine Jugend für die Sprachinselforschung, S. 230. 3 Walter Kuhn, Meine Forschungsreisen in Wolhynien. Hg. vom Historischen Verein Wolhynien e. V., ohne Ort 1977, S. 14. 4 Walter Kuhn, Versuch einer Naturgeschichte der deutschen Sprachinsel, in: Deutsche Blätter in Polen 3 (1926), S. 65–140. 5 Walter Kuhn, Die jungen deutschen Sprachinseln in Galizien. Ein Beitrag zur Methode der Sprachinselforschung, Münster 1930. 6 Walter Kuhn, Deutsche Sprachinselforschung. Geschichte, Aufgaben, Verfahren, Plauen i.V. 1934. 7 Zur Berufung Kuhns Brigitte Bönisch-Brednich, Volkskundliche Forschung in Schlesien. Eine Wissenschaftsgeschichte, Marburg 1994, S. 231–236, 242–249. 8 Ebd., S. 169. 9 Jan Zimmermann, Die Kulturpreise der Stiftung F.V.S. 1935–1945. Darstellung und Dokumentation. Hg. von der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. Hamburg 2000, S. 503–513. 10 Stephan Döring, Die Umsiedlung der Wolhyniendeutschen in den Jahren 1939–1940, Frankfurt a. M. 2001, S. 247–259. 11 Hans-Jürgen Bömelburg, Das Osteuropa-Institut in Breslau 1930–1940. Wissenschaft Propaganda und nationale Feindbilder in der Arbeit eines interdisziplinären Zentrums der Osteuropaforschung in Deutschland, in: Michael Garleff (Hg.), Zwischen Konfrontation und Kompromiß, München 1995, S. 47–72; 64–65. Kuhn war auch an einer ähnlichen Denkschrift Theodor Schieders beteiligt. Vgl. Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 20022, S. 329, 338; vgl. Angelika Ebbinghaus, u.a., Vorläufer

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des „Generalplan Ost“. Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, in: 1999 1 (1992), S. 62–94, 68ff. 12 Wilhelm Fielitz, Das Stereotyp des Wolhyniendeutschen Umsiedlers. Popularisierungen zwischen Sprachinselforschuntg und nationalsozialistischer Propaganda, Marburg 2000, S. 97–98. 13 Walter Kuhn, Siedlungsgeschichte Oberschlesiens, Würzburg 1954. Zu den Schriften Walter Kuhns vgl. Weczerka, Verzeichnis der Veröffentlichungen von Walter Kuhn 1923–1978, in: Zeitschrift für Ostforschung 27 (1978), S. 532–554. 14 Walter Kuhn, Eine Jugend für die Sprachinselforschung, S. 277. 15 Ingeborg Weber-Kellermann, Zur Frage der interethnischen Beziehungen in der „Sprachinselvolkskunde“, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 13 (1959), S. 19–47, S. 19–22. 16 Vgl. Wilhelm Fielitz, Das Stereotyp des Wolhyniendeutschen Umsiedlers.

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Otto von Kursell In der Person des am 28. November 1884 in St. Petersburg geborenen Baltendeutschen Otto (Konstantin Gottlieb) von Kursell1, der früh der NSDAP beitrat und 1923 am Hitler-Putsch teilnahm, wird die Verbindung von →Antisemitismus und „Antibolschewismus“ in der völkischen Bewegung exemplarisch deutlich. Kursell, Sohn eines deutschen Beamten im russischen Zarenreich, gehörte mit Alfred Rosenberg und →Max Erwin von Scheubner-Richter zu den frühen Unterstützern Hitlers aus dem Milieu der russischen und baltischen Emigration in München. Er prägte und verbreitete das antisemitisch-antisowjetische und antirussische Weltbild der völkischen Bewegung nicht nur auf der Grundlage von authentisch wirkenden persönlichen Erfahrungen und pseudowissenschaftlichen Überlegungen, sondern gab ihm mit seinen rassistischen, hetzerischen Karikaturen auch eine zeichensprachlich breitenwirksame ästhetische Form. Kursell fühlte sich früh der deutsch-völkischen Bewegung zugehörig. Während seines Studiums des Hochbauwesens an der Technischen Hochschule in Riga 1903– 1905 wurde er Mitglied der deutschbaltischen Studentenverbindung „Rubonia“, in der auch Rosenberg, Scheubner-Richter und Arno Schickedanz organisiert waren.2 Nach der Fortsetzung des Architekturstudiums in Dresden (1903–1907) wurde er 1907–11 Meisterschüler an der Akademie der Bildenden Künste München bei dem erfolgreichen Künstler Franz von Stuck.3 Bereits während seines Studiums an der Kunstakademie trat er auf Veranstaltungen völkisch-nationalistischer Gruppen als Redner auf. Kursell arbeitete in München als Porträtmaler und Graphiker, bevor er im Ersten Weltkrieg zunächst als Leutnant der russischen Armee kämpfte und schließlich in Riga für die Pressestelle des deutschen Armee-Oberkommandos, unter Scheubner-Richter, tätig war.4 Nach Kriegsende kehrte er nach München zurück, wo er weiter als Illustrator und Porträtmaler arbeitete und für zahlreiche völkische Zeitschriften, wie das vom Schriftsteller Dietrich Eckart herausgegebene Hetzblatt Auf gut deutsch, für den Völkischen Beobachter, Phosphor und den Völkischen Kurier antisemitische Karikaturen lieferte. In München war auf die kurze Phase der provisorischen Regierung unter Ministerpräsident Kurt Eisner, dessen Ermordung und der anschließenden Radikalisierung der sozialistischen Räte mit dem Einmarsch der vom Reich geschickten Freikorpstruppen ein „Weißer Terror“ gefolgt, in dem russische Kriegsgefangene, demokratische und jüdische Politiker unter der Zustimmung breiter Bevölkerungskreise öffentlich ermordet und terrorisiert wurden.5 Die antisemitische Agitation gegen den „Bolschewismus“ war der Kern des gewalttätigen rechtsextremen Milieus, das sich von der Militärregierung unterstützt und durch politische Vorhaben wie die Internierung und Ausweisung von „Ostjuden“ bestätigt sah.6 Kursell hatte mit seinem im Februar 1919 als „erste Folge“ erschienenen Band „Revolutionäre Zeitgenossen“ die Gesichter kommunistischer, sozialistischer und demokratischer Politiker in ganzseitigen Tuschezeichnungen verächtlich dargestellt und so die öffentliche Diffamierung ästhetisch unterfüttert.7 Das Titel-

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blatt des Bandes zeigt ein herabwürdigendes Porträt des Reichswehrministers Gustav Noske als „Kommandant von Berlin“ – und richtete sich so gleichermaßen an antidemokratische Angehörige der Reichswehr und der Freikorps, wie auch an linke Arbeiter, die Noske aufgrund der von ihm veranlassten Niederschlagung von Arbeiterdemonstrationen in Berlin bekämpften. Weitere diffamierende Karikaturen russischer Kommunisten jüdischer Herkunft veröffentlichte Kursell zusammen mit Versen Eckarts in der völkisch-antisemitischen Broschüre Die Totengräber Russlands (München 1921). Während sich dem Betrachter hier die Herabwürdigung scheinbar jüdischer physiognomischer Merkmale einprägen sollte, schuf Kursell gleichzeitig auch das vermeintliche Gegenbild, indem er ikonographische Hitler-Porträts des Fotografen Heinrich Hoffmann in Öl oder Tusche nachzeichnete, die als Titelbilder von Broschüren, Postkarten und Zigarettenbildern weite Verbreitung fanden und im Sinne der parawissenschaftlichen Physiognomik idealisiert wurden.8 Kursell, der 1921 die deutsche Staatsangehörigkeit erhielt, trat im folgenden Jahr in die NSDAP ein, schloss sich der Münchner Einwohnerwehr und der SA an und nahm 1923 am Hitler Putsch teil. Unmittelbar nach dem Hitler-Putsch, bei dem der später als Märtyrer verehrte Scheubner-Richter ums Leben kam, gründeten die Exilbalten um Kursell und Rosenberg eine Unterorganisation der Studentenverbindung Rubonia in München, auf das „alle Hoffnungen auf nationale Erneuerung gesetzt“ wurden.9 Die Netzwerke der baltischen Emigration in München waren für die frühe NSDAP in ideologischer, vor allem für ihre antirussische und antibolschewistische Stoßrichtung, sowie auch in finanzieller Hinsicht von großer Bedeutung. Kursell gehörte in führender Position dem Männerbund der Geheimorganisation X (gegründet 1920) und der daraus hervorgehenden Baltischen Brüderschaft (gegründet 1929) an. Die völkisch-antidemokratisch eingestellten Mitglieder dieser Bünde setzten sich aus den Landwehren und Freikorps zusammen.10 In der 1921 gegründeten Nordischen Gesellschaft, die später dem Außenpolitischen Amt der NSDAP unter Rosenberg zugeordnet wurde, war er Teil des Leitungsgremiums, des „Großen Rates“. Die Nordische Gesellschaft propagierte die Überlegenheit einer „Nordischen Rasse“ und versuchte – mit begrenztem Erfolg – kulturpolitische Allianzen insbesondere mit den skandinavischen Ländern vorzubereiten.11 1931–1933 hatte Kursell verschiedene leitende Positionen im →Kampfbund für Deutsche Kultur inne: Er war Geschäftsführer der Landesgruppe Berlin-Brandenburg und Grenzmark, stellvertretender Landesleiter in Preußen und dort als „Fachleiter für bildende Kunst“ zuständig. Daneben war er als völkischer Publizist und Karikaturist tätig, wie auch als Schriftleiter des vom Kampfbund herausgegebenen Periodikums Deutsche Kultur-Wacht und als Redakteur im Völkischen Beobachter.12 Den Titel der Septemberausgabe 1933 der Deutschen Kultur-Wacht zierte das Hitlerporträt Kursells, der im Leitartikel „Die Wende“ euphorisch die Machtübernahme durch die NSDAP begrüßte; in derselben Ausgabe wurden „Juden in staatlichen Bildergalerien“ verunglimpft.13 Bei Kursells erneutem Eintritt in die NSDAP 1932 wurde ihm mit persönlicher Fürsprache von Rudolf Heß die Mitgliedsnummer 93 verliehen

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und als Eintrittsdatum der 1. Mai 1925 eingetragen, um seine frühe Zugehörigkeit zur Partei als „alter Kämpfer“ hervorzuheben.14 1934 wurde er in die SS aufgenommen, wo er den Rang eines SS-Obersturmbannführers einnahm; nach internen Querelen trat er auf eigenen Antrag 1937 aus der SS aus, ein Parteigericht rehabilitierte ihn später jedoch. 1940 wurde er mit dem Rang eines SA-Oberführers in die SA aufgenommen.15 1933 wurde er Professor für Malerei an den Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst (später Staatliche Hochschule für bildende Künste) in Berlin-Charlottenburg, 1943 schließlich deren Direktor.16 Daneben stieg er im nationalsozialistischen Partei- und Staatsapparat auf und übernahm zahlreiche Ämter, die im Schnittfeld von Kunst- und Volkstumspolitik lagen: 1933–36 Präsidialrat der Reichskammer der bildenden Künste, 1934–37 Ministerialrat im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung; hier leitete er als persönlicher Referent des Reichsministers Bernhard Rust die Abteilungen für Kultur sowie Grenzpolitik und Ausland.17 In seiner Position bekämpfte er die so genannte „entartete Kunst“ und setzte sich für die Entlassung zahlreicher Künstler ein.18 Im Stab des Stellvertreters des Führers (Rudolf Heß) als Beauftragter für „Volkstumsfragen“ 1934–37 eingesetzt19, wurde er 1935–36 Geschäftsführer des Volksdeutschen Rates und Leiter der Volksdeutschen Mittelstelle (VoMi)20, wo er sich auch mit der Frage der „Eindeutschung“ von Polen befasste. Als →Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums (RKF) strengte Himmler Untersuchungen gegen Kursell an und warf ihm seine Zugehörigkeit zur Baltischen Brüderschaft als staatsfeindlichen Akt vor. SS-Gruppenführer Werner Lorenz löste Kursell schließlich ab, die VoMi wurde 1939 in das RKF eingegliedert.21 Seine Pläne, gemeinsam mit Gerhard von Mende eine „außenpolitische Hochschule“ aufzubauen, scheiterten.22 Kursell arbeitete weiter erfolgreich als Maler: er porträtierte „führende Männer des Staates und der Bewegung“23. Seine Ölbilder und Tuschezeichnungen mit dem Porträt Adolf Hitlers verbreitete der Eher-Verlag in großer Auflage; 1940 erschien die Tuschezeichnung auf der Titelseite der Zeitschrift Die Kunst im Deutschen Reich und war zwei Mal auf der Frühjahrs-Ausstellung der Preußischen Akademie der Künste vertreten.24 Die Reproduktion eines in Öl gemalten Porträts von Martin Luther wurde in zahlreichen evangelischen Kirchen aufgehängt25; auf der „Gottbegnadeten-Liste“ wurde Kursell als einer der wichtigsten Maler des NS-Staates geführt.26 1944 wurde der Betrieb der Kunsthochschule infolge der Bombenschäden nach Primenkau in Niederschlesien verlagert, wo die Künstler Aufträge für das Reichspropagandaministerium, wie Flugzettel oder Plakate übernahmen, bis das Institut im Januar 1945 evakuiert wurde. Der sowjetische Geheimdienst nahm Kursell im September 1945 wegen seiner Funktion als SA-Standartenführer fest. Nach mehrmonatiger Haft in den sowjetischen Gefängnissen in Blankenburg/Harz und Halle wurde Kursell am 1. Januar 1946 in das sowjetische Speziallager Mühlberg überstellt. Bei der Auflösung des Speziallagers Mühlberg wurde er im September 1948 gemeinsam mit 3.600 weiteren Häftlingen in das Speziallager Buchenwald gebracht, wo er am

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28. Februar 1950 entlassen wurde.27 In der Haft porträtierte er Mitgefangene, daneben fertigte er auch Auftragsarbeiten für die sowjetische Lagerleitung und deren Familien an.28 Seine nach der Entlassung gezeichneten Erinnerungen an die Haftzeit 1945–50 wurden weit verbreitet und illustrierten zahlreiche Berichte zur Geschichte sowjetischer Speziallager29, in denen ein Drittel der Insassen in Folge von Unterernährung, Krankheiten und Vernachlässigung umkam und die Angehörigen nicht benachrichtigt wurden.30 Nach seiner Entlassung bemühte sich Kursell zunächst erfolglos, die alten Beamtenrechte und damit auch seine Direktorenpension wieder zu bekommen. Das Berliner Verwaltungsgericht wies die Klage ab. Nach erfolgreicher Berufung wurden ihm die Beamtenrechte 1965 wieder zuerkannt. Kursell starb am 30. August 1967 in München.

Julia Landau

1 Dank für Recherche an Bodo Ritscher, Dr. Wolfgang Röll, Vera Neumann. Vergleiche im Folgenden Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2005. Die Biographie des 1893 in Reval geborenen Alfred Rosenberg weist weitere Parallelen zu Kursell auf: Nach dem Besuch der gleichen Realschule in Reval studierte Rosenberg ebenfalls an der Technischen Hochschule in Riga, vgl. Piper, Alfred Rosenberg, S. 24–25. 2 Ebd. 3 Hermann Weiß (Hg.), Biographisches Lexikon zum Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1998, S. 287f. Die antikisierenden, großformatigen Jugendstilgemälde von Stucks waren ihm vermutlich durch den großen Erfolg auf Ausstellungen in Petersburg und Moskau (1900) bekannt geworden. http:// www.villastuck.de/museum/stuck.htm [14.1.2016]. 4 Piper, Alfred Rosenberg, S. 62. 5 Ebd., S. 33, 37; Reinhard Bauer/Ernst Piper, München. Die Geschichte einer Stadt, München 1993, S. 161f. 6 Peter Longerich, Hitler. Biographie, München 2015, S. 65f. 7 Revolutionäre Zeitgenossen. Vierzig Karikaturen von Otto von Kursell, Erste Folge, Blatt 1–20, München 1919. Joachim Lilla, Statisten in Uniform, Die Mitglieder des Reichstags 1933–1945, Düsseldorf 2004, Eintrag 616 Kursell. 8 Claudia Schmölders, Hitlers Gesicht: eine physiognomische Biographie, S. 9–10, 58. Titelblatt der Zeitschrift Deutsche Kultur-Wacht. Blätter des Kampfbundes für deutsche Kultur, Hg. Hans Hinkel, 2.9. 1933 zeigt ein Hitler-Porträt in Seitenansicht mit der Signatur Kursells. 9 Piper, Alfred Rosenberg, S. 59. Zitat Otto von Kursell, Rubonia in München, 1925, zit. nach ebd., S. 58. 10 Ebd. 11 Piper, Alfred Rosenberg, S. 275–284. 12 Lilla, Statisten in Uniform, S. 616. 13 Deutsche Kultur-Wacht. Blätter des Kampfbundes für Deutsche Kultur (1933) 6. 14 Ernst Klee, Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a.M. 2007, S. 346; Weiß, Biographisches Lexikon, S. 287; Lilla, 616; Piper, S. 60. 15 Bodo Ritscher u.a., Das sowjetische Speziallager Nr. 2 1945–1950. Katalog zur ständigen historischen Ausstellung, Göttingen 2008, S. 248. 16 BArch, Personalakte Otto von Kursell, ZA 5/167, S. 133, Ernennungsvorschlag des Preuß. Ministerpräsidenten.

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17 Klee, Kulturlexikon, S. 346, Lilla Eintrag 616. 18 Piper, Alfred Rosenberg, S. 61. 19 Lilla, Statisten in Uniform, S. 616. 20 Vgl. Hans-Adolf Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik 1933 bis 1938, Frankfurt a.M. 1968, S. 225ff. 21 Piper, Alfred Rosenberg, S. 440. 22 Kursell, Erinnerungen, S. 46. 23 So Hans Hinkel in einem Empfehlungsschreiben an Goebbels, Tobias Ronge, Das Bild des Herrschers in Malerei und Grafik des Nationalsozialismus: Eine Untersuchung zur Ikonografie von Führers- und Funktionärsbildern im Dritten Reich, Berlin 2010, S. 288. 1934 folgt ein Porträt des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg als Postkarte. 24 Klee, Kulturlexikon, S. 346; Schmölders, Hitlers Gesicht, S. 208; Preußische Akademie der Künste, Frühjahrs-Ausstellung, April-Juni 1940, Berlin 1940, S. 17. 25 Ebd. 26 Klee, Kulturlexikon, S. 346. 27 Datenbank Sowjetisches Speziallager, Archiv Gedenkstätte Buchenwald, Slg. Ritscher. 28 Kursell, Erinnerungen, S. 48f. In den Erinnerungen erwähnt Kursell Gespräche mit dem sowjetischen Personal wie auch seine durch die künstlerische Tätigkeit privilegierte Ernährungssituation. 29 Etwa das im rechtsextremen Askania-Verlag erschienene Buch: Herbert Taege (Hg.), Die Gefesselten. Deutsche Frauen in sowjetischen Konzentrationslagern in Deutschland, München 1987, S. 112–121. In der Dokumentation finden sich Bemerkungen Kursells, die die nationalsozialistischen Verbrechen relativieren: „Denn wenn ich feststellen mußte, daß das KZ Mühlberg [i.e. Speziallager Mühlberg 1945–48] unmenschlicher […] war als in der deutschen Zeit; oder wenn ich erlebt habe, daß in Buchenwald aus rein propagandistischen Gründen von den Russen Veränderungen vorgenommen wurden, um sie nachher den Deutschen in die Schuhe zu schieben, so widerspricht das der öffentlichen Meinungsbildung heute […].“, ebd., S. 153. 30 Sergej Mironenko (Hg. u.a.), Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, 2 Bde., Berlin 1998.

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Bruno Kuske Bruno Kuske wurde am 29. Juni 1876 in Dresden als Sohn eines Schneidermeisters geboren. Ab 1900 studierte Kuske nach der Lehrerausbildung an der Leipziger Handelshochschule und wechselte dann an die Universität Leipzig, an der er 1903 bei dem Nationalökonomen Karl Bücher über ein wirtschaftshistorisches Thema promovierte. Von 1908 bis 1917 lehrte Kuske an der Handelshochschule Köln. Den Ersten Weltkrieg verbrachte er als Intendanturrat in Koblenz, so dass er seine Lehr- und Forschungstätigkeit fortsetzen konnte. Am 1. Juli 1919 erhielt Kuske ein Ordinariat für Wirtschaftsgeschichte an der Universität zu Köln, wo er ab 1924 zusätzlich das Fach Wirtschaftsgeographie (Wirtschaftsraumlehre) vertrat. Bedingt durch den universitären Personalmangel während des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde Kuske erst 1951 emeritiert. Er starb am 18. Juli 1964.1 Bruno Kuske gehörte bis 1903 dem Nationalsozialen Verein an und rezipierte Friedrich Naumanns Konzept eines deutsch geführten ‚Mitteleuropas‘. 1919 trat er in die SPD ein, ohne ein Mandat oder ein Parteiamt zu übernehmen. Im Sommer 1933 wurde er auf Grundlage des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus dem Amt entfernt, im Januar 1934 jedoch wieder eingesetzt. Der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen trat er nie bei, obwohl er in parteioffiziellen Blättern veröffentlichte und Schulungsaufgaben für die DAF übernahm. Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 inhaftierten ihn die Nationalsozialisten als ehemaligen Sozialdemokraten für mehrere Wochen in einem Konzentrationslager. Trotzdem ehrte ihn die Universität Bonn im Oktober 1944 mit der ErnstMoritz-Arndt-Medaille der →Stiftung FVS als würdigen Nachfolger dieses „Vorkämpfers des Deutschtums im Westen“. Ihm gelang 1945 der bruchlose Übergang in die Nachkriegszeit: Er führte seine Kölner Professur fort, trat wieder in die SPD ein und wirkte 1946 für sechs Monate als Direktor für Wirtschaft in die Provinzialverwaltung Nordrhein. Sein wissenschaftliches Werk umfasst Wirtschaftsgeschichte und -geographie Westdeutschlands sowie Westeuropas mit dem Schwerpunkt der Niederlande. Wichtige Impulse verdankte er seinen Leipziger Lehrern Karl Lamprecht und Friedrich Ratzel. Seiner „Wirtschaftsraumlehre“ lag ein Stammesbegriff zugrunde, der kulturelle, völkische und biologistische Elemente verband. Kuske wies „Stämmen“, Nationalitäten und „Rassen“ klar umrissene „Wirtschaftseigenarten“ zu, welche zusammen mit weiteren naturräumlichen Faktoren die Basis von Austauschprozessen bildeten. Daraus entwickelte er ein hierarchisch gegliedertes Raumkonzept mit Kernräumen und peripheren Ergänzungsräumen. Diese „Verflechtungen“ überschritten nach seiner Auffassung nicht nur politische Grenzen. Vielmehr sah er es als Ziel der politischen Raumgestaltung und Raumplanung, diesen wirtschaftsräumlichen Determinanten zu folgen. Er bezog diesen ökonomisch begründeten, geopolitischen Imperativ sowohl auf die Vereinigung der Provinzen Rheinland und Westfalen, als auch auf die deutsche Westgrenze und die „Großwirtschaftsräume“ im kon-

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tinentalen und im universellen Maßstab. In der Zeitschrift Westland kondensierte Kuske 1943 seine geopolitisch-ökonomischen Vorstellungen im Schlagwort „Wirtschaftsgemeinschaft des Westlandes“. Sie umfasste das gesamte Rheingebiet, Teile Niedersachsens, ganz Westfalen, Elsaß, Lothringen, →Luxemburg, Belgien, Nordfrankreich und die Niederlande. Kuske untergliederte den Raum in „Stahl-“, „Textil“ oder „Agrargemeinschaften“. Das Zentrum dieser „Wirtschaftsgemeinschaft“ bildeten Rhein und Ruhrgebiet, seine Metropole war Köln. Obwohl Kuske meist keine direkten politischen Forderungen formulierte, so vertrat er doch seit Kriegsbeginn ein annexionistisches Westprogramm.2 Kuske popularisierte seine Wirtschaftsraumforschung kontinuierlich in Tageszeitungen, öffentlichen Vorträgen, Ausstellungen und Rundfunkauftritten. Auch stellte er sich direkt in den Dienst antiwestlicher Propaganda, so in der antifranzösischen und antibelgischen Schrift „Rheingrenze und Pufferstaat“3 (1919) im Auftrag der Rheinischen Volkspflege, in Schulungskursen für SPD- und Gewerkschaftsfunktionäre im Rahmen der Saarkampagne (1931–1933), in Auftritten für den revisionistischen Heimatbund Eupen-Malmedy-St. Vith (1931) oder bei den Deutsch-Flämischen Kulturtagen in Köln (1941). Federführend beteiligte sich Kuske an Kölner Ausstellungen wie zum Beispiel der Jahrtausendausstellung der Rheinlande (1925), der (gescheiterten) Hanseausstellung (1935) oder an „Köln und der Nordwesten“ (1941). In diesen und ähnlichen Medienprojekten der →Westforschung, wie die Zeitschrift Westland, das von →Franz Petri für die Besatzungsverwaltung in Belgien geplante Buch „Wallonien – unbekanntes Grenzland“ oder das →Handwörterbuch des Grenzund Auslanddeutschtums,4 ergänzte er die historisch-kulturelle Propaganda um nationalökonomische Aspekte. Seine geopolitischen Vorstellungen versuchte Kuske in hochschulübergreifende Forschungsstrukturen umzusetzen, die großraumpolitische Entscheidungen wissenschaftlich vorbereiteten. Für die →Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung (RAG, gegründet 1935) leitete er die Hochschularbeitsgemeinschaft für Raumforschung (HAG) Köln, welche die gesamte deutsche „wirtschaftliche und soziale Westfront“5 bearbeitete. Kuske drängte jedoch darauf, die rheinischen HAGen zusammenzufassen. Nach seiner Berufung zum Vertreter der HAGen der Technischen Hochschule Aachen und der Kölner und Bonner Universität in der Landesplanungsgemeinschaft Rheinland 1937 wurde die expansionistische Grenz- und Westforschung arbeitsteilig organisiert: Während die HAG Aachen ingenieurswissenschaftliche Aspekte bearbeitete und über das deutschsprachige Ostbelgien forschte, übernahm Bonn den Aspekt der Volks- und Kulturbodenforschung. Köln widmete sich ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Themen und setzte sich die Niederlande als geographischen Schwerpunkt. In der →Westdeutschen Forschungsgemeinschaft (WFG) engagierte sich Kuske verstärkt ab 1935. In den kulturwissenschaftlich dominierten Westforschungsverbund brachte er bis 1939 seine nationalökonomische Expertise ein. Neben eigenen Tagungsbeiträgen gelang es ihm, auch weitere Mitglieder seines Kölner akademischen Netzwerkes für die Mitarbeit in der WFG zu

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gewinnen. Kuske, der vor 1933 der national-völkischen →Leipziger Stiftung für Volks- und Kulturbodenforschung fern gestanden hatte, knüpfte auf diesem Weg wichtige Kontakte, vor allem zum Leiter dem Freiburger HAG, dem Geographen →Friedrich Metz. Die Europaplanung der SS schien Kuske 1942 die Chance zu bieten, die westdeutsche Forschungslandschaft umzuformen. Kurz nach der Eroberung Westeuropas war ein Versuch von Friedrich Metz gescheitert, zusammen mit Kuske die WFG als zentrale Politikberatungsinstanz zu etablieren. Um die ökonomischen und sozialen Auswirkungen der geplanten Umsiedlungen auf West-, Nord- und Südeuropa zu erforschen, griff das RSHA auf die RAG zurück. Deren Obmann →Paul Ritterbusch – in Personalunion Leiter des →Kriegseinsatzes der Deutschen Geisteswissenschaften6 – kontaktierte Kuske als Koordinator vor Ort. Zur Umsetzung des Projektes planten er, Metz und Ritterbusch, alle deutschen HAGen zusammenzufassen und ihnen feste europäische Forschungsaufgaben zuzuweisen. Die von ihm geleitete „Gruppe West“ sollte 15 westdeutsche Hochschulen umfassen und Westeuropa inklusive der Schweiz bearbeiten. Diese Pläne liefen darauf hinaus, WFG und RAG zu fusionieren und beide zum autoritär geleiteten Forschungsinstrument des RSHA umzuformen. Umgesetzt wurde das Projekt in viel kleinerem Maßstab; er konnte nur als einer von drei Koordinatoren der Forschungsprogramme „Belgien-Nordfrankreich“ und „Niederlande“ fungieren. Kuske rettete sein staatsnahes und autoritäres Wissenschaftskonzept in die Nachkriegszeit. So versuchte er ab Sommer 1945, die entstehenden Behörden in Rheinland und Westfalen von der Notwendigkeit zu überzeugen, den bestehenden Westforschungsverbund als Instrument staatsnaher Auftragsforschung beizubehalten, um die Friedensverhandlungen vorzubereiten. 1948 ernannte die Landesregierung Kuske zum Präsidenten der Forschungsgemeinschaft des Landes NordrheinWestfalen. Mit der Wiedergründung der selbstverwalteten Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) erwies sich sein Projekt als obsolet.

Marc Engels

1 Vgl. Marc Engels, Die „Wirtschaftsgemeinschaft des Westlandes“. Bruno Kuske und die wirtschaftswissenschaftliche Westforschung zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik, Diss. rer. pol. Aachen 2006; Leo Haupts, Die „Universitätsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung“ und die politische Indienstnahme der Forschung durch den NS-Staat. Das Beispiel der Universität Köln, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 68 (2004), S. 172–200. 2 Vgl. Bruno Kuske, Die Beziehung von Rassen und Völkergruppen zur historischen Gestaltung des weltwirtschaftlichen Raumes, in: Weltwirtschaftliches Archiv 49 (1939), S. 489–507; ders., Die deutsche Westgrenze in ihren wirtschaftsgeschichtlichen Zusammenhängen, in: DALV 4 (1940), S. 384– 424; ders., Zur Entstehung der wirtschaftlichen Großräume, in: Verein Deutscher Wirtschaftswissenschaftler (Hg.), Europäische Großraumwirtschaft. Vorträge gehalten auf der Tagung zu Weimar vom 9.–11. Oktober 1941, Leipzig 1942, S. 8–37; ders., Die Wirtschaftsgemeinschaft des Westlandes, in: Westland 3 (1943/44), S. 155–158.

Bruno Kuske  399

3 Bruno Kuske, Rheingrenze und Pufferstaat. Eine volkswirtschaftliche Betrachtung, Bonn 1919. 4 Historisches Archiv der Stadt Köln, NL Kuske, 1255/6, Handwörterbuch an Kuske vom 8.5.1942. Dort erklärte er sich 1941 bereit, über die „Wirtschaftsstruktur der westlichen Reichsvorlande“ zu schreiben, was aber unveröffentlicht blieb. 5 So der Titel einer von ihm geleiteten studentischen Raumforschungsarbeitsgemeinschaft. 6 Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg: Die „Aktion Ritterbusch“ (1940–1945), Dresden 1998.

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Julius Langbehn „Der Philosoph mit dem Ei“, so ist das Portrait betitelt, das Hans Thoma 1884/1906 von Julius Langbehn gemalt hat. Langbehn, der Autor des Kultbuches „Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen“ blickt den Betrachter mit nacktem Oberkörper direkt an und hält dabei ein Ei wie eine Hostie in der rechten Hand. Die „Reminiszenz an barocke Heiligenbilder“1 ist nicht zufällig. Auch der spätere Biograph Benedikt Momme Nissen charakterisiert den selbst ernannten Rembrandtdeutschen passagenweise in nahezu hagiographischem Duktus:2 Langbehn sei ein „Geistespolitiker“3 (5) gewesen, in der Lage „mit den Augen der großen Heiligen zu sehen“ (6), er sei „zeitlebens im Herzen ein Kind geblieben“ (10), besäße eine „seherhafte Geistesanlage“ (17) und habe „auf die Frage: was ist das Feinste und Edelste auf der Welt die Antwort gegeben: ‚Ein unschuldiges Herz‘.“ Durchdrungen davon, dass der Mensch „den natürlichen Adel seiner Seele wie seines Leibes unbefleckt erhalten, sich von niederen Trieben nicht fortreißen lassen solle“, habe er „geradezu wie ein Vorbild männlicher Keuschheit gelebt. Obwohl jeder Prüderie abhold, duldete er kein schlüpfriges Wort in seiner Nähe. ‚Rein sein ist alles‘ – das war sein vornehmster Wahlspruch“ (11). Dass besonders Letzteres für seine Zeitgenossen im Widerspruch zu den „40 Lieder[n] von einem Deutschen“ stand, die 1891 wegen pornographischer Inhalte zur strafrechtlichen Verfolgung führten, markiert nur einen der vielen, nicht selten als verrückt pathologisierten Widersprüche seiner Persönlichkeit.4 Julius Langbehn5 wurde am 26. März 1851 im niederdeutschen Hadersleben geboren. Sein Vater war stellvertretender Direktor des Gymnasiums, verlor aber seine Stellung, als er sich weigerte, Dänisch zur ersten Unterrichtssprache zu machen. Trotz finanzieller Nöte nahm Langbehn ein Studium auf, zuerst Philologie und Naturwissenschaften in Kiel, danach Archäologie in München. Zunächst schien alles erfolgversprechend. Nach der Promotion 1880 ermöglichte ihm das Archäologische Institut Berlin sogar einen Studienaufenthalt in Rom. Was dann geschehen ist, bleibt unklar. Langbehn zerriss seine Promotionsurkunde und schickte sie an die Münchner Fakultät zurück. Von nun an hasste er alles Akademische und Professorale. Den Bruch kommentierte er mit den Worten „Ich werde jetzt aufhören die Vergangenheit zu studieren, ich werde vielmehr die Zukunft konstruieren“. Er erklärte auch, wie er dies erreichen wolle: „Ich multipliziere nämlich die Gegenwart mit der Vergangenheit – und das gibt die Zukunft.“ Das tat er dann auch sehr erfolgreich im 1890 publizierten Rembrandt als Erzieher (bis 1945 40 Auflagen mit ca. 250.000 verkauften Exemplaren). Statt einer Verfasserangabe war der Bestseller mit einem Bekenntnis zum Deutschtum versehen: „Von einem Deutschen“. In Kontakt mit der Öffentlichkeit trat Langbehn unter dem Pseudonym „der Rembrandtdeutsche“. Das ist auch der Titel eines weiteren Buches, das knapp zwei Jahre später erschien (1892). Diesmal lautete sein Pseudonym voller Pathos: „Von einem Wahrheitsfreund“. Der Rembrandtdeutsche muss als aggressives Rechtfertigungspamphlet gegen seine Kritiker gelesen werden, zu denen er vor allem auch die Juden zählte. Das

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Buch über Rembrandt wecke Begeisterung „bei den Deutschen und Zischen bei den Juden“ (S. 45, Nr. 20), weshalb im Rembrandtdeutschen vor allem antisemitische Sentenzen der nachfolgenden Art akkumuliert wurden (S. 145, Nr. 486): „Weiß er [Bismarck], daß die Juden – nach Blutmischung, Aussehen und Raubmoral – weit mehr Neger als Weiße sind? Daß sie durch ihre langen Arme und kurzen Beine den Affen sehr nahe stehen? Daß sie überhaupt den schwärenden und übelriechenden Rest längst überwundener Kulturstufen darstellen, aufgeputzt mit dem Raffinement moderner Verderbtheit? Daß sie also die Exkremente der Menschheit sind? Daß sie seine, unsere, aller Welt Feinde sind?“ Langbehns Auskommen war trotz des großen Verkaufserfolges recht bescheiden. In der Regel hielt er sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, lebte außerordentlich spartanisch und ließ sich von Freunden aushalten, von Wilhelm Leibl, Hans Thoma, Cornelius Gurlitt oder vom Generaldirektor der Dresdener Museen, Woldemar von Seidlitz. 1900 konvertierte er zum Katholizismus. Die letzten Lebensjahre finanzierte ihn vor allem der Maler Momme Nissen, der auch weitere Werke Langbehns nach dessen Tode herausgab, so 1928 „Dürer als Führer“6. Bezeichnend für die von Langbehn verlangte Unterordnung unter seinen exzentrischen Geist stand als Verfasserangabe: „Vom Rembrandtdeutschen und seinem Gehilfen“. Momme Nissens Gehilfenschaft ging so weit, dass er ebenfalls konvertierte und nach Langbehns Tod in ein Dominikanerkloster eintrat. Langbehn starb am 30. April 1907 in Rosenheim und wurde in Puch bei Fürstenfeldbruck beerdigt. Auf seinem Grabstein standen wieder nur die Initialen A. J. L. (August Julius Langbehn). Langbehns Hauptwerk Rembrandt als Erzieher lässt den modernen Leser sowohl aufgrund seines Inhalts wie seiner zeitgenössischen Erfolgsgeschichte ratlos zurück. Fritz Stern nennt es eine „Rhapsodie der Irrationalität“7, und Peter E. Becker kommentiert: „Seinem Werk fehlt System, es hat kein Fundament, auf dem sich konstruktiv ein Gedankengebäude erheben könnte. Dennoch, im Rembrandtbuch sind die geheimen und offenbaren Sehnsüchte, Wünsche, Erwartungen und Hoffnungen vieler seiner deutschen Zeitgenossen […] zum Ausdruck gekommen.“8 Der Erfolg des Buches inspirierte den Verleger Hugo Bruckmann denn auch zu einem Nachfolgewerk, zu Houston Stewart Chamberlains „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“. Rembrandt als Erzieher setzt außerdem die Reihe der unzähligen konservativen Erzieherschriften fort, die mit Nietzsches „Schopenhauer als Erzieher“ begonnen haben und mit Nietzsche, Luther, Ernst Haeckel, Richard Wagner, Turnvater Jahn, Kaiser Wilhelm II., Hindenburg und sogar Chamberlain oder Georg von Schönerer als Erzieher in den darauffolgenden Jahrzehnten den Büchermarkt überschwemmten.9 Rembrandt als Erzieher war in den 1920er Jahren ein beliebtes Kommunionsgeschenk10; es wirkte auf die moderne Kultur- und Kunstpädagogik, auf die Heimatkunstbewegung, die Jugend- bzw. Wandervogelbewegung, auf eine Reihe von Künstlern und Schriftstellern wie den Worpsweder Kreis, Rainer Maria Rilke und August Strindberg, der Langbehn gar mit Kant verglich, auf katholische Bischöfe, vor allem aber auf die Völkische Bewegung und die Nationalsozialisten.11

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Das Buch ist durchzogen von teilweise predigthaft vorgetragener Wissenschaftsfeindlichkeit, von Antiintellektualismus, Antinaturalismus, Antimodernismus, mit zunehmender Auflage auch von →Antisemitismus, vor allem von Nationalismus, geistesaristokratischem und antidemokratischem Denken. Die Demokratie wird von ihm als undeutsch, als „politischer Krankheitsfall“ bzw. als „französische Krankheit“ pathologisiert (96). „Demokratie“, so schreibt er (351), „ist ein Körper, der sich nach einem Kopf sehnt“. Dagegen setzte er eine völkische Komplementärideologie mit fiktivem Verinnerlichungsprogramm, das ohne sozial-politische Systemveränderungen auskam. Er forderte eine rückwärtsgewandte Agrarisierung, eine konservative, antisozialdemokratische Nationalisierung, vor allem eine innere, geistig-künstlerische Aristokratisierung (346). Ihm schwebten ein nationales Kunsterziehungsprogramm und die politische Herrschaft eines geistigen Kaisertums (353) vor, an dessen Spitze ein „heimlicher Kaiser“ (353), ein „Kunstpolitiker“ (234), gar ein „Künstler-Held“ (s. u.) stehen sollte. „Der besitz- und friedlose Pöbel muß wieder in Volk verwandelt werden! Er muß den nach außen hin eingegliederten und in sich selbst abgegliederten Teil eines aristokratischen Ganzen bilden. Natürlich kann dies nur auf nationaler Basis geschehen; und somit wird eine Aristokratisierung der heutigen Sozialdemokratie zugleich eine Nationalisierung derselben sein. Um beides zu vollbringen, bedarf es einer politischen Künstlerhand“ (224). Im Zentrum seiner Ideologie steht eine nationalistische Kunstreligion, deren Ursprünge Joachim Fest zu Recht im Werke Richard Wagners vermutet. Langbehn verlange (30)12 „ganz im Sinne der lebenslang fortbestehenden anarchistischen Neigung Wagners die Zerstörung der bestehenden Ordnung zugunsten einer neuen, ursprünglichen Form des Zusammenlebens, ein Ende von Handel, Erwerbsdenken, Realpolitik und Wissenschaft“. Der Rembrandtdeutsche lese sich daher „streckenweise wie eine Sammlung von Motiven Richard Wagners“. Für Wagner wie für Langbehn könne „die Erlösung einzig durch die Kunst erfolgen und die große Reinigung nur das Werk eines KünstlerHelden sein“ (ebd.). Langbehns gentilgenialer „Künstler-Held“ war der von ihm als niederdeutsch vereinnahmte Maler Rembrandt van Rijn. Dieser besitze „im höchsten Grade das, was man Rasse nennt; sein individueller Charakter ist so stark entwickelt, daß er zum gattungsmäßigen Charakter“ werde (169). Rembrandt verkörpere einen Menschtypus (299), in dem sich eine heilsversprechende Seelendreieinigkeit ausdrücke: „Einzelseele, Stammesseele, Volksseele treffen sich und steigern sich gegenseitig in diesem Manne“ (60). Deutlich wird, wie sehr Langbehns völkische Ideologie nationalistisch und rassistisch gleichermaßen ist. Es geht ihm nicht um Rembrandt als Individuum, sondern um dessen „deutsche Menschheit“, um dessen „Volkstum“ und Volkstümlichkeit, aus dem seine schöpferische Kraft entstamme (323). Das Kriterium für alles Künstlerisch-Schöpferische sei die völkische Gebundenheit und nicht irgendeine losgelöste individuelle Freiheit. Gebundenheit kann erdverbundener Lokalismus sein, Provinzialismus (67), Nationalismus, auf jeden Fall ist sie Volkszugehörigkeit, was schließlich jene Tür zum Rassismus öffnet, die im Antisemitismus auch schon bei ihm selbst ihren Kristallisationspunkt fand.

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Der Schritt zum absurden Ausdruck „deutsche Menschheit“ wie er als Kapitelüberschrift erscheint, ist dann nicht mehr weit. Mensch sein kann seiner Ideologie nach eben nur, wer völkisch, das heißt im Langbehnschen Sinne deutschvölkisch und germanischvölkisch gebunden ist.

Anja Lobenstein-Reichmann

1 Walter Schmitz, in: Uwe Puschner (Hg. u.a.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1996, XXVI. 2 Benedikt Momme Nissen, Der Rembrandtdeutsche Julius Langbehn, Freiburg i. Br. 1926. 3 Ders., Vorwort, in: Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, Leipzig 192277–84. 4 Werke in der Reihenfolge ihres Erscheinens: Julius Langbehn, Flügelgestalten der ältesten griechischen Kunst (Dissertation), München 1881; ders., Niederdeutsches. Ein Beitrag zur Völkerpsychologie. 1887, neu hg. von Benedikt Maria Momme Nissen, Buchenbach 1926; ders., Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. 18901–36; ab 189137; hier in der Regel: Leipzig 192277–84; ders., 40 Lieder von einem Deutschen, Dresden 1891; ders., Der Rembrandtdeutsche. Von einem Wahrheitsfreund, Dresden 1892; ders., Benedikt Maria Momme Nissen, Dürer als Führer. Vom Rembrandtdeutschen und seinem Gehilfen, München 1928; ders. (Hg.) Langbehns Lieder, München 1931; ders. (Hg.) Briefe an Bischof Keppler, Freiburg i.Br. 1937; ders. (Hg.) Der Rembrandtdeutsche. Der Geist des Ganzen, Neue, durchges. Ausg. Freiburg i.Br. 1932. 5 Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf: Anja Lobenstein-Reichmann, Julius Langbehns „Rembrandt als Erzieher“ – diskursive Traditionen und begriffliche Fäden eines nicht ungefährlichen Buches., in: Marcus Müller/Sandra Kluwe (Hg.), Identitätsentwürfe in der Kunstkommunikation. Studien zur Praxis der sprachlichen und multimodalen Positionierung im Interaktionsraum „Kunst“, Berlin 2012, S. 295–318; Bernd Behrendt, Zwischen Paradox und Paralogismus. Weltanschauliche Grundzüge einer Kulturkritik in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts am Beispiel August Julius Langbehn. Univ. Diss. Bochum 1984, Frankfurt a.M. 1984; ders., August Julius Langbehn, der „Rembrandtdeutsche“, in: Puschner (Hg. u.a.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“, München 1996, S. 94–113. 6 Vgl. Anja Grebe, Dürer als Führer. Zur Instrumentalisierung Albrecht Dürers in völkischen Kreisen, in: Uwe Puschner (Hg. u.a.), Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 379–399. 7 Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland. Stuttgart 2005, S. 190. 8 Peter Emil Becker, Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedanke, Stuttgart 1990, S. 130. 9 Anja Lobenstein-Reichmann, Houston Stewart Chamberlain – Zur textlichen Konstruktion einer Weltanschauung. Eine sprach-, diskurs- und ideologiegeschichtliche Analyse, Berlin u.a. 2008, S. 526. 10 Menck, Clara, Die falsch gestellte Weltenuhr: Der „Rembrandtdeutsche“ Julius Langbehn, in: Karl Schwedhelm (Hg.), Propheten des Nationalismus, München 1969, S. 88–104, 88. 11 Lobenstein-Reichmann 2012, S. 299–302. 12 Joachim Fest, Richard Wagner. Das Werk neben dem Werk. Zur ausstehenden Wirkungsgeschichte eines Großideologen, in: Saul Friedländer (Hg. u.a.), Richard Wagner im Dritten Reich, München 2000, S. 24–39.

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Paul Langhans Paul Max Harry Langhans wurde am 1. April 1867 in Hamburg in eine kleinbürgerliche Familie geboren. Sein Vater war zunächst Gastwirt, später Quartiersmann im Hamburger Hafen.1 Langhans besuchte in Hamburg ein Realgymnasium, wobei er bereits als Schüler Karten in Petermanns Geographischen Mitteilungen veröffentlichte.2 Anschließend studierte er von 1886 bis 1889 Geographie, Naturwissenschaften und Nationalökonomie in Leipzig und Kiel.3 Dabei wurde er maßgeblich von Friedrich Ratzel (1844–1904) geprägt, bei dem er in Leipzig studierte.4 Im Wintersemester 1886/1887 wurde Langhans in Leipzig Mitglied im antisemitischen Verein Deutscher Studenten (VDSt). In Kiel war er 1888 und 1889 dessen Vorsitzender.5 Nach Beendigung seines Studiums begann er am 7. Oktober 1889 eine Anstellung bei der Geographisch-Kartographischen Verlagsanstalt Justus Perthes in Gotha. Seine praktische Ausbildung zum Kartographen erhielt er hier bei Carl Vogel (1828– 1897).6 Den Militärdienst absolvierte Langhans im Gothaer Bataillon des Infanterieregiments Nr. 95.7 Seine politischen Aktivitäten setzte er auch in Gotha fort, wobei er eine rege Tätigkeit entfaltete. Zu Beginn der 1890er Jahre gründete er in Gotha eine Ortsgruppe der antisemitischen Deutschsozialen Reformpartei, von 1896 bis 1907 war er auch Herausgeber des Antisemitischen Monatsblattes für die Mitglieder und Freunde der Deutschsozialen Reformpartei.8 1895 trat er dem von Friedrich Lange (1852–1917) im Jahr zuvor gegründeten Deutschbund bei. Von 1907 bis 1942 war er hier in leitender Funktion als Bundeswart tätig, darüber hinaus auch als Herausgeber der Deutschbund-Blätter. Bereits seit 1899 war er auch Leiter der bedeutenden Deutschbund-Gemeinde Gotha.9 Der Deutschbund war eine radikalnationale, antisemitische und die Sozialdemokratie bekämpfende Vereinigung, die ihr Ziel nicht in der Schaffung einer politischen Massenorganisation sah, sondern in der Formung einer völkischen Elite, die als künftige „Führerschicht“10 dienen sollte. Langhans selbst charakterisierte den Deutschbund als völkische „Erziehungsgemeinschaft“.11 Laut Dieter Fricke war der Deutschbund personell eng mit dem →Alldeutschen Verband und später mit der NSDAP verbunden.12 Langhans vertrat den Deutschbund 1918 im sogenannten „Judenausschuss“, der als zentrales antisemitisches Organisationskomitee diente und aus dem später der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund hervorging.13 1896 trat Langhans weiterhin als Gründer des Nationalen Jugendbundes (Deutscher Wartburg-Bund) in Erscheinung, 1898 als Gründer einer Ortsgruppe des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes, 1900 gründete er den Deutschnationalen Turnverein Jahn, dem Juden nicht beitreten durften. Von 1902 bis 1912 gehörte er zudem dem geschäftsführenden Ausschuss des Alldeutschen Verbandes an. Ab 1917 war Langhans auch Vorstandsmitglied im Alldeutschen Verband. Darüber hinaus war Langhans Mitglied im Hauptvorstand des Vereins für das Deutschtum im Ausland und Gründungsmitglied des Deutschen Bundes zur Bekämpfung der Frauenemanzipation.14 Laut Heinz Peter Brogiato verfügte

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Langhans über „beste Beziehungen in deutschvölkischen Kreisen“.15 Uwe Puschner bezeichnet ihn als eine „völkische Schlüsselfigur“.16 In seiner Tätigkeit als Kartograph im Perthes Verlag war die Zeit um die Jahrhundertwende Langhans’ produktivste Zeit. Als sein erstes großes Kartenwerk ist hier der Deutsche Kolonialatlas von 1897 zu nennen, der ein sehr weites völkisches Zugehörigkeitskonzept des „Deutschtums“ mit einem breiten Kolonialbegriff verband, indem der Atlas nicht nur die deutschen „Staatskolonien“, sondern auch sämtliche „Siedlungskolonien“ darstellte.17 Laut Dörte Lerp visualisierte der „Kolonialatlas“ ein imaginiertes deutsches „Siedlungsempire“.18 Ein Jahr zuvor war von Langhans der Deutsche Staatsbürgeratlas erschienen. Im Weiteren erschienen von ihm der Marine-Atlas 1898, der Armee-Atlas 1899, der Alldeutsche Atlas 1900, der vom Alldeutschen Verband unterstützt wurde sowie der Handelsschulatlas 1902.19 Kennzeichnend für diese Publikationen waren ihre Berücksichtigung wirtschaftsgeographischer Aspekte, was damals durchaus innovativ war, der besonders hohe Stellenwert der Statistik und der stark nationalistische Impetus. 1900 wurde Langhans „für seine Karten des Deutschtums“ durch den Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach zum Professor ernannt. 1901 wurde Langhans bereits als der „nationale Kartograph unseres Volkes“ charakterisiert.20 Seine Ansichten waren zu dieser Zeit jedoch durchaus auch umstritten.21 Er muss jedenfalls als einer der ersten und wesentlichsten Protagonisten einer konsequent radikalnationalistischen und völkisch orientierten Kartographie betrachtet werden. Laut Imre Demhardt war er der „Doyen der deutschnationalen Kartographie“.22 Nach dem Ersten Weltkrieg, als sich völkisch-radikalnationalistische Prämissen auf breiter Front Bahn gebrochen hatten, wurde Langhans nun vielfach als Ahnherr und Vorläufer dieser Positionen beschworen. In diesem Sinne äußerte sich 1927 der Geograph Kurt Hassert (1868–1947).23 Auch die Geographen →Wilhelm Volz (1870– 1958) und Hans Schwalm (1900–1992) schrieben 1930 in der ersten Ausgabe der von ihnen im Auftrag der →Stiftung deutsche für Volks- und Kulturbodenforschung herausgegebenen Deutschen Hefte für Volks- und Kulturbodenforschung, dass ihre Forschung in der Tradition von Langhans’ „Deutschkunde“ stünde.24 Hierbei beriefen sie sich vor allem auf die Zeitschrift Deutsche Erde – Zeitschrift für Deutschkunde – Beiträge zur Kenntnis deutschen Volkstums allerorten und allerzeiten. Diese Zeitschrift hatte Langhans bereits 1902 gegründet. Sie war ein wichtiges Medium zur Etablierung der von Langhans geprägten Deutschkunde, einer interdisziplinär konzipierten, völkerkundlich ausgerichteten Forschung mit globaler Perspektive und deutschvölkischer Grundierung, die auch dezidiert politische Forderungen miteinschloss. Die Zeitschrift diente dabei als Forum national orientierter Wissenschaftler. Als Mitarbeiter sind hier der Historiker und Archivar Hans Witte (1867– 1945), der Statistiker und Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes Ernst Hasse (1846–1908), der Historiker und Archivar Martin Wutte (1876–1948), der Historiker, Volkskundler und spätere Leiter des Vaterländischen Museums in Hannover Wilhelm Peßler (1880–1962) sowie der Professor für nordische Philologie Eugen Mogk

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(1854–1939) zu nennen.25 In Verbindung mit der Deutschen Erde standen weiter Karl Lamprecht (1856–1915), →Gustaf Kossinna (1858–1931), Joseph Partsch (1851–1925), Dietrich Schäfer (1845–1929), Hermann Wagner (1840–1929) und →Albrecht Penck (1858–1945).26 Seit 1906 wirkte ebenfalls die →Zentralkommission für wissenschaftliche Landeskunde von Deutschland an der Zeitschrift mit, ab 1909 war auch die Zentralstelle für die Erforschung des Deutschtums im Ausland beteiligt. 1914 wurde als Nachfolgeorganisation der wirkungslos gebliebenen Zentralstelle die Gesellschaft für Erforschung des Deutschtums im Ausland etabliert. Langhans’ Unternehmen der Deutschen Erde war also durchaus ambitioniert.27 1915 musste ihr Erscheinen im Zuge des Ersten Weltkriegs eingestellt werden. 1927 unternahm Langhans eine Neubelebung, die jedoch scheiterte.28 In der Deutschen Erde veröffentlichte er selbst eine Vielzahl von Volkstumskarten. Vor und während des Ersten Weltkrieges veröffentlichte er ebenso eine umfangreiche Anzahl von Kriegskarten. Auch nach dem Scheitern der Deutschen Erde war Langhans höchst umtriebig und strengte mehrere völkisch-nationale Projekte an. So wurde er 1918 Obmann des in Gotha gegründeten Hochstifts für Deutsche Volksforschung.29 Bereits 1912 hatte er hier auch die Deutsch-Nationale Bücherei eingerichtet. Diese wurde jedoch 1917 durch einen Brand schwer beschädigt30, und auch das Hochstift für Deutsche Volksforschung scheint keine große Wirkmacht entfaltet zu haben. In den 1920er Jahren schwand zudem auch Langhans’ Einfluss im Deutschbund.31 Bis 1942 hatte er jedoch pro forma weiter den Posten des Bundeswartes inne. Langhans publizierte nach dem Ersten Weltkrieg nur noch wenige Karten. Er war jedoch weiterhin als Herausgeber von Petermanns Geographischen Mitteilungen tätig, welche er bereits seit 1909 herausgab.32 Ab 1923 war er beim Perthes-Verlag auch für den statistischen Teil des Diplomatischen Jahrbuchs zuständig.33 1927 verlieh die Universität Jena Langhans zu seinem 60. Geburtstag die Ehrendoktorwürde.34 Mit dem 1. Januar 1938 gab er die Schriftleitung von Petermanns Geographischen Mitteilungen an Nikolaus Creutzburg (1893–1978) und Max Hannemann (1892–1960) ab und ging in den Ruhestand.35 Die restlichen Bestände der Deutsch-Nationalen Bücherei übergab er als „Rassebücherei“ der städtischen Bibliothek Gotha.36 Sein politisches Engagement führte er auch in den 1930er Jahren fort. 1931 trat er der NSDAP bei37, für die er als Redner bei zahlreichen lokalen Veranstaltungen sowie als Schulungsredner fungierte. Ab 1936 war Langhans Ratsherr und ab 1938 Kulturbeirat der Stadt Gotha. 1940 wurde ihm anlässlich seines 73. Geburtstages die Ehrenbürgerschaft der Stadt verliehen.38 Bereits 1939 hatten ihn das →Deutsche Ausland-Institut in Stuttgart und der Volksbund für das Deutschtum im Ausland mit Auszeichnungen geehrt.39 Nach dem Zweiten Weltkrieg verblieb er in Gotha. Aufgrund seiner politischen Verstri-

Paul Langhans  407

ckungen mit dem Nationalsozialismus wurde ihm die verliehene Ehrenbürgerschaft aberkannt.40 Am 17. Januar 1952 starb Langhans schließlich in Gotha.

Philipp Julius Meyer

1 Manfred Langhans, Zur Familiengeschichte unseres Langhans-Stammes, Hegenlohe 1967 [unveröffentl. Manuskript], S. 5. 2 Heinz Peter Brogiato, Paul Langhans. Der völkische Geograph, in: Gothaer Geowissenschaftler in 220 Jahren, hg. vom Urania Kultur- und Bildungsverein Gotha e.V., Gotha 2005, S. 39–40, 39. 3 Marc Zirlewagen, Paul Langhans, in: Biographisches Lexikon der Vereine Deutscher Studenten, Bd. 1: Mitglieder A-L, Norderstedt 2014, S. 485–487, 485f. 4 Gerhard Engelmann, Paul Langhans, in: NDB, Bd. 13, Berlin 1982, S. 603. 5 Zirlewagen, Paul Langhans, S. 485. 6 Heinz Peter Brogiato u.a., Paul Langhans und seine Wandkarte der deutschen Kolonien in Afrika (1908), in: Harald Leisch (Hg.), Perspektiven der Entwicklungsländerforschung. Festschrift für Hans Hecklau, Trier 1995, S. 81–102, 85. 7 Langhans, Familiengeschichte, S. 7f. 8 Zirlewagen, Paul Langhans, S. 486. 9 Dieter Fricke, Paul Langhans, in: Uwe Puschner (Hg. u.a.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1999, S. 915–916, 915f. 10 BArch, R58/6060, Brauchtum des Deutschbundes, ohne Seitenzahl. 11 Paul Langhans, Der Deutschbund, in: Hermann Haack (Hg.), Deutsche Art und Arbeit in Stadt und Land Gotha. Festschrift zum Hermannsfest des Deutschbundes in Gotha am 10.–12. Juni 1911, Gotha 1911, S 1. 12 Dieter Fricke, Der „Deutschbund“, in: Uwe Puschner (Hg. u.a.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1999, S. 328–340, 333 und 339. 13 Johannes Leicht, Alldeutscher Verband, in: Wolfgang Benz (Hg.), Organisationen, Institutionen, Bewegungen. Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5, Berlin 2012, S. 9–12, 11. 14 Zirlewagen, Paul Langhans, S. 486. 15 Heinz Peter Brogiato, „Wissen ist Macht – Geographisches Wissen ist Weltmacht.“ Die schulgeographischen Zeitschriften im deutschsprachigen Raum (1880–1945) unter besonderer Berücksichtigung des Geographischen Anzeigers, Bd. 1, Trier 1998, S. 255. 16 Zit. nach Zirlewagen, Paul Langhans, S. 487. 17 Paul Langhans, Zur Einführung, in: ders., Deutscher Kolonial-Atlas. 30 Karten mit 300 Nebenkarten, Gotha 1897, ohne Seitenzahl. 18 Dörte Lerp, Farmers to the Frontier. Settler Colonialism in the Eastern Prussian Provinces and German Southwest Africa, in: The Journal of Imperial and Commonwealth History, 41 (2013) 4, S. 567–583, 568. 19 Forschungsbibliothek Gotha, Sammlung Perthes, (SPA ARCH PGM 558), Personalakte Paul Langhans fol. 56–64, Die Veröffentlichungen von Professor Langhans nach dem Erscheinungsjahr geordnet. Zusammengestellt von Prof. Haack [Januar 1927]. 20 Brogiato u.a., Wandkarte der deutschen Kolonien in Afrika, S. 84. 21 Vgl. hierzu die Rechtfertigung von Langhans in Zusammenhang mit seiner Darstellung des Konflikts zwischen England und den Buren in den Kapstaaten: Englische Anmaßung, in: Geographischer Anzeiger 1 (1899) November, S. 2; Brogiato, „Wissen ist Macht – Geographisches Wissen ist Weltmacht“, S. 247.

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22 Imre Demhardt, Paul Langhans und der Deutsche Kolonialatlas 1893–1897, in: Cartographica Helvetica, 39/40 (2009) 40, S. 17–30, 17. 23 SPA ARCH PGM 558, Personalakte Paul Langhans fol. 1, Kurt Hassert, Paul Langhans sechzig Jahre [unveröffentl. Manuskript von 1927]. 24 Hans Schwalm/Wilhelm Volz, Zum Geleit, in: Deutsche Hefte für Volks- und Kulturbodenforschung, 1 (1930) 1, S. 1–3. 25 Eine umfangreiche Übersicht der Mitarbeiter der Deutschen Erde findet sich bei Brogiato, „Wissen ist Macht – Geographisches Wissen ist Weltmacht“, S. 253f. 26 Vgl. Deutsche Erde12 (1913) 1, Deckblatt. 27 Vgl. Jason D. Hansen, Mapping the Germans. Statistical Science, Cartography, and the Visualization of the German Nation, 1848–1914, Oxford 2015, S. 114 ff. 28 Brogiato, „Wissen ist Macht – Geographisches Wissen ist Weltmacht“, S. 254ff. 29 SPA ARCH PGM 558, Personalakte Paul Langhans fol. 11, Zeitungsartikel, ohne Datum, ohne Seitenzahl. 30 Brogiato, „Wissen ist Macht – Geographisches Wissen ist Weltmacht“, S. 255. 31 Ebd., S. 250, Anm. 149. 32 Brogiato, Der völkische Kartograph, S. 40. 33 Zirlewagen, Paul Langhans, S. 486. Vgl. hierzu auch Personalakte Paul Langhans fol. 92, Paul Langhans an Joachim Perthes vom 21.12.1921. 34 Zirlewagen, Paul Langhans, S. 486. 35 SPA ARCH PGM 558, Personalakte Paul Langhans fol. 54–55, Joachim Perthes an Paul Langhans vom 16.9.1937. 36 Ebd. fol. 12, Zeitungsartikel „Ehrenbürger Professor Dr. Paul Langhans“ aus dem „Gothaischen Tageblatt“ vom 1.4.1940. 37 Brogiato, Der völkische Kartograph, S. 40. 38 Zirlewagen, Paul Langhans, S. 487. 39 SPA ARCH PGM 558, Personalakte Paul Langhans fol. 65 und 87, Abschriften der Verleihungsurkunden. 40 Zirlewagen, Paul Langhans, S. 487.

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Alfred Lattermann Alfred Ludwig Bernhard Lattermann (Pseudonyme: Rolf Starknad, Dr. Felix Deutsch) wurde am 23. Oktober 1894 in Lissa (heute Leszno) in der Provinz Posen geboren. Sein Vater Hermann war Musiklehrer und stammte ursprünglich aus Thüringen, wo einige Vorfahren evangelische Pastoren gewesen waren, seine Mutter Anna, geb. Wernicke, dagegen aus einer Gutsbesitzerfamilie aus Mogilno, nordöstlich von Posen. Nach der Volksschule besuchte Lattermann von 1904 bis 1913 das angesehene Comenius-Gymnasium seiner Heimatstadt und bestand dort auch sein Abitur.1 Danach begann er in Marburg ein Studium in Geschichte, Deutsch und Erdkunde. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs sorgte für eine Unterbrechung des Studiums. Lattermann meldete sich bereits im August 1914 als Kriegsfreiwilliger und wurde im März 1915 mit dem Feldgrenadierregiment 6 an die Front versetzt. Er kämpfte vor Verdun und wurde 1916 und 1917 mit dem Eisernen Kreuz II. und I. Klasse ausgezeichnet. Im März 1918 wurde er schwer verwundet; die Folgen eines Halsdurchschusses beeinträchtigten fortan seine Stimme. Mit der Novemberrevolution schied er aus dem Heer aus, setzte aber seine (para-)militärische Tätigkeit ganz den Traditionen seiner Jugend folgend fort. Schon als Schüler war er dem Jungdeutschlandbund und dem Deutschen Ostmarkenverein beigetreten, als Student der Ortsgruppe Lissa des Vereins für das Deutschtum im Ausland. Als er nach Kriegsende die Grenzen Deutschlands bedroht sah, beteiligte er sich im Januar 1919 als Leiter der Bahnschutzkompanie an der Verteidigung Lissas gegen polnische Insurgenten. Anschließend war er stellvertretender Ortskommandant des Stadtteils Grune (heute Gronowo). Nach übergangsweiser Arbeit in der Landwirtschaft wurde er aufgrund des Lehrermangels im Januar 1921 aushilfsweise in einer Privatschule in Janowitz (Janowiec Wlkp.) nördlich von Gnesen (Gniezno) eingestellt. Mittlerweile mit einer gebürtigen Deutschen aus Großpolen verheiratet nahm er erst 1922 in Breslau sein Studium wieder auf und erweiterte es um das Studienfach Polnisch „aus der klaren Erkenntnis heraus, daß eine Auseinandersetzung mit dem in Versailles zum Zuge gekommenen polnischen Volk nur bei einer Beherrschung der polnischen Sprache möglich sei“. 1924 promovierte Lattermann bei Manfred Laubert mit einer Arbeit über Oberschlesien und die polnischen Aufstände im 19. Jahrhundert. Es folgten bis 1927 sein Staats- und Referendarexamen in Königsberg sowie bis 1930 die staatlicherseits vorgeschriebenen Prüfungen für Deutschlehrer in der Republik Polen an der neuen Universität Poznań. Laubert war es auch, der Lattermann in Kontakt zur Historischen Gesellschaft für Posen brachte, für die er bis zu seinem Tode tätig war. 1926 wurde er als Nachfolger →Hermann Rauschnings bereits Vorstandsmitglied und Redakteur der Deutschen Wissenschaftlichen Zeitschrift für Polen sowie 1928 Geschäftsführer dieser Zentrale der deutschen Wissenschaft im polnischen Staat.2 Dies passte in eine ganze Reihe gesellschaftlicher Aktivitäten für die Deutschen im Osten, die Lattermann nun aufnahm. Er begann für

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deutsche wissenschaftliche und journalistische Organe zu publizieren, unter anderem für die Deutsche Schulzeitung in Polen, wurde Mitglied des Deutschen Schulvereins Posen, des Hindenburgbunds und des Vereins für die Geschichte Schlesien. In gewisse Schwierigkeiten brachte ihn in der NS-Zeit sein kurzes Intermezzo (1922– 1924) als Mitglied der Freimaurerloge Old Fellow in Gnesen. Diesbezüglich 1941 im Rahmen seines Aufnahmeantrags zur NSDAP vom NS-Gaugericht Wartheland befragt, erklärte er, er sei nur beigetreten, um den durch den Wegzug vieler Deutscher aus Großpolen gefährdeten Immobilienbesitz der Loge zu sichern, ohne sich aktiv engagiert zu haben.3 Lattermann erwies sich in den Jahren vor 1939 rasch als begabter Netzwerker, der auf der einen Seite daran interessiert war, die wissenschaftlichen Forschungen zu den Deutschen in Polen auszubauen, auf der anderen Seite aber auch die publizistische Vermarktung der →Ostforschung voranzutreiben. Er suchte durchaus den Kontakt zu polnischen Kollegen und erwies sich als guter Kenner der polnischen Geschichtswissenschaft, wie seine zahlreichen Rezensionen und Übersetzungen wissenschaftlicher Arbeiten demonstrieren. Inhaltlich hatte dies freilich kaum Auswirkungen. Vielmehr geriet er unter den Einfluss rassistischer Ideologeme, die eng mit denen des Nationalsozialismus verbunden waren. Sein besonderes Interesse an der Familienforschung zeigte sich nicht nur in seinem wissenschaftlichen Hauptwerk, einer durchaus innovativen Einführung in die deutsche Sippenforschung in Polen (Posen 1937), sondern auch in der Mitwirkung an dem in zehntausendfacher Ausfertigung und zweifacher Auflage erschienenen Stammbuch „Blut und Boden“, das mit dem Ahnenpass im Deutschen Reich vergleichbar war. Darin wünschte sich Lattermann die Anlage von Heimatchroniken, aber auch die Vermeidung lateinischer und jüdischer Vornamen bei neugeborenen Kindern.4 Als Hauptberuf kristallisierte sich bei Lattermann aber die Lehrertätigkeit heraus. Zunächst in Posen als Lehrer für Deutsch, Geschichte und Polnisch tätig, war er 1931 als Leiter des deutschen Progymnasiums von Dirschau (Tczew) südlich von Danzig in der Wojewodschaft Pomorze vorgesehen. Die polnischen Behörden verweigerten aber nicht nur seine Akkreditierung, sondern schlossen die Schule insgesamt.5 Nach einigen Schwierigkeiten fand Lattermann eine Stelle als Studienrat an der deutschen Goetheschule von Graudenz (Grudziądz).6 1935 wechselte er in gleicher Funktion ans Posener Schillergymnasium zurück.7 Zu seinen dortigen Schülern gehörte auch der spätere Osteuropahistoriker →Gotthold Rhode. Spätestens seit 1937 war Lattermann Vertrauensmann der →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft in Posen geworden. Polnischerseits wurde Lattermann als einer der führenden Vertreter der deutschen Minderheit wahrgenommen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass er nach Kriegsausbruch sofort verhaftet wurde. Seine Verschleppung in Richtung Kutno endete mit der Befreiung durch die Wehrmacht im masowischen Gombin (Gąbin).8 Es schien zu erwarten, dass mit der deutschen Besetzung Großpolens eine neue Karrierestufe für Lattermann erreicht sein würde. In gewissem Sinne traf dies auch

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zu. Nachdem er sich zunächst zum Selbstschutz gemeldet hatte, wurde er vom neuen Gauleiter Arthur Greiser bereits am 7. Oktober 1939 zum kommissarischen Leiter der Posener Universitätsbibliothek ernannt (offiziell 1942), obwohl er über keinerlei Bibliothekserfahrung verfügte und erst einmal einen achtwöchigen Schnellkurs in Berlin und Göttingen absolvieren musste.9 Unter seiner Ägide wurde in den folgenden Jahren zum einen rücksichtslose Germanisierung der Bibliothek durchgeführt, auf der anderen Seite wehrte er sich gegen Zerstörungen polnischer Bücher, wie sie sein Mitarbeiter Richard Busse und der Leiter der neuen Buchsammelstelle, Jürgen von Hehn, vorschlugen und durchführten.10 Während er im propagandistischen Rahmen durchaus zu einer Verschärfung antipolnischer Maßnahmen beitrug, erreichte er offenbar dennoch zum Beispiel die Freilassung des Posener Mediävisten Kazimierz Tymieniecki aus dem Konzentrationslager und trat privat eher gegen eine völlige Verdrängung der Polen aus dem Warthegau ein.11 Dies hinderte ihn freilich nicht daran, die neuen Möglichkeiten einer aktiven Beteiligung am NSBesatzungsregime voll auszureizen. Nach eingehender Prüfung wurde er nicht nur unter der Mitgliedsnummer 8.712.139 nach Antrag vom 19. Juli 1941 rückwirkend zum 1. Oktober 1940 in die NSDAP aufgenommen, sondern bereits am 9. November 1940 unter der Nummer 372.332 in die SS. Hier wurde er sogleich zum SS-Obersturmführer beim Stab des Abschnitts 42 befördert. Er wurde Mitglied der Reichsschrifttumskammer und ehrenamtlicher Stadtrat in Posen.12 Ferner wirkte er in der Kommission für die →Deutsche Volksliste in Posen mit. Angesichts seiner wissenschaftlichen Vorgeschichte lag es nahe, auch nach Verbindungen zur neu entstandenen →Reichsuniversität Posen zu suchen. Angesichts der dortigen Dominanz der Deutschbalten um →Reinhard Wittram sind solche Kontakte aber nur wenig sichtbar. Stattdessen wurde Lattermann unter maßgeblicher Einflussnahme zentraler Berliner Stellen mit zwei Preisen ausgezeichnet: zunächst 1941 mit dem Copernicus-Preis der vom Hamburger Kaufmann →Alfred C. Toepfer finanzierten →Johann Wolfgang Goethe-Stiftung für seine Verdienste um das Deutschtum im ehemaligen Polen, dann 1944 mit dem Clausewitz-Preis der Reichsuniversität Posen.13 Zweifel an der NS-Ideologie sind nicht überliefert. Anfang 1943 trat Lattermann aus der evangelischen Kirche aus.14 Er verließ Posen erst kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee im Januar 1945. Zuvor war noch zu seinem 50. Geburtstag eine von seinem Mitarbeiter Hans-Moritz Meyer, nach dem Krieg lange Jahre Direktor der Direktor der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, zusammengestellte Bibliographie aller seiner Veröffentlichungen vorbereitet worden.15 Westlich der Oder angekommen wurde Lattermann bald in die Wehrmacht eingezogen und kämpfte Anfang 1945 im belagerten Berlin. Bei einem Ausbruchsversuch kam er am 3. Mai 1945 als Leutnant der Reserve in Staaken ums Leben.16 Lattermann gehörte sicherlich nicht zu den Vordenkern der völkischen Wissenschaften, aber er war ein Netzwerker, bei dem viele Fäden der Minderheitenarbeit in Kultur und Forschung im Polen der Zwischenkriegszeit zusammenliefen und der

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sich auch im besetzten Polen während des Zweiten Weltkriegs ein gewisses Maß an Einfluss bewahren konnte. Er war wohl tatsächlich eher ein „Volks-Pragmatiker“ (Białkowski) als ein revolutionärer Eiferer. Trotz seiner Zusammenarbeit mit Planungs- und Verwaltungsgremien des nationalsozialistischen Staates ist ihm eine konkrete Beteiligung an dessen Verbrechen zumindest bisher nicht nachzuweisen. Dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass er mit seinen Arbeiten, etwa zur Sippenkunde, zu einer Verbreitung der NS-Ideologie beigetragen und das Besatzungsregime im Reichsgau Wartheland aktiv unterstützt hat.

Markus Krzoska

1 Als kurze biographische Skizze: Richard Breyer, Dr. Alfred Lattermann, ein führender Wissenschaftler unserer Volksgruppe, in: Jahrbuch Weichsel-Warthe 7 (1961), S. 90–93. 2 Beide Zitate Breyer, Dr. Alfred Lattermann S. 91. 3 BArch, R 9361-III, PA Lattermann 244-A, Bl. 0446. 4 Błażej Białkowski, Alfred Lattermann und Kurt Lück. Nationalsozialismus als doppelte Grenzerfahrung, in: Wolfgang Kessler (Hg. u.a.), Zwischen Region und Nation. 125 Jahre Forschung zur Geschichte der Deutschen in Polen, Osnabrück 2013, S. 129f. Die zweite Auflage des Stammbuchs erschien 1938 in Bromberg. 5 Ingo Eser, „Volk, Staat, Gott“. Die deutsche Minderheit in Polen und ihr Schulwesen 1918–1939, Lüneburg 2010, S. 612. 6 Horst-Dieter von Enzberg, Die Goetheschule in Graudenz und das deutsch-polnische Verhältnis (1920–1945), Lüneburg 1994. 7 Eike Eckert, Zwischen Ostforschung und Osteuropaforschung. Zur Biographie des Historikers Gotthold Rhode (1916–1990), Osnabrück 2012, S. 44–47. 8 Seine eigene Verschleppung hat L. nicht thematisiert. Verhaftung und Befreiung wurden dagegen in seinem Umfeld mystifiziert, etwa bei Breyer, S. 92. 9 Peter Vodosek (Hg. u.a.), Bibliotheken während des Nationalsozialismus. Bd. 1, Wiesbaden 1989, S. 5, Anm. 21. 10 Błażej Białkowski, Utopie einer besseren Tyrannis. Deutsche Historiker an der Reichsuniversität Posen (1941–1945), Münster 2011, S. 120–123. Lattermann schilderte seine Ziele am prägnantesten in einem Aufsatz aus dem Jahre 1940: Alfred Lattermann, Geschichte und Aufgaben der Staats- und Universitäts-Bibliothek Posen, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen (1940), S. 11–18. Zur Geschichte der UB aus polnischer Sicht: Jan Baumgart, Dzieje Biblioteki Uniwersyteckiej w Poznaniu w czasie drugiej wojny światowej (1939–1945), Kraków 1950. – Der wissenschaftliche Nachlass L.’s befindet sich in der Biblioteka Uniwersytecka w Poznaniu, Oddział Zbiorów Specjalnych. 11 Kazimierz Tymieniecki, Wspomnienia z jesieni 1939, Wrocław u.a. 1972, S. 290f.; Breyer, Dr. Alfred Lattermann, S. 92. 12 BArch, R 9361-III, PA Lattermann 244-A, ebd., R 9361-V/26719 Lattermann, Alfred, Dr. 13 Jan Zimmermann, Die Kulturpreise der Stiftung FVS 1935–1945. Darstellung und Dokumentation, Hamburg 2000, S. 525–538; Hans M. Meyer, Alfred Lattermann (1894–1945), in: Zeitschrift für Ostforschung 1 (1952) 3, S. 423–425. 14 BArch, R 9361-III, PA Lattermann 244-A, Bl. 1033–54. 15 Herder-Institut Marburg, Dokumentesammlung, DSHI 120 HiKoPosPol 002, Korrespondenz; Dr. Alfred Lattermann. Bibliographie seiner Veröffentlichungen zusammengestellt von Hans Moritz Meyer und Barbara-Maria Meyer-Marwan, mit einem Nachruf von H. M. Meyer und Richard Breyer, Augustdorf/Lippe 1948.

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16 Herder-Institut Marburg, Dokumentesammlung, DSHI 120 HiKoPosPol, Nl Joachim Heinrich Balde, Standesamt Berlin-Spandau an Hildegard Lattermann vom Juni 1946.

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Johann von Leers Johann von Leers wurde am 25. Januar 1902 als ältester Sohn eines Rittergutsbesitzers in Vietlübbe (Mecklenburg-Schwerin) geboren. Nach dem Tod seines Vaters 1917 musste er frühzeitig Verantwortung für den Familienbesitz übernehmen, der in der landwirtschaftlichen Krise schon vor dem Ersten Weltkrieg unter existenziellen Druck geraten war und in den 1920er-Jahren verloren ging. Gleichwohl gelang es ihm, unter großen Entbehrungen 1921 am Gymnasium Neustrelitz das Abitur abzulegen, in Kiel, Berlin und Rostock ein Jurastudium zu absolvieren und nach seiner Promotion 1926 als Attaché ins Auswärtige Amt einzutreten.1 Die Ausbildung brach er allerdings 1928 vorzeitig ab, weil seine „offen judenfeindliche Gesinnung“, wie er später behauptete, ihm dort die Arbeit erschwert habe.2 Schon während des Studiums war er einige Zeit ins Milieu der rechtsradikalen Freikorps eingetaucht und im „Grenzlandkampf“ in Oberschlesien aktiv. Am 1. August 1929 trat von Leers der NSDAP bei. Als „betonter Sozialist“ positionierte er sich zunächst an der Seite der nationalsozialistischen Linken im Umfeld der Gebrüder Strasser.3 Seine rhetorische Begabung und sein schriftstellerisches Talent verhalfen ihm zu einem raschen Aufstieg als Versammlungsredner, vor allem in Berlin und Brandenburg, und als Journalist der von Joseph Goebbels herausgegebenen Zeitung „Der Angriff“. Auf diese Periode reichen auch die Ursachen seiner späteren Kontroversen mit prominenten Parteigrößen zurück. Von Leers lebte, wie er 1936 anlässlich seiner Aufnahme in die SS erklärte, seit seiner Kindheit und Jugend „in völkischen Gedanken“.4 Prägende Eindrücke vermittelte ihm der →Antisemitismus des 1893 gegründeten Bund der Landwirte (BdL), dessen Agitatoren die traditionelle Abneigung auf dem Land gegen die Handel treibenden Juden rassisch-völkisch umformten.5 Der Führer dieser Interessenorganisation, der Reichstagsabgeordnete Gustav Roesicke, gehörte zu den regelmäßigen Besuchern der Familie. Schon als Schüler sei er zudem „ein unermüdlicher Sucher und Forscher“ gewesen, wie er 1933 in einer offiziösen Kurzbiografie über sich verbreiten ließ.6 In dieser Zeit entwickelte sich sein Interesse an historischen und volkskundlichen Stoffen. Seine weltanschaulichen Überzeugungen verdankte er darüber hinaus der Begegnung mit einer Reihe von Ideologen, die er zu Erweckungserlebnissen stilisierte. Von Leers sah sich in der Tradition von Theodor Fritsch stehen, dessen „Handbuch der Judenfrage“ er Mitte der 1930er Jahre fortführte. Darüber hinaus orientierte sich von Leers in Stil und Technik am „Frankenführer“ Julius Streicher, dem er eine seiner Schriften widmete. In Richard Walther Darré und →Hans F.K. Günther, vor allem aber in dem Laienforscher →Herman Wirth, erkannte er ernstzunehmende Wissenschaftler und „Propheten“ einer verheißungsvollen Zukunft. Dazu förderte von Leers die Verbreitung ihres Gedankengutes und synthetisierte Versatzstücke ihrer Ansichten zu einem dualistischen Weltbild, das die Urheber aller politischen Krisen und gesellschaftlichen Verwerfungen und damit auch des eigenen Scheiterns auf ein imaginäres „Weltjudentum“ projizierte. In dieser

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Konstellation schienen Rettung und Erlösung nur in einem siegreichen „Endkampf“ gegen diesen „Weltfeind“ möglich. Diesem Ziel verschrieb sich auch der antisemitisch akzentuierte →Bund Völkischer Europäer (BVE), zu dessen Gründungsmitgliedern von Leers 1934 zählte. Sein Bruch mit dem Christentum, das ihm „wegen seiner jüdischen Grundlagen“ „in tiefster Seele verhasst“7 sei, führte ihn in die völkischreligiöse Bewegung der 1930er Jahre. 1933/34 gehörte er dem „Führerrat“ der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung (ADG) an, in der sich deutschgläubige und neuheidnische Gemeinschaften zusammengeschlossen hatten. Als Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Germanische Ur- und Vorgeschichte und als Herausgeber der Zeitschrift „Nordische Welt“, die von 1933 bis 1937 erschien, war er darum bemüht, Wirths Theorien zu popularisieren. Von Leers, der in der SS den Rang eines Sturmbannführers hatte, hinterließ ein kaum überschaubares Œuvre dutzender Bücher, hunderter Aufsätze und tausender Zeitungsartikel. Einige seiner Schriften hatten zeitweilig kanonischen Charakter für die nationalsozialistische Weltanschauung. Ein 1935 aufgelegtes „Verzeichnis wertvoller Bücher für den SS-Mann“ des Rasse- und Siedlungs-Hauptamtes empfahl in den Rubriken „Blut und Boden“ und „Des deutschen Volkes Feinde“ seine Bücher der Lektüre.8 In einem Grundlagenwerk, in dem Reichskanzlei und Reichsministerium des Innern durch prominente Nationalsozialisten „Aufbau und Wirtschaftsordnung des nationalsozialistische Staates“ darstellen ließen, stand die von ihm verfasste „Rassengeschichte des Deutschen Volkes“ im Kapitel über die weltanschaulichen Grundlagen des Nationalsozialismus neben Aufsätzen von Rosenberg, Himmler und Darré.9 Für das Schulungsorgan der SS, das „Leitheft“, war er von Anbeginn an einer der wichtigsten Autoren.10 Gleiches gilt für „Odal“, die Zeitschrift des Reichsnährstandes. Kennzeichen seiner Schriften bis 1945 waren die Idealisierung eines an Boden und Scholle gebundenen und rassisch gereinigten Bauerntums sowie ein aggressiver und paranoider Antisemitismus. Von Leers bediente sich dabei gängiger antisemitischer Stereotype und Klischees. Dazu gehörten Verschwörungstheorien, die den „Protokollen der Weisen von Zion“ entlehnt waren, wobei er den Einfluss und die Macht des imaginären „Weltjudentums“ zu belegen suchte. Außerdem griff er die Ritualmordpropaganda in der Tradition des mittelalterlichen Antisemitismus auf und unterstellte einen kriminellen Charakter des Judentums. Diese Sujets variierte er in zahlreichen Traktaten von 1933 bis 1944.11 Durch seine zahlreichen Beiträge in Tageszeitungen, regelmäßige Rundfunkansprachen, Bücher und Aufsätze gehörte er bis Frühjahr 1945 zu den weithin vernehmbaren Stimmen der nationalsozialistischen Propaganda. Seine Bedeutung als Wissenschaftler dagegen blieb marginal. Das monumentale Werk „Odal“ aus dem Jahr 1936, eine universalgeschichtliche Darstellung auf mehr als 700 Seiten, die den „nordischen bäuerlichen Menschen“ zum Träger der „körperlichen und seelischen Erbwerte der deutschen Nation“ erhob und dem im September 1933 verabschiedeten Reichserbhofgesetz als „Lebensgesetz eines ewigen Deutschland“ die rassenideologische Begründung geben sollte, entstand als

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Auftragsarbeit Darrés, der selbst Korrekturen an dem Manuskript vorgenommen hat. Auf eine Initiative des Reichsstandes des deutschen Handwerks ging die nicht weniger voluminöse Schrift „Das Lebensbild des deutschen Handwerks“ aus dem Jahr 1938 zurück, die im Handwerker den „Träger einer arteigenen Wirtschaftsethik und eines arteigenen Wirtschaftsrechts“ erkannte.12 Der Protektion des Reichsbauernführers, mehr aber noch Himmlers und des Thüringer Gauleiters Fritz Sauckel, verdankte von Leers schließlich seine Hochschullaufbahn. Nachdem er von 1933 bis 1935 als Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin gewirkt hatte, wo ihn seine prorussische Haltung in Konflikt unter anderem mit Goebbels und Rosenberg brachte, wurde von Leers im Herbst 1936 zunächst Lehrbeauftragter und im März 1940, trotz fehlender Habilitation, ordentlicher Professor an der Universität Jena. Die Berufung dorthin war nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass die Hochschule in diesem „Mustergau“ zu einer nationalsozialistischen Vorzeigeuniversität umgestaltet werden sollte, in der Wissenschaft, Weltanschauung und Politik eine enge Verbindung eingingen. In den folgenden Jahren tat sich von Leers vor allem mit Arbeiten zur Bauern- und Agrargeschichte hervor, die er als Forschungsschwerpunkte reklamierte. Dies führte unweigerlich zu Spannungen mit dem seinerzeit noch in Jena lehrenden →Günther Franz, der als dominierender Historiker auf dieses Gebiet einwirkte. Einen zweiten Schwerpunkt bildete die von ihm betriebene →„Judenforschung“, deren Richtung er bereits in seiner ersten Übung im Wintersemester 1936/37 unter dem Titel „Das Judentum in der deutschen Geschichte vom Ausgang des Dreißigjährigen Krieges bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, insonderheit seine Kriminalität“ skizziert hatte. Trotz zahlreicher Publikationen und interdisziplinärer Initiativen wie etwa einer Ringvorlesung „Die Judenfrage“ im Sommersemester 1943, die ihren Zuhörern in ihrer Ankündigung eine Ahnung von der Dimension, die der Völkermord angenommen hatte, vermittelte13, wurde Jena allerdings kein Zentrum der „Judenforschung“, das mit außeruniversitären Einrichtungen konkurrieren konnte, wie sie sich in Frankfurt am Main (→Institut zur Erforschung der Judenfrage), München (→Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands), Berlin (Institut zum Studium der Judenfrage) oder Eisenach (→Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben) etablierten.14 Nach 1945 blieb von Leers fest in seiner nationalsozialistischen Weltanschauung verhaftet. Nachdem er zu Kriegsende von amerikanischen Truppen interniert worden war, gelang ihm Ende 1946 die Flucht aus dem Lager Darmstadt. Von Leers tauchte in die Illegalität ab und lebte unter falschem Namen mit seiner Familie in der Nähe von Bonn. Bereits in dieser Zeit knüpfte er Kontakte zu früheren Gesinnungsgenossen und begann sich mit dem Gedanken zu tragen, das Land zu verlassen. 1950 siedelte er nach Buenos Aires über, wohin zahlreiche frühere Nationalsozialisten geflüchtet waren. Dort zählte er zu den maßgeblichen Autoren der seit 1946 im Dürer-Verlag verlegten Monatsschrift „Der Weg“, die völkischen Literaten und Wissenschaftlern ein Forum bot. Bis 1957 publizierte er mehr als 100 Beiträge,

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die in Diktion und Inhalt seinen früheren Schulungsartikeln im Geiste der SS entsprachen.15 Daneben veröffentlichte er unter verschiedenen Pseudonymen (Hans Euler, Felix Schwarzenborn, Gordon Fitzstuart und Kai Jensen) Aufsätze in Organen völkischer und rechtsextremer Organisationen in der Bundesrepublik Deutschland und im Ausland. Der Niedergang des Peronismus und die Insolvenz der Zeitschrift „Der Weg“, deren Vertrieb in der Bundesrepublik durch strafrechtliche Ermittlungen zunehmend erschwert wurde, zwangen von Leers, sich nach neuen Auftraggebern umzusehen. Seine langjährige Verbindung zu arabischen Nationalisten aus dem Umfeld des Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, mit denen er seit den 1930er Jahren in Verbindung gestanden hatte und die nach 1945 unter anderem in Staaten der Arabischen Liga Karriere gemacht hatten, ermöglichten es ihm, 1956 seinen Wohnsitz nach Kairo zu verlegen. Dort konvertierte er zum Islam und wirkte zeitweise als Übersetzer im Dienst der antiisraelischen und antizionistischen Propaganda Ägyptens. Daneben versuchte er sich als Publizist, Literaturagent und Verleger vor allem von Geschichtsrevisionisten. Seine Kontakte zu Antisemiten weltweit ließen ihn allerdings auch ins Blickfeld des Bundesnachrichtendienstes geraten. Über einen Mittelsmann, der seinen Auftrag nicht zu erkennen gab, nahm der westdeutsche Geheimdienst in dieser Zeit mit von Leers Kontakt auf. Unter den Tarnnamen „Nazi Emi“ und „Hannes“ wurde er gleich zweimal als „Politische Quelle“ registriert. Die Informationen, die auf diesem Weg nach Pullach gelangten, dürften sich jedoch als weitgehend wertlos erwiesen haben. Zwei Herzinfarkte, die von Leers 1958 erlitten hatte, zeichneten ihn nicht nur körperlich. Auch seine Gedankenwelt war zunehmend der Wirklichkeit entrückt. Die uferlosen Korrespondenzen und zahlreiche skandalisierende Presseartikel, die von Leers zur zentralen Figur einer „antisemitischen Internationale“ mit Sitz in Kairo erklärten, können deshalb nicht darüber hinwegtäuschen, dass er die letzten Lebensjahre in finanziell prekären Verhältnissen und weitgehender Isolation verbrachte.16 Von Leers starb am 5. März 1965 in Kairo. Sein Leichnam wurde in die Bundesrepublik überführt und in Süddeutschland beerdigt.

Martin Finkenberger

1 Johann-Jakob von Leers, Die Werkwohnung in der Gesetzgebung (Diss. Jur.), Rostock 1925. 2 BArch, BDC, SSO, Lebenslauf vom 22.6.1936. 3 Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA), Nl Hans Grimm, Johann von Leers an Hans Grimm vom 21.6.1932. 4 BArch, BDC, SSO, Lebenslauf vom 22.6.1936. 5 Zur Agitation des BdL vgl. Elke Kimmel, Methoden antisemitischer Propaganda im Ersten Weltkrieg. Die Presse des Bundes der Landwirte, Berlin 2001; Volkov Shulamit, Kontinuität und Diskontinuität im deutschen Antisemitismus 1878–1945, in: VfZ 35 (1985) 2, S. 221–243, 231. 6 Baldur von Schirach, Die Pioniere des Dritten Reiches, Essen 1933, S. 142–143. 7 Sonderarchiv Moskau (RGVA), Fond 1283, Opis 1, Nr. 12, Bl. 190, Johann von Leers an Walter Kellerbauer vom 24.7.1943.

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8 Rasse- und Siedlungs-Hauptamt SS (Hg.), Verzeichnis wertvoller Bücher für den SS-Mann, Berlin 1935. 9 [Johann] von Leers, Rassengeschichte des Deutschen Volkes, in: H[ans] H[einrich]Lammers /Hans Pfundtner (Hg.), Grundlagen, Aufbau und Wirtschaftsordnung des nationalsozialistischen Staates, Bd. 1, Berlin 1936. 10 Hans-Christian Harten, Himmlers Lehrer. Die Weltanschauliche Schulung in der SS 1933–1945, Paderborn 2014, S. 422. 11 Es handelt sich um Titel wie „14 Jahre Judenrepublik. Die Geschichte eines Rassen-Kampfes“ (1933), „Juden sehen Dich an“ (1933), „Die Kriminalität des Judentums“ (1936), „Judentum und Gaunertum – Eine Wesens- und Lebensgemeinschaft“ (1940), „Juden hinter Stalin“ (1941), „Kräfte hinter Roosevelt“ (1942) oder „Die Verbrechernatur der Juden“ (1944). 12 Johann von Leers, Odal. Das Lebensgesetz eines ewigen Deutschlands, Goslar 19362; ders., Das Lebensbild des deutschen Handwerks, München 1938. 13 UA Jena, Bestand BA, Nr. 2120, Bl. 179, Einladungsplakat mit dem Hinweis, die „Judenfrage“, die im Reich „weitgehend gelöst sei“, habe sich im Krieg zu einer „Weltfrage“ entwickelt, in der „einer von beiden (…) auf der Strecke bleiben“ müsse – und „wir dürfen es nicht sein“. 14 Vgl. Uwe Hoßfeld (Hg. u.a.), „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln u.a. 2003; Steffen Raßloff, Der „Mustergau“. Thüringen zur Zeit des Nationalsozialismus, München 2015; Laurenz Müller, Diktatur und Revolution. Reformation und Bauernkrieg in der Geschichtsschreibung des „Dritten Reiches“ und der DDR, Stuttgart 2004. 15 Vgl. Holger M. Meding, „Der Weg“. Eine deutsche Emigrantenzeitschrift in Buenos Aires 1947– 1957, Berlin 1997; ders., Flucht vor Nürnberg? Deutsche und österreichische Einwanderung in Argentinien 1945–1955, Köln u.a. 1992; Gerald Steinacher, Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen, Innsbruck 2008. 16 Vgl. Martin Finkenberger, Tarnname „Nazi Emi“ und „Hannes“, in: Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies 8 (2014), S. 23–29; ders., Johann von Leers und die „faschistische Internationale“ der fünfziger und sechziger Jahre in Argentinien und Ägypten, in: ZfG 59 (2011), S. 522–543. Vgl. auch Marco Sennholz, Johann von Leers. Ein Propagandist des Nationalsozialismus, Berlin 2013.

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Emil Lehmann Einer der wichtigsten organisatorischen und publizistischen Protagonisten der sudetendeutschen völkischen Bewegung der Zwischenkriegszeit war neben dem Germanisten →Erich Gierach der Lehrer, Volkskundler und „Volksbildner“ Emil Lehmann. Seine Biographie, zu der in den vergangenen Jahren einige Detailstudien erschienen sind, wenngleich noch immer manche Zusammenhänge ungeklärt bleiben, war geprägt von einer engen Verflechtung von völkischer Politik, Verbandswesen, Wissenschaft und Pädagogik von der Endphase Österreich-Ungarns bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Emil Lehmann kam am 18. November 1880 im nordböhmischen Turn/Trnovany in der Nähe von Teplitz-Schönau/Teplice als Sohn des Baumeisters Anton Lehmann und dessen Frau Anna, geb. Hübner, zur Welt. Auf den Besuch der Volksschule Turn folgte die Gymnasialzeit in Teplitz-Schönau. Anschließend studierte Lehmann Germanistik, Klassische Philologie und Philosophie an der Deutschen Universität Prag. Zu den ihn dort prägenden Hochschullehrern zählten der Volkskundler Adolf Hauffen (1863–1930) und der Germanist August Sauer (1855–1926). Ein Semester studierte er ferner jeweils in Berlin und in Heidelberg. In Prag/Praha wurde Lehmann 1903 mit einer Arbeit über Hölderlins Lyrik zum Dr. phil. promoviert. Ab 1906 wirkte er im Schuldienst, 1906–1908 als Mittelschullehrer in Graz, zwischen 1908 und 1928 als Gymnasialprofessor an unterschiedlichen Orten (1908–1922 Landskron/Lanškroun, 1922–1923 Aussig/Ústí nad Labem, 1923–1926 Teplitz-Schönau, 1926–1928 Landskron). Bereits in jungen Jahren war Emil Lehmann als militäruntauglich eingestuft worden und hatte somit während des Ersten Weltkriegs Zeit, in seinem Wirkungsgebiet, dem Schönhengstgau/Hřebečsko, volkskundliche Forschungen zu betreiben. Auf diese Weise entstanden die Schriften Landskroner Hauspforten (1918), Landskroner Hausgiebel (1918), das Landskroner Urkundenbuch (1920), das Landskroner Heimatbuch (1920) und das Landskroner Gemeindebuch (1920). Emil Lehmann war bereits frühzeitig im rechtskonservativen und später faschistischen Parteienspektrum sozialisiert. Zwischen 1908 und 1918 gehörte er der Deutschradikalen Partei an, einer Vorläuferorganisation der nationalsozialistischen Bewegung. Ab 1909 unterstützte er den deutschnationalen Politiker Karl Hermann Wolf (1862–1941) in dessen Wahlkreis Landskron. Im Jahre 1912 kandidierte er selbst erfolgreich für einen Sitz in der Stadtvertretung in Landskron. Schon in seinen Kleinschriften Die deutschen Schutzvereine und der Dürerbund (1913), Deutschösterreich in Mitteleuropa (1915) und Deutsches Volkstum auf Vorposten (1918) bezog er Stellung im Sinne einer großdeutschen Ideologie, die von einem Dominanzverhältnis der Deutschen gegenüber ihren Nachbarvölkern und dem Vereinigungsstreben aller deutschsprachigen Bewohner Zentraleuropas in einem einzigen Reich ausging.

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Nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie stand Lehmann dem Deutschen Nationalrat in Stadt und Land Landskron vor. Außerdem engagierte er sich in der so genannten Böhmerlandbewegung, die auf Initiative ehemaliger Wandervögel nationalkonservative, deutschnationale und nationalsozialistische Kräfte zusammenführte und ab 1918 maßgeblichen Einfluss auf die sudetendeutsche Volksgruppenideologie ausübte. So war er auch an der Formulierung der „Schreckensteiner Leitsätze“ am 6. Januar 1919 beteiligt.1 Auf Veranlassung der Bezirkshauptmannschaft Landskron, des böhmischen Landesschulrats und des Ministeriums für Schulwesen und Volksbildung wurde er von Mai 1919 bis September 1920 aus dem Staatsdienst suspendiert. Allerdings war er auch in jener Zeit mit den Lehrern Alois Bernt (1871–1945) und Karl Weps (1882–?) an der Redaktion mehrerer Schullehrbücher für den Deutschunterricht an Mittelschulen beteiligt. In der Zwischenzeit war er in die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (DNSAP) eingetreten, als deren Spitzenkandidat im Wahlkreis Pardubitz/Pardubice er bei den ersten tschechoslowakischen Parlamentswahlen antrat. Da die DNSAP bei einem Gesamtstimmenanteil von 5,5% nur fünf Mandate errang, blieb ihm der Einzug in die Nationalversammlung verwehrt. Erfolg hatte er allerdings als Kommunalpolitiker, da er zum Bürgermeisterstellvertreter in Landskron gewählt wurde. Das nach 1918 gesteigerte politische Engagement ging bei Lehmann mit einem Anstieg organisatorischer, publizistischer und konzeptioneller Arbeiten einher. Eine Summe seiner volkskundlichen Bemühungen stellte die 1926 im Leipziger Verlag Quelle & Meyer veröffentlichte Sudetendeutsche →Volkskunde dar. Darin sah Lehmann selbst noch die „Sudetendeutschen“ als „politische Zwangszusammenfassung von Randzweigen mehrerer deutscher Stämme“ an.2 Dementsprechend präsentierte er die alltagskulturellen Ausprägungen in ihren regional-stammlichen Einzelausprägungen. Allerdings beteiligte er sich seit dem Ende der 1920er Jahre selbst aktiv daran, die bewusste Herausbildung eines eigenständigen „sudetendeutschen Stammes“ mit zu konstruieren.3 Ein zentrales Betätigungsfeld war dabei für ihn die Volksbildung, die für ihn nicht nur ein pädagogisches Konzept darstellte, sondern auch die Aspekte der „Volkserhaltung“ und der „Volksentfaltung“ mit umfasste.4 Bereits im September 1911 hatte er auf dem in Aussig veranstalteten 2. Bundestag des von Gustav Rösler aus Reichenberg gegründeten Neudeutschen Kulturbunds in Österreich für „Die völkische Erziehung der schulentlassenen Jugend“ plädiert. Seiner Ansicht nach stehe es am besten „um die Söhne von Landwirten, die der väterlichen Zucht auch nach der Schule unterworfen“ seien, „weniger gut um die Lehrlinge im Handwerke, am schlechtesten um die jungen Industriearbeiter“, derer sich „die nationalen Jugendvereine, Turnvereine usw.“ besonders annehmen sollten.5 An diese ersten Überlegungen knüpfte er nach 1918 an. Gemeinsam mit dem vor allem im Böhmerwald aktiven Lehrer Josef Blau (1872–1960) redigierte er zwischen 1919 und 1932 die Zeitschrift Heimatbildung. Sie wurde zu einer bedeutenden Kommunikationsplattform für unterschiedlichste Akteure der Volksbildung. Daneben beteiligte sich Lehmann aktiv als Dozent an zahlreichen Volkshochschul- und Som-

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merkursen, sowohl in der Tschechoslowakei als auch in Österreich und im Deutschen Reich. Während eines „Heimatbildungskurses“ im slowakischen Käsmark/ Kežmarok im August 1921 trug Lehmann nicht unbeträchtlich zur Formierung einer Kollektividentität der Slowakeideutschen als „Karpatendeutsche“ bei. Am 29. Mai 1924 zählte er zu den Initiatoren des in Aussig gegründeten Deutschen Verbands für Heimatforschung und Heimatbildung; dessen Vorsitz übernahm zwar der Aussiger Stadtarchiv und Lehrer Franz Josef Umlauft (1883–1960), doch blieb Lehmann auch hier die graue Eminenz. Am Rande eines Sommerkurses der →Deutschen Burse in Marburg im August 1925 entstanden unter dem bestimmenden Einfluss Lehmanns die „Leitsätze gestaltender Volkserziehung“, kurz auch „Marburger Leitsätze“. Sie strebten nach einer Vereinigung der „Grenzlanddeutschen“ mit den „Binnendeutschen“, indem erzieherische Maßnahmen dafür ein Bewusstsein schaffen sollten.6 Mit anderen prominenten Vertretern der sudetendeutschen völkischen Bewegung gehörte Lehmann dem Sonderausschuss des Verbandes der deutschen Selbstverwaltungskörper in der Tschechoslowakischen Republik für das gesamte Volksbildungswesen an. 1928 schied Lehmann aus dem Schuldienst aus und ließ sich in Reichenberg/Liberec nieder, wo er als Geschäftsführer der Gesellschaft für deutsche Volksbildung tätig wurde. Diese Position wurde vom VDA und dem Deutschen Ausland-Institut mitfinanziert.7 Sie war damit Teil jener Minderheitenpolitik der Weimarer Republik, die auf eine enge Anbindung „volksdeutscher“ Gruppen an Deutschland abzielte. In dieser Funktion wandelte Lehmann ab 1932 das Jugendheim der Textilfirma Liebig in das „Volksbildungshaus Goetheheim“ um. Es funktionierte sowohl als Volkshochschule als auch als Umschlagplatz völkischen Gedankenguts und wurde im Rahmen einer „Sudetendeutschen Goethe-Woche“ eröffnet. Lehmann führte dort unter anderem eine Reihe von Fortbildungsveranstaltungen für Akteure aus dem sudetendeutschen völkischen Milieu durch. Er galt zu jener Zeit bereits als unbestrittener „Führer der neueren, selbständigen Volksbildungsbewegung der Sudetendeutschen“8 Das von ihm 1931 herausgegebene Handbuch der sudetendeutschen Volksbildung wurde zum wichtigsten Kompendium deutscher völkischer Institutionen auf dem Gebiet der Tschechoslowakischen Republik und ist heute eine unerlässliche historische Quelle für das ansonsten nur schwer verständliche Dickicht an Organisationen, Strukturen und Verbänden. Nach der Selbstauflösung und dem Verbot der DNSAP im Herbst 1933 schloss sich Lehmann wie viele ehemalige sudetendeutsche Nationalsozialisten der neuen Sudetendeutschen Heimatfront Konrad Henleins an, die sich 1935 in Sudetendeutsche Partei (SdP) umbenannte. Lehmanns politisches Engagement wurde ab 1933 zu einem Objekt juristischer Auseinandersetzungen. Eine Anklage im Jahre 1935 bezog sich auf eine Gedichtsammlung, die nach §14/1 des „Gesetzes zum Schutz der Republik“ den Straftatbestand der „Störung der öffentlichen Ordnung“ erfüllte.9 Neben allen übrigen Aktivitäten beteiligte sich Emil Lehmann immer wieder auch als

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laienhafter Heimatlyriker. Eine Hausdurchsuchung im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen den rechtsextremen Jugendbund „Bereitschaft“ ergab bei Lehmann einen regen Schriftverkehr mit dem VDA und dem →Deutschen Ausland-Institut in Stuttgart sowie weiteren völkischen Institutionen im Deutschen Reich. Im so genannten Patscheider-Prozess, benannt nach dessen Hauptangeklagtem, dem Troppauer Lehrer Richard Patscheider (1883–1971), wurde er am 24. März 1936 zu zwei Jahren schweren Kerkers verurteilt. Er nutzte im Mai 1936 die Freilassung aus der Untersuchungshaft gegen eine Kaution von 15.000 kč. und die Unterstützung seines ehemaligen Parteigenossen Hans Krebs (1888–1947) zur Flucht ins Deutsche Reich und ließ sich in Dresden nieder, wo er eine Dozentur an der Hochschule für Lehrerbildung und eine Honorarprofessur an der Technischen Hochschule erhielt. Der Umzug Lehmanns und weiterer sudetendeutscher Nationalsozialisten ins Deutsche Reich wurde übrigens von dem langjährigen Weggefährten Rudolf Lochner mit antisemitischer Emotion als „willkommener Ersatz für artfremdes Blut […], das wir ausbürgern mußten“, gefeiert.10 In Dresden war Lehmann weiterhin auch publizistisch für die „Volkserziehung“ tätig.11 Den „volkscharakterologischen“ Studien aus jenen Jahren attestierte Petr Lozoviuk eine eindeutig „rassistisch wertende Haltung den Tschechen gegenüber“. Mit Hans Krebs verfasste er für die im Berliner Runge-Verlag publizierte Reihe deutscher Stämme die populäre Monographie „Wir Sudetendeutsche!“ (1938). Nach der deutschen Annexion der tschechoslowakischen Randgebiete und der Errichtung des Reichsgaus Sudetenland blieb Lehmann in Dresden, konnte aber wieder seine früheren Wirkungsorte besuchen. Im bereits erwähnten Goetheheim in Reichenberg eröffnete 1940 die von der Gauleitung des Reichsgaus Sudetenland betriebene →Sudetendeutsche Anstalt für Landes- und Volksforschung als Nachfolgeinstitution der 1925 gegründeten Anstalt für Sudetendeutsche Heimatforschung ihre Tätigkeit. Emil Lehmann gehörte deren Kommission für Volkskunde an und erhielt noch im selben Jahr die „Ackermann-Medaille“ verliehen. Die →Stiftung F.V.S. in Hamburg zeichnete Emil Lehmann im Jahre 1943 mit dem Joseph-Freiherr-von-Eichendorff-Preis aus, der dem „Deutschtum im Sudetenland, in Böhmen, Mähren und der Slowakei“ galt.12 Im darauffolgenden Jahr kam noch im Burgverlag in Krakau/Kraków seine Schrift „Die Bedeutung der Volksforschung im deutsch-slawischen Grenzraum“ heraus. Mit dem Kriegsende wurde Emil Lehmann 1945 pensioniert. Er blieb in der SBZ/DDR, obwohl die Deutsche Verwaltung für Volksbildung in der SBZ einige seiner Publikationen 1946 in die „Liste der auszusondernden Literatur“ aufgenommen hatte, und lebte bis zu seinem Tod am 22. August 1964 in Dresden-Loschwitz. Der in Graz geborene Sohn Ernst Lehmann (1906–1990) studierte Theologie und wurde Pastor, zuletzt in Friedland in Böhmen. Er engagierte sich nach 1945 nicht nur in diversen Vertriebenenorganisationen, unter anderem dem völkischen Witikobund, sondern pflegte auch das publizistische Erbe seines Vaters, indem er dessen mit Hans Krebs verfasste Monographie „Wir Sudetendeutsche!“ unter dem Titel Sudetendeutsche Landeskunde (1992) neu auflegte, unter anderem gekürzt um einige

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antisemitische Passagen. Im Jahre 1978 hatte bereits der Verlag Wolfgang Weidlich die Sudetendeutsche Volkskunde von 1925 als Reprint neu publiziert. Damit lebt Emil Lehmans ungetrübtes Andenken in den einschlägigen Milieus bis zum heutigen Tage fort. Es verwundert daher nicht, dass in Veröffentlichungen der Sudetendeutschen Landsmannschaft und des Ostdeutschen Kulturrats Emil Lehmann noch immer als vorbildliche Figur präsentiert wird, die „erhebliche Schikanen durch die tschechische Staatsmacht“ zu erleiden gehabt habe.13

Tobias Weger

1 Vgl. Mirek Němec, Emil Lehmann und Anton Altrichter. Zwei deutsche Erzieher aus der Tschechoslowakei, in: Stefan Albrecht/Jiří Malíř/Ralph Melville, Die „sudetendeutsche Geschichtsschreibung“ 1918–1960. Zur Vorgeschichte der Historischen Kommission der Sudetenländer, München 2008, S. 151–166; Tobias Weger, Großschlesisch? Großfriesisch? Großdeutsch! Ethnonationalismus in Schlesien und Friesland, 1925–1945. München 2017, S. 200f. 2 Emil Lehmann, Sudetendeutsche Volkskunde, Leipzig 1926, S. 3. 3 Vgl. Al[ois] Mühlberger, Prof. Dr. Emil Lehmann. Der Geist des schlesischen Sudetendeutschtums, in: Ostböhmische Heimat 2 (1927), S. 237; Petr Lozoviuk, Identitätskonstruktionen in der Zwischenkriegs- und Kriegszeit. Zu den ‚volkscharakterologischen‘ Konzepten Emanuel Chalupnýs und Emil Lehmanns, in: Beate Störtkuhl (Hg. u.a.), Aufbruch und Krise. Das östliche Europa und die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg, München 2010, S. 435–445. 4 R[udolf] Lochner, Emil Lehmann. Zum fünfzigsten Geburtstage des sudetendeutschen Volksbildners, in: Reichenberger Zeitung, Nr. 269, 16.11.1930, S. 24f. 5 Vgl. Neudeutscher Kulturbund in Österreich. Aussig, 10. September. In: Reichenberger Zeitung, Nr. 216, 12.9.1911, S. 4f. 6 Vgl. Weger, Großschlesisch?, S. 217. 7 Vgl. Mirek Němec, Erziehung zum Staatsbürger? Deutsche Sekundarschulen in der Tschechoslowakei, Essen 2010, S. 136. 8 R[udolf] Lochner, Emil Lehmann. Zum fünfzigsten Geburtstage des sudetendeutschen Volksbildners, in: Reichenberger Zeitung, Nr. 269, 16.11.1930, S. 24f. 9 Vgl. Aus dem Gerichtssaale. Staatsgefährliche autobiographische Gedichte. Professor Emil Lehmann unter Schutzgesetzanklage, in: Reichenberger Zeitung, Nr. 143, 19.6.1935, S. 5. 10 Vgl. Rudolf Lochner, Emil Lehmann. Ein Grenzlandkämpfer und völkischer Erzieher der Deutschen, in: Neue Bahnen, in: Zeitschrift der Reichsfachschaft IV (Volksschule) im NSLB Leipzig 48 (1937), S. 50–55. 11 Vgl. Emil Lehmann, Das alles heißt sudetendeutsch, in: Die Mittelschule, Nr. 34, 19.10.1938, S. 368f. 12 Vgl. Jan Zimmermann, Die Kulturpreise der Stiftung F.V.S., 1935–1945. Darstellung und Dokumentation. Hamburg 2000, S. 303. Die weiteren Preisträger waren: 1935 der Schriftsteller Gustav Leutelt, 1937 der Bildhauer Wilhelm Srb-Schloßbauer, 1938 der Germanist Herbert Cysarz, 1939 der Schriftsteller Hans Watzlik, 1940 der Komponist Felix Petyrek, 1941 der Musikpädagoge und Volksliedforscher Walther Hensel, 1942 der Germanist Erich Gierach. 13 Vgl. Lehmann, Emil. Volksforscher, Schriftsteller, in: (15.12.2016).

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Georg Leibbrandt Historische Evidenz legte den Grundstein für Georg Leibbrandts direkte Einbindung und in die Entscheidungsprozesse für die Endlösung 1942. In dem entscheidenden Zeitraum von Ende 1941 bis 1942 bewies er Initiative zur „Endlösung der Judenfrage“. Als deutscher Emigrant aus der Ukraine besaß er enge Kontakte zu Vertretern der auslandsdeutschen Gemeinden, die er in seinen zahlreichen administrativen Funktionen in der NS-Bürokratie für den Rassenimperialismus und den Massenmord ausspielen konnte. Während des Zweiten Weltkrieges spielte er eine wichtige Rolle als hoher Beamter der Politischen Hauptabteilung von Alfred Rosenbergs →Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete (RMO). In dieser Funktion leitete er politische Entscheidungen mit ein, die zur Vernichtung der osteuropäischen Juden beitrugen. Er nahm am 20. Januar 1942 an der Wannsee-Konferenz in Berlin teil, die formal die „Endlösung“ einleitete. Zwischen 1941 und Sommer 1943 war ihm das etwa 80-köpfige Sonderkommando →Karl Stumpp unterstellt, welches in der besetzten Westukraine von seinem engen Freund und ebenfalls aus der Ukraine stammenden Stumpp geleitet wurde.1 Georg Leibbrandt wurde 1899 in dem deutsch-lutheranischen Dorf Hoffnungsfeld in der Nähe von Odessa geboren. Er besuchte die dortige kirchliche Grundschule und die höhere Schule in der Nachbargemeinde Hoffnungstal. 1919 beendete er seine zweite Ausbildung in Dorpat und Odessa und reiste 1920 infolge des russischen Bürgerkriegs nach Deutschland, um sein Studium der Theologie, Philosophie, Geschichte und Ökonomie an den Universitäten Tübingen und Leipzig aufzunehmen. Nach seiner Promotion 1927 studierte er internationales Recht und international Beziehungen an der Sorbonne in Paris und an der London School of Economics. Die Leipziger Universität bot ihm mit der Assistenz am berühmten Institut für Kultur- und Universalgeschichte eine wichtige Ergänzung seiner Qualifikation an. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützte sein Projekt über die Russlanddeutschen. Seine russischen Archivunterlagen nutzend, publizierte Leibbrandt 1926/27 Berichte seiner Reise durch die UdSSR einschließlich eines kleinen Buches über deutsche Emigranten. Zwischen 1929 und 1931 arbeitete er im Reichsarchiv Potsdam. Im Anschluss daran setzte er mit einem durch die →Leipziger Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung vermittelten Stipendium der →Rockefeller Foundation seine Forschungen in der Schweiz, in Frankreich, Kanada und den USA fort. Während dieser Zeit als Rockefeller Stipendiat knüpfte er enge Kontakte zu den in den USA lebenden ethnischen Deutschen. In Nordamerika studierte er mit Interesse die Mennoniten, ein Thema, auf welches er auch noch während des Zweitens Weltkrieges in der besetzten Ukraine seine Aufmerksamkeit lenken sollte.2 Seine politische Karriere setzte Anfang der 30er Jahre ein, als die NSDAP auf seine speziellen akademischen Talente aufmerksam wurde und seine politischen Ambitionen und ideologischen Fähigkeiten erkannte. Er trat der SA bei und gehörte

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von 1933 bis 1940 der Abteilung für auswärtige Studien beim Auswärtigen Amt in Berlin an. Mit der Gründung des Ostministeriums 1941 wurde Leibbrandt zum Leiter der Politischen Hauptabteilung ernannt bis er als Rivale der SS im Sommer 1943 diese Position aufgeben musste. In dieser Funktion unterstanden ihm wichtige Aufgaben der Umsiedlung und Erfassung der „Volksdeutschen“. Zuvor leitete er zusammen mit Rosenberg die Abteilung zur Bekämpfung des Bolschewismus im Außenpolitischen Schulungsamt der NSDAP. Anfang April 1941 – im Vorfeld der Operation Barbarossa – begann das im Entstehen begriffene Rosenberg Ministerium bereits erste Lösungsansätze für den besetzten Osten zu definieren. Führende Ministerialbeamte neben Leibbrandt, auch sein Vertreter Otto Bräutigam, formulierten politische Ziele für den Osten einschließlich der Nationalitätenpolitik. Die politische Abteilung hatte über eine „vorläufige Lösung“ der Juden zu entscheiden, ob sie als Arbeitskräfte oder in Ghettos zu halten seien. Zur „Lösung“ dieser Frage wurde das wenig später eingesetzte Kommando Dr. Stumpp eingerichtet, welches als Spezialeinheit hinter der Frontlinie umfangreiche demographische, kulturelle und „rassische“ Erhebungen in der besetzten Ukraine durchführen sollte. Dieses Sonderkommando setzte rigoros mittels Erfassung ethnischer Merkmale und Statistiken die Praxis um, Individuen und Gruppen in über 300 Dörfern zu markieren, aufgrund derer die systematische Vernichtung und Umsiedlung von Zehntausenden von Juden, „Gemischtrasssigen“, Zigeunern und eben auch oppositionellen „ethnischen“ Deutschen möglich wurde. Über 80 dieser umfangreichen Dorfberichte existieren noch im Bundesarchiv. Die meisten dieser Berichte enthalten kurze Abrisse über Geschichte, Kulturleben, Erziehung, Gesundheit und den ökonomischen Status der ukrainischen deutschen Siedlungen.3 Nach der Abfassung seiner Berichte gelangten diese in die Berliner Büros Leibbrandts. Dort wurden sie von der landeskundlichen Verwaltung, der →Sammlung Georg Leibbrandt/Publikationsstelle Ost (PuSte Ost) der →Osteuropäischen Forschungsgemeinschaft (OEFG), die zentrale Daten- und Informationssammlung für die Ukraine, in umfangreichen Kartendokumentationen und Kurzberichten ausgearbeitet. Diese Abteilung bearbeitete alle Angelegenheiten der Siedlungspolitik und der Unterstützung der NSDAP unter den Russlanddeutschen, einschließlich des Kaukasus und Weißrusslands. Beide Forschungseinrichtungen dienten der ethnischen Dekompositionspolitik des Ostministeriums und genossen Leibbrandts höchste Protektion. Die OEFG wuchs entsprechend zu einer Spezialsammlung Russisch-Deutschen Materials heran, welches Leibbrandt seit den frühen 1920er Jahren zusammen getragen hatte. Als im Herbst 1943 die SS die Kontrolle über Leibbrandts Geschäftsbereich übernahm, wurde die Sammlung Leibbrandt in die Publikationsstelle Ost überführt, wodurch sich jedoch die personellen Besetzungen nicht änderten. Diese Stelle war jedoch in ihrer Funktion nichts anderes als eine „wissenschaftliche“ Komponente des Menschenvernichtungsprogramms des NS-Staates.4

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Die meiste Zeit verbrachte das →Sonderkommando Dr. Stumpp 1942 mit der Sammlung und Aufbereitung statistischer Tabellen von Berichten über die ethnische und ökonomische Situation in den Dörfern in der westlichen Ukraine. Die zusammengestellten Daten erwiesen sich in der Natur ihrer Aufgabe als Legitimation der politischen, ideologischen und rassischen Ziele der Besatzer. Das Sonderkommando war nicht nur als eine Einheit ein Teil der Verbrechensmaschinerie, sondern zudem auch eine gewissenhaft detailreich arbeitende Expedition, die den Massenmord in den ukrainischen Dörfern auf dem Höhepunkt des Rassenfeldzuges aufnahm.5 Hinsichtlich des sozioökonomischen Status und des Wohlbefindens der Volksdeutschen äußerte Leibbrandt jedoch tiefe Bedenken, weil diese nicht die vom NSRegime erwartete „rassische“ Reinheit und erwünschten politischen Qualitäten aufwiesen. Seine Bedenken resultierten schließlich in einer scharfen Rivalität und administrativen Unstimmigkeiten zwischen dem Ostministerium und der SS über die Zukunft der besetzten Ostgebiete. Inwieweit eine erfolgreiche Rehabilitierung der in den Augen der SS „minderwertigen“ Ukrainedeutschen zugleich auch Leibbrandts Berufsaussichten gestärkt hätten, ist in der Forschung noch nicht weiter thematisiert worden. Noch vor der Wannsee-Konferenz veranlasste Leibbrandt die Exekution von Zehntausenden Juden und beaufsichtigte gleichzeitig das Sonderkommando Dr. Stumpp. Dies entsprach seinem dichotomen Herrenvolk-Untermenschen Weltbild. Im besetzten Osten beaufsichtigte er die Unterwerfung und Extermination von „Untermenschen“ und politisch Missliebigen, während er sich gleichzeitig um die Wohlfahrt der „herrschenden Rasse“ besorgt zeigte. Ohne die umfassende Kenntnis von Leibbrandts Verantwortungsbereichen, lässt sich kaum die bedeutende Funktion des Sonderkommandos Dr. Stumpp und ihrer „politisch-erzieherischen“ Aktivitäten in der Ukraine verstehen.6 Die Kulmination der regierungsinternen Dispute und der Machtzuwachs der SS führten schließlich zu Leibbrandts Absetzung. Im Oktober 1943, die SS hatte sich mittlerweile das Reichsinnenministerium einverleibt, wurde er durch SS-Obergruppenführer Gottlob Berger ersetzt. Der Grund für seinen forcierten Ruhestand war Leibbrandts besonderes Interesse an den Mennoniten, deren Pazifismus der SS suspekt war. In der Tat hatte Leibbrandt in den USA noch einigermassen seriöse Studien über diese Gruppe durchgeführt, die im Mennonite Quarterly Review in Goshen, Indiana, publiziert wurden. Leibbrandt absolvierte seinen restlichen Militärdienst in der deutschen Marine.7 Nach dem Krieg geriet er für vier Jahre in Gefangenschaft der Alliierten. Über seine demonstrative Nachkriegsruhe ist kaum etwas bekannt. 1947, noch in Gefangenschaft, trat er als Zeuge im Nürnberger Prozess-Verfahren gegen das Auswärtige Amt auf. Der Ankläger, Robert M. W. Kempner, stellte seine Komplizenschaft mit der Wannsee-Konferenz heraus. In seiner Aussage nannte Leibbrandt die „Endlösung“ als „Wahnsinnspolitik“. Er behauptete, er habe bei Rosenberg dagegen pro-

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testiert und er habe dieser Vernichtungspolitik nicht zugestimmt. Obwohl Leibbrandt sich einigen der SS-Praktiken gegenüber den Slawen widersetzt hatte, nämlich solchen, die seiner Ansicht nach Partner im Kampf gegen die Sowjetunion sein könnten, legen die Nürnberger Prozess-Akten seine direkte und überzeugte Entscheidungsgewalt in der Koordination der Massenexekutionen von Juden in Teilen der besetzten osteuropäischen Territorien offen.8 Die Akten geben Auskunft darüber, dass Leibbrandt seinen ersten Vorschlag für eine Gaskammer oder ein Fahrzeug in der Nähe von Riga Reichskommissar Heinrich Lohse unterbreitete.9 Leibbrandts Abrede der Beteiligung an der Endlösung wurde bereits durch seinen direkten Vorgesetzten, Alfred Rosenberg, widerlegt. Am 17. April 1946 bezeugte Rosenberg während des Nürnberger Prozesses, dass seine Untergebenen Erich Koch, Heinrich Lohse, Wilhelm Kube, Otto Bräutigam und Georg Leibbrandt vollständig über das Programm der Liquidierung der Juden informiert gewesen seien.10 Die Alliierten führten zwar ein vollständiges Verfahren gegenüber Leibbrandt durch, er musste sich jedoch nie einer Strafverfolgung aussetzen. Mit Beginn des Kalten Krieges wurden 1950 alle Anklagepunkte gegen ihn fallengelassen. Die Konvention, nur hochrangige Nazis als schuldig zu verurteilen und für die Kriegsverbrechen verantwortlich zu machen, machte Schule. Als respektierter und rehabilitierter Bürger nahm Leibbrandt eine Tätigkeit als Wirtschaftsberater in Bonn auf. Auch seine Studien über die Russlanddeutschen führte er weiter und besuchte regelmässig Treffen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in Stuttgart. Leibbrandts wichtigste aktuelle Publikation erschien erst 1980 zwei Jahre vor seinem Tod. Verschiedene Mitglieder der auslandsdeutschen Gemeinschaft glauben den Entschuldigungen über seine NS-Vergangenheit. Zweifelsohne ist jedoch richtig, dass sie offenbar nie in Kenntnis der vollen Wahrheit über ihn urteilten. Bis in die Gegenwart konnte sich die Legende Georg Leibbrandts halten. Zuletzt in Nordamerika, wo Leibbrandt als Gelehrter, Genealoge und Dorfforscher von vielen Russlanddeutschen nach wie vor verehrt wird. Enthusiasten russlanddeutscher Familien- und Dorfgeschichten vergessen zweifelsohne den Blutzoll seines NS-Engagements und seiner Kriegsbemühungen in der Ukraine. Dass er auch von seinen Untergebenen gedeckt wurde, die alle in die höhere Bundesbeamtenlaufbahn aufstiegen, stellt dem Nachkriegsdeutschland kaum ein positives Zeugnis aus. Leibbrandts Rehabilitation in der Nachkriegszeit illustriert die Banalität der NS-Organisation von Terror, der Verdunkelung von Rollen der Täter und der Tathelfer, der schnellen Erosion historischer Wahrheit und des kulturellen Gedächtnisses. Letztlich stellt es ein Armutszeugnis der deutschen Gelehrten dar, die ihn bis heute noch nicht als Massenmörder identifiziert haben. Zu guter Letzt änderte der Kalte Krieg die Wahrnehmung auch überzeugter Antikommunisten wie Leibbrandt.11

Eric J. Schmaltz

428  Biographien

1 Vgl. Eric J. Schmaltz/Samuel Sinner, The Nazi Ethnographic Research of Georg Leibbrandt and Karl Stumpp in Ukraine, and Its North American Legacy, in: Ingo Haar (Hg. u.a.), German Scholars and Ethnic Cleansing 1919–1945, New York 2006, S. 51–85. 2 Vgl. Meir Buchsweiler, Volksdeutsche in der Ukraine am Vorabend und Beginn des Zweiten Weltkriegs – ein Fall doppelter Loyalität? Gerlingen 1984, S. 21. 3 Vgl. Richard H. Walth, Flotsam of World History: The Germans from Russia between Stalin and Hitler, Essen 1996, S. 45–46, 49. 4 Vgl. Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945, Baden-Baden 1999, S. 609. 5 Vgl. Schmaltz/Sinner, The Nazi Ethnographic Research, S. 60–66. 6 Ebd., S. 68–73. Vgl. Ronald Vossler, Hitler’s Basement: My Search for Truth, Light, and the Forgotten Executioners of Ukraine’s Kingdom Of Death, Oakbrook Terrace 2016, S. 349ff. Konkretisiert wurde das Ergebnis durch Vosslers Interviews, wie er im Email vom 28.1.2016 an den Verfasser bestätigt: „Yes, in my Hitler’s Basement book I do a layman’s discussion on those issues of collaboration, and the Nazi-Soviet meat grinder in which the German-Russians were caught. Yes, my relatives, […], knew Leibbrandt. He visited them in Lodi, California (Fresno in the book). Walter’s father, Christian, was named mayor of Hoffnungstal by SS Hauptsturmfuehrer Weingartner, and Christian and Weingartner did Leibbrandt’s bidding, in killing the Spitze, the spies, Volksdeutsche, who gave names of those attending Leibbrandt’s talk [während eines seiner Forschungsaufenthalte in den späten 1920er Jahren in der sowjetischen Ukraine E.J.S.], to the NKVD. My great aunt, aunt of Christian, was Leibbrandt’s godmother, or some such genealogical tangle. Well, it is all in the book.“ 7 Vgl. Otto Bräutigam, So hat es sich zugetragen. Ein Leben als Soldat und Diplomat. Würzburg 1968, S. 627f.; Fahlbusch, Wissenschaft, S. 591, und Walth, Flotsam of World History, S. 68–70, 73ff. 8 Vgl. Robert M. W. Kempner, Eichmann und Komplizen, Zürich 1961, S. 155–157. 9 Vgl. Gerald Reitlinger, The SS: Alibi of a Nation, 1922–1945, New Jersey 1981, S. 186. 10 Vgl. The Avalon Project at the Yale Law School, Nuremberg Trial Proceedings, Vol. 11, 22 March 2000, S. 543–47, 554–63. 11 Vgl. Schmaltz/Sinner, The Nazi Ethnographic Research, S. 73–78; Sinner, New Archival Discoveries on Wannsee Conference Participant Georg Leibbrandt and “SS-Mann” Karl Stumpp, 8 September 2015, S. 1–31.

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Johannes Leipoldt Johannes Leipoldt wurde am 20. Dezember 1880 in Dresden als Sohn eines Gymnasialprofessors geboren und studierte zwischen 1899 und 1903 evangelische Theologie und Orientalistik in Berlin und Leipzig. Die von ihm 1903 bei Georg Steindorff eingereichte Dissertation über Schenute von Atripe zeigte bereits die Versiertheit Leipoldts im Umgang mit antiken Quellen und Sprachen. Nur zwei Jahre später habilitierte sich Leipoldt mit einer Arbeit über Didymus von Alexandria im Bereich Kirchengeschichte, wobei die Leipziger Universität die Habilitation gleichzeitig als theologische Promotion anerkannte. Bis zu seiner 1909 erfolgten Berufung auf den Lehrstuhl für Neues Testament in Kiel wirkte Leipoldt als Privatdozent in Halle/S. und Leipzig. 1914 wechselte er als Professor für Neues Testament nach Münster, eine Stelle, die er nur zwei Jahre später zugunsten des Rufs auf den neutestamentlichen Lehrstuhl in Leipzig wieder aufgab.1 Zu dieser Zeit war der junge Leipoldt aufgrund seiner Studien und Übersetzungen antiker Texte bereits ein international anerkannter Wissenschaftler. Nach dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs schloss sich Leipoldt zunächst der linksliberalen DDP an,2 die er jedoch nach wenigen Jahren wieder verließ. Wissenschaftlich setzte sich Leipoldt in den 1920er Jahren zunehmend mit der Geschichte des Urchristentums und dem Wirken von Jesus auseinander. Hierüber veröffentlichte er nicht nur eine Reihe kleinerer Schriften, sondern er bemühte sich verstärkt darum, seine Deutungen mithilfe öffentlicher Vorträge und populärwissenschaftlicher Abhandlungen zu verbreiten. Bereits 1913 äußerte er erstmals die Hypothese, dass Jesus kein rassenmäßiger Jude gewesen sei, da die Einwohner Galiläas am Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. ‚judaisiert‘ worden seien. Diese ‚Zwangsjudaisierung‘ habe aber keinen Einfluss auf das ‚Wesen‘ der Galiläer gehabt.3 1923 widmete er diesem Thema eine ganze Abhandlung, in welcher er verklausuliert abermals die jüdische Herkunft Jesu infrage stellte. Zwar hätten die Einwohner Galiläas die jüdische Religion unter Zwang angenommen, wodurch sie für Leipoldt aber nicht als rassische Juden zu verstehen seien. Die biblische Überlieferung, wonach Jesus aus dem Hause Davids entstammte, versuchte er dahingehend zu relativieren, indem er die Frage in den Raum stellte, ob denn David überhaupt „ein reiner Jude“ gewesen sei.4 Das Wesen des Jesu von Nazareth deutete Leipoldt als gänzlich ‚unjüdisch‘, weshalb seine Lehre nicht bei Juden Anklang fand, sondern „die Seele der Griechen und anderer Völker arischer Zunge im Innersten berühren muß[te].“5 Bereits in seinen Studien während der 1920er Jahre griff Leipoldt auf gängige antisemitische Stereotype wie der berechnenden Rationalität zurück. Damit charakterisierte er ‚den Juden‘ sowie das gesamte Judentum im negativen Sinn, um anschließend Jesus in einen größtmöglichen Kontrast zu einem solchen Verhalten und Denken zu stellen. Eine derartige Argumentationsweise, die selektive Interpretation antiker Quellen gepaart mit antisemitischen Zuschreibungen zur Erschaffung eines

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Kontrastbildes zwischen dem Judentum und dem frühen Christentum respektive Jesus Christus, behielt Leipoldt bis zum Ende seiner wissenschaftlichen Tätigkeit bei. Nur wenige Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten veröffentlichte Leipoldt das Büchlein →Antisemitismus in der alten Welt, welches von seiner Argumentationsweise der →Judenforschung zuzurechnen ist.6 Antisemitische Propagandaklischees wie Parasitentum, körperliche Alleinstellungsmerkmale und Machtdenken interpretierte Leipoldt in antike Quellen hinein und wies damit eine vermeintliche Besonderheit ‚des Juden‘ bereits für diese Zeit nach. Im Umkehrschluss legitimierte er hierdurch antisemitische Vorurteile der Gegenwart, da sich diese angeblich schon zu der Zeit Christi finden ließen.7 Seine Schriften erweckten dabei den Anschein seriöser wissenschaftlicher Abhandlungen, weil Leipoldt seine Argumente stets mit Quellenangaben belegte und jene antisemitischen Stereotype in Nebensätzen einfließen ließ, die wenige Seiten später als Tatsachen in Erscheinung traten. So versuchte er die jüdische Abstammung des Apostels Paulus zu negieren, indem er zunächst die Tatsachenbehauptung aufstellte, dass ‚der Jude‘ rassisch bedingt über kein Humor verfüge. Mithilfe von Aussagen des Apostels aus dem 1. Korintherbrief und dem Brief an Philemon, die Leipoldt als Humor auslegte, richtete er anschließend die rhetorische Frage an den Leser, ob denn die Ahnen des Paulus reine Juden gewesen seien.8 Mit der 1939 in Eisenach erfolgten Gründung des →Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben plante dessen wissenschaftlicher Leiter Walter Grundmann seinen ehemaligen Lehrer Leipoldt als festen Bestandteil des Mitarbeiterstabes ein.9 Neben Walter Grundmann, dem produktivsten Mitarbeiter, sollte Leipoldt während des sechsjährigen Bestehens die meisten Veröffentlichungen für dieses Institut verfassen.10 In den verschiedenen Beiträgen und Schriften, die Leipoldt im Rahmen seines Engagements für dieses Institut verfasste, ging er stets nach der Argumentationsweise vor, die er schon seit den 1920er Jahren angewandt hatte. Leipoldt betonte zwar, er wolle sich nicht zur rassischen Abstammung Jesu äußern,11 er konstruierte aber indirekt über das Wesen von Jesus dessen nicht-jüdische Herkunft. So betonte er, dass in antiken Quellen Personen als Juden auftreten konnten, die aber nicht zum jüdischen Volk im rassischen Verständnis zu zählen seien.12 Damit umging Leipoldt die neutestamentlichen Überlieferungen, die Jesus als Juden präsentierten. Denn für Leipoldt zeichnete sich ein rassischer Jude der Antike dadurch aus, dass man diesem antisemitische Stereotype der Gegenwart zuschreiben konnte. Im Umkehrschluss deutete er alles, was sich von einem solchen negativen jüdischen Wesen abhob, als genuin christlich,13 wodurch Leipoldt den Religionsstifter des Christentums eine angeblich nichtjüdische Abstammung im Sinne des Rassenverständnisses nachwies. Neben seinen zahlreichen Schriften trat Leipoldt zusätzlich als Vortragsredner für das Institut in Erscheinung, indem er in öffentlichen Veranstaltungen die Forschungsergebnisse des Instituts einem breiten Publikum vorstellte.14

Johannes Leipoldt  431

In die Zeit seines Engagements für das Eisenacher ‚Entjudungsinstitut‘ fiel auch die Ermordung von Leipoldts Ehefrau durch die Nationalsozialisten. Eine schwere psychische Störung machte bei ihr eine dauerhafte Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt notwendig. Leipoldt kümmerte sich anscheinend liebevoll um seine Frau und versuchte auch, diese zuhause zu betreuen, was aber aufgrund der Schwere der Krankheit unmöglich war. 1941 erfolgte die Verlegung von Käte Leipoldt nach Pirna-Sonnenstein, wo sie im Rahmen des Euthanasie-Programmes ermordet wurde.15 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Wiedereröffnung der Universität Leipzig kehrte Leipoldt auf seinen Lehrstuhl für Neues Testament zurück. Das 1947 stattgefundene Überprüfungsverfahren attestierte Leipoldt keinerlei Verfehlungen während der NS-Zeit und sprach sich für eine uneingeschränkte Weiterbeschäftigung des Professors aus.16 Unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches gründete Leipoldt in seiner Heimatgemeinde Großpösna bei Leipzig eine eigene Ortsgruppe der CDU-Ost, die er zwischen 1953 und 1963 als Abgeordneter in der Volkskammer, dem DDR-Pseudoparlament, vertrat.17 1960 erhielt Leipoldt überdies, zusammen mit Anna Seghers, den Vaterländischen Verdienstorden in Gold zugesprochen.18 Auch wissenschaftlich arbeitete Leipoldt nach Kriegsende an seinem Spezialgebiet, dem urchristlich-jüdischen Verhältnis, weiter. Seine weiterhin bestehende internationale Reputation spiegelt sich unter anderem in der Ernennung zum ordentlichen Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaft 1958 sowie die im darauffolgenden Jahr ausgesprochene Aufnahme als korrespondierendes Mitglied der Société D’Archéologie Copte in Kairo wider.19 Zudem gehörte Leipoldt als einer von drei Wissenschaftlern der DDR-Delegation auf dem 8. Internationalen Kongress für Religionsgeschichte 1955 in Rom an.20 In seinen Nachkriegsschriften lassen sich teilweise die gleichen Argumente bezüglich des Judentums lesen, wie sie Leipoldt ab den 1920er Jahren genutzt hatte, um einen rassischen Gegensatz von Judentum und Christentum in der Antike konstruieren zu können. Die Juden hätten sich bereits in der Antike den Finanzberufen zugewandt und sich hierdurch einen monetären Einflussvorteil verschafft. Zudem strebten sie von Beginn an nach Macht, ein Umstand, den das frühe Christentum nicht kannte, weshalb sich auch antisemitische Übergriffe in der Antike niemals gegen das Christentum, sondern nur gegen die Juden gerichtet hätten.21 Nach seiner Emeritierung 1954 zog sich Leipoldt an die Ostseeküste nach Ahrenshoop auf dem Darß zurück und hielt noch gelegentlich Lehrveranstaltungen an der Universität Rostock ab. In seiner neuen Wahlheimat starb er am 22. Februar 1965.

Dirk Schuster

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1 Klaus-Gunther Wesseling, Johannes Leipoldt, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 4, Herzberg 1992, Sp. 1391–1395. 2 UAL, PA 3308, Bl. 4, selbstverfasster Lebenslauf von Leipoldt vom 19.10.1946. 3 Johannes Leipoldt, Vom Jesusbilde der Gegenwart, Leipzig 1913, S. 268. 4 Ders., War Jesus Jude?, Leipzig 1923, S. 10–12. 5 Ebd., S. 74. 6 Johannes Leipoldt, Antisemitismus in der alten Welt, Leipzig 1933. 7 Vgl. ausführlich Dirk Schuster, Die Lehre vom „arischen“ Christentum. Das wissenschaftliche Selbstverständnis im Eisenacher „Entjudungsinstitut“, Göttingen 2017. 8 Johannes Leipoldt, Gegenwartsfragen der neutestamentlichen Wissenschaft, Leipzig 1935, S. 99. 9 LKArchE, DC 218 [unfoliert], Walter Grundmann an Johannes Leipoldt vom 19.4.1939. 10 Leonore Siegele-Wenschkewitz, Ablösung des Christentums vom Judentum? Die Jesus-Interpretation des Leipziger Neutestamentlers Johannes Leipoldt im zeitgeschichtlichen Kontext, in: Georg Denzler (Hg. u.a.), Theologische Wissenschaft im „Dritten Reich“. Ein ökumenisches Projekt, Frankfurt a.M. 2000, S. 114–135, 120. 11 Johannes Leipoldt, Jesus und das Judentum, in: Walter Grundmann (Hg.), Christentum und Judentum. Studien zur Erforschung ihres gegenseitigen Verhältnisses, Leipzig 1940, S. 29–52, 29. 12 Ders., Jesus Verhältnis zu Griechen und Juden, Leipzig 1941, S. 17. 13 Siegele-Wenschkewitz, Ablösung des Christentums, S. 120. 14 LKArchE, DC 213 [unfoliert], Brief Johannes Leipoldt an Walter Grundmann vom 26.11.1942. Oliver Arnhold, „Entjudung“ – Kirche im Abgrund, Bd. 2: Das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ 1939–1945, Berlin 2010, S. 615. 15 Anne Losinski, „Ja, ich soll doch verbrannt werden“. Das Leben der Professorengattin Käte Leipoldt (1887–1941), in: Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V. (Hg.), Sonnenstein. Beiträge zur Geschichte des Sonnenstein und der Sächsischen Schweiz, Heft 10, Pirna 2012, S. 49–56. 16 UAL, PA 3308, Personalakte Johannes Leipoldt, Bl. 3, Entnazifizierungskommission des Stadtkreises Leipzig vom 21.6.1947. 17 Archiv für Christlich-Demokratische Politik – Konrad-Adenauer-Stiftung, ACDP 7–012–3101, [unfoliert], undatierte Rede ohne Verfasserangabe im Rahmen einer Johannes-Leipoldt-Gedenkveranstaltung. 18 Neues Deutschland 15 (1960), Berliner Ausgabe, Nr. 351 vom 20.12.1960, S. 4. 19 Archiv der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, PA Johannes Leipoldt, [unfoliert]. 20 Christian Espig, Religionswissenschaft, in: Ulrich von Hehl (Hg. u.a.), Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 4/1, Leipzig 2009, S. 458–480, 469. 21 Johannes Leipoldt, Antisemitismus, in: Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt, Bd. 1, Stuttgart 1950, Sp. 469–476, 472–474. In diesem Artikel verwies Leipoldt als weiterführende Literatur überdies auf sein 1933 veröffentlichtes antisemitisches Pamphlet Antisemitismus in der alten Welt.

_____________________________________________________________________Philipp Lenard  433

Philipp Lenard Lenard war ein Experimentalphysiker und Nobelpreisträger, früher Nationalsozialist und Begründer der „Deutschen“ oder auch „Arischen Physik“.1 Hierunter ist weniger ein Forschungsansatz als eine völkisch-rassistische Interpretation des damaligen physikalischen Wissens zu verstehen. Getragen wurde diese Strömung von zwei renommierten Physikern, den Nobelpreisträgern von 1905 Philipp Lenard (l862– 1947) und von 1919 →Johannes Stark (1874–1957). Beide verfügten über internationale Anerkennung, waren jedoch Vertreter einer vor allem experimentell arbeitenden Physik und gerieten durch die Entstehung der modernen, theoretischen Physik, für die in Deutschland Namen wie Albert Einstein, Max Planck, Lise Meitner oder Werner Heisenberg stehen, wissenschaftlich ins Hintertreffen. Dies war neben einem tief verankerten Nationalismus und dem ohnehin im deutschen Bildungsbürgertum weit verbreiteten →Antisemitismus der wesentliche Grund für die Radikalisierung ihrer Ansichten im Konzept einer „Deutschen Physik“. Der Wissenschaftshistoriker Herbert Breger hat Lenards physikalische Arbeiten trotz seiner großen, mit dem Nobelpreis gewürdigten Leistungen als ein immerwährendes „Beinahe“ charakterisiert.2 Lenard stand mehrmals an der Schwelle bahnbrechender Erkenntnisse oder Entdeckungen der modernen Physik. Den letzten Schritt aber, der meist mit theoretischen Überlegungen oder mathematischen Berechnungen verbunden war, vollzogen immer andere: Lenards Experimente mit Kathodenstrahlen führten ihn an die Schwelle der Entdeckung des Elektrons. Die Entdeckung selbst gelang Joseph J. Thomson, den Lenard in einen harten Prioritätsstreit verwickelte. Lenard fehlte auch nicht viel zur Entdeckung der Röntgen-Strahlen. Dass nicht er sie entdeckte, war für Lenard umso bitterer, als er Röntgen kurz vor der Entdeckung wichtige Ratschläge sowie eine zuverlässige Entladungsröhre übermittelt hatte. Lenard entwickelte aus seinen Versuchen ein Atommodell, demzufolge die Materie zum größten Teil aus „Löchern“ besteht. Berühmt wurde aber das zehn Jahre später von Ernest Rutherford entwickelte modifizierte Atommodell. Schließlich stammt von Lenard eine grundlegende Arbeit über den lichtelektrischen Effekt. Die Deutung der Lenard’schen Experimente gelang Einstein 1905 mit der Quantenhypothese des Lichts. So ist Lenards Name mit keiner der großen Entdeckungen verbunden, in deren Vorfeld er so wichtige Beiträge geleistet hatte. Als Lenard 1907 den Heidelberger Lehrstuhl für Physik übernahm, war seine wissenschaftliche Produktivität im Wesentlichen abgeschlossen. Zwar nannte Adolf von Harnack ihn 1909 in dem Memorandum zur Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (heute Max Planck-Gesellschaft) den berühmtesten deutschen Physiker. Doch Lenard war weit hinter dem Stand der Forschung zurückgeblieben: Einem Freund gegenüber, der bei Lenard Assistent war, nannte Einstein 1910 die wissenschaftliche Arbeit Lenards „almost infantile“, und er bedauerte diesen Freund, dass er seine Zeit mit dem Unsinn, den Lenard ihm als Forschungsaufgabe stelle, vergeuden müsse.3

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Im August 1914 verfasste Lenard ein Pamphlet gegen England, in dem es unter anderem hieß: „Könnten wir England gänzlich vernichten, so würde ich das […] als keine Sünde gegen die Zivilisation ansehen; […] Fort also mit aller Rücksichtnahme auf Englands sogenannte Kultur. […] Fort mit der Scheu vor den Gräbern von Shakespeare, Newton, Faraday!“4 Er fiel damit kaum aus dem Rahmen dessen, was 1914 von der großen Mehrheit der deutschen Professoren gedacht und publiziert wurde.5 Nach dem Weltkrieg entwickelte sich Lenard weiter nach rechts und begann sich politisch von der Mehrheit seiner nationalistisch gesinnten Kollegen zu unterscheiden. 1922 kam es zu einem reichsweit Wellen schlagenden Skandal: Anlässlich des Staatsbegräbnisses für den ermordeten Außenminister Walther Rathenau hatte die badische Regierung die Schließung der Universität angeordnet. Lenard weigerte sich, halbmast zu flaggen und sein Praktikum ausfallen zu lassen: wegen eines toten Juden gebe er seinen Studenten nicht frei. Schon bei der Ermordung des Finanzministers Matthias Erzberger 1921 durch rechtsextremistische Terroristen der „Organisation Consul“ hatte Lenard aus seiner Gesinnung kein Hehl gemacht und Institutsmitgliedern gegenüber seiner Befriedigung über diese Tat Ausdruck gegeben. Diese politischen Demonstrationen brachten Lenard ein Disziplinarverfahren ein, das allerdings bald wieder eingestellt wurde.6 Lenard zählte zu den frühesten Anhängern des Nationalsozialismus im Lehrkörper der Universitäten. Durch ihn und seinen langjährigen Assistenten und Nachfolger August Becker wurde das Heidelberger Physikalische Institut „zu einer Kampfstätte des Nationalsozialismus“.7 Im Februar 1924 schloss Lenard die Vorlesungen des Wintersemesters mit einem Loblied auf den in Festungshaft sitzenden Putschisten Hitler. Als 1924 erstmals eine völkische Studentengruppe die Führung im Heidelberger AStA übernahm, gehört ihr auch Lenards Tochter an. Ilsemarie Schaper eine andere völkische Aktivistin und AStA-Referentin machte Lenard zu seiner Assistentin.8 Im Mai 1924 veröffentlichte Lenard eine von seinem Kollegen Stark mitunterzeichnete Erklärung „Hitlergeist und Wissenschaft“, in der er sich zum Nationalsozialismus bekannte und in Hitler und Ludendorff den „Kulturbringer-Geist“ „arischer“ Naturforscher wie Newton, Kepler oder Galilei wiederzufinden glaubte. Gegen diese „Kulturbringer“ wirke von der Kreuzigung Christi über die Verbrennung Giordano Brunos bis hin zur Einkerkerung von Hitler und Ludendorff „immer dasselbe asiatische Volk im Hintergrund“.9 In seiner 1943 geschriebenen Autobiographie behauptete Lenard, dass ihm bereits seit Ende 1919 die Reden des ersten NSDAP-Führers Drexler und Hitlers, vor allem auf der „ersten Massenversammlung der Partei“ im Februar 1920, politische „Klarheit“ gebracht hätten. 1926 reiste Lenard zu einer Konferenz der NSDAP nach Heilbronn, um Hitler persönlich kennenzulernen. Weitere Treffen folgten, unter anderem besuchte Hitler 1928 Lenard in seiner Heidelberger Wohnung. Für Lenard war dies eines der denkwürdigsten Ereignisse seines Lebens. Mitglied der NSDAP wurde er jedoch erst 1937, bekam dann allerdings sogleich das goldene Ehrenabzeichen der Partei verliehen.10

Philipp Lenard  435

Wenn nach Lenard der Geist des wahren Naturforschers, der nach Klarheit und Ehrlichkeit strebe, mit dem Geist des Nationalsozialismus identisch war, so konnte dies nicht ohne Auswirkungen auf das Physikalische Institut an der ältesten deutschen Universität bleiben, das er leitete. Lenard war in den 1920er und mehr noch 1930er Jahren auch ein erfolgreicher Networker im Bereich völkisch-nationalistischer Naturwissenschaft. So verdankte Ludwig Wesch, ein SS-Mann und führendes Mitglied des Nationalsozialistischen Studentenbundes (NSDStB), der 1934 Assistent, 1937 Extraordinarius und 1938 Ordinarius am Institut wurde, seine Karriere fast ausschließlich seiner politischen Aktivität, wissenschaftlich war er nicht besonders hervorgetreten. Als Alfred Rosenberg Lenard 1935 um die Nennung eines wissenschaftlichen Beraters für Artikel über physikalische Themen im Völkischen Beobachter bat, empfahl Lenard ihm gleich vier seiner Schüler: August Becker, Rudolf Tomaschek, Alfons Bühl und Heinrich Vogt; alle vier waren laut Lenard seit langem überzeugte Nationalsozialisten.11 Die Summe seines Wirkens als völkischer Wissenschaftler war die „Deutsche Physik“. Wer von Internationalität der Wissenschaft rede – so lautete eine zentrale These Lenards, der meine unbewusst die „jüdische“ Wissenschaft. Die Relativitätstheorie charakterisierte Lenard als „Judenbetrug“. Weil Planck, von Laue, Heisenberg und Nernst die Relativitätstheorie verteidigten, waren sie nach Lenard Vertreter des „Judengeistes“ in der Wissenschaft. Solche Äußerungen Lenards bilden den übersteigerten Schlusspunkt einer allgemeinen Entwicklung, in der sich der Antisemitismus im deutschen Bürgertum mit dem Schock über die völlig neue Denkweise der Relativitätstheorie mischte. So hatte zum Beispiel der bekannte Physiker Arnold Sommerfeld – obwohl kein Anhänger der „Deutschen Physik“ – schon 1907 in einem Privatbrief über die Einstein’sche Relativitätstheorie geschrieben, sie sei genial, doch in ihrer „anschauungslosen Dogmatik“ scheine „fast etwas Ungesundes zu liegen“. Vielleicht drücke sich in dieser Theorie „die abstrakt-begriffliche Art des Semiten“ aus.12 Während Sommerfeld die Relativitätstheorie dann doch übernahm, verharrte Lenard in seiner Gegnerschaft. Dass die Relativitätstheorie nach dem Weltkrieg schlagartig in aller Munde war, führte Lenard auf eine Abmachung zwischen Einstein und der „jüdisch beherrschten“ Presse zurück. Dass die Tagespresse sich der Theorie so vehement annahm, hing aber einerseits damit zusammen, dass Einsteins Theorien bei einer totalen Sonnenfinsternis des Jahres 1919 bestätigt wurden. Andererseits wurden sie als eine wissenschaftliche Bestätigung jener aufwühlenden und schockierenden Erfahrung empfunden, die Europa in und nach dem Weltkrieg machte: Massentod, Propagandalügen und soziales Elend hatten die traditionellen Lebensverhältnisse ebenso zerstört wie die offiziellen Werte der christlich-abendländischen Kultur. Zum Lebensgefühl der roaring twenties gehörte die beginnende Amerikanisierung ebenso wie die Meinung, dass „alles relativ“ sei. Es war kein Zufall, dass Oswald Spengler in seinem Untergang des Abendlandes die Kulturbedingtheit der Mathematik zu begründen versuchte. Dieser sozial- und geistesgeschichtliche Rezeptionszusammenhang

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der Relativitätstheorie gehört zu den Rahmenbedingungen für das Entstehen der „Deutschen Physik“. In seinem Lehrbuch „Deutsche Physik“ setzte Lenard nur elementare Mathematikkenntnisse voraus. Denn Mathematik war für Lenard in der Physik weitgehend überflüssig. Auch die Spezialisierung der Wissenschaft schien ihm zu weit fortgeschritten. Eine Ausstellung physikalischer Geräte und Maschinen anlässlich der Physikertagung 1921 in Jena verließ Lenard mit den Worten, diese hochentwickelte experimentelle Apparatur (die im Vergleich zu heutigen Apparaturen sehr anschaulich war) sei doch ein „Wahnsinn“. Offenbar war sein Ideal eine kleine und überschaubare Experimentalforschung, in der man mit selbstgebastelten Geräten hantierte und nur anschaulich deutbare theoretische Begriffe verwendete – gewissermaßen eine Naturforschung nach dem Modell eines Kleinbauern oder selbständigen Handwerkers. Eine Naturwissenschaft, die technische Apparaturen und eine differenzierte Arbeitsteilung zwischen experimentellen und theoretischen Spezialisten voraussetzte, konnte für Lenard und seine Gefolgsleute nur eine jüdische Erfindung sein. Widerstand gegen Modernität ist allgemein eine wichtige Quelle für die Entstehung des modernen Antisemitismus wie der völkischen Paradigmen. In ihren Resultaten unterschied sich die „Deutsche Physik“ nur in einem Punkt von der modernen Physik: Die moderne Physik verwarf die von Aristoteles eingeführte und von Descartes differenzierte Vorstellung vom Äther als einem elastischen Trägermedium für Lichtwellen, Wärme und Gravitation, weil sie experimentell nicht nachweisbar war. Hingegen modifizierte Lenard die Äther-Theorie so, dass sie mit dem Michelson-Experiment, das für die moderne Physik die Nicht-Existenz des Äthers bewiesen hatte, vereinbar wurde.13 Es handelt sich um den klassischen Fall einer wissenschaftlichen Revolution14: Lenard versuchte, die Grundannahmen der traditionellen Theorie zu verteidigen, indem er Ad-hoc-Hypothesen einführte. Bei dem Streit um die Existenz des Äthers spielten weltanschauliche Fragen eine wichtige Rolle. Denn Lenard vertrat in der Kontroverse mit Einstein die philosophische Position eines naiven Realismus. Die „Ergründung des Wesens der Dinge“ sei das Ziel der Naturforschung. Es gehe in der arischen Naturforschung um Wahrheit; für „den Juden“ sei Wahrheit nur eine unter verschiedenen mit den experimentellen Daten übereinstimmenden Denkmöglichkeiten. Die Naturgesetze seien Ausdruck von Wirklichkeiten, die dem Menschen von außen vorgegeben seien. Demgegenüber warf Einstein den naiven Realismus weitgehend über Bord und erhob die mathematisch einfachste Beschreibung der experimentellen Daten zum obersten Beurteilungskriterium einer Theorie. Lenard vertrat auch ein spezifisches Verständnis seiner gesellschaftlichen Rolle als Wissenschaftler, das sich durch völkisch-nationalistisches Pathos von der Nüchternheit eines staatsbürgerlichen Selbstverständnisses deutlich abhob. Nach völkischer Definition mussten Hochschullehrer alles daran setzen, den Kontakt zum „Leben“ und zum „Volk“ nicht zu verlieren, um keine Intellektuellen zu werden. Die Grundstruktur dieses Selbstverständnisses vertrat Lenard bereits lange vor 1933.

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Nach 1933 gab er jede taktische Zurückhaltung auf und freute sich öffentlich, dass Wissenschaft nun nicht mehr „Judensache“ sei und „der Fremdgeist bereits sogar freiwillig die Universitäten, ja das Land verläßt“. Die Akademiker hätten angesichts der deutschen Not die Aufgabe, „die warme starke Fühlung unserer Wissenschaft mit allen lebendigen Kräften des Volksganzen offen zu halten, damit sie selbst erfüllt werde mit dem Herzblut der Nation und dadurch reif zu großer schöpferischer Tat.“15 „Mit vollem Recht“ würden die Juden „landesverwiesen“.16 Wie viele Völkische geriet Lenard im Dritten Reich zunehmend in ein sektiererisches Abseits. Hatte Heinrich Himmler bereits 1938 Angriffe auf moderne Physiker untersagt, wie sie vor allem aus dem NS-Studentenbund, aus Teilen der SS und aus den Reihen der völkisch begründeten „Deutschen Physik“ kamen,17 so war sich die NS-Führung insgesamt, je näher der „Weltanschauungskrieg“ gegen Russland und die Ausweitung des Krieges zum Weltkrieg rückten, bewusst, dass technologische Rüstungsinnovationen und erst recht ein Atomwaffenprogramm ohne moderne, mathematisch fundierte Physik undenkbar waren. Im berühmten „Münchener Religionsgespräch“ debattierten im November 1940 Vertreter der „Deutschen Physik“ (darunter Lenards Schüler Wesch und Tomaschek) mit ihren Gegnern. Das Ergebnis war eine schriftliche Vereinbarung, in denen der „Deutschen Physiker“ die zentralen Paradigmen der modernen Physik anerkannten und die der greise Lenard als „Verrat“ empfand. Verbittert verbrachte er seinen Lebensabend zurückgezogen und starb 1947, ohne von den Siegermächten politisch zur Rechenschaft gezogen worden zu sein.

Christian Jansen

1 Neuere Biographien: Wikipedia-Artikel „Philipp Lenard“ (29.9.2016); Sören Flachowsky, in: Handbuch des Antisemitismus, Bd. 2.2, München 2009, S. 468f.; Dieter Hoffmann, Lénárd Fülop – Philipp Lenard: von Pressburg nach Heidelberg, in: Marc Schalenberg (Hg. u.a.), „… immer im Forschen bleiben“. Rüdiger vom Bruch zum 60. Geburtstag, Stuttgart 2004, S. 337–350. Die vielfach kolportierte Behauptung, Lenard sei „nicht-arischer“ Herkunft gewesen, kann auch dieser Aufsatz nicht klären. Zur „Deutschen Physik“ nach wie vor: Steffen Richter, Die „Deutsche Physik“, in: Herbert Mehrtens (Hg. u.a.), Naturwissenschaft, Technik und NS-Ideologie. Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte des Dritten Reichs, Frankfurt a.M. 1980, S. 116–141, sowie aktuell: Wikipedia-Artikel „Deutsche Physik“ (28.9.2016). 2 Herbert Breger, Streifzug durch die Geschichte der Mathematik und Physik an der Universität Heidelberg, in: Karin Buselmeier (Hg. u.a.), Auch eine Geschichte der Universität Heidelberg, Mannheim 19862, S. 27–50, S. 41–46. 3 Zitiert nach Breger, Streifzug, S. 41. 4 Philipp Lenard, England und Deutschland zur Zeit des großen Krieges, Heidelberg 1914. 5 Vgl. Christian Jansen, Professoren und Politik. Politisches Denken und Handeln der Heidelberger Hochschullehrer 1914–1935, Göttingen 1992, S. 109–142; Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1968; Peter Hoeres, Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn 2004.

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6 Vgl. Jansen, Professoren, S. 146–149; Buselmeier (Hg. u.a.), Geschichte, S. 203f. 7 August Becker, Das Philipp Lenard-Institut der Universität Heidelberg, in: Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft, Jg. 3 (1937/38), S. 48. 8 Philipp Lenard, der deutsche Naturforscher. Sein Kampf um nordische Forschung. Reichssiegerarbeit im 1. Reichsleistungswettkampf der Studenten 1935/36, München 1937, S. 5. 9 Philipp Lenard und Johannes Stark: Hitlergeist und Wissenschaft, in: Großdeutsche Zeitung, München vom 8.5.1924; vgl. Christian Peters/Arno Weckbecker, Der Weg zur Macht. Zur Geschichte der NS-Bewegung in Heidelberg 1920–1934, Heidelberg o.J., S. 60–76. 10 Philipp Lenard, Erinnerungen eines Naturforschers. Kritische annotierte Ausgabe des Originaltyposkripts von 1931/1943, hg. von Arne Schirmacher, Heidelberg 2010, S. 251 und 265. 11 Vgl. Breger, Streifzug, S. 43; Dagmar Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1803–1932, Berlin 1986. 12 Andreas Kleinert, Noch einmal: Sommerfeld und Einstein, in: Sudhoffs Archiv der Wissenschaftsgeschichte 69 (1985), S. 96, zit. nach Breger, Streifzug, S. 49. 13 Philipp Lenard, Über Relativitätsprinzip, Äther, Gravitation, Leipzig 19213. 14 Vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 199312. 15 Philipp Lenard, Ein großer Tag für die Naturforschung. Johannes Stark zum Präsidenten der physikalisch-technischen Reichsanstalt berufen, in: Völkischer Beobachter, 13.5.1933, 2. Beiblatt; Philipp Lenard, Zu Präsident Johannes Starks 60. Geburtstag, in: Volk und Rasse 9 (1934), S. 131–132, 131. 16 Philipp Lenard, Erfahrungen zum mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht an den Höheren Schulen, in: Die Badische Schule 2 (1935), S. 59–61, 61. 17 Vgl. Werner Heisenberg, Deutsche und jüdische Physik, München 1992; Philipp Lenard, Deutsche Physik, 4 Bde, München 1936.

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Egon Lendl Egon Lendl wurde am 1. November 1906 in Trient als Sohn des k. k. Oberleutnants Franz Xaver Lendl und dessen Frau Barbara, geb. Neudolt, geboren. Er verbrachte seine Kindheit in den Garnisonsstädten Böhmisch-Budweis, Lemberg und Znaim, bis sich seine Eltern 1915 in Wien niederließen, wo er das Gymnasium besuchte und 1926 die Reifeprüfung ablegte.1 Anschließend studierte Lendl Geographie, Geschichte und →Volkskunde an der Universität Wien, wo er hauptsächlich bei den Professoren Eugen Oberhummer, Fritz Machatschek, →Heinrich v. Srbik, →Hans Hirsch, Alfons Dopsch und Wilhelm Bauer hörte. Unter der Betreuung des im Vorstand der →Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft (SOFG) engagierten und 1934 nach München abgezogenen Geographen Fritz Machatschek verfasste er schließlich seine Dissertation mit dem Titel Das Deutschtum in der Ilovasenke und wurde am 18. Juni 1931 promoviert.2 Im Februar 1934 übernahm Lendl die Vertretung eines Assistenten am Institut für Geographie der Universität Wien, und mit 1. September 1935 wurde er Assistent III. Klasse bei →Hugo Hassinger. Als Mitglied der 1941 gegründeten Arbeitsgemeinschaft für Volkstumsfragen in der →Südosteuropa-Gesellschaft in Wien habilitierte sich Lendl ebenfalls bei Hassinger am 14. Juli 1944 über das Thema Der deutsche Einfluss auf die Gestaltung des Kulturlandschaftsbildes im südöstlichen Mitteleuropa. Wegen eines Magenleidens wurde Lendl als nicht kriegstauglich eingestuft und entging so dem Militärdienst.3 Als „Illegaler“ und Träger der Ostmarkmedaille wurde Lendl auf Grundlage des noch 1945 erlassenen Verbotsgesetzes am 6. Juni 1945 als wissenschaftlicher Assistent am geographischen Institut der Universität Wien entlassen.4 Daraufhin übersiedelte Lendl nach Seekirchen am Wallersee, später direkt in die Stadt Salzburg. Egon Lendl gelang es, sich rasch in Salzburg zu integrieren. Schon ab 1. September 1945 wurde er, mit ausdrücklicher Zustimmung der Salzburger Landesregierung, freier wissenschaftlicher Mitarbeiter am Haus der Natur und wurde vom 1. Februar 1947 bis 31. Dezember 1948, also noch vor seiner offiziellen „Entnazifizierung“, hier auch fest angestellt.5 Lendl war 1949 auch Mitinitiator des Kulturellen Arbeitskreises der deutschen Heimatverwiesenen in Bayern, mit dessen Begründer Alfred Karasek er schon während seiner Tätigkeit in der Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft eng zusammengearbeitet hatte. SS-Obersturmführer Karasek war im Übrigen für die SOFG Mitglied im Hauptschulungsamt der NSDAP und als Gebietsbevollmächtigter für die Umsiedlungsaktion der Deutschstämmigen in Wolhynien zuständig.6 Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Salzburg-Umgebung vom 15. März 1950 wurde Lendl als „Minderbelasteter“ gemäß § 1 des Bundesverfassungsgesetzes vom 13. Juli 1949 aus der Registrierungsliste der Nationalsozialisten gestrichen.7 Im selben Jahr wurde er – per Sondervertrag der Landesregierung –, mit der Herstellung des Salzburger Heimatatlaswerks betraut und blieb bis 1955 Leiter der dafür ge-

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schaffenen Dienststelle. Nach Abschluss dieser Arbeit fungierte er weiterhin als Konsulent der Salzburger Landesregierung für Fragen der Landesplanung. Zudem wurde er Kuratoriumsmitglied des 1950 gegründeten Instituts für Kulturforschung e. V. und Mitarbeiter der Stifterbibliothek. Als nun auch offiziell „Entnazifizierter“ richtete Lendl am 7. Januar 1952 ein Gesuch an die Universität Wien zur Wiederverleihung der Lehrbefugnis für Geographie, mit Berücksichtigung der Kulturgeschichte Mitteleuropas. Dieses Gesuch wurde vom Professorenkollegium, unter der Leitung von Hans Bobek, am 21. Februar 1953 einstimmig angenommen. Nach seiner neuerlichen Habilitation am 7. Mai 1953 lehrte Lendl bis 1963 an der Universität Wien sowie von 1959 bis 1963 auch als Gastprofessor an der Hochschule für Bodenkultur.8 In der historischen Auseinandersetzung mit der Wiedererrichtung der Universität Salzburg im Jahre 1962 tritt immer mehr zu Tage, dass bei der Berufung des wissenschaftlichen Personals eine etwaige „NS-Belastung“ der Wissenschaftler keine Rolle zu spielen schien. Wenn der Ruf einer Universität, so wie es der damalige Salzburger Landeshauptmann Hans Lechner formulierte, tatsächlich von der Person der Erstberufenen abhing, warum hat man dann in Salzburg bei der Besetzung der philosophischen Fakultät, die neben der theologischen Fakultät als Keimzelle der wiedererrichteten Universität in Salzburg zu betrachten ist, den ehemaligen Nationalsozialisten Egon Lendl nicht nur zum Dekan dieser Fakultät, sondern später auch noch zum ersten Rektor der Universität gewählt? Dass Lendl in dieser Hinsicht kein Einzelfall war, bestätigen zahlreiche weitere Berufungen. Der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr, der Germanist Herbert Seidler, der Urhistoriker →Kurt Willvonseder sowie der Philosoph und Geologe Walter del Negro sind nur einige weitere an die Universität Salzburg berufene Wissenschaftler, die nicht gerade als unbelastet gelten konnten. Diese Aufzählung ließe sich noch um zahlreiche bekannte Namen erweitern. Eine weitere wichtige Frage im Zusammenhang mit den Erstberufungen betrifft soziale Netzwerke. Ein Beispiel hierfür bietet die Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft, in der abgesehen von Lendl viele der Erstberufenen wie etwa Hans Sedlmayr sowie Kurt Willvonseder bereits seit 1932 eng zusammengearbeitet hatten. Im Salzburger Milieu herrschte, vor allem durch eine diesbezügliche Haltung des Erzbischofs Andreas Rohracher, eine ausgeprägte Kultur des aktiven Beschweigens und Verzeihens oder – wie man auch vermuten könnte – des Verdrängens und Vergessens. Keine Beachtung fand indes ein 1946 mitverfasstes Memorandum des Salzburger Benediktiners und Theologen Pater Thomas Michels, der 1947 aus dem USamerikanischen Exil an die theologische Fakultät der Universität zurückkehrte. Michels war im Herbst 1945 Gründungsmitglied der Austrian University League of America und plädierte unter anderem dafür, dass die Befürworter des „Anschlusses“ und Fürsprecher einer pangermanischen Ideologie von jeglicher akademischen Lehrtätigkeit in Österreich auszuschließen seien. Diese weitgehende Forderung wä-

Egon Lendl  441

re wohl mit den geplanten Erstberufungen kaum vereinbar gewesen, zumal Remigranten gegenüber in Österreich mit Skepsis begegnet wurde.9 Wie aus Aktenbeständen des österreichischen Unterrichtsministeriums hervorgeht, war die Berufung Egon Lendls an die Lehrkanzel für Geographie, seine Bestellung zum Dekan der Philosophischen Fakultät sowie später auch seine Wahl zum ersten Rektor der Universität von niemandem ernsthaft in Frage gestellt worden. Seine NS-Vergangenheit bildete nie Gegenstand einer Diskussion. Lendl etablierte sich schon wenige Jahre nach dem Krieg in der Salzburger Wissenschaftsszene und arbeitete bereits im Vorfeld intensiv an der Wiedererrichtung der Salzburger Universität mit. Auch an der Universität Wien erarbeitete er sich ab 1953 sehr rasch den Ruf eines exzellenten Wissenschaftlers. Bei seiner Wahl zum ersten Rektor der wiederbegründeten Universität Salzburg am 21. November 1963 spielte zweifellos eine entscheidende Rolle, dass er durch seine von Grund auf konservative Prägung den Vertretern der Theologischen Fakultät als akzeptabel erschien. Außerdem war Egon Lendl Vorstand des von ihm aufgebauten Geografischen Instituts und 1963 Dekan der Philosophischen Fakultät; er wurde 1977 emeritiert. Seit 1964 war er auch korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Überdies leitete Lendl die Sektion Österreich der Europäischen Forschungsgruppe für Flüchtlingsfragen (AER). 1977 erhielt er das Große Silberne Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich. Egon Lendl verstarb am 7. Januar 1989 in Salzburg.10

Hubert Stock

1 ÖSTA, Bundesministerium für Unterricht, 021/067, 1404 II. Teil, Personalakt Egon Lendl, Lebenslauf Egon Lendl. 2 Fritz Machatschek wurde von 1938 bis 1945 Ehrensenator der Universität Wien. Vgl. ÖSTA, Bundesministerium für Unterricht (BMfU), 021/067, 1404 II. Teil, Personalakt Egon Lendl,. 3 ÖSTA, ebd., 1404 II. Teil, BM f. U. u. K. 1945–1965. 4 StGBl Nr. 13/1945, RIS, Verbotsgesetz § 10 und § 14. 5 Personalakt Egon Lendl, ÖStA, 1404 II. Teil, BM f. U. 1945–1965. 6 Alexander Pinwinkler, Walter Kuhn (1903–1983) und der Bielitzer „Wandervogel e.V.“, Historischvolkskundliche „Sprachinselforschung“ zwischen völkischem Pathos und politischer Indienstnahme, in: Zeitschrift für Volkskunde (2009), S. 41. 7 RIS, BGBl. Nr. 162/1949. 8 ÖSTA, 1404 II. Teil, BM f. U. 1945–1965, Personalakt Egon Lendl 9 Vgl. Alexander Pinwinkler, An Austrian Catholic Mission in America: P. Thomas Michels OSB (1892–1979) and the Legitimist Movement in the United States and the Early Second Republic, in: Günter Bischof (ed.), “Quiet Invaders” Revisited. An Assessment of the State of Research of Austrian Migration Biographies to the United States, Innsbruck u.a. 2016 (im Druck). 10 Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Biographie Egon Lendl; vgl. http://agso. uni-graz.at/sozio/biografien/l/lendl_egon.htm (28.12.2015).

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Fritz Lenz Der Mediziner Fritz Lenz gehörte der zweiten Generation der rassenhygienischen Bewegung in Deutschland an. Seine Schriften trugen ganz wesentlich zur Verbreitung der Rassenhygiene bei, die im Gegensatz zu den populärwissenschaftlichen Arbeiten von →Hans F. K. Günther eine breite Akzeptanz in der scientific community erlangten. Seine akademische Lehrtätigkeit beförderte die Institutionalisierung des Faches an den Universitäten.1 Lenz wurde am 9. März 1887 in Pflugrade (Pommern) geboren. Nach dem Abitur 1905 begann er in Berlin das Studium der Medizin, wechselte aber nach nur einem Semester an die Universität in Freiburg i. Br. Dort hörte er unter anderem Vorlesungen von August Weismann (1834–1914), der aufgrund seiner Arbeiten auf dem Gebiet der Vererbungs- und Abstammungslehre als der bedeutendste Zoologe seiner Zeit und Begründer des Neodarwinismus gilt. 1912 promovierte Lenz bei Ludwig Aschoff (1866–1942) in Freiburg – dessen konstitutions-pathologische Ausrichtung die gesundheitspolitische Orientierung der Pathologie insgesamt prägte –, mit einer Arbeit „Über die krankhaften Erbanlagen des Mannes und die Bestimmung des Geschlechts beim Menschen“. Lenz widmete sie dem Andenken Paul Julius Moebius (1854–1907).2 In dieser Studie untersuchte Lenz die damals bekannten Erbkrankheiten und die Regeln ihrer Vererbung. Zur Behandlung von Erbkrankheiten, insbesondere der „Hämophilie“, diskutiert er die „negative Selektion der betroffenen Stämme“.3 Schon während seines Studiums lernte Lenz, der damit auf dem aktuellen Stand der erbbiologischen Forschung ausgebildet worden war, 1909 seinen späteren Mentor Alfred Ploetz (1860–1940) kennen, den „Vater der deutschen Rassenhygiene“. 1910 gründete er zusammen mit dem Anthropologen Eugen Fischer (1874– 1967) eine Freiburger Ortsgruppe der Münchner Gesellschaft für Rassenhygiene, die drei Jahre zuvor von Alfred Ploetz, Ernst Rüdin (1874–1967) und dem Münchner Ordinarius für Hygiene, Max von Gruber (1853–1927) in Leben gerufen worden war. Dieses rassenhygienische Netzwerk förderte Lenz nach dem Studium. Zunächst arbeitete Lenz als Gastassistent unter von Gruber am Hygieneinstitut in München. Er übernahm 1913 auf Betreiben von Alfred Ploetz die Schriftleitung, ab 1922 gab er das seit 1904 erschienene Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie mit heraus. Diese „Zeitschrift für die Erforschung des Wesens von Rasse und Gesellschaft“, so der Untertitel, verband medizinische und ökonomische Bevölkerungskonzepte. 1919 habilitierte er sich schließlich auf von Grubers Aufforderung in München mit einer Arbeit über „Erfahrungen über Erblichkeit und Entartung an Schmetterlingen“. Bereits während seiner Tätigkeit als Hygieniker in dem Gefangenenlager Puchheim in Oberbayern in der Zeit des Ersten Weltkrieges entwickelte Lenz ein umfassendes Programm einer zukünftigen Lehrtätigkeit als Privatdozent für Hygiene. Die theoretischen Untersuchungen der Rassenhygiene dienten, so Lenz, der praktischen „Rassenpflege“, und damit dem „Leben der Rasse“. Gelte dies als übergeordnetes Ziel,

Fritz Lenz  443

so könnten „auch alle Teilgebiete der sozialen Hygiene rassenhygienisch betrieben werden.“4 Als wichtigste Forschungsmethode galt ihm die Medizinalstatistik. Ausschlaggebend für seinen weiteren beruflichen Erfolg wurde der 1921 zusammen mit dem renommierten Biologen Erwin Baur (1875–1933) und Eugen Fischer verfasste „Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“.5 Der in fünf Auflagen und einer englischen Ausgabe erschienene „Baur-Fischer-Lenz“ galt bis 1945 als das führende deutsche Standardwerk zur Rassenhygiene.6 Dieses Buch soll Adolf Hitler als Lektüre während seiner Festungshaft in Landsberg und Inspiration für die rassenhygienischen Passagen in „Mein Kampf“ gedient haben.7 Wesentlichen Anteil an der Entstehung hatte der Verleger Julius Friedrich Lehmann, der Lenz direkt zum Verfassen rassenhygienischer Schriften anspornte.8 1923 wurde Lenz als außerordentlicher Professor auf den ersten deutschen Lehrstuhl für Rassenhygiene in München berufen und galt in den zwanziger Jahren als erster Fachmann auf seinem Gebiet.9 Obwohl sein Renommee aus seinen Leistungen für die methodologische Fortentwicklung der Erbpathologie resultierte, galt ihm die erbpathologische Forschung vor allem als Mittel, der Rassenhygiene zur wissenschaftlichen Anerkennung zu verhelfen.10 1933, im Jahr der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten, die Lenz zunächst hoffnungsvoll begrüßte, übernahm er den Posten als Abteilungsleiter für Rassenhygiene an dem 1927 neugegründeten KWI für Anthropologie, Menschliche Erblichkeitslehre und Eugenik in Berlin-Dahlem. Lenz folgte Hermann Muckermann (1877– 1962), der diese Position aus politischen Gründen aufgeben musste. Obwohl er gleichzeitig auch einen Lehrstuhl für Rassenhygiene in Berlin erhielt, blieben die Arbeitsbedingungen und die staatlichen Investitionen in die akademische Etablierung der Rassenhygiene hinter seinen Erwartungen zurück.11 Politischen Einfluss gewann Lenz als Mitglied des Sachverständigenausschusses für Bevölkerungs- und Rassenpolitik, der unter anderem an der Entwicklung des „Gesetz(es) zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 mitarbeitete. Im Jahre 1937 trat er, angeblich auf Drängen des Staatssekretärs Arthur Gütts (1891–1949), in die NSDAP ein, nachdem er über die Frage, ob uneheliche Kinder rassenhygienisch „günstig“ seien oder nicht, unwillentlich in Konflikt mit Heinrich Himmler geraten war.12 Ferner war er Mitglied im NS-Dozentenbund und in der NS-Volkswohlfahrt und ab 1940 auch im NS-Deutschen Ärztebund.13 Im gleichen Jahr begann Lenz mit Schulungen von „Rassenprüfern“ der Einwandererzentralstelle (EWZ) sein aktives Engagement in der NS-Siedlungspolitik.14 Gemeinsam mit Othmar Freiherr von Verschuer und Eugen Fischer bildete er ein Netzwerk, das auf dem Gebiet der Rassenhygiene und „Auslese“ Einfluss auf den Reichsführer SS auszuüben versuchte. Erfolglos blieb der Vorstoß von Lenz zur Einrichtung eines „Reichskommissars für Bevölkerungspolitik“, da Himmler die Begutachtung in den EWZ’s für ausreichend hielt und komplizierte und vor allem langwierigere rassenanthropologische Verfahren, wie Lenz sie vorschlug, ablehnte.15

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Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden Lenz im Frühjahr 1946 Lehrstühle für „Menschliche Erblehre“ sowohl in Göttingen als auch in Münster angeboten. Lenz entschied sich für Göttingen und wirkte dort zunächst als außerordentlicher Professor, bis ihn ein Jahr später seine Vergangenheit einholte. In einem Zeitungsartikel war die Wiederaufnahme seiner Lehrtätigkeit kritisiert worden, zudem waren die Aufnahmegesuche, die Lenz an die NSDAP gerichtet hatte, bekannt geworden. Daraufhin hielt der Rektor der Universität Göttingen Friedrich Hermann Rein (1898–1953) in einer Aktennotiz fest, Lenz sei wohl ein politischer Fehlgriff gewesen und er habe sich im Auslande unmöglich gemacht. Hierauf ließ Lenz sich ausgerechnet wegen einer erblich bedingten depressiven Stimmungslage und Neurasthenie mit Hilfe zweier Gutachten des Psychiaters Ewald und des Internisten Schoen beurlauben. Er strebte schon seine Pensionierung aus gesundheitlichen Gründen an, doch die Beibringung mehrerer „Unbedenklichkeitserklärungen“ und Ehrenbezeugungen führte dazu, dass Rein nach Rücksprache mit dem UniversitätsKontroll-Offizier der britischen Besatzungsmacht am 27. August 1947 notierte, es gäbe „keine Schwierigkeiten, Herrn Professor Lenz im kommenden Semester wieder in vollem Umfang seine Lehr- und Forschungstätigkeit ausüben zu lassen.“16 So nahm dieser am 1. Oktober 1947 seine Dienstgeschäfte wieder auf. 1949 wurde er im Entnazifizierungsverfahren in die Kategorie 5 (entlastet) eingestuft17 und konnte 1952 zum Ordinarius für menschliche Erblehre ernannt werden. 1955 wurde Lenz emeritiert. Er lebte bis zu seinem Tode am 6. Juli 1976 in Göttingen.

Heiner Fangerau/Thorsten Halling

1 Maria Günther, Die Institutionalisierung der Rassenhygiene an den deutschen Hochschulen vor 1933, Mainz 1982. 2 Der Leipziger Neurologe und Psychiater Paul Julius Möbius begründete seinen Ruf unter der Kollegenschaft mit klinisch-neurologischen Einzelstudien (Möbius-Syndrom, Möbiussche Krankheit). Bekannt blieb Möbius Name der Öffentlichkeit allerdings durch sein Pamphlet „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“. 3 Fritz Lenz, Über die krankhaften Erbanlagen des Mannes und die Bestimmung des Geschlechts beim Menschen: Untersuchungen über somatische und idioplasmatische Korrelation zwischen Geschlecht und pathologischer Anlage mit besonderer Berücksichtigung der Hämophilie, Jena 1912, S. 129. 4 UALMU, E-II-2254, Personalakte Fritz Lenz, Programm der geplanten Lehrtätigkeit. 5 Privatarchiv Hanfried Lenz, Emmy Lenz, geborene Weitz, weist in zwei Briefen an Ihre Schwestern (5.12.1918) und Eltern (9.12.1918) auf die für Lenz wichtigen materiellen und ideellen Vorteile der Mitarbeit an dem von Baur angeregten Band hin. 6 Heiner Fangerau, Etablierung eines rassenhygienischen Standardwerkes 1921–1941. Der Baur-Fischer-Lenz im Spiegel der zeitgenössischen Rezensionsliteratur, Frankfurt a.M. 2001. 7 Fritz Lenz, Die Stellung des Nationalsozialismus zur Rassenhygiene, in: ARGB 25 (1931), S. 300– 308. 8 Lehmann an Lenz vom 21.1.1919, in: Melanie Lehmann (Hg.), Verleger J.F. Lehmann. Ein Leben im Kampf für Deutschland, Lebenslauf und Briefe, München 1935. 9 Vgl. Fangerau, Etablierung eines rassenhygienischen Standardwerkes, S. 115.

Fritz Lenz  445

10 Fritz Lenz, Gedanken zur Rassenhygiene (Eugenik), in: ARGB 37 (1943), S. 84–109, 106. 11 Renate Rissom, Fritz Lenz und die Rassenhygiene, Husum 1983, S. 24. 12 Benno Müller Hill, Tödliche Wissenschaft. Die Aussonderung von Juden, Zigeunern und Geisteskranken 1933–1945, Hamburg 1984. Lenz hatte die NSDAP-Mitgliedsnummer 3.933.933. 13 Robert Proctor, Racial Hygiene. Medicine under the Nazis, Cambridge, MA/London 1988, S. 61. 14 Vgl. Ingo Haar, Bevölkerungspolitische Szenarien und bevölkerungswissenschaftliche Expertise im Nationalsozialismus. Die rassistische Konstruktion des Fremden und das „Grenz- und Auslandsdeutschtum“, in: Rainer Mackensen (Hg. u.a.), Ursprünge, Arten und Folgen des ‚Konstrukts Bevölkerung‘ vor, im und nach dem ‚Dritten Reich‘, Wiesbaden 2005, S. 340–370. 15 BArch, BDC WI, A507, Akte Fritz Lenz, Schreiben Fritz Lenz an Günther Pancke, Chef des Rasseund Siedlungshauptamtes, vom 5. Januar 1940. Lenz fügte dem Schreiben eine Denkschrift „zur Umsiedlung unter dem Gesichtspunkt der Rassenpflege“ bei, und Himmler an SS-Obergruppenführer Heißmeier vom 31.3.1941. 16 UAG, Rek. Pa, Personalakte Fritz Lenz. 17 Privatarchiv Hanfried Lenz, Entnazifizierungs-Entscheidung, Entnazifizierungs-Hauptausschuss Hildesheim-Süd.

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Karl Christian von Loesch Der am 18. Dezember 1880 in Oberstephansdorf (Schlesien) geborene Ethnologe Karl Christian von Loesch war ein von den 1920er- bis in die 1940er-Jahre aktiver völkischer Multifunktionär, Publizist, Direktor des →Instituts für Grenz- und Auslandskunde (IGA) sowie seit 1940 Professor der Volkstumskunde an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Loesch war ein führender Vertreter der Konservativen Revolution und Aktivist im Kampf für die Revision der Pariser Nachkriegsordnung. Sein Ziel war die Neuordnung Europas durch die Schaffung ethnisch homogener Nationalstaaten. Loesch entstammte väterlicherseits einer Breslauer Bankiersfamilie und mütterlicherseits einer Adelsfamilie. Sein geadelter Vater Konrad war Großgrundbesitzer in Schlesien und der Provinz Posen. Loesch studierte zuerst in Bonn, Breslau und Berlin Jura. Nach der ersten juristischen Staatsprüfung 1903 war er für kurze Zeit als Gerichtsreferendar in Neumarkt bei Breslau tätig. Im Anschluss an den Militärdienst 1904/05 in Berlin studierte er schließlich dort, in Jena und München Geographie und Naturwissenschaften. 1910 promovierte er bei Erich von Drygalski (1865–1949) in München mit dem geographischen Thema Über einige Nautiliden des weißen Jura (1912). Danach war er lange Jahre als Privatgelehrter tätig. Bereits in seiner Gymnasialzeit entwickelte er ein ausgeprägtes Interesse an ethnischen Minderheiten, insbesondere den Deutschen außerhalb der Reichsgrenzen, hier vor allem an denen in Österreich-Ungarn. Seine erste Frau Vilma stammte aus Ungarn. Loesch vertiefte sein Interesse auf Studienreisen nach Österreich-Ungarn und Rumänien vor 1914 sowie durch seine Kontakte mit deutschsprachigen Minderheiten während des Ersten Weltkriegs. Als Offizier war er auf den osteuropäischen Kriegsschauplätzen tätig und bekam das Eiserne Kreuz I. und II. Klasse verliehen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit engagierte sich Loesch in den Abstimmungskämpfen in den deutschen Grenzregionen und organisierte dort generalstabsmäßig die Wahlkämpfe und den Transport von Stimmberechtigten zu Abstimmungen, wofür ihm verschiedene Auszeichnungen wie der Schlesische Adler und das Kärntner Kreuz, je I. und II. Klasse, verliehen wurden. In der Weimarer Republik wirkte Loesch in einer Vielzahl von Foren und Organisationen, die allesamt das zerfaserte Wirken der Konservativen Revolution widerspiegeln, und zugleich die Arbeitsweise von Männern wie Loesch verdeutlichen, dem es wichtig war, die Grenzen zwischen politischem Aktivismus, Politikberatung, angewandter sowie akademischer Wissenschaft zu überwinden. Seine zwei wichtigsten Standbeine waren dabei der eher aktivistisch ausgerichtete Deutsche Schutzbund und das Zeit seines Bestehens Regierungsstellen beratende Institut für Grenzund Auslandkunde. Die Unterschiede zwischen den beiden Zugriffen sollten indes nicht überbewertet werden. Um 1918 entstand eine Reihe von antiparlamentarischen rechten Sammlungsbewegungen, in denen Loesch Leitungsfunktionen innehatte. Zu nennen sind der

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kurzlebige Nationalbund (1918), der Juniklub (seit 1919) sowie der Deutsche Herrenklub als eine der Nachfolgeorganisationen. Loesch konzentrierte sich dabei zunehmend auf die sogenannte Deutschtumsarbeit. Darunter verstanden die Beteiligten den „kulturellen Schutz und politischen Zusammenhalt des gesamten deutschen Volkstums über die […] Grenzen der deutschen Staaten in Mitteleuropa hinweg“.1 Mit dem aus dem Baltikum stammenden →Max Hildebert Boehm (1891–1968) und dem aus Böhmen stammenden Hermann Ullmann (1884–1958) leitete Loesch den Deutschen Schutzbund für das Grenz- und Auslanddeutschtum (DSB) als Dachverband völkischer Verbände. Mit der Gründung des DSB sollte auch der Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) vereinnahmt werden, den Loesch wegen seiner alldeutschen Agenda und seiner Fixierung auf den Staat als politisch veraltet ansah. Das „Schutzbundhaus“ des DSB in der Motzstraße in Berlin-Schöneberg wurde in den 1920er Jahren zu einem bedeutenden Zentrum völkischer Agitation und Publizistik. Loesch führte unter wechselnden Funktionsbezeichnungen in den 1920erJahren die Geschäfte des DSB, der sowohl der groß angelegten Massenbeeinflussung als auch der Rekrutierung von Eliten diente.2 1924/25 gründete er den Volksdeutschen Klub als inneren Kreis des DSB. Ende der 1920er-Jahre regte er die Gründung des Gesamtdeutschen Gremiums an, in dem sich deutsche Parlamentarier aus dem Reich, Österreich, Danzig und den osteuropäischen Staaten zusammenfanden. Nach der Umwandlung des DSB 1930 in ein auf circa 400 Personen beschränktes Leitungsgremium war Loesch zwar noch in der Geschäftsführung vertreten, jedoch zog er sich bald zurück und verlegte sich mehr auf die wissenschaftliche Arbeit. Zusammen mit Boehm und Ullmann forcierte Loesch nach 1918 die theoretische Betonung der „Volksgrenzen“ gegenüber den Staatsgrenzen. Im Entwurf der DSB-Denkschrift „Zum großdeutschen Staate“ hatte er bereits im November 1923 die Deckung der Volks- und Staatsgrenzen als Vorbedingung für die Neuordnung Europas gefordert. Um diese Ziele zu erreichen, arbeitete Loesch mit dem gesamten politischen Spektrum rechts der Mitte zusammen, von Demokraten bis zu Nationalsozialisten. Dabei propagierte Loesch die Schaffung eines ethnisch homogenen großdeutschen Staates.3 Bemerkenswert an Loesch ist sein breites, geopolitisch und anthropogeographisch geprägtes Verständnis der Ethnologie, indem er die Volkskultur („Volk“) ebenso wie die Hochkultur und staatliches Handeln („Reich“) mit einbezog in seine Untersuchungen. „→Volk und Reich. Politische Monatshefte für das junge Deutschland“ lautete denn auch der programmatische Titel einer zwischen 1925 und 1944 vom späteren SS-Standartenführer Friedrich Heiß herausgegebenen Zeitschrift, für die Loesch über hundert wissenschaftliche Artikel verfasste und an der er seit 1933 auch offiziell mitwirkte. Loeschs zweites Standbein war mehr institutioneller und universitärer Natur. So war er beispielsweise an der Gründung, der →Deutschen Burse des Instituts für Grenz- und Auslanddeutschtum mit Wohnheim in Marburg beteiligt. In Berlin leitete er zusammen mit Boehm und Ullmann die „Arbeitsstelle zu Nationalitätenfragen“ am Politischen Kolleg in Berlin, einer 1920 gegründeten Privathochschule. Die-

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se Arbeitsstelle wurde nach dem beginnenden Zerfall des Kollegs zum Kern des 1926 gegründeten Instituts für Grenz- und Auslandsstudien, dessen Geschicke Loesch als Boehms Stellvertreter und seit 1933 fast zwei Jahrzehnte lang mitbestimmen sollte. Das Institut dokumentierte deutsches Leben außerhalb der Reichsgrenzen. Seit Anfang der 1930er-Jahre gab er mehrere aufwändig gestaltete Fotobände heraus, die den deutschen Kultureinfluss („deutscher Kulturboden“) jenseits der Reichsgrenzen sowie in der weiteren Welt nachzuweisen suchten.4 Das Institut veröffentlichte zudem eine Reihe von Kalendern und Kompendien sowie das Jahrbuch Deutsches Grenzland. Daneben fand Loesch die Zeit für eigenständige publizistische Projekte: Bücher, Sammelbände, unzählige Artikel, kartographische Projekte – so erstellte er Lexikabeiträge ebenso wie, zusammen mit →Albrecht Penck, eine „Volks- und Kulturbodenkarte des Deutschtums“. Das Institut verfügte über eine eigene Bibliothek und zeitweise sogar über ein in den eigenen Räumlichkeiten untergebrachtes Internat.5 Neben eigenständigen Forschungen bildete das Institut vor allem deutschsprachige Studenten aus dem Ausland aus, ebenso wie studentische Aktivisten aus anderen Ländern, die ihre in Berlin erworbenen Kenntnisse in nationalen Konflikten und separatistischen Kämpfen in ihren Heimatländern anwandten. Dies gilt beispielsweise für slowakische, kroatische, makedonische oder ukrainische Studierende. Der bekannteste Berliner Schüler war der der faschistischen Ustascha-Bewegung angehörende Völkerrechtler Mladen Lorković, der 1934 in Berlin promovierte und 1941 zum Außenminister des kroatischen Staates ernannt wurde. Auch in Loeschs umfangreichem publizierten Werk werden sein ausgeprägtes Interesse auch an nichtdeutschen ethnischen Gruppen und Völkern und seine klar verteilten völkischen Sympathien und Aversionen sichtbar. Loesch sympathisierte vor allem mit separatistischen Minderheiten quer durch Europa – zu Kroatien entwickelte er dabei eine besonders herzliche Affinität, die Rechtfertigungen des Terrorismus der Ustascha miteinschloss.6 Das Institut war zugleich für die Lehre des „Deutschtumsseminars“ der Deutschen Hochschule für Politik zuständig. Da Boehm 1933 an die Universität Jena berufen wurde, ersetzte ihn Loesch teilweise in seinen Berliner Funktionen. So leitete er fortan das IGA vor Ort, während Boehm in den Hintergrund rückte. Zudem rückte Loesch an Boehms Stelle als Dozent für Ethnopolitik an der Deutschen Hochschule für Politik. Als diese schließlich 1940 unter ihrem Dekan, SS-Standartenführer →Franz Alfred Six als Auslandswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-WilhelmsUniversität eingegliedert wurde, erfolgte am 1. September 1940 Loeschs Ernennung zum ordentlichen Professor für Volkstumskunde.7 Laut seiner Personalakte intervenierten bei seiner Ernennung Hitler und Göring persönlich zu seinen Gunsten, da sich die nichtjüdische Abstammung seines Großvaters nicht zweifelsfrei belegen ließ und daher kein für die Verbeamtung notwendiger sogenannter Ariernachweis ausgestellt werden konnte.8 Am 1. Mai 1933 trat Loesch der NSDAP bei. Der Eintritt erfolgte zusammen mit sieben anderen führenden Aktivisten der völkischen Bewegung wie Boehm und

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Heiß. Allerdings baten sie darum, wegen ihrer „besonderen außenpolitischen Verantwortung“ den Beitritt in der Öffentlichkeit geheim zu halten, was wie eine gleichzeitige Distanzierung vom Eintritt wirkte.9 Die Zentralisierung der völkischen Aktivitäten nach 1933 brachte eine gewisse Entzerrung mit sich. Gleichzeitig brachen einige der das völkische Spektrum bereits vor 1933 spaltende, oft persönlich motivierte Streitigkeiten, offen aus. Offene Konflikte hatte Loesch zum einen mit dem Geopolitiker →Karl Haushofer, der Loesch wegen angeblicher persönlicher Verfehlungen aus der Münchner Akademie zu verdrängen versuchte.10 Darüber hinaus kreideten sowohl etablierte Parteimitglieder als auch persönliche Konkurrenten wie zum Beispiel →Hans Steinacher, der Reichsleiter des VDA, Loesch seine guten Kontakte zur Weimarer Regierung, wie zum Beispiel zum Außenminister Stresemann, an. Loesch wurde ebenso wie Boehm vorgeworfen, unfähig zu sein, sich auf die „neue Zeit“ einzustellen.11 Haushofer, der nach 1933 eine dominante Rolle auf dem Gebiet der völkischen Wissenschaft einnahm, bezeichnete die beiden als „Irrsterne“.12 Allerdings blieb er in seinen Versuchen, die gut vernetzten Forscher zu isolieren, weitgehend erfolglos. Loesch gehörte seit 1933 der Reichsschrifttumskammer und seit 1934 dem NSDozentenbund an, verantwortete eine Vielzahl von Projekten und hatte eine Reihe von Ehrenämtern inne. So war er Senator an der Akademie zur Wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums in München und arbeitete eng mit der 1925 gegründeten Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit zusammen, auf deren Tagungen er laufend referierte. Seit 1929 saß er im Kuratorium der Stiftung Volk und Reich. Auch war Loesch an der →Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig beteiligt.13 Weiterhin war er Mitglied des Vereins für Geographie und Statistik in Frankfurt am Main sowie Ehrenmitglied der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin und seit 1935 der →Akademie für Deutsches Recht in Berlin, deren Ausschuss für Nationalitätenrecht er stellvertretend vorsaß. Als Vorsitzender des Unterausschusses für terminologische Fragen veröffentlichte er 1938 die Denkschrift zu den Begriffen Rasse, Volk, Staat und Raum.14 Für seine Aktivitäten erhielt er die Medaille zur Erinnerung an die Annexion des Sudetenlandes und die für den 13. März 1938 (Oktober 1939), verbunden mit seinem 60. Geburtstag im Dezember 1940 die Silberne Medaille des →Deutschen Ausland-Instituts in Stuttgart und das Ehrenzeichen für deutsche Volkspflege (2. Stufe). Spätestens mit der von Loesch vehement geforderten Zerschlagung der Tschechoslowakei war er der Verwirklichung seiner politischen Ziele vermeintlich näher gerückt: der Schaffung einer neuen politischen Ordnung auf völkischer Grundlage. Mit der Verschiebung der Grenzen in den Ländern, für die er Expertise beanspruchte, stieg auch Loeschs politischer Einfluss und er rückte noch näher an das NS-Regime. Dem bis dato gültigen internationalen Minderheitenrecht wurde somit ein explizit nationalistisches „→Volksgruppenrecht“ entgegen gesetzt – einschließlich einer hierarchischen Klassifikation der europäischen Völker. In den →Volksdeutschen

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Forschungsgemeinschaften (VFG) arbeitete Loesch an vielen Kartenprojekten mit, unter anderem auch an jenen, die die deutschen Forderungen beim Münchner Abkommen vom 29. September 1938 durchsetzen halfen und die die Grenzziehungen des Zweiten Wiener Schiedsspruches vom 30. August 1940 regelten.15 Zudem beteiligte sich Loesch an der Schulung von Parteimitgliedern und aus seinem Institut gingen zahlreiche Denkschriften für die SS hervor.16 Er übernahm auch Aufgaben im Sicherheitsdienst der SS (SD), ohne selbst SS-Mitglied zu sein.17 Zum Auswärtigen Amt besaß Loesch zwar schon seit den 1920er-Jahren enge Kontakte; kriegsbedingt wurde er aber erst ab August 1939 auch offiziell für dieses tätig. Es ist offensichtlich, dass Loesch sich damit den verbrecherischen Komplexen der nationalsozialistischen Volkstums- und Vernichtungspolitik annäherte. Loesch war nicht unmittelbar an NS-Verbrechen beteiligt, doch flankierte er diese propagandistisch, wenn er beispielsweise ethnische Säuberungen („Umsiedlung“) und Zwangsassimilationen („→Umvolkung“) forderte.18 Dazu kommen antisemitische Arbeiten zu einem Zeitpunkt, an dem die Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten mörderische Züge anzunehmen begann.19 Loeschs Theoriegebäude stand fest auf einer rassistischen Grundlage. Dies schließt inhaltliche Konfliktpunkte mit der NS-Politik keineswegs aus, war doch Loesch eher daran interessiert, ethnische und staatliche Grenzen in Übereinstimmung zu bringen, und weniger daran, diese gewaltsam zu verschieben. Einen Schatten auf Loeschs Wirken wirft auch dessen Nähe zum massenmörderischen Ustascha-Regime. Als rückhaltloser Befürworter des kroatischen Separatismus und Unterstützer der Ustascha hatte Loesch unmittelbar nach der Zerschlagung Jugoslawiens durch die Wehrmacht die Denkschrift „Die kroatische Frage“ des Ustascha-Führers Ante Pavelić publiziert und Hitler zur Verfügung gestellt. Damit trug er dazu bei, dass die Ustascha mit der Macht in Kroatien betraut wurde. Loesch beschwor die historische „deutsch-kroatische Schicksalsgemeinschaft“ und war ein wichtiger Advokat des jungen kroatischen Staates in Berlin. Laut Loesch zeige „die Wiederauferstehung Kroatiens allen Völkern, mit einzigartige Klarheit, wie richtig – kompromisslos angewendet – die Grundsätze der Europapolitik Adolf Hitlers sind“.20 Folgerichtig rechtfertigte er den Genozid der Ustascha an den Serben als „notwendigen Schnitt“ in der räumlichen Trennung zwischen Serben und Kroaten. Diese sei notwendig, da nach Loesch die Kroaten keine slawische Ethnie seien, sondern von den „Goten“ abstammten.21 Hatte er bereits im Herbst 1936 mit Studierenden Kroatien durchfahren22, so besuchte er während des Krieges wiederholt das Land, z.B. im Sommer 1941 für zwei Monate. Im April 1942 verlieh ihm der kroatische Staatschef den Orden der Krone des Königs Zvonimir erster Klasse. Im Jahr 1943 wurde das IGA von Stellen der SS übernommen. Loesch war nunmehr marginalisiert und zog sich von seinen öffentlichen Tätigkeiten zurück. Ab März 1944 wohnte er krankheitsbedingt im Raum Linz, von wo er 1947 nach Stuttgart zog. Dort wurde er im Entnazifizierungsverfahren von der Spruchkammer 15 Stuttgart als „Mitläufer“ eingestuft. Zu seiner Entlastung sagten ehemalige Kollegen

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und Mitarbeiter aus, so auch der spätere Bundespräsident Theodor Heuss (1884– 1963), der in den 1930er-Jahren am IGA gearbeitet hatte.23 Nach längerer Krankheit starb Loesch am 1. Januar 1951 in Stuttgart.

Hans-Werner Retterath/Alexander Korb

1 Max Hildebert Boehm, Die Reorganisation der Deutschtumsarbeit nach dem ersten Weltkrieg, in: ders. u.a. (Hg.), Ostdeutsche Wissenschaft, Bd. 5, München 1959, S. 9–34, 9. 2 Berthold Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen „Ring“-Kreises 1918–1933, Berlin 2000, S. 178–189. 3 Loeschs Ideologie und die Programmatik des DSB werden gut sichtbar im von ihm herausgegebenen und aufwändig gestalteten Sammelband Volk unter Völkern. Für den Deutschen Schutzbund, Breslau 1925. Im Band sind fast alle wichtigen Autoren aus dem deutsch-völkischen Spektrum jener Zeit vertreten. 4 Karl Christian von Loesch, Deutsche Züge im Antlitz der Erde. Deutsches Siedeln, deutsche Leistung, München 1935. 5 Werner von Harpe, Das Institut für Grenz- und Auslandstudien und die Methoden volkspolitischer Schulung, in: Deutsches Grenzland. Jahrbuch des Instituts für Grenz- und Auslandstudien, Berlin 1935, S. 70–77. 6 Alexander Korb, Dissimilation, Assimilation and the Unmixing of Peoples. German and Croatian Scholars Working towards a New Ethno-Political Order, 1919–1945, in: Transactions of the Royal Historical Society (Sixth Series) 24 (2014), S. 183–203. 7 Zur SS-initiierten Fakultät und dem angeschlossenen Deutschen Auslandswissenschaftlichen Institut vgl. den Beitrag in diesem Handbuch. 8 Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an Universitätskurator, 29.10.1940, UAHUB, Direktor Pers.akte, UK Pa L 197/I, Bl. 34. 9 Carl Freytag, Deutschlands „Drang nach Südosten“. Der Mitteleuropäische Wirtschaftstag und der „Ergänzungsraum Südosteuropa“ 1931–1945, Göttingen 2012. 10 Karl und Martha Haushofer an Rudolf Pechel vom 4.1.1930, in: Hans-Adolf Jacobsen, Karl Haushofer. Leben und Werk, Bd. II. Ausgewählter Schriftwechsel (1917–1946), Boppard 1979, S. 97f., Karl Haushofer an Rudolf Hess vom 18.10.1934, in: ebd., S. 174–176. 11 Denkschrift Steinachers vom 10.04.1933 zur Reorganisation der Volkstumspolitik, in: Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Hans Steinacher. Bundesleiter des VDA 1933–1937. Erinnerungen und Dokumente, Boppard 1970, S. 54–59, 56f., XVIII. 12 Karl Haushofer an Rudolf Pechel vom 6.10.1933, in: Jacobsen, Karl Haushofer, S. 148f., und ders., Nationalsozialistische Außenpolitik 1933–1938. Frankfurt a.M. 1968, S. 180f. 13 Vgl. zu Loesch und der Stiftung Michael Fahlbusch, „Wo der deutsche … ist, ist Deutschland!“. Die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920–1933, Bochum 1994; Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000, S. 25–69; Hoover Institution Archives, Karl von Loesch Collection, Stanford University, Cal./USA. Er war (Mit-)Herausgeber (auch mit eigenen Beiträgen) von Volk unter Völkern (1925), Staat und Volkstum (1926), Grenzdeutschland seit Versailles (1930), Das deutsche Volk. Sein Boden und seine Verteidigung (1937, 1938), Taschenbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums (44 Hefte mit Registerheft ab 1925), Deutsches Grenzland (1935–1939, hierin 1936: Völker sind nicht gleich), Der polnische Volkscharakter. Urteile und Selbstzeugnisse aus vier Jahrhunderten (1940), Die Völker und Rassen Südosteuropas (1943) sowie Mitarbeiter zahlreicher Zeitschriften wie Deutsche Rundschau (Ps. Sylvanus) und Zeitschrift für Geopolitik.

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14 Akademie für Deutsches Recht 1933–1945: Protokolle der Ausschüsse, Bd. 14, Frankfurt a.M. 2002. 15 Vgl. Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945, Baden-Baden 1999, S. 156–173, 623. 16 Vgl. zu Loesch und dem Institut für Grenz- und Auslandstudien ebd., S. 750, und Carsten Klingemann, Soziologie im Dritten Reich, Baden-Baden 1996, S. 71–86. 17 Vgl. Gideon Botsch, „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Deutschen Auslandswissenschaften“ im Einsatz 1940–1945, Paderborn 2006, S. 174, Fn. 13. 18 Karl Christian von Loesch (Hg.), Volkwerdung und Volkstumswandel, Leipzig 1943, sowie ders., Die Umsiedlungsbewegung in Europa, in: Franz Alfred Six (Hg.), Jahrbuch der Weltpolitik 1942, S. 36–69. 19 Karl Christian von Loesch, Juden und bodenständige Völker, in: Friedrich Heiß (Hg.), Die Verschwörung der Juden, Berlin 1938, S. 145–155. 20 Croatia restituta, in: Volk und Reich 17 (1941), S. 238–244, 239 und 244. 21 Karl Christian von Loesch, Die Völker Südosteuropas, in: ders./Wilhelm E. Mühlmann/Gustav Adolf Küppers-Sonnenberg (Hg.), Die Völker und Rassen Südosteuropas, Berlin 1943, S. 7–37, S. 31. 22 Hans Peterleitner, Zu unseren Fahrten und Bildern, in: Deutsches Grenzland 4 (1938), S. 116–123. 23 StAL, EL 902/20, 37/6/18150, Spruchkammerakten von Loesch, Dok. Nr. 31, Erklärung Theodor Heuss, 28.08.1948.

_____________________________________________________________________Kurt Lück  453

Kurt Lück Geboren am 28. Dezember 1900 in Kolmar (Chodzież) in einer deutschen Bauernfamilie, der Vater war Privatbeamter, wuchs Kurt Lück mit acht Geschwistern auf. Nach 3-jähriger Volksschule in Kolmar besuchte er bis 1918 die Hindenburg-Oberrealschule in Bromberg, wo er im April 1918 das „Notabitur“ ablegte. Als Freiwilliger kämpfte er gegen Polen im Infanterie-Regiment in Piła (Schneidemühl). Verwundet und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet entschloss sich Lück nach dem Versailler Vertrag in Polen zu bleiben. Er wurde zunächst als Hilfslehrer an der deutschen Schule beschäftigt. Er heiratete 1929 Annegrete Netz in Posen, aus der Ehe erwuchsen drei Söhne.1 Zwischen 1920 und 1924 studierte er Slawistik in Breslau und promovierte bei Paul Diels im Jahre 1924 über das Thema Der Bauer im polnischen Roman des 19. Jahrhunderts.2 Nach seiner Rückkehr nach Posen nahm Lück 1924 bis 1927 das Studium der Volkswirtschaftslehre an der polnischen Universität in Poznań (Posen) auf. An der Posener Universität gründete er den Verein Deutscher Hochschüler (VDH), einen Korporationsverband ‚deutschstämmiger‘ StudentInnenin Polen, der an den größten Universitäten Polens in der Zwischenkriegszeit (Kraków, Lwów, Poznań, Warszawa) vertreten war.3 Im Jahre 1930 bestand Lück in Posen die Staatsprüfung in polnischer Sprache zur Ausübung des Lehramtes. Wegen seiner politischen Aktivität für die deutsche Minderheit wurde er von der polnischen Polizei 1921 zum ersten Mal verhaftet und längere Zeit festgehalten. 1924 erhielt er in der Posener Geschäftsstelle der deutschen Sejm- und Senatsabgeordneten als Übersetzer seine erste Stelle. Für seinen weiteren Lebensweg entscheidend wurde sowohl unter politischen als auch unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten sein Aufenthalt in Luck (Luzk) in Wolhynien (1926–1932). Dort wirkte er vielseitig in den Organisationen der deutschen Minderheit, insbesondere auf dem wirtschaftlichen und bildungspolitischen Feld. In Luck gründete er die deutschen Presseblätter Wolhynischer Bote und Landwirtschaftlicher Kalender. Im Jahre 1928 initiierte er die Sammlung von Büchern und Gründung von Büchereien für Deutsche in Wolhynien. Mit der Wolhynischen Bücherhilfe sammelte er für die deutschsprachige Minderheit einige tausend Bücher. Er war Mitbegründer des Genossenschaftsverbandes für die Deutschen Wolhyniens, die Genossenschaft Kredit. Hier führte er auch seine ersten geschichtlichen und volkskundlichen Forschungen durch. 1928 vertrat er bei der Sejmwahl erfolglos die Liste des Minderheitenblocks. Bei dieser Gelegenheit wurde er von den polnischen Behörden wegen finanzieller Misswirtschaft in der durch ihn geleiteten Genossenschaft angeklagt und zu Gefängnis verurteilt. 1932 kehrte er mit seiner Familie nach Posen zurück.4 Dort arbeitete er zuerst als Hilfsrevisor beim Verband der deutschen Genossenschaften. 1934 übernahm die Leitung des Deutschen Büchereivereins von Paul Zöckler und verwaltete diese mit ihm bis zum Kriegsausbruch. Im Gegensatz zu seinen

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Vorgängern →Hermann Rauschning und Paul Zöckler blieb ihm aus zwei Gründen der Erfolg versagt: Er verfügte über keine bibliothekarische Fachqualifikation und war mit zahlreichen Nebentätigkeiten überlastet.5 Parallel beschäftigte er sich zudem mit wissenschaftlichen Forschungen über die Deutschen in Polen, er war Geschäftsführer der Historischen Gesellschaft für Posen und Herausgeber verschiedener Periodika: Deutsche Monatshefte in Polen, Landwirtschaftlicher Kalender für Polen und gemeinsam mit →Alfred Lattermann der Schriftenreihe Unsere Heimat. Er war auch Vorsitzender der Deutschen Bühne Posen. Lück gehörte ferner wissenschaftlichen Organisationen an wie der Kommission für Schlesien und der →Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft. Er war zudem Vorsitzender der Deutschen Vereinigung Ortsgruppe Posen.6 Nach dem deutschen Überfall auf Polen wurde Lück von polnischen Soldaten verhaftet, er konnte jedoch fliehen. Er verbarg sich bis zum Einmarsch der deutschen Truppen in Posen am 12. September 1939. In Anerkennung seiner Verdienste wurde ihm bis März 1940 die Leitung der Geschäftsstelle der Volksdeutschen in Posen übertragen. Lück nahm aktiv an der Verfolgung und Ermordung der polnischen Intelligenz teil, indem er gemeinsam mit dem stellvertretenden Bürgermeister Posens, Fritz Pfeiffer, die Listen der polnischen Geisel vorbereitete.7 Anfang 1940 gründete er zusammen mit dem VDA eine Gräberzentrale, die Material über Verschleppungen und Ermordungen Deutscher durch die Polen während der ersten Kriegsmonate sammelte und untersuchte. Ergebnisse dieser Tätigeit publizierte er in drei Broschüren. Er trug aus propagandistischen Gründen zur masslosen Überhöhung der deutschen Opferzahlen bei und indirekt zur Unterdrückung der Polen. Zwischen 1939 bis 1941 nahm er an der Umsiedlung der Deutschen aus Galizien und Wolhynien teil. Er hinterließ auch hier eine ausgeprägte gedruckte Spur in vier ähnliche Broschüren.8 Kurt Lück war seit 1941 SS-Mitglied, zuerst Hauptsturmführer beim Stab des SSOberabschnitts Warthe; dann im Herbst 1941 NSDAP-Mitglied. Er meldete sich für den Russlandfeldzug freiwillig zur Wehrmacht und wurde ab 1. Juni 1941 als Sonderführer und Dolmetscher eingesetzt. Er fiel bei einer „Säuberungsaktion“ gegen russische Partisanen am 5. März 1942 bei Orsza in Weißrußland, im Mittelabschnitt der Ostfront.9 Als Wissenschaftler wurde Lück bekannt durch seine Zeit in Breslau, wo er begann, über die Geschichte der Beziehungen zwischen Deutschen und Polen, zum deutschen Anteil an der Entwicklung des polnischen Staates und zur Geschichte der deutschen Sprachinseln in Polen zu schreiben. Er veröffentlichte über 20 Bücher und gab weitere 10 Bücher heraus. Im Unterschied zu seinen rein propagandistischen, im nationalsozialistischen Geist geschriebenen Broschüren aus der Kriegszeit, trugen diese Arbeiten aufgrund seiner archivalischen Forschungen in der Zwischenkriegszeit einen wissenschaftlichen Charakter, und er erlangte Ansehen auch unter polnischen Forschern. Seine volkskundlichen Studien begann Lück in Wolhynien, wo er Schwänke, Lieder und Sprichwörter sowohl der Deutschen als auch der

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Polen und Ukrainer erforschte. Er kartierte erstmalig die deutschen Siedlungen im Cholmer- und Lubliner Land und verfasste zwei Monographien darüber 1931 und 1933 zusammen mit Alfred Karasek. In diesen Werken stellte er das Deutschtum in seinem Existenzkampf um Sprache und Volkstum dar. Sie bildeten die Grundlage für sein volksgeschichtliches Werk „Deutsche Aufbaukräfte in der Entwicklung Polens“, worin er den Nachweis des deutschen Anteils an der polnischen Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft zu führen versuchte. Im Jahre 1938 veröffentlichte er seine zweite wissenschaftliche Abhandlung „Mythos der Deutschen in der polnischen Volksüberlieferung und Literatur“, worin er die Deutschen in der volkstümlichen Dichtung Polens darstellte. In der populärwissenschaftlichen Reihe der Historischen Gesellschaft „Unsere Heimat“ konzentrierte er sich auf Beschreibungen der Geschichte des Deutschtums in Polen. In seiner wissenschaftlichen Arbeit verband Lück geschichtswissenschaftliche und volkskundliche Aspekte mit einer aktiven Feldforschung im Sinne der →Ostforschung. Polnische Arbeiten bezog er in seine Studien ein, um jederzeit die kulturelle deutsche Hegemonie zu betonen. Der Materialreichtum der Werke macht sie zweifellos bis zum heutigen Tage als Quellensammlung nützlich, allerdings muss der völkisch-nationale Ansatz immer mitbedacht werden.10 Neben militärischen Auszeichnungen erhielt er für seine wissenschaftlichen Arbeiten das Silberne Abzeichen der Deutschen Akademie in München (1935), die Silberne Ehrenplakette des Deutschen Ausland-Instituts Stuttgart (1937) sowie den Herder-Preis der →Johann Wolfgang Goethe-Stiftung durch die Universität Königsberg (1937).11

Zdzisław Gębołyś

1 Richard Breyer, „Lück, Kurt“, in: Neue Deutsche Biographie 15 (1987), S. 446f.; http://www.deutsche-biographie.de/pnd140015094.html (15.10.2016); Tadeusz Ulewicz, Kurt Lück (1900–1942) oder einige Folgen des preussischen Nationalismus, in: Organon, 1995, T. 25, S. 175–185; Jan Zimmermann, Die Kulturpreise der Stiftung F.V.S. 1935–1945. Darstellung und Dokumentation, Hamburg 2000, S. 430–448; Viktor Kauder, Dr. Kurt Lück, Volkstumskämpfer und Forscher, in: Jahrbuch Weichsel-Warthe 8 (1962), S. 60–66, auch in: Von unserer Art, hg. v. F. Weigelt, 1963, S. 90–95; Walther Kuhn, Kurt Lück (1900–1942), in: Zeitschrift für Ostforschung 1 (1952) 3, S. 425–427. 2 Hans-Werner Rautenberg, Das historiographische Werk Kurt Lücks, in:, in: Michael Garleff (Hg.), Zwischen Konfrontation und Kompromiss, München 1995, S. 95–107. 3 Breyer, „Lück, Kurt“, S. 446f; Ulewicz, Kurt Lück, S. 175ff.; Zimmermann, Die Kulturpreise der Stiftung F.V.S., S. 430–448; Kauder, Dr. Kurt Lück, S. 60ff.; Kuhn, Kurt Lück, S. 425ff. 4 Hans von Rosen, Kurt Lück und Wolhynien, in: Jahrbuch Weichsel-Warthe 3 (1957), S. 55–60; Ulewicz, Kurt Lück, S. 176ff. 5 Zdzisław Gębołyś, Biblioteki mniejszości niemieckiej w II Rzecyzpospolitej, Katowice 2012, S. 290f.; BArch, R 8043, Deutsche Stiftung, Sygn. 62 580 Posen- und Westpreusen. Kulturarbeit (1923–1940), K. 184, 212; ebd., Sygn. F 62 581 Posen- und Westpreussen. Kulturarbeit (1923–1940), K. 413–416; Kommission für Zeitgeschichte, NLB RKA, B IV 1 k1e, Deutsches Auslandsinstitut Stuttgart, Biogram Kurta Lucka, K. 302.

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6 Ulewicz, Kurt Lück, S. 177ff. 7 Aleksandra Pietrowicz, Zakładnicy miasta Poznania (Z archiwum Adama Poszwińskiego), in: Biuletyn Instytutu Pamięci Narodowej (2007) 1/2, S. 93–96. 8 Marsch der Deutschen in Polen (1940) und Volksdeutsche Soldaten unter Polens Fahnen (1943), Der Lebenskampf im deutsch-polnischen Grenzraum (1940), sowie Die Wohlyniendeutschen kehren heim ins Reich (1940), Die Heimkehr der Galiziendeutschen (1940), Deutsche Volksgruppen aus dem Osten kehren Heim ins Vaterland (1930), Die Cholmer- und Lubliner Deutschen kehren Heim ins Vaterland (1940); vgl. Ulewicz, Kurt Lück, S. 177ff.; Rautenberg, Das historiographische Werk Kurt Lücks, S. 95–107. 9 Breyer, Lück, Kurt, in: Neue Deutsche Biographie 15 (1987), S. 446f.; Ulewicz, Kurt Lück, S. 175ff.; Kauder, Dr. Kurt Lück, S. 60ff.; Kuhn, Kurt Lück, S. 425ff. 10 Vgl. Ulewicz, Kurt Lück, S. 177ff.; Rautenberg, Das historiographische Werk Kurt Lücks, S. 95– 107; Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000, S. 115, 187, 272, 348. 11 Zimmermann, Die Kulturpreise der Stiftung F.V.S., S. 430–448.

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Herbert Ludat Herbert Ludat wurde am 17. April 1910 im ostpreußischen Insterburg (heute: Tschernjachowsk im Kaliningrader Gebiet) als Sohn des Postinspektors Franz Ludat und dessen Ehefrau Gertrud geboren. Seine Eltern siedelten 1913 nach Berlin über. Er studierte an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin bis Anfang 1935 Geschichte, Germanistik, Philosophie und slawische Sprachen; besondere Kenntnisse erwarb er sich im Polnischen. Prägend auf Ludat wirkten bereits Ende der 1920er Jahre die Seminare bei Willy Hoppe und Max Vasmer, die er später einmal als seine wichtigsten akademischen Lehrer bezeichnete. Mit der seltenen Verbindung von Geschichte und Slawistik, von Mediävistik und ostdeutscher Landesgeschichte mit slawischer Philologie, Altertumskunde und Frühgeschichte der Slawen erschlossen sie ihm ein wissenschaftliches Arbeitsfeld, dem sich Ludat sein Leben lang verpflichtet fühlte. Wesentlich beeinflusst hat ihn auch sein älterer Kollege Heinrich Felix Schmid, der sich ebenfalls als Schüler Vasmers auf dem Gebiet der slawischen Frühgeschichte wissenschaftlich bereits etabliert hatte.1 Während Schmid und Vasmer dem jungen Ludat zahlreiche Kontakte zu polnischen insbesondere Krakauer Wissenschaftlern ermöglichten, war Hoppe bei aller hohen wissenschaftlichen Exaktheit nationalistisch gesinnt. Sicherlich von diesem Dualismus nicht unbeeinflusst, aber ganz seinem Geschichtsstudium zugetan, ist Ludat nicht als politisch engagierter Student in Erscheinung getreten, obwohl er Anfang 1932 Mitglied der nationalsozialistischen Opfergemeinschaft wurde und am 1. Oktober 1933 der SA beitrat.2 Er promovierte 1935 mit einer Arbeit, welche das Fortleben der slawischen Bevölkerung im historischen Ostdeutschland als einen friedlichen Akkulturationsprozess behandelte.3 Sein ausgeprägtes Interesse an den slawischen Völkern stand zwar zu diesem Zeitpunkt noch im Kontrast zu der deutschtumszentriert agierenden →Ostforschung, konnte aber für den deutsch-polnischen „akademischen Volkstumskampf“ funktionalisiert werden. In der Phase der Beschwichtigungspolitik Nazideutschlands gegenüber Polen führte Ludat in den Jahren von 1935 bis 1937 als Stipendiat der →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG) Untersuchungen über den Grad der deutschen mittelalterlichen Besiedlung im südlichen Kleinpolen durch. Als „Rüstzeug von größter nationaler Bedeutung für die Abwehr polnischer Irrtümer“ apostrophiert, bedeuteten die Forschungsarbeiten in Polen für ihn einen politischen Auftrag. Die dadurch gewonnenen Kontakte mit polnischen Gelehrten ließen Ludat seine Faszination für polnische Geschichte und Geschichtswissenschaft erkennen. Als er 1936 gleichwohl eine engere Zusammenarbeit mit ihnen ablehnte, war dies Ausdruck seiner Bereitschaft zum politischen Arrangement mit dem NS-Regime, um sich in der damaligen Wissenschaftslandschaft zu etablieren. Bereits im Dezember 1936 hielt Ludat Vorträge im Auftrag der NSDAP und am 1. Mai 1937 trat er in die Partei ein.4 Die innere Spannung Ludats zwischen dem volkstumszentrierten Geschichtsbild und seinem lebhaften wissenschaftlichen Interesse für die polnische Geschich-

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te blieb allerdings präsent und zeigte sich sowohl in seinen institutionellen Einbindungen als auch in seiner Forschungsarbeit. Während er seit 1937 als Leiter des Ostmitteleuropa-Seminars an der Berliner Hochschule für Politik geradezu tagespolitisch agieren musste, hoffte er gleichzeitig, als Leiter der Abteilung „Geschichte und Sprachen“ am →Institut für Heimatforschung der Berliner Universität in Schneidemühl sich dem stillen Forschen und Lehren auf dem Gebiet der Mediävistik widmen zu können. Diese wissentliche Trennung zwischen politischem Zeiterleben und vermeintlich politikferner Mittelalterforschung konnte jedoch nicht durchgehalten werden. Greifbar wurde dies bereits 1938, als Ludat „die Wiedereindeutschung Ostelbiens“ als geschichtliche Aufgabe der Mark Brandenburg guthieß, die permanent den polnischen Expansionismus abwehren musste.5 Die ganze Zwiespältigkeit im Wirken Ludats, der vor 1945 zwischen politischen Konzessionen und wissenschaftlicher Integrität balancierte, wurde zunächst in seinen zwei, in den folgenschweren Monaten Februar und März 1939 verfassten Artikeln6 sowie auch in seiner Berliner Habilitationsschrift und der dortigen Antrittsvorlesung von 1941 deutlich.7 Die heutige Lektüre der Vorworte beziehungsweise Schlussworte im Vergleich zum Inhalt dieser Arbeiten ergibt ein sehr diffuses und ambivalentes Bild. Den NS-konformen Anzüglichkeiten eines akademischen →Antisemitismus ebenso wie eines antipolnischen Nationalismus bei Ludat wurden paradoxerweise die Verherrlichung des gesamteuropäisch relevanten Ertrags der polnischen Geschichtswissenschaft und der autonome Entwicklungsprozess Polens im Mittelalter gegenübergestellt. In diesem schillernden Gesamtkomplex ist auch die ihm seit Juni 1941 verliehene, aber faktisch wegen des Wehrmachtsdienstes kaum ausgeübte Dozentur an der nationalsozialistischen →Reichsuniversität Posen zu sehen. Gegen Ende des Krieges verschlug es Ludat in die britische Besatzungszone. Nachdem er sich bereits 1945 an die Kieler Universität umhabilitiert hatte, siedelte er zwei Jahre später nach Münster über. Dort erhielt er vorübergehend die Stelle eines Diätendozenten, welche 1951 in eine außerplanmäßige Professur umgewandelt wurde. Im Jahre 1955 erfolgte seine Ernennung zum wissenschaftlichen Rat. Den Sommer 1956 verbrachte Ludat in Mainz, wo er kurzzeitig die außerordentliche Professur für Osteuropäische Geschichte vertrat. Zu seiner dauerhaften Wirkungsstätte wurde schließlich die Universität Gießen. Im Jahre 1956 erhielt er dort den Lehrstuhl für Agrar-, Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte und übernahm kurz danach die Leitung des Instituts für kontinentale Agrar- und Wirtschaftsforschung. Nach 1972 beschränkte sich seine Tätigkeit im Institut auf die Leitung der Abteilung für die Geschichte Osteuropas, an deren Spitze er bis zur seiner Emeritierung im Jahre 1978 stand. Zu den Schülern Ludats gehören Klaus Zernack, Hans-Dietrich Kahl und Christian Lübke. Durch die nach 1945 neu geschaffene europäische Staatenordnung hat sich für Ludat die Frage nach der Stellung Ostmitteleuropas, und insbesondere Polens zwischen Ost und West neu gestellt.8 Gleichzeitig konnte er – diesmal ohne die Einwirkung des totalitären NS-Staates – auf seinen alten, weiterhin aktuellen Fragenkata-

Herbert Ludat  459

log zur Rolle der deutsch-polnischen Beziehungen für die Geschichte Europas zurückgreifen. Angesichts des sich anbahnenden „Kalten Krieges“ rückte die Sowjetunion jedoch ins Zentrum der westeuropäischen Aufmerksamkeit. Polen als Forschungsgegenstand stieß indes auf breites Desinteresse. Gegen die borussische Tradition der deutschen Geschichtswissenschaft9 entwickelte Ludat bereits 1950 – beinahe gleichzeitig mit Heinrich Felix Schmid – den die außerrussischen Slawenvölker umfassenden Europagedanken.10 Polen erhielt hierin nicht nur einen legitimen Platz in der europäischen Völkerfamilie,11 sondern mit dieser besonderen Akzentuierung der Position Polens distanzierte sich Ludat auch von der traditionellen Ostforschung. Diese begann sich 1952 als „Schar der Ungebrochenen“ unter Federführung Hermann Aubins – weiterhin von der hybriden Kulturträgerrolle der Deutschen in der Geschichtsentwicklung Ostmitteleuropas durchtränkt – neu zu etablieren. Es gelang Ludat hingegen nicht zuletzt aufgrund seiner Erfahrungen aus der NS-Zeit, frühzeitig mit der polnischen, dem Stalinismus ausgelieferten Historikerschaft wieder Kontakt aufzunehmen. Diese war nach Klaus Zernack „zeitlebens sein gleichsam kollektiver Gesprächspartner“ geblieben. Mit den vier zentralen Betätigungsfeldern, der Genese der deutsch-polnischen Beziehungen im Mittelalter, der Stadtgeschichte des mittelalterlichen Slawentums, dem modernen Geschichtsbewusstsein in Polen und der polnischen Historiographiegeschichte errang Ludat den Beinamen „Botschafter der polnischen Geschichtswissenschaft in Deutschland“.12 In seine letzten von schwerer Krankheit gekennzeichneten Lebensjahre fiel die Umbruchphase von 1989/90. Durch den damit eingeleiteten Integrationsprozess Europas und die Wiederherstellung eines souveränen Polen hat die dramatische und zugleich provokatorische Frage Ludats von 1960: „Liegt Polen noch in Europa?“ ihre paradox erscheinende Berechtigung verloren und kann endgültig als positiv beantwortet gelten.13 Dass Ludat bereits 1963 die Antwort lieferte, als er nach dem „polnischen Beitrag zu einem europäischen Geschichtsbild“14 fragte, zeigt einmal mehr seine scharfsinnige Urteilskraft. Heute würde er womöglich die Frage nach dem Beitrag Polens zur europäischen Völker- und Staatengemeinschaft stellen. Ludat starb am 27. April 1993.

Błażej Białkowski

1 Herbert Ludat, Slaven und Deutsche im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze zu Fragen ihrer politischen, sozialen und kulturellen Beziehungen, Köln 1982, S. 409–410. 2 Vgl. Klaus Zernack, „Europa ostwärts der Elbe“. Zum Lebenswerk Herbert Ludats (1910–1993), in: Jahrbuch für die Geschichte Ost- und Mitteldeutschlands 44 (1996), S. 1–13; Jan M. Piskorski, Herbert Ludat (1910–1993) – Historyk słowiańszczyzny zachodniej i stosunków polsko-niemieckich, in: Herbert Ludat, Słowianie-Niemcy-Europa, hg. von Jan M. Piskorski, Poznań 2000, S. 325–354; BArch, ZW 427, A. 2, Bl. 2; ebd., BDC, REM, Personalakte Herbert Ludat, 2348, zwei Lebensläufe Ludats vom 1.4.1938 und von circa April 1940. 3 Herbert Ludat, Die ostdeutschen Kietze, Bernburg 1936.

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4 BArch, R 153, 1233, Korrespondenz für die Jahre 1935 bis 1936 zwischen Ludat, Brackmann, Papritz und Vasmer. 5 Herbert Ludat, Polen und Brandenburg im Mittelalter, in: Jahrbuch der Hochschule für Politik 1 (1938), S. 103–120. 6 Ders., Polens Stellung in Ostmitteleuropa in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1939; ders., Die polnische Geschichtswissenschaft. Entwicklung und Bedeutung, in: Grenzmärkische Heimatblätter 15 (1939), S. 11–53. 7 Ders., Bistum Lebus. Studien zur Gründungsgeschichte und zur Entstehung und Wirtschaftsgeschichte seiner schlesisch-polnischen Besitzungen, Weimar 1942 (2. Aufl. Hildesheim 1993); ders., Die Anfänge des polnischen Staates, Krakau 1942. 8 Ders., Das heutige Polen zwischen Ost und West, in: ders. (Hg.), Liegt Polen noch in Europa? Gießen 1960, S. 31–60. 9 Vgl. Klaus Zernack, Bemerkungen zur Geschichte und gegenwärtigen Lage der Osteuropahistorie in Deutschland, in: Klaus-Detlev Grothusen (Hg. u.a.), Europa Slavica – Europa Orientalis. Festschrift für Herbert Ludat zum 70. Geburtstag, Berlin 1980, S. 542–559, 554. 10 Herbert Ludat, Die Slaven und das Mittelalter, in: Die Welt als Geschichte 2 (1952), S. 69–84; Heinrich Felix Schmid, Grundrichtungen und Wendepunkte europäischer Ostpolitik, in: Jahrbuch für Geschichte Osteuropas 1 (1953), S. 97–98, 116. Vgl. Gerard Labuda, Stare i nowe tendencje w historiografii zachodnioniemieckiej [1956], in: ders., Polsko-niemieckie rozmowy o przeszłości. Zbiór rozpraw i artykułów, Poznań 1996, S. 163–190, 166ff. 11 Herbert Ludat, Die ältesten geschichtlichen Grundlagen für das deutsch-polnische Verhältnis, in: Das östliche Deutschland. Ein Handbuch, hg. vom Göttinger Arbeitskreis, 1959, S. 127–156, 130–132. 12 Die wichtigsten Aufsätze Ludats für die Zeit vor und nach 1945 befinden sich in 3 Sammelbänden: Deutsch-slawische Frühzeit und modernes polnisches Geschichtsbewußtsein. Ausgewählte Aufsätze, Köln 1969; Slaven und Deutsche im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze zu Fragen ihrer politischen, sozialen und kulturellen Beziehungen, Köln 1982; An Elbe und Oder um das Jahr 1000. Skizzen zur Politik des Ottonenreiches und der slavischen Mächte in Mitteleuropa, Köln 19712, Weimar 1995. 13 Vgl. zur Aktualität dieser Frage um 1989, Jan Józef Lipski, Liegt Polen in Europa?, in: Frank Herterich (Hg. u.a.), Dazwischen. Ostmitteleuropäische Reflexionen, Frankfurt a.M. 1989, S. 150– 163. 14 Herbert Ludat, Der polnische Beitrag zu einem europäischen Geschichtsbild, in: ders. (Hg.), Polen und Deutschland. Wissenschaftliche Konferenz polnischer Historiker über die polnisch-deutschen Beziehungen in der Vergangenheit, Köln 1963, S. 1–23.

_____________________________________________________________________Johann Wilhelm Mannhardt  461

Johann Wilhelm Mannhardt Johann Wilhelm Mannhardt wurde am 17. September 1883 in Hamburg-Eppendorf als Sohn des Augenarztes Franziskus Mannhardt geboren. Im August 1903 legte er sein Abitur an der Hamburger Gelehrtenschule Johanneum ab, über dessen Wissenschaftlichen Verein von 1817 er engen Kontakt zu dem späteren preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker besaß. Von 1903 bis 1908 studierte er Jura, Staatswissenschaften, Geschichte und Klassische Philologie in Heidelberg, Freiburg i. Br., Berlin und wieder Freiburg. Hier absolvierte er seine Militärzeit als Einjährig-Freiwilliger und wurde im Dezember 1908 zum Leutnant der Reserve ernannt. Nach dem juristischen Referendarsexamen im März 1908 in Karlsruhe arbeitete er 1909 am Amtsgericht Ritzebüttel. 1909/1910 studierte er nochmals in Heidelberg. Darauf war er bei der Handelskammer Hamburg und anschließend bei einer Anwaltsfirma tätig; im Juli 1912 legte er die Assessorprüfung ab. Im Januar 1913 verließ er den Staatsdienst und wurde freiwilliger wissenschaftlicher Hilfsarbeiter am Historischen Seminar des Hamburger Kolonialinstituts. Mit der Arbeit „Die polizeilichen Aufgaben“ des Seemannsamtes (Hamburg 1913) promovierte er im Januar 1914 an der Universität Greifswald. Ende 1913 legte er seine Ideen zu Auslanddeutschtum und Auslandhochschule dar, die er weiter ausarbeitete. Von Januar bis Juli 1914 unternahm er auf eigene Kosten eine Studienreise nach England, um sich mit Kolonialgeschichte und -politik zu befassen. Im Juli fuhr er weiter nach Kanada, wo er das dortige „Deutschtum“ studierte. Nach Kriegsausbruch floh er ins Reich zurück und kam Anfang Oktober 1914 an die Westfront; nach dem EK II erhielt er an der Ostfront 1916 das EK I, gegen Kriegsende das Ritterkreuz des königlichen Hausordens von Hohenzollern sowie drei weitere Auszeichnungen. Zuletzt fungierte er als Hauptmann und Abteilungskommandeur.1 Die Weimarer Republik lehnte Mannhardt als Jungkonservativer ab. Als nach den Arbeitermorden im März 1920 in Mechterstädt durch das Studentenkorps Marburg Wissenschaftsminister Konrad Haenisch (SPD) dies als feigen Meuchelmord bezeichnete, stellte sich Mannhardt auf die Seite der gegen Haenisch protestierenden Marburger Studenten.2 In seiner Schrift „Schützengrabenmenschen“ (Hamburg 1919) bezeichnete er den Weltkrieg als Lehrmeister; in der Schützengrabengeneration sah er die elitäre Führungsgruppe, die Deutschland zu retten imstande sei. Mit jugendbewegtem Geist sollte sie den Widerpart zum Wilhelminismus und der Weimarer Republik mit ihrer Massendemokratie bilden. Nach Gründung des Instituts für Deutschtum im Ausland an der Universität Marburg wurde er auf Empfehlung Beckers ab dem 1. Februar 1919 dessen Geschäftsleiter und zum 1. April 1921 zum Assistenten ernannt. Als im September 1920 das Institut mit einem Wohnheim für Studenten als →Deutsche Burse zu Marburg verbunden wurde, übernahm er auch die Heimleitung. Dadurch vernachlässigte er seine akademische Laufbahn stark, obwohl bei seiner Einstellung eine baldige Habilitation erwartet worden war, um dann Institutsdirektor zu werden. Daher trat er

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zum 1. Januar 1924 als Wohnheimleiter zurück. Der sich für die Errichtung einer „Auslandsprofessur“ in Marburg stark engagierende Fritz André (Marburger Juraprofessor und Mitglied des Vereins für das Deutschtum im Ausland, VDA) zwang ihn unter Einschaltung seines Freundes Becker, endlich sein Habilitationsverfahren zu betreiben. André betonte, dass für einen Universitätsdozenten theoretisch-wissenschaftliche gegenüber praktischen Interessen vorrangig seien, so sehr er auch Mannhardts organisatorische Arbeit in Institut und Burse würdige.3 Da das Institut zur Philosophischen Fakultät gehörte, legte er im Februar 1924 an der Universität Gießen seine Dissertation „Die soziologische und politische Bedeutung des Faschismus“ vor, aber erst nach der verlangten Überarbeitung wurde ihm Anfang März 1925 der Doktortitel verliehen. Diese Arbeit weitete er zu seiner Habilitationsschrift „Der Faschismus“ (München 1925) aus. Im Habilitationsverfahren bemängelten (wie bei seiner Dissertation) einige Kommissionsmitglieder seine politische Nähe zu Mussolini, während Institutsdirektor Leonhard Schultze-Jena ihn als von jeder politischen Bindung frei hinstellte. Der Staatswissenschaftler Walter Troeltsch sah in dem Werk jedoch „eine Tendenzschrift im wiss. Gewande“ und im Autor einen „Bewunderer Mussolinis“. Die Bewunderung findet sich auch in seinem Bändchen „Südtirol“ (Jena 1928), obwohl er die Südtirolpolitik der Faschisten ablehnte. Entgegen Mannhardts Intention wurde mit der Habilitierung im Dezember 1925 sein Lehrbereich von der umfassenderen „Staatenkunde“ auf „Grenz- und Auslandskunde“ begrenzt.4 In seiner Antrittsvorlesung parierte Mannhardt die Kritik aus der Habilitationskommission gegen den Lehrgegenstand „Grenz- und Auslanddeutschtum“. Nach der emotionalen Begründung wegen derselben Volkszugehörigkeit führte er rationale Punkte an. Wissenschaftlich gesehen balle sich hier das Problem von Volk und Staat. Aus pädagogischer Sicht seien die Studenten auch Diener am Volksganzen, wobei Wissenschaftler als Befehlende und Gesetzgeber fungierten. Sie zeigten durch ihre Lehre anhand von auslanddeutschen Vorbildern auf, was aktuell nottue. Auf die Praxis bezogen diene der Lehrgegenstand der Ausbildung von Bediensteten des Auswärtigen Amtes, von Kaufleuten, Geistlichen und Lehrern. Die Gefahr des Missbrauchs wies er von sich. Das „Auslanddeutschtum im ganzen“ teilte er in vier Gruppen auf. Die Gruppe der „Grenzdeutschen“ bezeichnete er als fremdstaatliche Deutsche im geschlossenen deutschen Siedlungsgebiet, wobei er Deutschland mit dem grenzübergreifenden „deutschen Volksboden“ gleichsetzte. Der Lehrgegenstand gründe „auf zwei Wesenheiten, die an sich nichts miteinander gemein haben, ja sich feindlich gegenüberstehen, dem Deutschtum und dem Ausland.“ Die Hochschule bzw. die Heimat habe die Waffen des Wissens zu schmieden, wobei der Wissenschaftler auch als Pädagoge „ängstlich darauf zu achten [habe], daß seine Analyse dem Gegenstande selbst förderlich sei und diesen nicht etwa zersetze.“5 Am 29. Juli 1927 wurde Mannhardt zum nichtbeamteten ao. Professor ernannt. Minister Becker wollte damit „die Bedeutung der Wissenschaft vom Grenz- und Auslandsdeutschtum, […] die z. Zt. noch an keiner anderen preußischen Universität ver-

Johann Wilhelm Mannhardt  463

treten ist, […] betonen“. Nach einem vergeblichen Versuch wurde Mannhardt am 11. August 1929 zum o. Professor für „Grenz- und Auslandsdeutschtum“ ernannt. Wie schon 1927 hatte das Dekanat der Philosophischen Fakultät im Vorfeld seine wissenschaftlichen Leistungen bemängelt, trug dann aber die Ernennungen mit.6 Von Februar 1929 bis August 1930 bereiste Mannhardt Süd- und Mittelamerika, Kalifornien, Hawaii, Ostasien und Südafrika. Er hatte über die Vermittlung Beckers vom Pariser Mäzen Albert Kahn ein auftragsfreies Stipendium erhalten. Forschungsfelder sollten „die große Politik, das Auslandsdeutschtum und das Hochschulwesen“7 der betreffenden Länder sein. Von März bis Juli 1934 besuchte Mannhardt mit zwei ungenannten Begleitern die nördliche USA und das südliche Kanada. Die Studienfahrt erfolgte in seiner Eigenschaft als Institutsdirektor, Professor für Politik und Überseereferent des VDA und wurde mit 1.500 RM vom Auswärtigen Amt teilfinanziert.8 Die beiden Reisen mit vielfältigen Kontakten zu Auslanddeutschen und besonders den Bursenkameraden in Übersee sowie seine politische Nähe zum VDAReichsführer →Hans Steinacher prädestinierten Mannhardt für Funktionen in der überseedeutschen Arbeit. Um die praktischen Bestrebungen zu intensivieren, war Mitte März 1933 verbunden mit Mannhardts Berufung als Leiter das VDA-Hauptreferat Übersee gegründet worden. Ende 1933 organisierte er je eine Gebietstagung zu Südafrika und Iberoamerika.9 Da jedoch NSDAP-AO-Leiter Ernst Wilhelm Bohle neben Reichsdeutschen im Ausland auch die Überseedeutschen (außer USA) für sich reklamierte, und Mannhardt ihm Paroli bot, wurde Steinacher von Rudolf Heß gezwungen, Mannhardt im August 1935 als Referatsleiter und im Winter 1935/36 aus der VDA-Führung zu entlassen.10 Um die Ansprüche der NSDAP-AO abzuwehren, aber auch die Auslanddeutschen für den Nationalsozialismus zu gewinnen, trennte Mannhardt diesen in „Partei“ und „Bewegung“. So wie sich die „Partei“ nur auf Reichsdeutsche beziehe, so die „Bewegung“ auf das gesamte Deutschtum, also auch die Auslanddeutschen.11 Im Frühjahr 1934 war die ÜFG als eine von sechs Forschungsgemeinschaften mit Mannhardt als Leiter gegründet worden.12 Bei den Tagungen der ÜFG standen jeweils ein regionaler und ein systematischer Aspekt im Vordergrund. Die erste Tagung am 24./25. März 1934 im Kloster Zeven behandelte das Assimilationsproblem am Beispiel des US- und Argentinien-„Deutschtums“. Zur Stärkung des Kampfeswillens gegen die „völkische Assimilation“ verlangte Mannhardt, das Volkstum als „höchsten Kampfwert“ zu vermitteln.13 Die zweite Tagung am 26./27. Oktober 1935 in der Marburger Burse thematisierte Australien und die Familienforschung. Im Fazit trat er für die Verzahnung von Praxis und Wissenschaft ein und forderte, für die völkische Arbeit in der Wissenschaft zu kämpfen. Wissenschaft und Lehre müssten dauerhaft vermitteln, dass die Reichsdeutschen nur eine Gruppe unter den Deutschen auf der Welt seien. Die Verkettung dieser Gruppen schaffe die Einheit, deren Haupt der „Volkskanzler“ aller Deutschen Adolf Hitler sei. 14 Die für Februar 1936 in Hamburg angesetzte Tagung zu Südafrika und dem Verhältnis von werdenden

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Volksgruppen und Kirche fand nicht mehr statt. 1938 schied Mannhardt aus der ÜFG-Leitung aus. Obwohl er erst am 1. Mai 1933 Parteigenosse und am 1. Juni 1933 Mitglied im NS-Lehrerbund wurde, hatte er schon seit ca. zehn Jahren mit faschistischen Ideen sympathisiert.15 Obgleich er an der Marburger Universität führend an der Gleichschaltung beteiligt war, kandidierte er im Mai und November 1933 erfolglos für das Rektorenamt.16 Bei der universitären Feier zum „Nationalfeiertag der Arbeit“ verbunden mit der Übergabe des Studentenrechts am 2. Mai 1933 hielt Mannhardt die Hauptrede „Universität und Nationalsozialismus“.17 Danach erfordere echte künstlerische und geistige Arbeit Berufung und Opfer. Weiter idealisierte er den Typus des SA-Mannes als Typus des deutschen Menschen der Zukunft. Der Schützengraben und der Trichterkrieg des Ersten Weltkriegs hätten erst den neuen deutschen Menschen geschaffen. Er lobte männliche Tugenden sowie das Prinzip von Befehl und Gehorsam; Bauer, Arbeiter und Jugendbewegte galten ihm als Geburtshelfer der neuen Zeit. Kritik sollte „an der richtigen Stelle“, aber nicht vor „der Masse und dem Auslande“ geübt werden. Gegenüber dem Ausland forderte er ein „noch geschickteres politisches Verhalten“ ein. Er relativierte die Freiheit der Wissenschaft, denn mit dem Schwinden der „Idee von der Voraussetzungslosigkeit“ würden die Wissenschaftler „an ihr Volk gebunden sein“. Mannhardt wurde im Mai 1933 zum „ständigen Sachbearbeiter für die Angelegenheit des Arbeitsdienstes, des Wehrsports und der Wehrwissenschaft“ der Universität bestimmt und setzte sich entschieden für deren Vorrang an drei Nachmittagen ein.18 Auch unterzeichnete er am 11. November 1933 das „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“.19 Trotzdem geriet Mannhardt mit dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) aneinander, denn dieser sah in ihm als Führer des „Sondervereins“ Burse einen Gegner der Formierung der Studentenschaft durch den NSDStB. Dieser parteiinterne Konflikt eskalierte dann im Frühjahr 1935 in einer Pressekampagne gegen ihn. Da ihm vorgeworfen wurde, den radikalen Aktionismus von ins Reich geflohenen österreichischen SA-Männern als „Kindereien“ bezeichnet zu haben, hieß es in einem überregionalen NSDStB-Organ, dass „ein exponierter Marburger Bürger auslandsdeutschen Volksgenossen gegenüber“ ein schlechtes Beispiel gegeben habe. Am 18. Juni 1935 kam es zum Eklat. Abends fand in der Burse ein Vortrag des katholischen Studentenpfarrers Werner Becker über das Kirchenbild einer neuen Generation statt. Unter die Zuhörer mischten sich auch zwei SA-Männer, darunter der aus Österreich wegen NS-Aktivitäten geflohene Jura-Student Walther Hochsteiner. Mannhardt wies sie hinaus, da nur Bursenmitglieder zugelassen seien. Daraufhin zog nach Vortragsende unter Leitung des Marburger Gaustudentenbundführers Gerhard Todenhöfer eine Gruppe von Studenten vor die Burse und skandierte Mannhardt-feindliche Sprüche. Noch in der Nacht erreichte Todenhöfer beim Reichserziehungsministerium die umgehende Beurlaubung Mannhardts.20

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Hatte er bisher die Leitung der Universität Marburg auf seiner Seite gehabt, so verschlechterte sich ab November 1935 das Verhältnis zusehends. Mannhardt hatte sie informiert, dass er mit dem Ministerium verhandle, die Professur mit Bibliothek und Assistentenstelle des Instituts mit an eine neue Universität zu nehmen, wogegen sich die Universität Marburg verwahrte. Anfang März 1936 entband das Ministerium Mannhardt von der Verpflichtung, in Marburg Vorlesungen abzuhalten, es folgten mehrere Beurlaubungen und am 3. November 1937 die Versetzung an die Universität Breslau als o. Professor für Soziologie, Weltpolitik und Hochschulwesen.21 Dort amtierte von Ende 1933 bis März 1938 der NS-Völkerrechtler Gustav Adolf Walz als „Führerrektor“, den Mannhardt noch von Marburg her gut kannte und der in Breslau eine auf Auslanddeutsche ausgerichtete „Südost-Universität“ plante. Daher begrüßte Walz Mannhardts Absicht, das Wohnheim und das Institut nach Breslau zu verlegen.22 Da sich Walz mit seinem Plan nicht durchsetzen und Mannhardt Bibliothek und Assistentenstelle nicht mitnehmen konnte, amtierte er in Breslau außer der Abhaltung von Kolloquien nur pro forma. Neben verschiedenen militärischen Übungen war er mindestens ab Herbst 1936 für das Oberkommando der Wehrmacht, Abt. Abwehr Ausland, zu Volkstumsfragen tätig. Mitte 1937 befand er sich wegen eines Spezialauftrages auf geheimer Dienstreise im Ausland. Bei einem weiteren Auftrag Mitte 1938 zog er sich eine Beinverletzung zu. Auch gab er auslandkundliche Kurse in Schulen und Fliegerhorsten der Wehrmacht. Im Sommer 1939 wurde er „mit der Spezialaufgabe, das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen zu normalisieren“ als politischer Referent zum Wehrmachtsbevollmächtigten nach Prag kommandiert. Im August 1939 wurde er eingezogen, kämpfte zunächst in Frankreich und dann an der Ostfront, wo er im August 1941 schwer verwundet wurde. Für einige Tage war er kurz vor der Niederlage der VI. Armee in Stalingrad. In den letzten Kriegsmonaten kommandierte er in der Gegend von Pilsen zwei Artillerieschulen sowie ein Artillerieausbildungsregiment, das er Anfang Mai als Oberst in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft führte.23 Da er bis 1945 Professor in Breslau war, galt er als „Heimatvertriebener“, weshalb er eine Pension erhielt.24 Die innerparteilichen Konflikte als NS-Verfolgung vorschützend wurde er von der Spruchkammer Marburg am 1. September 1949 als entlastet (Gruppe 5) eingestuft.25 Mit der Begründung, dass er ohne Disziplinarverfahren beurlaubt und zwangsversetzt worden sei, betrieb Mannhardt in Marburg die Wiederaufnahme seiner Lehrtätigkeit und später seine Emeritierung. Mitte 1955 befand eine vom Senat eingesetzte Kommission unter Zurückweisung des Mannhardt desavouierenden Gutachtens von Gerhard Wacke vom 13. August 1950, dass die Versetzung nach Breslau „Unrecht“ war. Laut einem Vermerk hatte sich Rektor Erich Schwinge (Militärjurist, Gutachter und Verteidiger in NS-Prozessen) für Mannhardt eingesetzt und dem hessischen Kultusministerium dessen Emeritierung nahegelegt.26 Ab Frühjahr 1948 verfolgte Mannhardt über anderthalb Jahre als Leiter des Christophorus Studienwerks den „Plan eines gesamtdeutschen Studienwerkes zur

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Wegbereitung einer evangelischen Führungsschicht“; er scheiterte wegen seiner allzu elitären Selektionsvorstellungen.27 Ende 1952 eröffnete er als spiritus rector die Burse neu, aus der er sich jedoch ab 1960 altersbedingt sukzessive zurückzog. Da der Heimleiter ihm die Institutsleitung streitig machte, legte er diese 1964 nieder. Daneben engagierte er sich bei der Wiederrichtung des VDA, wozu sich die alte VDA-Führungsriege um Steinacher am 1./2. November 1952 in Frankfurt am Main traf. Hieraus ging die von Mannhardt mitherausgegebene Broschüre „Verpflichtendes Erbe“ (Frankfurt 1954) hervor, mit der ein Neuanfang im alten Geist versucht werden sollte. Zwischen dem 1955 meist von demokratischen Kräften wiedergegründeten VDA und den alten VDAlern um Steinacher nahm Mannhardt eine Vermittlerposition ein; er besuchte mehrere VDA-Sitzungen und wurde Mitglied des Verwaltungsrats.28 1958 zählte er zu den Mitbegründern und Vorstandsmitgliedern des Allgemeinen Deutschen Kulturverbands in Wien, der als Unterorganisation der Österreichischen Landsmannschaft neben Europa auf Übersee ausgreifen wollte.29 Er pflegte Kontakte zu Vertriebenenorganisationen und war besonders aktiv in der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen, deren Organ Europa Ethnica er 1961 mitbegründete. Außer Reisen im deutschsprachigen Raum besuchte er zum Beispiel von August bis November 1961 Südamerika und Guatemala und von Dezember 1963 bis zum Frühjahr 1964 Südafrika.30 Er gehörte dem Jungdeutschen Bund an, in dem er über seine Mitgliedschaft in folgenden Organisationen zu einem „zentralen Mittler“ zwischen diesen wurde: ab 1920 Ehrenmitglied der antisemitischen Vereinigung Auslanddeutscher Studierender Marburg, ab 1922 VDA-Hauptausschuss, Fichte-Gesellschaft (von 1914), jungkonservativer Juni-Klub und danach Volksdeutscher Klub, Bund Oberland, ab 1921 Vertreter der Burse und des Jungdeutschen Bundes im Deutschen Schutz-Bund, dort ab 1931 persönliches Mitglied im Großen Arbeitskreis, nach der Gleichschaltung 1933 Vorstand des →Deutschen Ausland-Instituts (DAI), Vorstandsmitglied der Gesellschaft zum Studium des Faschismus, 1952 Gründungsmitglied der →Südosteuropa-Gesellschaft. An Auszeichnungen erhielt er 1960 die Ehrenplakette des Ostdeutschen Kulturrats „bene merenti“ und 1962 die Konstantin-Jireček-Medaille in Bronze der Südosteuropa-Gesellschaft. 31 Mannhardt starb am 10. September 1969 in Freiburg i. Br.

Hans-Werner Retterath

1 UAMar, 307d, 2853, Habilitationsgesuch (Anlage Lebenslauf); Auslanddeutschtum und Auslandhochschule, in: Hamburger Nachrichten, Nr. 565 vom 3.12.1913, 1. Beilage; Jahrbuch der Hamburgischen wissenschaftlichen Anstalten 32 (1914), S. 31; BArch, MA N 271 (Nl Johann Wilhelm Mannhardt, JWM), 9, S. 29–31; BArch, R 4901, 13271, Hochschullehrerkarteikarte. 2 GStA-PK Nl Carl Heinrich Becker, 5267 (Nl Becker), JWM an Becker vom 19.7.1920. 3 UAMar, 307d, 2854, Dekan Deutschbein an PrEM vom 8.3.1926; GStA-PK, Nl Becker, André an Becker vom 24.6.1924. 4 UA Gießen, Phil Prom 1746, Promotionsurkunde vom 6.3.1925; UAMar, 307d, 2853, Protokoll der Sitzung der Habilitierungskommission vom 15.7.1925 und Gutachten der Kommission, Marburg, vom

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18.7.1925; Manfred Wichmann, Waldemar Pabst und die Gesellschaft zum Studium des Faschismus 1931–1934, Berlin 2013, S. 152. 5 Matthias Damm, Die Rezeption des italienischen Faschismus in der Weimarer Republik, BadenBaden 2013, S. 289; Grenz- und Auslanddeutschtum als Lehrgegenstand, Jena 1926, S. 9, 10; zum Primat der Erziehung vgl. Berthold Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen „Ring“-Kreises 1918–1933, Diss. Bochum 1996, Berlin 2000, S. 78. 6 UAMar, 307d, 2853, PrEM an Kurator vom 6.7.1927, Dekan Thiel an PrEM vom 15.7.1927, PrEM an Kurator vom 29.7.1927, Dekan G[rüneisen] an PrEM vom 20.7.1929, PrEM an Kurator vom 11.8.1929. 7 UAMar, 308/30, 707, JWM an Staatsminister Becker, Berlin, vom 19.6.1928. 8 Karl Kurt Klein, Weltreise Mannhardt, in: Die Burse 1 (1929) 1, S. 24f.; JWM, Der dritte Reisebrief, in: ebd. 2 (1930/31) 2, S. 49–58, 57; Mannhardts Nordamerikafahrt, in: ebd. 4 (1933/34) 2, S. 96; PA, R 60271, Roediger (AA) an JWM vom 17.8.1934. 9 Dok. Nr. 27, Jahresbericht des VDA [für 1933], in: Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Hans Steinacher. Bundesleiter des VDA 1933–1937. Erinnerungen und Dokumente, Boppard 1970, S. 114–147, 123f. 10 Dok. Nr. 31, Der 15. Oktober 1934 und seine Folgen, in: ebd., S. 162–166; Dok. Nr. 99, Zur Lage des VDA im Herbst 1936, in: ebd., S. 372–379, 373, 375; UAMar 307d, Nr. 2855, Sachbericht des Ausschusses Scheuner/Schumann/Schulin vom 10.6.1955; Der Volksdeutsche 11 (1935) 17, S. 5. 11 Weihnachtsbrief nach Übersee mit einer Antwort und ihrer Entgegnung, in: Die Burse 5 (1934/35) 2, S. 74–82, 76. 12 Dok. Nr. 27, Jahresbericht des VDA [für 1933], in: Jacobsen, Steinacher, S. 114–147, S. 124f. Zur ÜFG vgl. Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?, BadenBaden 1999, S. 440–468. 13 PA, R 60271, Aufzeichnung Goekens (AA) vom 27.3.1934 über die Jahresversammlung der Vereinigten Forschungsgemeinschaften in Berlin am 26.3.1934. 14 PA, R 60274, Meynen an Twardowski (AA) vom 23.5.1936 mit Bericht und Protokoll der 2. Arbeitstagung der FG Übersee am 26. und 27.10.1935 in Marburg/Lahn, S. 25. 15 Vgl. Was erwarten die Auslandsdeutschen vom Nationalsozialismus?, in: Albrecht Erich Günther (Hg.), Was wir vom Nationalsozialismus erwarten. Zwanzig Antworten, Heilbronn 1932, S. 70–80; sein Brief an Hitler vom 26.10.1931 lt. UAMar 307d, 2855, Begründung des Spruches vom 10.6.1955 vom 28.6.1955; BArch, BDC, NSDAP-Gaukartei (Nr. 2.828.565) und NSLB-Kartei (Nr. 117.476). 16 Anne Chr. Nagel (Hg.), Die Philipps-Universität Marburg im Nationalsozialismus. Dokumente zu ihrer Geschichte, Stuttgart 2000, S. 15, Fn. 37, und 17f., Fn. 40. 17 Am 12.4.1933 war durch eine Studentenrechtsverordnung den Studentenschaften die rechtliche Anerkennung als Gliedkörperschaft der Hochschule zuerkannt worden, die der Marburger Studentenschaft 1927 entzogen worden war. Nach ihrer neuen Satzung konnten nur „Studenten deutscher Abstammung und Muttersprache unbeschadet ihrer Staatsangehörigkeit“ die Studentenschaft bilden, auch wurde eine Ariererklärung bei der Immatrikulation gefordert, Nagel, Philipps-Universität Marburg, S. 57 und 60; Universität und Nationalsozialismus, in: Die deutsche Hochschule (1933) 1, S. 30–49, 38–40, 44; Übergabe des Studentenrechts, in: Westdeut. Akad. Rundschau (WAR) 3 (1933) 7, S. 7. 18 Dok. Nr. 65, Senatssitzungsprotokoll über die Neuordnung des Stundenplans zur Ermöglichung von politischer und wehrsportlicher Ausbildung der Studenten vom 22.7.1933, in: Nagel, PhilippsUniversität Marburg, S. 164–166, 164, Fn. 183. 19 Überreicht von NSLB Deutschland/Sachsen, Dresden-A. 1., o.O. o.J., S. 131. 20 Emil Hoffmann, Erziehung zur Hochschule, in: WAR 5 (1935) 9, S. 1f. In dieser Zeit bekämpfte der NSDStB laut WAR vom April und Mai (vermeintliche) opportunistische Nationalsozialisten in der Dozentenschaft. Auch an anderen Universitäten waren davon Dozenten betroffen, die sich 1933 stark für die Gleichschaltung ihrer Universität engagiert hatten (so Adolf Rein in Hamburg). UAMar

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308/30, 138, Telegramm des REM an die Universität vom 19.6.1935 (Abschrift) und JWM an Rektor Baur vom 19.6.1935; ebd., 307 d, 2855, JWM an Rektor Walcher vom 21.1.1954 (Durchschlag). Abweichend: HSTAM, 165, 3820, Lageberichte des Regierungspräsidenten in Kassel, gemäß Bericht Marburger Oberbürgermeister an Regierungspräsidenten vom 28.6.1935. Laut Oberbürgermeister referierte Pfarrer Huenseler und ca. 35 Personen protestierten; Mannhardt nennt ca. 100. 21 UAMar, 307d, 2854, REM an Kurator vom 2.3.1936 (Abschrift); Mitteilungen des Marburger Universitätsbundes (1937) 1, S. 21; Catalogus Professorum Academia Marburgensis. Die akademischen Lehrer der Universität Marburg. 2. Bd. von 1911 bis 1971, bearb. von Inge Auerbach, Marburg 1979, S. 563f. 22 Thomas Ditt, „Stosstruppfakultät Breslau“. Rechtswissenschaft im „Grenzland Schlesien“ 1933– 1945, Tübingen 2011, S. 72. 23 UAMar, 307d, 2855, Sachbericht der Kommission zur Prüfung der Rechtmäßigkeit der Entfernung Mannhardts aus der Universität Marburg vom 10.6.1955; UAMar, 307d, 2853, JWM an Kurator vom 8.6.1937, Abschrift als Anlage zu Kurator an REM vom 12.6.1937; ebd., 2855, Abschrift der Begründung des Spruchs der Kommission zur Prüfung der Rechtmäßigkeit der Entfernung Mannhardts aus der Universität Marburg vom 10.6.1955 vom 28.6.1955; ebd., 308/30, 712, JWM an Neffe Mannfred Peters vom 16.7.1938; ebd., 307 d, 2855, JWM an Rektor Walcher vom 21.1.1954 (Durchschlag); vgl. Karl Kurt Klein, Johann Wilhelm Mannhardt, in: ders., Franz Hieronymus Riedl, Karl Ursin (Hg.), Weltweite Wissenschaft vom Volk. Volk – Welt – Erziehung. Johann Wilhelm Mannhardt zum 75. Geburtstag, Wien 1958, S. 9–21, 16f.; BArch, MA, N 271, 8 und 3. 24 UAMar, 307d, 2855, Vortragsnotiz für die Besprechung mit Dekan Pirson vom 29.11.1957. 25 Ebd., Abschrift Einschreiben JWM an Hess. Innenministerium vom 8.8.1951; HHStAW, Akte Spruchkammer Marburg/Lahn, Mst 1515, 46. 26 UAMar, 307d, 2855, Abschrift der Begründung zu dem Spruch vom 10.6.1955 und undat. Aktenvermerk nur für Prof. Flügge bestimmt. 27 BArch, MA N 271, 12, Offener Brief Mannhardts an evangelische Amtsträger u.a., undat. (21.5.1950), S. 2. 28 Bursenrundbrief, (Brb,) (1952) 5, S. 3; vgl. ebd. (1959) 31, S. 18, und seine Denkschrift „Dreißig Überlegungen zur Pflege unseres Aussenvolkstums in heutiger Sicht“, in der er nach einem Ende der Querelen für eine Neugründung eintrat, Beilage zum Brb (1959) 32. 29 Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945? Frankfurt a.M. 2003, S. 389f., 390. 30 Brb (1962) 40, S. 2, 6; BArch, N 1336 (Nl Hans Harmsen), 662, Harmsen an Karl Ursin vom 3.12.1963. 31 Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil, S. 136 (Zitat), 156, 184, 235; Marc Zirlewagen, „Wir wollen Deutsche sein, ein einig Volk von Brüdern!“ Die Vereinigungen Auslanddeutscher Studierender 1918–1933. Eine Text- und Quellensammlung inklusive der Chronik der VADSt Marburg 1919–1934, Essen 2013, S. 27; Bericht über die 41. Hauptversammlung des VDA in Kulmbach, in: Volk und Heimat 3 (1922) 10, S. 215–220, 220; Ingo Haar, Anpassung und Versuchung. Hans Rothfels und der Nationalsozialismus, in: Johannes Hürter (Hg. u.a.), Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte, München 2005, S. 63–82, 72f.; Dorothea Fensch, Zur Vorgeschichte, Organisation und Tätigkeit des Deutschen Schutzbundes in der Weimarer Republik, Diss. Rostock, Berlin 1966, Anmerkungsband, unpag.; Jahrestagung des DAI, in: Der Auslanddeutsche 16 (1933) 19/20, S. 478–496, 480; Wichmann, Waldemar Pabst, S. 70; http://www.sogde.org/wp-content/uploads/2015/04/konstantin_jirecek_medaille.pdf, (30.5.2016); Brb (1960) 36, S. 14f.

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Sabin Manuilă Sabin Manuilă (1894–1964) war der bedeutendste rumänische Experte für ethnische Demographie und Bevölkerungspolitik der Jahre 1930 bis 1948. Als ausgebildeter Arzt – er studierte bis 1919 an der Semmelweis-Universität in Budapest Medizin – hat Manuilă seine Universitätskarriere in Cluj (Klausenburg) begonnen. Seine ersten wissenschaftlichen Beiträge veröffentlichte er in Sozialmedizin. Nach seinem Aufenthalt als Stipendiat der →Rockefeller Foundation an der Hygiene and Public Health School der John Hopkins University (1925–1926) und besonders, nachdem er sich in Bukarest niedergelassen hatte (1927), dehnte sich sein Tätigkeitsfeld aus. Nunmehr arbeitete er im Bereich der Statistik und Demographie, speziell der ethnischen Demographie. Mit Manuilă wurde in Rumänien der Übergang von demographischen Statistiken auf die moderne Bevölkerungswissenschaft, im Einklang mit der Entwicklung in Westeuropa und den USA, durchgeführt. Die Volkszählungen der Bevölkerung Rumäniens von 1930 und 1941 wurden unter der Leitung von Manuilă durchgeführt. Die Volkszählung von 1930 enthielt drei neue Kriterien: „neam“ (ethnische Angehörigkeit oder Volkstum), Muttersprache und Religion. Die Volkszählung zeigte eine rumänische Mehrheit in den Provinzen, die Rumänien am Ende des Ersten Weltkriegs erworben hatte.1 Im April 1941 fand in Rumänien erneut eine Volkszählung anhand verfeinerter Kriterien statt, die das Ziel hatte, die demographischen und wirtschaftlichen Verluste Rumäniens des Jahres 1940 festzustellen. Die „allgemeine Volkszählung“ von 1941 wurde von mehreren Sonderzählungen begleitet: der Gebäude- und Wohnungszählung; der Landwirtschaftszählung; der Zählung der Flüchtlingen, Vertriebenen, Rückkehrer, Evakuierten und Entschädigten; der Zählung der jüdischen Bevölkerung; der Zählung der Handels-, Industrie-, Verkers- und Handwerksunternehmen.2 In Anbetracht der revisionistischen Ansprüche einiger Nachbarländer begründete Manuilă eine moderne demographische Analyse des rumänischen Staates. Manuilă beschäftigte sich mit der Festsetzung der ethnischen Struktur der Bevölkerung Großrumäniens. Zwischen 1929 und 1946 hat er eine relativ große Anzahl von Werken mit diesem Inhalt, rigoros geerdet, veröffentlicht.3 Bereits 1937 gab er zusammen mit seinen Mitarbeitern vom Zentralen Institut für Statistik die erste ethnographische Karte Großrumäniens heraus, die einen Anspruch auf Nachbargebiete Rumäniens demographisch ableitete. Im Rahmen der ethnischen Demographie entwickelte Manuilă ein besonderes Interesse für die Dynamik von Ethnien und die ethnisch-demographische Entwicklung Rumäniens im Allgemeinen und besonders in Siebenbürgen. Im Falle Siebenbürgens (im weiteren Sinne des Begriffes, hier werden auch das Banat, die Crişana (Kreischgebiet)) und die Maramuresch eingeschlossen), hat Manuilă aufgrund der ungarischen Volkszählungsdaten von 1910 und der rumänischen Daten von 1930 eine geringere demographische Zunahme der Minderheiten im Vergleich zu den Rumänen festgestellt.4 Die Auswertung der Geburts- und Todesstatistik zwischen 1910

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bis 1930 erlaubte es ihm, die Trends in der demographischen Entwicklung Siebenbürgens für Rumänen und die ethnischen Minderheiten abzuleiten. Was Rumänien als Ganzes betrifft, hat Manuilă eine schnellere Zunahme der Bevölkerung in den Provinzen östlich und südlich der Karpaten (quasi-homogen rumänisch aus ethnischer Sicht) im Vergleich zu Siebenbürgen (wo der Anteil der Minderheit erhoben war) vorausgesagt.5 Er vertrat die Auffassung, dass diese Umstände einen zunehmenden Migrationsfluss aus Muntenien und der Moldau nach Siebenbürgen bestimmen würden, die zu einer bedeutenden Erhöhung des rumänischen Bevölkerungsanteils führen müsse.6 Die ethnische Struktur siebenbürgischer Städte war Gegenstand einer bedeutenden Abhandlung, die bereits 1929 veröffentlicht wurde: „Evoluţia demografică a oraşelor şi minorităţilor etnice din Transilvania“ (Die demographische Evolution der Städte und der ethnischen Minderheiten Siebenbürgens).7 Hier versuchte Manuilă zu beweisen, dass die Veränderungen, die in der ethnischen Struktur siebenbürgischer Städte nach dem Ersten Weltkrieg festgestellt wurden, eine Folge der Beseitigung der politischen und wirtschaftlichen Schranken waren, welche in der vorhergehenden Epoche die Ansiedlung der Rumänen verhindert hatten. Die Zunahme des Anteils des rumänischen Elements entsprang hauptsächlich der Landflucht der Dorfbevölkerung, welche einherging mit dem Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozess der Provinz. Im Allgemeinen war die ethnische Situation siebenbürgischer Städte vom ländlichen Umland dominiert. Da hier die rumänische Bevölkerung überwog, führte die Stadtmigration auf natürliche Weise zu der Erhöhung des Anteils der rumänischen Bevölkerung in den Städten. Manuilăs Studien zu diesem Thema waren demnach sowohl eine Antwort auf die Sorge nationalistischer, rumänischer Kreise bezüglich des Übergewichts der Minderheiten in vielen Städten der neuen Provinzen, als auch zu den Vorwürfen, die dem rumänischen Staat gemacht wurden, wonach dieser mit der Rumänisierung siebenbürgischer Städte begonnen hätte. In seinen Werken, die entweder die allgemeine ethnische Lage Rumäniens betrafen, oder die sich speziell auf Siebenbürgen bezogen, legte Manuilă dar, dass der Revisionismus nicht auf der demographischen Situation basieren könne. In seiner Abhandlung „România şi revizionismul. Consideraţii etnografice şi demografice“ (Rumänien und der Revisionismus. Ethnographische und demographische Überlegungen), die 1934 veröffentlicht wurde8, zeigte Manuilă, dass niemand eine revisionistische Kampagne gegen Rumänien mit ethnischen Argumenten unterstützen könne. Als Statistiker und Demograph genoß Manuilă internationale Anerkennung von europäischen und amerikanischen Wissenschaftlern und beteiligte sich in den 1930er Jahren an den wichtigsten internationalen Treffen auf dem Gebiet der Bevölkerungwissenschaft. Er war Mitglied des Committee of Experts for the Study of Demographic Problems des Völkerbundes. In den Sitzungen dieses Ausschusses widerlegte er die Theorie der Überbevölkerung, die vor allem von deutschen Demographen befördert wurde. Manuilăs Rede auf der Tagung vom April 1939 in Genf war

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eine Replik auf demographisch verbrämte Argumentationen, um expansionistische politische Ziele zu rechtfertigen. Er betonte, die Überbevölkerung sei keine abstrakte Frage, der Grad der Überbevölkerung hänge von den Lebensmöglichkeiten und nicht von der Anzahl der Einwohner ab. Er warnte vor der „[…] Gefahr einer politischen Expansion, aber die Ursache ist nicht die Überbevölkerung, sondern dieses unpräzise Argument [die Überbevölkerung] wird verwendet, um Aggression zu rechtfertigen“.9 Manuilă spielte eine wichtige Rolle bei der Einführung der Idee des Bevölkerungsaustausches in den intellektuellen Kreisen Rumäniens, insbesondere auch im Vorfeld des Zweiten Wiener Schiedsspruches.10 Über den Bevölkerungsaustausch mit den Nachbarländern hat Manuilă seit 1929 geschrieben, so zum Beispiel in den Schlussfolgerungen der erwähnten Abhandlung über die demographische Entwicklung siebenbürgischer Städte und Minderheiten. Er plädierte hier für eine demographische Politik, „die den Interessen des rumänischen Volkes entsprechen sollte“. Er verstand darunter die Auswanderung zu stoppen und zugleich die Einwanderung von Auslandsrumänen zu fördern. Er schrieb auch von der Stärkung des rumänischen Elements an den Grenzen und von der Abschwächung „der Elemente mit zentrifugalen Tendenzen“ aus diesen Gebieten. In einem Archivdokument von 1932 erwähnt Manuilă die Kolonisierung der Minderheitszentren und der Landesgrenzen, gleichwohl geht er auch auf die Organisierung des Bevölkerungsaustausches mit Jugoslawien, Ungarn, Griechenland, der Tschechoslowakei und der UdSSR als aktuelle Probleme der ethnischen Politik ein. Seit dem Sommer und dem Herbst des Jahres 1940, als Rumänien aufgrund der außenpolitischen Umstände ungefähr ein Drittel des Territoriums und der Bevölkerung verloren hatte – und zwar Bessarabien und die Nordbukowina (von der UdSSR besetzt), Nordsiebenbürgen (an Ungarn abgetreten) und Süddobrudscha (an Bulgarien abgetreten) –, setzte sich die Idee der ethnischen Säuberung in den rumänischen Regierungskreisen durch. Als Experte für ethnische Probleme Siebenbürgens gehörte Manuilă zu den rumänischen Delegierten bei der Konferenz von Turnu Severin im August 1940, die dafür zuständig war, eine Lösung des rumänisch-ungarischen Konfliktes für Siebenbürgen zu finden. Ebenso schaltete er sich in den Zweiten Wiener Schiedsspruch vom 30. August 1940 ein, wo Deutschland und Italien den Konflikt zugunsten Ungarns „gelöst“ hatten. Er war derjenige, der einen rumänisch-ungarischen Bevölkerungsaustausch vorschlug. Von diesem Moment an studierte Manuilă die Statistiken des rumänischen Territoriums, und das nicht nur, um die rumänische Bevölkerungsmehrheit in den abgetretenen Gebieten zu beweisen,11 sondern auch, um eine ethnische Homogenisierung des Landes zu schaffen. Während der von Ion Antonescu geführten Regierung engagierte sich Manuilă in der Bevölkerungspolitik des rumänischen Staates, welche auf die ethnische Homogenisierung abzielte. Er bekleidete die Position des Generaldirektors des Zentralen Instituts für Statistik zwischen 1937 und 1947. In dieser Funktion bereitete er Dokumente vor, die für die Verteidigung der rumänischen Grenzen bei der nächsten

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Friedenskonferenz notwendig waren. Er wurde deswegen häufig von Marschall Antonescu und anderen Politikern in allen Problemen der Bevölkerungspolitik zu Rate gezogen. Zwischen 1940 und 1941 erarbeitete Manuilă für die Regierung mehrere Studien die alle den Titel „Politica de populaţie“ (Die Bevölkerungspolitik) trugen. Darin verdeutlichte er seine Auffassung bezüglich des Bevölkerungsaustausches als praktische Methode, um eine ethnische Homogenität zu erreichen.12 Im April 1941 plädierte Manuilă für eine Bevölkerungspolitik, die „uns die historische Epoche, die wir durchgehen, schrittweise Momente für die Lösung einiger Aspekte unserer Bevölkerungsprobleme bietet“. Nach seiner Auffassung sollten die Allianzen, die Rumänien eingegangen war, dafür verwendet werden, um das eine oder andere Problem der Bevölkerungspolitik zu lösen: „Wir haben Minderheiten, die den beiden externen Kräften, die uns das Schicksal gesetzt hat, angehören. Da wir der Politik einer dieser Kräfte zugeordnet sind, werden wir alles unternehmen, um das Minderheitenproblem mit der anderen Kraft zu lösen“. Mit anderen Worten sollte die Allianz mit Deutschland von Rumänien dafür ausgenutzt werden, um die Bevölkerungsprobleme mit den Nachbarländern, die sich mit Deutschland in Krieg befanden – in jenem Moment Jugoslawien, später die UdSSR – zu lösen. Auch verlangte Manuilă Studien über sämtliche Probleme, die zur Bevölkerungspolitik zählten, sowie die Erschaffung einer biopolitischen Akademie und Ausarbeitung eines technischen Führers für Bevölkerungsprobleme. In Anbetracht der Bedeutung der Bevölkerungspolitik schlug er vor, dass es im Kabinett einen Minister geben sollte, der sich mit diesem Bereich beschäftigt. Manuilă wichtigstes Dokument für den Bevölkerungsaustausch ist das Memorandum vom 15. Oktober 1941, welches an Ion Antonescu, den rumänischen „Conducător“, adressiert war.13 Hierin entwickelte er die Idee, die rumänische Regierung solle nicht nur die Wiederherstellung der Grenzen von vor 1940, sondern auch die ethnische Homogenisierung des Landes verfolgen. Das nationale Ideal sei ein „ethnisch homogenes Rumänien […], das alle Rumänen mit einschließt“ bzw. ein „rumänisches Rumänien“, ein Land, in dem „die politischen Grenzen mit den ethnischen genau übereinstimmen“. Dieser ethnozentrische Ansatz sei realisierbar, indem die ethnischen Minderheiten über die Grenze und die „Blutsrumänen“ ins Land gebracht würden. „Ein totaler und obligatorischer Bevölkerungsaustausch“ mit den Nachbarländern galt für ihn als praktische Lösung des Problems. Der geographische Rahmen der Bevölkerungsaustauschs umfasste Großrumänien in den Grenzen vor den Gebietsverlusten des Jahres 1940. Aus strategischen Interessen (die auf den Einbezug einer strategischen Grenze abzielten) und aus ethnischen Gründen (dem Saldo der ethnischen Rumänen, die nach Rumänien ziehen und jener Minderheiten, die das Land verlassen) sollten die Grenzen Großrumäniens einer Revision unterzogen werden. Die Abtretung einiger Territorien seitens Rumäniens wurde ins Auge gefasst: die Territorien im Norden Bessarabiens und der Bukowina (die zur Ukraine kommen sollten), der Streifen an der nordwestlichen Landesgrenze und dazu auch

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noch die westliche Ecke des Banats (die an Ungarn abgetreten werden sollten); aber auch die Annektierung einiger Territorien: ein Teil von Pokutien (das Gebiet, das vor 1939 Polen gehört hatte, und das Teil des Generalgouvernements war); ein kleiner Teil der Karpatoukraine (ein Gebiet, das der Tschechoslowakei gehört hatte und 1939 an Ungarn angegliedert wurde); die Stadt Békéscsaba (von Ungarn), ein Teil der Süddobrudscha (von Bulgarien). Das Programm sollte in Stufen vollzogen werden. Das Problem der anderen Minderheiten Rumäniens, andere als diejenigen mit „zentrifugalen Tendenzen“, konnte nicht durch den Bevölkerungsaustausch gelöst werden. Manuilă erwähnte sie in seinem Projekt und stellte eine Lösung vor, ohne jedoch einen Aktionsplan anzubieten. Was die Deutschen betrifft (die Sachsen aus Siebenbürgen und die Schwaben aus dem Banat), zeigte er, dass alle Indizien für ihre Repatriierung am Ende des Krieges sprachen. Das Problem der Türken „wird definitiv durch ihren allmählichen, von der türkischen Regierung operierten Transfer gelöst werden“. Er meinte hiermit das Abkommen, das zwischen der Regierung Rumäniens und der Türkei am 4. September 1936 abgeschlossen wurde, welches die Möglichkeit der freiwilligen Auswanderung der türkischen Minderheit aus der Dobrudscha beinhaltete. Für Juden und Zigeuner, die „im Rahmen der Lösungen für den Bevölkerungsaustausch nicht mit eingeschlossen sind“, verwendete Manuilă sibyllinisch den Begriff „unilateraler Transfer“. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er dabei an Transnistrien dachte, wo die Deportationen im Oktober 1941 begonnen und zu verheerenden Verlusten unter den Deportierten geführt hatten. Eher aber, wenigstens was die jüdische Bevölkerung betrifft, bevorzugte er wahrscheinlich eine Zwangsauswanderung, eine Idee, die er früher mehrmals, auch im April 1941, ausgedrückt hat. So hielt er zu den Ursachen des „Judenproblems“ fest: „Nicht die internen Maßnahmen, sondern ihre [der Juden, Anm. V.A.] Auswanderung war das Hauptproblem. Und nicht die Auswanderung der alten Juden, und auch nicht der Reichen, die allerdings doch weggegangen sind, sondern diejenige der Jugend und der Armen, die im Lande geblieben sind […].“14 Manuilăs Projekt berücksichtigte die Auswanderung von 3,6 Mio. Minderheitsangehörigen aus Rumänien und die Einwanderung von 1,6 Mio. Rumänen aus den Nachbarländern. Das zukünftige Rumänien hätte somit eine Fläche von 290.126,5 qkm (im Vergleich zu den 295.049 qkm Großrumäniens) und eine Bevölkerung von 18 Mio. Einwohnern (im Vergleich mit den 18 Mio. Bewohnern Großrumäniens im Jahr 1930) haben. Die Gesamtbevölkerung sollte sich wie folgt zusammensetzen: Rumänen – indem man auch das Bevölkerungswachstum in der Zeitspanne 1930–1941 in Betracht zog – 16.402.966 (90,9%); Deutsche 819.963 (4,5%); Türken und Tataren 194.604 (1,1%) und andere 618.554 (3,4%). Verglichen mit dem Minderheitenanteil von 28,1%, der Großrumänien bei der Volkszählung von 1930 besass, sollte Rumänien nun nach Manuilăs Projekt nur noch 9,1% an Minderheiten zählen. Deren Anteile sollten noch verringert werden, wenn Deutsche, Türken und Tataren auswanderten und Zigeuner (die in der Rubrik „andere“ eingeschlossen waren) „unilateral

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transferiert“ würden. Der Anteil der Rumänen hätte sich dann gegen 100% angenähert. Mit diesem Projekt schuf Manuilă für Marschall Antonescu einen Aktionsplan der Bevölkerungspolitik. Dieser wurde zwar nicht stricto sensu zu einem offiziellen Programm der Regierung Antonescus, jedoch war die Politik, die vom rumänischen Staat angesichts der Minderheiten angestrebt wurde, zum großen Teil mit den von Manuilă formulierten Ideen übereinstimmend. Unter Manuilăs Leitung hat das Zentrale Institut für Statistik Studien, Analysen und Statistiken über alle Bevölkerungsgruppen aus Rumänien und seinen Nachbarländern realisiert, die das Objekt eines Bevölkerungsaustausches oder -transfers werden sollten. In Transnistrien und östlich des Bug (im Reichskommissariat Ukraine) wurde durch zwei Arbeitsgruppen die Volkszählung der dortigen Rumänen (Moldauer) durchgefürt. Was die jüdische Bevölkerung anbelangt, wurde sie das Objekt mehrerer Analysen im Zentralen Institut für Statistik. Die Daten bezüglich jüdischen Besitzes, die das Institut zur Verfügung stellte, wurden bei der Vollstreckung der „Rumänisierungs“-Politik (das heißt „Arisierung“) verwendet. In einer Epoche, in der man bezüglich der Juden in Rumänien überschätzte Größen in Betracht zog, die bis 2,5 Mio. Personen annahmen, quantifizierte Manuilă ihre realistische Zahl auf ungefähr 800.000, die innerhalb der Grenzen von Grossrumänien lebten. Seine Auffassung über die jüdische Frage fand mehrfachen Niederschlag. In einem Artikel, der 1941 in Deutschland veröffentlicht wurde, schrieb er, daß „die jüdische Frage in Rumänien ein qualitatives und kein quantitatives Problem“ sei.15 Er berücksichtigte hier die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage der jüdischen Bevölkerung, die, da sie im Handelswesen, in der Industrie und in den freien Berufen gut repräsentiert war und, mehr noch, da sie größtenteils eine Stadtbevölkerung war, deutlich über dem mittleren Niveau der Landesbevölkerung stand. Manuilă kehrte 1957 zum „Judenproblem“ zurück, als er zusammen mit Wilhelm Fildermann, dem ehemaligen Präsidenten der Union der Verbände der Jüdischen Gemeinden Rumäniens, die Abhandlung „Regional Development of the Jewish Population in Romania“ veröffentlichte.16 Während des Krieges unterhielt Manuilă Kontakte zu →Wilfried Krallert, dem Leiter der →PuSte Wien der →Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft, und anderen deutschen Wissenschaftlern. Deren Zweck war es, die deutschen Wissenschaftler von der Richtigkeit des rumänischen Standpunktes bezüglich des Problems Siebenbürgens zu überzeugen. Im April 1941 nahmen auf Manuilăs Einladung →Friedrich Burgdörfer, Direktor des Statistischen Reichsamtes, und Alessandro Molinari, Generaldirektor des italienischen Instituts für Statistik, als Beobachter an der rumänischen Volkszählung teil. Manuilăs Absicht war, den beiden Vertretern der Achsenmächte zu zeigen, dass die Methode der rumänischen Volkszählung richtig war.17 Gleichzeitig stand Manuilă, dank der diplomatischen Kanäle der Nationalen Bauernpartei – er war ein enger Freund der Führer dieser Partei gewesen –, in Kontakt mit einigen angloamerikanischen Wissenschaftlern, denen er Unterlagen liefer-

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te, die sich im Vorfeld der geplanten Friedenskonferenz als vorteilhaft für die rumänischen Bestrebungen auswirken sollten. Nach dem Regimewechsel vom 23. August 1944 wurde Manuilă auf Vorschlag von Iuliu Maniu, dem Präsidenten der Nationalen Bauernpartei, zum Staatsuntersekretär im neuen Ministerrat ernannt. In den Jahren von 1945 bis 1946 war er Mitglied der an dem Außenministerium gebildeten Kommission, die die Teilnahme Rumäniens an der Friedenskonferenz in Paris vorbereitete. Nach der Einsetzung des kommunistischen Regimes in Rumänien floh Manuilă aus dem Land. Seit Anfang des Jahres 1948 und bis zu seinem Tod 1964 lebte er in den USA. In dieser Zeitspanne war er Sonderberater des United States Bureau of Census in Washington, Berater der Weltgesundheitsorganisation in Genf, Mitglied von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen, unter ihnen die Internationale Gesellschaft für Strafrecht. Er nahm an mehreren internationalen Tagungen teil, so am Internationalen Kongress für Soziologie von 1958 in Nürnberg.18 Manuilă war im Rahmen der Diaspora gegen das kommunistische Regime in Rumänien tätig. Er war Sekretär des Romanian National Comittee, eine Art antikommunistische Exilregierung.19

Viorel Achim

1 Die Ergebnisse der Volkszählung von 1930 wurden vom Zentralen Institut für Statistik 1938–1941 in 10 Bd. veröffentlicht. 2 Es wurden nur die vorläufigen Ergebnisse dieser Volkszählung veröffentlicht: Recensământul General al României din 1941, 6 Aprilie. Date sumare provizorii, Bukarest 1944. 3 Einige Werke Manuilăs über die Bevölkerung Rumäniens: Populaţia României, Bukarest, 1937 (in Zusammenarbeit mit D.C. Georgescu); Étude ethnographique sur la population de la Roumanie. Ethnological survey of the population of Rumania, Bukarest 1938 (mit der Version: Ethnographische Studie über die Bevölkerung Rumäniens: Studio etnografico sulla popolazione della Romania, Bukarest 1938); Studiu etnografic asupra populaţiei României, Bukarest 1940 (mit der Version: La popolazione della Romania. Studio etnografico, Bukarest, 1940). Vgl. auch Sabin Manuilă, Studies on the Historical Demography of Romania, hg. von Sorina Bolovan und Ioan Bolovan, Cluj-Napoca 1992. 4 Le développement des centres urbains en Transylvanie, in: Revue de Transylvanie 1 (1934–1935), S. 445–460. 5 Vgl. Structure et évolution de la population rurale. With the abridged English version, Bukarest 1940. 6 Les problèmes démographiques en Transylvanie, in: Revue de Transylvanie I (1934) 1, S. 45–60. 7 Evoluţia demografică a oraşelor şi minorităţilor etnice din Transilvania, in: Arhiva pentru Ştiinţa şi Reforma Socială 8 (1929) 1–3, S. 91–212. 8 România şi revizionismul. Consideraţii etnografice şi demografice, in: Arhiva pentru Ştiinţă şi Reformă Socială 12 (1934) 1–2, S. 55–82. 9 Viorel Achim, Sabin Manuilă despre ştiinţa demografiei ca argument contra revizuirii frontierelor, in: Naţiunea română – idealuri şi realităţi istorice. Acad. Cornelia Bodea la 90 de ani, hg. von Alexandru Zub, Venera Achim und Nagy Pienaru, Bukarest 2006, S. 317–328. 10 Zum Bevölkerungsaustausch vgl. Viorel Achim, Schimbul de populaţie în viziunea lui Sabin Manuilă, in: Revista Istorică 13 (2002) 5–6, S. 621–647.

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11 Manuilăs Werke mit diesem Inhalt: Die Folgen der Teilung Siebenbürgens in demographischer Hinsicht, Bukarest 1943, und die Version in englischer Sprache, The Vienna Award and its Demographical Consequences, Bucharest 1945. 12 Viorel Achim, Schimbul de populaţie. 13 Text veröffentlicht in Sorina Bolovan, Ioan Bolovan, Problemele demografice ale Transilvaniei între ştiinţă şi politică (1920–1945). Studiu de caz, in: Transilvania între medieval şi modern, hg. von Camil Mureşan und Ioan Bolovan, Cluj-Napoca 1996, S. 125–131. Englische Übersetzung des Projektes und seine detaillierte Analyse bei Viorel Achim, The Romanian Project of Population Exchange Elaborated by Sabin Manuilă in October 1941, in: Jahrbuch des italienisch-deutschen Instituts in Trient 27 (2001), S. 593–617. 14 Arhivele Naţionale Istorice Centrale, Bukarest, Fond Sabin Manuilă, Dossier XX/213, S. 1. 15 Das Judenproblem in Rumänien zahlenmäßig gesehen, in: DALV 5 (1941), S. 603–613, 608. 16 In: Genus, Rom, 13 (1957) 1–4, S. 153–165. Die Studie wurde 1957 auf dem Kongreß des Internationalen Instituts für Statistik präsentiert. 17 Viorel Achim, Romanian-German Collaboration in Ethnopolitics: The Case of Sabin Manuilă, in: Ingo Haar (Hg. u.a.), German Scholars and Ethnic Cleansing 1919–1945, New York 20062, S. 139–154. 18 Hier hielt er den Vortrag „The Social Consequences of Displacements of Population“, veröffentlicht in Actes du XVIIIe Congrès International de Sociologie (Nuremberg, 10–17 Septembre 1958), III, Meisenheim an der Glan 1963, S. 331–335. 19 Für Sabin Manuilăs Leben und Tätigkeit, besonders in dem Gebiet der Demographie, außerhalb der in den vorhergehenden Anmerkungen erwähnten Werken, vgl. Sorina und Ioan Bolovan, Introduction, in: Sabin Manuilă, Studies, S. 7–17; Sorina Bolovan, Sabin Manuilă’s Contribution to the Research of Urban Population of Romania, in: Transylvanian Review 1 (1992) 1, S. 56–64; Louis Roman, Sabin Manuilă et la démographie historique, in: ebd. 3 (1994) 1, S. 47–68; ders., Demografia istorică în opera lui Samuil Manuilă, in: Sabin Manuilă. Istorie şi demografie. Studii privind societatea românească între secolele XVI–XX, hg. von Sorina Bolovan und Ioan Bolovan, Cluj-Napoca 1995, S. 26–40; Vladimir Trebici, Dr. Sabin Manuilă, organizatorul statisticii ştiinţifice în România, ebd., S. 7–25, und Gheorghe Buzatu, Noi informaţii privind viaţa şi opera lui Sabin Manuilă, in: ebd., S. 41–55; Viorel Achim, Despre studiile minoritare în România în perioada interbelică, in: Hegemoniile trecutului. Evoluţii româneşti şi universale. Profesorului Ioan Chiper la 70 de ani, hg. von Mioara Anton u.a., Bukarest 2006, S. 89–98.

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Erich Maschke Erich Maschke, am 2. März 1900 als Sohn eines Augenarztes in Berlin geboren, wurde nach seinem Notabitur im Mai 1918 zum Militär- bzw. Kriegsdienst eingezogen und erlebte das Ende des Ersten Weltkrieges als Verwundeter. Nicht diese Verwundung oder das Kriegserlebnis als solches waren von offensichtlich starkem Einfluss auf ihn, sondern die Niederlage Deutschlands und die Bestimmungen des Versailler Vertrages. Daher beschäftigte er sich, auch unter dem großen Einfluss der bündischen Neupfadfinder, deren engerem Führungskreis um den Berlin-Karlshorster Pfarrer Martin Voelkel er lange Zeit angehörte, viele Jahre lang mit dem sogenannten Grenz- und Auslanddeutschtum. Im Rahmen seiner vielfältigen, an völkisch-nationalistisch-romantischen Ideen orientierten bündischen Grenzlandarbeit hielt er Verbindungen zu Neupfadfindern und Bundesgenossen in Österreich, in Ungarn und in der Tschechoslowakei. Er nahm an Tagungen des Deutschen Schutzbundes teil und war als einziger Vertreter der Jugendbewegung in der Mittelstelle Deutsche Jugend in Europa tätig.1 Auf seinen Auslandsfahrten hatte er die Gelegenheit, in Ostmittel- und Südosteuropa die Auswirkungen des Versailler Vertrages vor Ort kennenzulernen: Erich Maschke bereiste 1920 Ostpreußen und besuchte Königsberg, Memel, Masuren, Danzig und die Marienburg. Ein Jahr später (1921) machte er sich selbst ein Bild von der Situation der im Banat, in Siebenbürgen und in anderen Teilen Rumäniens ansässigen Deutschen. Dieses Engagement in der bündischen Grenzlandarbeit schlug sich auch in zahlreichen publizistischen Beiträgen zu Fragen des Grenz- und Auslanddeutschtums sowie zum sogenannten Grenzkampf nieder. Nach Maschkes Meinung ging es darin auch immer um den „Boden“ und um die „Reinheit“ und „Erhaltung“ des Blutes. Bereits 1922 bzw. 1925 wies er der historischen Forschung die Aufgabe zu, „Waffen für den Grenzkampf“ bereitzustellen.2 Mit großer Wahrscheinlichkeit wechselte Maschke infolge dieses Engagements in der bündischen Grenzlandarbeit vom Studium der Medizin in Berlin, Freiburg und Innsbruck zu dem der Geschichte, Germanistik und Geographie und ging nach Königsberg. Diese Jahre in Königsberg (1925–1935) waren für ihn in vieler Hinsicht bedeutsam. Hier beendete er 1928 sein Studium, wurde 1929 bei Erich Caspar habilitiert und legte mit mehreren Schriften zur Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen die Grundsteine sowohl für seinen wissenschaftlichen Ruf als Experte für die Deutschordensgeschichte3 als auch für seine akademische Laufbahn. In Königsberg weitete er seine thematischen Interessen aus, indem er begann, sich mit der Geschichte Polens sowie mit der polnischen historischen Forschung zu beschäftigen und Polnisch zu lernen. Spätestens hier in Königsberg erwarb Maschke ein Verständnis von Geschichte, das in historischen Quellen und Dokumenten Hilfsmittel und Waffen für die politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart sah, vor allem im Kampf gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrages, nun vorrangig in Ostmittel- und Osteuropa. Von erheblichem Einfluss auf ihn waren dabei der Historiker →Hans Rothfels sowie dessen Schülerkreis. Wie sie war auch Maschke von der be-

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sonderen Aufgabe der Universität Königsberg im „Grenzkampf“ gegen Polen überzeugt. Daher stieß er zu ostwissenschaftlichen Kreisen, revisionistischen Verbänden und landesgeschichtlichen Einrichtungen, die in enger personeller, struktureller und inhaltlicher Verflechtung seine weitere Entwicklung zu einem politischen Historiker, Ostforscher und Volkstumshistoriker maßgeblich förderten. In ihren Reihen legte er seit Anfang der 1930er Jahre großes Engagement an den Tag, das er auch nach seinem Fortgang aus Königsberg weiterführte. Zu nennen ist hier seine Arbeit für die Historische Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, aber auch seine Mitarbeit im VDA, der ihn in Vortragstätigkeit4 und Schulungsarbeit einband. Später in der Zeit in Jena (ab 1935) fungierte Erich Maschke auch als Geschäftsführer des VDA-Landesverbandes Thüringen und veröffentlichte darüber hinaus in der Führerzeitschrift des VDA „Die deutsche Arbeit. Grenzlandzeitschrift“ 1934 und 1936 zwei Aufsätze.5 Außerdem nahm Maschke regen Anteil an einem dem VDA untergliederten überregionalen Volkswissenschaftlichen Arbeitskreis6 (VwA) unter der Leitung des Historikers →Kleo Pleyer.7 Auch im BDO wurde Maschke mit Schulungsarbeit, Publikationen, Vortragstätigkeit und der Teilnahme an Veranstaltungen aktiv8, offensichtlich dabei von Bundesleiter →Theodor Oberländer protegiert: Maschke verdankte ihm mit großer Wahrscheinlichkeit seine Entsendung zum Historikerkongress in Warschau 1933 und nahm als dessen persönlicher Berichterstatter an der Tagung der →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG) in Schellerhau 1935 teil. Zwei Jahre später griff Theodor Oberländer zugunsten Erich Maschkes in die Vorgänge um dessen Berufung nach Jena ein.9 Zu dieser Zeit war Erich Maschke bereits in die vorderen Reihen der deutschen →Ostforschung aufgerückt: Ab April 1932 hatte er ein monatliches Forschungsstipendium für sein Projekt einer Kulturgeschichte der Deutschen in Polen seitens der Publikationsstelle Berlin-Dahlem unter ihrem Geschäftsführer →Johannes Papritz erhalten. Dies hatte ihn in Kontakt zu einem Netzwerk deutscher politischer Wissenschaftler in Polen gebracht, die er auf seinen Reisen nach Polen häufig besuchte, vor denen er Vorträge hielt und deren Werke er rezensierte.10 Erich Maschkes Anbindung an diese Einrichtung der Ostforschung und seine Bekanntschaft mit →Albert Brackmann11 führten dazu, dass er in den Kreis der 43 ausgewählten Wissenschaftler und Volkstumspolitiker gelangte, die Ende 1933 die NOFG aus der Taufe hoben. Maschkes Engagement für die NOFG erstreckte sich über die Teilnahme an der Gründungsveranstaltung weit hinaus. Er nahm nicht nur an den Tagungen teil, die ihn thematisch betrafen und blieb dort kein Zaungast, sondern er besuchte auch mindestens ein thematisch anders gelagertes Treffen. Außerdem wirkte er in verschiedenen Kommissionen mit und übernahm die Funktion eines Gebietsvertreters der NOFG in Königsberg. Dies bedeutete entscheidenden Einfluss im Bereich der Wissenschaftsorganisation: Er war sowohl Ansprechpartner für die Ostforscher des betreffenden Gebietes als auch für die Berliner Zentrale, mit der er auch über finanzielle Fragen verhandelte. Ohne seine Zustimmung durften keine Forschungs- oder Publikationsprojekte initiiert werden.12 Noch höher in der

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Hierarchie gestiegen, zeigte auch Maschkes Ernennung zum Beirat beziehungsweise Fachvertreter für osteuropäische und ostdeutsche Geschichte 193913, dass er innerhalb der NOFG eine herausgehobene Stellung einnahm. Dies erwies sich auch bei seinem beruflichen Wechsel an die thüringische Universität Jena im Jahr 1935 und in den Auseinandersetzungen um die Vergabe eines Lehrstuhles an ihn als vorteilhaft. Gegenstand dieser langjährigen Diskussionen waren das Verhältnis Maschkes zu Hans Rothfels sowie seine politische Beurteilung. In Jena anfangs als im Sinne des Nationalsozialismus politisch undurchsichtig eingeschätzt, gelang es ihm, sich durch vielfältiges Engagement in parteizugehörigen oder -nahen Einrichtungen (Eintritt in die SA 1933 bzw. in die NSDAP 1937, Tätigkeit als Lektor der Parteiamtlichen Prüfungskommission, Arbeit für das Amt Rosenberg sowie für das Hauptschulungsamt der NSDAP und der Reichsjugendführung, Mitwirken an der Reichsparteitagsausstellung 1938) zu etablieren. 1937 wurde er zum ordentlichen Professor berufen, 1940 zum Ordinarius.14 Einzig und allein Karrieregeist und Opportunismus für Maschkes Verhalten verantwortlich zu machen, greift allem Anschein nach zu kurz. Plausibel erscheint daher die Vermutung, dass sich Maschke auch aus innerer Überzeugung und Nähe zum Regime und seiner Ideologie in dieser umfangreichen Art und Weise engagierte. In den folgenden Jahren in Jena zeigte sich Maschke als ein Historiker, der begeistert die außenpolitischen Ereignisse propagandistisch und publizistisch begleitete und seine wissenschaftlichen Kenntnisse und Fähigkeiten auf vielfältige Weise bereitwillig in die Dienste des NS-Regimes stellte. Dies tat er sowohl auf lokaler als auch regionaler wie überregionaler Ebene. Auch in seiner Geschichtsschreibung, die sich nun Fragen der mittelalterlichen Reichsgeschichte, der thüringischen Landesgeschichte und des deutschen Ostens zuwandte sowie sich mit dem Herrschergeschlecht der Staufer beschäftigte, öffnete er sich zunehmend den Schlagworten, Vorstellungen und Ideologemen des Nationalsozialismus. Besonders auffällig wurde dies in seinen Schriften zur Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen.15 Rassistisches Gedankengut fand seit Mitte der 1930er Jahre zunehmend Eingang in seine Veröffentlichungen, so dass sich eine deutliche Verschiebung und Weiterentwicklung von Maschkes Geschichtsverständnis von einem völkischen zu einem explizit völkisch-rassistischen erkennen lässt. In seiner Auffassung etablierte sich nun offenkundig auch die Rasse als prägender historischer Faktor. Sichtbar wurde dies in seinen später veröffentlichten Schriften zur Familien- und Erbgeschichte der Staufer.16 Sicherlich nicht zufällig nahm Erich Maschke als Experte für polnische Geschichte und Gegenwart 1939 zu Beginn des Zweiten Weltkrieges am sogenannten Polenfeldzug teil. Sein Einsatzgebiet war der Warthegau, wo er den Aufgaben eines Ordonnanz- und Verbindungsoffiziers sowie eines Dolmetschers und Ic-Mitarbeiters in Posen mit Begeisterung nachkam.17 Darüber hinaus liegen Hinweise vor, die Erich Maschkes Namen zumindest in die Nähe von Umsiedlungsaktionen und Deportationen von Polen und Juden bringen.18 1940 wurde er unabkömmlich gestellt

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und nahm am weiteren Verlauf des Krieges vor allem als Publizist und Schulungsredner teil. Die Art seiner Beiträge lässt darauf schließen, dass er die nationalsozialistische Eroberungs- und Vernichtungspolitik akzeptierte und sich ohne Bedenken ihrer propagandistischen Unterstützung zur Verfügung stellte. Nach seinem Wechsel an die Universität Leipzig 1942 setzte Maschke seine Vortragstätigkeit und Schulungen, u.a. in der Wehrmacht, fort. In Leipzig übernahm er mit dem Amt des Stellvertretenden Dozentenbundführers erstmals ein öffentlich politisch wirksames Amt. Ob die Übernahme dieses Amtes ursächlich für Erich Maschkes Kontakte zum Sicherheitsdienst der SS verantwortlich zu machen ist oder nicht, bleibt bislang offen – in jedem Fall gehörte Erich Maschke spätestens hier zu den 2.500 Vertrauensmännern, die in Sachsen für den SD arbeiteten. In Leipzig erlebte er das Ende des Krieges. An der Wiederaufnahme des Lehrbetriebes der Universität in den historischen Fächern war Maschke zunächst noch intensiv beteiligt, wurde dann aber im Herbst 1945 verhaftet und in das Internierungslager Nr. 1 Mühlberg/Elbe verbracht. Dort begann die Zeit der Gefangenschaft, die ihn durch acht sowjetische Lager führte und bis 1953 von seiner Familie trennte. Von der Beschäftigung mit historischen Themen hielten ihn Gefangenschaft, Entbehrungen und die Verurteilung in einem der Massenprozesse 1949/5019 wegen Beihilfe zur Spionage gegen die Sowjetunion während seiner Zeit in Posen nicht ab. Es liegt nahe, vor allem in diesem Erleben von Internierung und langjähriger Gefangenschaft die Ursache dafür zu suchen, dass Erich Maschke nach seiner Heimkehr 1953 eine weitgehende Neuinterpretation der Beziehungen zwischen Geschichtswissenschaft und Politik vornahm. Von Einfluss waren dabei sicherlich aber auch die Schwierigkeiten, Umstände und veränderten Bedingungen, auf die er in seinen Bemühungen um eine Wiederaufnahme und Fortführung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit traf. An der Universität Heidelberg wurde für ihn 1954 zunächst ein zweistündiger Lehrauftrag, dann 1956 eine k.-w.-Professur für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte eingerichtet, die unter maßgeblicher Mitwirkung der Heidelberger Wirtschaftswissenschaftler Helmut Meinhold und Erich Preiser sowie des Philosophen Hans-Georg Gadamer zustande kam. Auch →Theodor Schieder, Hans Rothfels20 und →Hermann Aubin hatten sich für Maschke eingesetzt. Dieser Lehrstuhl wurde später in →Werner Conzes neugegründetes „Institut für moderne Sozialgeschichte“ integriert. An der Universität Heidelberg hatte Erich Maschke somit eine Wirkungsstätte gefunden, an der er bis zu seiner Emeritierung 1968 lehrte und forschte. Hier gelang ihm ein wissenschaftlicher Neuanfang, der in seiner Art Seltenheitswert hatte: Erich Maschke erschloss sich neue Themenbereiche und Sachgebiete, für die die Einarbeitung in die Wirtschaftsgeschichte von Antike bis Neuzeit, die Sozialgeschichte der mittelalterlichen Stadt ‒ Maschkes „bevorzugtes Forschungsgebiet“21 ‒ oder die langjährige Beschäftigung mit der deutschen Kriegsgefangenengeschichte des Zweiten Weltkrieges Beispiele sind. Diese neuen Themen brachten die Mitarbeit und Mitgliedschaft Maschkes als eines geschätzten Forschers in zahlreichen regio-

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nalen und überregionalen Vereinen und Verbänden mit sich22, während Erich Maschke auf der bundesdeutschen Ebene der Historikerzunft mit Zurückhaltung agierte. Die Themen seiner wissenschaftlichen Arbeiten dieser Heidelberger Jahre offenbarten nicht nur eine große Bandbreite und Vielseitigkeit, sondern auch ein ungewöhnliches Maß an Offenheit für neue Ansätze und eine internationale Ausweitung. Sie beinhaltete in besonderer Weise freundschaftlich-kooperative Beziehungen zu französischen Fachkollegen. Fernand Braudel wurde für Maschke zu einem wichtigen Gesprächspartner und festen Freund. 1962 erging an Erich Maschke die Einladung zu einem Gastsemester an der zur Sorbonne gehörigen Ecole Pratique des Hautes Etudes, eine der ersten Einladungen dieser Art an einen deutschen Hochschullehrer nach 1945. Von den wissenschaftlichen Anregungen, die Erich Maschke von der französischen Geschichtsschreibung der Annales erhielt, profitierten nicht nur seine Schriften, sondern er brachte sie auch bereichernd und wegweisend in die deutsche Stadtgeschichtsforschung ein. In seiner Heidelberger Zeit gelang es Maschke jedoch auch, alte Interessen wie seine Beschäftigung mit der Staufergeschichte oder die Geschichte des Deutschen Ordens wiederaufzunehmen und gewinnbringend weiterzuführen. In seinen sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtlich angelegten Schriften zum Deutschen Orden verließ Erich Maschke seinen bisher vorrangig politikgeschichtlichen Ansatz und eröffnete der weiteren Forschung bedeutende neue Perspektiven. Gleichzeitig enthüllten einige seiner Schriften die nicht immer erfolgreichen Bemühungen um eine Überarbeitung bisheriger Sichtweisen, Positionen, Argumentationsmuster sowie um ein Entschärfen nun kompromittierender und kompromittierter Begriffe.23 Dennoch ist nicht zu verkennen, dass Erich Maschke einigen Abstand zur Ostforschung der 1930er bzw. 1940er Jahre gewonnen hatte. Hatte er in den ersten Jahren nach seiner Heimkehr wohl auch aus Gründen seiner Anstrengungen um eine Wiedereingliederung ins Berufsleben den Kontakt zu Kreisen der bundesdeutschen Ostforschung gesucht und wiederaufgebaut, entfernte er sich gegen Ende der 1950er Jahre von den von in diesen Kreisen vertretenen Absichten und Zielen und hielt eine gewisse Distanz zu den entsprechenden Netzwerken und Personengruppen. Dies hatte sicherlich auch etwas mit Maschkes fachlicher Neuorientierung hin zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zu tun. Aber seine Auffassungen von den Aufgaben der Ostforschung nach 1945 unterschieden sich deutlich von derjenigen der tonangebenden bundesdeutschen Ostforscher. In diesen Zusammenhang gehört es, dass sich Maschke für eine Verständigung mit polnischen Wissenschaftlern über die wissenschaftlichen und politischen Streitfragen der Vergangenheit einsetzte. Auch an guten persönlichen Kontakten zu polnischen Kollegen war ihm in den folgenden Jahrzehnten gelegen.24 Seinem Königsberger Kollegen- und Freundeskreis blieb Maschke auch nach 1953 verbunden. Einer der weiterhin gemeinsamen Bezugspunkte war der remigrierte Hans Rothfels. Diese Kontakte scheinen jedoch nicht von gleicher oder ähnlicher Intensität bzw. entsprechendem Umfang wie frü-

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her gewesen zu sein. Auch dafür mag in gewissem Sinne die fachlich-thematische Neuorientierung Maschkes nach 1953 verantwortlich gewesen sein, da sich seine beruflichen Schwerpunkte und Entwicklungen verlagert hatten. Der Kreis der ehemaligen Königsberger überschnitt sich teilweise mit demjenigen der modernen Sozialhistoriker, die um Werner Conze gruppiert waren. Erich Maschke gehörte diesem Kreis mindestens in seiner Eigenschaft als Mitdirektor des Instituts für moderne Sozialgeschichte an der Universität Heidelberg an. Doch ist der Umfang seines Engagements sowie der Grad seiner tatsächlichen Einbindung und Mitwirkung an der Etablierung einer modernen Sozialgeschichte im Sinne Werner Conzes nur schwer abschließend zu beurteilen. Sieht man sich Maschkes sozialgeschichtlich orientierte Schriften an, so stellt man fest, dass sie sich größtenteils in anderen historischen Zeiträumen bewegten. Die von Erich Maschke herausgegebene 22bändige Schriftenreihe zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges, für Maschke ein wesentlicher Teil seiner Lebensarbeit25, nahm sich auch eines anderen Themas an. Dieses Großforschungsprojekt war die einzige wissenschaftliche Unternehmung Erich Maschkes, die ihn nach 1953 in eine besondere Nähe zur Politik brachte.26 Für diese amtliche Auftragsarbeit war Erich Maschke als Leiter der Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte des Zweiten Weltkrieges in den Jahren 1959 bis 1974 verantwortlich. Sie setzte ihn unmittelbar dem Nachdenken über seinen wissenschaftlichen Lebenslauf und seine persönliche Vita aus. Dabei konfrontierte sie ihn mit seiner Auffassung von den Beziehungen zwischen Geschichtswissenschaft und Politik in den vergangenen Jahrzehnten sowie mit seiner Suche nach einer Neubestimmung dieses Verhältnisses für seine eigenen gegenwärtigen und zukünftigen wissenschaftlichen Arbeiten. Diese Umlernprozesse führten zu einem veränderten Selbstverständnis Erich Maschkes als Historiker und Wissenschaftler, darüber hinaus auch zu einem veränderten Verständnis von den Aufgaben der Geschichtswissenschaft27 bzw. sie waren Ausdruck derselben. Historische Forschung und wissenschaftliche Beiträge sollten nun anderen (als politischen) Zielen dienen. Dies schlug sich nicht nur in der langjährigen Arbeit an der Schriftenreihe zur deutschen Kriegsgefangenengeschichte, sondern auch in Maschkes thematisch anders gearteten Veröffentlichungen nieder. Erich Maschke bezog als Historiker nicht mehr öffentlichkeitswirksam Stellung zu aktuell politischen Ereignissen im In- und Ausland. Er enthielt sich nun der Erläuterung und Kommentierung politisch relevanter Vorgänge, der politischen Ratschläge oder Zukunftsvoraussagen. Publizistische Schriften fehlen in seinem Œuvre aus der Zeit nach 1953 ganz. Aber auch in seinem wissenschaftlichen Werk zeigten sich deutliche Veränderungen, die über die Aussparung aktuell politischer Bezüge hinausgingen. Als ein Kennzeichen seiner Schriften nach 1945 bzw. 1953 erscheint eine durchgängig veränderte Perspektive. So stellten seine Darlegungen kaum noch Bezüge zur Reichsgeschichte oder gar zur Volksgeschichte her, sondern bewegten sich auf landesgeschichtlicher und auch lokalhistorischer Ebene. Dies schloss ein Hinausgreifen auf

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europäische Bezüge aber nicht aus. Im Gegenteil: Für die Sichtweise, in der er beispielsweise seine Beiträge für die Schriftenreihe der Wissenschaftlichen Kommission zur deutschen Kriegsgefangenengeschichte anging, war eine europa- und weltweite Perspektive geradezu erforderlich. Hatten sich Maschkes frühere Schriften größtenteils der Geschichte des Volkes zugewandt, so richtete sich nun das Augenmerk der nach 1953 entstandenen Veröffentlichungen auf das Individuum oder das Kollektiv, das heisst auf soziologisch fassbare Größen oder Einheiten. Nach wie vor ging es Maschke um „Ordnungen“ und ordnungstheoretische Fragestellungen. Er untersuchte weiterhin die Fragen nach den Bedingungen und Formen für Aufbau und Erhalt politisch-sozialer Ordnung und nach dem „inneren Zusammenhang“ von ebensolchen Verbänden, verwendete aber dafür nun, auch in Anlehnung an →Otto Brunner, den Begriff „Gefüge“ oder „Struktur“, ohne dass diese Begriffe mit „Volk“ identisch waren. Erich Maschke starb am 11. Februar 1982 in Heidelberg.

Barbara Schneider

1 Erich Maschke, Schutzbundtagung, Graz 5.–8.6.1924, in: Der Weiße Ritter 4 (1924), S. 146–151; ders., Jugendgrenzlandarbeit, in: Der Weiße Ritter 5 (1925/25), S. 104–106. 2 Ders. (Hg.), Ostland. Sonderheft 1922 des Weißen Ritters; ders., Sudetendeutsche Stammeserziehung, in: Der Weiße Ritter 6 (1925), S. 98–103. 3 Erich Maschke, Der deutsche Orden und die Preußen. Bekehrung und Unterwerfung in der preußisch-baltischen Mission des 13. Jahrhunderts, Berlin 1928; ders., Der Peterspfennig in Polen und dem deutschen Osten, Leipzig 1933; ders., Polen und die Berufung des Deutschen Ordens, Danzig 1934. 4 UA Jena (UAJ), Bestand M, Nr. 631, S. 88. 5 Erich Maschke, Das deutsche Volk in der Geschichte Polens, in: Die deutsche Arbeit (1934), S. 493–498; sowie ders., Heinrich I., König der Deutschen, in: Die deutsche Arbeit (1936), S. 305– 309. 6 BArch, Nl Theodor Schieder 1188, Brief Erich Maschkes vom 29.4.1936. 7 Vgl. dazu Maschkes Beitrag „Das Frühmittelalter“ für den von Erwin Hoelzle im Rahmen dieses Arbeitskreises herausgegebenen Sammelband „Das Werden unseres Volkes“. Ein Bildersaal Deutscher Geschichte, Stuttgart 1937, S. 31–66; sowie den Schriftwechsel zwischen Maschke und Hoelzle darüber in BArch, Nl Erwin Hoelzle 1323, Nr. 6, Nr. 12. 8 UAJ, Bestand M, Nr. 631, S. 88; GStAPK, Rep. 76 Va, Sekt. 11, Tit. IV, 25, 8. 9 UAJ, PA Erich Maschke D 3193, Theodor Oberländer an Pg. Ahrens/Jena vom 25.2.1937. 10 Vgl. dazu Erich Maschke, Deutsches Volk in der Geschichte Polens, in: Die deutsche Arbeit (1934), S. 493–498. Dieser Aufsatz ist eine Rezension des Werkes von Kurt Lück, die Maschke im Auftrag der NOFG verfasste vgl. BArch, R 153/1279. 11 Erste briefliche Kontakte datieren in das Jahr 1931 und stehen wohl im Zusammenhang mit dem Vorschlag von Hans Rothfels, Maschke auf dem deutschen Historikerkongress 1932 sprechen zu lassen, vgl. GStAPK, Nl Albert Brackmann, Nr. 20. 12 StA Marburg, Nl Johannes Papritz 340, Nr. 30, Rundbrief der NODFG Nr. 2026/39 vom 10.8.1939. 13 BArch Berlin, R 153/537. 14 UAJ, PA Erich Maschke D 3193, Lebenslauf vom 27.7.1939.

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15 Beispielsweise in Erich Maschke, Der deutsche Ordensstaat. Gestalten seiner großen Meister, Hamburg 1935. 16 Vgl. Erich Maschke, Das Geschlecht der Staufer, München 1943. 17 UA Stuttgart-Hohenheim, Nl Günther Franz N6. Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen Günther Franz und Erich Maschke aus den Jahren 1939‒1940. 18 UAJ, Bestand M, Nr. 632, Erich Maschke an Karl Astel vom 1.12.1939. 19 Russisches Staatliches Militärarchiv (RGVA) Moskau, Registrierakte Nr. 01861484 Erich Maschke. 20 HStA Stuttgart, EA 13/150, Bü 179, Abschrift eines Schreibens von Hans Rothfels vom 14.6.1955. 21 Erich Maschke, Begegnungen mit Geschichte. Städte und Menschen. Beiträge zur Geschichte der Stadt, der Wirtschaft und der Gesellschaft 1959–1977, in: VSWG, Beiheft Nr. 68, Wiesbaden 1980, S. VII–XIX, S. XIII. 22 Zum Beispiel Maschkes Mitgliedschaft in der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg oder sein Engagement im Südwestdeutschen Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung. 23 Beispielsweise in Erich Maschke, Krakauer Bürger als Geldgeber und Gastgeber von Königen. Nikolaus Wirsing und seine Familie (14. Jahrh.), in: Deutsch-polnische Nachbarschaft. Lebensbilder deutscher Helfer in Polen, hg. v. Viktor Kauder, Würzburg 31957, S. 9–21. 24 HStA Stuttgart, Nl Erich Maschke J 40/10, Bü 65. 25 Ebd., Bü 166. Schreiben Erich Maschkes an Ernst Gieseking vom 11.2.1975. 26 Vgl. BArch, BMVFK, B 150; BArch-MA, Bestand Sammlung zur Geschichte deutscher Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg – Akten und Geschäftsunterlagen der Wissenschaftlichen Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte 1957–1972 sowie die einschlägigen Dokumente und Materialien im Nl Erich Maschkes im HStA Stuttgart. 27 HStA Stuttgart, Nl Erich Maschke J 40/10, Bü 115, Exposé vom 30.5.1959.

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Theodor Mayer Der Historiker Theodor Mayer wurde am 24. August 1883 in Neukirchen an der Enknach im Bezirk Braunau am Inn (Oberösterreich) geboren. Er war eines von drei Kindern des praktischen Arztes Johann Nepomuk Mayer und dessen Frau Maria, geborene Wittib. Er besuchte zuerst das Gymnasium in Linz. Drei Jahre später zog die Familie nach Innsbruck, wo Mayer 1901 die Matura ablegte. Noch im selben Jahr begann er am Istituto di Studi Superiori in Florenz Geschichte zu studieren. 1902 wechselte er an die Universität Wien, wo er von 1903 bis 1905 den 25. Ausbildungskurs am Institut für Österreichische Geschichtsforschung (IOeG) belegte. Sein wichtigster akademischer Lehrer war der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Alfons Dopsch, bei dem er 1905 mit einer Arbeit über die Handelsbeziehungen der oberdeutschen Städte zu Österreich im 15. Jahrhundert promovierte. In seiner Staatsarbeit am IOeG befasste sich Mayer mit der mittelalterlichen Burgenverfassung in Österreich. Im Anschluss an sein Studium war Mayer von 1906 bis 1907 zunächst Praktikant am Staatsarchiv in Innsbruck, danach – 1908 bis 1912 – Archivkonzipist im Archiv des Innenministeriums in Wien. Im Herbst 1912 wurde er zum k.k. Leiter des Archivs für Niederösterreich in Wien ernannt, eine Tätigkeit, die er, von seiner kriegsbedingten Abwesenheit abgesehen, bis 1923 ausüben sollte. Im März 1914 habilitierte er sich an der Universität Wien mit einer Arbeit über die Verwaltungsreform in Ungarn nach der Türkenzeit. Bei Kriegsausbruch meldete sich Mayer als Freiwilliger und wurde einem schweren Artillerieregiment zugeteilt. Er wurde bis 1918 in Südtirol, Galizien, am Isonzo und an der Piavefront eingesetzt. Zuletzt bekleidete er den Rang eines Oberleutnants.1 Nach dem Krieg kehrte er zuerst in den Archivdienst zurück. 1921 wurde er an der dortigen Universität Wien zum ausserplanmässigen Professor ernannt. In dieser Zeit publizierte er in der grossdeutsch ausgerichteten Zeitung Wiener Mittag mehrere Artikel zu volkswirtschaftlichen Themen. 1923 wurde er als ausserordentlicher Professor an die Deutsche Universität in Prag berufen, wo er ab 1927 ein Ordinariat bekleidete. Mayers wissenschaftliche Arbeiten waren bis in die späten 1920er Jahre in erster Linie wirtschafts- und verwaltungshistorisch geprägt. Während seiner Lehrtätigkeit in Prag entdeckte er dazu, von der Landesgeschichte ausgehend, den „geographischen Raum“ als entscheidenden geschichtsbildenden Faktor.2 Zwischen 1926 und 1929 nahm Mayer an insgesamt sechs Tagungen der →Leipziger Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung teil. In seiner bekannten, 1928 veröffentlichten Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters bezog er sich wiederholt auf den Begriff des deutschen „Kulturbodens“.3 Zudem förderte er im Prager Historischen Seminar siedlungsgeschichtliche Arbeiten. Ab 1929 publizierte Mayer selbst einige Untersuchungen zu siedlungsgeschichtlichen Themen. Seit seiner Berufung nach Gießen im Jahre 1930 dominierten Arbei-

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ten zur Geschichte des Mittelalters, vornehmlich mit landes- beziehungsweise verfassungsgeschichtlicher Schwerpunktsetzung. Er war Vorstandsmitglied der Gießener Ortsgruppe des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA) und Gründungsmitglied des grossdeutsch ausgerichteten Kampfringes beziehungsweise Hilfsbundes der Deutsch-Österreicher im Reich, für den er Veranstaltungen organisierte und wo er selbst auch mindestens einen der grossdeutschen Idee gewidmeten Vortrag hielt. Am 1. August 1933 trat er dem Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB), am 1. Oktober 1933 dem Nationalsozialistischen Beamtenbund (NSB) und am 1. Mai 1937 der NSDAP bei. 1939 wurde er als Mitglied in den Nationalsozialistischen Dozentenbund (NSD) aufgenommen.4 Nach dem Ruf an die Universität Freiburg im Jahre 1934 übernahm Mayer die Leitung der →Westdeutschen Forschungsgemeinschaft (WFG) sowie des in Freiburg domizilierten →Alemannischen Instituts, das er in Oberrheinisches Institut für geschichtliche Landeskunde umbenannte. Damit wollte er einerseits Propagandavorwürfen seitens des Auslands, vor allem aus der Schweiz, vorbeugend entgegenwirken. Anderseits sollten dadurch die vom Institut zu untersuchenden Fragen, „die sich aus der Berührung deutschen und germanischen Volkstums mit nicht germanischem im deutschen Südwestraum ergeben“, gegen aussen deutlicher artikuliert werden. Als Leiter der WFG, der er bis 1939 vorstand, organisierte Mayer zahlreiche volkstumswissenschaftliche Tagungen, wobei der Kontaktpflege mit – deutschfreundlich gesinnten – Forschern aus dem angrenzenden Ausland grosse Bedeutung zukam. Eine wichtige Funktion dieser Tagungen sah Mayer in der Herausarbeitung einer gesamtdeutschen Geschichtsauffassung.5 Schon nach kurzer Zeit kam es hinsichtlich der Führung und „volkstumspolitischen“ Ausrichtung des Oberrheinischen Instituts zu wiederholten Auseinandersetzungen zwischen Mayer und dem nationalsozialistischen Freiburger Oberbürgermeister Franz Kerber, die 1938 schliesslich zu seiner unfreiwilligen Berufung nach Marburg führten. Im Herbst 1939 wurde Mayer zum Rektor der Universität Marburg ernannt. Er übte dieses Amt bis 1942 aus, als er zum Präsidenten des →Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde (Monumenta Germaniae Historica, MGH) in Berlin sowie des Deutschen Historischen Instituts in Rom ernannt wurde. Seit 1940 leitete er die Abteilung Mittelalter des Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften, in deren Rahmen er bis Kriegsende ebenfalls mehrere Tagungen organisierte und leitete. Wissenschaftlich ist Mayer in der Zeit des Zweiten Weltkrieges in erster Linie mit Untersuchungen zur mittelalterlichen Reichs- und Verfassungsgeschichte hervorgetreten. Darüber hinaus hat er als Herausgeber mehrerer Sammelbände gewirkt. Er hat mehrere propagandistische Artikel und Reden historischen Inhalts publiziert. Wiederholt wurde er zu Vorträgen ins Ausland, darunter Finnland, Rumänien und die Schweiz, eingeladen. 1941 entbrannte eine wissenschaftliche Kontroverse zwischen ihm und dem Schweizer Historiker Karl Meyer, die sich um die Frage der Gründung der Schweizer Eidgenossenschaft drehte. Aufgrund des von

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Mayer nachdrücklich betonten deutschen Charakters der Schweizer Geschichte wies diese Auseinandersetzung, zumal sie mitten im Krieg stattfand, unmittelbare politische Implikationen auf. Schliesslich stand er auch dem „→Ahnenerbe“ der SS sowie Parteikreisen wiederholt wissenschaftlich beratend zur Seite.6 Die 1941 von Mayer an das Ministerium für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung (REM) gerichtete Denkschrift über die Errichtung eines Deutschen Historischen Instituts in Paris zielte auf die Lösung der Frage, auf welche Weise sich die deutsche Geschichtswissenschaft eine „Führerfunktion im europäischen Raum“ erarbeiten könne. Besonders wichtig erschien ihm deshalb das Vorhaben, den Nachweis des bedeutenden „germanischen“ Anteils an der geschichtlichen Entwicklung Nordfrankreichs zu erbringen. Der Plan, der auch von Wehrmachts- und Regierungsstellen befürwortet und von Mayer über längere Zeit weiterentwickelt wurde, konnte aber aufgrund des ungünstigen Kriegsverlaufs nicht mehr realisiert werden.7 Um drohende Schäden durch Luftangriffe abzuwenden, liess Mayer 1943 Teile der Bibliothek des Reichsinstituts nach Pommersfelden (Franken) transportieren. Zu Beginn des darauf folgenden Jahres erhielt er den Auftrag, die „Bergung“ italienischer Archive zu leiten. Der Sicherung der für die deutsche Geschichte relevanten Quellen sollte dabei besonderes Augenmerk zukommen. Die einschlägigen Archivalien sollten darüber hinaus allesamt photokopiert werden, wobei man sich am Vorgehen der ab 1940 in Paris tätigen „Gruppe Archivwesen“ orientieren wollte. Mit der von der SS angeregten Aktion plante man, zumindest Teilbestände der italienischen Archivalien zu rauben und nach Deutschland zu schaffen, was Mayer gemäss eigener Darstellung verhindert hat. Während die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierte Bergungsaktion bis Mitte 1944 bereits weit fortgeschritten war und zur Verlagerung zahlreicher, als wertvoll erkannter Archivbestände führte, konnte die Fotokopierung aufgrund der fehlenden technischen Ausrüstung nicht mehr durchgeführt werden. Die gesamte Aktion wurde durch Angehörige der SS und des SD unterstützt.8 Aufgrund seiner Tätigkeit als höherer Reichsbeamter wurde Mayer Anfang September 1945 in Pommersfelden von der amerikanischen Militärregierung verhaftet und während neun Monaten interniert. Unabhängig davon wurde Ende September 1946 die bis 1935 bestehende Zentraldirektion der MGH wiederhergestellt. Mayer wurde im Dezember 1947 nach einem lang dauernden Spruchkammerverfahren in Höchstadt an der Aisch als Mitläufer entnazifiziert, wobei er zahlreiche entlastende Gutachten von namhaften Kollegen vorlegen konnte. Da man ihn in den Reihen der Zentraldirektion dennoch als politisch belastet ansah, wurde von seiner Wiederwahl als Präsident der MGH schliesslich abgesehen, wogegen dieser sich mittels einer Reihe von Rundschreiben noch lange erfolglos zu wehren suchte.9 Zusammen mit seiner Frau lebte Mayer bis 1951 im Schloss Schönborn bei Pommersfelden. Dann übersiedelte er nach Konstanz, wo er die Stelle des Leiters des Städtischen Instituts für geschichtliche Landesforschung des Bodenseegebietes übernahm, das er mittels regelmässiger Tagungen zu einem wissenschaftlichen Dis-

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kussionsforum für mittelalterliche Geschichte auszubauen verstand. Dieses stand von Anfang an nur einem fest begrenzten, von ihm gebildeten Teilnehmerkreis offen. Daraus entwickelte sich 1958 der sogenannte Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, dessen Vereinsgründung 1960 erfolgte. Die Leitung des Arbeitskreises behielt Mayer bis 1968. 1956 gehörte Mayer überdies zu den Gründungsmitgliedern des Collegium Carolinum (CC) in München, dem er bis 1970 vorstand. Das CC sollte seine Forschungen in enger Verbindung mit der Historischen Kommission der Sudetenländer, der es angegliedert wurde, sowie mit dem Osteuropa- und dem Südosteuropa-Institut durchführen, die ebenfalls in München domiziliert waren. Gemäss den Vorstellungen des bayerischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner von 1956 sollte die bayerische Landeshauptstadt auf diese Weise zum „Schwerpunkt der deutschen →Ostforschung“ ausgebaut werden. Als einer der Hauptpunkte im ersten Arbeitsprogramm des CC waren Forschungen über den „Anteil der Deutschen an der kulturellen, sozialen und rechtlichen Höherentwicklung der böhmischen Länder“ vorgesehen.10 Nach Abgabe der Leitung des Konstanzer Arbeitskreises zog Mayer 1968 nach Salzburg, wo er am 26. November 1972 starb.

Reto Heinzel

1 BArch, ZA V/89, Bl. 10; GLAK, 235/8924; Vgl. Reto Heinzel, Theodor Mayer. Ein Mittelalterhistoriker im Banne des „Volkstums“ 1920–1960, Paderborn 2016. 2 Theodor Mayer, Ein Rückblick, in: ders., Mittelalterliche Studien, Konstanz 1959, S. 463–503, 467. 3 Theodor Mayer, Deutsche Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, Leipzig 1928. 4 UAF, B 133/159, Fragebogen NSD-Dozentenbund vom 1.2.1938; „Grossdeutschland ist’s, nach dem wir streben!“, in: Oberhessische Tageszeitung vom 26.2.1934; ÖAdW, Nl Wilhelm Bauer, 4/17, Theodor Mayer an Wilhelm Bauer vom 24.7.1930; GLAK, 235/8924. 5 STAF, C4/X/19/10. 6 Theodor Mayer, Die Entstehung der Schweizer Eidgenossenschaft und die deutsche Geschichte, in: Deutsche Arbeit 6 (1943), S. 150–187, 156; BArch, BDC, Theodor Mayer, Ahnenerbe; ebd., NS 21, 228; STAK, Nl Theodor Mayer. 7 Conrad Grau, Planungen für ein Deutsches Historisches Institut in Paris während des zweiten Weltkrieges, in: Francia 19 (1993), S. 109–128. 8 STAK, Nl Mayer, 26/48; BayHstA, MK 44639. Zur „Gruppe Archivwesen“ vgl. Karl Heinz Roth, Eine höhere Form des Plünderns. Der Abschlußbericht der „Gruppe Archivwesen“ der deutschen Militärverwaltung in Frankreich 1940–1944, in: 1999 2 (1989), S. 79–112. 9 BayHStA, MK VI 1207; BayAdW, Personalakte Theodor Mayer, darin seine Spruchkammerakte vom 22.9.1947. 10 Karl Bosl, Gründung, Gründer, Anfänge des Collegium Carolinum, in: Collegium Carolinum (Hg.), 25 Jahre Collegium Carolinum München 1956–1981, München 1982, S. 17–40, 17ff.

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Oswald Menghin Oswald Menghin wurde am 19. April 1888 in Meran geboren. 1906 begann Menghin in Wien Urgeschichte zu studieren und wurde noch im selben Jahr Mitglied der dort ansässigen katholischen Studentenverbindung Rudolfina. 1910 promovierte er an der Universität Wien mit einer Arbeit über neolithische und kupferzeitliche Funde in Tirol, wo er sich drei Jahre später auch für „Urgeschichte des Menschen“ habilitierte. Zusätzlich legte er 1911 die Staatsprüfung am Institut für österreichische Geschichtsforschung ab. Gemeinsam mit Moritz Hoernes und Georg Kyrle gründete Menghin 1914 die Wiener Prähistorische Gesellschaft, die in der Folge die Wiener Prähistorische Zeitschrift herausgab.1 Darüber hinaus war er zwischen 1911 und 1918 im niederösterreichischen Landesarchiv und Landesmuseum beschäftigt.2 Laut Geehr meldete sich Menghin im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger, er wurde allerdings bereits nach drei Wochen wieder aus dem Dienst entlassen.3 1918 übernahm er nach dem Tod von Moritz Hoernes den Wiener Lehrstuhl für →Prähistorische Archäologie bzw. Urgeschichte (zuerst als außerordentlicher, ab 1922 als ordentlicher Professor) und prägte bis 1945 die Wiener Urgeschichtsforschung entscheidend. 1924 wurde das „Prähistorische Institut“ in „Urgeschichtliches Institut“ umbenannt.4 In der Zwischenkriegszeit wurde er sowohl Mitglied der Deutschen Gemeinschaft (1919–1926) als auch der katholischen Leo-Gesellschaft und der Kralik-Gesellschaft. Die Mitgliedschaft in diesen Vereinigungen steht beispielhaft für Menghins katholisch-nationale Weltanschauung. Er pflegte gerade in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen einerseits intensive Kontakte zum katholischen und austrofaschistischen Lager (zum Beispiel zu Hans Pernter, dem Unterrichtsminister der Jahre 1936 bis 1938) und andererseits auch zum großdeutschen und nationalsozialistischen Lager (zum Beispiel zu Arthur Seyß-Inquart).5 Menghin war zwar kein „illegales Parteimitglied“ der NSDAP, er wurde allerdings bereits vor dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich als „Hakenkreuzprofessor“ bezeichnet.6 Schon 1923 hielt Menghin bei der Wiener NSDAP-Ortsgruppe Währing einen Vortrag über die „Judenfrage“.7 In seinem 1934 erschienenen Buch ‚Geist und Blut‘ befasste er sich mit „Grundsätzlichem zu Rasse, Sprache, Kultur und Volkstum“, so zum Beispiel mit den „wissenschaftlichen Grundlagen der Judenfrage“.8 Vereinigungen wie der Deutschösterreichische Schutzverein „Antisemitenbund“ nahmen diese Publikation wohlwollend auf, da nun dem „[…] Kampfe gegen den jüdischen Erbfeind […] eine klare wissenschaftliche Grundlage gegeben [sei], um auch die von der katholischen Führertagung einstimmig als unerträglich erklärte Herrschaft des Judentums über das Christentum endlich beseitigen zu können.“9 Als „Vertreter der nationalen Opposition“ wurde er im Juli 1936 in den Führerrat der Vaterländischen Front integriert, dem er ein knappes Jahr angehören sollte.10 Zusätzlich wurde Menghin Teil des sogenannten „Siebener-Ausschusses“.11 Gleichzeitig setzte er sich ab Beginn des Jahres 1937 für die Gründung eines Deutsch-Sozialen Volksbundes ein.12

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Neben diesem politischen Engagement verbesserte sich zwischen den beiden Weltkriegen auch seine akademische Position. Er fungierte 1928/1929 als Dekan der philosophischen Fakultät der Universität Wien.13 Zwischen 1930 und 1933 war Menghin zusätzlich an der Universität in Kairo als Resident Professor tätig. 1931 erschien Weltgeschichte der Steinzeit, Menghin’s opus magnum. Darin kommt auch seine Verbundenheit mit der sogenannten Kulturkreislehre zum Ausdruck. Im Studienjahr 1935/1936 wurde er Rektor der Universität Wien und einige Monate darauf „wirkliches Mitglied“ der Akademie der Wissenschaften. Ebenfalls 1936 wurde er Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. 1937 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen verliehen.14 Auf Grund seiner „vermittelnden“ Rolle zwischen dem christlichen/austrofaschistischen und dem deutschnationalen/nationalsozialistischen Lager gilt Menghin als ein akademischer Wegbereiter des Nationalsozialismus in Österreich. Mit dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich kulminierte diese Entwicklung, in der Ernennung Menghins zum Staatsminister für Unterricht. Zwar übte er diese Funktion nur bis zum 31. Mai 1938 aus, allerdings fielen genau in diese Periode die sogenannte Säuberung der Universitäten und die Gleichschaltung der österreichischen Hochschulen.15 Trotzdem wurde Menghin auf Grund seiner engen Beziehungen zu christlichen Kreisen von nationalsozialistischer Seite nicht vorbehaltslos vertraut. So wurde zum Beispiel sein Ansuchen um Mitgliedschaft in der NSDAP (seit Mai 1938 war er Parteianwärter) erst am 1. Juli 1940 genehmigt. Im selben Jahr wurde er auch Mitglied des Ahnenerbes.16 Mit dem Ende seiner Tätigkeit als Minister wandte er sich wieder hauptsächlich seiner wissenschaftlichen Karriere zu (wie schon im Ersten Weltkrieg wurde Menghin auch im Zweiten Weltkrieg nicht zu einem militärischen Kriegseinsatz verpflichtet). Als Mitglied des „Anschlusskabinetts“ stand Menghin auf der sogenannten „1. Kriegsverbrecherliste“.17 Mit Kriegsende wurde Menghin in seinem Sommersitz in Mattsee verhaftet und anschließend bis 12. Februar 1947 in mehreren Lagern, darunter das 3rd Army Internment Camp 74, interniert.18 Im März 1948 versuchte Menghin von Nauders aus die österreichische Grenze zu überqueren, er wurde jedoch von der italienischen Polizei gefasst und zurück nach Nauders gebracht, wo er festgehalten wurde. Ende März konnte er allerdings erneut flüchten und gelangte schlussendlich nach Argentinien.19 Dort erhielt er noch 1948 eine Professur an der Universität von Buenos Aires. 1957 wurde er zusätzlich Profesor titular de Prehistoria an der Universität La Plata.20 Im selben Jahr erschien der erste Band der von ihm gegründeten Zeitschrift Acta Praehistorica.21 Ebenfalls 1957 gründete er das Centro Argentino de Estudios Prehistóricos. In der Zeit zwischen 1961 und 1968 war er Director de Investigaciones del Consejo Nacional de Investigaciones scientificos in Buenos Aires.22 Im Jahr 1956 wurde das Strafverfahren in Österreich gegen Menghin wegen § 8 des Kriegsverbrechergesetzes in Abwesenheit eingestellt. In der Folge wurde ihm ab

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1957 eine Pension als österreichischer Beamter überwiesen. 1959 wurde er korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.23 Am 29. November 1973 verstarb Oswald Menghin in Buenos Aires. Sein Grab befindet sich in Chivilcoy, wo auch das örtliche Museum für Archäologie nach ihm benannt wurde, 2006 wurde das Museum auf Grund des öffentlichen Drucks schließlich umbenannt.24

Robert Obermair

1 Michael Grüttner, Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik. Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, Bd. 6, Heidelberg 2004, S. 117; Otto H. Urban, Die Urgeschichte an der Universität Wien vor, während und nach der NS-Zeit, in: Mitchell G. Ash (Hg. u.a.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen 2010, S. 371–396, 372–374; Otto H. Urban, „… und der deutschnationale Antisemit Dr. Matthäus Much“ – Der Nestor der Urgeschichte Österreichs?, in: Archaeologia Austriaca 86 (2002), S. 7–43, 23. 2 Fritz Felgenhauer, Zur Geschichte des Faches „Urgeschichte“ an der Universität Wien, in: Studien zur Geschichte der Universität Wien, Band 3, S. 7–27, 21; Grüttner, Biographisches Lexikon, S. 117. 3 Richard S. Geehr, Oswald Menghin, ein Vertreter der katholischen Nationalen, in: Geistiges Leben im Österreich der Ersten Republik, Wiss. Komm. z. Erforschung der Geschichte der Republik Österreich 10, Wien 1986, S. 9–24, 10. 4 Ina Friedmann, Der Prähistoriker Richard Pittioni (1906–1985) zwischen 1938 und 1945 unter Einbeziehung der Jahre des Austrofaschismus und der beginnenden Zweiten Republik, in: Archaeologia Austriaca 95/2011 (2013), S. 7–99, 15. 5 Friedmann, Der Prähistoriker Richard Pittioni, S. 15f. 6 Urban, Die Urgeschichte an der Universität Wien, S. 376. 7 1933 hielt er bei der Ortsgruppe in Kairo einen ähnlichen Vortrag vgl. Urban, Die Urgeschichte an der Universität Wien, S. 377. 8 Oswald Menghin, Geist und Blut. Grundsätzliches um Rasse, Sprache, Kultur und Volkstum, Wien 1934, S. 148ff. 9 Salzburger Landesarchiv, Rehrl-Brief 1934/1554, Deutschösterreichischer Schutzverein „Antisemitenbund“ an LH Rehrl, Wien vom 10.5.1934. 10 Grüttner, Biographisches Lexikon, S. 117; Otto H. Urban, „Er war der Mann zwischen den Fronten“. Oswald Menghin und das Urgeschichtliche Institut der Universität Wien während der Nazizeit, in: Archaeologia Austriaca 80 (1996), S. 1–24, 8. 11 Urban, Die Urgeschichte an der Universität Wien, S. 378. 12 Urban, Er war der Mann zwischen den Fronten, S. 8. 13 Richard Pittioni, Oswald Menghin 1888–1973, in: Archaeologia Austriaca 55 (1974), S. 1–6, 3. 14 Philip L. Kohl u.a., Religion, Politics and Prehistory. Reassessing the Lingering Legacy of Oswald Menghin, in: Current Anthropology 43 (2002) 4, S. 561–586, 562ff. Zur Kulturkreislehre war er über den Austausch mit Pater Wilhelm Schmidt gestoßen, vgl. Urban, Die Urgeschichte an der Universität Wien, S. 376; Hermann Jakubovitsch, Die Forschungsgeschichte des Faches Ur- und Frühgeschichte der Universitäten Wien und Innsbruck im Überblick. Mit einem Beitrag zur Forschungsgeschichte des Burgenlandes, unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1993, S. 118, Urban, Er war der Mann zwischen den Fronten, S. 8; Dirk Schumann u.a., Ehrungen der Universität Göttingen (Ehrenbürger und -doktoren) in der NS-Zeit und der Umgang mit ihnen nach 1945, 26.8.2014, online unter: https://www.uni-goettingen.de/de/ns-ehrungen…auszug/506429.html (28.5.2016), S. 34–40. 15 Urban, „Er war der Mann zwischen den Fronten“, 9; Grüttner, Biographisches Lexikon, S. 117.

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16 Urban, Die Urgeschichte an der Universität Wien, S. 384–387. 17 Urban, „Er war der Mann zwischen den Fronten“, S. 9. 18 Salzburger Nachrichten, o.V., Späte Genugtuung für Oswald Menghin, 18.12.1956, S. 4. 19 Edith Blaschitz, NS-Flüchtlinge österreichischer Herkunft: Der Weg nach Argentinien, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes: Jahrbuch 2003, Wien 2003, S. 103–136, 127. 20 Theodor Brückler, Ulrike Nimeth, Personenlexikon zur Österreichischen Denkmalpflege, Wien 2001, S. 176; Kohl u.a., Religion, Politics and Prehistory, S. 566. 21 Pittioni, Oswald Menghin, S. 5. 22 Herbert Jankuhn, Nachruf Oswald Menghin, in: Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 124 (1974), S. 540–546, 541f. 23 Salzburger Nachrichten, o.V., Späte Genugtuung für Oswald Menghin, S. 4; Friedmann, Der Prähistoriker Pittioni, Oswald Menghin, S. 16; Grüttner, Biographisches Lexikon, S. 117. 24 Marcelino Fontán, Oswald Menghin: ciencia y nazismo. El antisemitismo como imperativo moral, Buenos Aires 2005, S. 55; Kohl u.a., Religion, Politics and Prehistory, S. 566f.; Argentina museum drops Nazi from title, in Jewish Telegraphic Agency, 18.10.2006, vgl. http://www.jta.org/2006/ 10/18/news-opinion/argentina-museum-drops-nazi-from-title (28.5.2016).

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Friedrich Metz Der Kulturgeograph Friedrich Metz (1890–1969) galt als Experte für die Landeskunde Südwestdeutschlands und Elsaß-Lothringens. Bedeutender als seine wissenschaftlichen Leistungen war seine wissenschaftsorganisatorische Betätigung in engem Kontakt mit Partei- und Regierungsstellen: Metz war Mitbegründer der →Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften, langjähriger Leiter der →Westdeutschen Forschungsgemeinschaft (1940–1945) (WFG) und des →Alemannischen Instituts (1938– 1945, 1952–1962). Er übernahm von 1929 bis 1941 den Vorsitz der →Zentralkommission für wissenschaftliche Landeskunde, regte 1941 die Gründung der Abteilung für Landeskunde im Reichsinnenministerium an, leitete die Abteilung Siedlung der Reichsarbeitsgemeinschaft für Volkswissenschaft in der DFG und betätigte sich im Hauptschulungsamt der NSDAP. Schon zur Schulzeit entwickelte Metz eine Begeisterung für das Grenz- und Auslandsdeutschtum, trat 1909 dem Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) bei und gründete im gleichen Jahr als Heidelberger Student eine akademische Ortsgruppe des Vereins. Von Sommersemester 1909 bis einschließlich Sommersemester 1913 studierte Metz Geographie, Nationalökonomie und Geschichte in Heidelberg, im Wintersemester 1910/11 war er in Leipzig immatrikuliert.1 1913 promovierte er bei Alfred Hettner in Heidelberg im Fach Geographie mit einer landeskundlichen Studie über den Kraichgau, die in methodischer Hinsicht als wegweisend für die Entstehung der Sozialgeographie angesehen wurde.2 Metz trat als Kriegsfreiwilliger in das Ersatzbataillon Offenbach ein und war vom 1. August 1914 bis zum 15. Dezember 1918 im Ersten Weltkrieg, teilweise im österreichischen Heer. 1919 bis 1920 arbeitete Metz als wissenschaftlicher Assistent an der Heidelberger Universität und erhielt einen Lehrauftrag für Kartographie. Er wurde am 1. Oktober 1922 als Regierungsrat ins Badische Statistische Landesamt übernommen. 1924 habilitierte er sich an der TH Karlsruhe mit der Arbeit Die ländlichen Siedlungen Badens und nahm im akademischen Jahr 1924/25 einen Lehrauftrag für Wirtschaftsgeographie an. Aufsehen erregte seine Studie Die Oberrheinlande, worin er die Zusammengehörigkeit der Oberrheinlande behauptete und damit den Thesen von der Eigenständigkeit von Elsass und Lothringen von französischen Historikern und Geographen entgegentrat.3 Die Zusammenfassung von angeblich kulturell zusammengehörenden Regionen – nicht nur am Oberrhein – beschäftigte Metz Zeit seines Lebens.4 →Emil Meynen nannte Metz deswegen euphemistisch einen der „eifrigsten Verfechter der Überwindung territorialer Zufallsgrenzen“.5 1925 wurde Metz vom badischen Innenminister Adam Remmele (SPD) als Ministerialrat im Badischen Statistischen Landesamt entlassen. Zwischen 1933 und 1945 behauptete er gerne, er sei als „völkischer Geograph“ aus politischen Gründen entlassen worden.6 In den Akten fand sich jedoch darauf kein entsprechender Hinweis und auch seine Mitgliedschaft in der DNVP von 1920 bis 1926 hat für seine Entlassung sicherlich keinen Anlass geboten.7 1926 übernahm Metz zusammen mit Emil

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Meynen die Hauptredaktion des →Handwörterbuchs des Grenz- und Auslandsdeutschtums, das die →Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig herausgab, für die Metz auch als Sekretär der Geschäftsführung tätig war. Im Herbst 1928 wurde er von der Leipziger Stiftung entlassen. Neben terminlichen und organisatorischen Problemen bei der Redaktionsarbeit für das Handwörterbuch gab es eine inhaltliche Auseinandersetzung mit →Wilhelm Volz, dem Direktor der Leipziger Stiftung. Metz kritisierte, dass Volz den „Volksboden“ mit Hilfe von naturräumlichen Kriterien und nicht mit der kulturellen (menschlichen) Prägung definierte. Volz habe es so versäumt, den Wechsel hin zur anthropozentrierten Geographie zu vollziehen.8 Nach Auflösung der Leipziger Stiftung war er wesentlich an der Gründung der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften beteiligt, die nun konzeptionell in Abgrenzung zur Leipziger Stiftung einen volkszentrierten Wissenschaftsbegriff bevorzugten. Die →Alpenländische Forschungsgemeinschaft wurde im April 1931 auf Initiative von Metz gegründet, der dort zusammen mit Raimund von Klebelsberg und Otto Stolz im Vorstand war.9 Eine große Bedeutung für die Volkstumspolitik des Dritten Reiches hatte die 1935 ins Leben gerufene Johann Wolfgang Goethe-Stiftung, die der →Stiftung FVS des Hamburger Unternehmers →Alfred C. Toepfer zugehörte, für die Metz als Präsident fungierte und die auf personeller Ebene eng mit den Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften verknüpft war. Die Goethe-Stiftung verlieh jährlich sieben hochdotierte Preise an Schriftsteller, Komponisten und Bildende Künstler, die sich um das „Deutschtum im Ausland“ große Verdienste erworben hatten. Metz war an der Auswahl der Preisträger beteiligt und verhandelte mit dem Reichspropagandaministerium und weiteren Reichsministerien, um die von den Kuratorien ausgesuchten Kandidaten durchzusetzen.10 1938 wurde Metz zum wissenschaftlichen Leiter (kommissarisch) des Alemannischen Instituts und am 14. Oktober 1940 zum Leiter der übergeordneten WFG ernannt. In der →Westforschung ging es darum – so Metz – durch landeskundliche Untersuchungen deutsche Rechtsansprüche auf den „in Frage stehenden Raum“ im Westen abzuleiten.11 1929 erhielt Metz einen Ruf an die „Grenzlanduniversität“ Innsbruck, wo insbesondere das „Problem Südtirol“ im Mittelpunkt stand, das schließlich bald ein Schwerpunkt von Metz in Wissenschaft und Lehre in Innsbruck wurde. Nach eigenen Angaben schloss er sich bereits 1931 der nationalsozialistischen Bewegung an,12 trat am 15. April 1933 in die NSDAP ein (Nr. 1.604.506) und bekannte sich seitdem offen zum Nationalsozialismus. In einem Vortrag vor der „deutschvölkischen Studentenschaft“ trat er im Wintersemester 1933/34 öffentlich für den „Anschluß Österreichs“ an das nationalsozialistische Deutschland ein.13 Zahlreiche Professoren an der Universität Innsbruck dachten „großdeutsch“, allen voran der Rektor von 1933/ 34, Raimund von Klebelsberg.14 Zudem stammte die Innsbrucker Studentenschaft im Sommersemester 1933 fast zur Hälfte aus dem Deutschen Reich. Nach der „Machtergreifung“ versuchte die österreichische Regierung Dollfuß, die nationalso-

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zialistischen Umtriebe in Österreich zu stoppen. Um „jede weitere Einflußnahme“ des „radikal nationalsozialistischen Parteianhängers“ Metz auf seine Studierenden auszuschließen, wurde er Ende Januar 1934 in das „Anhaltelager“ Wöllersdorf gebracht, wo er eineinhalb Monate festgehalten wurde. Angeblich hatte er sich öffentlich regierungsfeindlich geäußert.15 Dies bestritten insgesamt 58 Geographiestudierende und Mitarbeiter des Geographischen Seminars Innsbruck und forderten seine Freilassung.16 Der akademische Senat schloss sich dem an und bezeichnete Metz als fachlich „unverzichtbar“.17 Die österreichische Regierung blieb hart, scheute sich aber davor, die Entlassung auszusprechen, einerseits, weil die rechtlichen Grundlagen hierfür sehr fragwürdig waren,18 andererseits, weil sie keine nationalsozialistischen Märtyrer schaffen wollte. Aber eben dieses Ziel verfolgte Metz. Die reichsdeutsche Öffentlichkeit war bereits gut informiert19: fortan galt Metz als „alter Kämpfer“ des Nationalsozialismus. Obwohl für ihn bereits zum Sommersemester 1934 ein politisch motivierter „Rettungsruf“ an die Erlanger Universität vorlag,20 harrte er in Österreich bis zu seiner Entlassung aus dem Staatsdienst im September 1934 aus.21 Nach seiner Rückkehr nach Deutschland im September 1934 trieb er weiter deutschösterreichische Propaganda-Arbeit, hielt in mehreren deutschen Städten auf Veranstaltungen des Hilfsbundes der Deutschösterreicher und des VDA Vorträge über die „Heimat des Führers“.22 Auch in Erlangen (seit Wintersemester 1934/35) geriet er in Konflikt mit den Parteigrößen und den Behörden. Metz kritisierte die Bezeichnung des Nachbargaus „Bayrische Ostmark“ (Hauptort Bayreuth): Es sei zu „bedauern wenn altüberlieferte Namen für den Tagesbedarf umgeprägt werden“ – „die baierische und deutsche Ostmark ist Österreich!“23 Der Ruf von Metz auf den Freiburger Geographischen Lehrstuhl zum Wintersemester 1935/36 wurde mit Hilfe einiger einflussreicher Freunde aus der völkischen Bewegung – unter ihnen der Leiter des VDA →Hans Steinacher und Richard Suchenwirth, ehemaliger Landesleiter der NSDAP in Österreich (1933/34)24 – durchgesetzt. Die Universität Freiburg war zuerst vom völkischen Geographen Metz gar nicht begeistert. Metz stand nur auf Platz drei der Berufungsliste der Fakultät – als Kulturgeograph hätte er ein zu enges Arbeitsgebiet. Zudem eilte Metz der Ruf eines radikalen Nationalsozialisten voraus. Mit dem Beginn des Sommersemesters 1936 wurde Metz zum Rektor ernannt. Bereits im Februar 1936 war Metz von Rektor Kern zum Obmann der Hochschularbeitsgemeinschaft der →Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung ernannt worden. Metz hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Freiburger Universität in eine „alemannische Grenzlanduniversität“ umzugestalten. Bei Lehrstuhlbesetzungen wollte er Experten für das alemannische Volkstum gewinnen, die in der Lage sein sollten, ihre kulturpropagandistische Aufgabe im benachbarten Ausland zu erfüllen. Metz’ Engagement in dieser Sache ging aber weit über eine gezielte Personalpolitik hinaus. Bereits vor seinem Antritt als Rektor hatte er eine grundlegende „Neugestaltung der Landes- und Volksforschung“ mit einem Schwerpunkt auf ihrer interdisziplinären Ausrichtung geplant.25 Darüber hinaus verpflichtet er die Freiburger Universität auch auf eine Mitarbeit bei der „räumli-

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chen Neuordnung“ des Deutschen Reichs.26 Er sah durch die nationalsozialistische Herrschaft die Gelegenheit gekommen, die bestehenden „Zufallsgrenzen“ zu revidieren – an diesem Projekt arbeitete Metz auch innerhalb der Freiburger Universität mit Nachdruck mit.27 Im Zusammenhang mit Metz’ kulturpropagandistischen Zielsetzungen stand auch sein Versuch, den mit einer jüdischen Frau verheirateten Freiburger Musikwissenschaftler Willibald Gurlitt loszuwerden, um seinen Wunschkandidaten, den im Elsass geborenen Joseph Müller-Blattau, der als Experte für das elsässische Volkslied galt, durchzusetzen. Metz setzte sich in mehreren Schreiben an das Reichserziehungsministerium für eine Wegversetzung Gurlitts aus Freiburg ein. Als Gurlitt 1937 in den Ruhestand versetzt wurde, hatte Metz sein Ziel erreicht: Müller-Blattau wurde zu seinem Nachfolger ernannt.28 Während Metz in seinen Schreiben zum „Fall Gurlitt“ nicht auf seine „jüdische Versippung“ eingegangen war, fanden sich in anderen Gutachten und Stellungnahmen antisemitische Stereotype, in seinen wissenschaftlichen Äußerungen spielte der →Antisemitismus jedenfalls keine große Rolle und bewegte sich zumeist auf der Ebene von zeitüblichen, unreflektierten Vorurteilen, vor allem bezogen auf die „ostjüdischen“ Bevölkerungsteile.29 Die Kontaktpflege zu den deutschfreundlichen und bekennend nationalsozialistischen Kreisen in der Schweiz (→Hektor Ammann, Hans Oehler und Ernst Winkler) lag Metz besonders am Herzen, wobei er bemüht war, als Gast in der Schweiz nicht zu betont nationalsozialistisch aufzutreten, was der offiziellen Außenpolitik zumindest bis 1937 entsprach.30 Metz wurde zum Beispiel vorgeworfen, dass er als deutscher Delegationsleiter bei der 400-Jahr-Feier der Universität Lausanne im Jahr 1937 den „Hitler-Gruß“ nicht entboten habe, nachdem Mussolini zuvor faschistisch gegrüßt hatte. Metz’ hatte sein Verhalten zuvor mit dem deutschen Generalkonsul abgesprochen, und so blieb die Begebenheit ohne Konsequenzen. Wegen seiner politischen Zurückhaltung der Schweiz gegenüber, die er auch den Parteistellen gegenüber unverhohlen rechtfertigte, geriet Metz noch mehrere Male in Schwierigkeiten.31 Metz missbilligte als Rektor die Aktionen gegen akademische Verbindungen und gegen Katholiken in der Stadt und an der Universität. Er wurde deshalb immer wieder von der NS-Studentenbundsführung, vom NS-Dozentenbund und vom NSDAP-Kreisleiter angegriffen. 1937 wurde Metz sogar vom NS-Studentenführer zum Duell gefordert, weil dieser sich schützend vor eine akademische Verbindung gestellt hatte.32 Die zahlreichen Konflikte trugen dazu bei, dass das Reichserziehungsministerium nicht bereit war, Metz noch über das Wintersemester 1937/38 hinaus als „Führer“ der Freiburger Universität zu dulden.33 Es ist umstritten, ob Metz der Autor der „Stuckart-Denkschrift“ zum „Generalplan West“ war.34 In dieser Denkschrift sind unter Aufwendung aller denkbaren geographischen, geologischen, historischen und kulturellen Legitimationsansätze maximale Forderungen in Bezug auf die Westgrenze des Deutschen Reichs formuliert. Neben einer Interessenkongruenz mit den Zielen des nationalsozialistischen Staats konnte Metz die Abtretung Südtirols an Italien nicht gutheißen, kritisierte die

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Volkstumspolitik im Elsaß35 und wandte sich gegen die Pläne des Tiroler Gauleiters Franz Hofer, Vorarlberg einzuverleiben.36 Dies und seine Probleme mit Parteifunktionären waren der Hintergrund für eine Reihe von 1939 bis 1943 eingegangene Meldungen beim Amt Rosenberg, es würden sich intellektuelle Kreise um Metz sammeln und an der nationalsozialistischen Führung Kritik üben.37 Metz wurde im Oktober 1945 als Hochschullehrer suspendiert.38 Während die Gutachten des universitären Reinigungsausschusses und der Länderspruchkammer Metz entlasteten, warf ihm die französische Militärregierung seine „beachtliche Unterstützung für den unmäßigen Expansionismus Hitlers, der zum Krieg und zur Annexion von Österreich, Sudetenland, Polen, →Luxemburg und Elsaß geführt habe“, vor39 und legte mehrfach ein Veto gegen seine Wiedereinstellung ein. Die Fakultät besetzte den geographischen Lehrstuhl während dieser Zeit nur kommissarisch. Nach dem Wegfall des Vetorechts wurde der Lehrstuhl trotzdem nicht Metz übertragen: Durch sein Engagement für den Südweststaat – Metz veröffentlichte zwei Monographien (1948 und 1951) und hielt über 100 Vorträge – hatte er sich den Staatspräsidenten Südbadens, den „Altbadener“ Leo Wohleb, zum Feind gemacht, der den auf Platz eins der Berufungsliste gesetzten Metz umging und stattdessen Nikolaus Creutzburg Ende September 1951 berief. Metz erhielt von der baden-württembergischen Regierung als Belohnung für sein Südweststaats-Engagement zum 1. Juli 1953 ein persönliches Ordinariat für „Geographie und Landeskunde“ zugesprochen und wurde 1958 emeritiert. Metz gehörte 1952–1955 dem zur Neugliederung des Bundesgebiets gebildeten „Lutherausschuss“ an und trat 1955 dem Vorstand der wiedergegründeten VDA bei. 1965 erhielt er die „Freiherr-vom-Stein“-Medaille für seine Tätigkeit als Präsident der Johann Wolfgang Goethe-Stiftung der Stiftung FVS.40 Für seine Verdienste „im Volkstumskampf“ und „für die Demokratie“ wurde er zum Ehrenpräsidenten des Zentralausschusses für deutsche Landeskunde ernannt. Sein eigentlicher Wirkungskreis war das 1951 wieder gegründete Alemannische Institut, dem er von 1952 bis 1962 vorstand und das bald mit seinem Namen gleichgesetzt wurde.41 In seinen Augen hatte Friedrich Metz immer nur eines im Sinn gehabt: Volkstumsarbeit. Dass er dabei gerade zwischen 1933 und 1945, trotz seiner zahlreichen Meinungsverschiedenheiten mit Funktionären des Regimes, eng mit dem NS-Staat zusammenarbeitete und als Kulturwissenschaftler eine wichtige Position bei der geistigen Vorbereitung sowie praktischen Durchführung des Zweiten Weltkriegs einnahm, hatte er in Kauf genommen.

Bernd Grün

1 Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HSTAS), EA 3/150 – 1501, Bl. 1, nach seiner Heidelberger Matrikel studierte Metz Geschichte und germanische Philologie. Außerdem exmatrikulierte sich Metz im Mai 1913, behielt aber das akademische Bürgerrecht bis zum Schluss des Semesters, da er noch

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die Staatsprüfung ablegte; vgl. hierzu den von Metz selbst verfassten Lebenslauf (1924), vgl. auch Eugen Reinhard, Friedrich Metz, 8.3.1890–24.12.1969, in: ZGO 118 (1970), S. 394–400. 2 Klaus Otto, Das Aufkommen sozialgeographischer Betrachtungsweisen in der deutschen länderkundlichen Literatur seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Ein Beispiel zur Entwicklung der Anthropogeographie, Köln 1961, S. 29–31, 46; Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993, S. 64. 3 Metz nennt vor allem Vidal de la Blache, La France, Paris 1916; J. Brunhes, Géographie humaine en France, Paris 1920; (Metz, Die Oberrheinlande, Breslau 1925, S. 275.) ihm widersprachen Eduard Schulte (Bonn) und Wilhelm Kapp (Freiburg), die siedlungs- und kulturhistorisch starke Unterschiede zwischen dem linken und dem rechten Rheinufer feststellten. Vgl. Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945, Baden-Baden 1999, S. 363. 4 Metz schlug 1937 beispielsweise vor, Vorarlberg dem Gau Schwaben anzugliedern; vgl. Fahlbusch, Wissenschaft, S. 664f. 5 Emil Meynen, Friedrich Metz, 8.3.1890–24.12.1969, in: Berichte zur deutschen Landeskunde 44 (1970), S. 68. 6 GLAK, 434, Zg. 1945 und 7, Fasc. 588, Badisches Statistische Landesamt an die Landeshauptkasse, vom 17.2.1925. Meynen behauptete, Metz habe sich mit Remmele überworfen, „als man bei Fragen des Siedlungsausbaus nicht seiner geographischen Beurteilung“ gefolgt sei; vgl. Meynen, Friedrich Metz, S. 57; HSTAS, EA 3/150 – 1501, Bl. 1, Adam Remmele an das badische Kultusministerium vom 10.3.1925. 7 UAF, B 24, 2422, Angabe auf dem Entnazifizierungsbogen von Friedrich Metz. 8 Michael Fahlbusch, „Wo der deutsche … ist, ist Deutschland!“, Bochum 1994, S. 140, S. 224–226. 9 Fahlbusch, Wissenschaft, S. 66f., 298f. 10 Jan Zimmermann, die Kulturpreise der Stiftung FVS 1935–1945: Darstellung und Dokumentation, hrsg. von der Alfred-Toepfer-Stiftung F.V.S., Hamburg 2000. Zur „Taktik“ von Metz vgl. ebd. vor allem S. 433. 11 Fahlbusch, Wissenschaft, S. 353, 73f., Friedrich Metz an Ernst Zipfel vom 5.9.1940. 12 Metz behauptete dies am 28.11.1936 in einem Schreiben, in dem er bei der NSDAP um die Bestätigung seiner Parteimitgliedschaft bat. Die Unterlagen waren nicht auffindbar und das Parteiabzeichen war ihm 1933 in Österreich abgenommen worden. Vgl. Silke Seemann, Die politischen Säuberungen des Lehrkörpers der Freiburger Universität nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (1945– 1957), Freiburg 2002, S. 173, Anm. 338. 13 Friedrich Metz, Die Alpen im deutschen Raum, Berlin 1934, S. 27. 14 Vgl. die Autobiographie von Raimund von Klebelsberg, Innsbrucker Erinnerungen, 1902–1952, Innsbruck 1953. 15 ARW, BKA/SR, Zl. 124.872/1934–20g, Der Sicherheitsdirektor für das Bundesland Tirol aus Innsbruck an das österreichische Bundeskanzleramt vom 3.2.1934. 16 ARW, BKA/SR, Zl. 135.326/1934 – 20g, Schreiben der 58 Institutsangehörigen an das Österreichische Bundeskanzleramt vom 7.3.1934. 17 Ebd., Zl. 124.872/1934 – 20g, Raimund von Klebelsberg an den Staatssekretär für Sicherheitswesen Hofrat Dr. Karwinsky in Wien vom 19.2.1934. 18 Ebd., Zl. 124.872/1934–20g, Berufungsschreiben von Kurt Strele (Rechtsanwalt von Friedrich Metz) an das österreichische Bundeskanzleramt vom 10.2.1934. 19 Völkischer Beobachter vom 10.6.1934, Friedrich Metz. Zu seiner Berufung auf den Geographischen Lehrstuhl der Universität Erlangen von Richard Busch-Zantner. 20 Fahlbusch, Wissenschaft, S. 362.

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21 HSTAS, EA 3/150 – 1501, Bl. 1, Bayrisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an die Hochschulkommission der NSDAP vom 27.9.1934. 22 ARW, BKA/SR, Zl. 324.856/1935 – 22 gen, „Hilfsbund der Deutschösterreicher“ Nürnberg; Vortrag des ehem. Prof. d. Metz der Universität Innsbruck vom 25.3.1935. 23 Friedrich Metz, Geographische Grundlagen der Grenzlandforschung, in: Geographischer Anzeiger 7/8 (1933), S. 236–241, 236. 24 Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, Teil II: Die Kapitulation der Hohen Schulen. Das Jahr 1933 und seine Themen, Bd. 2, München 1994, S. 256. 25 Mario Seiler, Uneindeutige Grenzen und die Idee der Ordnung. Der Grenzlanddiskurs n der Universität Freiburg im Zeitalter der beiden Weltkriege, Freiburg i.Br. u.a. 2015, S. 259. 26 Seiler, Uneindeutige Grenzen, S. 261. 27 Vgl. Seiler, Uneindeutige Grenzen, S. 245–331, 453–498. 28 Bernd Grün, Der Rektor als Führer? Die Universität Freiburg i. Br. von 1933 bis 1945, Freiburg i. Br. 2010, S. 416–422. 29 Fahlbusch, Wissenschaft, S. 77, 364; Oberkrome, Volksgeschichte, S. 217. In einem 1939 erschienenen Aufsatz über das Memelgebiet (Metz, Land und Leute, S. 408–416) beschreibt Metz dessen Entwicklung nach der Abtrennung vom Deutschen Reich: „Aber dafür wurde die Stadt Memel und das Land jetzt von Ostjuden und Schamaiten, dazu jüdischen Emigranten aus dem Reich, überschwemmt, und die Hauptstadt wäre bei einer Fortdauer dieser politischen Zustände auf die Stufe einer osteuropäischen Stadt herabgesunken.“ (S. 414) In seinem Aufsatz „Sprachen-, Volks- und Staatengrenzen in Mitteleuropa“ in: Buch vom deutschen Volkstum. Wesen – Lebensraum – Schicksal, hrsg. von Paul Gauß, Leipzig 1935, S. 16–21, schließt er die „rassefremden Ostjuden“ vom deutschen Volkstum aus. Vgl. Fahlbusch, Wissenschaft, S. 110. 30 Fahlbusch, Wissenschaft, S. 66. 31 Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, S. 260ff.; BArch, R 4901, 1796, Berichte und Schreiben von Metz. 32 Vgl. Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, S. 260ff.; BArch, R 4901, 1796, Bericht über eine Unterredung zwischen Metz und Oechsle, Gather und Schleyer vom 29.5.1937. 33 BArch, R 4901, 1796, Bericht von Walter Schultze (Reichsdozentenführer) an Otto Wacker (Staatsminister im Reichserziehungsministerium) vom 20.10.1937. 34 Peter Schöttler, Eine Art „Generalplan West“. Die Stuckart-Denkschrift vom 14. Juni 1940 und die Planungen für eine neue deutsch-französische Grenze im Zweiten Weltkrieg, in: Sozial.Geschichte 3 (2003), S. 83–131. 35 Es ging um die Umsiedlung der französisch sprechenden Patois-Bevölkerung in den Vogesentälern, die nach Metz „verwelschte Germanen“ seien. Lothar Kettenacker, Nationalsozialistische Volkstumspolitik, Stuttgart 1973, S. 251f.; vgl. Fahlbusch, Wissenschaft, S. 704–707, 717. 36 Fahlbusch, Wissenschaft, S. 664. 37 Vgl. Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, S. 264f.; IfZ, MA–141/11 (1939) und MA–116/3 (1943). 38 Seemann, Die politischen Säuberungen, S. 161f. 39 UAF, B 24/2422, Aktenvermerk des Rektors der Universität Freiburg vom 29.10.1948 über die Einsichtnahme in die Einspruchsbegründung der französischen Militärregierung. 40 Stiftung F.V.S. zu Hamburg (Hg.), Preisträger-Treffen 1965 in Hamburg und Verleihung der Freiherr-vom-Stein-Medaille in Gold an Professor Dr. Gustav Adolf Rein (Hamburg) und Professor Dr. Friedrich Metz (Freiburg i. Br.), Hamburg 1965, S. 1–29. 41 Vgl. Meynen, Friedrich Metz; Konrad Sonntag, Zur Geschichte des Alemannischen Instituts seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in: Alemannisches Institut. 50 Jahre landeskundliche Arbeit 1931–1981, hg. vom Alemannischen Institut e. V., Bühl 1981, S. 50–63, 52.

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Konrad Meyer Konrad Meyer war in den Bereichen der Agrar- und Raumforschung einer der zentralen Akteure nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik. Als überzeugter und karriereorientierter Nationalsozialist, Mitglied der SS, Referent im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) und Universitätsprofessor nutzte Meyer die Konstituierungsphase der nationalsozialistischen Diktatur zur Zusammenfassung und politischen Ausrichtung dieser Disziplinen in reichsweite Forschungsverbünde. Sein früherer Mitarbeiter Martin Kornrumpf beschrieb ihn rückblickend als „Professor in Uniform“.1 Nach dem Polenfeldzug wurde Meyer von Himmler zum Planungschef für die eingegliederten Ostgebiete beim →Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums (RKF) bestellt. In dieser Funktion war Meyer verantwortlich für die Ausarbeitung der Raum- und Siedlungsplanungen in den annektierten Gebieten sowie für den „→Generalplan Ost“, der die „Germanisierung“ großer Teile Osteuropas vorsah. Meyer stand während des Zweiten Weltkrieges nicht nur einem „wahren Wissenschaftsimperium“ vor,2 welches sich aus einem breiten Pool von Agrar- und Siedlungsexperten generierte, sondern vermochte mittels seiner Position als Chefplaner beim RKF beziehungsweise im Apparat der SS ab 1942 auch das gesamte Feld der Raumordnungsfragen im Reichsnährstand, im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft (RMEL) und im →Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete (RMO) unter seine Führung bringen. Diese außerordentliche Ansammlung von Macht und Einfluss war weniger persönlichen wissenschaftlichen Leistungen geschuldet, als vielmehr seiner ideologischen Übereinstimmung mit den führenden Köpfen des NS-Regimes und seinen ausgeprägten Fähigkeiten als moderner Wissenschaftsmanager. Dem 1947 im achten Nürnberger Kriegsverbrecherprozess („RuSHA-Prozess“) angeklagten Meyer gelang in der Bundesrepublik der Wiedereinstieg in seinen Beruf, als er 1956 zum Professor für Landbau und Landesplanung an die Universität Hannover berufen wurde. Am 15. Mai 1901 in der niedersächsischen Provinz geboren, erlebte Meyer bewusst den Zusammenbruch des Kaiserreiches. Der konservative Vater war Dorfschullehrer; die Familie betrieb daneben eine kleinbäuerliche Landwirtschaft. Meyers Wunsch, nach dem Abitur Berufssoldat zu werden, scheiterte an der Opposition des Vaters, der für Meyer eine zweijährige Landwirtschaftslehre bestimmte. 1921 nahm Meyer in Göttingen ein Studium der Landwirtschaft auf, 1925 promovierte er mit einer Arbeit zur Genetik des Weizens. Nach einer Assistenz auf dem Versuchsgut Schwoitsch des Instituts für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung der Universität Breslau kehrte Meyer 1927 als Assistent an das Institut für Pflanzenbau nach Göttingen zurück. Mit der Habilitation über die Dürreresistenz des Hafers erhielt Meyer 1930 die venia legendi für das Gebiet „landwirtschaftlicher Pflanzenbau“. Angezogen von den Schriften Walther Darrés trat Meyer Ende 1931 in die NSDAP (Mitgliedsnummer 908.471) und 1933 in die SS ein, wo er als Schulungsleiter wirkte. Bereits bei den Wahlen des Jahres 1932 hatte sich Meyer als politischer Redner betä-

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tigt. An der Universität Göttingen betrieb er nach der Machtübernahme zusammen mit einer Gruppe gleichgesinnter Dozenten energisch die Entlassung jüdischer und demokratischer Hochschullehrer und plädierte öffentlichkeitswirksam im Sinne des Nationalsozialismus für den Aufbau einer „politischen Universität“. Meyer verfasste in diesem Zeitraum einen Vorschlag für eine nationalsozialistische Reform des landwirtschaftlichen Studiums, der im Oktober 1933 in der von Darré herausgegebenen Zeitschrift Deutsche Agrarpolitik erschien. Im November 1933 wurde er darauf zunächst als „Hilfsreferent“ in das preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung berufen und gewann durch die Förderung der Reichsminister Rust und Darré weitreichenden Einfluss auf das gesamte wissenschaftliche Agrarwesen. Nach Umwandlung des Preußischen Wissenschaftsministeriums zum REM avancierte er am 1. November 1934 zum Referenten in einem neu eingerichteten Sach- und Personalreferat für Allgemeine Biologie, Land- und Veterinärwissenschaften. Zuvor hatte Meyer im April eine Professur für Acker- und Pflanzenbau an die Universität Jena erhalten, nahm diese akademische Verpflichtung jedoch nur in der Weise einer Nebentätigkeit wahr und blieb primär seiner Aufgabe als Referent des REM in Berlin verpflichtet. Im November 1934 berief die Friedrich-Wilhelm-Universität Meyer als Ordinarius des neugeschaffenen Instituts für Ackerbau und Landbaupolitik (ab 1940: Agrarwesen und Agrarpolitik) nach Berlin.3 Meyer nutzte seine Stellung in Wissenschaft und Politik zur organisatorischen Zusammenfassung, zum Ausbau und zur politischen Ausrichtung der Agrarwissenschaften. Im Sommer 1935 traten die von Meyer maßgeblich erarbeiteten „Richtlinien für das Studium der Landwirtschaft“ in Kraft. Kurz zuvor wurde im Mai 1935 auf Meyers Initiative durch einen gemeinsamen Erlass des Reichserziehungsministers und des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft der „Forschungsdienst“ (Reichsarbeitsgemeinschaften für Landwirtschaftswissenschaft) als Gesamtorganisation der Agrarwissenschaften mit der Aufgabe gegründet, „einen planvollen und zielbewussten Einsatz aller wissenschaftlichen Kräfte herbeizuführen“.4 Meyer kam als Obmann des Forschungsdienstes unter anderem die Aufgabe zu, über die Genehmigung von Forschungsanträgen, Sach- und Personalmitteln zu entscheiden. Publikationsorgan dieses Zusammenschlusses wurde die Zeitschrift Der Forschungsdienst, die erstmals im Januar 1936 erschien. Ein analoger Verbund universitärer Forschung wurde ein halbes Jahr darauf durch die Gründung der →Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung (RAG) über einen gemeinsamen Erlass des Reichserziehungsministers und des Leiters der Reichsstelle für Raumordnung (RfR), Hanns Kerrl, am 16. Dezember 1935 geschaffen. Als (zunächst kommissarischer) Obmann der RAG wurde wiederum Meyer bestimmt. Da das sich erst herausbildende Feld der Raumforschung noch über keinen klaren disziplinären Rahmen verfügte, erfolgte auf Anregung Meyers am 16. Februar 1936 ein weiterer Erlass, der die Bildung interdisziplinärer Arbeitsgemeinschaften für Raumforschung an den einzelnen Universitäten anordnete. Die Leiter dieser Arbeitsgemeinschaften wurden von Meyer als Obmann der RAG auf Vorschlag der

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Rektoren ernannt. Daneben wurden mehrere hochschulübergreifende thematische Arbeitskreise konstituiert. Die RAG blieb als Arbeitsgemeinschaft universitärer Raumforscher allerdings an die Reichsstelle für Raumordnung gebunden, die die Grundlinien der Forschungstätigkeit vorgab. Als Publikationsorgan der RAG erschien, herausgegeben von Konrad Meyer, im Oktober 1936 erstmals die heute noch bestehende Zeitschrift Raumforschung und Raumordnung.5 Parallel zu diesen Ämtern war Meyer im Stabsamt des Reichsernährungsministers und im Reichsbauernrat tätig sowie Herausgeber der Schriftenreihe „Ackerbau und Landbaupolitik“, die in Verbindung mit der von Darré herausgegebenen Zeitschrift Odal, Monatsschrift aus Blut und Boden, erschien. Von Frühjahr bis Spätsommer 1936 war Meyer zudem einer von zwei Vizepräsidenten der →Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die Reichsminister Bernhard Rust dem ihm ungeliebten DFG-Präsidenten Johannes Stark beistellte, nachdem sein Versuch gescheitert war, die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft (später DFG) in eine Reichsakademie für Forschung unter der unmittelbaren Leitung des REM umzuwandeln. Meyer agierte in dieser Position also als Vertrauensmann Rusts. 1937 wurde Meyer Mitglied im zunächst 13-köpfigen →Reichsforschungsrat und vertrat dort die Fachsparte Landbauwissenschaften und Allgemeine Biologie, im Jahr darauf wurde er Präsident der Fördergemeinschaft der ostdeutschen Landwirtschaft. Am 2. März 1939 wählte ihn die Preußische Akademie der Wissenschaften zum ordentlichen Mitglied. Neben diesen Funktionen vertrat Meyer die deutsche Agrarwissenschaft auch auf internationalem Parkett und war wiederholt Mitglied von Landwirtschaftsdelegationen.6 Die dargestellte Häufung von Spitzenämtern machte Meyer zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten der NS-Agrar- und Raumforschung – eine Position, die nicht zuletzt dadurch möglich wurde, weil es gelang, potentielle Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen. So wurde Ende 1934 Hans Serings Deutsches Institut für Agrar- und Siedlungsforschung von Meyer in seiner Funktion als Referent im REM aufgelöst, um eine mögliche Konkurrenz dieses Forschungsverbundes mit dem geplanten Forschungsdienst auszuschließen. Ein weiterer potentieller Wettbewerber für die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung bestand in der Akademie für Landesforschung und Reichsplanung unter Johann Wilhelm Ludowici, dem Leiter des Reichsheimstättenamtes. Auch aus dieser Konkurrenzsituation ging Meyer erfolgreich hervor. 1937 wurde die Akademie für Landesforschung und Reichsplanung aufgelöst und die mit ihr verbundene Zeitschrift Reichsplanung eingestellt.7 Das ideologische und wissenschaftspolitische Programm Meyers verwies in der ersten Phase der nationalsozialistischen Diktatur zunächst auf die Positionen Walther Darrés. In Ablehnung einer liberalistischen Wirtschaft forderte Meyer eine intensive Beschäftigung mit dem Bauerntum als rassisch-völkische Grundlage der deutschen Landwirtschaft. Diese Hervorhebung des Bauerntums wurde mit Hinweis auf die nicht-ökonomischen, biologisch-rassischen und ernährungspolitischen Leistungen des Bauernstandes für die „→Volksgemeinschaft“ gerechtfertigt. Der Bezug

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auf die höheren Interessen der „Volksgemeinschaft“ war zudem ein zentrales Argument für die Zusammenfassung und die Ausrichtung der Agrar- und Raumforschung auf die Ziele des nationalsozialistischen Staates. In diesem Sinne verstand Meyer Agrarwissenschaften als „Agrarpolitik“.8 Nach Übernahme der RAG entwickelte Meyer diese Standpunkte weiter und vertrat eine Position, die deutlich über die Beschäftigung mit engeren agrarischen Themen hinauswies. Zur Betrachtung agrarischer Wirtschaftsverhältnisse trat die Bestandsaufnahme und Planung räumlicher Großregionen. Übergeordneter ideologischer Bezugspunkt war auch hier der Begriff der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“, der inhaltlich als Vorstellung einer totalen und effizienten funktionalen Ordnung auf rassisch-völkischer Basis zu explizieren ist. Der Wert von Strukturen, Personen und Kollektiven ließ sich aus diesem Verständnis über ihre Leistung für die „Volksgemeinschaft“ ermitteln. Über diesen Gedankengang wurden Menschen zuletzt zu Ressourcen, die je nach („rassischer“) Leistungsfähigkeit im Interesse der Raum- und Volksordnung eingesetzt, verschoben oder auch vernichtet werden konnten – ein Aspekt, der für Meyers spätere Planungen in Osteuropa bedeutsam war. Meyers Konzept mündete in die Vorstellung totaler Raum- und Sozialplanung, deren Grundlinien in interdisziplinärer Gemeinschaftsarbeit bestimmt werden sollten. Die von Meyer geleiteten Forschungsverbünde waren entsprechend fachübergreifend ausgelegt. Meyer propagierte Raumordnung in diesem Sinne nicht allein als „nationalsozialistische Aufgabe“, sondern als Vorstufe einer umfassenden und funktionalen Um- und Neugestaltung des deutschen Lebensraumes: „Die Frage des Neubaus unserer Landschaften ist eine biologische, kulturelle, wirtschafts- und wehrpolitische Lebensfrage.“9 Dabei sprach er sich – auch in Bezug auf die bäuerliche Landwirtschaft – für eine umfassende Mobilisierung, Modernisierung und Rationalisierung gegebener Strukturen aus.10 Den Aufbau fachübergreifender Forschungsverbünde in Agrarwissenschaft und Raumforschung nutzte Meyer zielgerichtet zum Aufbau und zur Ausweitung einer persönlichen Schlüsselstellung. Als aber Mitte 1939 sein Versuch scheiterte, die RAG aus ihrer Zuordnung zu Kerrls Reichsstelle für Raumordnung zu lösen, schied er am 5. Juli auf eigenen Wunsch als Obmann der RAG aus. Kurz nach Ende des Polenfeldzuges erhielt Meyer ein neues Tätigkeitsfeld, als ihn Himmler, den Hitler am 7. Oktober 1939 zum Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums ernannt hatte, zu seinem Planungschef machte. Meyer baute den Planungsstab für die langfristige Siedlungs- und Germanisierungspolitik in den annektierten Teilen Polens auf und errichtete in der Folge die Planungshauptabteilung der Dienststelle des RKF. Zur kurzzeitigen Rekrutierung seiner Mitarbeiter halfen die hervorragenden Kontakte, über die Meyer als bisheriger zentraler Koordinator der Raumforschung verfügte. Die Planungshauptabteilung des RKF wurde im Haus des Forschungsdienstes in der Berliner Podbielskiallee (Stadtteil Dahlem) in unmittelbarer Nähe zu Meyers Hochschulinstitut für Agrarwesen und Agrarpolitik untergebracht

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und nicht in Halensee, wo die Dienststelle des RKF residierte. Dadurch sicherte sich Meyer eine relative Selbständigkeit von der SS-Bürokratie.11 Anfang 1940 legte Meyer erste „Planungsgrundlagen zum Aufbau der Ostgebiete“ vor, die auf einem strategischen Plan zur Deportation der gesamten jüdischen und eines großen Teils der polnischen Bevölkerung sowie einer darauffolgenden Sesshaftmachung von „volksdeutschen“ Umsiedlern basierten. Die Planung beschränkte sich nicht allein auf Umsiedlungen und Deportationen, sondern sah grundlegende Veränderungen in der Siedlungs-, Wirtschafts- und Betriebsstruktur des Gebietes vor. Geplant war eine gemischt agrarisch-industrielle Struktur, die sich nicht an den Nachbarprovinzen Pommern und Ostpreußen, sondern an den „gesündesten“ Gebieten Deutschlands, Bayerns und der Provinz Hannover orientierte.12 Meyers Planung zielte nicht allein darauf ab, aus den neu zu schaffenden deutschen Siedlungsgebieten langfristig „alles fremde Blut“ zu entfernen,13 sondern projektierte den idealen Entwurf einer geordneten Volks- und Sozialstruktur, in der das Bauerntum eine moderne Verwirklichung fand. Ein durchgehendes Ziel war die Schaffung moderner und effizienter Siedlungs- und Betriebsstrukturen. Vorgaben für Hof- und Dorfplanung, Betriebsgrößen- und Bevölkerungsstruktur, bis hin zu Anweisungen zur Stadt- und Landschaftsgestaltung fanden Eingang in die Allgemeinen Anordnungen des RKF, die Meyers Planungsstab als Richtlinien zum Aufbau der eingegliederten Gebiete erarbeitete.14 Mit der Ausweitung des Krieges durch den Angriff auf die Sowjetunion erfolgte auch eine geographische Ausweitung der von Meyer und seinem Expertenstab in die Planung einbezogenen Gebiete. Ende Mai 1942 legte Meyer Himmler eine Ausweitung des „Generalplan Ost“ durch „Siedlungsmarken“ auf ehemals sowjetischem Gebiet vor. In einer darauf folgenden nochmaligen Erweiterung des Planungsgebietes wurden schließlich in Vorbereitung eines Generalsiedlungsplanes, an dem bis Anfang 1943 gearbeitet wurde, neben den Siedlungsgebieten im Osten auch das Protektorat Böhmen und Mähren, →Luxemburg, Lothringen, das Elsaß und die annektierten slowenischen Gebiete Oberkrain und Untersteiermark einbezogen. Neben einer akribischen Bevölkerungsbilanz beinhalteten diese Überlegungen genaue prozentuale Festlegungen zur „Eindeutschungsfähigkeit“ der von der Siedlungsplanung betroffenen Bevölkerungsgruppen. In dieser Ausarbeitungsphase wurde für den beschriebenen Planungsraum die Ansiedlung von 15,51 Mio. germanischer Siedler und die „→Umvolkung“ von 7,54 Mio. geeigneter „fremdvölkischer“ Menschen vorgesehen. Für die nicht zur „Umvolkung“ geeigneten 36 Mio. Menschen in den betroffenen Territorien wäre bei der erstrebten vollkommenen Eindeutschung kein Platz mehr geblieben. An dieser Stelle griffen die Deportations- und Vernichtungsplanungen aus dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und die mit wissenschaftlicher Methodik erarbeiteten Neusiedlungs- und Infrastrukturplanungen aus Meyers Planungsabteilung inhaltlich ineinander. Meyers Planungsstab setzte die rassen- und bevölkerungspolitischen Absichten und Planungen aus dem

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RSHA voraus, entwickelte sie im Kontext der vorgegebenen Siedlungs- und Germanisierungsabsichten weiter, präzisierte und operationalisierte sie mit Mitteln der Raumordnung.15 Die antizipierte Wirkung dieser unvollendeten Planungen beschränkte sich keineswegs auf Umbau und Beherrschung der besetzten Gebiete, sondern sollte beispielgebend auf die Verhältnisse im Altreich einwirken und die Aufnahme von Menschen und Industrie aus vermeintlich überbesetzten Gebieten ermöglichen. Auch inhaltlich rechnete die Siedlungsplanung des RKF mit der Mobilisierung und Nutzung aller Ressourcen – auch des alten Reichsgebietes. Das drückte sich insbesondere in den Plänen für große Bevölkerungsverschiebungen aus. In den Vorarbeiten für den Generalsiedlungsplan wurde im Dezember 1942 etwa mit einer Zahl von mehr als acht Millionen Menschen gerechnet, die in einem Zeitraum von 30 Jahren durch den „Umbau des Altreichs“ freigestellt und in den besetzten Gebieten angesiedelt werden sollten.16 Meyer organisierte für diese gigantomanischen Planungen des NS-Staates den interdisziplinären methodischen Ansatz und den wissenschaftlichen Expertenapparat, auch durch Rückgriff auf Mitarbeiter seines Instituts für Agrarwesen und Agrarpolitik. Er verstand es zudem, für Teilaspekte der Generalplanung in den Jahren 1941 bis 1944 eine erhebliche finanzielle Förderung durch die DFG zu organisieren. Er selbst übte seine Aufgabe als Planungschef des RKF neben seiner Berliner Professur ehrenamtlich aus.17 Mit der Entmachtung Darrés und der Berufung des bisherigen Staatssekretärs Backe als seinem Nachfolger, dehnte sich Meyers Planungskompetenz Mitte 1942 schließlich auch auf die Planungen zur landwirtschaftlichen Strukturreform im „Altreich“ aus. Am 18. Juni 1942 wurde Meyer Planungsbeauftragter für die Siedlung und ländliche Neuordnung im Reichsernährungsministerium. Einen Monat später wurde Meyer außerdem zum Leiter des Siedlungsausschusses im Zentralplanungsstab des RMO. Meyer – und damit der Planungsstab der SS – verfügte so ab Mitte 1942 nominell über eine umfassende Planungskompetenz im Osten wie im „Altreich“. Auch innerhalb des RKF machte Meyer Karriere und avancierte 1941 mit der Umstrukturierung der Dienststelle des RKF zum SS-Stabshauptamt zum Chef der Amtsgruppe C und damit zu einem von drei Amtsgruppenleitern. Sein letzter Dienstrang in der Allgemeinen SS war der eines Oberführers.18 Im September 1944 wurde Meyer zur Waffen SS einberufen, zum Offizier ausgebildet und im März 1945 zur SS-Division Frundsberg versetzt. Mit Kriegsende geriet er in Bayern in amerikanische Kriegsgefangenschaft und saß bis zur Urteilssprechung im achten Fall der amerikanischen Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg in Untersuchungshaft. Die Anklage gegen Meyer lautete auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen im Kontext der Volkstums- und Vertreibungspolitik der SS, für die die Anklage den „Generalplan Ost“ als Grundlage sah. Als dritter Anklagepunkt wurde Meyer die Mitgliedschaft in der SS als einer verbrecherischen Organisation zur Last gelegt. Mit seiner Verteidigungsstrategie gelang es Mey-

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er erfolgreich, den „Generalplan Ost“ als rein wissenschaftlich-theoretische Studie darzustellen, die allein zum Ziel gehabt habe, über eine genaue Kostenkalkulation vor Utopien in der Siedlungsplanung zu warnen. Am 10. März 1948 wurde Meyer allein wegen seiner SS-Mitgliedschaft schuldig gesprochen. Da ihm seine Zeit in Untersuchungshaft auf die Haftstrafe angerechnet wurde, verließ Meyer den Gerichtssaal als freier Mann.19 Nach seiner Haftentlassung betätigte Meyer sich zunächst als Leiter eines Pflanzenzuchtbetriebes bei Einbeck. 1954 erhielt er einen Lehrauftrag an der TH Hannover und wurde 1956 zum Professor für Landbau und Landesplanung berufen. Im folgenden Jahr wurde Meyer zum Mitglied der Akademie für Raumforschung und Landesplanung Hannover ernannt, die 1946 als Nachfolgeorganisation der RAG gegründet wurde. Auch in der Bundesrepublik publizierte Meyer in den Themenbereichen von Raumordnung und ländlicher Siedlung: 1964 veröffentlichte er ein Überblickswerk zu Grundlagen der Raumordnung im ländlichen Raum, das trotz vereinzelter Anklänge an die alte Terminologie auf dem Boden rechtstaatlicher Planung stand. Für dieses Werk erhielt Meyer den Buchpreis der deutschen Landwirtschaft. Im Rahmen der Akademie für Raumforschung und Landesplanung publizierte Meyer mehrere Beiträge – auch zur Geschichte der von ihm geleiteten RAG – und übernahm die Gesamtredaktion des dreibändigen Handwörterbuchs für Raumforschung und Raumordnung, welches 1966 erschien.20 Ein latentes Fortwirken seiner alten Anschauungen ist im Rahmen eines Festschriftenbeitrags für seinen ehemaligen RKFMitarbeiter und Hannoveraner Kollegen Heinrich Wiepking-Jürgensmann zu fassen: Hier betonte Meyer ähnlich wie in den 1930er Jahren die Bedeutung des Bauern „als Staatsbürger, als Familienvater, als Träger von Kultur, Sitte und Überlieferung“ sowie als „Gegengewicht gegen Vermassungserscheinungen“.21 Meyer verstarb im April 1973.

Karl R. Kegler/Alexa Stiller

1 Martin Kornrumpf, Mir langt’s an „Großer Zeit“. 1934–1945. Landesplanung und Raumforschung 1934–1940. Mein Leben während des „Dritten Reiches“. Schwalmstadt 1995, S. 90. 2 Wolfram Pyta, „Menschenökonomie“. Das Ineinandergreifen von ländlicher Sozialraumgestaltung und rassenbiologischer Bevölkerungspolitik im NS-Staat, in: HZ 273 (2001), S. 31–94, 52. 3 Heinrich Becker, Von Nahrungssicherung zu Kolonialträumen: Die landwirtschaftlichen Institute im Dritten Reich, in: ders. (Hg. u.a.), Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, München 1998, S. 635–638; Irene Stoehr, Von Max Sering zu Konrad Meyer – ein „machtergreifender“ Generationswechsel in der Agrar- und Siedlungswirtschaft, in: Susanne Heim (Hg.), Autarkie und Ostexpansion. Pflanzenzucht und Agrarforschung im Nationalsozialismus, Göttingen 2002, S. 64f.; Konrad Meyer, Gedanken zum landwirtschaftlichen Hochschul- und Bildungswesen, in: Deutsche Agrarpolitik 2 (1933), S. 263–272; ders., Über Höhen und Tiefen: ein Lebensbericht, unveröffentlichtes Manuskript, circa 1973, S. 64–79. 4 Konrad Meyer, Das Studium der Landwirtschaft, Berlin 1935; Die Satzungen des Forschungsdienstes, in: Der Forschungsdienst 1 (1936), S. 14–16.

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5 Vgl. Karl R. Kegler, Deutsche Raumplanung. Das Modell der „Zentralen Orte“ zwischen NS-Staat und Bundesrepublik, Paderborn 2015, S. 150–155; Ariane Leendertz, Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert, Göttingen 2008, S. 115–126; Michael Venhoff, Die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung (RAG) und die reichsdeutsche Raumplanung seit ihrer Entstehung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Hannover 2000, S. 15–23; Rechtsgrundlagen der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, in: Raumforschung und Raumordnung 1 (1937), S. 50–51. 6 Vgl. Konrad Meyer, Höhen und Tiefen, S. 93, 98–102; ders., Bologna. Die erste deutsch-italienische Konferenz über die Zusammenarbeit der Landwirtschaft, in: Der Forschungsdienst 8 (1939), S. 191–196; Isabel Heinemann, Wissenschaft und Homogenisierungsplanungen für Osteuropa. Konrad Meyer, der ‚Generalplan Ost‘ und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, in: dies. (Hg. u.a.), Wissenschaft – Planung – Vertreibung: Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, S. 49; Notker Hammerstein, Die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Wissenschaftspolitik in Republik und Diktatur 1920–1945, S. 175–179; Werner Hartkopf, Die Berliner Akademie der Wissenschaften: ihre Mitglieder und Preisträger 1700–1990, Berlin 1992. 7 Vgl. Stoehr, Max Sering, S. 66–67; Uwe Mai, Rasse und Raum, Agrarpolitik Sozial- und Raumplanung im NS-Staat, Paderborn 2002, S. 226f., 337–338; Kegler, Deutsche Raumplanung, S. 150– 151; Konrad Meyer, Die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung 1935 bis 1945, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Raumordnung und Landesplanung im 20. Jahrhundert. Forschungsberichte des Ausschusses „Historische Raumforschung“ der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Hannover 1971, S. 107. 8 Konrad Meyer, Deutscher Sozialismus, Rasse und Bauerntum, in: Deutsche Agrarpolitik 2 (1934), S. 770–785; ders., Das bodenständige Prinzip in der neuen Agrarverfassung, in: Odal, Monatsschrift für Blut und Boden 3 (1934), S. 382–390; ders., Rational-liberale oder nationalsozialistische Landwirtschaftswissenschaft? Goslar 1935; ders., Vom Wesen und Sinn wissenschaftlicher Gemeinschaftsarbeit, in: Der Forschungsdienst 2 (1936), S. 329–335; ders., Agrarpolitik – eine völkische Grundwissenschaft, in: Der Forschungsdienst 5 (1938), S. 433–443. 9 K. Meyer, Raumforschung, eine Pflicht wissenschaftlicher Gemeinschaftsarbeit! In: Der Forschungsdienst 1 (1936), S. 737. 10 Vgl. K. Meyer, Raumordnung als nationalsozialistische Aufgabe, in: Jahrbuch der nationalsozialistischen Wirtschaft 2 (1937), S. 95–111; ders., Grundsätzliches zum Boden und zur Bodenordnung im „Großhof Deutschland“, in: Raumforschung und Raumordnung 1 (1937), S. 301–312; ders., Vor neuen Aufgaben, in: ders. (Hg.), Agrarpolitik – eine völkische Grundwissenschaft, Neudamm 1938, S. 1–15; ders., Grundsätze und Ziele nationalsozialistischer Agrarpolitik, in: ders. (Hg.) Gefüge und Ordnung der deutschen Landwirtschaft, Berlin 1939, S. 193–218. 11 Mai, Rasse und Raum, S. 122–23, 141; Hammerstein, Deutsche Forschungsgemeinschaft, S. 180f. 12 Cesław Madajczyk (Hg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, München 1994, S. 3– 14. 13 Konrad Meyer, Siedlungs- und Aufbauarbeit im deutschen Osten, in: Die Bewegung 8 (1941), S. 7. 14 Ders. (Hg.), Landvolk im Werden, Berlin 1941; Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums (Hg.), Planung und Aufbau im Osten. Erläuterungen und Skizzen zum ländlichen Aufbau in den neuen Ostgebieten, Berlin 1941; ders. (Hg.), Neue Dorflandschaften. Gedanken und Pläne zum ländlichen Aufbau in den neuen Ostgebieten und im Altreich, Berlin 1943; Michael A. Hartenstein, Neue Dorflandschaften. Nationalsozialistische Siedlungsplanung in den „eingegliederten Ostgebieten“ 1939 bis 1944, Berlin 1998. 15 Kegler, Deutsche Raumplanung, S. 228–237; Karl Heinz Roth, „Generalplan Ost“ – „Gesamtplan Ost“. Forschungsstand, Quellenprobleme, neue Ergebnisse, in: Mechtild Rössler (Hg. u.a.), Der „Generalplan Ost“. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993, S. 58–73; Madajczyk, Generalplan, Dok. 71, S. 235–247; Alexa Stiller, Germanisierung und Ge-

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walt. Nationalsozialistische Volkstumspolitik in den polnischen, französischen und slowenischen Annexionsgebieten, 1939–1945, Dissertation Universität Bern 2015. 16 Konrad Meyer, Bodenordnung als volkspolitische Aufgabe und Zielsetzung des nationalsozialistischen Ordnungswillens, Berlin 1940, S. 23f.; ders., Neues Landvolk, S. 18f.; Madajczyk, Generalplan, Dok. 71, S. 241. 17 Heinemann, Wissenschaft, S. 54–63. 18 Kegler, Deutsche Raumplanung, S. 292–296; Madajczyk, Generalplan, Dok. 24–26, 29, 33 und 36, S. 130–136, 151–152 und 154f. 19 Konrad Meyer, Höhen und Tiefen, S. 123–174; Isabel Heinemann, Rasse, Lebensraum, Genozid. Die nationalsozialistische Volkstumspolitik im Fokus von Fall 8 der Nürnberger Militärtribunale, in: Kim C. Priemel (Hg. u.a.), NMT. Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung, Hamburg 2013, S. 100–126; Alexa Stiller, Die Volkstumspolitik der SS vor Gericht: Strategien der Anklage und Verteidigung im Nürnberger „RuSHA-Prozess“, 1947–1948, in: Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Leipzig – Nürnberg – Den Haag. Neue Fragestellungen und Forschungen zum Verhältnis von Menschenrechtsverbrechen, justizieller Säuberung und Völkerstrafrecht, Düsseldorf 2008, S. 66–86; dies., Semantics of Extermination. The Use of the New Term of Genocide in the Nuremberg Trials and the Genesis of a Master Narrative, in: Kim C. Priemel/Alexa Stiller, Reassessing the Nuremberg Military Tribunals. Transitional Justice, Trial Narratives, and Historiography, Oxford u.a. 2012, S. 104–133; Mechtild Rössler, Konrad Meyer und der „Generalplan Ost“ in der Beurteilung der Nürnberger Prozesse, in: dies., Generalplan, S. 357ff. 20 Wolfgang Böhm, Biographisches Lexikon zur Geschichte des Pflanzenbaus, München 1997, S. 210–212; Heinemann, Wissenschaft, S. 68ff.; Meyer, Ordnung im ländlichen Raum. Grundlagen und Probleme der Raumplanung und Landentwicklung, Stuttgart 1964; Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung, Hannover 1966. 21 Konrad Meyer, Über den Bauern im Leitbild der Raumordnung, in: Konrad Buchwald (Hg.), Festschrift für Heinrich Wiepking, Stuttgart 1963, S. 121.

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Emil Meynen Emil Meynen wurde am 22. Oktober 1902 in Köln geboren. Er promovierte dort mit 23 Jahren bei dem Geographen Franz Thorbecke über ein landeskundliches Thema. Auf Anregung →Albrecht Pencks trat er als Mitarbeiter von →Friedrich Metz der →Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig bei. Dort wirkte er in den 1920er Jahren am Aufbau des →Handwörterbuches des Grenz- und Auslandsdeutschtums (Hdwb) mit. Nach Meinungsverschiedenheiten einerseits zwischen dem Geschäftsführer der Leipziger Stiftung, →Wilhelm Volz, sowie Metz und Penck andererseits, wurden Meynen und Metz als Hauptredakteure des Hdwb gekündigt. Während Metz einen Ruf nach Innsbruck annahm, wurde Meynen Privatassistent Pencks. Ein durch Penck vermitteltes Stipendium der →Rockefeller-Foundation ermöglichte Meynen von Oktober 1929 bis Dezember 1932 einen Studienaufenthalt in den USA zur Erforschung des von Carl O. Sauer vorgeschlagenen Themas „Warum hebt sich das Siedelgebiet der deutschtumspennsylvanischen Farmer so stark von andersstämmigen Farmergebieten ab?“. Diese Arbeit über den Osten der USA behandelte das bäuerliche und kleinbürgerliche Deutschtum in den Gebirgen Pennsylvaniens. Sie sollte den „American way of Life“ als Bedrohung der deutschen Kultur in Pennsylvanien aufzeigen.1 In den USA lernte Meynen auch →Georg Leibbrandt kennen, woraus eine fatale Arbeitsbeziehung während des Krieges entstehen sollte. Noch vor seiner Rückkehr nach Deutschland wurde die Leipziger Stiftung stillgelegt. Zwar wurden die von ihr initiierten Deutschen Hefte für Volksforschung noch 1933 von Carl Petersen, →Gunther Ipsen und Hans Schwalm herausgegeben, doch baute zu diesem Zeitpunkt der Leiter des VDA, →Hans Steinacher, die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften (VFG) zusammen mit Friedrich Metz auf. Im August 1934 übernahm Meynen die Leitung der in Berlin angesiedelten Geschäftsstelle der VFG sowie die Schriftleitung der Zeitschrift Archiv für deutsche Landesund Volksforschung.2 Im gleichen Jahr habilitierte er sich in Köln mit dem historisch-geographischen Thema „Deutschland und Deutsches Reich“, welches 1938 im Vorfeld der Annexion Österreichs und des Sudetenlandes in gekürzter Fassung für den NS-Schulungsbrief der NSDAP erschien.3 1936 wurde er Privatdozent in Berlin. Seine wissenschaftliche Arbeit gründete sich, bedingt durch das Habilitationsverfahren in Köln und den Aufbau der Geschäftsstelle der VFG, hauptsächlich auf kleinere Publikationen und Buchbesprechungen in den Zeitschriften →Deutsche Arbeit, Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin und Geographische Zeitschrift. Im „Buch vom deutschen Volkstum“ des VDA erschien von Meynen ein Artikel über das „Deutschtum in Nordamerika“. Vorträge über das Deutschtum in Pennsylvanien erschienen als „Germantown Pennsylvanien 1683–1933“ in der Zeitschrift Die Heimat aus Krefeld. Die Bibliographie über die „Einwanderung, Siedlung und Entwicklung des kolonialzeitlichen Deutschtums in Amerika“ wurde durch namhafte Beträge des VDA, der DFG und der Überseedeutschen Forschungsgemeinschaft

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(ÜFG) zu je einem Drittel ermöglicht.4 Seine Beiträge entstanden im engen Kontext mit dem Volkswissenschaftlichen Arbeitskreis des VDA, der von →Kleo Pleyer geleitet wurde. Emil Meynen gehört neben Friedrich Metz zu den Begründern der völkischen Geographie. Er lehnte das Vorherrschen einer Allgemeinen Geographie im Fach genauso ab wie das einer reinen Länderkundegeographie. In den Mittelpunkt seiner Analyse stellte er den Begriff des „Volkes“ als „→Volksgemeinschaft“, die er jedoch nicht als soziologisches Erkenntnisobjekt auffasste. Nach Meynen habe die „völkische Geographie“ die Aufgabe, in Ergänzung zur Geopolitik und zur Länderkunde, die nur die landschaftliche Gestaltung des Raumes durch den Staat und durch die Bevölkerung betrachteten, den überstaatlichen Blick auf die Bedürfnisse der Völker zu richten. Freilich konnte auch Meynen diesen Volksraum nur gefühlsmäßig eruieren: „Ein Volk empfindet denn auch als schicksalsgebundene Lebensgemeinschaft seine Raumeinheit und Raumgröße und steht in gemeinschaftlichem Wollen zu seinem Boden.“ So erklärt sich nach Meynen auch eine mögliche Nichtstaatlichkeit eines Volkes aus der Kampfmoral, sich den Boden wieder zu eigen zu machen, womit er eindeutig auf das →NS-Volksgruppenrecht rekurrierte: „Ein Volk, stark in seinem völkischen Bewußtsein, verteidigt mit Zuhilfenahme wie gegebenenfalls auch bar des Staates den Raum, den es bewohnt und der ihm durch seine Arbeit eigen ist.“5 Nach Adolf Hitlers Mein Kampf lautete seine Devise, Volk sei nicht Staatsbevölkerung, die sich den jeweiligen Staatsgrenzen anpasse, sondern ein Gebilde aus eigenem Recht und mit eigenen Gesetzen.6 Danach habe die Volksforschung, und hier besonders die „Völkische Geographie“, wie Meynen präzisierte, den räumlichen Grundlagen der Ausbreitung des „Volks unter Völkern“ Rechnung zu tragen. Sie sei mehr als nur eine „Geographie der Völker“, denn sie verstehe sich nicht etwa als „neue Systematik“, die „nur Begriffsreihen oder Kausalzusammenhänge an allen möglichen Wechselbeziehungen“ erkunde.7 Ihre Bedeutung läge vielmehr in der kulturhistorischen Überzeichnung des deutschen Volkes und der deutschen Kulturlandschaft. Gleichwohl böten sich der „völkischen Geographie“ mit dem „Volksgebiet“ und den „Volksgrenzen“ neue Chancen, die nicht mit etwaigen „Rassengrenzen“ zu verwechseln seien. Friedrich Metz wie Emil Meynen legitimierten in diesem Zusammenhang auch die Ausgrenzung der Juden aus dem deutschen „Volk“.8 Meynens Habilitationsschrift befasste sich mit dem kulturhistorischen Thema „Ursprung und Sinnwandel des Wortes Deutschland“. Er versuchte darin, mit landeskundlichen Argumenten die Positionen der völkischen Bewegung an die neuen politischen Direktiven des Dritten Reiches anzupassen. Dem Reichsobmann für Geographie im NSLB und interimistischen Leiter der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft, Wolfgang Panzer, zufolge, war seine Arbeit grundlegend und wurde allgemein anerkannt. Indes teilte die Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums diese Auffassung Panzers nur bedingt. Meynens Publikation wurde vorübergehend verboten. Sie kritisiere nicht grundsätzlich den angeführten Sachverhalt der ihrer Meinung

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nach „ausgezeichnete[n] Untersuchung“, sondern beschränke sich darauf aus außenpolitischen Erwägungen. Sie fürchtete, dass Hitlers Beschwichtigungsstrategie gegenüber dem Westen und gegenüber Polen durch das volkspolitische „Programm“ desavouiert werden könnte: „Jedenfalls halten wir es für vollkommen abwegig, die geheimsten Gedankengänge deutscher Volkspolitik nun in begrifflichen Unterscheidungen festzulegen und diese dem täglichen Sprachgebrauch der Welt in doktrinärer Verbohrtheit aufzwingen zu wollen […]. Daß die Arbeit für das Auslandsdeutschtum und unter den Auslandsdeutschen durch eine solche vollkommen überflüssige Forderung aufs Neue erschwert wird, steht außer allem Zweifel. Auch wird es schwer halten [sic], den gegnerischen Angriffen, die gerne mit den Schlagworten des Pangermanismus arbeiten, angesichts solcher Forderungen mit den Hinweisen des Buches entgegenzutreten.“9 Neben seiner Tätigkeit als Geschäftsführer der VFG gehörte es zu Meynens Aufgaben, die Volks- und Sprachenkarten Mitteleuropas kritisch auszuwerten. Darüber hinaus erarbeitete er eine Karte der neuen Grenzen der Tschechoslowakei von 1938, welche der internationalen Grenzziehungskommission für das Münchner Abkommen zur Entscheidung vorlag.10 Er erhielt wie viele andere Mitglieder der VFG „vom Führer […] im Zusammenhang mit den Arbeiten der VFG die Medaille zur Erinnerung an den 13. März 1938“.11 Meynen trat am 1. Mai 1937 der NSDAP bei, einige Jahre nach dem Beitritt seiner Frau.12 1942 wurde er zum apl. Prof. für Geographie ernannt.13 Die von Meynen geleitete „Sammlung Georg Leibbrandt“ nahm 1938 mit zehn wissenschaftlichen Arbeitskräften ihre Tätigkeit in der neubezogenen Dienststelle der Geschäftsstelle der VFG in der Burgstrasse 28 in Berlin auf. Dort befand sich auch das Judenreferat der Gestapo-Leitstelle; im Nachbarhaus, Burgstrasse 26, war die Amtsgruppe II C des RSHA untergebracht.14 Eine vergleichbare unmittelbare „Amtshilfe“ zur Staatssicherheit bot das →Deutsche Ausland-Institut in Stuttgart (DAI): In den Nachbarräumen des DAI war die regionale Gestapoleitstelle einquartiert.15 Emil Meynen war während des Polenfeldzuges Frontsoldat. Er wurde jedoch wegen seiner multifunktionalen Tätigkeit auf Veranlassung des Reichsministeriums des Innern und des Auswärtigen Amtes vom Wehrdienst freigestellt.16 So übernahm er de facto seit 1939 die Leitung des Hdwb. Im gleichen Jahr wurde er auch stellvertretender Leiter der ÜFG. Ferner wurde die auf seine Initiative gegründete Abteilung für Landeskunde 1941 der Geschäftsstelle der VFG eingegliedert. 1942 kam die Leitung der →Publikationsstelle Ost (PuSte Ost) hinzu, in der wichtige landeskundliche Arbeiten des Sonderkommandos →Karl Stumpp über die Krim und die Ukraine für das Oberkommando der Wehrmacht und das →Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, das Auswärtige Amt und das Reichsministerium des Innern erschienen. Mit diesem außeruniversitären Forschungskonglomerat, dem auch der exilrussische Geograph →Wladimir von Poletika angehörte, führte er knapp 100 Mitarbeiter. Im Rahmen dieser Funktionen befasste er sich während der Kriegszeit mit der Erstel-

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lung vertraulicher Denkschriften und Gutachten, besonders die deutschen Sprachinseln in Ost- und Südosteuropa betreffend, die unmittelbar der „→Umvolkung“ und Umsiedlung der betroffenen Bevölkerungsgruppen dienten.17 Des Weiteren leitete er die Kommission für den Historischen Atlas Europas unter Zuständigkeit des Geographischen Dienstes des Auswärtigen Amtes, Referat D VII, und wirkte als Berater für Mitteleuropafragen beim Reichsministerium des Innern, Referat VI 2.3 und dem Referat D VIII des Auswärtigen Amtes.18 Nach der Stilllegung der Geschäftsstelle der VFG erfolgte ab Herbst 1944 auch eine Zusammenarbeit mit der Forschungsstaffel z.b.V. von Otto Schulz-Kampfhenkel.19 Meynen hatte seine Geschäftsstelle und die Abteilung für Landeskunde (AFL) während des Krieges nach Worbis in Thüringen ausgelagert.20 Das United States European Command (EUCOM) evakuierte ihn einschließlich der Arbeitsmaterialien und Sammlungen wenige Tage vor der Übergabe Thüringens an die Sowjetische Besatzungsmacht im Juli 1945 nach Scheinfeld in Franken, wo die Bibliothek des Geographischen Instituts der Universität Bonn untergebracht worden war, während die Bücherei der AFL in Strassfurt blieb. Während das Reichsamt für Landesaufnahme bereits am 8. Mai 1945 aufgelöst worden war, bestand nun die Herausforderung Meynens darin, einerseits seine Vergangenheit im NS zu relativieren: Meynen fasse seine „Tätigkeit vor und nach Gründung der Bundesrepublik zunächst noch nicht als Bruch der Kontinuität auf, sondern als einen Versuch, im Wandel Kontinuität zu bewahren, was aber nur begrenzt gelang. So hielt er 1955 in einem Memorandum für das BMI fest, dass er in der Reichsstelle für Raumordnung und den Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften tätig war, die arbeitsteilig →Konrad Meyers‚→Generalplan Ost‘ umsetzten.“21 Andererseits versuchte er als Landesplaner die bisherigen sozialstatistischen Methoden der AFL unter Aufsicht der amerikanischen Besatzungsverwaltung mit den neuen föderalen Strukturen in den Westzonen in Einklang zu bringen. Die AFL arbeitete unter den Amerikanern weiter, bis die Briten im Sommer 1946 die ehemaligen Mitarbeiter der Abteilung für Landeskunde zur Reeducation internierten.22 Während der Internierung wurden sowohl Planungen für militärische Aufträge der Alliierten als auch für den zivilen Wiederaufbau durchgeführt. Doch damit war Meynens Übernahme in den Bundesdienst noch nicht gesichert: „Nachdem sein erstes Gesuch, vom BMdI übernommen zu werden, 1949 scheiterte, bot er sein frei schwebendes ‚Amt‘ den Briten an. Nur freie Aufträge seitens der neuen Landesregierung von Rheinland-Pfalz hielten ihn über Wasser. Im Wiederaufbau richtete er ein formal bürokratisiertes Berichtswesen für Landkreise in Bayern und im Rheinland ein. Die Recherche- und Ablagetechniken dieses ‚Kreisaufnahmeverfahrens‘ entstammten der Praxis der NS-Umsiedlungs-, Vernichtungsund Wiederaufbauplanung nach 1939 bis 1944 in Polen.“ 23 Die AFL gelangte schließlich auf Umwegen nach Bad Godesberg. Meynens Versuch, 1950 seine Dienstelle in das neue Amt für Landeskunde in Bad Godesberg einzubringen, stieß zunächst auf den „erheblichen Widerstand des Bundesrats“, der Meynens Dienststelle als „Geschwür zentralistischen Überdrucks, das aufgestochen werden“ müsse, be-

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zeichnete. So scheiterte Meynens Bestreben zunächst, das Amt für Landeskunde und das Institut für Raumforschung zu einer Bundesanstalt zu verschmelzen, worin zusätzlich noch die Akademie für Raumforschung und Landesplanung in Hannover aufgenommen werden sollte, in der auch Konrad Meyer tätig war. Im neuen Föderalismus war noch kein Bedarf für eine zentrale Planungsinstanz des Bundes.24 Erst ein Jahr später ging sie dort in der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung auf. Die britische Militärregierung unterhielt mit der Enemy Personnel Exploitation Section (EPES) wie das Office of Strategic Services (OSS) der USA ebenfalls eine wissenschaftliche Abteilung, die in Camp Dustbin (Kranzberg bei Usingen) die Wissenschaftler der dem →Reichsforschungsrat unterstellten technischen Disziplinen verhörte. Dort entstand während der Internierung der Mitarbeiter der Abteilung für Landeskunde deren umfangreiche Dokumentation über die Landes- und Volksforschung in der NS-Zeit für die britische Militärverwaltung. Der Bericht, der den beredten Titel „Der Drang nach dem Osten“ trug, war analog der Selbstexkulpierung Konrad Meyers abgefasst. Die Abhandlung ging auf die Stereotypen der Volksgeschichte, die in der →Ostforschung zur Anwendung gelangten ebenso ein, neben dem „Kulturgefälle“ vor allem die kulturhistorisch abgeleiteten Ansprüche auf den Osten durch die deutsche „Ostsiedlung“. Neben den allgemeinen Darstellungen über die verschiedenen völkischen Verbände im Kaiserreich und in der Weimarer Republik verneinte der Bericht ausdrücklich eine Zusammenarbeit der Volksforscher mit dem RSHA und mündete in der kühnen Behauptung über die vermeintlich rein wissenschaftliche Arbeit der VFG: „there was never fixed any unification of those research groups.“25 Die neuartigen Organisationsformen der landeskundlichen Forschungsämter, die bei den Gauleitungen entstanden waren, wurden im Bericht als Professionalisierungsschub dargestellt, die eine Forschungslücke im Sinne der regional studies geschlossen hätten.26 Die Erkenntnisse des Geschäftsführers der VFG, der Abteilung für Landeskunde, Sekretärs der →Zentralkommission für wissenschaftliche Landeskunde von Deutschland und Mitarbeiters im Stabe von Rosenbergs Ostministerium, Emil Meynen, die er im Camp Dustbin den Briten 1947 vortrug, stimmten indes nur zum Teil: Es waren zwar in der Tat deutsche Geographen, die das Forschungsprogramm der Volkstumsforschung während der Weimarer Republik begründeten. Das transdisziplinäre Netzwerk völkischer Wissenschaftler unterstützte jedoch das NS-Regime in seiner Lebensraumpolitik. Wahrscheinlich stufte der britische Geheimdienst Meynens Darstellung als Beschönigung ein, denn die Alliierten verfügten bereits während des Krieges über genaue Kenntnisse der Volkstumsorganisationen, die als nazistisch infiltrierte Einrichtungen identifiziert worden waren.27 Im Übrigen hatte der britische Geheimdienst bereits durch die Vernehmung →Wilfried Krallerts im Herbst 1945 ein gegenteiliges Bild über die Volkstumsforschung im Dritten Reich und deren Anbindung an das RSHA erhalten. Letztlich entlastete die exkulpierende Behauptung Meynens übrigens auch den Schweizer →Hektor Ammann in dessen Verfahren vor dem Eidgenössischen Bundesgericht.

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Die Fähigkeit der Wissenschaftler der VFG, ihre Erfahrungen aus der Landesund Volksforschung der NS-Zeit nach 1945 und mit Gründung der Bundesrepublik den Alliierten und der westdeutschen Regierung anzudienen, fiel auch bei den Geographen auf fruchtbaren Boden. Sie empfahlen sich nunmehr als ausgewiesene Kenner der bevölkerungspolitischen Probleme Mitteleuropas und stellten sich wiederum als „Sachverständige“ der Raumforschung und Landeskunde für den Wiederaufbau zur Verfügung. Zugleich bildeten sie institutionalisierte Auffangstationen für ehemals belastete NSDAP-Mitglieder, wodurch sie ihre Positionen in den Planungsämtern des Bundes und der Universitäten erneut festigten.28 Der Konsens der über die politische Zäsur 1945 hinweg geretteten Dispositionen schlägt sich in diesem unter Federführung Meynens erstellten Bericht der ehemaligen Mitglieder der Abteilung für Landeskunde auf bedrückende Weise nieder. Sie finden ihren Ausdruck darin, eine Allianz zu bilden, in der sich die „Synchronisierung der politischen Haltungen“ niederschlug.29 Zusammen mit →Walter Christaller und Paul Gauß gründete er 1950 den Deutschen Verband für Angewandte Geographie. Von 1952 bis 1968 leitete Meynen die Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung in Bad Godesberg. Dort setzte er die Übernahme wichtiger Mitarbeiter aus der NS-Zeit durch, so der Arbeitsgruppe Flüchtlingsfragen im Amt für Raumforschung: Deren Leiter war →Karl-Heinz Pfeffer; Mitarbeiter waren Werner Essen, ehemals rechte Hand von Wilhelm Stuckart und Referent im Reichskommissariat Ostland, Gerhard Isenberg, ehemaliger Statistiker der Reichsstelle für Raumordnung, und Hans Schwalm, Geograph an der →Reichsuniversität Posen und Himmlers Umsiedlungsbeauftragter in Laibach (Ljubljana). Die Arbeiten entstanden nun im Rahmen des Marshallplans und ab 1952 für das Innenministerium in Bonn als Grundlagen für die bundesdeutsche Raumordnung. 1955 wurde Emil Meynen Honorarprofessur in Köln.30 Der von Meynen 1941 verfasste 10-Jahresbericht der VFG wurde 1957 mit einem bereinigten Publikationsverzeichnis den Mitgliedern des Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrats zur Verfügung gestellt. Damit war die interne Exkulpierung des ehemaligen NS-Netzwerkes abgeschlossen. Für seine Verdienste nach dem Krieg wurde Meynen mehrfach ausgezeichnet. Er erhielt das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, und von der Stiftung FVS in Hamburg die Alexander von Humboldt-Medaille in Gold, an der Universität Bonn.31 1982 bestritt Meynen in einer Rezension je mit dem NS zu tun gehabt zu haben, seine Zeitschriften und Publikationen habe er vielmehr vor den Übergriffen der Partei geschützt. In dem mit dem Verfasser 1988 durchgeführten Interview mit Dokumenten über seine NSDAP-Mitgliedschaft und bis dahin verschwiegenen NS-Vergangenheit konfrontiert, verteidigte sich Emil Meynen, Friedrich Metz sei ein viel schlimmerer Nazi gewesen. Meynen starb am 23. August 1994 in Bad Godesberg, ohne je Reue gezeigt zu haben, ganz im Sinne Hermann Aubins, der sich 1957 gegenüber →Johannes Papritz dahingehend äußerte, die unangenehmen Spuren der Ver-

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gangenheit „so rasch wie möglich verschwinden [zu] lassen und nie mehr hervor [zu]ziehen“.32

Michael Fahlbusch

1 Emil Meynen, Das pennsylvaniendeutsche Bauernland, in: DALV 3 (1939) S. 253–292, vgl. HansDietrich Schultz, Die deutschsprachige Geographie von 1800–1970. Ein Beitrag zur Geschichte ihrer Methodologie, Berlin 1980, S. 357f. 2 Vgl. das komplette Verzeichnis von Dieter Rübsamen mit freundlicher Unterstützung der Stadtund Universitätsbibliothek Frankfurt am Main: http://legacy.fordham.edu/mvst/magazinestacks/ dalv.html (17.1.2016) 3 Emil Meynen, Deutschland, in: Der Schulungsbrief. Das zentrale Monatsblatt der NSDAP und DAF 5 (1938), S. 3–33. Vgl. Klaus Hinrich Roth, „Deutsch“. Prolegomena zur neueren Wortgeschichte, München 1978, S. 351–355, Hans-Dietrich Schultz, Versuch einer Historisierung der Geographie des Dritten Reiches am Beispiel des geographischen Großraumdenkens, in: Michael Fahlbusch u. a., Geographie und Nationalsozialismus. 3 Fallstudien zur Institution Geographie im Deutschen Reich und der Schweiz, Kassel 1989, S. 1–76; Horst Alfred Heinrich, Der propagandistische „Missbrauch“ geographischer Fachzeitschriften bei der Annexion Österreichs 1938, in: PGM 134 (1990) 3, S. 193–200. Zur Analyse seiner völkischen Positionen vgl. Michael Fahlbusch, „Wo der deutsche … ist, ist Deutschland!“, Bochum 1994, S. 231–263. 4 Vgl. BArch, R153, 1705, Berichte der Haushaltsbesprechung vom 24.3.1935, Bericht Johann W. Mannhardt, Planung für das Arbeitsjahr 1935/36, S. 1f. 5 Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande (IGL) Bonn, VDA, Bericht von der Tagung des Volkswissenschaftlichen Arbeitskreises im VDA in Warnicken vom 11./12.6.1935, Vortrag Emil Meynen, Völkische Geographie, S. 7; Emil Meynen, Völkische Geographie, in: GZ 41 (1935) 11, S. 435–441. 6 Vgl. Meynen, Völkische Geographie, S. 439. Vgl. Adolf Hitler, Mein Kampf, München 193349, S. 432ff. 7 IGL Bonn, VDA, Bericht von der Tagung des Volkswissenschaftlichen Arbeitskreises im VDA in Warnicken vom 11./12.6.1935, Vortrag E. Meynen, Völkische Geographie, S. 11. 8 Meynen, Deutschland, S. 3–33; zur Analyse seiner antisemitischen Positionen vgl. Fahlbusch, Wo der deutsche …, S. 231–263, 241, 248. Zu Metz vgl. Nils Goldschmidt, Verfolgung und Widerstand: Die Freiburger Kreise, in: Bernd Martin (Hg.), Von der badischen Landesuniversität zur Hochschule des 21. Jahrhunderts. 550 Jahre Albert-Ludwigs-Universität Freiburg–Festschrift, Bd. 3, Freiburg i.B. 2007, S. 503–519; vgl. Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst, passim; Silke Seemann, Die politischen Säuberungen des Lehrkörpers der Freiburger Universität nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (1945–1957), Freiburg i.B. 2002, passim. Vgl. auch Verfügung des Rektors der Universität Freiburg an den Direktor der Universitätsbibliothek vom 17. November, 1938, in: Paul Sauer (Hg.), Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933–1945, Bd. 1, Stuttgart 1966, S. 246, zitiert in Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, München 2008, S. 316. 9 BArch, R73, 302, Payk an Wiedenfeld, DFG vom 19.2.1936. Vgl. auch Emil Meynen, Deutschland und Deutsches Reich. Sprachgebrauch und Begriffswesenheit des Wortes Deutschland, Leipzig 1935. Zum Habilitationsverfahren Emil Meynens vgl. Ute Wardenga, Emil Meynen – Annäherung an ein Leben, in: Geographischer Taschenkalender 1995/96, Wiesbaden 1995, S. 18–41; Fahlbusch, „Wo der deutsche … ist, ist Deutschland!“, S. 144–149 und S. 233–236 und Henning Heske, „… und morgen die ganze Welt…“ Erdkundeunterricht im Nationalsozialismus, Giessen 1988, S. 120.

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10 UAHUB, Direktor 194, Bd. 2, Bl. 39, Bieberbach (Dekan der Math. Nat. Fak.) an REM Berlin Dezember 1941. 11 UAHUB, Direktor 194, Bd. 1, Bl. 23, Meynen an Dekan Math. Nat. Fak. vom 17.7.1939, und Bd. 2, Bl. 24, Vollert an Dekan Math. Nat. Fak. vom 26.11.1938. 12 IFZ, MA 116, 10, Hauptamt Wissenschaft an Leibbrandt vom 16.5.1939. Meynen trat der NSDAP am 1.5.1937 Mitglied Nr. 5.852.217, dem NSLB am 1.11.1933 Mitglied Nr. 214.633, der NSV am 1.7.1936 Mitglied Nr. 5.893.445 bei. Er gehörte ferner dem BDO und dem VDA an; vgl. UAHUB, Direktor 194 Bd. 1, Personalbogen. 13 IFZ, MA 116, 10, Meynen, Borger an Partei-Kanzlei, vom 26.3.1942. Zur Ernennung Meynens zum apl. Prof. vgl. UAHUB, Direktor 194 Bd. 1, Bl. 127, Zschintzsch 9.6.1942. 14 PA, Kult VI A, 2-FOG, Bd. 11, Bl. E62910, Aktenvermerk Goeken vom 31.10.1938; PA, R60295, Bl. E63390f., Jahresbericht der Geschäftsstelle der VFG 1938/39. Zur Gestapo-Leitstelle vgl. Johannes Tuchel, Reinold Schattenfroh, Zentrale des Terrors. Prinz-Albrecht-Straße 8, das Hauptquartier der Gestapo, Berlin 1987, S. 291f. 15 Vgl. Ernst Ritter, Das deutsche Ausland-Institut in Stuttgart, 1917–1945, Wiesbaden 1976, S. 109f. 16 UAHUB, Direktor 194, Bd. 2, Bl. 38, Goeken an den Dekan Math. Nat. Fak. vom 6.10.1941. 17 Ebd., Bl. 35, Krebs an Dekan vom 4.10.1941 und ebd. Bl. 34, Leibbrandt an Dekan vom 26.9.1941. 18 BArch, Rep. 15.01, 27133, Vollert an General von Unruh vom 20.3.1943, sowie Hoffmann an Henrich vom 25.2.1943. 19 Vgl. PRO, FO 1031, 113 Befragung Meynens durch Tilley in Dustbin vom 17.8.1946. 20 Vgl. L.D. Black, T.R. Smith, German Geography: War Work and Present Status, in: The Geographical Review 36 (1946), S. 398–408; vgl. dazu kritisch Mechtild Rössler, „Wissenschaft und Lebensraum“ geographische Ostforschung im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Disziplingeschichte der Geographie, Hamburg 1990, S. 221. 21 Ingo Haar, Wiederaufbau und soziale Integration als neue Paradigmen der westdeutschen Bevölkerungsforschung? Bevölkerungsfragen in der Sozialforschungsstelle Dortmund und im Amt für Landeskunde in Bad-Godesberg (1945/48–1970), Abschlussbericht DFG-Projekt BE 1241/23–1, Berlin 2012, Kap. Kontinuität und Wandel: Vom RSHA zum OSS. 22 Vgl. Rössler „Wissenschaft und Lebensraum“, S. 212–220. Vgl. Emil Meynen, Institut für Landeskunde. Das erste Vierteljahrhundert seiner Tätigkeit 1941–66, in: Berichte zur deutschen Landeskunde 36 (1966), S. 145–206. 23 Haar, Wiederaufbau und soziale Integration als neue Paradigmen der westdeutschen Bevölkerungsforschung? Kap. Kontinuität und Wandel: Vom RSHA zum OSS. 24 Archiv des IfL, NL Meynen, Teil 1, 778–8, 148, BMdI an die Kultus- und Finanzminister der Länder und an die Konferenz der Kultusminister der Länder, Bonn vom 22.8.1952, zitiert nach ebd. 25 PRO, FO, 1031, 140, Bericht E. Meynen (Hg. u.a.), Der Drang nach dem Osten, Dustbin 1947, S. 82. Die einzige Akte über E. Meynen ist dokumentiert in ebd., 113. Vgl. den Nachlass Meynens in: IfLArchiv, NL Meynen, Teil 1, 778–8, 351, Status of German Nationale Employed at Landshut vom 27.2.1950, zitiert in Haar, Wiederaufbau und soziale Integration als neue Paradigmen der westdeutschen Bevölkerungsforschung? 26 Vgl. PRO, FO 1031, 140, Bericht E. Meynen u.a., Der Drang nach dem Osten, Dustbin 1947, S. 117ff. und 146–288. Ebenfalls behauptete Meynen, Institut für Landeskunde, S. 145, 152 die freie, unbehelligte wissenschaftliche Arbeit der Abteilung für Landeskunde. Vgl. auch die Kommentierung bei Rössler „Wissenschaft und Lebensraum“, S. 212ff. 27 PRO, FO 1031, 140, Bericht E. Meynen u.a., Der Drang nach dem Osten, Dustbin 1947, S. 94ff. und 109ff. Vgl. dagegen etwa Raymond Murphy u.a., National Socialism. Basic Principles, their Application by the Nazi Party’s Foreign Organization, and the Use of Germans Abroad for Nazi Aims, Washington D.C 1943.

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28 Rössler, „Wissenschaft und Lebensraum“, S. 212–220 stellte dies eindrücklich am Beispiel der Raumforschung dar. Dort finden sich ausführlich Zitate, die den Umgang der Alliierten mit den Forschungsergebnissen belegen. 29 Bruno W. Reimann, Die „Selbst-Gleichschaltung“ der Universitäten 1933, in: Jörg Tröger (Hg.): Hochschule und Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt a.M. u.a. 1984, S. 38–52. 30 Hansjörg Gutberger, Volk, Raum und Sozialstruktur. Sozialstruktur- und Sozialraumforschung im „Dritten Reich“, Münster 19992, S. 467; vgl. Haar, Wiederaufbau und soziale Integration als neue Paradigmen der westdeutschen Bevölkerungsforschung? 31 Vgl. auch Stiftung FVS zu Hamburg (Hg.), Van Tienhoven-Preis 1969, Hamburg 1969. 32 Archiv des IfL, NL Meynen, 774–4, 377, Papritz an Meynen vom 9.12.1957, zitiert nach Haar, Wiederaufbau und soziale Integration als neue Paradigmen der westdeutschen Bevölkerungsforschung? Vgl. Emil Meynen, Besprechung H.-D. Schultz, in: Berichte zur deutschen Landeskunde 52 (1982) 2, S. 342f. Das Interview wurde am 12.11.1988 in Bonn, Bad Godesberg durchgeführt und eine Kopie der Tonkassette seiner Tochter Henriette ausgehändigt.

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Heinrich von zur Mühlen Heinrich von zur Mühlen wurde am 27. Januar 1908 in Charlottenhof (heute Aegviidu, Estland) als Sohn eines Sparkassendirektors geboren.1 1927 legte er das Abitur am Dorpater Deutschen Privatgymnasium ab und nahm im selben Jahr ebenfalls in Dorpat das Studium der Geschichte, Rechtsgeschichte und Soziologie auf. Seit Beginn des Studiums engagierte er sich beim studentischen Landescorps Livonia im Dorpater Chargierten-Convent. 1930 trat er der nationalsozialistischen Erneuerungsbewegung seines Onkels Viktor von zur Mühlen-Eigstfer bei.2 Letzterer war zuvor Stabschef des Ende 1918 gegründeten Freikorps „Baltenregiment“ gewesen. Etliche weitere Männer aus der Familie beteiligten sich an den Freikorpskämpfen im Baltikum, bei denen die Familie auch Tote zu beklagen hatte. Heinrich von zur Mühlens Vater wurde im Januar 1918 von bolschewistischen Einheiten verhaftet. Er kam erst mit dem Frieden von Brest-Litowsk einige Monate später wieder frei. Viktor von zur Mühlen, der seit 1928 mit Alfred Rosenberg in Kontakt stand und von diesem mit Adolf Hitler bekannt gemacht wurde, sowie sein Vetter Arthur von zur Mühlen wurden zu zentralen Figuren der Erneuerungsbewegung.3 Nach dem Tod des Vaters 1931 wechselte von zur Mühlen zum Sommersemester 1932 an die Universität Freiburg, wo er bei dem Historiker Gerhard Ritter studierte. Er trat im selben Jahr dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB), der NSDAP und der SA bei. Kurz nach seinem Parteieintritt bekleidete er im Sommer 1932 den Posten eines stellvertretenden Organisations- und Propagandaleiters der NSDAP-Ortsgruppe Freiburg. Im NS-Studentenbund übernahm er früh leitende Funktionen: Er wurde Führer der Hochschulgruppe und 1933 Sturmführer sowie Sturmbannadjutant des NSDStB-Sturmbannes 6 der SA. 1933 trat von zur Mühlen auch der SS bei, der er allerdings nur ein Jahr angehörte. Am 6. November 1933 wurde er zum Führer der Studentenschaft der Universität Freiburg ernannt. Anfang Februar 1934 trat er aus Protest gegen die vom Reichsführer des NSDStB Oskar Stäbel aufgehobene Auflösung einer nur wenige Tage zuvor suspendierten katholischen Studentenverbindung von seinem Posten zurück. Im Mai 1934 schied er aus dem NSDStB aus, obwohl sich der Rektor Martin Heidegger für ihn einsetzte. Von September 1934 bis Mai 1935 wurde er zunächst Adjutant bei der Berliner „Leitstelle Ribbentrop“. Zwischen 1935 und 1937 arbeitete er als Pressereferent für „volksdeutsche Fragen“ im „Büro von Kursell“, einem interministeriellen Arbeitskreis, der, an Rudolf Heß und den Geopolitiker →Karl Haushofer angebunden, versuchte, die Akteure der Volkstumsarbeit im Ausland gleichzuschalten. Der Arbeitskreis wurde 1937 aufgelöst und durch die „Volksdeutsche Mittelstelle“ ersetzt. 1935 unternahm von zur Mühlen mehrere Monate lang im Auftrag der Deutschen Studentenschaft und des Bundes Deutscher Osten (BDO) Reisen durch die baltischen Staaten. Zudem arbeitete er an seiner Dissertation über die deutsche Einwanderung in Reval, die er Mitte 1936 in Leipzig verteidigte. Von August 1936 bis April 1937 wurde er erneut in der Dienststelle Ribbentrops Referent für „volksdeut-

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sche Fragen“. Danach war er bis 1939 wissenschaftlich tätig und fungierte als Herausgeber des Handbuches der Kurländischen Ritterschaft. Er erhielt die „Sudetenmedaille“. Im Sommer 1936 meldete sich von zur Mühlen freiwillig zum Wehrdienst. In der Folge nahm er in Abständen von wenigen Monaten an mehrwöchigen Übungen der Wehrmacht teil. Im Juli und August 1939 absolvierte er einen sechswöchigen Sonderlehrgang bei der Abteilung für Wehrmachtpropaganda im Oberkommando der Wehrmacht (OKW/WPr) in Döberitz, die sich auch mit „Volkstums- und Auslandskunde“ beschäftigte. Gleichzeitig, vom 1. August 1939 an, war er Erster Assistent von Albrecht Haushofer am Geopolitischen Institut der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin. Er arbeitete dort an einer Studie „über Entstehung und Wandlungen der politisch führenden Schicht Englands“, von der 1941 lediglich eine Vorfassung erschien. Die Studie bestätigte wesentliche NS-Anschauungen in Bezug auf Großbritannien. Ergebnis der Erörterungen, bei denen auch antisemitische Fragestellungen behandelt wurden, bildete die Feststellung, „daß auf Englands Politik eine Adelsoligarchie einen entscheidenden Einfluß hat, […] die weitgehend plutokratische Züge“ aufweise. Der Autor widmete sich auch der Frage „wieweit jüdisches Blut in die Adern des britischen Adels gelangt“ sei und gelangte er zu dem Schluss, dass zwar einiges im Argen läge, „aber insgesamt […] heute von einer Verjudung des englischen Adels noch nicht gesprochen werden“ könne.4 Zu Kriegsbeginn meldete sich von zur Mühlen freiwillig, wurde aber „für besondere Aufgaben u.k.[unabkömmlich]-gestellt“. Am 27. Juli 1940 trat er in den Staatsdienst über. Er wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter im Auswärtigen Amt. Dort arbeitete er in der neugegründeten Abteilung D (Deutschland), Referat IV (Herstellung und Verbreitung von Schrifttum im und nach dem Ausland, Technischer Apparat und Kartenstelle), wo er im August die Leitung der Kartenstelle übernahm. Im April 1941 begleitete er den Reichsaußenminister auf einer vierzehntägigen Reise und war dabei im Wiener Hotel „Imperial“ einquartiert, wo von Ribbentrop und der italienische Außenminister Galeazzo Ciano über die Neuordnung des Balkans konferierten. Zum 9. Mai 1941 wurde er Leiter des Referates D VII, Geographischer Dienst im Auswärtigen Amt. In dieser Eigenschaft korrespondierte er beispielsweise mit Oskar Schmieder, dem Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Geographie, sowie →Hugo Hassinger von der Geographischen Gesellschaft in Wien. In Vertretung seines Vorgesetzten Unterstaatssekretär Martin Luther wurde er Mitglied des Beirates.5 Vom 15. September bis zum 13. Oktober 1941 ging von zur Mühlen zu seinem ersten Einsatz im Osten. Zuvor war er in Paris und Brüssel eingesetzt, wo er mit unterschiedlichem Erfolg Kartenmaterial „organisiert“ hatte.6 Er wurde dem Sonderkommando Künsberg des Auswärtigen Amtes zugeteilt, von dem sein Referat bereits zuvor requiriertes Kartenmaterial bekommen hatte. Zu solchen Fragen sind Korrespondenzen mit Hans-Peter Kosack, Reinhart Maurach und Helmut Winz überliefert. Von zur Mühlen erhielt Tausende erbeuteter Bücher aus Kiew. Er selbst wurde Teil

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des Einsatzkommandos „Hamburg“, als dessen Operationsgebiet Leningrad vorgesehen war. Von zur Mühlens Anwesenheit dort ist nicht gesichert.7 Nach seiner Rückkehr vom sowjetischen Kriegsschauplatz trat von zur Mühlen auf Befehl des Obersten SA-Führers zum 1. November 1941 als Hauptsturmführer wieder in die SA ein, aus der er zwischenzeitlich ausgeschieden war. Hier war er zunächst einen Monat im Stab der SA-Gruppe Berlin-Brandenburg tätig, ehe er zum 1. Dezember 1941 in die Adjutantur des Obersten SA-Führers wechselte. Am 26. Januar 1942 wurde von zur Mühlen als Zugführer zur 1. Turmflak-Abteilung 123 eingezogen und einen Monat später zum Regierungsrat ernannt. Im Mai 1942 erfuhr er vom Auswärtigen Amt, dass man ihn als Vertreter des Auswärtigen Amtes (VAA) beim Panzer-Armeeoberkommando (AOK) 4 vorgesehen habe. Er trat diesen Dienst am 18. Juni 1942 im Range eines Sonderführers (B) an, weil es Schwierigkeiten mit der regulären Einstufung zum Offizier gegeben hatte. Von zur Mühlen hatte gelegentlich mit dem Oberbefehlshaber der 4. Panzerarmee Generaloberst Hermann Hoth zu tun, so etwa bei einem Vortrag über „Volkstumsfragen“ in Ungarn.8 Von zur Mühlens Tätigkeit als VAA war geprägt durch eine Mischung aus Propaganda und nachrichtendienstlicher Arbeit. Er teilte in der Regel ein Büro mit dem Abwehroffizier und vernahm sowjetische Kriegsgefangene teilweise direkt nach der Eroberung von Ortschaften durch deutsche Truppen, aber auch in Gefangenensammelstellen und Lagern. Während er selbst eher politische Nachrichten sammelte und nach Berlin weiterleitete, die sich propagandistisch verwerten lassen konnten, tauschte er seine Erkenntnisse wiederholt mit dem Abwehroffizier aus. Neben nachrichtendienstlich relevanten Fragen interessierte ihn auch, warum die Sowjetsoldaten solch hartnäckigen Widerstand leisteten. Er machte Vorschläge, wie diese propagandistisch anzusprechen seien, um sie zur kampflosen Aufgabe und zum Überlaufen zu bewegen. Von zur Mühlen suchte im Oktober 1942 im fast vollständig besetzten Stalingrad nach Material für das Auswärtige Amt. In einem längeren Bericht nach Berlin zeigte er sich euphorisiert von den deutschen Siegen und meldete lakonisch, dass „im kommenden Frühjahr nur einige Schutt- und Steinhaufen davon zeugen [würden], dass hier an der Wolga eine Grossstadt von einigen hundert tausend Einwohnern, eine in der Zarenzeit bedeutende Handelsstadt, ein Industriezentrum der Sowjetunion, gestanden“ habe.9 Wegen eines Genesungsurlaubes war von zur Mühlen nicht vor Ort, als die Kesselschlacht von Stalingrad verloren ging. Er wurde am 1. Januar 1943 zum Leutnant befördert. Im Frühjahr 1943 wurden sämtliche VAA´s zurückgezogen. Von zur Mühlen wurde seinen späteren eigenen Angaben im Rahmen eines Antrages einer Dienstzeitbescheinigung für seine Wehrmachtzugehörigkeit zufolge im Mai 1943 für ein halbes Jahr zum 5. Lehr-Rgt. der Division Brandenburg (besser bekannt als LehrRegiment Kurfürst) versetzt10, das von der am 1. April 1943 verfügten Herauslösung der Division Brandenburg aus dem militärischen Geheimdienst (Amt Abwehr/Ausland) ausgenommen war. Das Lehr-Regiment „umfasste die eigentlichen V-Leute und Agenten […] und unterstand direkt der Abteilung II der Abwehr“.11 Von zur

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Mühlens Aktivitäten dort sind heute nicht nachvollziehbar, auch weil der Bundesnachrichtendienst den Blick in die Akten verweigert. Spätestens bei der Division Brandenburg dürfte von zur Mühlen mit dem 1943 zum Regimentskommandeur beförderten Friedrich Wilhelm Heinz bekanntgeworden sein, mit dem er auch nach dem Krieg einige Jahre eng nachrichtendienstlich zusammenarbeitete. Im Herbst 1943 wurde von zur Mühlen zum OKW/WPr kommandiert. Seine Dienststelle lag in der Bendlerstrasse in Berlin. Dort überstand er den 20. Juli 1944 unbeschadet. Davon, dass er – wie später behauptet – am „Widerstand gegen die Nazis“ beteiligt gewesen sei12, hat weder sein Sohn Rainer von zur Mühlen Kenntnis genommen, noch finden sich dafür archivalische Belege. Zum Kriegsende marschierte er mit dem OKW bis nach Flensburg, wo er in britische Kriegsgefangenschaft geriet, aus der er 1946 entlassen wurde. In der Folge arbeitete er für den britischen Geheimdienst. Zudem soll er seit ihrer Gründung Mitglied der FDP in Berlin gewesen sein, aus der er 1956 im Zusammenhang mit dem „Jungtürkenaufstand“ ausschied. Die alten Netzwerke und NS-Seilschaften funktionierten weiter. 1946 tat sich Friedrich Wilhelm Heinz mit von zur Mühlen und einigen anderen ehemaligen „Brandenburgern“ zusammen. In Berlin baute die Gruppe einen Nachrichtendienst auf, der die sowjetischen Streitkräfte in der SBZ ausspähte. Sie verkauften die Informationen an amerikanische, französische und auch niederländische Geheimdienste.13 Von zur Mühlen arbeitete frühzeitig für die Organisation Gehlen, wo er 1951 als „Resident“ geführt wurde.14 Die in Berlin-Lichterfelde ansässige Spionagegruppe um Heinz und von zur Mühlen galt bei ihren beiden französischen Führungsoffizieren des Service de Documentation Extérieure et de Contre-Espionnage (SDECE) als sehr erfolgreich. Sie flogen ihren Zuträger Heinz kurz nach Beginn der Berlin-Blockade am 28. Juli 1948, ins Rheinland-Pfälzische Neuwied aus. 1948 entstand in West-Berlin die →Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU), die offiziell karitativ und politisch tätig war. Es gab bis 1951 enge Verbindungen des Heinz-Dienstes zur KgU.15 Von zur Mühlen wechselte in die neue Organisation, wo er die für nachrichtendienstliche Tätigkeiten gegen die SBZ/DDR zuständige Abteilung leitete. Anscheinend betreute die KgU teilweise treuhänderisch das V-Leute-Netz des HeinzDienstes in der SBZ. Von zur Mühlen war in der KgU auf allen Feldern von Subversion und Spionage gegen den sowjetisch besetzten Teil Deutschlands aktiv, führte V-Leute, die Militärspionage betrieben, hatte aber auch Kontakt zu Stay-behindGruppen, die weitgehend inaktiv waren und nur im Falle eines militärischen Konfliktes im Rücken der sowjetischen und ostdeutschen Truppen aktiv werden sollten. In Folge eines Macht- und Richtungskampfes innerhalb der KgU wurde von zur Mühlen Anfang 1951 aus der Organisation herausgedrängt. Die Organisation Gehlen übernahm von zur Mühlen und wohl einen weiteren „Brandenburger“ aus der KgU. Von zur Mühlen arbeitete in der Folge im Rahmen des Bundesnotaufnahmeverfahrens, das ein Großteil der Flüchtlinge aus der DDR zu durchlaufen hatte, die in der Bundesrepublik „notaufgenommen“ werden wollten. Er arbeitete als Spezialvernehmer für bewaffnete Kräfte der DDR. Er befragte

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Überläufer und Deserteure der DDR-Truppen, -Polizei und -Geheimdienste. Offiziell arbeitete von zur Mühlen seit Juli 1952 in der Vorprüfung B II in Berlin (offiziell Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen) als ständiger Vorsitzender des Ausschusses 2 für Volkspolizei-Deserteure. Bis zur Jahreswende 1958/59 war er Angehöriger des Notaufnahmeausschusses im Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde. Allerdings wurde er 1952 durch einen KgU-kritischen Artikel im Magazin Der Spiegel enttarnt.16 Er trat fortan unter seinem Klarnamen publizistisch hervor und nutzte sein Insiderwissen, etwa um in die Debatte um die Remilitarisierung der Bundesrepublik einzugreifen.17 Von zur Mühlen vertrat weiterhin antibolschewistische Positionen im Kalten Krieg, so in einer Denkschrift, die 1953 in der Reihe der „Weißbücher“ des Ministeriums für Gesamtdeutsche Fragen erschien. Dort schrieben er und ein Koautor, dass man bei energischem Vorgehen die junge Sowjetunion „mit wenigen kampferprobten Divisionen“ der Weißen hätte „im Keim […] ersticken“ können.18 Über den deutschen Überfall auf die Sowjetunion hingegen schwiegen sie weitgehend, stellten das Land jedoch als Aggressor seit Beginn seiner Existenz dar. Die sowjetische „Annektierung Ost- und Mitteldeutschlands“ folgte demnach einem lange gehegten Plan. Einen Präventivkrieg „zur Befreiung der deutschen Irredenta“ lehnten die Autoren zwar ab. Die UdSSR könnte aber vielleicht dazu gebracht werden, dass das Interesse an ihrer „Beute“ DDR „merklich erkaltet“. Der Kalte Krieg müsste in die „Randgebiete des derzeitigen sowjetischen Okkupationsraumes zurückgetragen“ werden. Es sollte ein „deutscher Arbeitsstab“ gebildet werden, der den Kalten Krieg auf dem „mitteleuropäischen Kampfabschnitt“ in das Territorium des Gegners hineintragen sollte. Die „deutsche Leitstelle“ sollte mithilfe „qualifizierte[r] Fachleute“ Planungen für die Abwehr der Infiltration und einer Gegenoffensive ausarbeiten. Der Name erinnert wohl nicht zufällig an die „Leitstelle Rußland“, wo die SS-Bemühungen koordiniert wurden, eine „großrussische Befreiungsarmee“ unter der Führung von Andrej A. Wlassow aufzubauen. Von zur Mühlen plädierte für die Einbeziehung von Exilgruppen, wie der ukrainischen Exilregierung, in die Sitzungen des Europarates sowie die Finanzierung von Einrichtungen wie der „Freien Ukrainischen Universität im Exil“ in München. Weiter argumentierten die Autoren gegen die „übermäßige Beschränkung der zentralen Exekutive“ und die föderale Struktur der Bundesrepublik. Es solle zur Abwehr des Kommunismus ein Apparat der „vorbeugenden Abwehr“ gebildet werden, der es dem zuständigen Minister erlauben würde, „schnell durchzugreifen“. Das Bundesamt für Verfassungsschutz müsse nicht nur Weisungsrechte gegenüber den Landesämtern, sondern auch Exekutivbefugnisse erhalten. Generell plädieren beide Autoren für die „Anwendung politischer Repressalien in der Bundesrepublik“ als Teil der Offensive im Kalten Krieg: „Es erscheint im gegenwärtigen Stadium der Auseinandersetzung in Deutschland wenig sinnvoll, die verbrieften Rechte des Bürgers auch denen zu überlassen, die sie nicht nur nicht verdienen, weil sie sie ihrer Ideologie gemäß ablehnen und ihre Vernichtung in der Sowjetzone für gut befinden, sondern darüber hinaus diese Rechte zur Vernichtung des deutschen Kernstaates ausnutzen.“19

Heinrich von zur Mühlen  523

Als Minister →Theodor Oberländer im März 1958 West-Berlin besuchte, nahm er an der Befragung eines DDR-Flüchtlings durch von zur Mühlen teil. Als Resultat einer anschließenden Unterhaltung siedelte von zur Mühlen, der aus dem nachrichtendienstlichen Arbeitsfeld ausscheiden wollte, nach Bonn um: zunächst als Mitarbeiter, ab 1963 als Referent des Vertriebenenministeriums, wo er keine geheimdienstlichen Aufgaben mehr wahrnahm. Sein Arbeitsgebiet lag im kulturellen Bereich und bei den Vertriebenenverbänden. Den Erinnerungen seines Sohnes zufolge war er an der Etablierung der Stiftung Ostdeutsche Galerie im Jahr 1966 beteiligt, die 1970 zur Gründung des Kunstforums Ostdeutsche Galerie in Regensburg führte. Bei der Auflösung des Ministeriums 1969 wurden seine Zuständigkeiten auf verschiedene andere Ministerien aufgeteilt. Von zur Mühlen gelangte in das Bundesinnenministerium. Nach Eintritt in den Ruhestand war Heinrich von zur Mühlen von 1973 bis 1978 Geschäftsführer und Kuratoriumsvorsitzender des Ostdeutschen Kulturrates. Er starb am 2. Juli 1994 in Bonn.

Enrico Heitzer

1 Vgl. Enrico Heitzer, Heinrich von zur Mühlen (1908–1994): Historiker, Experte für „Volkstum“ und Geheimdienstler, in: Helmut Müller-Enbergs u.a., Spione und Nachrichtenhändler. Geheimdienst-Karrieren in Deutschland 1939–1989, Berlin 2016, S. 108–143. 2 BArch, (BDC) SA, 59 B, SA-Personalfragebogen o.D. 3 Jürgen von Hehn, Zur Geschichte der deutsch-baltischen nationalsozialistischen Bewegung in Estland, in: Zeitschrift für Ostforschung (1977) 4, S. 597–650. 4 Heinrich von zur Mühlen, Entstehung und Sippengefüge der britischen Oligarchie, mit 13 Verwandtschaftstafeln, Essen 1941, S. 38–41, 40f., 56 5 PA, R 105202, von zur Mühlen an Hassinger vom 21. u. 31.5.1941 sowie Hassinger an von zur Mühlen vom 23.5.1941. 6 Ebd., von zur Mühlen an Heinz Forsteneichner vom 4.2. u. 30.4.1941 sowie von zur Mühlen an Reinhart Maurach vom 18.1.1941. 7 Ebd., Reisekostenabrechnung vom 17.10.1941 und von zur Mühlen an Hans Frohwein vom 20.10.1941 8 PA, R 60745, Bd. 1, von zur Mühlen an Rantzau vom 9.7.1942. 9 PA, R 60745, Bd. 1, Bericht von zur Mühlen vom 6.10.1942. 10 Deutsche Dienststelle/Wehrmachtauskunftsstelle, Bd. 48697, Bl. 75, Personalveränderungsmitteilungen zum Erkennungsmarkenverzeichnis des 5. Lehr-Regiment Brandenburg vom 1.5.1943. Von zur Mühlen schrieb 1961 in einem vom Verfasser 2007 eingesehenen, aber inzwischen vernichteten Antrag auf eine Dienstzeitbescheinigung an die WASt, er sei im Mai 1943 zur Division Brandenburg in Berlin-Grunewald, Hohenzollerndamm 155 gekommen, wo er bis zum September 1943 geblieben sei. 11 BArch, Findbuch, Lehr-Regiment Brandenburg z.b.V. 800/Sonderverband Brandenburg/Division Brandenburg z.b.V. 800/Panzergrenadier-Division „Brandenburg“, RH 26–1002, Koblenz 2005. 12 Gerhard Finn, Redebeitrag lt. Protokoll der 67. Sitzung der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ vom 15.3.1994, in: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland“, Bd. VII/1: Möglichkeiten und Formen abweichenden und widerständigen Verhaltens und oppositionellen Handelns, die friedliche Revolution im Herbst 1989, die Wiederver-

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einigung Deutschlands und Fortwirken von Strukturen und Mechanismen der Diktatur, Baden-Baden 1995, S. 40. 13 Susanne Meinl, Friedrich Wilhelm Heinz (1899–1968). Verschwörer gegen Hitler und Spionagechef im Dienste Bonns, in: Dieter Krüger (Hg. u.a.), Konspiration als Beruf. Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg, Berlin 2003, S. 61–83. 14 BArch, B 136/4427, Bl. 75f., Aktennotiz Bundeskanzleramt vom 1.4.1951. 15 Dieter Krüger, Das Amt Blank: die schwierige Gründung des Bundesministeriums für Verteidigung, Freiburg u.a., 1993, S. 73. 16 So etwas wie Feme, in: Der Spiegel, 47 (1952), S. 12–14. 17 Heinrich von zur Mühlen, EVG und deutsche Einheit, in: SBZ-Archiv 3 (1952) 21, S. 321f. 18 Gerd Friedrich/Heinrich von zur Mühlen, Die Pankower Sowjetrepublik und der deutsche Westen, Köln 1953, S. 9. 19 Ebd., S. 106f., 109–112, 120, 139 und 145f.

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Karl Alexander von Müller Die Karriere des Münchner Historikers Karl Alexander von Müller war wissenschaftlich wie lebensweltlich tiefgreifend von ihrem Ausgangspunkt, dem wilhelminischen Kaiserreich, geprägt, auf den zwei ebenso gegensätzliche wie wirkmächtige Erfahrungen folgten: die Kriegsbegeisterung des Augustes 1914 und die Enttäuschung angesichts der Kriegsniederlage. Sein vor allem publizistischer Widerstand gegen die Weimarer Republik erfuhr mit deren Stabilisierung ab der Mitte der 1920er Jahre eine erhebliche Milderung. Mit der neuerlichen Krise 1930 begann Müller seinen, allerdings keineswegs zwangsläufigen Weg in den Nationalsozialismus, der ihn zum einflussreichsten deutschen Historiker der Jahre nach 1933 werden ließ. Müller verschrieb sich der Einbindung der Geschichtswissenschaft in den NS-Staat, der „Versöhnung“ traditioneller Historiographie mit den Ansprüchen des Nationalsozialismus. Keine „Gleichschaltung“ der Disziplin, nicht ihre bloße Anpassung an vorgegebene Ideologeme, sondern die Schaffung einer politisch, institutionell und paradigmatisch geeinten „→Volksgemeinschaft“ der Historiker. Der Nationalsozialismus gab das politische Vorbild, dem der Historiker und Wissenschaftsfunktionär Müller folgte, mit durchaus weitgefassten Angeboten der Inklusion, zugleich aber auch konsequent betriebener Exklusion.1 Das bayerische Königreich, in dessen Metropole München Müller 1882 geboren wurde, befand sich in einem politischen, wirtschaftlichen, aber auch kulturellen Veränderungs- und Modernisierungsprozess. Müllers Vater, Ludwig August von Müller, zählte als Kabinettssekretär Ludwigs II. und späterer Kultusminister zur politischen Elite des bayerischen Staates. Ausgehend von dieser groß- und bildungsbürgerlichen, von elitären Zügen gekennzeichneten, jedoch zugleich dezidiert leistungsorientierten Herkunft begann Müller ein Studium der Rechtswissenschaft in München, das ihn als Rhodes-Stipendiat für ein Jahr nach Oxford führte. Anschließend wechselte Müller zur Geschichtswissenschaft. Schon mit seiner 1908 abgeschlossenen, der Vorgeschichte der Reichseinigung gewidmeten Dissertation erregte Müller Aufmerksamkeit unter den deutschen Historikern, als Mitarbeiter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften schlug er eine klassische Nachwuchskarriere ein.2 „Sie sind ja ein Schriftsteller!“ – bereits 1912 erhielt Müller mit diesem Zuruf seines Kollegen Max Lenz das seinen wissenschaftlichen Lebensweg begleitende Etikett.3 Vor allem der Ausbruch des Ersten Weltkrieges motivierte Müller, sich verstärkt publizistisch zu engagieren. Zunächst hatte er sich freiwillig zur Front gemeldet, war aber nach wenigen Tagen aus gesundheitlichen Gründen ausgemustert worden. Als Autor und Mitherausgeber der Süddeutschen Monatshefte gewann er rasch an Prominenz als historisch-politischer Autor, teilte aber nicht die Erfahrungen seiner Alterskohorte der „Frontgeneration“. Hingegen vollzog er die Radikalisierung der „Kriegsjugendgeneration“, auf deren spätere Historiker der akademischer Lehrer Müller in der Weimarer Republik in der Tat erheblichen Einfluss gewinnen

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sollte.4 Sein begeistertes, den Krieg nachdrücklich befürwortendes Engagement erfuhr allerdings eine herbe Enttäuschung, nachdem in der seit 1916 entbrannten Kriegszieldebatte die Öffentlichkeit, aber auch die historische Disziplin, sich entweder für einen „Verständigungsfrieden“ mit den Kriegsgegnern oder für einen unbedingten „Siegfrieden“ einsetzte. Auch wenn Müller sich zu letzteren gesellte, wog doch der Verlust der vermeintlichen „Einheit“ für seine politischen Vorstellungen und publizistischen Ziele weitaus schwerer. Auch wenn Müllers Sprache, im eigentlichen Krieg wie im nachfolgenden „Krieg im Frieden“, seit den frühen 1920er Jahren von Begriffen wie Volk und Blut durchzogen war, blieb er in seinem Geschichtsbild der historiographischen Prägung durch eine Staats- und Politikgeschichte, erweitert durch den gern gewählten Blick auf „große Männer“, treu. Zugleich aber dürfen Müllers weniger historiographische denn politische Zielvorstellungen nicht übersehen werden. Seit der Novemberrevolution hatte sich Müller gleich anderen der Ansicht genähert, dass es einer umfassenderen, die sozialen, politischen und kulturellen Grenzen überbrückenden Mobilisierung bedürfe, um das Ziel politischer, wirtschaftlicher und militärischer Hegemonie Deutschlands künftig erreichen zu können. Eine an den „Volkscharakter“ appellierende, an „völkischen Interessen“ orientierte Gesellschaft sollte jene Kräfte mobilisieren, die aus Sicht ihrer Propagandisten dem von Standesschranken durchzogenen Kaiserreich nicht zur Verfügung stehen konnten. Müller war an der publizistischen Legimitierung dieses politischen Programms federführend beteiligt, seine wissenschaftliche Karriere ist von diesem Engagement nicht zu trennen. Die vage und deshalb anschlussfähige Vorstellung einer „völkischen Mobilisierung“ entwickelte für bürgerliche Kreise besondere Bindekraft, denn der Wunsch, die beschränkten Mobilisierungschancen der Gesellschaft des Kaiserreiches zu überwinden, kollidierte mit dem Unwillen, soziale Unterschiede tatsächlich zu mindern. Einen Ausweg aus diesem Dilemma schienen „Volksgeschichte“ und „Volkscharakter“ zu bieten. Beides versprach die Erlangung der ersehnten „Volksgemeinschaft“ in einer Weise, die den eigenen sozialen Status nicht gefährdete und überdies in ihren Führervorstellungen eigene Elitenwahrnehmungen stützte. Angesichts der Politisierung der Geschichtswissenschaft in der Weimarer Republik kann es kaum erstaunen, dass der Impuls für historiographische Innovationen ein eminent politischer war. Mit den Gebietsverlusten nach dem Weltkrieg waren die Grenzen des Deutschen Reiches, vor allem aber die jetzt außerhalb des Reichsgebietes lebenden Deutschen in den Fokus politischer und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt. In Forschungen zum „Grenz- und Auslandsdeutschtum“ wurden, da Nation und Staatlichkeit als alleinige Beschreibungsgrößen nunmehr zu eng gefasst schienen, Volk und Volkstum zu neuen Leitkategorien. Auch die Geschichtswissenschaft begann, sich diesen, interdisziplinär angelegten und international verbreiteten Forschungsmodellen zuzuwenden. Der Anteil der „Volksgeschichte“5 am Gesamtspektrum der Disziplin ist indes nicht zu überschätzen, die Verknüpfung von methodischer Innovation und völkischer Mobilisierung aber bot

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vielfältige Möglichkeiten der Beteiligung auch für Müller. Als bayerischer Landeshistoriker richtete dieser seinen Blick auf die Tschechoslowakei, den neuen südöstlichen Nachbarn Bayerns. Dieses war, so Müller zu Beginn der 1930er Jahre, seit „1918 wieder →Grenzland“ geworden, im „größten Teil seines Hauptlandes ohnmächtiges Glacis unter den Geschützen bewaffneter Nachbarn.“6 Im „Grenzkampf“ ließen sich Bestrebungen nach einer Revision des Versailler Vertrages, historiographische Innovationen durch das wenig erprobte Methodenarsenal der Volksgeschichte sowie die Etablierung neuer Forschungseinrichtungen verbinden. Entsprechend regional orientiert, begann man an der Münchner Universität Mitte der 1920er Jahre mit den Planungen für das schließlich 1930 eröffnete Südost-Institut, dessen erster Leiter Müller wurde.7 Als Professor für bayerische Landesgeschichte war Müller qua Amt zur historiographischen Begründung der erhobenen Ansprüche berufen, auch markierte die Institutsleitung durch Müller die Fortführung seiner Rolle als geeigneter Repräsentant wissenschaftlicher Institutionen, zumal wenn diese im Bereich zwischen Politik und Wissenschaft angesiedelt waren. Müller vereinte wissenschaftliches Renommee und politische Expertise, zugleich amtierte er als Leiter des Südost-Instituts nicht als bloßer Repräsentant. Er bewältigte die Anforderungen der Institutionalisierung in einem mit konkurrierenden Einrichtungen bereits gut bestückten Forschungsfeld, gab wissenschaftliche Legitimität für politische Konzepte und politisierte im Gegenzug die wissenschaftliche Arbeit. Nicht zuletzt verband er in seiner Person, in einer sich institutionell zunehmend auffächernden Wissenschaftslandschaft, die Universität mit außeruniversitären Einrichtungen, generierte zudem erhebliche finanzielle Mittel. Müller betrieb selbst keine „Volkstumsforschung“, aber er wirkte wesentlich für die Grundlagen, auf denen diese stattfinden konnte. Zudem konnte sich Müller mit der Leitung des Südost-Instituts als Förderer des Nachwuchses profilieren, folgerichtig wurde bald nach Müllers Rücktritt 1936 sein Schüler →Fritz Valjavec Geschäftsführer des Instituts. Zuvor war Müllers universitäre Karriere in der Weimarer Republik zunächst nur schleppend in Gang gekommen. Berufungsverfahren in Kiel, Köln, Halle und Breslau waren teils nach Interventionen des Preußischen Kultusministeriums, teils aber auch wegen aufkommender Zweifel an Müllers historiographischer Produktivität gescheitert. Seine auch in der Weimarer Republik intensiv fortgeführte Publizistik ließ Müller, der nach seiner Habilitation 1917 noch im selben Jahr mit der Anstellung als Syndikus der Bayerischen Akademie der Wissenschaften seinen Broterwerb im Bereich der Wissenschaftsorganisation angesiedelt hatte, bis Mitte der 1920er Jahre als Historiker nur selten in Erscheinung treten, ein zunehmend gerügter Mangel, dem er mit einer Reihe von zumeist allerdings ausgesprochen populär ausgerichteten Darstellungen begegnete.8 Schließlich wurde Müller 1928 auf den Lehrstuhl für bayerische Landesgeschichte an der Münchner Universität berufen. In den nationalen, konservativen und völkischen Kreisen im München der 1920er Jahre blieb Müller ein stets gefragter Gast und Redner. Für eine Gruppierung sich entscheiden, als Re-

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präsentant oder Vordenker einer Richtung sich profilieren wollte Müller indes nicht. Die gewählte Rolle des politischen Historikers, eines wissenschaftlich ausgewiesenen „Sachverständigen“, vertrug sich nicht mit der engeren Anbindung an einzelne Vereinigungen. Müller argumentierte, so sein Gestus, nicht mit politischen Ansichten, sondern mit historischen Fakten. Müllers politische Entwicklung entsprach den Krisenschüben der Republik, auf eine pragmatisch-zukunftsorientierte Mäßigung seit der Mitte der 1920er Jahre folgte eine neuerliche Radikalisierung, die schließlich in Müllers politischer Ankunft im Nationalsozialismus mündete. Bis 1933 fanden sich unter seinen engsten Begleitern auch konservative, monarchisch geprägte Gegner des Nationalsozialismus. Müller erläuterte deshalb den von seinem früheren Studenten Rudolf Heß während der Aufnahmesperre ermöglichten Eintritt in die NSDAP im August 1933: „Zur Begründung, warum ich erst jetzt um Aufnahme in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei bitte führe ich an, daß ich unter dem früheren Regime in meinem Amt als Universitätsprofessor besser und weiter (freier) für die Verbreitung nationalsozialistischer deutscher Staats- und Geschichtsauffassung zu wirken in der Lage war, wenn ich der Partei nicht offiziell angehörte, und so in aller Stille Historiker für das Dritte Reich heranbilden konnte.“9 In der Tat versammelten sich in Müllers Seminar frühe Nationalsozialisten wie Hermann Göring, Rudolf Heß und Baldur von Schirach, aber auch politisch links stehende Historiker wie Wolfgang Hallgarten und Michael Freund zählten zu diesem politisch heterogenen Kreis. Noch vor der Etablierung des NS-Staates hatte Müller mit →Walter Frank, Ottokar Lorenz und →Karl Richard Ganzer eine Reihe nationalsozialistischer Historiker promoviert, ein Engagement, das er mit der Promotion seines Schülers und alsbaldigen „Judenforschers“ →Wilhelm Grau im Sommer 1933 nahtlos fortführte.10 Die entstehende „→Judenforschung“ konnte sich der Unterstützung Müllers gewiss sein. Mit Müllers Übernahme der Herausgeberschaft der Historischen Zeitschrift wurde die von Grau betreute Rubrik „Geschichte der Judenfrage“ eingerichtet, die der „Judenforschung“ ein prominentes Forum bot. In Franks Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands hatte Müller bereits die Stellung eines Ehrenmitgliedes akzeptiert, schließlich übernahm er auch die Leitung der im November 1936 in München eröffneten „Forschungsabteilung Judenfrage“ des Reichsinstituts, deren Geschäfte sein Schüler Grau führen sollte. Auf dem Festakt anlässlich der Eröffnung, anwesend war auch sein früherer Schüler Rudolf Heß, hielt Müller die begrüßende Ansprache. Diese Gründung, so Müller, sei „auf dem Felde der Wissenschaft und der Hochschule selbst ein Akt der Revolution, der großen nationalsozialistischen Revolution Adolf Hitlers“. In kriegerischem Duktus beantwortete Müller die Frage, was die „geschichtliche Forschung zum großen politischen Kampf ihres Volkes“ beitragen könne: „Ihr Amt ist nicht, die unmittelbaren Kämpfe um die Macht zu führen. Aber Waffen kann sie schmieden für sie, Rüstungen kann sie liefern, Kämpfer kann sie schulen, den Geist kann sie erwecken und stählen für die Stunde des Ausharrens“. Als „Waffenstätte für den Kampf der Geister“ erfülle die Abteilung ihren Zweck.11 Als

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Leiter würde Müller an der Tätigkeit der Forschungsabteilung kaum Anteil haben, sein Engagement für die „Judenforschung“ jedoch unterschied sich nicht von dem für andere Forschungsrichtungen: Müller begleitete ihre Institutionalisierung, stellte sich als Repräsentant zur Verfügung, generierte Ressourcen und beförderte akademische Karrieren. Für das Ziel einer für den Nationalsozialismus geeinten Geschichtswissenschaft erwies sich die Konfliktfreudigkeit Franks und Graus zwar als kontraproduktiv, jedoch beendete Müller seine Unterstützung der „Judenforschung“ nicht, er blieb „bis zum Kriegsende als senior scholar der zentrale Punkt der Netzwerke der jungen Generation antijüdischer Wissenschaftler“.12 An der ideologischen Zuverlässigkeit Müllers musste das NS-Regime demnach nicht zweifeln, doch war dies nicht ausschlaggebend für seinen Aufstieg. Zahlreiche Nationalsozialisten widmeten sich dem Wissenschaftsbetrieb mit hohem Gestaltungsanspruch, Müller aber blieb zudem, trotz der Übernahme von NS-Ämtern, für die Vertreter der etablierten Geschichtswissenschaft ein vertrauenswürdiger „Kollege“, wurde zum Bindeglied zwischen traditioneller und nationalsozialistischer Geschichtswissenschaft. An der Münchner Universität übernahm er den wichtigsten Geschichtslehrstuhl und folgte 1935 auf Friedrich Meinecke als Herausgeber der Historischen Zeitschrift. In bislang ungekannter Form bettete Müller in seinem ersten Geleitwort die Geschichtswissenschaft wie die Zeitschrift in die politische Gegenwart ein, verwies auf den „großen schöpferischen Führer“, es klinge „seit zwanzig Jahren in jede Gelehrtenstube der harte Marschtritt der Soldaten und der Massen“. An wen die Geschichtswissenschaft ihren Wunsch nach Teilhabe adressiere, stellte Müller zudem in seiner wohl bekanntesten Formulierung klar: „Die deutsche Geschichtswissenschaft kommt nicht mit leeren Händen zum neuen deutschen Staat und seiner Jugend.“13 Auch für die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik wurde Müller zu einer Schlüsselfigur, 1936 setzte ihn das Reichswissenschaftsministerium als Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ein.14 Geschickt moderierend, aber in der Sache konsequent, organisierte Müller die Eingliederung der Akademie in das nationalsozialistische Wissenschaftssystem. Allerdings blieb Müller auf die zumindest passive Akzeptanz der Akademiemitglieder angewiesen. Als 1943 die sich abzeichnende Kriegsniederlage die Bindekräfte des NS-Staates schwinden ließ, verlor Müller sein Amt als Präsident, weil er sich einer Wahl durch die Mitglieder nicht stellen wollte. Zuvor war mit Kurt Huber ein enger Freund Müllers wegen seiner Beteiligung am Widerstand der „Weißen Rose“ zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Müller kannte Huber seit langem, war nach 1933 dessen wichtigster Fürsprecher und Unterstützer. Nach der Verhaftung seines Freundes im Februar 1943 jedoch unternahm er nichts.15 Im Gegensatz zu Huber war Müller schlicht kein Gegner des Nationalsozialismus: Er missbilligte Facetten seiner Herrschaft, teilte einige Aspekte der nationalsozialistischen Ideologie nicht, war aber für den Erfolg des NSStaates bereit, dies hinzunehmen.

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Nach 1945 verlor Müller sämtliche Ämter, die Bayerische Akademie der Wissenschaften verließ er, ein Ausschlussverfahren vor Augen, „freiwillig“. Vom angesehenen und einflussreichen Münchner Geschichtsprofessor stürzte er in die ländliche Isolation in Rottach-Egern, zumindest formal vom Arbeitsamt als Heilkräutersammler beschäftigt. In den folgenden Jahren beschäftigte sich Müller unablässig mit seiner Rolle im Nationalsozialismus beziehungsweise mit einer möglichst günstigen Darstellung seines Wirkens. Zahllose der berühmt-berüchtigten „Persilscheine“ sammelte er unter Freunden, Kollegen und Schülern. Im Frühjahr 1948 schließlich sprach seine Spruchkammer ein vergleichsweise mildes Urteil – der führende Historiker im NS-Staat wurde zum Mitläufer erklärt.16 Folgend gelang es Müller, seine Entlassung in eine Pensionierung umzuwandeln, die förmliche Emeritierung allerdings erlangte er erst nach einem zähen, jahrelangen Ringen zum Jahresbeginn 1956. In der universitären Geschichtswissenschaft, im Wissenschaftsbetrieb generell tat sich Müller mit einer Rückkehr sehr schwer. Sein hohes Ansehen war bereits im Nationalsozialismus von symbolischem Gehalt gewesen, unter umgekehrten Vorzeichen blieb Müller nun ein Symbol, sein Ausschluss wurde für eine Reihe von Institutionen zur symbolischen Entnazifizierung. Während er in die Kommission für bayerische Landesgeschichte zurückkehren konnte, verweigerte die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften – in der Müller seine Karriere als Nachwuchshistoriker 1910 begonnen und die er als Sekretär zwischen 1928 und 1945 im Nationalsozialismus de facto geleitete hatte – ihm dies dauerhaft. Allerdings verfügte Müller über einen ebenso zahlreichen wie in der frühen Bundesrepublik bald einflussreichen Freundes- und Schülerkreis, zu letzteren zählten unter anderen →Theodor Schieder, Kurt von Raumer, Heinz Gollwitzer und Karl Bosl.17 Auch wenn Müller in der Geschichtswissenschaft der frühen Bundesrepublik keine eigene Rolle finden konnte, seine institutionelle Rehabilitierung nur teils gelingen sollte, die persönliche Treue seiner Schüler war ihm gewiss. Zugleich aber ist, trotz berechtigter Debatten um ausgebliebene, „versäumte Fragen“, der Wandel der Geschichtswissenschaft seit den 1950er Jahren nicht zu unterschätzen.18 Ein grundlegender methodischer und thematischer Wandel des Faches, dem nicht zuletzt der „Historiker“ Müller jenseits aller politischen „Belastungen“ zum Opfer fiel. Allerdings blieb dieser bis weit in die 1960er Jahre andauernde Veränderungsprozess begleitet von betonter kollegialer Solidarität. Doch Lobreden auf den akademischen Lehrer sind fester Bestandteil eines wissenschaftlichen Habitus, sie sind auch ein akademisches Ritual. Insbesondere in Zeiten wissenschaftlicher Diskontinuität erfüllen betonte Schülerschaften und vermeintliche Schulenbildungen nicht zuletzt konstruktive Zwecke, sie sollen Kontinuitäten herstellen und vermeintlich ungebrochene wissenschaftliche Traditionen dokumentieren. In Gesten privater Sentimentalität blieben seine Schüler Müller verbunden, als die Ablösung von seinem wissenschaftlichen Werk längst vollzogen war.

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Unzweifelhaft erfolgreich reüssieren konnte Müller hingegen als populärhistorischer Autor, vor allem mit seinen drei Erinnerungsbänden, dessen erster 1951 veröffentlicht wurde. Gewidmet der eigenen Kindheit und Jugend, endete das Buch nicht zufällig im Sommer vor dem Ersten Weltkrieg. Mit seiner Verklärung der „Welt vor 1914“ bot Müller sich wie dem verunsicherten deutschen Bildungsbürgertum ein historisches Interpretament an, dass zum einen die Zeit des Nationalsozialismus ausblendete und zum anderen trotzdem historische Kontinuität zu wahren verstand.19 Auch als vor allem regionalgeschichtlicher Autor, nicht zuletzt im Bayerischen Rundfunk, gewann er ein treues Publikum. Für seinen Beitrag zur „Erfindung“ Bayerns nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt Müller vielfach gesellschaftliche Anerkennung und wurde 1961 mit dem Bayerischen Verdienstorden ausgezeichnet. Wenige Tage vor seinem zweiundachtzigsten Geburtstag verstarb Müller im Dezember 1964. Auch nach seinem Tod ließ sich Müllers Lebenslauf von seiner herausragenden Stellung im Nationalsozialismus nicht lösen, als entsprechend heikel entpuppte sich der, angesichts Müllers früherer Stellung zugleich unverzichtbare Nachruf in der Historischen Zeitschrift. Als Herausgeber amtierte derweil Theodor Schieder, der sich selbst unter Verweis auf seine Schülerschaft entzog. Der zunächst gewonnene Hermann Heimpel warf nach einigen Versuchen das Handtuch, er „komme mit dem Mann und demgemäß mit der Aufgabe einfach nicht zurande.“20 Schließlich übernahm Heinz Gollwitzer. Dieser benötigte bald ein Jahr für die Abfassung des Nachrufes, mit welchem er sich „unvermeidlich zwischen zwei Stühle“ setzen werde. Einige „werden mir Taktlosigkeit gegenüber meinem Doktorvater vorwerfen, eine andere, größere und böswilligere Gruppe wird mir verdeckte ‚profaschistische‘ Stimmungsmache unterstellen. Ich war mir darüber von Anfang an im klaren und mache mich auf einiges gefaßt.“21 Tatsächlich wurde Gollwitzer wegen seines Nachrufes auf Müller heftig öffentlich attackiert, seine akademische Karriere sollte von diesen Angriffen gezeichnet bleiben.

Matthias Berg

1 Müllers Biographie ist in diesem Rahmen nur zu skizzieren, für alle angerissenen und weiterführenden Aspekte vgl. Matthias Berg, Karl Alexander von Müller. Historiker für den Nationalsozialismus, Göttingen 2014. Folgend wird sich zudem auf Müllers Beiträge zur „völkischen Wissenschaft“ konzentriert. 2 Karl Alexander von Müller, Bayern im Jahre 1866 und die Berufung des Fürsten Hohenlohe, München u. Berlin 1909. 3 BayHStA, Nl von Müller 469, Lenz an Müller vom 14.8.1912. 4 Ernst Schulin, Weltkriegserfahrung und Historikerreaktion, in: Wolfgang Küttler (Hg. u.a.), Geschichtsdiskurs, Bd. 4, Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880–1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 165–188.

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5 Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993; Manfred Hettling (Hg.), Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen 2003. 6 Karl Alexander von Müller, Das Bayerische Problem in der deutschen Geschichte, München u.a. 1931, S. 37. 7 Mathias Beer u.a. (Hg.), Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches, München 2004. 8 Der ältere Pitt, in: Erich Marcks/K.A.v. Müller (Hg.), Meister der Politik. Eine weltgeschichtliche Reihe von Bildnissen. Dritter Band, Stuttgart u.a. 1923, S. 297–408; Karl Ludwig Sand, München 1925; Görres in Straßburg 1819/20. Eine Episode aus dem Beginn der Demagogenverfolgung, Stuttgart u.a. 1926. 9 BArch, BDC, PK/ I 0191 [Müller Karl Alexander von] Eintrittsgesuch Müller vom 27.8.1933. 10 Vgl. die hervorragende Bewertung der Arbeit Graus in: UALMU, O-Np-1933 [Grau, Wilhelm], Gutachten Müller vom 15.7.1933. 11 Karl Alexander von Müller, Ansprache, in: Forschungen zur Judenfrage 1 (1937), S. 11–15, 12f. 12 Dirk Rupnow, Judenforschung im Dritten Reich. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, Baden-Baden 2011, S. 69, So promovierte Müller auch Klaus Schickert, den späteren Leiters des Frankfurter Instituts zur Erforschung der Judenfrage. 13 Karl Alexander von Müller, Zum Geleit, in: Historische Zeitschrift 153 (1936), S. 1, 3f. 14 Matthias Berg, „Morgen beginnen die ersten Detonationen“. Karl Alexander von Müller und die Bayerische Akademie der Wissenschaften, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 72 (2009), S. 643–681. 15 Sönke Zankel, Mit Flugblättern gegen Hitler. Der Widerstandskreis um Hans Scholl und Alexander Schmorell, Köln 2008. zu Müller vgl. S. 341 f. 16 BayHStA, Nl von Müller 4, Sühnebescheid der Spruchkammer Miesbach vom 12.2.1948. Vgl. zudem die später unter dem weitaus bekannteren Titel „Die Mitläuferfabrik“ erneut veröffentlichte Untersuchung Lutz Niethammers, Entnazifizierung in Bayern. Säuberung und Rehabilitierung unter amerikanischer Besatzung, Frankfurt a.M. 1972. 17 Matthias Berg, Lehrjahre eines Historikers. Karl Bosl im Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), S. 45–63. 18 Rüdiger Hohls (u.a. Hg), Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, Stuttgart u.a. 2000. 19 Karl Alexander von Müller, Aus Gärten der Vergangenheit. Erinnerungen 1882–1914, Stuttgart 1951; Mars und Venus. Erinnerungen 1914–1919, Stuttgart 1954, Im Wandel einer Welt. Erinnerungen Bd. 3. 1919–1932 (hg. v. Otto Alexander von Müller), München 1966. 20 BArch, NL Theodor Schieder 241, Heimpel an Schieder vom 9.2.1966. 21 Ebd., 240, Gollwitzer an Schieder vom 10.1.1967; Heinz Gollwitzer, Karl Alexander von Müller 1882–1964. Ein Nachruf, in: Historische Zeitschrift 205 (1967), S. 295–322.

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Josef Nadler Josef Nadler wurde am 23. Mai 1884 in Neudörfl bei Varnsdorf (Nordböhmen) geboren. Nach dem Besuch des Jesuitenkonvikts in Mariaschrein legte er 1904 am Gymnasium in Böhmisch-Leipa die Matura ab und begann anschließend ein Studium der Germanistik und klassischen Philologie an der deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag, das er schon nach sieben Semestern mit einer Dissertation über „Eichendorffs Lyrik. Ihre Technik und ihre Geschichte“ (1908) bei August Sauer abschloss.1 Dessen programmatische Rektoratsrede über „Literaturgeschichte und Volkskunde“ (1907) mit der Forderung nach einer ethnographisch strukturierten Literaturbetrachtung beeindruckte Nadler nachhaltig und bildete innerhalb der zeitgenössischen Germanistik die wichtigste Grundlage für seinen stammeskundlichen Ansatz, den Nadler vermutlich noch als Student oder spätestens 1908/09 während eines Freiwilligenjahrs bei den Tiroler Kaiserjägern in Innsbruck und Trient zu konzipieren begann. Einer gegen Ende seiner Militärzeit in Aussicht gestellten Tätigkeit an der Lehrerbildungsanstalt in Linz zog er das Angebot des Regensburger Verlegers Josef Habbel vor, innerhalb von zwei Jahren eine „volkskundliche“ deutsche Literaturgeschichte zu verfassen. Im Oktober 1909 trat Nadler seine Stelle als Verlagsredakteur an und siedelte nach München über, um in der Münchner Hofbibliothek das ursprünglich auf zwei Bände angelegte Werk zu erarbeiten. 1911 wurde der Vertrag bei Habbel um ein halbes Jahr verlängert, und Nadler erreichte die Bewilligung eines dritten, später sogar eines vierten Bandes. Bei der Entstehung des Werkes wurde Nadler durch seinen ehemaligen Lehrer maßgeblich gefördert. So ließ Sauer bereits 1911 längere Passagen aus Nadlers Literaturgeschichte vorabdrucken,2 und vermutlich war er auch dafür verantwortlich, dass sein Schüler noch im selben Jahr als möglicher Nachfolger Wilhelm Koschs an der Universität in Fribourg / Schweiz diskutiert wurde, obwohl Nadler außer seiner Dissertation bislang keine größeren Veröffentlichungen vorzuweisen hatte und auch nicht habilitiert war. 1912 wurde Nadler dann aufgrund des ersten Bandes seiner „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ (Bd. 1: 1912; Bd. 2: 1913) zum außerordentlichen Prof. für neuere deutsche Literatur nach Fribourg berufen; zwei Jahre später erfolgte seine Ernennung zum ordentlichen Prof. für Neuere deutsche Literaturgeschichte. Neben seiner Lehrtätigkeit in Fribourg wurde Nadler 1914 Mitherausgeber der renommierten, von August Sauer begründeten Literaturzeitschrift Euphorion, deren Lesern er sich mit einem Aufsatz über „Die Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte“ (1914) vorstellte, in dem sich Nadler gegen den Positivismus Wilhelm Scherers und andere Strömungen innerhalb der Germanistik wandte.3 Ihnen stellte Nadler seinen stammeskundlichen Ansatz gegenüber, für dessen Begründung er sich unter anderem der Formalästhetik Herbarts und des Neukantianismus, aber auch erbbiologischen Theorien nach dem Vorbild von Ottokar Lorenz bediente.4 Auf Anregung Karl Lamprechts, der einen nachhaltigen Einfluss auf Nadlers Denken

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ausübte, veröffentlichte er im selben Jahr auch eine Schrift über die „Entwicklungsgeschichte des deutschen Schrifttums“ (1914), in der Nadler seine stammeskundlichen Ergebnisse für ein breites Publikum zusammenfasste. Doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, an dem Nadler von 1914–1917 zunächst in Südtirol, dann als militärischer Leiter der Rüstungsbetriebe in Pürstein bei Karlsbad und schließlich als Dozent an der Militärrealschule in Fischau teilnahm, verhinderte vorerst die von ihm erhoffte Diskussion seines literaturhistorischen Ansatzes. Erst mit der Veröffentlichung des dritten Bandes seiner Literaturgeschichte nach Kriegsende (Bd. 3: 1918) wurde das Werk des weiterhin in der Schweiz lehrenden Germanisten auch verstärkt von Vertretern der eigenen Disziplin zur Kenntnis genommen. Allerdings fielen die Reaktionen – wie etwa eine viel beachtete Rezension von Josef Körner5 – weitaus negativer aus, als es Nadler erwartet hatte. Den Kritikern trat Nadler im →Vorwort seiner Schrift „Die Berliner Romantik, 1800–1814. Ein Beitrag zu der gemeinvölkischen Frage: Renaissance, Romantik, Restauration“ (1921) entgegen, in dem beispielsweise Körner als jüdischer „Schofarbläser“ (S. VII), der „mit kaninchenhafter Fruchtbarkeit in allen erreichbaren deutschen Journalen seine monatliche Niederkunft“ verrichte (S. XVI), verunglimpft wird. Daneben polemisierte Nadler aber auch gegen überkommene „völkische Redensarten“ und erklärte, dass man angesichts seiner stammeskundlichen Erkenntnisse „keine alldeutschen Literaturgeschichten“ mehr schreiben könne (S. 38f.). In dieser Schrift zeichnet sich bereits ein entscheidender Wandel in Nadlers politischen Anschauungen ab, der in den folgenden Jahren immer deutlicher wird, wenn Nadler in der zweiten Auflage seiner Literaturgeschichte (Bd. 1–3: 1923–19242) „systematisch alle Fremdwörter durch deutsche Begriffe“ ersetzte6 und insbesondere im vierten Band, der zwar erst 1928 erschien, an dem Nadler aber schon seit Kriegsende arbeitete, antisemitische Passagen über Autoren jüdischer Herkunft einfügte. Spätestens in seiner Auseinandersetzung mit Gustav Roethe und der deutschen Goethe-Gesellschaft, die Nadler mit seinem in der katholischen Monatsschrift „Hochland“ erstmals publizierten Aufsatz „Goethe oder Herder?“ (1925) auslöste,7 trat dann offen hervor, dass er sich inzwischen bewusst zu einer neuen Rechten zählte und von den Anhängern einer rückwärtsgewandten preußisch-monarchistischen Auffassung zu distanzieren suchte. Der Streit mit Roethe trug wesentlich zur Popularität Nadlers bei, der seit 1925 als ordentlicher Prof. für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Königsberg (Nachfolge Rudolf Unger) lehrte, nachdem er 1921 einen Ruf nach Innsbruck abgelehnt hatte und Bewerbungen nach Zürich (1920), Köln (1921/22) und Breslau (1924) gescheitert waren. Nadler wurde zu einem begehrten Referenten und gefragten Autoren. So beteiligte er sich etwa an einer viel beachteten Artikelserie über „Die Zukunftsaufgaben der deutschen Wissenschaft“, die ab dem Frühjahr 1927 jeweils in den Sonntagsbeilagen der Deutschen Allgemeinen Zeitung erschien. Nadler verfasste für diese Reihe einen Aufsatz mit dem Titel „Literaturgeschichte, Volksstaat, Weltvolk“, in dem er erklärte: „Indem ich […] die wissenschaftliche Erforschung der geistigen Stammesstruktur des deutschen Volkes betreibe, wünsche

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ich das deutsche Denken für den letzten Akt der deutschen Staatswerdung erziehen zu helfen.“8 Als Literaturhistoriker habe er die Aufgabe, „wissenschaftliche und völkische Forderung“ miteinander zu verschmelzen, nämlich „den völkischen Weltraum des deutschen Geistes in gleicher Weise sicher[zu]stellen wie den geistigen Weltraum des deutschen Blutes.“ Konkret heißt das für Nadler, „dass der kleindeutsche Staatsbegriff sich in ein gemeindeutsches Volksbewußtsein umwandeln muß“, das die momentanen Grenzen des Staates als „Schnürwunden des Volksleibes“ versteht und sich aus diesen „widernatürlichen Einschnürungen“ zu befreien versucht. In Königsberg bemühte sich Nadler daher insbesondere um eine stärkere Erforschung der Literatur des sogenannten Grenz- und Auslandsdeutschtums, beteiligte sich an der Organisation schlesischer und sudentendeutscher Kulturwochen und unterstützte die Pläne des Auswärtigen Amtes in Berlin, einen reichsdeutschen Lehrstuhl an der estnischen Universität in Dorpat zu etablieren. Zu seinen wissenschaftlichen Verdiensten zählt in dieser Zeit die Sichtung und Erhaltung der Werke Johann Georg Hamanns, deren Edition er mit seiner Schrift „Die Hamann-Ausgabe. Vermächtnis, Bemühungen, Vollzug“ (1930) einleitete. Zudem gab er seit 1926 zusammen mit Günther Müller und anderen das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch der Görres-Gesellschaft heraus. 1929 wurde Nadler mit dem Gottfried-Keller-Preis der Martin Bodmer-Stiftung in Zürich ausgezeichnet, 1931 erhielt er die Kant-Medaille der Stadt Königsberg. Nadlers stammeskundliche Literaturgeschichte, die nach der Veröffentlichung des vierten Bandes und eines Ergänzungsheftes mit dem Titel „Raumzeittafel“ (jeweils 19281+2) zwischen 1929 und 1932 in dritter Auflage erschien, blieb dagegen unter Fachvertretern weiterhin umstritten, wie insbesondere die Kontroverse um die Nachfolge Franz Munckers in München 1926/27 zeigt, bei der sich Hugo von Hofmannsthal und andere vergeblich für eine Berufung Nadlers einsetzten.9 Bedenken gegen die stammeskundliche Methode wurden auch 1931 bei der Suche eines Nachfolgers für Paul Kluckhohn an der Universität Wien geäußert. Dennoch wurde Nadler im selben Jahr zum Ordinarius für neuere deutsche Sprache und Literatur ernannt. Schon im Oktober 1931 trat er seine neue Stelle an und wechselte nach Wien; seine offizielle Verabschiedung aus Königsberg fand erst 1933 statt. Zugleich war er von 1931–1945 Mitglied der Arbeitsgemeinschaft für Südostdeutsche Forschungen (ab 1933 →Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft). Von Wien aus verfolgte Nadler aufmerksam die sich verändernde politische Situation in Deutschland und meldete sich 1933 anlässlich der Versuche, eine nationalsozialistische Literaturwissenschaft zu etablieren, mit einem Aufsatz unter dem Titel „Wo steht die deutsche Literaturwissenschaft“ zu Wort, in dem er an seinen stammeskundlichen Ansatz erinnerte.10 Seinem Berliner Kollegen Julius Petersen erklärte er im Januar 1934, dass er mit verschiedenen Auftragsarbeiten nicht vorangekommen sei, weil er „im Zusammenhang mit der nationalen Erneuerung Deutschlands eine größere Arbeit übernehmen“ musste, die sein „Lebenswerk der Schule des neuen Deutschlands fruchtbar machen soll“.11 Nadler bezog sich damit auf sein populäres Werk „Das stammhafte Gefüge des deutschen Volkes“ (1934, 19414), das

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bewusst für den reichsdeutschen Buchmarkt geschrieben war und in nationalsozialistischen Kreisen großen Anklang fand. Im österreichischen „Ständestaat“ erregten Nadlers Anspielungen auf Hitler, insbesondere seine Äußerung, dass die „Sendung“ des bayerisch-österreichischen Stammes darin bestanden habe, „den Führer des dritten Reiches zu erwecken“ (S. 71), dagegen beträchtliches Aufsehen. Gegen den Vorwurf des Wiener Landschulinspektors Oskar Benda, der nationalsozialistischen Rassenlehre nahezustehen, setzte sich Nadler indessen 1935 öffentlich zur Wehr und strengte einen Strafprozess an, bei dem er erklärte, dass er schon vor dem Ersten Weltkrieg „über den Einfluß von Blut und Boden auf das Schaffen eines Menschen geschrieben“ habe und es daher nicht seine Schuld sei, „wenn die Nationalsozialisten sich manches von meinem Gedankengut – sehr verändert – angeeignet haben.“12 Zu seiner Rechtfertigung konnte Nadler auf seinen Aufsatz „Rassenkunde, Volkskunde, Stammeskunde“ (1934) verweisen,13 in dem er sich kritisch mit der Rassenkunde auseinandergesetzt hatte, die sich, so Nadler, in methodischen Fehlzirkeln bewege und „auf geistesgeschichtlichem Gebiete“ (S. 18) bislang ohnehin zu keinen anderen Ergebnissen gekommen sei als seine Stammeskunde. Als Eröffnungsbeitrag des den politischen Zeitumständen angepassten und unter dem neuen Titel „Dichtung und Volkstum“ erscheinenden Euphorion stellt dieser Aufsatz freilich keine Kritik an der NS-Ideologie insgesamt dar, sondern lässt sich im anhaltenden Methodenstreit als ein erneutes Plädoyer für den eigenen stammeskundlichen Ansatz verstehen. Zudem war Nadler daran interessiert, als Professor an der Wiener Universität auch weiterhin die Unterstützung der österreichischen Regierung zu genießen, die sich vom Deutschen Reich abzugrenzen bemühte. Während insbesondere der Rassebegriff im ständestaatlichen Sprachgebrauch verpönt blieb, fand Nadlers Stammeskonzept dagegen bei Befürworten wie Gegnern des Dollfuß- bzw. Schuschnigg-Regimes gleichermaßen Anklang. Der Sammelband „Österreich – Erbe und Sendung im deutschen Raum“, den Nadler 1936 zusammen mit dem Historiker →Heinrich Ritter von Srbik herausgab, avancierte im Ständestaat sogar zu einer der meistbeachteten Publikationen vor dem „Anschluss“, da er wegen seiner vagen wie mehrdeutigen politischen Aussagen sowohl von Anhängern des Austrofaschismus als auch von illegalen österreichischen Nationalsozialisten zur Begründung der je eigenen Position herangezogen werden konnte. Unter den Professoren der Wiener Universität zählten Nadler und Srbik zu der Gruppe der sogenannten „Katholisch-Nationalen“, die von Schuschnigg maßgeblich gefördert wurden und im staatlichen Kultur- und Wissenschaftsbetrieb zunehmend an Einfluß gewannen. Nadler gehörte seit 1934 beispielsweise der Jury des österreichischen Staatspreises an, setzte sich als deren Vorsitzender in den folgenden Jahren aber auch für illegale Nationalsozialisten wie den Schriftsteller Josef Wenter ein. Nachdem er selbst bereits 1933 dem Reichsverband Deutscher Schriftsteller (Mitgliedsnr. 9.697) beigetreten war, man ihn aber schon ein Jahr später mit dem Hinweis, dass eine Mitgliedschaft für österreichische Autoren nicht notwendig sei, wieder ausgeschieden hatte, beteiligte sich Nadler 1936 an der Gründung des Bun-

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des deutscher Schriftsteller in Österreich (Mitgliedsnr. 29) und engagierte sich darüber hinaus im Österreichisch-Deutschen Volksbund, der eine anschlussfreundliche Propaganda betrieb. Dass er seit 1937 zusammen mit Arthur Seyß-Inquart und anderen dem Vorstand des Volksbundes angehörte, kann als deutlicher Hinweis auf Nadlers politische Disposition in dieser Zeit gewertet werden. Der Eintritt Nadlers in die NSDAP und weitere NS-Organisationen erfolgte aber erst nach dem „Anschluss“ Österreichs; unter der Mitgliedsnummer 6.196.904 und dem rückwirkenden Datum 1. Mai 1938 wurde er im Sommer 1938 in die Partei aufgenommen. Im selben Jahr brachte Nadler auch den ersten Band seiner Literaturgeschichte in vierter Auflage heraus, die unter dem neuen Titel „Literaturgeschichte des Deutschen Volkes“ nicht mehr bei Habbel, sondern im Berliner Propyläen-Verlag (Bd. 1– 4: 1938–1941) erschien. In dem stark überarbeiteten Werk rezipierte Nadler nun eindeutig die Rassetheorien →Hans F. K. Günthers und Ludwig Schemanns, die er 1934 noch verworfen hatte. Der vierte Band (1941) enthält überdies zahlreiche antisemitische Passagen, die von der kurzen Bemerkung, dass der Mord an Hugo Bettauer „eine sinnvolle Handlung“ gewesen sei (S. 469), bis zu längeren Ausführungen darüber reichen, dass „alle europäischen Völker, solange sie gesund und eigenständig waren, die Wohngemeinschaft mit den Juden als unwillkommen und gefährlich empfunden“ hätten (S. 2). Die von den Nationalsozialisten vorgenommene „Aussonderung der Juden aus dem deutschen Volksraum“ (S. 5) wird ausdrücklich begrüßt. Nach 1945 hat Nadler zwar wiederholt behauptet, dass diese Textpassagen nicht von ihm stammen würden, doch sprechen schon die zahlreichen typischen Formulierungen und eine an Metaphern reiche Sprache, wie sie für alle Auflagen seiner Literaturgeschichte bestimmend ist, für eine Urheberschaft Nadlers. Vielmehr lässt sich die „1938 vorgenommene Umarbeitung der Literaturgeschichte“ nach Ralf Klausnitzer „als eine parallel zum staatlichen Anschluß praktizierte Anpassungsleistung interpretieren, die eine längerfristig vorbereitete Option realisierte – ohne jedoch den erwünschten Erfolg zu zeitigen“.14 Nadler geriet nämlich bald zwischen die Fronten miteinander konkurrierender Parteiämter und -organisationen. So verhinderte das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung seine Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften, und das Reichspropagandaministerium lehnte 1940 die Vergabe des Wolfgang-Amadeus-Mozart-Preises der →Johann-Wolfgang-Goethe-Stiftung (Unterordnung der Stiftung FVS) an ihn ab. Als Begründung für diese Entscheidungen wurde angegeben, dass Nadler während seines Studiums der katholischen CV-Verbindung Ferdinandea angehört hatte und daher geistig „auf dem Boden des christlichen Idealismus“ stehe.15 Zweifel an Nadlers politischer Zuverlässigkeit wurden auch von einigen ehemaligen Schülern am →SS-Ahnenerbe und in der Zeitschrift „Weltliteratur“ geäußert,16 woraufhin der Germanist seinen Kritikern entrüstet entgegnete, dass seine Literaturgeschichte „die erste und bis heute einzige deutsche Geistesgeschichte auf biologischer blutmäßiger Grundlage ist und sich von allem Anfange scharf gegen das jüdische Schriftwesen gewendet hat“.17 Um seine verletzte Parteiehre wie-

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der herstellen zu lassen, leitete Nadler gegen sich selbst beim Wiener Gaugericht ein „Selbstbereinigungsverfahren“ ein.18 Wie aus der erhaltenen Korrespondenz mit den verschiedenen Parteistellen deutlich wird, wurde das Verfahren von einer Instanz zur nächsten verschoben. Im Februar 1944 teilte dann Martin Bormann dem Reichsleiter Baldur von Schirach mit, dass „Nadler ehrenvoll aus der Partei zu entlassen“ sei.19 Doch Schirach bemühte sich weiterhin um den österreichischen Professor und war vermutlich auch dafür verantwortlich, „dass das […] Parteigerichtsverfahren bis nach Beendigung des Krieges zurückgestellt wurde“.20 Wenn Nadler hingegen später behauptete, dass er wegen seiner Wiener Lehrtätigkeit angezeigt und verfolgt worden sei, dann verschwieg er, dass er selbst das Verfahren gegen sich angestrengt hatte und dass der (nicht ausgeführte) Befehl Bormanns vermutlich nur aufgrund seiner eigenen wiederholten lästigen Nachfragen erfolgte. Franz Graf-Stuhlhofer hat Nadler als einen „Opportunist[en] aus Überzeugung“ bezeichnet.21 Allerdings ging Nadlers politisches Engagement in der Zeit des Nationalsozialismus weit über das übliche eines Universitätsprofessors hinaus, wenn er sich zwischen 1939 und 1943 etwa als Blockhelfer, Blockwalter und Zellenwalter sowie als NSV-Schulungsbeauftragter in der NSDAP-Ortsgruppe Gatterburg betätigte. In den letzten Kriegswochen bemühte sich Nadler noch vergeblich darum, zu seiner im Sterben liegenden Frau in Karlsbad zu gelangen. Er kam jedoch nur bis Passau, wo er den Einmarsch der Alliierten erlebte. Als er im Oktober 1945 nach Wien zurückkehrte, war er bereits seines Amtes als Universitätsprofessor enthoben worden.22 Am 16. Januar 1946 wurde Nadler durch eine Sonderkommission beim Bundesministerium für Unterricht in Wien endgültig vom Dienst suspendiert. 1947 folgte die Versetzung in den dauernden Ruhestand. 1950 wurde das Verfahren wiederaufgenommen, und Nadler erreichte, dass er von der Liste ehemaliger NSDAPMitglieder gestrichen und seine Pension neubemessen wurde. Es erfolgte aber ausdrücklich keine Aufhebung der Versetzung in den Ruhestand. Von 1949 bis zu seinem Tod am 14. Januar 1963 unterrichtete Nadler stattdessen an der Wiener katholischen Akademie. Zudem erhielt er mehrere Ehrungen: So wurde ihm 1952 der 1940 verweigerte Wolfgang-Amadeus-Mozart-Preis der Johann-Wolfgang-Goethe-Stiftung und 1960 die Stifter-Plakette des Österreichischen Unterrichts-Ministeriums verliehen. Außerdem trat er mit mehreren Publikationen an die Öffentlichkeit und veröffentlichte u.a. eine „Literaturgeschichte Österreichs“ (1948; 19512) sowie die beiden Biographien „Johann Georg Hamann 1730–1788. Der Zeuge des Corpus mysticum“ (1949) und „Josef Weinheber. Geschichte seines Lebens und seiner Dichtung“ (1952). Eine unvollendete Studie über „Goethe und Österreich, Königsberg, Weimar, Wien. Ein Fragment“ (1965) wurde erst posthum veröffentlicht; seine Arbeit an einer Biographie Henry Benraths konnte Nadler nicht mehr abschließen. Nadler hat maßgeblichen Einfluss auf die germanistische Wissenschaft, aber auch auf die staatliche Literaturförderung und einzelne Schriftsteller ausgeübt. Wenig erforscht ist dagegen die Rezeption seines stammeskundlichen Ansatzes in an-

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deren Disziplinen, etwa in der Kunstgeographie (z.B. die kunsthistorischen Arbeiten von Karl Oettinger (1906–1979)) und in den Musikwissenschaften. So legte der Musikwissenschaftler Hans Joachim Moser (1889–1967), zwischen 1940 und 1945 Leiter der Reichsstelle für Musikbearbeitungen am Propagandaministerium, dem SS-Ahnenerbe 1940 ein Projekt über die „Deutsche Musik nach Stämmen und Landschaften“ vor, das allerdings erst 1957 veröffentlicht wurde.23 Ausdrücklich bezeichnete Friedrich Bülow (1890–1962) in seiner Eröffnungsrede zum →Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften Nadlers Literaturgeschichte auf stammeskundlicher Grundlage als vorbildlich.24 Denn was lag näher, als sich u.a. auf stammeskundlichlandschaftliche Theorien zu stützen, die schon vor Kriegsausbruch eine weit über die bestehenden Grenzen des Deutschen Reiches hinausgehende Kunst deutscher Stammesart propagiert und insbesondere die Kulturleistungen eines Grenz- und Auslandsdeutschtums hervorgehoben hatten? Da der Stammesbegriff einerseits Unterscheidungen zuließ, andererseits aber auch integrativ im Sinne eines „Volksganzen“ wirkte, bildete die Stammeskunde vor allem in der Anfangszeit des NS-Regimes eine willkommene Alternative zu den gängigen Rassentheorien. Dass Nadlers Ansatz während des Zweiten Weltkrieges wieder an Bedeutung verlor, lag weniger an fachlicher Kritik, sondern vielmehr an parteiinternen Auseinandersetzungen um Nadlers politische Zuverlässigkeit.

Elias H. Füllenbach

1 Trotz zahlreicher Arbeiten über Nadler und seinen stammeskundlichen Ansatz liegt eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biographie bislang nicht vor. Es muss daher vorerst noch auf seine Autobiographie zurückgegriffen werden, die als Verteidigungsschrift der eigenen akademischen Tätigkeit unter dem NS-Regime allerdings zur Selbstexkulpation neigt. Vgl. Josef Nadler, Kleines Nachspiel, Wien 1954. Für einen ersten biographisch-bibliographischen Überblick vgl. Elias H. Füllenbach, Nadler, in: Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, 3 Bände, hg. von Christoph König, Berlin u.a. 2003, S. 1298–1301. 2 Vgl. August Sauer, Vorgeschichte des Wiener Dramas, in: Österreichische Rundschau 28 (1911), S. 298–306. 3 Josef Nadler, Die Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte. Versuche und Anfänge, in: Euphorion 21 (1914), S. 1–63. 4 Zu Nadlers Grundlagen vgl. Irene Ranzmaier, Stamm und Landschaft. Josef Nadlers Konzeption der deutschen Literaturgeschichte, Berlin u.a. 2008, S. 62–92. 5 Josef Körner, Metahistorik des deutschen Schrifttums, in: Deutsche Rundschau, 180 (1919), S. 466–468. 6 Franz Greß, Germanistik und Politik. Kritische Beiträge zur Geschichte einer nationalen Wissenschaft, Stuttgart 1971, S. 147. 7 Vgl. Josef Nadler, Goethe oder Herder?, in: Hochland, 22 (1924/25), S. 1–15; ders.: „Goethegesellschaft“, in: Hochland 24 (1926/27), S. 101–107. Zur Kontroverse zwischen Nadler und Roethe vgl. auch Karl Robert Mandelkow, Zwischen Weimar und Potsdam. Aspekte der Goetherezeption in den zwanziger und dreißiger Jahren in Deutschland, in: Lothar Ehrlich (Hg. u.a.), Weimar 1930. Politik und Kultur im Vorfeld der NS-Diktatur, Köln u.a. 1998, S. 123–138, 127f.

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8 Josef Nadler, Literaturgeschichte, Volksstaat, Weltvolk, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Sonntagsbeilage Welt und Werk vom 5. Juni 1927. 9 Vgl. Werner Volke, Hugo von Hofmannsthal und Josef Nadler in Briefen, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 37–88; und Ulrich Dittmann, Carl von Kraus über Josef Nadler. Ein Nachtrag zur Muncker-Nachfolge 1926/27, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), S. 433–444. 10 Josef Nadler, Wo steht die deutsche Literaturwissenschaft, in: Völkische Kultur 1 (1933), S. 307– 312. 11 Deutsches Literaturarchiv Marbach, Handschriften-Abteilung, 73.493/12, Nadler an Petersen vom 10.1.1934. 12 ÖStA Wien, Personalakt des Bundesministeriums für Unterricht, R 08859/3, Bl. 53, Eine gerichtliche Feststellung Prof. Dr. Nadlers, in: Reichspost vom 15.6.1935. 13 Josef Nadler, Rassenkunde, Volkskunde, Stammeskunde, in: Dichtung und Volkstum. Neue Folge des Euphorion 35 (1934), S. 1–18. 14 Ralf Klausnitzer, Blaue Blume unterm Hakenkreuz. Die Rezeption der deutschen literarischen Romantik im Dritten Reich, Paderborn u.a. 1999, S. 246. 15 ÖSTA, R 08859/3, Bl. 38, Gauschulungsleiter Hugo Rößner an die Reichsleitung der NSDAP, Amt Kulturpolitisches Archiv vom 25.9.1942. 16 Vgl. Hans W. Hagen, Das Reich und die universalistische Kulturgeschichtsschau. Notwendige Bemerkungen zu Josef Nadlers „Literaturgeschichte des deutschen Volkes“, in: Weltliteratur 16 (1941), S. 40–44; Edgar Traugott/Hugo Rößner, Die „Wiener Schule“, in: Weltliteratur 16 (1941), S. 113–116. Hauptschriftleiter der „Weltliteratur“ war seit 1941 Hans E. Schneider (Hans Schwerte), der in Königsberg und Wien bei Nadler studiert hatte. 17 ÖSTA, R 08859/3, Bl. 41, Nadler an einen Schüler [Edgar Traugott] vom 29.4.1941. 18 Vgl. ebd., R 08859/3, Bl. 62, Aktenvermerk vom Wiener Gaupersonalamt vom 15.6.1944. 19 Ebd., Bl. 65f., Bormann an Baldur von Schirach vom 25.2.1944. 20 Ebd., Bl. 62f., Aktenvermerk vom Wiener Gaupersonalamt vom 15.6.1944. 21 Franz Graf-Stuhlhofer, Opportunisten, Sympathisanten und Beamte. Unterstützung des NS-Systems in der Wiener Akademie der Wissenschaften, dargestellt am Wirken Nadlers, Srbiks und Meisters, in: Wiener Klinische Wochenschrift 110 (1998), S. 152–157, 152. 22 Vgl. Sebastian Meissl, Der „Fall Nadler“ 1945–1950, in: Verdrängte Schuld – Verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945–1955, hg. von ders. u.a., Wien 1986, S. 281–301; Roman und Hans Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft der Universität Wien von 1944 in den Nachkriegsjahren, Göttingen 2014, S. 300. 23 Hans Joachim Moser, Die Musik der deutschen Stämme, Wien u.a. 1957. 24 Vgl. Frank-Rutger Hausmann, Deutsche Geisteswissenschaft im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940–1945). Dresden u.a. 1998, S. 62f.

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Kurt Oberdorffer Kurt Oberdorffer, geboren am 28. April 1900 im nordböhmischen Schluckenau (Šluknov), war Sohn eines k.k. Steuerinspektors und zuletzt österreichischen Ministerialrats, der 1919 in Wien in einer besonderen Staatskanzlei für die Angelegenheiten der deutschbewohnten Gebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens verantwortlich war, die sich zur Republik Deutschösterreich bekannten.1 Oberdorffer legte im Juni 1918 das Abitur und anschließend eine Staatsprüfung in tschechischer Sprache in Prag-Neustadt ab und studierte, nachdem er zum Militärdienst untauglich erklärt wurde, Geschichte, Historische Hilfswissenschaften, Germanistik, Geographie und Kunstgeschichte an der Prager Deutschen Universität bei Samuel Steinherz, →Wilhelm Wostry, →Hans Hirsch und August Sauer. Je ein Semester verbrachte er an der tschechischen Karls-Universität und in Wien, dort bei Heinrich von Srbik, Oswald Redlich und Alfons Dopsch. Einem Rat Wostrys folgend besuchte er in Wien den Ausbildungskurs am Institut für Österreichische Geschichtsforschung. 1922 optierte er für die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft und promovierte in Prag bei Steinherz mit der Dissertation „Zur Kritik des I. Teiles der Chronik des Benesch von Weidmühl“. 1924, er war für kurze Zeit an der juristischen Fakultät in Prag eingeschrieben, legte er die Staatsprüfung an dem genannten Wiener Institut mit einjähriger Verspätung ab.2 1924 wurde er Leiter des städtischen Archivs und Museums von Brüx (Most). Dort wirkte er fast fünfzehn Jahre, und wurde durch seine organisatorische Tätigkeit zu einem der führenden Kulturpersönlichkeiten Nordböhmens. Wissenschaftlich widmete er sich einerseits der Veranstaltung grosser Kunstausstellungen (Gotik 1928, Renaissance 1932, Barock- und Rokokokunst 1927 und Gegenwartskunst) in Nordwestböhmen, andererseits an der Veröffentlichung verschiedener Funde aus dem Brüxer Archiv und der Vorbereitung einer Neuherausgabe des städtischen Urkundenbuches. 1936 plante er ein größeres Forschungsvorhaben, nämlich eine Geschichte der Renaissance in Nordwestböhmen, das sich aus seiner früheren Forschung über die nordwestböhmischen Kulturbeziehungen des 16. Jahrhunderts entwickelt hatte. Im Gegensatz zur tschechischen Forschung wollte Oberdorffer überprüfen, ob „gewisse herrschende Anschauungen“ über Ausmaß und Art der „Tschechisierung der nordwestböhmischen Städte“ berechtigt waren. Seiner Meinung nach erwiesen sich „alte Bindungen an Magdeburg als Oberhof […] im Rechtsleben der Städte stärker als junge Überdeckungen mit tschechischen Stadtverwaltungen“. Seine Fragestellung ging von dieser Voraussetzung aus: „Erweisen sich die zwei wesentlichen politischen Ereignisse, die Verpfändung an Meißen und die Beteiligung am Schmalkaldischen Krieg, als ebenso unfruchtbar wie die Beteiligung am böhmischen Aufstand, so zeigte der Einblick in die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und allgemein kulturellen Verhältnisse Nordwestböhmens dessen engste Verwobenheit in den mittel- und oberdeutschen Kultur- und Volksboden, so daß man zum Bild einer ‚Sonderprovinz‘ auf allen Gebieten kommt.“ So sollte die Zugehörigkeit

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dieser „grenzdeutschen Landschaft“ Nordböhmens zum tschechoslowakischen Staat bezweifelt und zugleich eine enge und tief verwurzelte Zugehörigkeit zu Deutschland geschichtlich gerechtfertigt werden.3 An der Vollendung dieser Forschungen wurde er aber durch seine in den 1930er Jahren stets gestiegene organisatorisch-kulturpolitische Tätigkeit gehindert. 1938 veröffentlichte er eine kurze Geschichte des „Sudetenlandes“, in der die böhmischen Länder als ein Teil der reichsdeutschen Geschichte eingereiht wurden.4 Seit Mitte der 1920er Jahre war Oberdorffer in verschiedenen Verbänden für Heimatforschung und Volksbildung tätig. Als einer der drei Geschäftsleiter der Archivabteilung des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen, der zum Vorstand des Vereines gehörte, beteiligte er sich bei der zentralisierten und einheitlichen Führung und Vertretung der deutschen Archivare im tschechoslowakischen Staatsdienst sowie in den nichtstaatlichen Archiven. Die deutschen Archivare der Tschechoslowakei vertrat er oft auf reichsdeutschen Archivtagen.5 Oberdorffer war Mitglied des Bundes der Deutschen, des Deutschen Kulturvereins, Vorsitzender im Verband der deutschen Museen in der tschechoslowakischen Republik, Geschäftsführer im Deutschen Verband für Heimatforschung und Heimatbildung in der Tschechoslowakischen Republik, sowie seit 1938 korrespondierendes Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Wissenschaft und Künste für die Tschechoslowakei. Seit seiner Jugend bewegte sich Oberdorffer in verschiedenen deutschvölkisch orientierten Organisationen. Zuerst gehörte er zum böhmischen Wandervogel in Prag und gründete die böhmerländische Freischar „Greif“ mit. Seit 1918 betätigte er sich aktiv in der Böhmerlandbewegung, die gegen die Existenz der Tschechoslowakei ausgerichtet war und eine Art sudetendeutsche völkische Erneuerung aus dem Geist des Wandervogels und dem Fronterlebnis des Ersten Weltkriegs bewirken wollte.6 Oberdorffer nahm auf Ausschusssitzungen in Prag teil und gehörte zum engeren Kreis um Heinrich Rutha, den späteren Mitbegründer des Kameradschaftsbundes, dessen Mitglied er wurde. Seit 1924 war er in einem Turnverein tätig, schliesslich als Bezirks- und Kreisführer. Politisch orientierte sich Oberdorffer an der Deutschen Nationalpartei, deren Mitglied er seit 1925 bis zu ihrer Auflösung im Herbst 1933 war. Kurz danach gehörte er zu den ersten Mitgliedern (Nr. 32) der Sudetendeutschen Heimatbewegung und war im Oktober 1933 an der Gründung einer Ortsgruppe in Brüx beteiligt.7 In der Organisation dieser Bewegung beziehungsweise später der Sudetendeutschen Partei (SdP) arbeitete er vor allem in deren kulturpolitischem Amt, wo er ungefähr seit Mitte 1936 für die Neuorganisation der Wissenschaft und Forschung verantwortlich wurde. Er trat damit die Nachfolge →Erich Gierachs an. Ihm wurde zum Beispiel die Planung und Organisation der grosszügigen, im gesamtdeutschen Geiste geführten Veranstaltungen anläßlich der 75-Jahrfeier des Vereins für die Geschichte der Deutschen in Böhmen 1937 anvertraut. Kurt Oberdorffer war vor allem für eine bessere Einbeziehung der Wissenschaften in die „politische und wirtschaftliche Praxis“ und des damit zusammenhängen-

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den Problems steigender finanzieller Schwierigkeiten der deutschen wissenschaftlichen Institutionen zuständig. Er arbeitete einen Plan nach Vorbild der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft in Deutschland aus, der späteren DFG. Es sollte „eine Zentralstelle“ als Dachorganisation der integrierten deutschen Forschung in der Tschechoslowakei errichtet werden, bei der neben den reichsdeutschen Institutionen auch die großen Unternehmer aus der Tschechoslowakei finanziell zu beteiligen waren. In Hintergrund sollte die Henlein-Partei stehen, und Oberdorffer besprach die Angelegenheit vertraulich in der →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG). Im Frühling 1938 waren die Vorbereitungsarbeiten so weit, dass eine Gründungsversammlung bereits angezeigt wurde. Wegen der politischen Mai-Krise in der Tschechoslowakei musste sie aber verschoben werden. Auf „Anordnung“ des Parteiführers der SdP Konrad Henlein fand die Gründungsversammlung der Dachorganisation unter dem Namen „Sudetendeutsche Forschungsgemeinschaft“ (SFG) am 10. Juni 1938 im Deutschen Haus in Prag statt. Der Vertreter der NOFG beschrieb die Institution wie folgt: „Die S.F.G. soll nicht nur eine Wachorganisation der sudetendeutschen Wissenschaft bilden, sondern vielmehr richtungsweisend im nationalen Sinne auf deren einzelne Zweige Einfluss nehmen. Zu diesem Zwecke sollen zum Führungsrat der S.F.G. auch je ein Vertreter der sudetendeutschen Politik und Wirtschaft gehören.“ Ihren Aufbau nahm Oberdorffer mit dem Prager Rechtshistoriker Ernst Swoboda vor. Die SFG sollte sich in fünf Abteilungen gliedern (philosophisch-historische, rechts- und staatswissenschaftliche, medizinische, naturwissenschaftliche, technische), wobei Mitglieder sowohl Vereine und Körperschaften als auch Einzelpersonen werden konnten. Bei der Mitgliedschaft galt der „Arierparagraph“: jüdische Gelehrte und sogenannte „stark verjudete Körperschaften“ waren ausgeschlossen. Die SFG sollte zuerst aus Mitgliedsbeiträgen, später aber aus „Volkssteuern“ finanziert werden und gemäß Oberdorffers engster Zusammenarbeit mit den reichsdeutschen Organisationen insbesondere die Kontakte zur NOFG pflegen.8 Die erste Hauptversammlung der SFG wurde auf den 19. September 1938 nach Leitmeritz (Litoměřice) einberufen, kam wegen der politischen Krise in der Tschechoslowakei jedoch nicht zustande. Das Diktat von München machte schließlich die meisten Zielsetzungen der SFG obsolet. Oberdorffer selbst wurde in der Zeit des Standrechts nach einem sudetendeutschen Putschversuch vierzehn Tage in einem Militärgefängnis in Pilsen festgehalten.9 In der neuen deutschen Verwaltung des Sudetengaues wurde Oberdorffer die Funktion eines Leiters der Gruppe Forschung und Hochschule und Generalbeauftragten für alle wissenschaftlichen Vereine im Amt des Reichskommissars für die sudetendeutschen Gebiete anbefohlen.10 Er war zuerst als Leiter eines neuen Reichsarchivs in Reichenberg vorgesehen, verzichtete aber auf diese Stelle.11 Im Januar 1939 wurde er im Rang eines Sturmbannführers in die SS aufgenommen (Nr. 314.984). Er versuchte die deutschen wissenschaftlichen Institutionen in Sudetengau für die Ziele der NS-Politik neu zu organisieren. Im Herbst 1938 unterstützte er

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aktiv die Bemühungen der deutschen Prager Professoren, die deutschen Hochschulen aus Prag und Brünn in den Sudetengau zu verlegen. Wie er in einer Denkschrift vom 20. Dezember 1938, nach Hitlers Ablehnung des Verlegungsplanes, argumentierte, sollte in Prag ein neues deutsches Kulturinstitut, und nicht die Deutsche Universität die in der Tschechoslowakei wichtige kulturpolitische Aufgabe „des Herauslösens der rassisch wertvollen Menschen aus der fachlich hochgeschulten Schicht des tschechischen Volkes“ übernehmen. Wenn aber die deutschen Hochschulen in Prag bleiben sollten, forderte er ein zentrales Forschungsinstitut für den Sudetengau. Es sollte als „notwendiges wissenschaftliches und kulturelles Rüstzeug“ im Kulturkampf mit dem „in Böhmen zusammengepressten Tschechentums“ in engster Verbindung mit dem NS-Staat, NSDAP, sowie mit dem Netz der NS-Forschung im Reich stehen und der „wirkliche Sammelpunkt aller Kräfte“ werden, „die auf diesem Gebiete [der Landes- und Volksforschung] mit Anforderungen oder Arbeitsbeiträgen aus den verschiedenen Gliederungen der Partei zu erwarten“ seien.12 Das Zentrum der deutschen Wissenschaft auch für das Gebiet der Rest-Tschechoslowakei sollte sich in Reichenberg (Liberec) befinden.13 Nach Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren im März 1939 änderten sich die Pläne wieder. Im Mai wurde Oberdorffer zum Leiter der Abteilung für Kultur- und Gemeinschaftspflege (mit dem Titel Gauverwaltungsdirektor) in die Gauselbstverwaltung bestellt, die ein Glied im Amt des Reichsstatthalters des Sudetengaus in Reichenberg war.14 So gelang es schließlich alle kulturellen und wissenschaftlichen Vereine und Einrichtungen des Sudetengaus unter einheitlicher Oberaufsicht des NS-Staates zu zentralisieren. Ein Jahr später wurde die Idee einer zentralen Forschungsinstitution ins Leben gerufen und am 12. Oktober 1940 die Sudetendeutsche Anstalt für Landes- und Volksforschung eröffnet, die „zu einem Stützpunkt für die gesamte Forschung im Bereiche des Gaues ausgebaut“ wurde.15 Die Anstalt wurde politisch eng mit der Gauverwaltung verbunden: die Stelle des offiziellen Leiters hatte Gauhauptmann Anton Kreißl inne, sein ständiger Vertreter war Oberdorffer mit seinen Untergebenen wie zum Beispiel Franz Runge.16 Die Anstalt sollte so „Staat und Partei in allen Fällen zur Hand sein“. Untergliedert wurde sie in Kommissionen für Raum- und Bodenforschung, Naturforschung, Vor- und Frühgeschichte, Geschichte, →Volkskunde, Siedlungs- und Sprachforschung, Rechts- und Wirtschaftsforschung, Kunst- und Schrifttumsforschung, Rassen- und Sippenforschung und Slawenkunde.17 Oberdorffer übte maßgebenden Einfluss auf die Tätigkeit der Kommissionen aus, vor allem aber auf die der historischen Kommission, deren Leiter Wilhelm Wostry war. Ferner spielte er eine wichtige Rolle im Verein für die Geschichte der Deutschen in den Sudetenländern. Oberdorffer gab mit dem Prager Stadtarchivar Rudolf Schreiber die Zeitschrift für Geschichte der Sudetenländer heraus. Im April 1942 wurde Oberdorffer zur Waffen-SS nach Berlin einberufen und seit Herbst 1942 als Untersturmführer (F) dem Schulungsamt des SS-Hauptamts zugeordnet. Im Oktober 1943 wurde er wieder in sein Amt in Reichenberg abkomman-

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diert. Erst Anfang April 1945 musste er – seiner Nachkriegsdarstellung nach – zur Stabskompanie beim SS-Hauptamt nach Berlin zurückkehren, wurde der 6. SS-Panzerarmee zugeordnet und geriet am 9. Mai in amerikanische Gefangenschaft.18 Die ersten Nachkriegsjahre verbrachte Oberdorffer in Internierungs- und Arbeitslagern in Moosburg und Dachau. Nach Entlassung zu seiner Familie in Bayreuth war er von 1948 bis 1953 einige Zeit arbeitslos, dann betätigte er sich als Hilfsarbeiter, Ausstellungsleiter und schließlich als Sozialreferent in einem Industriewerk in Traunreut. Im April 1953 kehrte er als Leiter des Stadtarchivs und Stadtmuseums Ludwigshafen in sein altes Fach zurück, bis er im Mai 1962 pensioniert wurde. Obwohl der Schwerpunkt seiner Haupttätigkeit nun auf dem Gebiet der Heimatund Geschichtsforschung in Rheinland-Pfalz lag, wurde er 1959 noch außerordentliches Mitglied der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, blieb aber stets aktiv der deutschen →Ostforschung verpflichtet. Seit Anfang der 1950er Jahre war er maßgeblich am Aufleben der sudetendeutschen Geschichtsforschung in der Bundesrepublik Deutschland beteiligt. 1950 wurde er ordentliches Mitglied des →Johann Gottfried Herder-Forschungsrates, von 1955 bis 1968 war er Obmann der Historischen Kommission der Sudetenländer, 1956 gehörte er zu den Gründern des Collegium Carolinums und bis 1958 zu dessen Vorstand. Kurz vor seinem Tod erhielt Oberdorffer die Adalbert-Stifter-Medaille der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Er starb am 10. November 1980 in Traunreut.19

Jiří Němec

1 Jan Opočenský, Vznik národních států v říjnu 1918, Praha 1927, S. 206. 2 SOkA Most, NL Kurt Oberdorfer, 1, Curriculum vitae. 3 BArch, R 153, 1321, Oberdorffer an die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft in Berlin vom 15.3.1934. 4 Kurt Oberdorffer, Das Sudetenland in der deutschen Geschichte, Jena 1938. 5 Die Archivabteilung des „Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen“ (1925–1929), Komotau 1930. 6 Werner Kindt (Hg.), Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933, Bd. III., Düsseldorf 1974, S. 1785. 7 BArch, SSO 354, Lebenslauf und Personalangaben vom 12.3.1939; ebd., PK/RSK II/444, Lebenslauf und Fragebogen zur Bearbeitung des Aufnahmeantrages für die Reichsschrifttumskammer vom 3.2.1939. 8 BArch, R 153, 1642, Bericht über die Gründungsversammlung der SDF von Kurt von Maydell vom 14.6.1938; Oberdorffer an die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften vom 29.6.1938. Vgl. Kurt Oberdorffer, Die Kulturpflege im Sudetengau, in: Zeitschrift für sudetendeutsche Geschichte 3 (1939), S. 275–282, 276. 9 BArch, SSO 354, Personalangaben vom 12.3.1939, Die Verhaftung belief sich vom 23.9.1938 bis zum 9.10.1938. 10 SOAL, Gauselbstverwaltung Reichenberg, 68, 171, Sig. 300/1, Aufbaubericht der Kulturabteilung der Gauselbstverwaltung vom 25.9.1939. 11 Torsten Musial, Staatsarchive im Dritten Reich. Zur Geschichte des staatlichen Archivwesens in Deutschland 1933–1945, Potsdam 1996, S. 74.

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12 BArch, NS 15, 224, Bl. 12–18, Oberdorffer an Rosenberg vom 20.12.1938. Abgedruckt in Gerd Simon (Hg.), Wissenschaftspolitik im Nationalismus und die Universität Prag, Tübingen 2000, S. 44– 47. 13 Vgl. Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?, Baden-Baden 1999, S. 100ff. 14 SOAL, Gauselbstverwaltung Reichenberg, 38, 171, Sig. 300/2, Organisationsstruktur der Reichstaatshalter in Sudetengau – Gauselbstverwaltung, 1941/1942. Die apologetische Darstellung vgl. Kurt Oberdorffer, Eine Rückschau auf die Eigenverwaltung sudetendeutscher Kulturstellen, in: Stifter Jahrbuch 2 (1953), S. 121–132. 15 Zitat von Kurt Oberdorffer, Die Kulturpflege im Sudetengau (wie Anm. 8), S. 279. 16 BArch, R 153, 1553, Broschüre „Eröffnungsfeier der Sudetendeutschen Anstalt für Landes und Volksforschung des Reichsgaues Sudetenland“, Reichenberg 1940; BArch, R 153, 1438, Satzung derselben. 17 SOAL, Gauselbstverwaltung Reichenberg, 38, 171, Sig. 300/1, Kurze Abhandlung für das Reichsadressenwerk der NSDAP, soweit es sich um die Punkte handelt, die der CSV gehören. Zur Tätigkeit der „Anstalt“ vgl.: Ein Jahr Sudetendeutsche Anstalt für Landes- und Volksforschung. Bericht des Anstaltleiters, Gauhauptamt Dr. Anton Kreißl, in der öffentlichen Sitzung vom 12. Oktober 1941, in: Sudetendeutsche Landes- und Volksforschung (Hg.), Aufgabe und Leistung, Reichenberg 1942. 18 StML, Personalakte Kurt Oberdorffer, Eidesstattliche Erklärung vom 25.2.1952. 19 Roland Seeberg-Elverfeldt, Kurt Oberdorffer, in: Der Archivar 34 (1981), S. 569ff.; Karl Bosl, Kurt Oberdorffer zum 60. Geburtstag, in: Bohemia (2) 1961, S. 640–643; Josef Hemmerle, Kurt Oberdorffer – 65 Jahre. Ein sudetendeutscher Kulturpolitiker und Historiker, in: Josef Heinrich (Hg.), Sudetendeutscher Kulturalmanach, München 1966, S. 176ff.

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Theodor Oberländer Theodor Oberländer, geboren am 1. Mai 1905 im thüringischen Meiningen, stammte aus einer Pastoren- und Juristenfamilie. Er gehörte einer Generation an, die während des Ersten Weltkrieges aufgewachsen war, ihre politisch prägenden Erfahrungen aber in den Wirren der Nachkriegsjahre gemacht hatte. Sein Leben war seit frühester Jugend vom antibürgerlich-bündischen Gestus und der Hinwendung nach Osten gekennzeichnet. Oberländer gehörte der bündischen Jugend an, nahm 1923 am Marsch auf die Feldherrnhalle teil und studierte in München, Hamburg und Berlin Agrarwissenschaften (Dr. agr. 1929), dann in Berlin und Königsberg Nationalökonomie (Dr. rer. pol. 1930). Ausgedehnte Reisen zum Studium des Ackerbaus und der jeweiligen politischen und sozialen Zustände führten ihn in den Kaukasus, dann nach China, Japan, Kanada, in die USA und die Türkei. In Königsberg engagierte sich Oberländer im Grenzlandkampf und gehörte zu jener bündisch geprägten nationalkonservativen Elite im Wartestand, die zunächst ohne sichtbare Reibungsverluste in die akademischen Reihen des Nationalsozialismus aufschloss. Mit 28 Jahren per Sondererlaubnis habilitiert, trat er im Sommer 1933 der NSDAP bei und leitete kurze Zeit später das Institut für osteuropäische Wirtschaft an der Universität Königsberg und nahm eine außerordentliche Professur für Agrarpolitik an der TH Danzig wahr. Daneben führte er den Bund Deutscher Osten (BDO) und das ostpreußische Büro des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA). Für den BDO und den VDA baute Oberländer den Nachrichtendienst für die Belange der Volksdeutschen in Osteuropa auf, wobei er geheimdienstliche, wissenschaftliche und politische Erkenntnisse in einzigartiger Weise bündelte. Seiner Meinung nach sollte die Agrarwirtschaft der osteuropäischen Länder mit Hilfe deutscher Fachleute durch eine wirtschaftliche Lösung der Überbevölkerungsfrage grundlegend reformiert werden. Oberländer war dabei bestrebt, die nationalkonservative Nachwuchselite der Wissenschaftler mit den Funktionären der NSDAP zusammenzuführen. Doch passte schon bald nicht mehr zusammen, was er zusammenführen wollte. Die Radikalisierung der ostpolitischen Pläne der NSDAP und das personelle Eindringen der SS in diese Domäne beendeten die Karriere Oberländers. Eine Intrige des Gauleiters Erich Koch und der Gestapo kostete ihm 1937 seine Ämter in VDA und BDO sowie seine Königsberger Professur.1 Oberländer fand Zuflucht beim Chef der deutschen Abwehr, Admiral Wilhelm Canaris, der dem Osteuropakenner 1938 einen Lehrstuhl in Greifswald verschaffte und ihn in den Dienst der Abwehr nahm. Für Canaris konzipierte Oberländer 1940, im selben Jahr zum Professor für Staatswissenschaften in Prag ernannt, die deutsch-ukrainische Freiwilligeneinheit Nachtigall und 1942 den deutsch-kaukasischen Sonderverband Bergmann. Seine positiven Erfahrungen, verknüpft mit Kritik an der deutschen Besatzungspolitik – die osteuropäischen Völker sollten vom Bolschewismus befreit und nicht von Deutschland unterdrückt werden – legte er in sechs Denkschriften nieder, die im Oktober 1943 auf Himmlers direkte Veranlassung

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zu seiner Ablösung als Kommandeur führten. Im März 1945 trat Oberländer als Verbindungsoffizier dem Stab von General Wlassows „russischer Befreiungsbewegung“ bei, von der er mehrere tausend Soldaten in geschickten Verhandlungen im April 1945 an die US-Armee auslieferte und damit rettete. Nach seiner Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft 1946 war Oberländer offiziell als Landwirtschaftsberater tätig. Inoffiziell erstellte Oberländer im Dienste des amerikanischen CIA-Vorläufers Counter Intelligence Corps (CIC) Analysen über die Ukraine und Osteuropa mit seinen antistalinistischen Kräften. Seine Entnazifizierung war deshalb nur eine Formsache und glich einer pragmatischen Sanktion. Politisch gelangte der kämpferische Antikommunist über die FDP zum Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE); ein kurzer Marsch durch die Institutionen beförderte Oberländer zielstrebig an die BHE-Spitze. Bis 1953 war er bayerischer Landesvorsitzender, 1954/55 auch Bundesvorsitzender des Gesamtdeutschen Blocks/BHE. Im Dezember 1950 wurde er Staatssekretär für das Flüchtlingswesen im bayerischen Innenministerium, im Oktober 1953 Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, 1953–65 gehörte er dem Deutschen Bundestag an. Einerseits reklamierte Oberländer namens des BHE die Wiederherstellung des Deutschen Reichs in den Grenzen von 1937 und das Selbstbestimmungsrecht der Heimatvertriebenen. Andererseits förderte er die politische, wirtschaftliche und soziale Integration der über 12 Millionen Vertriebenen und Flüchtlinge in die Bundesrepublik entscheidend (Bundesvertriebenengesetz, Lastenausgleich, Dokumentationen der Vertreibung und der Kriegsgefangenen) und stützte mit den Stimmen des BHE im Bundestag maßgeblich Adenauers Politik der Westintegration. Dieser Spagat spaltete den BHE im Juli 1955; Oberländer wechselte 1956 zur CDU. 1958–64 führte er dort den Vorsitz des Landesverbandes Oder-Neiße, der Vertretung der Vertriebenen innerhalb der CDU. Dank seiner deutschnationalen Einstellung, seines hemdsärmeligen Wesens und seiner Integrationserfolge bildete Oberländer ein bevorzugtes Ziel östlicher Propaganda, die gerade auf die Vertriebenen als sozialrevolutionäres Unruhepotential der Bonner Republik gesetzt hatte. Dazu kam seine Karriere als Ostforscher im Dritten Reich. Theodor Oberländer, der einstige Nachwuchsstar der deutschen →Ostforschung der NS-Zeit, eignete sich als Zielscheibe besser, als Hans Globke oder Heinrich Lübke es in den sechziger Jahren je konnten. Mit Oberländers Namen verbindet sich deshalb die erste DDR-Großkampagne gegen einen prominenten Bonner Amtsträger, der als Symbol dafür dienen sollte, wie weit das Dritte Reich in die zweite Deutsche Republik hineinreichte. Das Zusammenspiel diverser DDR-Institutionen und ihres Personals, die Mechanismen des instrumentalisierten Antifaschismus und seiner eingeübten Rituale wurden hier in großem Stil unter beträchtlichem Aufwand erprobt, um später gerade bei Hans Globke erneut angewandt zu werden. Oberländers Erfolge bei der Eingliederung der Heimatvertriebenen und die Tatsache, dass er mit den Stimmen seiner Partei die Wiederbewaffnung und den Beitritt

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der Bundesrepublik zur NATO ermöglicht hatte, waren seit Sommer 1959 der unmittelbare Anlass, Oberländer als vermeintlichen Kriegsverbrecher zu entlarven. Man warf ihm vor, im Sommer 1941 an der Erschießung von Juden und Polen in Lemberg beteiligt gewesen und auch für den Tod zahlreicher Menschen im Kaukasus verantwortlich zu sein. In einem Schauprozess verurteilte das Oberste Gericht der DDR ihn in Abwesenheit zu lebenslangem Zuchthaus. Auch in der Bundesrepublik Deutschland entfachte der „Fall Oberländer“ zur Jahreswende 1959/60 eine heftige Debatte. Eine Reihe von Journalisten (etwa Bernt Engelmann im Spiegel und Gerd Bucerius in der Zeit) machten sich die DDR-Vorwürfe zu eigen, die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen den Minister.2 Adenauer sah sich schließlich genötigt, ihn zum Rücktritt am 3. Mai 1960 zu bewegen. Obwohl aus den inzwischen zugänglichen Stasi-Akten hervorgeht, dass die Ost-Berliner Regierung die Kampagne mit gefälschten Dokumenten betrieben hatte,3 und die Bonner Staatsanwaltschaft bereits im April 1961 festgestellt hatte, dass die Vorwürfe jeglicher Grundlage entbehrten,4 musste sich Oberländer weiterhin in knapp 100 teils langjährigen Verfahren gegen sie wehren. Seine Gegner, besonders Die Tat und ihr Redakteur Erhard Karpenstein (1961–73) sowie Bernt Engelmann (1982–86), wurden hierbei seitens Ost-Berlins juristisch und geheimdienstlich unterstützt. Auf weite Strecken ist der Fall Theodor Oberländer ein Beispiel einer deutschen Biographie mit Höhen und Tiefen, mit Versuchungen, Stärken und Schwächen – im Dritten Reich oft in der ersten Reihe, in der Bundesrepublik ein Mann der ersten Stunde. Was Oberländer aus dem Kreis der hier Portraitierten heraushebt, ist seine zweite Karriere als Vertriebenenminister. Als hochpolitischer Kopf hat Oberländer die ersten Jahre der Bonner Nachkriegsdemokratie in jeder Hinsicht entscheidend mitgeprägt. Einerseits hat er durch die Integration der Vertriebenen dazu beigetragen, die Bundesrepublik dauerhaft zu stabilisieren. Andererseits hat er durch Wesen und Vita Verfehlungen mancher Art mitgeprägt, mitgetragen, mitverkörpert und mitverantwortet. Dazu gehört insbesondere, zahlreichen Protagonisten der deutschen Ostforschung mit zweifelhafter Vorgeschichte im Dritten Reich neue Betätigungsfelder verschafft zu haben – innerhalb und außerhalb des eigenen Ministeriums.5 Dies erklärt sich durch das klare Feindbild, das Oberländers Leben als inneres Geländer durchzieht. Für Theodor Oberländer war sein Beruf Berufung, denn er sah sich in einer nahtlosen Kontinuität seiner Erfahrungen aus der Vorkriegs- und Kriegszeit. Seit seiner Studienzeit stand der Feind für ihn stets an der gleichen Stelle: links und in Moskau, verkörpert durch den Kommunismus. Gegen diesen Feind kämpfte Oberländer voller Überzeugung seit 1932 unter wechselnden Herren. Als Ostforscher und Offizier des Dritten Reiches und als Experte des CIC war sein immer gleiches Ziel, die Sowjetunion von innen zu schlagen. Auch als Bundesminister sah der erprobte Grenzlandkämpfer sein Ministerium als Kampfplatz an der innerdeutschen Front des Kalten Krieges, wie er gegenüber John McCloy betonte.6 Für ihn war es ein vitales Interesse der Bundesrepublik, die Vertriebenen möglichst schnell

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von einer Interessen- zu einer Erlebnisgemeinschaft werden zu lassen. Adenauer erkannte und nutzte die Vision, die Oberländer mit seinem Amt verband. Umstrittene NS-Karrieren wie die Oberländers konnten dabei auf Adenauers Willen zur weitgefassten Pardonierung rechnen, wenn die Tagespolitik stimmte. Dessen Arbeit für die Vertriebenen bedeutete für Adenauer Innen- und Außenpolitik zugleich. Dennoch fand Adenauer für Oberländers NS-Karriere eine prägnante Formel: „Er war einer von den Anständigeren – nicht von den Anständigen.“7 Oberländer überlebte mit dem Untergang der DDR 1989 und der Sowjetunion 1991 die jahrzehntelang bekämpften Feinde. Ende 1993 wurde das DDR-Urteil von 1960 vom Landgericht Berlin aus formalen Gründen als „rechtsstaatswidrig“ aufgehoben. Seine juristische Rehabilitation in einem Gerichtsverfahren im vereinten Deutschland – Freispruch wegen mangelnden Tatverdachts – sollte er allerdings nicht mehr erleben. Mit Verfügung vom 8. Mai 1998 stellte die Kölner Staatsanwaltschaft die Ermittlungen wegen vermeintlicher Kriegsverbrechen in Lemberg und im Kaukasus gegen ihn ein – eine Woche nach seinem Tode.8 Am 4. Mai 1998 starb Theodor Oberländer. Ostforscher und Offizier unter Hitler, Ostexperte unter Truman und Eisenhower, Bundesminister unter Adenauer. Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern und Schulterband und einer lebenslangen DDR-Haftstrafe, Mitinitiator des zweiten Wirtschaftswunders und Kronjuwel im antifaschistischen Mythenschatz der DDR. Ein deutscher Fall.

Philipp-Christian Wachs

1 BArch, Dy30, IV, 2/13, Nr. 436 V, Personalakte Oberländers, Abschriften seiner Zeugnisse im Archiv des Autors; ebd., Staatspolizeistelle Königsberg an Oberländer vom 26.11.1937 und 7.3.1938; BArch Dy6, 1359 und BStU, Ast 107, 60 (Beiakten zum Oberländer-Prozeß), Bd. 11, Nr. 17–18, SSObergruppenführer Werner Best mit Gutachten der Gestapo über Theodor Oberländer an Heß vom 19.7.1938. Vgl. Philipp-Christian Wachs, Der Fall Oberländer (1905–1998), Ein Lehrstück Deutscher Geschichte, Frankfurt a.M. 2000, S. 38–50. 2 Der Spiegel vom 2.12.1959; „Was ist mit den Nazis in Bonn?“; Die Zeit vom 29.1.1960. 3 BstU, ZUV, 28 (Fall Oberländer), Bände 1 bis 9a und Ast 107 / 60, Bände 1 bis 12, Prozessakten und Unterlagen der DDR-Staatssicherheit zum Fall Oberländer 1957 bis 1986. 4 LG Bonn, 8 Js, 344/59 gegen Hans-Albrecht Herzner unter anderem; 8 Js, 359/60 gegen Otto Fleischer unter anderem; 8 Js, 393/60 gegen Theodor Oberländer. 5 Vgl. Wachs, Oberländer, S. 332–342, mit weiteren Quellennachweisen. 6 Archiv des Autors, Brief Oberländers an John J. McCloy vom 20.5.1955 und das Memorandum des Gesprächs zwischen McCloy und Oberländer am 6.6.1955 in New York. 7 Vgl. Konrad Adenauer: Teegespräche 1959–1961. Bearbeitet von Hans Jürgen Küsters, Berlin 1988, S. 201. 8 LG Bonn, 130 Js, 1/96 gegen Theodor Oberländer, Einstellungsverfügung vom 8.5.1998. Weiterführende Literatur Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt a.M. 1993; Ausschuß für Deutsche Einheit (Hg.), Der Oberländer-Prozeß. Gekürztes Protokoll der Verhandlung vor dem Obersten Gericht der DDR vom 20. bis zum 27.4.1960, Berlin 1960; Aleksander Drozdzynski/Jan Zaborowski, Oberländer. A study in German East politics, Posen 1960; Bernt Engelmann, Die Laufmasche, München

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1980, Theodor Oberländer, Der Osten und die deutsche Wehrmacht. Sechs Denkschriften aus den Jahren 1941–1943 gegen die NS-Kolonialthese. Herausgegeben von der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt, Asendorf 1987; Hermann Raschhofer, Der Fall Oberländer. Eine vergleichende Rechtsanalyse der Verfahren in Pankow und Bonn, Tübingen 1962.

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Eduard Pant Geboren am 29. Januar 1887 in Witkowitz (tschech. Vitkovice) bei Mährisch-Ostrau (tschech. Moravska Ostrava), in einer deutschen katholischen Arbeiterfamilie mit acht Geschwistern, heiratete er 1924 Margarete Kieswetter (1906–1993), die Tochter des Direktors des staatlichen Gymnasiums mit deutscher Unterrichtssprache. Aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor.1 Eduard Pant besuchte die Schulen in Witkowitz, dann in Mährisch-Ostrau und legte dann in Kremsier (Kroměříž) die Matura ab. Nach der Matura 1906 trat er in das Priesterseminar in Kremsier ein. Er verzichtete jedoch bald auf das theologische Studium und begann an der deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag klassische Philologie, Germanistik und Philosophie zu studieren. 1911 legte er seine Doktorarbeit über Vergilius vor. Während seines Studiums war er 1910 Mitglied der katholischen Deutschen Studentenverbindung Vandalia Prag. 1910 begann er seine Tätigkeit als Gymnasiallehrer in verschiedenen Städten Österreichs: Prag, Linz, Wien und Kufstein. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges kehrte er nach Bielitz (poln. Bielsko) zurück, wo er am Gymnasium als Lehrer für Latein und Griechisch bis in die 1930er-Jahre angestellt war. Im Ersten Weltkrieg diente er in den Jahren 1915 bis 1918 als Offizier an der russischen, dann italienischen Front, wo er schwer verwundet wurde.2 Seine politischen und katholischen Aktivitäten waren eng miteinander verbunden. Noch in österreichischen Zeiten trat er der Christlichsozialen Partei bei, die konservativ, klerikal, antiliberal und offen antisemitisch war. In der Zwischenkriegszeit von 1922 bis 1934 gehörte er der Deutschen Katholischen Partei (DKVP), einer bürgerlich-konservativen Partei der deutschen Minderheit in Polen, an. Im Januar 1927 wurde er nach dem Tod von Thomas Szczeponik deren Vorsitzender. Für die Deutsch-Katholische Partei war er von 1920 bis 1926 Mitglied des Stadtrats und Vize-Bürgermeister in Bielitz. Von 1922 bis 1935 war er Abgeordneter im Schlesischen Sejm (zeitweise dessen Vizemarschall und Vorsitzender des Deutschen Klubs). Nach dem Mai-Umsturz 1926 bekämpfte er mehrmals die Minderheitspolitik der polnischen Regierung. Pant gründete und leitete auch den Verband deutscher Katholiken (1926–1934), eine nichtkirchliche Organisation der deutschen Minderheit, die im Streit mit Behörden der schlesischen Wojewodschaft lag, insbesondere mit Wojewode Wojciech Grażyński und mit dem Kattowitzer Bischof Hlond wegen der Diskriminierung und Unterdrückung der Deutschen sowohl auf der politischen als auch der kirchlichen Ebene. Pant war auch überregional aktiv: von 1928 bis 1935 fungierte er als polnischer Senator in der zweiten polnischen Kammer in Warschau. Ab 1929 bis Mitte 1934 war Pant stellvertretender Geschäftsführer des Deutschen Volksbunds, des Dachverbands für die politischen, kulturellen, caritativen und wirtschaftlichen Vereinigungen der Deutschen im polnischen Teil Oberschlesiens. Gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Volksbundes wandte er sich gegen die antideutsche Politik des Wojewo-

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den Grażyński. Er trat international auf, indem er die Anklage gegen Polen im Völkerbund in Genf einreichte wegen der Unterdrückung der deutschen Minderheit in Polen. Er bezog auch kritisch Stellung gegen Otto Ulitz, den führenden Vertreter der deutschen Minderheit in der Wojewodschaft Schlesien, den er beschuldigte, den Volksbund autokratisch zu leiten. Der Journalismus wurde sein unermüdliches Arbeitsfeld. Zwischen 1922 und 1926 redigierte Pant in Bielitz die Oberschlesische Post, das Organ der DVKP. Von 1926 bis 1930 wurde er in Königshütte Chefredakteur der größten deutschen Tageszeitung Polens, dem Oberschlesischen Kurier. Zugleich fungierte er als Vorsitzender des Aufsichtsrats Der Kurier GmbH. Danach gründete er die gegen den Nationalsozialismus gerichtete katholisch-konservative Wochenzeitung Der Deutsche in Polen (1934 bis 1939).3 Den Wendepunkt in Leben und Tätigkeit von Pant bildete Hitlers Machtübernahme in Deutschland. Pant lehnte den Nationalsozialismus wegen dessen Unvereinbarkeit mit der christlich-katholischen Weltanschauung ab. Er verwahrte sich gegen die Instrumentalisierung der deutschen Minderheiten im Ausland für nationalsozialistische Interessen ebenso wie gegen die Selbstanpassung der Minderheiten an die politische Führung im Dritten Reich. Unter dem Druck der reichsdeutschen nationalsozialistischen Stellen verlor er im Verlauf eines Jahres seinen politischen Einfluss im Volksbund und im Verband deutscher Katholiken und wurde von seinen politischen Leitungsfunktionen abgesetzt. Noch 1933 vertagte die DVKP eine Zusammenarbeit mit den deutschen Nationalsozialisten im Volksbund. Er gestaltete die DVKP in eine Deutsche Christliche Volkspartei (1934) um und wurde bis zu seinem Tod 1938 deren Vorsitzender. Pant versuchte vergeblich die nationalsozialistischen Einflüsse in der deutschen Minderheit in Polen einzuschränken. Aus seiner Initiative entstand 1938 eine neue Organisation der deutschen Minderheit, der Verband der Deutschen in Polen. Beide Organisationen spielten allerdings keine Rolle im politischen Leben der deutschen Minderheit. Pant versuchte das nationalistisch-völkische Denken auch auf internationaler Ebene zu überwinden. 1937 war er Mitbegründer des Deutschen Verbandes zur nationalen Befriedung Europas mit Sitz in Wien, über die er gemeinsam mit anderen europäischen Minderheiten-Vertretern ein friedliches Zusammenleben von Staaten und Nationalitäten aufgrund der Kulturautonomie förderte. Pant verwahrte sich gegen den →Antisemitismus und die Judenverfolgung in Nazi-Deutschland mit seiner Unterschrift unter die Denkschrift „Die Kirche Christi und die Judenfrage“. Pant starb eines natürlichen Todes am 20. Oktober 1938 in Katowice. Zu seinem vorzeitigen Tod trug wahrscheinlich die Verwundung bei, die er im Ersten Weltkrieg erlitten hatte.

Zdzisław Gębołyś

1 Eduard Pant, in: Kto był kim w Drugiej Rzeczypospolitej. Red. Nauk. Prof. Jacek J. Majchrowski przy współpr. Grzegorza Mazura i Kamila Stepana, Warszawa 1994, S. 537; Pant Eduard, in: E-ncy-

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klopedia, Historia Kościoła na Śląsku, http://www.encyklo.pl/index.php5?title=Pant_Eduard (5.2.2017); Sebastian Rosenbaum, Eduard Pant: próba kreacji symbolu, in: Leksykon mitów, symboli i bohaterów Górnego Śląska XIX i XX wieku. Praca zbiorowa pod red. Bernarda Linka i Andrzeja Michalczyka, Opole 2015, S. 191–193; Pant Eduard, in: Franz Heiduk, Oberschlesisches LiteraturLexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch, Teil 2 I-P, Berlin 1993, S. 183; Konrad Pant, Erinnerung an Eduard Pant, in: Oberschlesisches Jahrbuch, Bd. 14/15, 1998/1999, Hg. Hans-Ludwig Abmeier, Heidelberg 2000, S. 185–192; Pia Nordblom, Für Glaube und Volkstum. Die katholische Wochenzeitung „Der Deutsche in Polen“ (1934–1939) in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Paderborn 2000; Pia Nordblom, Pant Eduard, in: Neue Deutsche Biographie (NDB). Bd. 20, Berlin 2001, S. 39f.; dies., Eduard Pant (1887–1938), in: Joachim Bahlcke (Hg.), Schlesische Lebensbilder, Bd. 9, Neustadt an der Aisch 2007, S. 361–372; dies, Mniejszość w mniejszości – Eduard Pant i jego koło, in: Śląskie prace bibliograficzne i bibliotekoznawcze 62 (2003), S. 227– 254; dies. Dr. Eduard Pant. Biographie eines katholischen Minderheitenpolitikers in der Woiwodschaft Schlesien (bis zum Jahr 1932), in: Oberschlesisches Jahrbuch, 3 (1987), S. 112–146; Przemysław Hauser, Pant Eduard, in: Polski Słownik Biograficzny. Padło Jan – Piątkiewicz Aleksander. T. 25, Wrocław 1990, S. 147–148; Jan Łączewski, Eduard Pant. Sylwetka śląskiego Niemca-antyfaszysty, in: Studia Śląskie (1984), T. 43, S. 229–245. 2 Rosenbaum, Eduard Pant, S. 191f; Nordblom, Für Glaube und Volkstum; dies., Pant Eduard, S. 39f.; dies., Mniejszość w mniejszości, S. 227f.; dies., Dr. Eduard Pant, S. 112f.; Przemysław Hauser, Pant Eduard, S. 147f.; Jan Łączewski, Eduard Pant, S. 229f. 3 Nordblom, Für Glaube und Volkstum; dies., Pant Eduard, S. 39f.; dies., Mniejszość w mniejszości, S. 227f.; dies., Dr. Eduard Pant, S. 112f.; Przemysław Hauser, Pant Eduard, S. 147f.; Łączewski, Eduard Pant, S. 229f.

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Johannes Papritz Johannes Papritz gehört durch sein Engagement in der →Ostforschung einerseits sowie in der Archivwissenschaft andererseits zu jenen Repräsentanten, denen die Verknüpfung beider Wissenschaftszweige vor allem in der Zeit vor 1945 karriereförderlich war. Papritz zeigt darüber hinaus, wie sich das wissenschaftliche Wirken in den Systemen der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus, aber auch der Bundesrepublik seinen Weg bahnen konnte. Er wurde in Berlin-Charlottenburg am 19. April 1898 geboren, studierte nach seinem Militärdienst noch während des Ersten Weltkrieges dort und in Jena in den Jahren 1919 bis 1923 Archäologie, Germanistik und klassische Philologie für das höhere Lehramt. Er promovierte mit einer Arbeit über „Das Stettiner Handelshaus der Loitz im Boisalzhandel des Odergebietes unter besonderer Berücksichtigung seiner Beziehungen zum brandenburgischen Kurhause“.1 Entsprechend der Zäsuren der politischen Systeme lässt sich das wissenschaftliche Wirken Johannes Papritz’ in drei Phasen teilen: Die erste Phase von 1923 bis 1944 umschließt seinen Eintritt in die Archivlaufbahn am Preußischen Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem, seine Tätigkeit am Staatsarchiv Danzig, den Aufbau des Archivs in der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen sowie schließlich die Geschäftsführung der sogenannten Publikationsstelle Berlin-Dahlem (PuSte BerlinDahlem) und der →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG). Die zweite Phase von 1944 bis 1969 ist von der Überführung der →Publikationsstelle Berlin-Dahlem und der NOFG in die Nachkriegszeit und schließlich in die Bundesrepublik, aber auch von einer neuen Orientierung seiner Tätigkeit auf dem Gebiet der Archivwissenschaft geprägt. In der dritten Phase von 1969 bis 1992 zog sich Papritz durch seine Pensionierung weitestgehend aus der Osteuropaforschung und der Archivwissenschaft zurück.2 Die erste Phase seiner wissenschaftlichen Karriere nimmt den wohl nachhaltigsten Anteil seiner Laufbahn ein. Nach Abschluss seines Studiums trat er 1923 durch einen zweijährigen Archivlehrgang am Preußischen Geheimen Staatsarchiv in den Archivdienst ein, woran sich 1925 eine erste Anstellung im selben Haus anschloss, bevor er 1927 durch seinen Wechsel an das Staatsarchiv Danzig einen wegbereitenden Schritt einschlug. →Albert Brackmann, Generaldirektor der Preußischen Archive, übertrug Papritz, der 1929 nach Berlin zurückgekehrt war und zum Staatsarchivdirektor ernannt wurde, im selben Jahr den Aufbau eines Archivs für die Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen, das auch räumlich dem Geheimen Staatsarchiv angeschlossen war. Zu seinen Aufgaben gehörte die Sicherung der durch den Gebietsverlust an Polen gefallenen Archivalien Posens und Westpreußens sowie die Führung von Verhandlungen mit Polen zur Zusammenführung von für Deutschland interessanten Akten in Berlin.3 Eine weitere Vertiefung der Verbindung von Ostforschung und Archivtätigkeit wurde durch die auf Engagement Brackmanns institutionalisierte Publikationsstelle

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Berlin-Dahlem im Januar 1933 möglich, einer „Abwehreinrichtung Preußens“.4 Schon ihr Vorläufer, der Publikationsfond, stand unter Papritz’ Leitung. Verfestigt wird die Verbindung zwischen archivischer und Ostforschungsarbeit bei Papritz durch die Übernahme der Geschäftsführung der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft, die im Dezember 1933 vorerst als Nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft entstand. Neben den direkten politischen Kontakten steht Papritz’ Engagement beispielsweise für die vom Bund Deutscher Osten (BDO) 1933 veranstaltete große Ostausstellung, die die „Leistungen“ der Deutschen im Osten Europas herauskristallisieren sollte, und für die Papritz den „Führer durch die geschichtliche Abteilung“ anfertigte. Johannes Papritz blieb für die Geschäftsführung der Publikationsstelle BerlinDahlem vom Staatsarchiv auch dann noch abgeordnet, als ihre institutionelle Verbindung mit dem Geheimen Staatsarchiv 1938 durch ein eigenes Gebäude gelöst und seitdem das Reichsministerium des Innern direkte Zuständigkeit erhielt. Neben der Geschäftsführung oblag ihm die Leitung des Skandinavienreferates. An den der PuSte Berlin-Dahlem zugedachten Aufgaben der Errichtung einer Bibliothek, der Erstellung von Karten und Bevölkerungsstatistiken zu Nationalitätenfragen, der Festlegung neuer Ortsnamen in den neuen Ostgebieten, der Eindämmung der Nutzung der Archivalien durch polnische Wissenschaftler, der Herausgabe der Zeitschrift Jomsburg, der Zusammenarbeit mit dem Reichsministerium des Innern beziehungsweise dem Reichspropagandaministerium und der Sammlung von für das Auswärtige Amt aufbereiteten Presseauszügen war er als ihr Geschäftsführer maßgeblich beteiligt. Im Zuge der Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt nahm Papritz zu unterschiedlichen Grenzziehungsfragen Stellung. Hierzu gehört unter anderem sein „Bericht über die Tätigkeit des Ausschusses für die endgültige deutsch-tschechische Grenzziehung“, aber auch die Teilnahme an Beratungen zum Verlauf der deutschpolnischen Grenze. Politisch relevant waren daneben Karten und Atlanten, die die Publikationsstelle Berlin-Dahlem über die Siedlungsverhältnisse in den Ostgebieten anfertigte. Michael Fahlbusch konnte die Verwendung von Bevölkerungskarten im Militär während des Zweiten Weltkrieges nachweisen.5 Zu den politisch bedeutsamen Projekten gehörte auch die Führung eines Exemplars der →Deutschen Volksliste (DVL) in der PuSte Berlin-Dahlem, die der Erfassung der Volksdeutschen in den ins Deutsche Reich eingegliederten Ostgebiete und der Selektion von Berechtigten für die deutsche Staatsbürgerschaft und damit der ethnischen Segregation galt.6 Im Januar 1940 erhielt Papritz zudem die Leitung der Archivkommission für Estland und Lettland, deren Aufgabe die Suche und Sicherung von Archivalien mit dem Ziel der „Festigung des deutschen Volkstums“ war.7 Weiterhin übernahm er die Mitgliedschaft im deutsch-lettischen sowie deutsch-estnischen Kulturgüterausschuss.8 Papritz war Mitglied des Stahlhelms und seit 1937 der NSDAP. 1944 erfolgte eine erneute Umorientierung der Publikationsstelle Berlin-Dahlem durch die Auflösung der für sie verantwortlichen Abteilung VI des Reichsministeriums des Innern. Sie wurde, wie die anderen →Publikationsstellen in Innsbruck, Wien und Frankfurt a.

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M. auch, der Abteilung VI G im Reichssicherheitshauptamt unterstellt. Dadurch bekam die SS Einfluss auf die Publikationsstelle. Die zweite wissenschaftliche Schaffensphase Papritz, ist ganz wesentlich von der Überführung der Publikationsstelle und der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft in die Nachkriegszeit und die Bundesrepublik geprägt. Nachdem das Gebäude der Publikationsstelle 1944 in Berlin durch einen Bombentreffer in Mitleidenschaft gezogen wurde, schien eine Evakuierung der Arbeitsstätte und der Bestände unausweichlich. So kam es in Begleitung von Papritz zu einer Verlagerung der Publikationsstelle über Bautzen nach Coburg, wo die amerikanische Besatzungsmacht ihre Bestände schließlich beschlagnahmte. Die räumliche Veränderung hatte eine Trennung von Nord- und Ostdeutscher Forschungsgemeinschaft und Publikationsstelle zur Folge.9 Papritz erhielt nun den Auftrag, die durch die Umzüge stark verwüsteten Bestände der Publikationsstelle zu ordnen. Über den Verbleib der durchaus als wertvoll erkannten Bibliothek der Publikationsstelle gab es recht schnell weitreichende Vereinbarungen mit deutschen Universitätsbibliotheken, die im wesentlichen Papritz führte. Obgleich die Verhandlungen mit Hamburg bereits abgeschlossen waren, konnte auch Papritz einen Abtransport der Bücher in die Library of Congress in Washington nicht verhindern.10 Für Papritz bedeutete weniger das Jahr 1945 als vielmehr das Jahr 1944 einen Einschnitt in seiner Karriere, da die organisatorische und räumliche Veränderung der Publikationsstelle eine vorübergehende Verunsicherung mit sich brachte. Allerdings verstummten Überlegungen, die Publikationsstelle nicht weiterzuführen, schnell, da das Interesse an einer Fortsetzung der auf Ostmitteleuropa bezogenen Arbeiten politisch und wissenschaftlich auch nach 1945 weiterhin präsent war.11 Die Ämterbesetzung allerdings verschob sich lediglich und wurde nicht von Grund auf neu in Angriff genommen. So übernahm Papritz in der Nachfolgeinstitution der Publikationsstelle, dem →Johann Gottfried Herder-Institut in Marburg, zwar keine Funktion, aber in dem die Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft ablösenden Johann Gottfried Herder-Forschungsrat den Posten des Ersten Stellvertreters. Beide Einrichtungen waren nach 1945 gänzlich vom Archivwesen gelöst und so trennten sich diese Bereiche auch für Papritz. Wohl nicht zuletzt wegen der materiell sichereren Verbeamtung im Hessischen Staatsarchiv Marburg und der damit verbundenen Lehrtätigkeit an der Archivschule Marburg begrenzte sich Papritz nach 1945 auf eine ehrenamtliche Tätigkeit im Johann Gottfried Herder-Forschungsrat. Zum 1. Januar 1949 erfolgte die Ernennung Papritz’ zum Staatsarchivrat, 1954 zum Staatsarchivdirektor und Leiter der Archivschule. Seine Wiederverwendung erschien auch durch die schon 1946 erfolgte Entnazifizierung durch die Spruchkammer der Stadt Coburg legitim, zumal ein Verzicht auf sein organisatorisches Talent und sein weites personelles Netz als unverzichtbar galt.12 In seiner dritten wissenschaftlichen Phase legte Papritz die vierbändige „Archivwissenschaft“13 als Abschluss seiner Lehrtätigkeit in Marburg vor, zog sich dann aber zurück um sich der Landeskunde und Archäologie zu widmen. Papritz starb

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am 20. Juli 1997 in Marburg.14 Hinsichtlich der Bewertung seiner Person, die erst in den 1980er Jahren einsetzte, widmete die Geschichtswissenschaft Papritz bislang die unvergleichbar größere Aufmerksamkeit und sie ist sich weitestgehend einig über die tiefgehenden Verstrickungen seiner Tätigkeit mit dem NS-Herrschaftssystem, seiner politischen Konformität und der in ihm personifizierten Kontinuität wissenschaftlicher Tätigkeit nach 1945. Die Archivwissenschaft hingegen unterscheidet in ihrer Beurteilung zwischen den Verdiensten für die Etablierung der bundesdeutschen Archivwissenschaft und seiner Verflechtung mit der NS-Ostforschung und NS-Archivpolitik.15

Thekla Kleindienst

1 Johannes Papritz, Das Stettiner Handelshaus der Loitz im Boisalzhandel des Odergebietes unter besonderer Berücksichtigung seiner Beziehungen zum brandenburgischen Kurhause, Berlin 1932. Wichtige Informationen zur Person von Papritz finden sich in der Dokumentensammlung des Herder-Instituts in Marburg unter der Signatur DSHI 200 HFR/HI, in den Akten BArch, R 153, in seinem persönlichen Nl des HSTAM unter der Signatur 340 und im wissenschaftlichen Nl der Archivschule Marburg. 2 Fritz Wolff nimmt eine andere Einteilung seiner Schaffensphasen vor: 1. 1929–1948, 2. 1949–1969, 3. ab 1969: ders., Archivwissenschaft und Archivpraxis bei Johannes Papritz, in: Angelika MenneHaritz (Hg.), Archivische Erschließung – Methodische Aspekte einer Fachkompetenz, Marburg 1999, S. 11–24. 3 Wolfgang Hassel, Rolle und Funktion des Grenzmarkenarchivs im Dienste des deutschen Revanchismus und die Fortführung seiner Traditionen durch das Geheime Staatsarchiv in Westberlin, in: Archivmitteilungen 6 (1971), S. 214–219. 4 Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 20022, S. 112. 5 Vgl. Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Baden-Baden 1999, S. 221, 551ff., 565ff. 6 Ingo Haar, Deutsche „Ostforschung“ und Antisemitismus, in: ZfG 6 (2000), S. 485–508, 502ff.; STAM, Nl Papritz, C 12 d 63, 65, 79. 7 Torsten Musial, Staatsarchive im Dritten Reich. Zur Geschichte des staatlichen Archivwesens in Deutschland 1933–1945, Potsdam 1996, S. 139. 8 Fahlbusch, Wissenschaft, S. 557. 9 STAM, 340 Nl Papritz, C 12 d 40, Albert Brackmann an Wilfried Krallert vom 14./15.2.1944. 10 STAM, 340, Nl Papritz, C 12 d 42, 2, Handakten Papritz, Verhandlungen mit Hamburg 1946–47; ebd., C 12 d, Nr. 106/II.; ebd., C 12 d 41, 3, Handakten Papritz, Denkschriften über die Publikationsstellen von 1946. 11 Archiv des Herder-Instituts in Marburg, DSHI 200, 11, Verkehr mit Bonner Ministerien. 12 STAM, 340 Nl Papritz, C 12 a, 11, 2, 1945, J. Papritz, Staatsarchivdirektor, Wissenschaftlicher Lebenslauf, 2. Fassung. 13 Johannes Papritz, Archivwissenschaft, 4 Bd., Marburg 19832. 14 Vgl. Bernhardt Jähnig, Johannes Papritz, in: Preußenland 1 (1997), S. 24ff. 15 Nils Brübach, Johannes Papritz (1898–1992) und die Entwicklung der Archivwissenschaft, in: Der Archivar 4 (1998), Sp. 573–588; ders., Johannes Papritz, in: NDB, Berlin 2001, S. 56f.

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Rudolf Pechel Rudolf Ludwig August Martin Pechel wurde am 30. Oktober 1882 in der mecklenburgischen Residenzstadt Güstrow geboren und starb als vielfach geachteter Publizist und Oppositioneller gegen den Nationalsozialismus am 28. Dezember 1961 in Zweisimmen im Schweizerischen Kanton Bern. Aus einer Lehrerfamilie stammend, erfuhr Pechel den klassischen Bildungsgang in Güstrow, bevor er nach einer kurzen Militärzeit in Göttingen und Berlin studierte: wohl neben Germanistik und Philosophie auch Nationalökonomie und Englisch – eine ebenso breite wie hinsichtlich der innovativen Nationalökonomie moderne Studienwahl. Bereits kurz nach seiner Promotion und Tätigkeiten in Weimar und am Märkischen Museum in Berlin wurde er Redakteur des „Literarischen Echos. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde“. Ab April 1919 war Pechel Herausgeber der Deutschen Rundschau.1 Damit hielt er ein Publikationsorgan in der Hand, das er intensiv in Richtung der nationalistischen und zugleich ultrakonservativen Publizistik seiner Zeit umformte. Den Konservativen Revolutionären um Arthur Moeller van den Brucks Juniklub, den diesem nachfolgenden Herrenklub und der Ring-Bewegung trat er aktiv bei und beförderte diese radikalnationalistischen Ideen offensichtlich „polemisch und zunehmend fanatisch“.2 Betrachtet man neben diesen biographischen Notizen die unten ausgeführten Verbindungen und Tätigkeitsfelder Rudolf Pechels, so wird deutlich, das Pechel einer der wichtigsten Exponenten der konservativ-nationalistischen, anti-Versailler Bewegung der Weimarer Republik war. In besonderer Weise stand ihm dafür neben der Deutschen Rundschau, die er konsequent in diese Richtung steuerte, die Arbeitsgemeinschaft deutscher Zeitschriften für die Interessen des Grenz- und Auslanddeutschtums zur Verfügung. Mit dieser gewann Pechel Einfluss weit über das nationalkonservative Lager im Reich hinaus. Zugleich geriet er durch die Überführung der Deutschen Rundschau in seinen eigenen, neu gegründeten Verlag, bereits ab 1924 nicht nur in den Einfluss sondern in direkte Steuerung durch die Weimarer Minderheiten- und Deutschtumspolitik der Deutschen Stiftung und des Auswärtigen Amtes.3 Nach der Gründung der Deutschen Akademie (Deutsche Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums) 1929 wurde er als deren Senator berufen und arbeitete auch auf dieser Ebene zukünftig eng mit den bis in die 1930er Jahre wegweisenden Figuren einer Raum- und Volksordnung zusammen, so →Max Hildebert Boehm und dem Akademiegründer →Karl Haushofer. Zugleich war Pechel Mitarbeiter der →Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung (1926–1930) in Leipzig.4 Mit der Übernahme der Steuerung der Volkstumspolitik ab spätestens 1932 durch die völkisch-nationalistischen und opportunistischen Kreise um →Werner Hasselblatt – ab 1931/32 Rechtsberater des Verbands der Deutschen Volksgruppen

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in Europa – oder →Karl Christian von Loesch, den Vorsitzenden des Deutschen Schutzbundes, hatte Pechel mit seiner Arbeitsgemeinschaft und mit der Deutschen Rundschau eine klare Zukunftsperspektive. Diese war auch nach dem Aufkauf seines Verlages durch eine der →Deutschen Stiftung und damit dem Reich gehörende Tarnfirma5 – die Ossa – abgesichert. Die Verbindung ermöglichten ihm die Herausgabe des von →Wilhelm Winkler erstellten Statistischen Handbuchs des gesamten Deutschtums im Jahre 1927, einem der wichtigsten Renommierprodukte der statistischen Erfassung deutscher Siedlungs- und Vermögensstrukturen.6 Aus Sicht der Deutschtumsverbände sollte damit der Revisionspolitik gegenüber Versailles, der gesamtvölkischen Idee einer Förderung und Pflege deutschen Volkstums in Europa und einer dissimilatorischen Politik gegenüber anderen „Völkern“ zur Durchsetzung verholfen werden. Dissimilation bedeutete dabei nichts anderes als eine Vorform der Apartheid aus völkischem, bei Pechel zumindest nicht im rassischen Sinne.7 Pechels Bedeutung für die völkische Bewegung bemisst sich neben diversen organisatorischen und publizistischen Tätigkeiten, so auch im Vorstand des Deutschen Schutzbundes für die Interessen des Grenz- und Auslanddeutschtums, an seiner Mitwirkung in der Deutschen Akademie sowie insbesondere an der Arbeitsgemeinschaft deutscher Zeitschriften für die Interessen des Grenz- und Auslandsdeutschtums. Letztere hatte die neben der Deutschen Rundschau direkteste Wirkung in die Öffentlichkeit und war damit weit weniger ein publizistisches denn ein sehr direkt politisches Handlungsorgan im völkisch-nationalen Umfeld. Mit der Gründung des Verbands der Deutschen Volksgruppen in Europa als internationaler Vertretung der deutschen Minderheiten Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa wurde spätestens seit 1924 klar, dass es neben einer realpolitischen nationalen Ebene auch einer Aktivierung internationaler Organisationen für die Minderheitenarbeit bedurfte. Damit einher ging bei den Deutschbalten sowie den deutschen Minderheitenorganisationen aus Polen und Rumänien (den Siebenbürger Sachsen) die Absicht, eine publizistische Aktivität aufzubauen, und zugleich vom Auswärtigen Amt der Wille, derartige Aktivitäten zu unterstützen. Ziel war es, neben den minderheitlichen Petitionen vor dem Völkerbund in Genf auf Basis der Minderheitenschutzverträge, welche mit den Pariser Vorortverträgen für nahezu alle neu- oder wiedererrichteten Staaten Europas von den Alliierten Mächten durchgesetzt worden waren, auch eine entsprechende publizistische Lobbyarbeit zu entfalten. Daneben sollte die theoretisch-wissenschaftliche Diskussion über die Rechtsnormen des Minderheitenschutzes im Rahmen der International Law Association, der Interparlamentarischen Union (IPU), der Union Catholique d’Études internationales, des Weltbunds für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen und der Völkerbundligenunion geführt und – für die deutschen Minderheiten – gesteuert werden.8 Die Deutschtumspolitik des Reiches gegenüber den im Reich lebenden nationalen Minderheiten (Polen, Sorben, Litauer und – nicht anerkannt als solche – Friesen), die Politik zur Sicherung der deutschen Minderheiten in Ostmittel-, Südost- und Osteu-

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ropa sowie die konsequente Verbindung beider Politikfelder miteinander und mit einer Revision gegen den Versailler Vertrag und seine wirtschaftlichen und territorialen Folgen sollten im Mittelpunkt dieser Tätigkeit stehen. Diese Ziele waren zugleich Kernpunkte der jungdeutschen Revolutionäre um Moeller van der Bruck und damit auch Kernidentität der politischen Haltung Rudolf Pechels.9 Das Ziel bestand letztlich darin, durch öffentliche Kampagnen den Völkerbund zu nötigen, die Minderheitenfrage auf die Tagesordnungen von Rat und Vollversammlung zu setzen10 und möglichst eine Permanente Minderheitenkommission zu erzwingen.11 Gesellschaften für Völkerrechts- und Völkerbundfragen, der Ausschuss für Nationalitätenrecht12 Max Hildebert Boehms als eher politikwissenschaftliche Einrichtung, die Deutsche Liga für den Völkerbund unter Vorsitz Otto Junghanns oder schließlich die Deutsche Gesellschaft für Völkerbundfragen leisteten dabei intensive Unterstützung als zum Teil parlamentarisch-demokratisches Umfeld und zum Teil völkische Plattform (auch) für die Minderheitenarbeit. Vor allem die antipolnischen Positionen, die zwar der Politik der Wilhelmstrasse und des Preußischen und Reichs-Innenministeriums absolut entsprachen, die aber offiziell nicht geäußert werden konnten, so Reden Kurt Graebes als deutschem Vertreter aus Bydgoszcz/Bromberg auf dem Kongress der Interparlamentarischen Union in Ottawa 1925, die scharf gegen Polen agitierten, sowie auf der IPU-Tagung im gleichen Jahr in Washington, in der dieser die theoretischen Debatten um die Minderheitenrechte kritisierte und anstatt dessen härtere und konsequentere Aktionen forderte, um die Rechte der Minderheiten realpolitisch durchzusetzen, konnten so veröffentlicht werden.13 Carl Georg Bruns, bis zu seinem Tode 1931 der Rechtsberater und damit faktisch Generalsekretär des Verbands der Deutschen Volksgruppen in Europa, charakterisierte 1926 die Minderheitenpropaganda als wichtigstes Mittel der Deutschtumspolitik14 – eine moderne Medienpolitik also. Bevor die Organisationen der reichsdeutschen Volkstumsverbände, das →Deutsche Ausland-Institut in Stuttgart oder gar der Verband für das Deutschtum im Ausland diese Linie erkannt hatten, hatte bereits im Jahr 1921 Rudolf Pechel die Bedeutung der Zeitschriften für die Pressearbeit auch des Deutschtums im Ausland beschrieben und damit die Notwendigkeit einer intensiven Zusammenarbeit begründet.15 Bereits im selben Jahr 1921 wurde die Arbeitsgemeinschaft deutscher Zeitschriften für die Interessen des Grenz- und Auslanddeutschtums gegründet – wohl von Pechel selbst und dem Schutzbund-Vorsitzenden Karl Christian von Loesch. Deren Leiter wurde konsequenterweise als Fachmann und politischer Kopf Rudolf Pechel.16 Die eigentliche Gründung sowie Details zur weiteren Personalausstattung und den finanziellen Mitteln bleibt derzeit infolge fehlender Überlieferung noch unklar. Die ideologische Grundlage auch für Pechels Arbeit fasst ein 1929 verabschiedetes Exposé des Europäischen Nationalitätenkongresses, wohl verfasst von einem deutschen Autor aus dem Umfeld der Herausgeber von →Nation und Staat mit dem

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Titel „Die Aufgabe der Minoritätenpresse“ zusammen: als Zielvorgaben für die minderheitliche Presse der werden darin definiert: „Aufgaben volksgemeinschaftlichheimatlicher Natur, […] staatsgemeinschaftlicher Natur, […] volksgemeinschaftlichüberstaatlicher Natur, [… Aufgaben] in Bezug auf die Solidarität der Nationalitäten untereinander im gleichen Lande, sowie in gesamteuropäischen [sic] Rahmen; […] Aufgaben der Kulturvermittlung zwischen dem Mehrheitsvolke und dem Stammvolke, zu dem die Minderheiten gehören; […] Aufgaben in Bezug auf eine Förderung des europäischen Friedens.“17 Betrachtet man diesen Text genauer, so stellt man fest, dass hierbei die Themen Solidarität und Beziehungen der jeweiligen Minderheiten zu ihrem „Stammvolk“, also dem konnationalen Gesamtvolk, in strikt völkischer Haltung definiert sind. Zugleich soll die Minderheit eine völkerverständigende Rolle übernehmen („Kulturvermittlung zwischen dem Mehrheitsvolke und dem Stammvolke“, die sich aber ausschließlich auf die Identität als ein Gesamtvolk bezieht, mithin regionale oder lokale Identitäten und Verbindungen mit der Titularnation des Heimatstaates oder den anderen im Heimatstaat lebenden Minderheiten nur in der Form propagieren soll, dass die Minderheiten ein Teil einer großen „überstaatlichen →Volksgemeinschaft“ sein sollen). Bedenkt man dabei, dass ein erheblicher Teil der in Europa lebenden Minderheitengruppen eine solche Ideologie nicht oder nur in Ansätzen oder mit anderen als mit völkischen Grundsätzen für sich reklamierte, sieht man hier die manipulative Fixierung auf eine reichsdeutsche Minderheitenpolitik in Verbindung eines verstreut siedelnden Gesamtvolkes.18 Und in Verbindung mit der Rede des Reichsaußenministers Gustav Stresemann vor dem Völkerbundsrat just 1929 gewinnt diese Idee eine noch die weitergehende Bedeutung: Stresemann reklamierte dabei die Schutzfunktion des Deutschen Reiches für die deutschen Minderheiten im Ausland als eine logische Konsequenz der Zusammengehörigkeit der deutschen Minderheiten und des deutschen Staatsvolkes als eines unteilbaren Ganzen. Setzt man dazu die Minderheitensolidarität in Bezug, die in dem Exposé zur Pressearbeit als ein Ziel aufgestellt wird, so wird sehr schnell klar, dass eine unter dieser Idee geförderte oder gar gesteuerte Presse- und Minderheitenpolitik für die Deutschen nur eine enge Führung durch das Reich bedeuten konnte. Damit war spätestens klar, dass die Pressepolitik der deutschen „Volksgruppen“ eine reichs- und preußisch gesteuerte sein würde. Nicht umsonst wurde 1927 auf Mit-Initiative preußischer und reichsdeutscher Behörden gegründete Nation und Staat sofort nach ihrer Gründung Mitglied in Rudolf Pechels Arbeitsgemeinschaft. Dies geschah jedoch, um den Anschein der Unabhängigkeit vom Reich zu wahren, nicht offiziell. Carl Georg Bruns, der Rechtsberater des Verbands der Deutschen Volksgruppen in Europa, welcher auf Druck des Deutschen Schutzbundes nicht in der Redaktion der Zeitschrift saß, nahm für sie an den Sitzungen der Arbeitsgemeinschaft teil.19 Spätestens 1927 erfolgte auch eine grundsätzliche Diskussion über den Nutzen von Presse und Publikationswesen für die deutschen Minderheiten im Ausland, insbesondere für die Internationalisierung der Minderheitenarbeit als solcher. Als be-

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sonders geeignet für letzteren Zweck wurde die Arbeitsgemeinschaft Pechels und der – allerdings nur bis 1929 existierende – Pressedienst der Wirtschaftspolitischen Gesellschaft (WPG) bewertet.20 Die WPG betrieb bis zu diesem Zeitpunkt auch einen aktiven Versand von Literatur verschiedenster Art zu den Deutschen in Ostmitteleuropa und gegen den Versailler Vertrag in alle Welt, insbesondere jedoch in den angelsächsischen Sprachraum. Von Beginn an propagierte die Arbeitsgemeinschaft für die Interessen des Grenz- und Auslanddeutschtums zentrale Themen der Weimarer Grenz- und Revisionspolitik, so zur Ruhrfrage 1923, zum 1000-jährigen Jubiläum des Rheinlandes 1926 und während der deutsch-polnischen Zollauseinandersetzungen 1927.21 Zu diesen Themen publizierte Pechel jeweils auch selbst und versuchte damit nicht nur als Herausgeber sondern auch als Autor seine politische Haltung publizistisch als Leitthesen zu verbreiten.22 Eine weitere wesentliche Aufgabe der Arbeitsgemeinschaft war es, die auslandsdeutschen Publikationsorgane mit Abonnements reichsdeutscher Zeitungen und Zeitschriften, mit Pressemitteilungen und lancierten Artikeln zu versorgen.23 Hinzu kamen Sammelabonnements auslandsdeutscher Zeitungen und Zeitschriften für Redaktionen von deutschen Presseorganen in anderen Ländern und von Deutschtumsverbänden im Reich – all dies aufgebaut, konzipiert und organisatorisch durchgeführt von Pechels Arbeitsgemeinschaft in enger Abstimmung mit Reichsstellen und dem Deutschen Schutzbund.24 Des Weiteren veranstaltete die Arbeitsgemeinschaft auch Schulungstagungen für Redakteure auslandsdeutscher Presseorgane, dies in offensichtlich sehr schneller Taktung (fünfte Tagung bereits 1924).25 Es steht zu vermuten, dass diese Schulungen mit anderen Schulungsveranstaltungen für „volksdeutsche“ Aktivisten, Studenten (im Rahmen der →Marburger Burse) und des Deutschen Ausland-Instituts in Stuttgart zusammen hängen – und von daher themensynchron geplant wurden – sowie mit Tagungsreisen auslandsdeutscher Studenten im Reich, die vornehmlich an Brennpunkte der Weimarer Grenzpolitik gelegt wurden, so nach Königsberg oder Breslau. Die Finanzierung der Arbeitsgemeinschaft erfolgte in engster Abstimmung durch die aus öffentlichen Mitteln Preußens und des Reiches stammenden Subventionen der Deutschen Stiftung unter Erich Krahmer-Möllenberg. Dabei spielte das in der Deutschen Stiftung getarnt für die Reichsinteressen aufgebaute Presseimperium von Max Winkler über die Konkordia Literarische Anstalt und die Ossa eine entscheidende Rolle.26 Pechels Arbeitsgemeinschaft als Organisationsbüro war gleichsam erst die dritte Ebene einer auslandsdeutschen Publizistik: den Nukleus, also die erste Ebene, bildeten Nachrichtendienste als Propagandaverteiler für das In- und Ausland. Dazu gehörten der Volksdeutsche Presse- und Informationsdienst, die (ukrainisch-nationalistische, bereits in den 1920er Jahren seitens des Reiches aufgekaufte) Osteuropäische Korrespondenz27 sowie der Südosteuropäische Pressedienst. Sie alle dienten dem Ziel, auslandsdeutsche und deutschfreundliche Minderheitenpropaganda zumindest in Europa zu verbreiten. Dabei spielte die Osteuropäische Korrespondenz

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eine besondere Rolle, da sie am deutlichsten auf der internationalen Schiene der deutschen Minderheitenpolitik agierte: hier wurde eine enge Zusammenarbeit zwischen deutschen und andersnationalen, aber politisch ähnlichen Zielsetzungen auch konnationaler Staaten oder Bewegungen unterworfenen, – ukrainischen und ungarischen – Interessengruppen praktiziert. All diese Pressedienste lohnten im Geflecht der deutschen Minderheiten- und Revisionspolitik einer eingehenden Analyse. Pechel verbreitete mit der Arbeitsgemeinschaft auch die „Pressewochenschau zur Nationalitätenfrage“ des Europäischen Nationalitätenkongresses, deren Wirkung wegen ihres wohl ein- bis zweiwöchigen Erscheinens eher einem Informationsorgan für Zeitschriften nahekam.28 Die zweite – journalistische Ebene – bildeten die Minderheitenzeitungen und -zeitschriften selbst. Diese versorgten die Minderheiten vor Ort. Nur sie erreichten die einzelnen Haushalte, also die eigentlich relevante Leserschaft, um ein vom Reich gewünschtes Bewusstsein der Zugehörigkeit zum deutschen Gesamtvolk und dessen Zielen zu generieren. Auch diese Zeitungen und Zeitschriften mussten somit möglichst kontrolliert, in jedem Falle neben der Versorgung mit Materialien und Informationen wirtschaftlich erhalten werden, damit das Reich die jeweilige Minderheit in seinem Sinne politisch, sozial und kulturell aktivieren konnte. Dies tat Pechels Arbeitsgemeinschaft. Neben den inhaltlichen Fragen der Schulen, der Genossenschaften und der Agrarwirtschaft spielten von daher die organisatorischen wirtschaftlichen und personellen Schwierigkeiten der auslandsdeutschen Presseorgane zwischen Auswärtigem Amt und Deutscher Stiftung die bedeutendste Rolle: wirtschaftliche Probleme mussten aufgefangen werden, der laufende Redaktionsbetrieb war pekuniär abzusichern, redaktionelle Konflikte waren zu kaschieren.29 Die Minderheitenzeitschriften mussten mit einer Zunge sprechen, um die Zielgruppe als nationale Einheit zusammenzuhalten – Pressefreiheit spielte dabei schon während der Weimarer Republik nicht die mindeste Rolle: Identifikationserhaltung oder -stärkung der lokalen Bevölkerungen und politische Kampagnenfähigkeit waren die Ziele. Es war eine „kämpfende Publizistik“, gleichgeschaltet bereits lange vor 1933.30 „Auch hier, wie in vielen Bereichen der Minderheitenpolitik, übernahmen die Nationalsozialisten funktionierende Organisationen und Systeme, die nur noch politisch auf eine neue Linie einzuschwören waren. Wenige widersetzten sich dem […] ihre Pressorgane wurden ihnen entzogen und änderten dann die Richtung.“31 Rudolf Pechel gehörte nicht dazu: er passte sich wie auch der weitgehende Rest der völkischen Nationalisten, gleich an. Damit verband er die Idee, endlich seine radikalnationalistischen Ziele zur Durchsetzung zu bringen, nachdem die ihm verhasste und des Liberalismus und Internationalismus geziehen Republik gescheitert war.32 Insgesamt ist die tatsächliche Wirkung der Pechelschen Aktivitäten weitgehend im Dunkeln: es ist aber anzunehmen, dass sie durch die Heterogenität der deutschen Minderheitengruppen sehr unterschiedliche Erfolge zeitigte: allein die Stichworte wie „Kulturautonomie“, die in Estland und Lettland unter den Deutschbalten

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mit ihrem zumeist gehobenen Bildungsstand und der praktischen politischen Erfahrung als staatlicher Struktur spätestens ab 1925 nahezu jedem Leser verständlich waren, dürften den wolhyniendeutschen Bauern eher wenig gesagt haben. Sie bedurften einer detaillierten Erläuterung. Inwieweit die Zeitungen und Zeitschriften vor Ort dies leisteten, bleibt einer Presseanalyse vorbehalten. Wie geplant die Verteilung der Abonnements reichs- aber auch auslanddeutscher Zeitungen und Zeitschriften vorgenommen wurde und wie gezielt Redaktionen mit welchen Nachrichten versorgt wurden, ist derzeit ebenfalls offen. Die Verbindung von Pechels Arbeitsgemeinschaft mit dem 1926 gegründeten Verband europäischer Minderheitsjournalisten ist ebenfalls zu klären:33 es handelte sich dabei wohl primär um eine Unterorganisation innerhalb des Europäischen Nationalitätenkongresses, eine berufsständische Gruppierung, die zur Profilbildung des Europäischen Nationalitätenkongress nach außen dienen sollte. Inwieweit die angedachte Gründung eines Nachrichtenbüros der deutschen Volksgruppen als mononationales Gegenstück, das Pechel verschiedentlich ventilierte, geplant war, und aus welchen Gründen dies nicht zustande kam, wäre ebenfalls zu prüfen. Denn dadurch fehlt eben diese berufsständische Lobbyorganisation für die deutschen Redakteure (1930/31), mithin entstand eine wohl zwischen Deutscher Stiftung und Deutschem Schutzbund hoch strittige Lücke in einem stringenten Propagandasystem – Grund ist wohl die Verweigerung des Schutzbundes zugunsten seiner eigenen Pressepolitik und die Abwehr von zu nachdrücklicher Einflussnahme der Deutschen Stiftung durch den Schutzbund.34 Pechels Einfluss reichte allerdings deutlich über den publizistischen Bereich hinaus: nachdem der Schutzbund unter Karl Christian von Loesch bereits seit 1929 erfolglos versucht hatte, eine direktere Kontrolle über den Verband der Deutschen Volksgruppen in Europa und die als internationalistisch diskreditierte Politik des Nationalitätenkongresses zu gewinnen, hatte Pechel eingegriffen und zwischen von Loesch und Bruns vermittelt. Betrachtete man die Tatsache, dass Pechel im Vorstand des Schutzbundes saß, so wäre zu klären, ob diese Intervention zugunsten Bruns’ erfolgte oder ob sie – was zu vermuten steht – nur ein Aufschieben der Durchsetzung der Schutzbund-Aspirationen auf einen günstigeren Zeitpunkt sein sollte. Immerhin hatte die besagte Stresemann-Rede 1929 eine neue Möglichkeit zum Agieren in der Deutschtumsarbeit gegeben und eine deutliche Steigerung der zentralen Steuerung ebenso wie der Subventionen – Streit in den Verbänden um Kompetenzen war höchst unerwünscht. Offensichtlich kooperierte Pechel bei dieser Intervention eng mit dem späteren Nachfolger Bruns’, dem Deutschbalten Werner Hasselblatt,35 der kompromisslos auf Seiten des Schutzbundes die Koordinierung der Deutschtumsarbeit unter reichsdeutscher Ägide gestärkt sehen wollte und von „Bruns’schen Intrigen gegen Loesch“ sprach.36 Immerhin war mit der zeitgleich auf Betreiben des Deutschen Schutzbundes erfolgten Gründung des Gesamtdeutschen Gremiums 1929 die Möglichkeit geschaffen worden, mit einem scheinbar überparteilichen und nur der Idee der „Volksgemein-

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schaft“ und der „überstaatlichen“ Solidarität verpflichteten Organ, indirekt Einfluss auf die Arbeit des Büros des Rechtsberaters zu erhalten. Dies sah auch Pechel und agierte damit gegen die Unabhängigkeit des Verbandes – anderes wäre ja auch gegen seine eigene strikte Grundhaltung gerichtet: diese zielte darauf ab, den Verbandes großdeutsch-nationalistischen Strömungen unterzuordnen.37 Dabei kümmerte es ihn offensichtlich wenig, dass die Dominanz radikalnationalistischer Richtungen im Verband der Deutschen Volksgruppen in Europa selbst durchaus kritisch gesehen wurde. So kritisiert ein Schreiben des Bevollmächtigten der Verbandes in Paris und Genf, Nicolai von Berg, im Februar 1931 gegenüber Paul Schiemann: es bestehe „die Gefahr, dass anderweitig der Versuch gemacht wird, sich in Bruns Tätigkeit hineinzumengen. Du kannst Dir denken, woher diese Versuche ausgingen. Man hat doch immer versucht, dort die erste Geige zu spielen und den Verband der deutschen Volksgruppen als eine kleine Unterabteilung der Motzstr. 22 darzustellen“, und er fährt fort: „die Schamlosigkeit mancher Prätendenten war wirklich zu gross, und andererseits lag die Gefahr vor, dass der [sic] ewigen Revisionslust einzelner amtlicher Stellen sich dieses Interregnums [gemeint ist eine Erkrankung von Carl Georg Bruns] bedienen würden, um ihren Tendenzen praktisch nachzugehen.“38 Wie und ob Pechel die Besetzung des Postens des Rechtsberaters des Verbands der Deutschen Volkgruppen in Europa nach dem Tod von Carl Georg Bruns 1931/32 durch Werner Hasselblatt mit beeinflusste und damit die letztliche Gleichschaltung des Verbandes unter den Deutschen Schutzbund wissentlich mit beförderte, muss derzeit offen bleiben, 1929 zumindest scheint Rudolf Pechel also eine der im Hintergrund agierenden mächtigen Figuren bei der ersten versuchten Gleichschaltung des Verbandes der Deutschen Volksgruppen in Europa gewesen zu sein – aktiv und zugleich handlungsfähig und einflussreich wegen seiner vielfältigen Aufgaben für die publizistische Durchsetzung reichsdeutscher (auch amtlicher) Ziele war er dann auch 1931/32. Die Berliner Adresse Motzstrasse 22 ist dafür ein Symbol: hier hatten neben dem Deutschen Schutzbund auch der Volksdeutsche Klub, Pechels Arbeitsgemeinschaft, und neben diversen weiteren Deutschtumseinrichtungen später die Volksdeutsche Mittelstelle ihre Büros. Die Aspirationen des Schutzbundes scheinen mit der Erkrankung und dem Tode Bruns’ also zwar erst einen konkreten Anlass zur Umsetzung erhalten zu haben, bestanden haben sie vorher. Damit ist die in der Literatur weitgehend verbreitete Interpretation, Pechel habe mit den neuen Machthabern zu kooperieren versucht, einzuordnen in die Deutschtumspolitik nicht nur der reichsdeutschen Deutschtumsverbände, sondern auch in jene des Verbandes der Deutschen Volksgruppen in Europa, sowie deren wichtigstem Leitorgan, der Zeitschrift Nation und Staat, und die Versuche der konservativen Revolutionäre, ihre Idee einer Volkstumspolitik mit den Nationalsozialisten gemeinsam und eben nicht gegen diese durchsetzen. Wie so viele konservative Revolutionäre hatte Rudolf Pechel versucht, seine eigenen Ziele mit den Nationalsozialisten durchzusetzen. Sie schienen der machtvolle und zugleich revolutionäre Partner, um die verhassten Formen des „Liberalismus“

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und die Ausdehnung der bolschewistischen Soljetunion und der kommunistischen Kaderparteien in Europa einzudämmen. Welche Rolle die Ermordung von Pechels Mitarbeiters in der Redaktion der Deutschen Rundschau, Edgar Julius Jung im Umfeld des Röhm-Putsches 1934 für Pechels kritische Haltung zum Nationalsozialismus wirklich spielte, kann hier nicht geklärt werden. Der „totalitäre Machtanspruch der NSDAP“39 war gewiss im Hinblick auf Pechels nationalkonservative Haltung eher ein Grund zur „Camouflage“ oder Ablehnung als deren Politik selbst.40 Inwieweit seine publizistische Camouflage letztendlich kalkuliert oder als Akt einer Widerstandshandlung konzipiert war, analysiert strukturell erstmalig Claudia Kemper. Seine dreijährige Inhaftierung in Ravensbrück und Sachsenhausen wegen Landesverrates bleibt diesem Gesamtkontext weiter zu klären. Pechel löste sich nie wieder von seinem weitgehend vergeblichen Bestreben, als „antibolschewistischer Rechtsintellektueller“ in der Bundesrepublik die ihm aus seiner Sicht gebührende Anerkennung als Angehöriger des Widerstands gegen den Nationalsozialismus zu erfahren.41 Dazu nutzte er auch die wieder gegründete Deutsche Rundschau ab 1946 sowie seine vielfältigen Publikationen.42 Seine Verbindungen zur CDU, auch 1946 als zeitweiliger Herausgeber der Neuen Zeit vermochten es nicht, ihm die politische Wirkung zu verschaffen, die er in der Zwischenkriegszeit zweifellos besessen hatte. Allerdings erhielt er 1957 die Goetheplakette der Stadt Frankfurt am Main für sein Werk und wurde 1950 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, außerdem erhielt er weitere hohe Auszeichnungen. Trotzdem besaßen auch die intellektuellen Grundlegungen seiner Widerstandsdiskurse und seine offensive Haltung gegen die biographischen Kontinuitäten von NSDAP und anderen NS-Funktionären nach 1945 keine wegweisende Wirkung in der jungen Bundesrepublik mehr. Die Kontakte zu den konservativen Revolutionären aus der Volksgruppenarbeit, die den Krieg überlebt hatten, wie Boehm oder Hasselblatt, bleiben derzeit unscharf; diese wären aber gerade wegen ihrer möglichen Wirkung auf die Vertriebenenverbände nach 1945 in der Bundesrepublik von erheblicher Bedeutung. Hingegen sind die Konflikte mit Johannes R. Becher und anderen Linksintellektuellen zunehmend besser erforscht.43 Rudolf Pechel war sicher einer der einflussreichsten völkisch-nationalen Aktivisten der Weimarer Republik und mitnichten ein unpolitischer, gar demokratischer Intellektueller und Herausgeber sowie Autor, sondern vielmehr ein aktiv Handelnder bei der Gleichrichtung von Verbänden und Vereinigungen. Seine Biographie ist eine der vielen opportunistischen Lebensläufe zwischen Weimarer Rechten, Nationalsozialismus und Bundesrepublik – bei Pechel mit der tragischen Variante versehen, dass Abstand, Opposition oder Widerstand zum Nationalsozialismus nicht klar

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unterscheidbar sind – wohl ein in der Person eines vor allem auf Geltung und Wirkung bedachten politischen Publizisten der Weimarer Jahre begründetes Fazit.

Sabine Bamberger-Stemmann

1 Die biographischen Daten überwiegend nach: Sigrid Schneider, [Biogramm Pechel], in: Neue Deutsche Biographie 20 (2001), S. 150f. (NDB Pechel) 2 Ebd. 3 Diese enge Verflechtung und zunehmende Abhängigkeit wird in der vorliegenden Literatur weitgehend übersehen. Vgl. dazu aber: Claudia Kemper, Rudolf Pechels intellektuelle Grundpositionen als Widerstand „mit dem Rücken zur Wand“, in: Alexander Gallus (Hg. u.a.), Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930, Göttingen 2011, S. 164–180, 4 Vgl. Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012; Alexander Pinwinkler, Wilhelm Winkler (1884–1984) – eine Biographie. Zur Geschichte der Statistik und Demographie in Österreich und Deutschland. Berlin 2003, S. 159; sowie dazu Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000, S. 50–57. 5 BArch, R 8043/1120, S. 385, Krahmer-Möllenberg [Deutsche Stiftung] an Winkler [Ossa/Konkordia] vom 5.5.1925. 6 Wilhelm Winkler, Statistisches Handbuch des gesamten Deutschtums, Berlin 1927; dazu Pinwinkler, Wilhelm Winkler, S. 156-166. 7 BArch, Nl 1160; dazu und zu Pechels Haltungen nach 1945 siehe ausführlich Kemper, Rudolf Pechels. Inwieweit Pechel diese Ideologie tatsächlich für sich durchdacht antizipierte, wäre aus dem im Bundesarchiv liegenden umfänglichen Nachlass zu klären. 8 Vgl. BArch, R 8043/1119, S. 279, Die Teilnahme von Minderheitenangehörigen z.B. an den Tagungen der International Law Association finanzierten reichsdeutsche Stellen (für 1924). 9 Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008; Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932, Graz 20056. 10 PA, R 96562, K432397–4323400, K432398, Paul Schiemann in seiner Denkschrift für Reichsaußenminister Stresemann, übergeben am 24.03.1928. 11 Vgl. auch verschiedentlich Nation und Staat, so z.B. 1 (1927/28), S. 606ff., 450ff., 892ff.; ebd. 2 (1928/29), S. 84ff.; ebd. 6 (1932/33), S. 150ff. u. 210ff. 12 Geschäftsführer war zeitweilig der spätere Leiter der Volksdeutschen Archivverwaltung, der Deutschbalte Herbert v. Truhart. 13 Vgl. BArch, R 8043/1121, S. 215–226. Die Deutsche Stiftung finanzierte die Reisen sämtlicher deutscher Vertreter aus Ostmittel- und Osteuropa zu den Tagungen der Interparlamentarischen Union, so auch diese Reisen Graebes im Auftrage des Auswärtigen Amtes. Vgl. ebd., 1122, S. 117f., 126 u.179. 14 BArch, RIM/5924, S. 332 f., Denkschrift über die minderheitenpolitischen Aufgaben des Deutschen Reiches. 15 BArch, Nl 1160/130, Rudolf Pechel, Die politische Bedeutung der Zeitschriften [ungedr.]. 16 Im Nachlass Pechel sind erhebliche Korrespondenzen der Arbeitsgemeinschaft erhalten, des Weiteren gibt es Material in den Akten des Auswärtigen Amtes, des Deutschen Ausland-Institutes, der Deutschen Stiftung, die Pechels Aktivitäten leitete und finanzierte, darunter ausführliche Protokolle der Sitzungen der Arbeitsgemeinschaft. Vgl. Volker Mauersberger, Rudolf Pechel und die Deutsche Rundschau 1919–1933. Eine Studie zur konservativ-revolutionären Publizistik in der Weimarer Republik, Bremen 1971. 17 BArch, R 57 neu/20029, [o. Autor:] Die Aufgabe der Minoritätenpresse, undat. [unvollstdg.].

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18 Der Schutz der Minderheiten. Rede des Reichsministers des Auswärtigen Dr. Gustav Stresemann in der Sitzung des Völkerbundrats vom 6. März 1929 über die Garantie des Völkerbunds für die Bestimmungen zum Schutz der Minderheiten. Berlin [1929]. 19 BArch; Nl 1160/135, unpag., Pechel an Speck vom 23.3.1928. 20 BArch, R 8043/1128, div. Die Subventionen der Deutschen Stiftung für Buchveröffentlichungen können hier ebenfalls nur erwähnt werden, gehören jedoch gleichermaßen in das Konzept der Deutschtumspropaganda der Weimarer Republik. Enge Verflechtungen mit Pechels Arbeitsgemeinschaft sind zu erwarten, jedoch noch zu belegen. 21 Ebd., Nl 1160/131, div; ebd., 132, div.; auch ebd., R 8043/1121, div., 134, div.; PA, R 60418, div. 22 Rudolf Pechel, Französische Rheinpolitik in amerikanischer Beleuchtung, Berlin 1925. 23 Zu den Arbeitsweisen vgl. sehr detailliert, ebd./136, div. 24 BArch, R 8043/1119 f., einschl. Versandlisten von Abonnements für auslandsdeutsche Zeitschriften. 25 LASHS, Nl Schmidt-Wodder/277, div.; ausführlich dazu auch in BArch, R 8043/1119f., 1123, div. 26 Dazu Winkler selbst in einem Interview mit Max Hildebert Boehm nach dem Zweiten Weltkrieg: Nordost-Institut (NOKW), P0/203, S. 1. Die (vorhandene) Liste der in Reichsbesitz, d.h. in Winklers Presseimperium, befindlichen Zeitungen und Zeitschriften reicht von der Deutschen Allgemeinen Zeitung bis zum Memeler Dampfboot. Vgl. IfZ, Zs 517, S. 6ff. 27 Abonnentenliste in BArch, R 8043/1148, S. 349–352. 28 Sabine Bamberger-Stemmann, Der Europäische Nationalitätenkongreß 1925 bis 1938, Marburg 2000. 29 Als Beispiel seien genannt die Deutsch-Ungarischen Heimatblätter 1936/37 oder die Deutschen politischen Hefte in Großrumänien. So bei den Baltischen Monatsheften durch das Auswärtige Amt direkt. 30 So beschreibt es auch Winkler selbst in seinem Interview mit Max Hildebert Boehm nach dem Kriege, in: NOKW, P 0/203, S. 2. 31 Bamberger-Stemmann, Der Europäische Nationalitätenkongreß, Kap. 8.1. 32 Vgl. Kemper, Rudolf Pechels intellektuelle Grundpositionen, verschiedentlich und sehr stringent. 33 Vgl. Nation und Staat 2 (1928/29), S. 365ff.; 4 (1930/31), S. 76ff.; 5 (1931/32), S. 517. Leiter war Erich Ammende, selbst Journalist und Bruder des Gründers und Generalsekretärs des Europäischen Nationalitätenkongresses Ewald Ammende. 34 BA, 8043/993, S. 145ff., Krahmer-Möllenbergs an Max Fleischer vom 20.10.1931. 35 Werner Hasselblatt, Der Stand des Minderheitenproblems, in: Deutsche Rundschau 56 (1929) 3, S. 177–185. 36 BArch, Nl 1160/70, unpag., Werner Hasselblatts an Rudolf Pechel, 18.11.1929. 37 Vgl. ebd., 123, Zur Gründung des Gesamtdeutschen Gremiums 1929. 38 Lettisches Nationalarchiv Riga (LVVA) NL Schiemann, Akte 8, Dok. 34, Nicolai v. Berg an Schiemann vom 23.2.1931. 39 NDB Pechel. 40 Karl-Wolfgang Mirbt, Methoden publizistischen Widerstandes im Dritten Reich. Nachgewiesen an der „Deutschen Rundschau“ Rudolf Pechels, Phil. Diss., Berlin 1958. 41 Kemper, Rudolf Pechels intellektuelle Grundpositionen, S. 167f., 170. 42 Rudolf Pechel, Deutscher Widerstand, Zürich 1947; ders., Zwischen den Zeilen. Der Kampf einer Zeitschrift für Freiheit und Recht 1932–1942, Wiesentheid 1948; ders., Fünfundzwanzig Jahre hernach, in: Deutsche Rundschau 84 (1958) 1, S. 11f. 43 Kemper, Rudolf Pechels intellektuelle Grundpositionen, S. 172ff.

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Albrecht Penck Albrecht Penck gilt als bedeutendster deutschsprachiger Geograph der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der in Wien und Berlin lehrende Forscher war im erheblichen Maße an der Begründung der Glazialmorphologie, Geomorphologie und quartären Klimaforschung beteiligt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er zur Schlüsselfigur der sich formierenden deutschen Volks- und Kulturbodenforschung. Albrecht Penck wurde am 25. September 1858 in Reudnitz bei Leipzig geboren und studierte ab 1875 an der Universität Leipzig Chemie, Geologie, Mineralogie und Botanik. Bereits während seiner Studienzeit arbeitete er als Geologe für die Geologische Landesaufnahme von Sachsen (1877 bis 1880). 1878 wurde er in Leipzig mit einer mineralogischen Arbeit promoviert.1 Nach weiteren Kartierungsarbeiten für die Geognostische Landesaufnahme von Bayern habilitierte er sich 1882 an der Ludwig-Maximilians-Universität München in Geographie mit einer Arbeit über Die Vergletscherung der deutschen Alpen (1882).2 Während seiner Kartierungen gelang Penck der erstmalige Nachweis einer mehrfachen Inlandeisvergletscherung in Norddeutschland (1879) und im Alpenvorland (1882).3 Diese und weitere quartär- und geomorphologischen Arbeiten bildeten Pencks Forschungsschwerpunkt und begründeten seine bis heute anhaltende wissenschaftliche Reputation als wegweisender Eiszeitforscher und bedeutender Geowissenschaftler.4 1885 wurde Penck auf die Lehrkanzel für Physische Geographie am Geographischen Institut der Wiener Universität berufen und kurze Zeit später zum österreichischen Hofrat ernannt. In dieser Zeit erschienen seine Länderkunde Das Deutsche Reich (1887) und darauffolgend, mit der Morphologie der Erdoberfläche (2 Bände, 1894), das erste Handbuch der Geomorphologie. Über die folgenden zwanzig Jahre führte Penck seine Eiszeitforschungen zusammen mit seinem ehemaligen Schüler Eduard Brückner weiter. Diese für die Quartärforschung grundlegenden Ergebnisse wurden in dem Werk Die Alpen im Eiszeitalter (3 Bände, 1901–1909) veröffentlicht.5 Der hochbegabte, didaktisch innovative und organisatorisch umtriebige Penck übte als engagierter Lehrer einen nachhaltigen Einfluss auf den wissenschaftlichen Nachwuchs aus.6 Als einer der ersten Fachvertreter der Hochschulgeographie führte er regelmäßige Exkursionen und kartographische Übungen in die Geographie ein, in denen die Schulung zur Beobachtung von Landschaftsformen und die Erklärung von deren Genese im Mittelpunkt standen. Penck begründete die „Wiener Schule der Physischen Geographie“, aus der zahlreiche, international bedeutende Forscher hervorgingen, wie Jovan Cvijic, Alfred Grund, →Hugo Hassinger, Norbert Krebs, Fritz Machatschek, Emmanuel de Martonne, Eugeniusz Romer, Stephan Rudnyckyj, Robert Sieger und Naomasa Yamasaki.7 Nach dem Tod Ferdinand von Richthofens wurde Penck 1906 an die Berliner Universität zum Direktor des Geographischen Institutes (bis 1926) berufen, das er in Personalunion mit dem Berliner Meereskundemuseum (bis 1921) leitete. Damit ver-

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bunden war auch die Ernennung zum preußischen Geheimrat und zum Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Zwischen 1910 und 1930 war Penck wiederholt Vorsitzender der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin.8 Darüber hinaus war er Mitglied des wissenschaftlichen Ausschusses des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins und engagierte sich in Wien und Berlin für die wissenschaftliche Volksbildung.9 Ab 1920 initiierte er zusammen mit seinem Schüler Alfred Merz die Gründung der Berliner Volkshochschule.10 Gemeinsam mit Merz und →Friedrich Schmidt-Ott schuf er zudem die Grundlagen für die Meteor-Expeditionen zwischen 1925 und 1927.11 In den informellen Kreisen gelehrter Geselligkeit des Berliner Montagsklubs und der Berliner Mittwochs-Gesellschaft (1906–1944) war Penck über Jahrzehnte hinweg aktiv.12 1926 wurde er in die wissenschaftliche Klasse des Ordens Pour le mérite gewählt und 1933 mit der Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft ausgezeichnet. Zu diesen Ehrungen kamen zahllose weitere Auszeichnungen, Ehrendoktorwürden und Mitgliedschaften in wissenschaftlichen und geographischen Gesellschaften im In- und Ausland. Mehrfache Auslandsreisen führten ihn nach Nordamerika, Asien, Afrika und Australien, darunter auch Gastprofessuren von 1908 bis 1909 an die Columbia University (New York) und die Yale University (New Haven) sowie 1928 an die University of California (Berkeley).13 Durch die wachsende Reputation, die Häufung von Ämtern und den machtbewussten, bisweilen auch gegenüber Kollegen rücksichtslosen Ausbau seines weitläufigen Netzwerkes avancierte Penck seit der Jahrhundertwende zu einem der zentralen Knotenpunkte der deutschsprachigen und internationalen Geographie.14 Weltweite Anerkennung erwarb er ab 1891 mit dem Projekt zu Erstellung einer einheitlichen Internationalen Weltkarte im Maßstab 1:1 Million, welches von ihm über mehrere Jahrzehnte auf Kongressen im In- und Ausland gegen alle Widerstände beharrlich vorangetrieben wurde.15 Das internationale, gleichwohl eurozentrisch ausgerichtete Kartenprojekt stand im engen Zusammenhang mit den machtpolitischen Interessen des europäischen Kolonialismus und Imperialismus, die sich auch in Pencks Arbeiten zur Physischen Anthropogeographie widerspiegeln, in deren Rahmen er Tragfähigkeitsberechnungen zur Bevölkerungskapazität zukünftiger Besiedlungsräume in den Tropen durchführte.16 Zeitgleich engagierte er sich für die Erforschung der Kolonien und des Deutschtums in der Kommission für die landeskundliche Erforschung der Deutschen Schutzgebiete und im Hauptausschuss des Vereins für das Deutschtum im Ausland.17 Bereits um 1890 war Penck Mitglied im Deutschen Schulverein in Wien.18 1892 war er Vorsitzender der →Zentralkommission für wissenschaftliche Landeskunde von Deutschland. Seit 1904 gehörte er zum Beraterkreis der Zeitschrift Deutsche Erde (1902–1914/15), die von dem Gothaer Verlagskartographen →Paul Langhans herausgeben wurde und verschiedenen radikalnationalistischen Verbänden nahestand.19 Zudem saß er seit 1917 im wissenschaftlichen Beirat des →Deutschen Aus-

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land-Instituts in Stuttgart und wurde zum Senator der Deutsche Akademie in München (1925) ernannt.20 Während einer Australienreise, die Penck auf Einladung der British Association for the Advancement of Science im Sommer 1914 unternahm, wurde er vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges überrascht und als mutmaßlicher Spion für ein Jahr in London festgehalten.21 Nach einem Gefangenenaustausch kehrte er nach Berlin zurück. Zusammen mit dem Generalgouverneur von Polen und Vorsitzenden der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, General Hans von Beseler, gründete er 1915 die interdisziplinär zusammengesetzte Landeskundliche Kommission beim Generalgouvernement Warschau.22 Die Landeskundliche Kommission war zum Zweck der Inventarisierung zukünftiger Einflussgebiete geschaffen worden und diente als Vorbild für weitere Unternehmen. Mit Ausnahme der Landeskundlichen Kommission in Kongress-Polen – durch deren Tätigkeit ein Handbuch und zahlreiche weitere Publikationen, insbesondere zu geomorphologischen und ethnographischen Themen erschienen – konnten ähnliche Unternehmungen in Rumänien, Litauen und Kurland, Albanien und Montenegro sowie Mazedonien kaum ein vergleichbares Profil entwickeln.23 Zusammen mit den Mitarbeitern der jeweiligen Kommissionen führte Penck Exkursionen in Kongress-Polen (1916) und Rumänien (1917) durch.24 In mehreren öffentlichen Reden setzte er sich für eine expansive Kriegszielpolitik ein.25 Hierzu entwickelte er 1915 das politisch-geographische Konstrukt von „Zwischeneuropa“26, mit dem er eine „natürliche Westgrenze“ respektive Übergangszone („warägischer Grenzsaum“) zu Russland ziehen wollte, die vom Peipussee bis zum Dnjepr reichte. Den Höhepunkt seiner Karriere erreichte Penck durch die Wahl zum Rektor der Berliner Universität (1917/1918). In seiner öffentlichen Antrittsrede forderte er die Eroberung von „Lebensraum“27 und weiteren Kolonien, sprach sich aber an anderer Stelle für Gebietsforderungen „nur in beschränktem Umfange“28 aus, womit er sich weitreichenderen Annexionszielen nur bedingt öffnete. Allerdings verband er diese Forderungen mit einer darüber hinausgehenden hegemonialen Einflusssphäre, über die ein Ring von Satellitenstaaten (Ukraine, Kongress-Polen) mit eigener innerer Verwaltung und starker deutscher Beeinflussung geschaffen werden sollte.29 1918 war er in beratender Funktion als Bevollmächtigter des Auswärtigen Amtes im Reichstag für geographische und ethnographische Fragen zur polnisch-ukrainischen Sprachgrenze tätig.30 Im Vorfeld der Friedensverhandlungen in Versailles stellte er das Berliner Geographische Institut in den Dienst zur Schaffung mehrerer Bevölkerungskarten von Posen, Westpreußen und Oberschlesien.31 In der „Sprachenkarte des deutschen Ostens“ und der Bevölkerungskarte zur „Verteilung der Deutschen und Polen in Westpreußen und Posen“ (1919), die der Kartograph des Geographischen Instituts Herbert Heyde ausführte, versuchte Penck nachzuweisen, dass das Netzegebiet eine deutsche Bevölkerungsmehrheit besaß, welche die Verbindung zwischen dem Reichsgebiet und Ostpreußen rechtfertigen sollte.32

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Seit 1919 war Penck zusammen mit dem Geographen →Wilhelm Volz im Grenzmarkenausschuss aktiv, aus dem 1923 die Mittelstelle für zwischeneuropäische Fragen hervorging, die wenig später in Mittelstelle für Volks- und Kulturbodenforschung umbenannt wurde.33 Mit Unterstützung des Reichsministeriums des Innern und dem Auswärtigen Amt wurde 1926 in Leipzig die →Stiftung für deutsche Volksund Kulturbodenforschung gegründet, mit Penck als Präsidenten und Volz als Geschäftsführer. Im Vorfeld war Penck bereits dem Deutschen Schutzbund beigetreten und arbeitete eng mit dessen Vorsitzenden →Karl Christian von Loesch zusammen. In dessen Sammelband „Volk unter Völkern“ erschien auch Pencks publikumswirksamer, weit über die Weimarer Zeit hinausreichender, propagandistisch erfolgreicher Aufsatz über die Karte vom „Deutschen Volks- und Kulturboden“.34 Das Theorem des Volks- und Kulturbodens schuf über den politischen Revisionismus der Weimarer Republik hinausgehend wesentliche argumentative Grundlagen für neue expansive Hegemonialbestrebungen.35 Die bereits im völkischen Diskurs der Jahrhundertwende verwendeten Begriffe des Volks- und Kulturbodens kombinierte Penck und entwickelte, basierend auf dem Konzept der Kulturgrenze seines ehemaligen Wiener Schülers Erwin Hanslik, ein neues Raumkonstrukt.36 Nach Pencks Vorstellung hatte sich im deutschen Kulturboden über Jahrhunderte hinweg eine spezifisch deutsch geprägte Kulturlandschaft erhalten, die unabhängig davon, ob dort noch Deutsche lebten oder nicht, als Relikt in Gestalt von Haus-, Siedlungs- und Flurformen fortbestand.37 Aufbauend auf diesem Argument versuchte Penck den deutschen Hegemonialanspruch in Mitteleuropa zu legitimieren, indem er die scheinbar höhere Kultivierung des deutschen Kulturbodens herausstellte, die er nach den Kriterien von Ordnung/Unordnung sowie Sauberkeit/Unsauberkeit maß. Da der deutsche Kulturboden, nach Pencks Ansicht, im Osten über das Gebiet des deutschen Volksbodens hinausreichte, war es möglich, den territorialen Machtanspruch jenseits des bisherigen Revisionismus auf Kosten anderer Länder, in denen es keine deutsche Bevölkerungsmehrheit mehr gab, deutlich auszudehnen.38 Die Karte des deutschen Volks- und Kulturbodens wurde in suggestiver Schwarz-Weiß-Optik, nach Pencks Vorgaben, vom Graphiker und Kartographen Arnold Hillen Ziegfeld ausgeführt.39 Eine farbige Schulwandkarte sowie weitere Handkarten von Europa schuf Penck im Auftrag des Vereins für das Deutschtum im Ausland zusammen mit dem Kartographen Hans Fischer.40 Diese Europakarten reichten in ihren Dimensionen weit über die ursprüngliche Version nach Ostmittel- und auch Teile Ost- und Westeuropas hinaus.41 Durch die flächenhaft-farbige Markierung kultureller Einflussgebiete vom Ärmelkanal bis zum Asowschen Meer, sprengten sie den Rahmen bisheriger Völker- und Sprachenkarten bei weitem. Obwohl diese Karten den alldeutschen Annexionsträumen des Ersten Weltkrieges sehr nahe kamen, wurden konkrete politische Zielsetzungen in der Darstellung bewusst der Interpretation des Betrachters überlassen.

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Mit der offenen Terminologie und suggestiven Wirksamkeit seiner ethnopolitischen Raumvisulisierungen, die in verschiedenen Varianten vielfach adaptiert und reproduziert wurden, schuf Penck Projektionsfelder für vermeintlich historisch-genetisch belegbare, kulturelle Einflussgebiete, die in verschiedenen Wandkarten und in Schulatlanten führender Verlage erschienen.42 Zahlreiche Historiker, Volkskundler, Pädagogen, Politologen, Geographen und Kartographen wurden durch Pencks Raumkonstrukt geprägt.43 Wenngleich seit 1926 emeritiert, blieb Penck auch über die folgenden Jahre ein einflussreicher und bestens vernetzter Akteur des Berliner Wissenschaftsbetriebes und darüber hinaus. Anlässlich seines siebzigsten Geburtstages wurde 1928 die Albrecht-Penck-Stiftung gegründet, mit der Auslandsreisen für zahlreiche Nachwuchsgeographen finanziert wurden.44 Penck durfte sein Büro im Berliner Geographischen Institut behalten und wurde in seiner wissenschaftlichen Arbeit von Privatassistenten unterstützt, zuerst von Albrecht Haushofer und danach von →Emil Meynen, den er in seiner Konzeption einer „völkischen Geographie“ stark beeinflusste und auch beruflich förderte.45 Nach heftigen Auseinandersetzungen zwischen Wilhelm Volz auf der einen Seite und Albrecht Penck sowie den Mitarbeitern des Handwörterbuchs des Grenz- und Auslandsdeutschtums Emil Meynen und →Friedrich Metz auf der anderen Seite, wurde die Stiftung 1931 aufgelöst. Die tieferen Ursachen der Auseinandersetzung lagen in der politischen Ausrichtung der Stiftung, hinsichtlich eines „kleindeutschen“ (Volz) und eines „großdeutschen“ Standpunkts (Penck, Meynen, Metz), begründet.46 Die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten 1933 begrüßte Penck und empfahl dem NS-Regime die Volks- und Kulturbodentheorie als nationales Erziehungsprogramm im Sinne einer „Nationalen Erdkunde“.47 Mit seinem ehemaligen Wiener Schüler und Nachfolger als Direktor am Geographischen Institut der Berliner Universität Norbert Krebs initiierte er 1933 an der Preußischen Akademie der Wissenschaften das Projekt „Atlas des deutschen Lebensraumes in Mitteleuropa“.48 Das Projekt wurde als Nationalatlas konzipiert und knüpfte an die Ideen der Volks- und Kulturbodentheorie an, bei dem ein von Penck bereits 1929 eingebrachter Antrag neu aufgelegt wurde.49 Im Mai 1933 setzte die Akademie Penck als Vorsitzenden der Kommission ein, während die eigentliche Organisation in den Händen von Norbert Krebs lag, der erst im Mai 1934 Akademiemitglied wurde. Penck und Krebs setzten auf die interdisziplinäre Vernetzung durch Expertengremien. Der Kommission gehörte auch der Historiker →Albert Brackmann an, der den Kontakt zu den →Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften herstellte, ab 1939 war auch der Agrarwissenschaftler und SS-Raumplaner →Konrad Meyer Mitglied.50 Zwar führte Penck in den folgenden Jahren weiterhin nominell den Vorsitz der Kommission, zog sich aber altersbedingt seit Mitte der dreißiger Jahre von seinen verschiedenen Verpflichtungen und Mitgliedschaften immer weiter zurück und nahm seit 1939 aus gesundheitlichen Gründen überhaupt nicht mehr an den Sitzun-

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gen teil. Gleichzeitig versuchte er über seine Netzwerke, insbesondere über seine ehemaligen Schüler, weiter Einfluss auszuüben. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sah er die Geographie erneut in der Beraterfunktion für die Politik, zeigte sich aber ernüchtert, nachdem das Atlasprojekt durch die offiziellen Stellen als „zu wenig propagandistisch, zu wissenschaftlich“51 abgelehnt wurde und schließlich unvollendet blieb. In seinen weiteren Veröffentlichungen legitimierte Penck die expansiven Ziele der Nationalsozialisten, indem er erneut an seine bereits während des Ersten Weltkrieges öffentlich geäußerten Forderungen nach Kolonien und „Lebensraum“ anknüpfte.52 Wenngleich in Pencks Schriften wiederholt rassenbasierte und eindeutig rassistische Werturteile zu finden sind, stand er dem gewaltbereiten →Antisemitismus und den radikaleren Auslegungen der Rassenideologie distanziert gegenüber, befürwortete aber sowohl in seinen öffentlichen als auch privaten Schriften das NSRegime zu unterstützen.53 In Anschluss an die traditionellen politischen und wissenschaftlichen Zielsetzungen der Geographie versuchte Penck alte und neue machtpolitische Forderungen zu verbinden. Mit indirekter Bezugnahme auf Friedrich Ratzel sah er 1941 im Rahmen des Kriegseinsatzes der deutschen Wissenschaften in dem „Kampf um den Raum“ nicht nur die Möglichkeit zur „Wiedergewinnung [des] genommenen Besitzes“, sondern auch zur Wiedererlangung von „Weltgeltung“, die für die „großen Aufgaben der Menschheit unerläßlich“ sei.54 Nach Beschädigung der Wohnung bei einem schweren Luftangriff auf Berlin im November 1943 wurden Penck und seine Ehefrau zunächst in ein Lazarett nach Hindenburg (Zabrze) in Oberschlesien evakuiert und schließlich in ein Krankenhaus nach PragReuth (Krĉ) verbracht, wo er am 7. März 1945 verstarb.55

Norman Henniges

1 Karl Albert Habbe, Penck, Albrecht, in: Neue Deutsche Biographie 20, Berlin 2001, S. 172–173, 172. 2 Ingo Schaefer, Der Weg Albrecht Pencks nach München zur Geographie und zur alpinen Eiszeitforschung, in: Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft München 74 (1989), München, S. 5–25. 3 Ute Wardenga, Vor 125 Jahren: Albrecht Penck weist eine dreimalige Vereisung Norddeutschlands nach, in: PGM 148 (2004) 3, S. 94–95. 4 Norman Henniges, Die Spur des Eises. Eine praxeologische Studie über die wissenschaftlichen Anfänge des Geologen und Geographen Albrecht Penck (1858–1945), Leipzig 2017. 5 Habbe, Penck, Albrecht, S. 172; vgl. Wardenga, Vor 125 Jahren, S. 95. 6 Norman Henniges, „Sehen lernen“: Die Exkursionen des Wiener Geographischen Instituts und die Formierung der Praxiskultur der geographischen (Feld-) Beobachtung in der Ära Albrecht Penck (1885–1906), in: Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft 156 (2014), S. 147–170. 7 Henniges, „Sehen lernen“, S. 147ff. 8 Habbe, Penck, Albrecht, S. 172. 9 LIfL, Leipzig, Albrecht Penck: Lebenserinnerungen (Typoskript), 1943, Nl Albrecht Penck, K 871/3, S. 10. 10 Dietrich Urbach, Die Volkshochschule Groß-Berlin 1920–1933, Stuttgart 1971, S. 25ff.

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11 Habbe, Penck, Albrecht, S. 173. 12 Klaus Scholder, Die Mittwochsgesellschaft. Protokolle aus dem geistigen Deutschland 1932 bis 1944, Berlin 1982, S. 59. 13 Habbe, Penck, Albrecht, S. 172. 14 Alfred Philippson, Wie ich zum Geographen wurde. Aufgezeichnet im Konzentrationslager Theresienstadt zwischen 1942–1945, hg. v. Hans Böhm u.a., Bonn 1996, S. 475ff., 484ff. 15 Michael Heffernan, The Politics of the Map in the Early Twentieth Century, in: Cartography and Geographic Information Science 29 (2002), S. 207–226. 16 Albrecht Penck, Das Hauptproblem der physischen Anthropogeographie, in: Geopolitik 2 (1925) 5, S. 330–348. 17 Gustav Schmoller u.a., Reichstagsauflösung und Kolonialpolitik. Offizieller stenographischer Bericht über die Versammlung in der Berlin Hochschule für Musik am 8. Januar 1907, hg. v. Kolonialpolitischen Aktionskomité, Berlin 1907. Albrecht Penck, Deutsches Volk und deutsche Erde, in: Die Woche 9 (1907), Berlin, den 2. Februar, S. 179–182. 18 Penck, Lebenserinnerungen 1943, S. 8. 19 Albrecht Penck [Mitunterzeichner], Aufruf zur Mitarbeit behufs Ermittlung noch heute gebräuchlicher deutscher Namensformen für Orte in fremden Sprachgebieten, in: Deutsche Erde 3 (1904), S. 1. 20 UAHUB, Personalakte Albrecht Penck, P 57, Philosophische Fakultät. 21 Michael Heffernan, Professor Penck’s Bluff: Geography, Espionage and Hysteria in World War I, in: Scottish Geographical Journal 116 (2000) 4, S. 267–282. 22 Ute Wardenga, „Nun ist alles anders“: Erster Weltkrieg und Hochschulgeographie, in: Ute Wardenga (Hg. u.a.), Kontinuität und Diskontinuität der deutschen Geographie in Umbruchphasen. Studien zur Geschichte der Geographie, Münster 1995, S. 83–97, 89ff. 23 Wardenga, „Nun ist alles anders“, S. 91. 24 Penck, Lebenserinnerungen 1943, S. 30. 25 Albrecht Penck, Der Krieg und das Studium der Geographie, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 51 (1916), S. 158–176, S. 222–248. Albrecht Penck, Was wir im Kriege gewonnen und was wir verloren haben: Rede am 30. April 1915, Berlin 1915. 26 Albrecht Penck, Politisch-geographische Lehren des Krieges, in: Meereskunde. Sammlung volkstümlicher Vorträge zum Verständnis der nationale Bedeutung von Meer und Seewesen 9 (1915) 10, S. 1–40, 24–40. 27 Albrecht Penck, Über politische Grenzen. Rede zum Antritt des Rektorates der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin Berlin 1917, S. 31. 28 LIfL, Albrecht Penck, Lieber Kommilitone, Berlin vom 1.8.1916, S. 4f., Nl Penck, K 876/8. 29 LIfL, Penck an Partsch, Berlin vom 1.1.1916, Nl Partsch, K 58/368. 30 209. Sitzung des Haushaltsausschusses des Reichstages vom 21. Februar 1918, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstages 1915–1918, Band 9/IV, 191.–275. Sitzung 1918, hg. v. Erich Matthias u.a., Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Düsseldorf 1983, S. 1960. 31 Astrid Mehmel, Deutsche Revisionspolitik in der Geographie nach dem Ersten Weltkrieg, in: Geographische Rundschau (1995) 9, S. 498–505. 32 Albrecht Penck, Ist die Ostmark unbestreitbar polnisches Gebiet? Berlin 1919. Albrecht Penck, Die Deutschen im „Polnischen Korridor“, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 56 (1921) 5–7, S. 169–185. 33 Michael Fahlbusch, „Wo der Deutsche … ist, ist Deutschland!“, Bochum 1994, S. 63–69; Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus, Göttingen 2000, S. 26. 34 Albrecht Penck, Deutscher Volks- und Kulturboden, in: Karl Christian von Loesch (Hg.), Volk unter Völkern, Breslau 1925, S. 62–73.

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35 Alexander Pinwinkler, „Hier war die große Kulturgrenze, die die deutschen Soldaten nur zu deutlich fühlten …“ Albrecht Penck (1858–1945) und die deutsche „Volks- und Kulturbodenforschung“, in: Österreich in Geschichte und Literatur 55 (2011), S. 180–191. Hans-Dietrich Schultz, „Ein wachsendes Volk braucht Raum“ Albrecht Penck als politischer Geograph, in: Bernhard Nitz (Hg. u.a.), 1810–2010: 200 Jahre Geographie in Berlin an der Universität zu Berlin (ab 1810) Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (ab 1828) Universität Berlin (ab 1946) Humboldt-Universität zu Berlin (ab 1949), Berlin 20112, S. 99–153. 36 Norman Henniges, „Naturgesetze der Kultur“: Die Wiener Geographen und die Ursprünge der Volks- und Kulturbodentheorie, in: ACME. An International E-Journal for Critical Geographies 14 (2015) 4, S. 1309–1351. 37 Penck, Deutscher Volks- und Kulturboden, S. 64, 68. 38 Guntram Herb, Under the Map of Germany. Nationalism and Propaganda 1918–1945, London u.a. 1997, S. 56; Schultz, „Ein wachsendes Volk“, S. 13ff., 122f. 39 Herb, Under the Map of Germany, S. 63f., 82f. 40 Albrecht Penck/Hans Fischer, Der Deutsche Volks- und Kulturboden in Europa, 1:3270000 [Schulwandkarte], Der Deutsche Volks- und Kulturboden in Mittel- und Osteuropa, 1:16000000 [Handkarte mit statistischen Zahlen auf der Rückseite], Leipzig 1925. 41 Herb, Under the Map of Germany, S. 109ff. 42 Norman Henniges und Philipp Meyer, „Das Gesamtbild des Vaterlandes stets vor Augen“: Hermann Haack und die Gothaer Schulkartographie, ca. 1900 bis 1945, in: Zeitschrift für Geographiedidaktik 44 (2016) 4, S. 37–60.. Henniges, „Naturgesetze der Kultur“, S. 1337ff. 43 Herb, Under the Map of Germany, S. 58ff. 44 Gründung einer Albrecht-Penck-Stiftung, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 63 (1928), S. 426. 45 Ute Wardenga, Emil Meynen – Annäherung an ein Leben, in: Geographisches Taschenbuch, Stuttgart 1995/1996, S. 18–41. 46 Fahlbusch, „Wo der Deutsche …“, S. 80–89. 47 Albrecht Penck, Nationale Erdkunde, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde 68 (1933), S. 321–335. 48 Norbert Krebs (Hg.), Atlas des deutschen Lebensraumes in Mitteleuropa, Leipzig 1937–1942, 49 Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Sig. II-VII, 46, Atlas des deutschen Lebensraumes 1933–1936. Albrecht Penck, Schreiben der Preußischen Akademie der Wissenschaften an das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung [Entwurf], vom 30.6.1933, Bl. 8. 50 Conrad Grau u.a., Die Berliner Akademie der Wissenschaften in der Zeit des Imperialismus. Die Jahre der faschistischen Diktatur 1933–1945, Teil 3, Berlin 1979, S. 306ff. 51 Penck, Lebenserinnerungen 1943, S. 67. 52 Albrecht Penck, Zur deutschen Kolonialfrage, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 72 (1937), S. 43–48. 53 Vgl. dazu die Beispiele bei Schultz, „Ein wachsendes Volk braucht Raum“, S. 101, 108f, 109, 137, 143. Über Pencks Distanz zum radikalen Antisemitismus, siehe: Henniges, „Naturgesetze der Kultur“, S. 1342; vgl. ders., Die Spur des Eises, S. 416ff.. 54 Albrecht Penck, Die Tragfähigkeit der Erde, in: Karl Heinrich Dietzel (Hg. u.a.), Lebensraumfragen europäischer Völker. Bd. 1, Europa, Leipzig 1941, S. 10–32, 32. 55 Hans Spreitzer, Albrecht Pencks letztes Lebensjahr. Erinnerung an einen großen Forscher und Lehrer, in: Zeitschrift für Gletscherkunde und Glaziologie 1 (1950), S. 187–192.

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Franz Petri Franz[iskus] Petri, zusammen mit →Hermann Aubin, Theodor Frings und →Franz Steinbach einer der Hauptvertreter des landesgeschichtlichen Ansatzes der Kulturraumforschung und eine der Zentralgestalten der deutschen →Westforschung auf wissenschaftlich-methodischem wie auf politisch-angewandtem Gebiet, wurde am 22. Februar 1903 in Wolfenbüttel geboren. Nach frühem Verlust der Eltern (1919), studierte er von 1921 bis 1925 Geschichte, Germanistik, Philosophie und evangelische Theologie an der Universität Berlin, wo er 1925 bei dem Mediävisten Dietrich Schäfer über eine protestantische Wohltätigkeitsorganisation in Bremen promovierte.1 Schäfer, der sich im Ersten Weltkrieg als Vorsitzender der Berliner Deutsch-Vlämischen Gesellschaft von 1917 hervorgetan hatte, war es auch, der Petris Aufmerksamkeit auf die Geschichte der romanisch-germanischen Sprachgrenze und „Volkstumsfragen“ in den westlichen Nachbarstaaten lenkte. Verstärkt worden dürfte dieses Interesse während eines zweijährigen Studienaufenthaltes an Johann Wilhelm Mannhardts Institut für Grenz- und Auslandsdeutschtum in Marburg sein. Großen methodischen wie inhaltlichen Einfluss übte ferner die 1926 publizierten „Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte“2 des Direktors des Bonner Instituts für geschichtlicher Landeskunde (IGL), Franz Steinbach aus, anhand derer er gegen Ende der 1920er Jahre die landesgeschichtliche Kulturraumforschung kennenlernte und mit dem er seit 1930 auch persönlich in engen wissenschaftlichen Austausch stand. Petris 1937 publizierte umfangreiche Habilitationsschrift „Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich. Die fränkische Landnahme in Frankreich und den Niederlanden und die Bildung der westlichen Sprachgrenze“, war eine der grundlegenden und richtungsweisenden Veröffentlichungen der deutschen Westforschung.3 Diese Arbeit war vor allem in Belgien entstanden, wo Petri von 1930 bis 1935 mit einem Stipendium der Rheinischen Forschungsgemeinschaft (RFG), des Vorgängers der →Westdeutschen Forschungsgemeinschaft (WFG), in Brüssel wohnhaft war und bei Hendrik J. van de Wijer an der Katholischen Universität Löwen studierte. Sie griff Steinbachs ein Jahrzehnt eher verfassten Thesen zur Entstehung der horizontal durch Belgien verlaufenden germanisch-romanischen Sprachgrenze auf und versuchte, diese auf der Grundlage einer umfangreichen Materialsammlung empirisch zu belegen. Hierzu inventarisierte er hilfswissenschaftliche, vor allem toponymische und namenkundliche, sowie in geringerem Maße auch archäologische, architektonische, rechtshistorische und auch „rassenanthropologische“ Befunde, auf deren Grundlage er mittels kartographischer Methoden einen tiefreichenden germanischen Einfluss im romanischen Sprachgebiet nachzuweisen versuchte. Das Ergebnis war eine, wie Petri und Steinbach es nannten, „dynamische“ Entstehungstheorie der Sprachgrenze. Diese sei nicht, wie herkömmlich angenommen, eine „statische“ Grenze, die äußerste erreichte Linie der frühmittelalterlichen frän-

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kischen Siedlungsbewegungen, sondern habe sich erst um die Jahrtausendwende als „Ausgleichslinie“ herausgebildet, an der sich die germanisch-romanische Mischkultur der Merowinger wieder getrennt habe. In der Wallonie und in großen Teilen Nord- und Ostfrankreichs, im Süden bis zur Loire und im Westen bis zur Bretagne, hätte nicht nur eine fränkische Besatzungsherrschaft geherrscht, sondern hier habe die fränkische Siedlung ursprünglich sogar eine größere Dichte besessen als nördlich der heutigen Sprachgrenze und sich eine eigene Volkskultur herausgebildet. An der fortbestehenden soliden germanischen ‚Volksgrundlage‘, auch im später rückromanisierten Gebiet, könne kein Zweifel bestehen. Diese umstrittenen, da vor dem Hintergrund der politischen Zeitverhältnisse für politische Interpretation anfälligen, und in der Folge zusammen mit Steinbach weiter ausgearbeiteten und vehement verteidigten, Thesen, die auch eine grundlegende Kritik an der „belgizistischen“ Staatsidee Henri Pirennes beinhalteten,4 verursachten internationales Aufsehen, weit mehr als die im Kern ähnlichen Thesen Steinbachs es Mitte der zwanziger Jahre taten. Dazu trug auch bei, dass Petri sich widersprüchlich zur „Gegenwartsbezogenheit“ seiner für sich genommen lediglich das Frühmittelalter betreffenden Forschung äußerte. Seine mittlerweile anhand von modernen namenkundlichen und archäologischen Forschungsergebnissen weitgehend widerlegte Theorie war zu seiner Zeit aber trotz erheblicher methodischer Mängel, die unter anderem bereits 1938 von Ernst Gamillschegg als „allzu lebhafte Phantasie, die wissenschaftliche Kriterien außer acht ließ“, kritisiert worden war, originell genug, um auf Interesse nicht weniger Historiker, Sprachwissenschaftler und Volkskundler auch in Belgien und den Niederlanden zu treffen.5 Anders als 1930 geplant, wurde Petri nach Auslaufen des Stipendiums der DFG 1935 nicht Steinbachs Assistent am Bonner IGL, sondern übernahm am 1. April 1935 eine außerplanmäßige Assistentur am Deutsch-Niederländischen Institut (DNI), einem 1931 gegründeten „An-Institut“ der Universität Köln, an der er sich auch im Juni des gleichen Jahres bei Johannes Ziekursch für niederländische Geschichte habilitierte. Die Initiative zur Errichtung dieses Instituts war ursprünglich 1927 von Sympathisanten der flämischen Bewegung, dem Lektor für Niederländisch Karl Menne, dem im „Rheinischen Abwehrkampf“ (Abwehr) engagierten Kölner Rechtsanwalt Franz Schönberg und Robert Paul Oszwald vom Reichsarchiv Potsdam, ausgegangen, die bei der Gründung 1931 jedoch, nicht zuletzt aufgrund der Interventionen Konrad Adenauers, der als Kölner Oberbürgermeister die Oberaufsicht über die städtische Universität innehatte, und des niederländischen Generalkonsuls in Düsseldorf, nicht zum Zuge kamen.6 Als kommissarischer Direktor fungierte der Germanist Friedrich von der Leyen, der die Anwerbung Petris als Fachmann für niederländische Geschichte verantwortete.7 Der geographische Rahmen des von Stadt und Universität Köln, der niederländischen Regierung und einer Stiftung finanzierten Instituts wurde zunächst auf die Niederlande beschränkt und Flandern zunächst ex-

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plizit ausgeklammert, um großgermanischen und „großniederländischen“ Gedanken keinen Vorschub zu leisten, eine Unterscheidung, die nach der Entlassung von der Leyens, dessen Ehefrau Jüdin war, im Jahre 1938 freilich nicht mehr lange durchgehalten wurde. Unter dem neuen Direktor, dem Kunsthistoriker Hans Kauffmann, übernahm Petri, 1937 in die Partei eingetreten, die Geschäftsführung des Instituts. Das Zustandekommen eines für ihn vorgesehenen neu errichteten Lehrstuhls für „mittlere und neuere Geschichte sowie Geschichte der Niederlande“ zog sich aufgrund von finanziellen und organisatorischen Schwierigkeiten bis 1942 hin; die damit verbundene Leitung des Instituts konnte er aufgrund seiner Kriegstätigkeit in Belgien nicht mehr wahrnehmen. Im Jahr zuvor war eine von Ernst Anrich geplante Berufung Petris auf einen Lehrstuhl unter anderem für „Germanisches Volkserbe“ an der →Reichsuniversität Straßburg gescheitert.8 In seinen Kölner Lehrveranstaltungen las Petri über „Entstehung und Geschichte der völkischen, politischen und kulturellen Grenzen zwischen West- und Mitteleuropa“ und „die Niederlande in ihrem Verhältnis zu Deutschland und den Westmächten“, behandelte aber auch die Geschichte der flämischen Bewegung, westdeutsche Stammes- und Volksgeschichte und allgemeine Themen wie „Niederländische Kultur im Zeitalter Rubens und Rembrandts“.9 In Verbindung stand er auch mit den bei der Institutsgründung zunächst ausgebooteten Gruppen, die im Umkreis des DNI und im Institut für Raumpolitik des nationalkonservativen Rechtskatholiken Martin Spahn tätig geblieben waren.10 Hier ist insbesondere die Deutsch-Vlämische Arbeitsgemeinschaft (DeVlag) zu nennen,11 die 1935 in Kölner, Löwener und Genter katholischen Studentenkreisen als kulturell-wissenschaftliche Vereinigung entstanden war und die deutsch-flämischen Kontakte der katholischen akademischen Studentenverbindungen zusammenfasste. Auf flämischer Seite geleitet von Jef van de Wiele, waren in Köln vor allem Mitarbeiter der „Außenstelle West“ der Reichsstudentenführung aktiv, darunter Rolf Wilkening (Chef der Außenstelle), Fritz Scheuermann und Petris Doktorand Ludwig (Lutz) Pesch,12 die gleich Petri während des Krieges in Brüssel tätig wurden. Als Bindeglied zwischen den deutschen und flämischen Flügeln der Vereinigung dienten Veranstaltungen wie die zwischen 1935 und 1939 in rheinischen, westfälischen und flämischen Städten organisierten Deutsch-Flämische Kulturtage und die unregelmäßig erscheinende zweisprachige Zeitschrift De Vlag, deren Redaktion Petri zwischen Februar und Dezember 1938 leitete, bevor die Vereinigung nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939 ihre Tätigkeit vorläufig einstellte, um im August 1940 von Wilkening und Van de Wiele als flämische Kollaborationsbewegung wiederbelebt zu werden. Das Deutsch-Niederländische Institut bildete auch den Stützpunkt für eine im Auftrage des Kölner Regierungspräsidenten Eggert Reeder von dessen Volkstumsreferenten Franz Thedieck Ende 1939 am Deutsch-Niederländischen Institut der Universität Köln einberufene Kommission von Wissenschaftlern und Militärs, der die „wissenschaftliche Vorbereitung“ der Kultur- und Volkstumspolitik der bevorstehenden Besatzungsverwaltung Belgiens und der Niederlande oblag, wohl eines der

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deutlichsten Beispiele für die Zweckgebundenheit der Westforschung.13 Von ihren Mitgliedern ist neben Petri vor allem der Berliner Mediävist und Dozentenführer Werner Reese hervorzuheben, der sich 1939 bei Arnold Oskar Meyer mit einer Arbeit über das Verhältnis der Niederlande zum deutschen Reich im Mittelalter habilitiert hatte, und der auf Petri offenbar großen Einfluss ausübte.14 In der „Stunde der Experten“, 15 nach dem Überfall auf die Benelux-Staaten im Mai 1940, bildete diese Gruppe den Kern der Kulturpolitischen Abteilung bei der Militärverwaltung für Belgien und Nordfrankreich in Brüssel, Reeder als Chef der Militärverwaltung unter General Alexander von Falkenhausen, Thedieck als dessen Generalreferent und Petri und Reese als Referenten für Volkstum, Kultur und Wissenschaft im Range von Kriegsverwaltungsräten unter dem württembergischen Ministerialbeamten Eugen Löffler als formellen Leiter der Kulturabteilung. Im Gegensatz zur deutschen Besatzung Belgiens von 1914 bis 1918, in deren Verlauf die deutsche „Flamenpolitik“ weitgehend improvisiert und uneinheitlich geführt wurde, sollte sich die Kultur- und Volkstumspolitik des Zweiten Weltkrieges durch Planung und ‚wissenschaftliche Fundierung‘ auszeichnen. Thedieck, einer der wichtigsten Architekten der Besatzungspolitik, hatte Petri und Reese speziell angeworben, um „unsere volkspolitische Arbeit auf die Erkenntnisse der historischen Wissenschaft zu stützen“.16 Petri kam dabei die Rolle des Belgien-, Reese die des Niederlandeexperten zu. Durch die Beschränkung der vom Oberkommando des Heeres (OKH) ursprünglich vorgesehenen einheitlichen Militärverwaltung auf Belgien (sowie angrenzende Gebiete Nordfrankreichs) und die Verlegung ihres Sitzes von Den Haag nach Brüssel, war Petri 1940 in eine zentrale Rolle vorgerückt. Spätestens nach dem Tod seines „Kriegskameraden“ Reese im Sommer 1941, und dessen erst mit einiger Verzögerung erfolgter Ersetzung durch Petris Kölner Doktoranden →Fritz Textor, war er als faktischer Leiter des Wissenschafts- und des Volkstumsreferats der unangezweifelte Form- und Ideengeber der Kultur- und Volkstumspolitik der Militärverwaltung, auch wenn er offiziell Löffler nachgeordnet blieb. In sein Aufgabengebiet fielen Unterrichtsangelegenheiten, die Aufsicht über das Hochschulwesen, die Sprachgesetzgebung und die Nationalitätenfrage. Vor allem in der von vielen Flamen als unzulänglich betrachteten Anwendung der Sprachgesetzgebung durch die belgischen Regierung sah er einen Ansatzpunkt für die deutsche Verwaltung, um flämische Sympathien einzuwerben. Dieser Zielstellung schien sich zunächst eng an die deutsche Besatzungskulturpolitik in Belgien während des ersten Weltkriegs anzulehnen. Durch Förderung des flämischen Nationalismus sollte Belgien von einer „französischen Ostmark“ in eine „deutsche Westmark“ umgeformt werden.17 Hinzu kam das Ziel einer „Gleichschaltung“ des stark „versäulten“ (nach weltanschaulichen Kriterien gegliederten) Kulturlebens in Belgien und dessen Umstellung auf eine „volkspolitische“ Grundlage, ganz im Sinne der „Neuen Ordnung“, ohne wie in den Niederlanden das straffe deutsche System inklusive Kulturkammer zu übernehmen.

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Der Vlaams Nationaal Verbond (VNV) unter Staf Declercq und Hendrik Elias als „Neue Ordnung“-Bewegung mit einigermaßen nennenswertem Rückhalt in der flämischen Bevölkerung, war dafür der bevorzugte Kollaborationspartner. Als diesem im Laufe der Besatzung mit der von Van de Wiele im August 1940 wiederbelebten und im Mai 1941 auf Initiative Wilkenings in die SS-Strukturen, nämlich in die „Germanische Freiwillige Leitstelle“ Gottlob Bergers, aufgenommenen DeVlag ein politischer Konkurrent erwuchs, plädierte Petri für dessen Eindämmung. Dabei gaben strategische und nicht politisch-prinzipielle Erwägungen den Ausschlag, die offen großdeutsch-annexionistische Rhetorik und Politik der SS-Instanzen betrachtete er als unrealistisch und kontraproduktiv für das Funktionieren der Besatzungsverwaltung, gleichwohl konnte die DeVlag als Druckmittel gegenüber dem VNV eingesetzt werden.18 Recht bald wurde aber von einem rein flamenpolitischen Ansatz Abstand genommen und ein dezidiert „belgischer Kurs“ gefahren. Diese Akzentverschiebung lässt sich deutlich an den beiden im Juni und November 1940 verfassten programmatischen Erklärungen ablesen. Betonten Petri und Reese in ihrem ersten „Bericht über Tätigkeit und Arbeitsziele der Militärverwaltung auf dem Gebiet der Kultur“ noch, dass das Ziel ihrer Kulturpolitik war, „die Kultur der belgischen Niederlande fest an die germanisch-deutsche Mitte Europas zu binden“ und ein „Wiederhineinwachsen Belgiens in den germanisch-niederdeutschen Lebensraum“ zu ermöglichen, sah die zweite, nach einem halben Jahr Besatzungserfahrung, verfasste kulturpolitische Absichtserklärung das Zusammenwachsen Belgiens und Deutschlands auch aufgrund einer angeblichen „reichspolitischen Tradition und Notwendigkeit“ vor. Eine solche Formulierung war besser geeignet, eine Kulturpolitik zu rechtfertigen, die nicht nur Flandern, sondern auch den französischsprachigen Landesteil Belgiens umfasste.19 Diese erhöhte Aufmerksamkeit lässt sich außer mit militärischen Notwendigkeiten auch aus dem Motiv erklären, das anfängliche durch stärkeres Interesse an den Flamen verursachte Ungleichgewicht zu korrigieren (die frankophonen Rexisten Léon Degrelles hatten sich als verlässlichster belgischer Kollaborationspartner erwiesen), was unter anderem mit dem 1942 begonnenen und bis zum Kriegsende dauernden Projekt eines großangelegten „Wallonienwerks“ erreicht werden sollte, das der Wallonie das „Eingewöhnen in ein deutschgeführtes Europa“ zu erleichtern hatte. Diesen Zielen dienten auch eine im Frühjahr 1942 im Brüsseler Palais du Cinquentaire organisierte Ausstellung „Deutsche Größe“, in deren Katalog Petri schrieb, dass „Wallonien […] das nordische Erbe […] neben seiner vorgeschichtlichkeltoromanischen Grundsubstanz tief in seinem Blut und Wesen“20 trage, und ein großangelegtes Gastprofessorenprogramm, im Rahmen dessen deutsche Hochschullehrer vor allem aus geisteswissenschaftlichen Fächern an die beiden staatlichen belgischen Universitäten im niederländisch- und im französischsprachigen Landesteil gesandt wurden, darunter Petris Mentor Franz Steinbach und der Vorgeschicht-

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ler Kurt Tackenberg nach Gent, der Romanist Walter Mönch und der Geograph Theodor Kraus nach Lüttich. Zur Einschätzung von Petris Rolle in Belgien, lässt sich feststellen, dass das Bild eines wohlwollenden und „Schlimmeres verhütenden“ Besatzungsoffiziers, das er selbst und andere Vertreter der Militärverwaltung (etwa Falkenhausen in seinen Memoiren) nach 1945 verbreiteten, in jedem Fall unhaltbar ist. Sein Einfluss sollte hingegen auch nicht überbewertet werden, dafür sorgte bereits die im Laufe des Krieges nachlassende Bereitschaft der Heeresleitung, nicht direkt als „kriegswichtig“ betrachtete Aktivitäten wie Petris Kulturpolitik zu unterstützen. Auch Ämterkonkurrenz und persönliche Konflikte aus der Kölner Vorkriegszeit scheinen eine Rolle gespielt, und, bei aller Ähnlichkeit im „völkischen“ Denken, ein Abwandern Petris zur SS verhindert zu haben. Der verhältnismäßig „gemäßigte“ Charakter seiner Kulturund Volkstumspolitik war nicht von Gegnerschaft zum Nationalsozialismus motiviert, und unterschied sich in ihren Zielen nicht von denen der radikaleren, von der SS dominierten Instanzen, mit denen er weiterhin im engen Kontakt stand, darunter auch Hans Ernst Schneider. Lediglich um Mittel und Taktik zur Erreichung des gleichen Zieles, der Errichtung einer nationalsozialistischen Gesellschaft in Belgien und dessen Angliederung an das Reich, wurde gestritten. Petri hat höchstens befürchtet, um die Worte seines Vorgesetztem Löffler zu verwenden, dass die Umsetzung des Projektes „durch eine verfrühte Gesamtlösung gefährdet“ werden könne.21 1943 schied der katholische Thedieck auf Drängen der SS aus der Militärverwaltung aus, bevor diese im Juli 1944 endgültig durch eine Zivilverwaltung mit dem Köln-Aachener Gauleiter Joseph Grohé als Reichskommissar an der Spitze ersetzt wurde. Das erlaubte Petri jedoch, sich als nach Maßgabe der Besatzung „korrekt auftretenden“, paternalistischen Besatzungsoffiziers zu verstehen, der weitergehende Eingriffe seitens der SS abwehrte. Das verhinderte nach Kriegsende das Entstehen jedes Ansatzes eines Unrechtsbewusstseins. Vor allem begriff er sich als Wissenschaftler und achtete darauf, seine Reputation zu wahren. So wies er die allzu offensichtliche Instrumentalisierung seiner Forschung zurück, wie die Eingabe des französisch-flämischen Priesters Jean-Marie Gantois im Namen des Vlaamsch Verbond van Frankrijk, der Ende 1940 unter ausdrücklicher Berufung auf Petris „Volkserbe“ die Annexion Nordfrankreichs bis zur Somme an ein „Großgermanisches Reich“ gefordert hatte. Das verhinderte nicht, dass seine „Volkserbe“-Thesen explizit den von Staatssekretär Wilhelm Stuckart in Hitlers Auftrag im Sommer 1940 erarbeiteten Plänen für eine neue deutsch-französische Grenze, die berüchtigte „Führerlinie“ zugrunde lagen.22 Bezeichnenderweise war sein „Volkserbe“ eines der wenigen wissenschaftlichen Werke, von dem Hitler persönlich behauptete, es begeistert gelesen zu haben. In der unmittelbaren Nachkriegszeit sah Petris Karriere nicht vielversprechend aus. Von 1946 bis 1947 von den englischen Militärbehörden aufgrund seiner Position in der Brüsseler Militärverwaltung in Recklinghausen interniert, war er zunächst durch den Entnazifizierungshauptausschuss der Stadt Köln als Mitläufer ein-

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gestuft und vom nordrhein-westfälischen Kultusministerium in den Ruhestand versetzt worden. Durch Eingaben hochrangiger belgischer Wissenschaftler, erreichte Petri seine Herabstufung in die Kategorie V (Entlastete) und seine Versetzung aus dem Ruhe- in den Wartestand, da der Kölner Lehrstuhl in der Zwischenzeit umgewidmet worden war. Erst 1950 wurde ihm auf Empfehlung Hermann Aubins die Stelle des Direktors der Wissenschaftlichen Hauptgeschäftsstelle des zum Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) gehörenden Provinzialinstituts für westfälische Landes- und →Volkskunde in Münster angetragen, die er bis 1961 bekleidete. Unter seiner Leitung entwickelte sich die außeruniversitäre Geschäftsstelle zu einem eigenständigen wissenschaftlichen Institut. Westfalen war nach dem Rheinland das zweite klassische innerdeutsche „Exerzierfeld“ der Kulturraumforschung, zu nennen ist insbesondere das bereits 1929 begonnene Raumwerk Westfalen23, das Petri zusammen mit Aubin und anderen in seiner Amtszeit fortführte. Seine Tätigkeit beschränkte sich jedoch weitgehend auf die Herausgeberrolle. Ohne den Ansatz der Kulturraumforschung explizit aufzugeben (noch 1977 verbreitete er in bei Ernst Anrichs WBG herausgegebenen Sammelbänden seine alte These von der fränkischen Landnahme bis zur Loire), vollzog er ähnlich wie Steinbach und Aubin stillschweigend eine Rückkehr zur traditionellen Territorial- und Geistesgeschichte, vorzugsweise der Niederlande und Nordwestdeutschlands. Die methodischen Defizite und die politische Diskreditierung der Kulturraumforschung waren zu offensichtlich. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1968 publizierte er unter anderem eine umfangreiche Kulturgeschichte der Niederlande im Handbuch der Kulturgeschichte, ferner die Beiträge über die Niederlande, Belgien und →Luxemburg für das von →Theodor Schieder mitherausgegebene Handbuch der europäischen Geschichte und konzipierte eine mehrbändige Rheinische Geschichte.24 Unter Kontinuitätsaspekten hervorzuheben ist die explizite Wiederbelebung der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft (WFG) als Arbeitsgemeinschaft für westdeutsche Landes- und Volksforschung (AWLV) im September 1950 mit Petri als Schriftführer und Steinbach wiederum als Leiter. Ihr Ziel war es, „im Rahmen der heutigen Möglichkeiten und mit einer Zielsetzung, die den nun europäischen Notwendigkeiten Rechnung trägt, die früheren Wissenschaftsbeziehungen über die westlichen Grenzen wieder [zu] knüpfen“, so das Protokoll der ersten Sitzung der AWLV. Finanziell ermöglichte dies nicht zuletzt Franz Thedieck25, der mittlerweile Staatssekretär im Ministerium für gesamtdeutsche Fragen war. Nach Steinbachs Emeritierung wechselte Petri 1961 auf dessen Lehrstuhl für Rheinische Landesgeschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn und wurde sein Nachfolger als Direktor des IGL. Auch nach seiner Emeritierung blieb er wissenschaftlich tätig, 1969 mit einer kurzfristigen Honorarprofessor „für die Geschichte des kontinentalen Nordwestraums“ und als Kuratoriumsmitglied des im Folgejahr gegründeten Instituts für vergleichende Städtegeschichte an der Universität Münster, wo er ab 1974 den Projektbereich Kirche und gesellschaftli-

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cher Wandel in deutschen und niederländischen Städten der werdenden Neuzeit leitete. Bis zu seinem Lebensende unterhielt Petri wissenschaftliche Kontakte mit Belgien und den Niederlanden, wofür ihn die →Stiftung FVS 1970 mit dem einschlägigen Joost van den Vondelpreis auszeichnete. Aufschlussreich ist auch Petris Engagement bei der Klärung der zwischen Deutschland und Belgien 1956 noch immer strittigen Frage eines „Franctireurkrieges“ im Ersten Weltkrieg in einer paritätischen Deutsch-Belgischen Historikerkommission zuungunsten der deutschen Version. Zur Beurteilung von Petris Rolle lässt sich aber feststellen, dass nichts auf eine „Wiedergutmachung“ aus schlechtem Gewissen wegen seiner Kriegstätigkeit hindeutet, sondern dass es sich um eine Überzeugung handelte, zu der er – entgegen aller zeitgenössischen Propaganda – aufgrund von Aktenstudium während der 1930er Jahre in Brüssel gekommen war, was er freilich, da er ahnte, dass diese Erkenntnis seiner Karriere nicht weiter förderlich sein würde, nicht weiterverfolgte.26 Kurz nach seinem 90. Geburtstag verstarb Petri am 8. März 1993 in Hamburg. Wohl nicht zufällig beginnt die Auseinandersetzung um Kulturraumforschung und Westforschung in Deutschland und den westlichen Nachbarstaaten,27 mit der frühen Ausnahme Ivo Schöffers,28 erst nach seinem Tode und dem Verfügbarwerden seines Nachlasses im Westfälischen Archivamt.

Ulrich Tiedau

1 Franziskus Petri, Unser Lieben Frauen Diakonie. 400 Jahre evangelische Liebestätigkeit in Bremen, Bremen 1925. 2 Franz Steinbach, Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte, Marburg 1926. 3 Franz Petri, Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich. Die fränkische Landnahme in Frankreich und in den Niederlanden und die Bildung der westlichen Sprachgrenze, Bonn 1937 (19422). 4 Franz Petri, Staat und Nation in Belgien. Eine grundsätzliche Kritik des Schlußbandes von H. Pirennes „Histoire de Belgique“ und der pirennesche Auffassung der belgisch-niederländischen Geschichte, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 3 (1933), S. 91–123. 5 Martina Pitz, Franz Petris Habilitationsschrift in inhaltlich-methodischer und forschungsgeschichtlicher Perspektive, in: Burkhard Dietz (Hg. u.a.), Griff nach dem Westen. Die ‚Westforschung‘ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum, Münster u.a. 2003, S. 225–247. 6 Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 902, Konrad Adenauer, 275, 1, Adenauer kannte Schönberg und Menne aus dem Beirat der 1917 gegründeten Deutsch-Vlämischen Gesellschaft. Die in den frühen 1920er Jahren aufgelöste DVG ist nicht mit der DeVlag zu verwechseln. 7 Friedrich von der Leyen, Erinnerungen. Leben und Freiheit der Hochschule, Köln 1960, S. 174f.; Karl Otto Conradi, Völkisch-nationale Germanistik in Köln. Eine unfestliche Erinnerung, Schernfeld 1990. 8 Peter Schöttler, Die historische „Westforschung“ zwischen „Abwehrkampf“ und territorialer Offensive, in: ders., Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a. M. 1997, S. 213. 9 Bernd Heimbüchel, Klaus Pabst, Kölner Universitätsgeschichte. Das 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1988.

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10 Gabriele Clemens, Martin Spahn und der Rechtskatholizismus in der Weimarer Republik, Mainz 1983; Frank Golczweski, Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus. Personengeschichtliche Ansätze, Köln 1988, S. 338–349. 11 Frank Seberechts, Geschiedenis van de DeVlag. Van cultuurbeweging tot politieke partij 1935– 1945, Gent 1991; Frieda Meire, De DeVlag voor mei 1940, in: Belgisch Tijdschrift voor Nieuwste Geschiedenis 13 (1982), S. 419–466. 12 Promotion bei Petri über Volk und Nation in der Geistesgeschichte Belgiens 1939. 13 Etienne Verhoeyen, De „Sondergruppe Student“ en de voorbereiding van de Militärverwaltung in België, in: Belgische bijdragen tot de Militaire Geschiedenis 3 (2005), 89–98. 14 Werner Reese, Die Niederlande und das Deutsche Reich, Teil 1: Die Niederlande im Reich von den Anfängen bis ins 14. Jahrhundert, Berlin 1941; Franz Petri, Die Niederlande und das Deutsche Reich. Zu W. Reeses nachgelassenem Werke, in: DALV 7 (1943), S. 1–11. 15 Peter Schöttler, Die historische „Westforschung“, S. 212. 16 Thedieck an Petri vom 2. 8. 1944 (LAM, NL Franz Petri, Mappe 1938–1940, Varia), zit. n. Marnix Beyen, Wetenschap, politiek, national-socialisme. De cultuurpolitiek van het militair bezettingsbestuur in België, 1940–1944, in: Cahiers d’Histoire du Temps Présent 11 (2003), S. 47–70, 50. 17 Auch die 1966 in der Festschrift für Kurt von Raumer publizierte Untersuchung der deutschen Flamenpolitik des Ersten Weltkriegs geht auf einen Bericht für die Militärverwaltung zurück: Franz Petri, Zur Flamenpolitik des Ersten Weltkrieges, in: Rudolf Vierhaus (Hg. u.a.), Dauer und Wandel der Geschichte – Aspekte europäischer Vergangenheit, Münster 1966, S. 513. 18 Bruno de Wever, Greep naar de Macht. Vlaams-nationalisme en Nieuwe Orde. Het VNV 1933– 1945, Tielt 1994; Albert de Jonghe, Hitler en het politieke lot van België, Kapellen 1972; ders., De strijd Himmler-Reeder om de benoeming van een HSSPF (1942–1944), in: Bijdragen tot de geschiedenis van de Tweede Wereldoorlog Bd. 3 (1974), S. 9–81; Bd. 4 (1976), S. 5–152; Bd. 5 (1978), S. 5– 178; Bd. 7 (1982), S. 97–178; Bd. 8 (1984), S. 5–234. 19 Marnix Beyen, Oorlog en verleden. Nationale geschiedenis in België en Nederland, 1938–1947, Amsterdam 2002, S. 91f. 20 Zitiert nach Schöttler, Die historische „Westforschung“, S. 248. 21 Zitiert nach Marnix Beyen, Wetenschap, politiek, national-socialisme. De cultuurpolitiek van het militair bezettingsbestuur in België, 1940–1944, in: Cahiers d’Histoire du Temps Présent 11 (2003), S. 47–70, S. 49f. 22 Peter Schöttler, Eine Art „Generalplan West“: Die Stuckart-Denkschrift vom 14. Juni 1940 und die Planungen für eine neue deutsch-französische Grenze im Zweiten Weltkrieg, in: Sozial.Geschichte 18 (2003), S. 83–131. 23 Alfred Hartlieb von Wallthor, Entstehung, Entwicklung und Inhalt des Werkes „Der Raum Westfalen“, in: Franz Petri (Hg. u.a.), Der Raum Westfalen, Bd. VI, 2: Fortschritte der Forschung und Schlußbilanz, Münster 1996, S. 327–380. 24 Franz Petri, Die Kultur der Niederlande (Handbuch der Kulturgeschichte), Frankfurt 1961; Handbuch der europäischen Geschichte Bd. 6 (1968); Bd. 7/2 (1979); Bd. 5 (1981); Franz Petri, Georg Droege (Hg.), Rheinische Geschichte, 3 Bde, Düsseldorf 1976–1983. 25 Franz Thedieck (26.9.1900–20.11.1995), Zentrum, später CDU, 1923–1930 stellvertretender Leiter der Preußischen Abwehrstelle für die besetzten Gebiete im Rheinland. Oberregierungsrat beim Regierungsbezirk Köln. 1966–1972 Intendant des Deutschlandfunks. 1964–1968 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung. 1949–1964 beamteter Staatssekretär im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen. 26 Peter Schöller, Der Fall Löwen und das Weißbuch. Eine kritische Untersuchung der deutschen Dokumentation über die Vorgänge in Löwen vom 25. bis 28. August 1914, Köln u.a. 1958; Franz Petri, Peter Schöller, ‚Zur Bereinigung des Franktireurproblems vom Aug. 1914‘, in: VfZ 9 (1961), S. 234–

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248; vgl. John Horne, Alan Kramer, German Atrocities, 1914. A history of denial, New Haven, London 2001, S. 412–416. 27 Vgl. die Themanummer ‚De Westforschung en Nederland‘ Tijdschrift voor Geschiedenis 118 (2005), no. 2. 28 Ivo Schöffer, Het nationaal-socialistische beeld van de geschiedenis der Nederlanden, Arnhem 1956.

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Ludwig Petry Ludwig Petry, einer der wichtigsten Landeshistoriker der ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik Deutschland, wurde am 3. Juni 1908 in Darmstadt geboren. Er war der Sohn des hessischen Staatsanwalts gleichen Namens und dessen Frau Katharina, geb. Sander. Petry wuchs in Rheinhessen und in Darmstadt auf, wo er 1926 am dortigen Ludwig-Georgs-Gymnasium sein Abitur machte. Anschließend begann er ein Studium der Geschichte, Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Freiburg im Breisgau (1926–1927), das er in München (1928) und Gießen (1927–1928 und 1930) fortsetzte. In Gießen, wo er sein Staatsexamen ablegte und anschließend ein Referendariat absolvierte, machte er die Bekanntschaft von →Hermann Aubin, der dort zwischen 1926 und 1929 lehrte. Zu seinen akademischen Lehrern gehörten zuvor bereits in München Hermann Oncken und Paul Joachimsen. Petry folgte Aubin 1930 nach Breslau und wurde dort dessen wissenschaftlicher Assistent. 1932 schloss er seine Dissertation über die schlesische Kaufmannsfamilie Popplau im 15. und 16. Jahrhundert ab. Im Auftrag der Historischen Kommission für Schlesien, für die er von Oktober 1934 bis März 1940 als Sekretär tätig war, arbeitete er federführend an der geplanten mehrbändigen, interdisziplinär im Geiste der deutschen →Ostforschung angelegten Geschichte Schlesiens, deren erster Band im Jahre 1938 erschien. Schon 1937 hatte sich Petry mit einer Arbeit über Breslau und seine Oberherren aus dem Haus Habsburg bei Aubin habilitiert und eine Dozentur an der Breslauer Friedrich-Wilhelms-Universität übernommen.1 Petry gehörte in jenen Jahren einer Reihe von nationalsozialistischen Organisationen an: der SA (seit November 1933), der NSDAP (seit Mai 1937), dem NS-Dozentenbund (seit 1941), dem NS-Lehrerbund (seit Juli 1934), dem NSV (seit 1936) und dem NS-Altherrenbund (seit 1937). 1940 wurde Petry in die Wehrmacht einberufen. Er war im Fronteinsatz auf dem Balkan, in Russland und Frankreich tätig. Als Oberleutnant (seit 1944) geriet er schließlich in französische Kriegsgefangenschaft. Während des Krieges hatte er sich an der Ludwigs-Universität Gießen um den Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte in Nachfolge Gerd Tellenbachs beworben, nachdem die erste Berufungsliste dort 1943 zurückgezogen werden musste. In einer neuen Liste des Rektors der Universität vom 9. April 1943 wurde Petry hinter dem Landeshistoriker Heinrich Büttner und dem Münsteraner Johannes Bauermann an dritter Stelle platziert.2 Da Büttner wie schon andere Kandidaten der ersten Liste von den NS-Behörden als Katholik abgelehnt wurde und Bauermann den Ruf nicht annahm, fiel die Wahl schließlich auf den Protestanten Petry, der in einem Gutachten von Hermann Aubin eindringlich empfohlen worden war.3 Am 1. Januar 1944 nutzte Petry einen Aufenthalt im Reservelazarett, um seinen Dienst in Gießen anzutreten. Außer einer Vortragsreihe mit dem Titel „Deutschland und der Osten“, während der er sich mit Themen wie „Oststaaten und Ostvölker im deutschen Zweifrontendruck-Schicksal“ beschäftigte, kamen weitere Veranstaltungen nicht zustande, weil sein Versetzungswunsch von sei-

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ner Wehrmachtseinheit abgelehnt wurde. Zwar wurde er am 26. Februar 1944 zum außerordentlichen Professor berufen und eine Planstelle als Direktor des Historischen Seminars für ihn eingerichtet, doch verhinderten die Kriegsereignisse eine reguläre Übernahme der Professur.4 Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft am 28. September 1946 bemühte sich Petry um die Wiederaufnahme seiner Gießener Tätigkeit. Die dortige Universität hatte allerdings in der Zwischenzeit infolge der Kriegszerstörungen (bis 1957) keine Philosophische Fakultät mehr. Im Juli 1947 wurde er zudem von der Hessischen Staatsregierung aufgrund des Gesetzes zur Befreiung vom Nationalsozialismus aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Am 9. September 1947 wurde Petry im Entnazifizierungsverfahren durch die Spruchkammer Gießen als Mitläufer eingestuft und zu einer Geldbuße von 500 Reichsmark verurteilt.5 Er hatte familiäre Gründe für den Beitritt zu den NS-Organisation angegeben und seine allgemeine Passivität in ihnen betont. Zudem habe er die Kontakte zu seinem ehemaligen Breslauer Kollegen, „dem jüdischen Universitätsprofessor Koebner“ nach dessen Emigration nach Palästina aufrechterhalten.6 Weitere Versuche, eine universitäre Anbindung zu erhalten – unter anderem in Frankfurt am Main – scheiterten in der Folgezeit, so dass sich Petry gezwungen sah, als Geschichtsdozent bei den von der evangelischen Kirche organisierten „Pädagogischen Ausbildungslehrgängen für Heimkehrer“ in Fulda sowie für die Evangelische Akademie für Hessen und Nassau zu arbeiten (bis 1950). In jenem Jahr erhielt er einen Ruf auf die außerordentliche Professur für Mittlere und Neuere Geschichte und geschichtliche Landeskunde an der 1946 neu gegründeten Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Seine Antrittsvorlesung trug den Titel „Mittelrhein und Schlesien als Brückenlandschaften der deutschen Geschichte“. Vier Jahre später zum ordentlichen Professor berufen, lehrte er dort bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1973 und betreute circa 80 Dissertationen. Sein Interesse dort galt nun immer stärker seiner rheinhessischen Heimat, die Vielzahl der Publikationen über Schlesien zeugen jedoch von den weiter bestehenden Kontakten im Rahmen der wieder aufgenommenen Ostforschung. Petry gehörte dem →Johann Gottfried Herder-Forschungsrat in Marburg als Gründungsmitglied ebenso an wie der reorganisierten Historischen Kommission für Schlesien, deren Vorsitzender er von 1969 bis 1989 war. Ausserdem war er Mitglied des Kulturwerks Schlesiens und des Vereins für Geschichte Schlesiens sowie des Vereins für schlesische Kirchengeschichte. Neben verschiedenen Festschriften zu seinen Ehren wurde er mit einer Reihe von Preisen bedacht, darunter der Gerhard-Hauptmann-Plakette und dem Georg-Dehio-Preis. Petry starb am 25. November 1991 in Mainz. Teile seines Nachlasses befinden sich im Mainzer Universitätsarchiv. Die Gründung eines seinen Namen tragenden Instituts kam de facto letztlich nicht zustande. Petry war sowohl vor als auch nach 1945 ein Anhänger eines großdeutschen Geschichtsmodells. Dabei kritisierte er die „positivistisch-finale Übersteigerung des Entwicklungsgedankens“ durch die preußische Historiographie ebenso wie die klerikal-antiprotestantische Lesart eines österreichischen Sonderbewusstseins. Die

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zentrale Rolle des „deutschen Ostens“ stand für ihn außer Frage. Vor 1945 plädierte er dabei für eine „Einheit von Staats-, Volks- und Kulturgrenze“ unter Anwendung „großräumiger Umsiedlungen“.7 Dabei beteiligte er sich neben →Walter Kuhn und →Theodor Schieder auch an den Arbeiten seines Lehrers Aubin im Kontext konkreter Maßnahmen zur Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung des besiegten Polens.8 Nach der deutschen Niederlage stellte er dann den Gedanken einer „latenten Schicksalsgemeinschaft mit den Ostvölkern“ stärker in den Vordergrund. Zwar müsse man dabei den alten Fehler einer „latenten Anfälligkeit für eine fremdbrüderliche Geschichtsschau auf Kosten der historischen Gerechtigkeit gegen das eigene Volk“ in Zukunft vermeiden, gleichzeitig jedoch die Scheuklappen gegenüber nichtdeutschen Leistungen unter „verzerrender Überbelichtung der eigenen Volksleistung“ ablegen.9 Er selber sei mitbeteiligt daran gewesen, dass damals in sehr irriger, nahezu geschichtsfälschender Weise der Osten als drohende Einheit hingestellt worden sei.10 Petry gehörte somit zu den wenigen Ostforschern, die auch die eigenen Aktivitäten aus der Zeit des „Dritten Reiches“ zumindest teilweise kritisch betrachteten.11 Wenn er auch kein fanatischer Nationalsozialist gewesen ist, so stand er dennoch eindeutig im Dienste des volksgeschichtlichen Ansatzes der deutschen Ostforschung, der von einer konsequenten Geringschätzung der östlichen Nachbarn Deutschlands geprägt war.

Markus Krzoska

1 BArch, Akten des Reichserziehungsministeriums, Personalakte Ludwig Petry. 2 UAG, Akten zur Wiederbesetzung des ordentlichen Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte (Nachfolge von Prof. Tellenbach) 1942 durch den außerordentlichen Prof. Dr. phil. habil. Ludwig Petry 1944, Rektor an das REM vom 9.4.1943. 3 Ebd., Gutachten Hermann Aubins vom 27.3.1943. Petry wird darin nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als „Offiziersanwärter, Feldwebel und Zugführer“ empfohlen. 4 Ebd., Personalabteilung, Erste Lieferung, Karton 28: Personalakte Ludwig Petry. 5 Ebd., Beglaubigte Abschrift des Bescheids. 6 Ebd., Richard Koebner bestätigte die Angaben Petrys und dessen untadlige Haltung in einem Brief vom 25.11.1947. Offenbar aufgrund des Briefes zog die Militärregierung am 17.3.1948 das Berufsverbot gegen Petry zurück. 7 Ludwig Petry, Schlesiens Ostgrenze im Wandel der Zeiten, in: Der Oberschlesier 21 (1939), S. 555. 8 Hermann Aubin, Arbeitsplan für die Denkschrift über die ostdeutsche Reichs- und Volkstumsgrenze. Protokoll der Sitzung vom 28.9.1939, vgl. Angelika Ebbinghaus/Karl Heinz Roth, Vorläufer des „Generalplans Ost“. Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, in: 1999 7 (1992), S. 80–82. 9 Die Zitate nach Ludwig Petry, Der deutsche Osten in unserem Geschichtsbild, in: Gibt es ein deutsches Geschichtsbild? Jahrbuch der Ranke-Gesellschaft 1954, Frankfurt a. M. 1955, S. 121–131. Die Ranke-Gesellschaft war nach 1945 ein wichtiges Sammelbecken für NS-belastete Professoren, die nicht an die Hochschulen zurückkehren durften. 10 UAMai, Bestand S 11, Bd. 50, Bl. 12, Artikel über einen Vortrag Petrys in Kaiserslautern, in: Pfälzische Volkszeitung vom 10.1.1958.

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11 Ludwig Petry, Deutscher Osten, S. 128: „In der Ostforschung tätige Historiker nahmen die Kennzeichnung hin oder in Anspruch, an einer Front der Wissenschaft zu stehen, teilzuhaben an der ‚Umwandlung der Wissenshistorie in eine Willenhistorie‘ (Steinacher)“. Dazu dann Anm. 4: „Die im Text getroffene Feststellung schließt den Referenten […] ein.“

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Karl-Heinz Pfeffer Mitglied der SA 1933, der NSDAP 1937; Exponent „politischer“ Wissenschaft, „die das echte Volk […] gegen die Reste der bürgerlichen Gesellschaft verwirklichen“ sollte;1 Verfechter einer „deutschen“ Soziologie gegen „jüdische[s] Denken“ wie gegen „volksfeindliche Einbrüche westlichen Denkens“;2 Propagandist der „Reinigung des deutschen Volkskörpers vom Einfluss der rassefremden, […] als volkähnliche Sekte zusammenhängenden Judenschaft“:3 Karl-Heinz Pfeffer (1906–1971). Verglichen mit anderen intellektuellen NS-Mittätern gelang ihm erst spät (1962) die Rückkehr auf eine Professur. 1965 bekundete er, er habe „vieles gesagt und geschrieben, was sehr töricht war und was unvertretbar“ sei. „Im Sinne“ des Stuttgarter Schuldbekenntnisses nehme er „[s]eine Mitverantwortung für die begangenen Schandtaten“ auf sich.4 Sein Schüler Lars Clausen nannte Pfeffer einen „Nazi, der bereut hat“.5 Als Dekan der Berliner Auslandswissenschaftlichen Fakultät hatte er sich 1944 im Dienst der NS-Agitation für Europas „Neuordnung“ zu einer letzten, äußersten Demagogie verstiegen: „Die deutschen Soldaten haben von Narvik bis Athen und von Bordeaux bis Reval eine Botschaft getragen, die nicht mehr untergehen kann. Europa weiß heute, dass es zusammengehört. Einbrüche der Fremden von außen, Bürgerkrieg mit den Gestrigen im Innern können dieses Wissen nicht mehr töten […] Arbeit, Kampf und Tod in der europäischen Gemeinschaft von heute sind die Garantien dafür, dass morgen endgültig alle Männer Europas, die ihr eigenes Volk lieben […], zu uns gehören werden.“6 Zwölf Jahre später bagatellisierte Pfeffer den Nationalsozialismus als „Bestrebung zur Lösung der Gegenwartsfragen, die auch heute noch zum großen Teil ungelöst sind […] In Deutschland versuchten […] viele politisch interessierte Menschen, ihre eigenen politischen und sozialen Ideale [!] auf dem Boden des Nationalsozialismus zu vertreten.“7 Gleichzeitig begann er anderen Orts, Erwägungen anzustellen über „unbewältigte Vergangenheit“: „Man strich aus der eigenen Erinnerung, was man unmittelbar vorher erlebt hatte […] Man beruhigte das eigene Gewissen damit, dass man nur seine Pflicht getan hatte.“8 Karl-Heinz Pfeffer wurde am 28. Dezember 1906 in eine Frankfurter Lehrerfamilie geboren.9 Während seines Studiums gehörte er der 1919 gegründeten DeutschAkademischen Gildenschaft an. „Rechtsgerichteter Etatismus“ ist als zentraler Wert eingeschätzt worden, den die völkisch geprägte Gildenschaft ihren Mitgliedern vermittelte.10 Dem autoritären Staatsverständnis, das er sich dort angeeignet hatte und das ihn zum Nationalsozialismus führen sollte, verlieh der 25-jährige Pfeffer Ausdruck: „Nie kann ein Staat Hingabe von seinen Bürgern verlangen, dessen Wesen darin besteht, dass er die Bürger vor sich, ihrem eigenen Staate, schützt [… Der Staat] ist nicht für seine einzelnen Bürger da, sondern die Bürger leben für ihn.“ Bleiben werde statt des Parlamentarismus die „lebendig[e] Teilnahme“ des Volkes am Staat – „sei es auch in der Form einer plebiszitären Bestätigung für eine faschis-

Karl-Heinz Pfeffer  593

tische Herrschaft“ – zur Erlösung aus dem Dasein als „Sklaven fremder Gewalten“.11 Was Pfeffer hier bündig verkündete, war das Programm einer innen- wie außenpolitischen Totalrevision. An diesem Ziel „kämpfende[r] politische[r] Wissenschaft“, die jede „bürgerliche Gesellschaft“ zum „feindliche[n] System“ stempelte,12 hielt er konsequent fest, ungeachtet seiner Studienaufenthalte in Stanford, Paris, London, als Rockefeller-Stipendiat in Australien. Am 20. Juli 1931 promovierte er mit der Studie England im Urteil der amerikanischen Literatur vor dem Bürgerkrieg (Leipzig 1931) bei dem Berliner Anglisten Wilhelm Dibelius. Am 2. November 1933 trat Pfeffer der SA bei. Unmittelbar darauf wurde er Assistent Hans Freyers in Leipzig, bei dem er sich ein Jahr später mit der bereits zitierten Schrift Die bürgerliche Gesellschaft in Australien habilitierte. Ihm bescheinigte er, die „politischen“ Wissenschaften „erlöst“ zu haben „aus dem Anspruch einer formalen ‚Objektivität‘, die ihr Objekt selbst zerstört […] Politische Wissenschaft […] muss willensgeladen sein […] Sie wertet […] politische Begriffe und Lebensmächte… für den Kampf unseres Volkes.“ Als Teilaspekt solcher Wissenschaft postulierte Pfeffer eine „konkrete Auslandskunde“: Sie „erzieht zum Begreifen hoher politischer Phänomene an fremden Beispielen.“13 Nach dem Eintritt in die NSDAP zum 1. Mai 1937 drängte es ihn zum „politischen Einsatz“ als Blockleiter und Schulungsreferent der Partei.14 Und er verschrieb sich, wie gezeigt, der Aufgabe, einer „deutschen“ Soziologie „Begriffe und Gesichtspunkte“ zu liefern, um sie zu „befrei[en]“ aus der „Bindung an die bürgerliche Gesellschaft“.15 Ende 1940 wurde Pfeffer auf eine außerordentliche Professur, Anfang 1943 auf ein Ordinariat für Volks- und Landeskunde Großbritanniens und des Empire an der von →Franz Alfred Six als Dauerdekan geleiteten Auslandswissenschaftlichen Fakultät Berlin berufen. Als Six im selben Jahr von Ribbentrop mit der Leitung der Kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes beauftragt wurde,16 trat Pfeffer seine Nachfolge im Amt des Dekans wie des (geschäftsführenden) Präsidenten des →Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts (DAWI) an. Der britischen „Plutokratie“ prophezeite er, der gegenwärtige Krieg werde „der Krieg ihres eigenen Untergangs“.17 Den USA meinte er vorhersagen zu können, „nicht mehr die Fahne der Zukunft, sondern die Fahne der Vergangenheit“ wehe über ihnen.18 Am 16. Januar 1946 wurde Pfeffer von amerikanischen Fahndern kurzzeitig festgenommen.19 Beim Entnazifizierungsverfahren vor der hessischen Spruchkammer Ziegenhain stufte der öffentliche Ankläger ihn in der Klageschrift vom 4. Dezember 1947 als „Mitläufer“ (Gruppe 4) ein. Das Verfahren wurde im Zuge der Weihnachtsamnestie 1947 am 12. April 1948 eingestellt.20 Im selben Jahr rief er eine Auslandswissenschaftliche Gesellschaft ins Leben, die mit zeitgemäßen Modifikationen an das braune Profil des Fachs anzuknüpfen suchte.21 Der Gesellschaft gelang die Teilnahme an der vom Carnegie Endowment 1953 in New York veranstalteten Konferenz führender außenpolitischer Institute.22 Bislang „ungeklärt“23 ist ihr Verhältnis zur 1955 auf Initiative von Theodor Steltzer und Wilhelm Cornides gegründeten Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP): Zu den frühen Mitgliedern der

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Pfefferschen Schöpfung zählten Cornides, Marion Gräfin Dönhoff und Karl Schiller.24 Jedenfalls verloren die einstigen Auslandswissenschaftler (darunter →Fritz Valjavec und Adolf Rein)25 gegenüber der DGAP rasch an Bedeutung infolge deren wirkungsvoller Methode, Vertreter aus Politik und Wirtschaft „von Abs bis Ollenhauer“ zu rekrutieren.26 1951 kam Pfeffer beim Bremer Ausschuss für Wirtschaftsforschung als Abteilungsleiter unter und begann mit der Herausgabe (bis 1956) der Zeitschrift für Geopolitik. 1952 berief ihn das Weltwirtschaftliche Archiv in Hamburg an die Spitze der Forschungsstelle für Länderkunde. 1954 folgte ein Lehrauftrag für gesellschaftswissenschaftliche Auslandskunde an der Universität Hamburg.27 Er erarbeitete sich Entwicklungssoziologie als neues Spezialgebiet und erhielt 1959 einen Ruf an die Universität Lahore (Pakistan). 1962 wurde Pfeffer auf Betreiben Helmut Schelskys auf die Professur für Entwicklungssoziologie an der Universität Münster berufen. 1958–1968 veröffentlichte er eine Anzahl von Länderstudien über Ghana, Sierra Leone, Pakistan und Costa Rica sowie mehrere, meist kurze Überblicksdarstellungen. „Tätige Reue“, hatte Pfeffer 1965 geschrieben, bestehe darin, „anders zu handeln und zu denken als damals“.28 Kurz vor seinem Tod plädierte er für kirchliches Engagement zugunsten des materiellen Wohlstandsausgleichs zwischen „armen“ und „reichen“ Ländern, notfalls auch gegen den Widerstand „vieler kirchentreue [r]“ Bürger, deren „Interessen oder ideologisch[e] Bindungen oder beide“ sich deckten mit einem „weltweiten Macht- und Wirtschaftssystem der Ungleichheit und Ungerechtigkeit“.29 Am 13. September 1971 starb Karl Heinz Pfeffer an den Folgen eines Herzinfarkts.

Rainer Eisfeld

1 Karl Heinz Pfeffer, Politische Wissenschaft im neuen Deutschland, in: Hochschule und Ausland 1934, S. 38–47, 44. 2 Ders., Die deutsche Schule der Soziologie, Leipzig 1939, S. 3. 3 Ders., Das Judentum in der Politik, in: Theodor Fritsch, Handbuch der Judenfrage, Leipzig 193538, S. 171–173, 171. 4 Ders., Plädoyer in eigener Sache, in: Rolf Seeliger (Hg.), Braune Universität. Deutsche Hochschullehrer gestern und heute, Bd. 2, München 1965, S. 48–50, 48, 49. 5 Wohin treibt das Schiff? Interview mit Lars Clausen, in: Wolf R. Dombrowsky (Hg. u.a.), Wissenschaft, Literatur, Katastrophe, Opladen 1995, S. 247–267, 258. 6 Karl Heinz Pfeffer, Die europäische Besinnung, in: Zeitschrift für Politik 1944, S. 377–385, 378, 381, 385. 7 Ders., Handwörterbuch der Politik, Darmstadt 1956, S. 179. Das Judentum bezeichnet Pfeffer dort (S. 122) nach wie vor als „volkähnliche Sekte“ (vgl. oben, Anm. 3). Vgl. auch die Artikel zu Stichworten wie „Antisemitismus“ (S. 14) oder „Nürnberger Gesetze“ (S. 185: Sie „erstrebten eine Dissimilation des Judentums aus dem deutschen Volk, legten den Status der Nachkommen aus Mischehen zwischen Juden und Nichtjuden fest“). Nach einem „Rezensentenaufstand“ wurde die Auslieferung des Handwörterbuchs vom Verlag gestoppt. Vgl. Lutz Hachmeister, Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998, S. 315.

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8 Karl Heinz Pfeffer, Die unbewältigte Vergangenheit, Sonntagsblatt Nr. 40, 30.9.1956, S. 28, zit. nach Robert Źurek, Zwischen Nationalismus und Versöhnung. Die Kirchen und die deutsch-polnischen Beziehungen 1945–1956, Köln u.a. 2005, S. 107. 9 Sofern nicht anders vermerkt, basieren die folgenden Angaben zur Person auf: Karl Heinz Pfeffer, Lebenslauf; ders., Personal-Fragebogen, beide in: UAHUB, UK Personalia P 091; Gideon Botsch, „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Deutschen Auslandswissenschaften“ im Einsatz 1940–1945, Paderborn 2006, S. 268f. 10 Vgl. Jan Eike Dunkhase, Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 219f. Zum „politischen Profil“ der Deutsch-Akademischen Gildenschaft vgl. Ingo Haar, „Revisionistische“ Historiker und Jugendbewegung: Das Königsberger Beispiel, in: Peter Schöttler, Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 52–103, 54–69. 11 Karl Heinz Pfeffer, Hegel als Wegweiser im Kampfe für die nationale Befreiung Deutschlands, in: Das freie Deutschland 1931, S. 206–218, 213–217. 12 Ders., Die bürgerliche Gesellschaft in Australien, Berlin 1936, S. 476. 13 Ders., Politische Wissenschaft (wie Anm. 1), S. 46. 14 Lt. Mitteilung der Universität Berlin vom 5.3.1947 an das Großhessische Staatsministerium, Spruchkammer Ziegenhain; vgl. UAHUB, UK Personalia P 091, Bl. 43. In seinem Spruchkammerverfahren bestritt Pfeffer beide Tätigkeiten vgl. HHStAW, Abt. 520/Marburg, Nr. 2526, Bl. 51, Vernehmung vom 2.12.1947. 15 Pfeffer, Die deutsche Schule (wie Anm. 2), S. 5, 129. 16 Ausführlich dazu Hachmeister, Gegnerforscher, S. 243–250. 17 Karl Heinz Pfeffer, Begriff und Wesen der Plutokratie, Berlin 1940, S. S. 64. 18 Ders., Die angelsächsische Neue Welt und Europa, Berlin 1941, S. 152. 19 Hachmeister, Gegnerforscher, S. 277. 20 HHStAW, Abt. 520/Marburg, Nr. 2526 (Spruchkammerakte Pfeffer), Bl. 1b. Die Akte enthält „Persilscheine“ zugunsten Pfeffers beispielsweise von Wilhelm Grewe (Bl. 23), Hermann Heimpel (Bl. 27) und Otto Vossler (Bl. 46). Pfeffers Veröffentlichungen werden in der gesamten Akte mit keinem Satz erwähnt. 21 Vgl. Rainer Nicolaysen, Siegfried Landshut. Die Wiederentdeckung der Politik, Frankfurt a.M. 1997, S. 532 Anm. 45; Arnt Goede, Adolf Rein und die „Idee der politischen Universität“, Berlin 2008, S. 346, bes. Anm. 346/347. 22 Vgl. Daniel Eisermann, Außenpolitik und Strategiediskussion. Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik 1955–1972, München 1999, S. 60. 23 Botsch, „Politische Wissenschaft“, S. 241. 24 Archiv des Instituts für Auswärtige Politik, Universität Hamburg, NL Rein, Karton 45, Auslandswissenschaftliche Gesellschaft e. V., Bericht für das Jahr 1950. 25 Als der Hamburger Historiker Adolf Rein (der sich als Gestalter der „politischen Universität“ im NS-Sinne verstanden hatte) 1950 die geschichtsrevisionistische Ranke-Gesellschaft gründete, die „amtsverdrängte“ und amtierende Hochschullehrer zusammenführen sollte, gehörte wiederum Pfeffer zu den ersten Mitgliedern. 26 Eisermann, Außenpolitik, S. 60. 27 Vgl. Wilhelm Bernsdorf (Hg. u.a.), Internationales Soziologenlexikon, Bd. 2, Stuttgart 19842, S. 659. 28 Pfeffer, Plädoyer (wie Anm. 4), S. 48. 29 Ders., Der ferne Nächste – die ökonomisch-soziale Entwicklung der armen Länder als ethische Aufgabe, in: Trutz Rendtorff (Hg. u.a.), Humane Gesellschaft, Zürich 1970, S. 307–317, 308, 314.

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Josef Pfitzner Josef Pfitzner wurde 24. März 1901 im böhmisch-schlesischen Petersdorf (Petrovice ve Slezsku) in eine ärmliche Schusterfamilie geboren.1 Dank eines kirchlichen Stipendiums konnte er das Gymnasium in Troppau (Opava) besuchen und trat einer deutschnationalen Schülerverbindung bei. Nach der mit Auszeichnung abgelegten Reifeprüfung studierte Pfitzner seit Oktober 1920 Geschichte und Germanistik an der Deutschen Universität in Prag.2 Hier wechselte er von einer katholischen zur mehr politisierten Burschenschaft Oppavia. Schon aus dieser Zeit sind von ihm antitschechische Aussagen überliefert. 1922 führte ihn ein Forschungsaufenthalt nach Breslau (Wroclaw). Insgesamt zeigte Pfitzner ein Interesse an neuen siedlungs- und wirtschaftsgeschichtlichen Methoden. 1924 veröffentlichte er das methodisch durchaus innovative, aber nationalistisch unterlegte landesgeschichtliche Buch über die Geschichte der Bergstadt Zuckmantel.3 Bei →Hans Hirsch, der 1926 von Prag an die Universität Wien wechseln sollte, und dem deutschjüdischen Samuel Steinherz wurde Pfitzner 1924 mit der umfänglichen, 1926 gedruckten Arbeit Die Siedlungs-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte des Breslauer Bistumslandes promoviert, und bis in die Mitte der 1930er Jahre bestand zwischen Hirsch und seinem ‚Schüler‘ Pfitzner ein recht intensiver brieflicher Kontakt, bei dem Pfitzner auch versuchte, Hirsch in berufliche wie private Konflikte hineinzuziehen. 1926/27 studierte Pfitzner mit Stipendien an den Universitäten Leipzig (→Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung) und Bonn (Institut für Rheinische Landeskunde). Insgesamt konnte er sich mit den Methoden →Hermann Aubins, Rudolf Kötzschkes und Franz Steinbachs vertraut machen. Möglicherweise ignorierte er in Leipzig bewusst die Lehrveranstaltungen des 1942 in Theresienstadt verstorbenen Mediävisten Siegmund Hellmann wegen dessen jüdischer Herkunft, da Pfitzner in jener Zeit bereits zu (deutsch-)völkischen Ansichten tendierte und sich auch vom Katholizismus abgewandt hatte. 1941 erfolgte sein Kirchenaustritt. 1927 wurde Pfitzner in Prag bei →Theodor Mayer und →Wilhelm Wostry mit einer erweiterten Fassung seiner Dissertation in mittelalterlicher Geschichte habilitiert. Fortan konzentrierte er sich auf ostmittel- und osteuropäische Themen. Hierbei beschritt er durchaus neue Pfade, indem er Bücher über den litauischen Fürsten Vytautas (Vitold) (1354/55–1430) oder über den russischen Revolutionär Michail A. Bakunin (1814–1876) publizierte.4 1930 wurde Pfitzner in Prag zum außerordentlichen Professor für Osteuropäische Geschichte bestellt, sein nachfolgendes Streben um Professuren im Ausland scheiterte. 1931 erweiterte man seine venia legendi auf mittelalterliche und neuzeitliche Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte, und 1935 wurde er schließlich an seiner Heimatuniversität zum ordentlichen Professor ernannt. Pfitzner bemühte sich auch – auch von kulturgeschichtlichen Aspekten beeinflusst – konzeptionell um sein Fach und betonte einerseits zwar Wandel und Vielfalt geschichtlicher Entwicklungen in Ostmitteleuropa sowie einen interdisziplinären Zugang, andererseits aber im Rahmen der Ostsiedlung auch eine politische und kulturelle Führungsrolle des deutschen

Josef Pfitzner  597

„Volkes“.5 Das galt auch für Böhmen und Mähren und bildete die Folie für Pfitzners Arbeiten zur „sudetendeutschen Geschichte“.6 Allerdings hegte er die Befürchtung, als Osteuropahistoriker in eine Nische abgedrängt zu werden. Geschätzt wurden Pfitzners an ein deutschsprachiges Fachpublikum gerichtete Berichte über die Publikationen tschechischer Historiker, wie er überhaupt im Unterschied zu manchem seiner sudetendeutschen Kollegen kaum Berührungsängste gegenüber tschechischen Historikern zeigte. 1930 heiratete Pfitzner Elisabeth Kottek, Tochter eines wohlhabenden Znaimer (Znojmo) Rechtsanwalts und spätere Mutter zweier Kinder. Vom Wehrdienst in der tschechoslowakischen Armee wurde Pfitzner für untauglich befunden. Sein politisches Interesse manifestierte sich in dem Buch Das Erwachen der Sudetendeutschen im Spiegel ihres Schrifttums bis zum Jahre 1848 (1926), und sein Bändchen Sudetendeutsche Geschichte (1935), aus mehreren älteren Beiträgen zusammengesetzt, machte ihn zu einem Historiker der Sudetendeutschen.7 Die Affinität zum deutschvölkischen Lager fand in Porträtabbildungen →Erwin Guido Kolbenheyers und Konrad Henleins Ausdruck. Dass Pfitzner sein im Verlag Karl Hermann Franks erschienenes Buch „Sudetendeutsche Einheitsbewegung“ dann Henlein widmete, konnte nicht mehr überraschen.8 Pfitzner wollte ein umfassendes Bild einer „sudetendeutschen Geschichte“, deren Existenz er selbst kaum für die Zeit vor dem 19. Jahrhundert vorfand und die heute nicht mehr ernsthaft vertreten wird, als Teil deutscher „Volksgeschichte“ konzeptionell ausbauen und so als festen Teil deutscher Geschichte etablieren. Parallel dazu sollten die „Sudetendeutschen“ als integraler Bestandteil des deutschen Volkes bzw. seiner „→Volksgemeinschaft“ und letztlich auch eines von dieser gebildeten Staates aufgefasst werden. Böhmen und Mähren galten Pfitzner schließlich als deutscher „Kulturboden“,9 der auf das jahrhundertelange Wirken der angeblich kulturell höherwertigen Deutschen zurückging. Aber noch sollte ein nationaler Ausgleich zwischen Tschechen und Deutschen innerhalb der Tschechoslowakei angestrebt werden. Gleichzeitig entwickelte Pfitzner aber ein Wissenschaftsverständnis, „das die Aufgabe der Geschichtsschreibung als Dienst der deutsch-nationalen Politik in der Tschechoslowakei definierte“.10 Das schlug auch deutlich in seinen Arbeiten zur Geschichte der Prager Karlsuniversität durch. 1935 trat Pfitzner der Sudetendeutschen Partei bei und wurde für diese im Mai 1938 in das Prager Stadtparlament gewählt. Die Wahlerfolge der Partei und das scheinbare Funktionieren einer Einheitsbewegung als „Volksgemeinschaft“ bestärkten Pfitzner in der Richtigkeit seiner Ansichten, nämlich auch der Meinung, mit Postulaten einer Volksgeschichte in die aktuelle Politik einzugreifen und diese geschichtlich zu legitimieren.11 Wissenschaftliche Schriften sollten „der lebendigen Politik als taugliches Hilfsmittel, notfalls als Waffe dienen“.12 In letzter Konsequenz wandelte sich Pfitzner zu einem überzeugten „nationalsozialistischen Geschichtspolitiker“,13 der die von ihm postulierten „wirksamen Hauptkräfte und Lebensbedingungen“14 der Sudetendeutschen schließlich in einem rassistischen Substrat finden sollte. Dieser Weg führte Pfitzner weg von der Wissenschaft hin zu politischer Pro-

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paganda und wurde in seiner Broschüre Das Sudetendeutschtum evident.15 Einen Kulminationspunkt bildete auch Pfitzners Biografie Kaiser Karls IV. (1938), als er rassistische Argumente zu einer umstrittenen Bewertung dieses in der Tschechoslowakei in Ehren gehaltenen mittelalterlichen Herrschers heranzog.16 Sofort nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Prag im März 1939 wurde Pfitzner, Fraktionsführer der SdP-Prag, von den Deutschen zum stellvertretenden Primator (Oberbürgermeister) Prags ernannt. Am 1. April 1939 trat er der NSDAP bei, zusätzlich bekleidete er den Rang eines SA-Standartenführers. Auch wenn Pfitzner weiterhin unterrichtete, verlagerte sich seine Tätigkeit nun zur politischen Administration und Agitation,17 sein wichtigster Partner unter den NS-Machthabern im Protektorat Böhmen und Mähren war Staatssekretär Karl Hermann Frank. Die Mehrheit seiner bis Kriegsende erschienenen Publikationen bestand aus kürzeren propagandistischen Texten. Auch sein kommentierter Bildband Das tausendjährige Prag (1940) diente der geschichtlichen Besitzergreifung der Stadt durch die Deutschen. Von Interesse ist sein Buch Reise in ein Paradies (1942), in dem er Eindrücke eines Aufenthalts in der UdSSR von 1936 mit stark antisemitischer und antikommunistischer Färbung verarbeitete. Eine Polnische Geschichte Pfitzners wurde 1942 wegen Einspruchs von Joseph Goebbels nicht gedruckt.18 Als Primator-Stellvertreter „herrschte“ Pfitzner über Prag, das 1940 knapp über eine Million Einwohner zählte, von denen 1942 rund 32.000 – also weniger als 1% – Deutsche waren. In seiner Politik hielt er daran fest, Prag als eine von frühester Zeit herrührend „deutsche“ Stadt anzusehen, deren deutscher Charakter wiederherzustellen sei. Basis dafür waren zweifelhafte Geschichtsinterpretationen und die Bekämpfung des auf František Palacký zurückgehenden tschechischen Geschichtsbildes. Pfitzner übte erheblichen Druck auf tschechische Magistratsbeamten und Primatoren aus, um die „Germanisierung“ der Stadt und eine Bevorzugung der deutschen Bevölkerung zu erreichen. In welchem Maße er in die Ausgrenzung von Juden und „Arisierung“ ihres Eigentums involviert war, bedarf noch genauerer Klärung. Immerhin ist Pfitzner als militanter Antisemit erkennbar, der 1941 den Vorschlag einbrachte, die jüdische Bevölkerung Prags in einem „Viertel ghettomäßig zu konfinieren“. Er konnte sich auch eine Aussiedlung der Tschechen aus Böhmen und Mähren vorstellen, ungeachtet dessen, dass er unter den Tschechen „rassisch und politisch brauchbare […] Bevölkerung“ wahrnahm.19 In der Öffentlichkeit wurde er für das Umbenennen von Straßen, Plätzen und Bahnhöfen und Zerstören von Denkmälern bekannt. Pfitzner begrüßte die nach dem Amtsantritt Reinhard Heydrichs als stellvertretender Reichsprotektor im September 1941 erfolgte Verschärfung von Repressionen. Heydrich sah in Pfitzner freilich eine Fehlbesetzung und wollte diesen mittels Berufung an eine andere Universität ersetzen, es fand sich aber keine Gelegenheit dazu und Pfitzner blieb im Amt. Er wurde im Mai 1945 verhaftet, am 6. September 1945 von einem außerordentlichen tschechoslowakischen Volksgericht wegen seiner Tätigkeit als Primator-Stellvertreter zum Tode verurteilt und sogleich

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gehängt. Zusammen mit Frank und Heydrich wurde er für die Tschechen zum Inbegriff des nationalsozialistischen Terrorregimes. Pfitzner, der als nicht taktvoll, dafür aber als geltungsbedürftig und extrem karrierebewusst galt und sich gerne als anspruchsvoller Lebemann gab, hinterließ kein größeres und nachhaltiges Wirken als Hochschullehrer, die Zahl seiner Dissertanten blieb gering.20 Er war vermutlich aber der einzige deutsche Historiker, der als Politiker und NS-Verbrecher hingerichtet wurde.

Karel Hruza

1 Grundlegend zu Pfitzner: Detlef Brandes/Alena Míšková, Vom Osteuropa-Lehrstuhl ins Prager Rathaus. Josef Pfitzner 1901–1945, Praha – Essen 2013; Frank Hadler, Vojtěch Šustek, Josef Pfitzner (1901–1945). Historiker. Geschichtsprofessor und Geschichtspolitiker, in: Alena Míšková (Hg. u.a.), Prager Professoren 1938–1948. Zwischen Wissenschaft und Politik, Essen 2001, 105–135. 2 Zu Pfitzner als Historiker vgl. Ota Konrád, Dějepisectví, germanistika a slavistika na německé univerzitě v Praze 1918–1945 [Geschichtsschreibung, Germanistik und Slawistik an der Deutschen Universität in Prag 1918–1945], Praha 2011, S. 120–129, passim; Pavel Kolář, Geschichtswissenschaft in Zentraleuropa. Die Universitäten Prag, Wien und Berlin um 1900, Bd. 1, Berlin 2008, S. 241–245; Alena Míšková, Die Deutsche (Karls-) Universität vom Münchener Abkommen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Praha 2007. 3 Josef Pfitzner, Geschichte der Bergstadt Zuckmantel in Schlesien bis 1742. Mit besonderer Berücksichtigung der Stadt- und Bergrechtsgeschichte, Zuckmantel 1924. 4 Ders., Großfürst Witold von Litauen als Staatsmann, Brünn 1930. Das Buch wurde ins Litauische übersetzt und fand große Verbreitung. Ders., Bakuninstudien, Reichenberg 1932. 5 Ders., Die Geschichte Osteuropas und die Geschichte des Slawentums als Forschungsprobleme, in: HZ 150 (1934), S. 21–85; ders., Entstehung und Stellung des nordostdeutschen Koloniallandes, in: Deutsche Hefte für Volks- und Kulturbodenforschung 2 (1931/32), S. 225–241, etwa mit den Begriffen „deutscher Volksboden“ und „Volksstaat“. 6 Ders., Die Besiedlung der Sudeten bis zum Ausgang des Mittelalters, in: ebd. 1 (1930), S. 68–87, 167–191. 7 Ders., Das Erwachen der Sudetendeutschen im Spiegel ihres Schrifttums bis zum Jahre 1848, Augsburg 1926; ders., Sudetendeutsche Geschichte, Reichenberg 1935 (19372). 8 Ders., Sudetendeutsche Einheitsbewegung. Werden und Erfüllung, Karlsbad u.a. 1937. 9 Hadler, Šustek, Pfitzner, S. 109. 10 Kolář, Geschichtswissenschaft, S. 244. 11 Siehe Pfitzner, Sudetendeutsche Einheitsbewegung, S. 101–104. 12 Pfitzner, Sudetendeutsche Einheitsbewegung, Vorwort. 13 Hadler, Šustek, Pfitzner, S. 105. 14 Pfitzner, Sudetendeutsche Geschichte, S. 3. 15 Josef Pfitzner, Das Sudetendeutschtum, Leipzig 1938. 16 Ders., Kaiser Karl IV., Potsdam 1938. Pfitzner postulierte etwa, dass „sich das Erbe verschiedener Rassen“ in Karl traf, da bereits bei seinen Eltern „Reinrassigkeit“ nicht angenommen werden konnte, was zu „artbedingten Eigenschaften“ führte, vgl. ebd., S. 7, 14. 17 Zu Pfitzners Wirken als Politiker siehe: Brandes/Míšková, Vom Osteuropa-Lehrstuhl, S. 171–315; Alena Míšková, Vojtěch Šustek, Josef Pfitzner a protektorátní Praha v letech 1939–1945 1: Deník Josefa Pfitznera. Úřední korespondence Josefa Pfitznera s Karlem Hermannem Frankem [Josef Pfitzner und Prag im Protektorat während der Jahre 1939–1945 1: Tagebuch Josef Pfitzners. Amtskorre-

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spondenz Josef Pfitzners mit Karl Hermann Frank], Praha 2000; Vojtěch Šustek, Josef Pfitzner a protektorátní Praha v letech 1939–1945 2: Mesíční situační zprávy Josefa Pfitznera [Josef Pfitzner und Prag im Protektorat während der Jahre 1939–1945 2: Monatliche Lageberichte Josef Pfitzners], Praha 2001. 18 Josef Pfitzner, Das tausendjährige Prag, Bayreuth 1940; ders., Reise in ein Paradies. Erlebtes und Erkanntes aus der Sowjetunion, Bayreuth 1942; vgl. Hadler, Šustek, Pfitzner, S. 131. 19 Brandes, Míšková, Vom Osteuropa-Lehrstuhl, S. 279. 20 Das Postulat bei Manfred Stoy, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 1929–1945, Wien u.a. 2007, S. 226, „Pfitzner hätte in der Wissenschaft zweifellos noch Wichtiges leisten können“, ist ebenso unnötig wie rein spekulativ.

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Kleo Pleyer Franz Kleophas Pleyer wurde als neuntes von zehn Kindern am 19. November 1898 im böhmischen Eisenhammer bei Kralowitz (Kralovice) an der deutsch-tschechischen Sprachgrenze geboren.1 Sein Vater Joseph Pleyer war Schmied, wie auch schon der Großvater. Seine Mutter Barbara Löser kam aus einer alteingesessenen Bauernfamilie des Egerlandes. Pleyers einziger jüngerer Bruder war der Schriftsteller und DNSAP-Aktivist Wilhelm Pleyer. Kleo Pleyer absolvierte die Bürger- und Handelsschule, sprach neben Deutsch fließend Tschechisch und arbeitete seit 1914 in einem Industriebetrieb in Pilsen, bis er im Juni 1916 erst 17-jährig einberufen wurde. Im österreichischen k.k. kämpfte er während des Ersten Weltkrieges in Galizien und an der italienischen Front, am Isonzo, und erhielt die Silberne Tapferkeitsmedaille. Eine Verwundung zwang Pleyer ins Lazarett. Das Ende des Ersten Weltkrieges erlebte er felddienstunfähig in einer ungarischen Garnison. Danach ging er zurück in seine Heimat. Seit seiner Jugend alldeutsch und antisemitisch im Sinne Georg von Schöneres politisiert, trat Pleyer folgerichtig im November 1920 der DNSAP bei, für die er als Jugendführer und Parteiredner agitierte. Er schrieb 1922 deren Parteilied „Wir sind das Heer vom Hakenkreuz“. Seine vielfältige antitschechische und antisemitische Betätigung führte ihn schließlich im September 1921 in ein tschechoslowakisches Gefängnis. Nach der Anklage wegen Hochverrats und dem anschließenden Freispruch im Dezember 1921 ging Pleyer nach Prag. Hier setzte er seine schon vor dem Ersten Weltkrieg begonnenen autodidaktischen Studien fort, nahm Privatunterricht und legte im September 1922 als Externer am Altstädter Realgymnasium sein Abitur ab. Er studierte danach an der Deutschen Universität in Prag Philosophie, Slawistik und Germanistik und organisierte den „grenzvölkischen Kampf“ der deutschen Studentenschaft. Als der jüdische Professor Samuel Steinherz zum Rektor der Deutschen Universität gewählt wurde, reagierten die zahlreichen völkisch orientierten Studenten mit Drohungen und scharfer antisemitischer Hetze gegen die angebliche „Verjudung“ der Universität. Pleyer war im November 1922 massgeblich an einem Studentenstreik und der Besetzung von Universitätsgebäuden beteiligt. Als Aktivist in der Deutschen Studentenschaft stellte er auch Verbindungen zur völkischen Studentenszene an deutschen Universitäten her.2 Aus Angst vor Repressionen verließ er die Tschechoslowakei, um in München zu studieren und in Deutschland seine politische Agitation fortzusetzen. Er wurde Schriftleiter der Deutschen Akademischen Stimmen. Der von Pleyer geführte Münchener Verband des Hochschulringes deutscher Art, dessen Dachverband der Deutsche Hochschulring war, unterstützte offen die NSDAP. Pleyers Teilnahme am Hitlerputsch und seine anschließenden Angriffe gegen den bayerischen Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr führten dazu, dass er im Dezember 1923 verhaftet und des Landes verwiesen wurde.3

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Daraufhin studierte er in Tübingen, wo er 1925 bei dem aus Livland stammenden Historiker Johannes Haller über Die Politik Nikolaus V. promovierte.4 Haller war Autor des deutschnationalen Bestsellers Die Epochen der deutschen Geschichte, der nach 1945 von den Alliierten verboten wurde.5 Im gleichen Jahr nahm Pleyer an einer Hetzkampagne gegen den Heidelberger Privatdozenten und Pazifisten Julius Gumbel teil. Aufgrund der Teilnahme an einer gewalttätigen Demonstration gegen Gumbel wurde er verhaftet und wegen Landfriedensbruchs angeklagt. Von 1926 bis 1928 arbeitete Pleyer als Assistent des Soziologen →Max Hildebert Boehm und Leiters des →Instituts für Grenz- und Auslandstudien in Berlin. Zugleich war Pleyer seit Mitte der 1920er Jahre Mitarbeiter des von dem Historiker, DNVP-Politiker und späteren NSDAP-Mitglied Martin Spahn geleiteten und maßgeblich von Alfred Hugenberg finanzierten Politischen Kollegs für nationalpolitische Schulungsund Bildungsarbeit (PK) in Berlin. Im Jahr 1928 übernahm Pleyer dessen Geschäftsführung und war 1928/29 als Politischer Referent für das PK tätig, leitete dessen Mitteleuropäische Mittelstelle und war in diesen Funktionen auch für die seit 1921 abgehaltenen und von der Reichszentrale für Heimatdienst und dem Auswärtigen Amt finanzierten „Nationalpolitischen Lehrgänge“ des Kollegs verantwortlich, die sich hauptsächlich an Lehrer und Studenten richteten. Ab 1926 führte das Politische Kolleg von Pleyer organisierte, mehrtätige sudetendeutsche Tagungen durch. Dem hervorragend in der sudetendeutschen Verbands- und Vereinswelt sowie in der Politik und Wirtschaft der Weimarer Republik vernetzten Pleyer war es zu verdanken, dass ab 1929 die Zeitschrift Der Weg, die Halbmonatsschrift für das deutsche Volk in den Sudeten- und den Karpathenländern, finanziert und von Spahn herausgegeben werden konnte.6 Auch von Deutschland aus engagierte sich Pleyer – der von 1923 bis 1933 auch Mitglied im Bund Oberland war – weiter im sudetendeutschen „Volkstums- und Grenzkampf“. So war er Mitglied im geheimen Kulturausschuss des Sudetendeutschen Heimatbundes, dessen 25 bis 30 Mitglieder an Schießübungen der Reichswehr teilnahmen und zum Teil gewalttätige Aktionen und Anschläge in Deutschland und der ČSR durchführten. Daneben war Pleyer geschäftsführender Vorsitzender der von ihm 1930 gegründeten Sudetendeutschen Kulturgesellschaft.7 Schon seit den frühen 1920er Jahren betätigte sich Pleyer auch in der bündischen Jugendbewegung, so im Bund Jungdeutschland, dessen Propagandatätigkeit er leitete, für den er Führerlehrgänge abhielt und dessen Vortragsreihe er organisierte.8 Zu Beginn der 1930er Jahre gründete Pleyer die nationalistisch und völkisch orientierte Reichsschaft.9 Seit der Mitte der 1920er Jahre hatte sich Pleyer zwar zusehends von der nationalsozialistischen Partei entfernt, sah aber den „Irrtum“10 nach der „Machtergreifung“ selbstredend ein, gehörte später dem NSDDB an11 und beantragte schließlich im Jahr 1939 – erst seit 1936 deutscher Staatsbürger – auch den Eintritt in die NSDAP, in die er 1940 aufgenommen wurde (Mitglieds-Nr. 7.869.915).12

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Von 1930 bis 1933 als Referent für Geschichte und Soziologie an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin tätig, wurde Pleyer im Mai 1934 Dozent am Historischen Seminar der Universität Berlin.13 Nach Studienreisen nach Frankreich in den Jahren 1928 und 1931 legte Pleyer seine Habilitationsschrift über Stammes- und Volksgruppenbewegung im Frankreich des 19. und 20. Jahrhunderts vor, die von Hermann Oncken und Fritz Hartung betreut wurde.14 Auszüge aus der Ende 1935 unter dem Titel Die Landschaft im neuen Frankreich veröffentlichten Arbeit lösten jedoch in der französischen Öffentlichkeit große Aufregung aus, da Pleyer in Einklang mit einigen anderen deutschen „Westforschern“ den völkischen Gehalt und die Einheitlichkeit der französischen Nation in Frage stellte.15 In der Folge sah sich das Auswärtige Amt 1936 genötigt, die gesamte Auflage zu beschlagnahmen. Trotz der Intervention des Propagandaministeriums bestand das Auswärtige Amt auf dem Publikationsverbot, um die französische Regierung nicht unnötig zu provozieren. Lediglich ein beschränktes Kontingent für deutsche Bibliotheken wurde freigegeben. Zudem wurde der wissenschaftliche Wert des Buches stark angezweifelt. Erst 1940, als sich die politischen und militärischen Verhältnisse in Europa grundlegend geändert hatten, konnte Pleyers Habilitationsschrift ungehindert veröffentlicht werden. Im Jahr 1934 gründete Pleyer den Volkswissenschaftlichen Arbeitskreis (VwA) des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA, ab Juni 1933 Volksbund), den er auch leitete. Er verstand den Arbeitskreis als „Organ der nationalsozialistischen Hochschulerneuerung“,16 der die wissenschaftliche Forschung über das Grenz- und Auslandsdeutschtum fördern sollte. Der VwA, der eine wichtige Funktion in der Ausformulierung der NS-Volksgruppenpolitik wahrnahm, traf sich bis 1937 halbjährlich und diente der Koordinierung des informellen Netzwerks der völkischen Wissenschaftler im Reich. Dem VwA gehörten die Historiker →Rudolf Craemer, →Werner Conze und →Theodor Schieder, der Geograph →Emil Meynen, der Soziologe →Gunther Ipsen, der Völkerrechtler →Hermann Raschhofer, der Volkswirtschaftler →Theodor Oberländer, der Direktor des Rassenbiologischen Instituts der Universität Königsberg, der Direktor des →Deutschen Ausland-Instituts in Stuttgart, Richard Csaki, der Volkstumstheoretiker Max Hildebert Boehm, der Bevölkerungswissenschaftler →Hans Harmsen und nicht zuletzt auch →Hans Steinacher, der Vorsitzende des VDA an. Die Teilnehmer der VwA-Tagungen gingen davon aus, dass die Ergebnisse ihrer Forschungen alsbald bei der anstehenden ethnischen „Neuordnung Europas“ praktische Anwendung finden würden. Und so lagen Ende 1939, dem Jahr, in dem der VwA seine Arbeit kriegsbedingt einstellte, über 90 Karten und weitere Arbeiten dazu vor.17 Im Jahr 1935 wurde Pleyer, der bereits Lektor der Parteiamtlichen Prüfungskommission und auch für das Hauptschulungsamt der NSDAP tätig war, von →Walter Frank in den Sachverständigenbeirat von dessen Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands berufen. Pleyer leitete gemeinsam mit →Harold Steinacker das Hauptreferat Grenz- und Volkstumsfragen des deutschen Ostens und Südostens.

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Für das Reichsinstitut hielt er antisemitische Vorträge und veröffentlichte in dessen Forschungen zur Judenfrage.18 Auf dem von Franks Reichsinstitut dominierten Historikertag in Erfurt im Juli 1937 hielt Redner Pleyer einen „mitreißenden Vortrag“ über die „Kräfte des Grenzkampfes in Ostmitteleuropa“, der noch im gleichen Jahr als Schrift des Reichsinstituts veröffentlicht und in der Nationalsozialistischen Bibliographie als „wertvoller Beitrag“ zur nationalsozialistischen „Volksforschung und Volkstumspolitik“ gewürdigt wurde.19 Das REM berief Pleyer im September 1937 als ordentlichen Professor für Neuere Geschichte nach Königsberg, wo er die Nachfolge des entlassenen →Hans Rothfels antrat. Im Jahr 1939 wechselte er auf den Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte der Neuzeit der Universität Innsbruck und folgte so dem persönlichen Ruf des dortigen, mit ihm befreundeten Rektors Harold Steinacker.20 Kleo Pleyer veröffentlichte Ende 1939 in den Schulungsheften des OKW unter dem Titel „Kampf um den deutschen Lebensraum“ die passende historische Begründung für den Überfall der Wehrmacht auf Polen.21 Pleyer fühlte sich vom Militär stark angezogen – Zeit seines Lebens hatte er von seinem Kriegserlebnis im Ersten Weltkrieg geschwärmt. 1938 nahm er am Einmarsch der deutschen Truppen ins Sudetenland teil und meldete sich 1940 als Freiwilliger für den Frankreichfeldzug. Er selbst soll das Hissen der Hakenkreuzflagge auf dem Schloss von Versailles veranlasst haben. Nach einer Verwundung erhielt er das Eiserne Kreuz 2. und 1. Klasse. 1941 nahm er am Überfall auf die Sowjetunion teil. Pleyer fiel am 26. März 1942 im Kessel von Demjansk in der Nähe von Staraja Russa. Mit dem Krieg beschäftigte sich auch Pleyers postum erschienenes und erfolgreichstes Buch über das Volk im Feld, das er im Weihnachtsurlaub 1941 geschrieben und Frank im Januar 1942 übergeben hatte. Darin hieß es: „Der deutsche Soldat tötet, damit sein Volk leben kann“.22 „In der Sprache des Völkermordes“ (Peter Schöttler) bezeichnete er die sowjetische Bevölkerung als „unterrassiges Menschentum, […], lebende[n] Bodensatz, bevölkerungspolitische[n] Schund“.23 Offen sprach Pleyer in seinem Buch die Judenvernichtung an, wenn er beispielsweise schrieb: „In den Marktflecken und Landstädten wimmelt es von Juden. Viele haben noch nicht recht begriffen daß ihre Stunde geschlagen hat. […] Jetzt kommt das schlechteste Geschäft, dass der Jude je abschließen musste: es kostet ihm den Kragen.“24 Dabei nahm Pleyer auf Hitlers Ankündigung vom Januar 1939, dass das Judentum vernichtet werden würde, Bezug: „Er [der Jude] begibt sich in die Zone der Vernichtung und wird vernichtet. Das ist am feldgrauen Kampf mit dem Judentum das Dramatische: die Rasse, die so viele Rassen und Völker zum Bluten brachte, verblutet selber. Es erfüllt sich die Prophezeiung des Führers: Der Krieg, den die Juden wollten, endet mit der Ausrottung des Judentums. Gereinigt an Leib und Seele wird Europa aus diesem Krieg hervorgehen. Der Abschied von den Juden wird den Völkern des Ostraums nicht schwerfallen, denn sie sind von Haus aus Judengegner.“25 Das Buch erschien unzensiert nach Pleyers Tod unzensiert im April 1943 und avancierte, von der NSDAP gepriesen und mit mehreren Preisen ausgezeichnet,

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zum Kriegsbestseller. Das OKW begann Ende 1944 das erste Kapitel „Krieg und Kriegertum“ in 700.000 Sonderdrucken unter die an allen Fronten auf dem Rückzug befindlichen Soldaten zu verteilen.26 Neben Walter Frank, der Pleyer 1942 einen beinahe 50-seitigen Nachruf in der HZ widmete,27 gehörte auch Theodor Schieder zu denjenigen, die seiner gedachten. Schieder, der 1941/42 die Vertretung von Pleyers Lehrstuhl in Innsbruck übernommen hatte,28 veröffentlichte 1942 in der Zeitschrift Jomsburg einen „freundschaftlichen Nachruf“ über ihn,29 in dem er Pleyer mit →Ernst Moritz Arndt verglich. Schieder sah in ihm einen „Historiker aus politischer Leidenschaft“, der sich im Grunde jedoch „immer als Soldat gefühlt“ habe.30 Damit charakterisierte er den durch und durch nationalsozialistischen Historiker folgerichtig als Prototypen des „kämpfenden Wissenschaftlers“.

René Betker/Alexander Korb

1 Vgl. René Betker, Das Historische Seminar der Berliner Universität im „Dritten Reich“, unter besonderer Berücksichtigung der ordentlichen Professoren, Magisterarbeit TU Berlin 1997, S. 119ff.; Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966, S. 389–400; Gerhard Oberkofler, Kleo Pleyer, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. 8, Wien 1983, S. 126f.; Wolfgang Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Frankfurt a.M. 19872, S. 446; Hermann Weiß, Kleo Pleyer, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 20, Berlin 2001, S. 541f. 2 Jörg Osterloh, Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938–1945, München 2006, S. 111–118. 3 Vgl. Gerhard Fließ, Jürgen John, Deutscher Hochschulring (DHR) 1920–1933, in: Dieter Fricke (Hg. u.a.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 2, Köln 1984, S. 123; Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich, Paderborn 1995, S. 25f.; Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 1996, S. 79ff.; Osterloh, Judenverfolgung, S. 117f. 4 Kleo Pleyer, Die Politik Nikolaus V., Stuttgart 1927. 5 Johannes Haller, Die Epochen der deutschen Geschichte, Stuttgart 1923; Hans-Erich Volkmann, Historiker im Banne der Vergangenheit. Volksgeschichte und Kulturbodenforschung zwischen Versailles und Kaltem Krieg, in: ZfG 49 (2001), S. 9. 6 Vgl. Rudolf Jaworski, Vorposten oder Minderheit? Der sudetendeutsche Volkstumskampf in den Beziehungen zwischen der Weimarer Republik und der ČSR, Stuttgart 1977, S. 117f.; Klaus Thörner, „Der ganze Südosten ist unser Hinterland.“ Deutsche Südosteuropapläne von 1840 bis 1945, Phil. Diss. Oldenburg 2000, S. 349ff. 7 Vgl. Jaworski, Vorposten, S. 105ff. 8 Vgl. Werner Bethge, Bund Jungdeutschland (BJD) 1911–1933, in: Dieter Fricke (Hg. u.a.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 1, Köln 1983, S. 331, 341f. mit Anm. 48. 9 Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932, Darmstadt 19944, S. 243, 299, 452. 10 Walter Frank, Kleo Pleyer. Ein Kampf um das Reich, in: HZ 166 (1942), S. 538. 11 Vgl. Ursula Wolf, Litteris et Patriae. Das Janusgesicht der Historie, Stuttgart 1996, S. 425f. 12 Vgl. Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 20022, S. 256, Anm. 22; Peter Schöttler, Die historische

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„Westforschung“ zwischen „Abwehrkampf“ und territorialer Offensive, in: ders. (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 249, Anm. 105. 13 Carsten Klingemann, Soziologie im Dritten Reich, Baden-Baden 1996, S. 77; Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945, Baden-Baden 1999, S. 750. 14 UAHUB, Phil. Fak. vor 1945, 39, Bl. 352, Fakultätssitzungsprotokoll vom 27.4.1933; Willi Oberkrome, Geistige Leibgardisten und völkische Neuordner. Varianten der Berliner universitären Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.), Die Berliner Universität in der NS-Zeit. Bd. 2: Fachbereiche und Fakultäten, Stuttgart 2005, S. 124, 132. 15 Kleo Pleyer, Die Landschaft im neuen Frankreich. Stammes- und Volksgruppenbewegung im Frankreich des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1935; vgl. hierzu Fahlbusch, Wissenschaft, S. 391f., 704ff.; Heiber, Walter Frank, S. 389ff.; Ernst Laubach, Die politische Haltung der neueren Historiker der Universität Berlin im Dritten Reich, Staatsexamensarbeit Marburg 1960, S. 74f.; Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993, S. 204ff.; Schöttler, „Westforschung“, S. 221, 223; Harold Steinacker, Kleo Pleyer, in: DALV 6 (1942), S. III; Peter Th. Walther, Zur Entwicklung der Geschichtswissenschaften in Berlin: Von der Weimarer Republik zur Vier-SektorenStadt, in: Wolfram Fischer (Hg. u.a.), Exodus von Wissenschaften aus Berlin. Fragestellungen – Ergebnisse – Desiderate. Entwicklungen vor und nach 1933, Berlin 1994, S. 180. 16 Zitiert nach Haar, Historiker, S. 256. 17 Vgl. Fahlbusch, Wissenschaft, S. 110–116, 141–147; Haar, Historiker, S. 255–261, 265f., 297f., 307ff.; Oberkrome, Volksgeschichte, S. 173; Kurt Poßekel, Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) 1881–1945, in: Dieter Fricke (Hg. u.a.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 4, Köln 1986, S. 293. 18 Vgl. Fahlbusch, Wissenschaft, S. 131ff.; Kleo Pleyer, Das Judentum in der kapitalistischen Welt, in: Forschungen zur Judenfrage 2 (1937), S. 154–169; Heiber, Walter Frank, S. 264f., 625ff. 19 Vgl. Erich Botzenhart, Der 19. Deutsche Historikertag in Erfurt 5. bis 7. Juli 1937, in: HZ 156 (1937), S. 662–666; Ulrich Crämer, Der 19. Deutsche Historikertag in Erfurt vom 5.–7. Juli 1937, in: Vergangenheit und Gegenwart 27 (1937), S. 364ff.; Heiber, Walter Frank, S. 708–725; Laubach, Haltung, S. 75; Karen Schönwälder, Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1992, S. 116, sowie Nationalsozialistische Bibliographie. Monatshefte der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums 3 (1938), S. 61; Kleo Pleyer, Die Kräfte des Grenzkampfes in Ostmitteleuropa, Hamburg 1937. 20 Vgl. Gerhard Oberkofler, Die geschichtlichen Fächer an der Philosophischen Fakultät der Universität Innsbruck 1850–1945, Innsbruck 1969, S. 152. 21 Kleo Pleyer, Kampf um den deutschen Lebensraum, in: Schulungshefte für den Unterricht über nationalsozialistische Weltanschauung und nationalpolitische Zielsetzung, hg. vom OKW, 1939, S. 3–11. 22 Kleo Pleyer, Volk im Feld, Hamburg 1943, S. 33. 23 Pleyer, Volk im Feld, S. 83: vgl. Oberkofler, Pleyer, S. 127. Zur Einschätzung von „Volk im Feld“ vgl. Heiber, Walter Frank, S. 398f.; Schönwälder, Historiker, S. 276; Schöttler, „Westforschung“, S. 229; Wolf, Janusgesicht, S. 133 mit Anm. 203. 24 Pleyer, Volk im Feld, S. 151. 25 Pleyer, Volk im Feld, S. 219. 26 Vgl. Heiber, Walter Frank, S. 397. Vgl. Oberkofler, Pleyer, S. 127. Zur Einschätzung von „Volk im Feld“ vgl. Heiber, Walter Frank, S. 398f.; Schönwälder, Historiker, S. 276; Schöttler, „Westforschung“, S. 229f.; Wolf, Janusgesicht, S. 133 mit Anm. 203. 27 Walter Frank, Pleyer, S. 507–553. 28 Vgl. Oberkofler, Innsbruck, S. 154.

Kleo Pleyer  607

29 Schönwälder, Historiker, S. 338f., Anm. 46. 30 Theodor Schieder, Kleo Pleyer zum Gedächtnis, in: Jomsburg 6 (1942), S. 133–137, 134, 137.

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Waldemar von Poletika Wladimir von Poletika (1888–1981), geboren 1888 in St. Petersburg, Nachkomme eines deutschen Professors an der Universität Kiel, dem 1782 der Reichsadelstand durch Joseph II. verliehen worden war, studierte Geographie und Agrarwissenschaften. Er war von 1919 bis 1923 Professor an der Universität St. Petersburg und Mitglied der Kaiserlich Russischen Geographischen Gesellschaft. 1923 emigrierte er nach Deutschland, nachdem er im Frühjahr desselben Jahres an der Universität St. Petersburg einen Widerstand gegen die Kommunisten organisiert hatte, und nahm eine Professur am Russischen Wissenschaftlichen Institut in Berlin an. Dort leitete er die Institutsbibliothek. Von 1934 bis 1940 war er a.o. Professor und erhielt danach eine ordentliche Professur an der Universität Berlin.1 Ausseruniversitären Einrichtungen gehörte er als politischer Berater an: Politischer Berater im Reichsnährstand für die russische Landwirtschaft mindestens seit Sommer 1940; ferner war er der Chefgruppe Landwirtschaft im Wirtschaftsstab Ost zugeordnet. Hier erarbeitete er für den berüchtigten Staatssekretär im Reichsnährstand Herbert Backe die agrarpolitischen Unterlagen. Nach zwei Inspektionsreisen nach Osteuropa, die er offenbar für das Wirtschaftsrüstungsamt durchführte, dem er seit dem 12. Juni 1941 als Major angehörte, erkrankte er und wurde im November 1941 in das Lazarett Berlin-Tempelhof verlegt. Nach seiner Genesung wurde er Mitarbeiter der 1942 aus der Sammlung →Georg Leibbrandt gegründeten →Publikationsstelle Ost (PuSte Ost). Poletika war zudem Leiter der Abteilung für Landwirtschaft und Klimatologie in der Arbeitsgemeinschaft Turkestan in Dresden, welches dem →RSHA VI G unterstand. In diesem Think Tank wurden zusammen mit der PuSte Ost Vorbereitungen für den Anschluss der Gebiete östlich Stalingrads durchgeführt. Der russische Agrargeograph und Landeskundler Wladimir von Poletika gehört zu den bisher wenig beachteten Russlandspezialisten in der Besatzungsverwaltung und den →Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften. Dank der Studie Christian Gerlachs Kalkulierte Morde konnte er als Experte mit weitreichendem genozidalen Potential zugeordnet werden. Poletika galt in den Verwaltungen mit seinen außerordentlichen Russlandkenntnissen als Experte im Bereich der Ernährung und Bevölkerung. Sein während des Krieges erschienenes Standardwerk „Militärgeographische Angaben über das Europäische Rußland“2 folgte ganz der NS-Besatzungsphilosophie, dass sich der Krieg aus dem Krieg ernähren müsse: Er gehörte zu denjenigen Vertretern der Besatzungsverwaltung, die anstatt die Einheimischen als Zwangsarbeiter zu rekrutieren eine radikale Hungerpolitik in Weißrussland favorisierten. Er vertrat die Ansicht, dass über 60% der 10 Millionen Personen umfassenden weissrussischen Bevölkerung verhungern sollte, anstatt als Arbeitskräftepotential für das Deutsche Reich zu dienen.3 Durch die deutsche Terrorverwaltung in Weißrussland starben nach den Ergebnissen von Christian Gerlachs Studie knapp 1.8 Millionen Einwohner, davon etwa 750.000 Juden.

Waldemar von Poletika  609

Seinem nach dem Krieg verfassten Lebenslauf zufolge wurde Poletika „wegen Opposition gegen die [in] der genannten Chefgruppe von der Partei vorgeschriebenen agrarpolitischen Generallinie aus dem Wehrdienst“ entlassen.4 In diesem Sinne verbürgte sich auch →Konrad Meyer, kein geringerer als der Urheber des Generalplans Ost und ehemalige Chef des SS-Planungsamtes im →Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums für seinen einstigen Mitarbeiter in einer eidesstattlichen Erklärung von 1954 für dessen Wiedergutmachungsverfahren: „Nach Ausbruch des Russlandfeldzuges trat für von Poletika leider keine günstige Wendung ein, da er, zum Wehrdienst eingezogen, als Kriegsverwaltungsrat und Russlandexperte beim Wirtschaftsstab Ost offen und eindeutig die Verwaltungsmassnahmen in den besetzten Ostgebieten missbilligte. Jetzt wurde die aufrichtige Art v. Poletikas ihm in der veränderten Situation von neuem zum Verhängnis. Er wurde aus der Wehrmacht entlassen und kehrte in die Fakultät zurück.“5 Ungeachtet seiner in der Nachkriegszeit verschwiegenen Angehörigkeit in SSInstitutionen seit 1942 und der nicht aktenkundigen Opposition, die zu seiner „Entlassung“ aus dem Wirtschaftsstab Ost geführt haben soll, gelang ihm nach dem Krieg eine Karriere als Gastprofessor für Geographie an der Universität Bonn, wo er 1952 emeritiert wurde. Aktenkundig ist indes in seiner Personalakte, dass sich Poletika wegen seiner „tadellosen politischen Persönlichkeit“ des Vertrauens der Antikomintern und des SD sicher wähnte. Von 1950 an war er außerdem langjähriger Leiter der Agrarwissenschaftlichen Forschungsstelle für die Oststaaten in Bonn.6

Michael Fahlbusch

1 UAHUB, UK Pa, P147, Bd. 1 und 2; Ba-MA RW 31/299, Wirtschaftsstab Ost, Chefgruppe Landwirtschaft, Dienstexemplar der Hauptabteilung Ernährung und Landwirtschaft. Regierung des Generalgouvernements, und Erwin Buchholz an W. Poletika, WiStab Ost, vom 7.10.1941, zitiert nach Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 20002, S. 92, 805, 1006; Burchard Brentjes, Die Arbeitsgemeinschaft Turkestan im Rahmen der DMG, in: ders. (Hg.), 60 Jahre Nationale Sowjetrepubliken in Mittelasien im Spiegel der Wissenschaften, Halle 1985, S. 173–178. 2 Militärgeographische Angaben über das Europäische Rußland. Mappe E: Weißrußland – Textheft. Abgeschlossen am 27.3.1941. 3 PA, Inl. II C 34/2 Bd. 3, Mitarbeiterliste der P-Stelle Ost, circa 1943, Bl. D631454f. 4 UA Bonn, Personalakte Waldemar von Poletika (1954), S. 20. 5 Ebd., Schreiben der Archivleitung an Verfasser vom 28.10.2002. In dem Schreiben bleiben auch sich widersprechende Angaben zu Poletikas Nachkriegskarriere offen. Entsprechende Belege Poletikas Widerstand sind nicht aktenkundig. 6 UAHUB, UK Pa, P147, Bd. 1, Schreiben Poletikas an Kurator der Universität vom 24.11.1938, Bl. 19f.; weitere Angaben nach Kürschners Deutschen Gelehrten Kalender 8.–14, Berlin 1954–83, sowie Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 58. Zu Poletikas Verbindungen zur PuSte Ost und der AG Turkestan vgl. Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Baden-Baden 1999, S. 610.

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Hermann Raschhofer Hermann Raschhofer war einer der schillerndsten Juristen des 20. Jahrhunderts. Der Bogen seines Wirkens spannte sich von der Zwischenkriegszeit über sein massives Auftreten während des Zweiten Weltkriegs in Prag bis hin zu seinem Renommée als international gefragter Völkerrechtler in der Nachkriegszeit. Am 26. Juli 1905 kam er in der oberösterreichischen Stadt Ried im Innkreis zur Welt. In seiner Geburtsstadt besuchte er das Humanistische Gymnasium und studierte nach der Matura mit einem Stipendium der →Rockefeller Foundation in Marburg, Wien, Paris und Turin Jurisprudenz mit Schwerpunkt auf internationalem Recht.1 An der Universität Innsbruck promovierte Raschhofer 1927 mit einer völkerrechtlichen Studie und erhielt im folgenden Jahr eine Anstellung als Referendar am Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Berlin sowie eine Assistentenstelle bei Viktor Bruns (1884–1943) an der Berliner Universität, anschließend in Tübingen.2 Die Akademie der deutschen Wissenschaften verlieh ihm 1929 den Großen Buchpreis für seine Schrift „Hauptprobleme des Nationalitätenrechts“. Zwischen September 1936 und März 1938 gehörte Raschhofer der illegalen NSDAP Österreichs an.3 Publizistisch hatte er bereits in den vorausgegangenen Jahren aus seinem „großdeutschen“, antisemitischen und ethno-nationalistischen Standpunkt keinen Hehl gemacht.4 1937 habilitierte sich Raschhofer an der Universität Berlin.5 Er folgte 1940 einem Ruf als außerordentlicher Professor für öffentliches Recht an der Deutschen Karls-Universität Prag, wo er im gleichen Jahr Direktor des Instituts für Völkerrecht und Reichsrecht wurde.6 Bereits in den dreißiger Jahren hatte er als „guter Freund von Konrad Henlein“ (1898–1946) und dessen „Mitarbeiter“ intensive Beziehungen zum „völkischen“ sudetendeutschen Milieu gepflegt.7 1938 hatte er eine grundlegende Studie zu den tschechoslowakischen Denkschriften aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg vorgelegt.8 Am Justizprüfungsamt in Leitmeritz wirkte Raschhofer als Prüfer. Von 1942 bis 1943 war er als Angehöriger der Einheit „Bergmann“ an der Ostfront. Verschiedentlich war Raschhofer als Berater von Karl Hermann Frank (1898–1946), dem Staatsminister für Böhmen und Mähren, tätig. Im Jahre 1943 wurde er mit der Ausarbeitung einer ostpolitischen Dokumentation für das Amt Rosenberg beauftragt. Einen Sonderauftrag erhielt er im darauf folgenden Jahr, als er im Auftrag des SD in die Slowakei reiste, um dort Material für die Niederschlagung des Slowakischen Nationalaufstandes zu sammeln. Karl Hermann Frank entsandte Raschhofer im April 1945 als Unterhändler dem amerikanischen General Georg S. Patton (1885–1945) nach Bayern entgegen. Raschhofer fand jedoch Zuflucht in kirchlichen Kreisen in Mailand. Von 1952 bis 1955 gelingt ihm die Etablierung seiner Nachkriegskarriere als Lehrstuhlinhaber an der Universität Kiel. Von dort aus ging er 1955 als ordentlicher Professor für Verfassungsgeschichte und Völkerrecht an die Universität Würzburg. Der stellvertretende Vorstand des Instituts für Völkerrecht und internationale Beziehungen gehörte zu den einflussreichsten Juristen in der frühen Geschichte der Bun-

Hermann Raschhofer  611

desrepublik. Seine 1953 veröffentlichte Studie „Die Sudetenfrage“ gehörte zu den juristischen Grundlagenwerken der „Heimatpolitik“ der Vertriebenenverbände.9 Der Bremische Staatsgerichtshof berief Raschhofer 1955 als Mitglied. Das Collegium Carolinum in München, die „Forschungsstelle für die böhmischen Länder“, benannte ihn als Leiter seiner Rechts- und Staatswissenschaftlichen Abteilung. 1962 trug er zur internationalen Rehabilitierung Theodor Oberländers bei.10 Als Raschhofer 1970 in den Ruhestand stand, konnte er auf eine lange Karriere als Wissenschaftler, akademischer Lehrer und Berater für Politiker und Vertriebenenorganisationen zurückblicken.11 Am 27. August 1979 verstarb er in Anthering bei Salzburg.12

Tobias Weger

1 Vgl. Jaroslav César, Politika německých buržoazních stran v Āeskoslovensku v letech 1918–1938, Praha 1962, Bd. 2 (1930–1938), S. 561; vgl. auch Samuel Salzborn, Zwischen Volksgruppentheorie, Völkerrechtslehre und Volkstumskampf. Hermann Raschhofer als Vordenker eines völkischen Minderheitenrechts, in: Sozial.Geschichte 3 (2006), S. 29–52. 2 Hermann Raschhofer, Hauptprobleme des Nationalitätenrechts, Stuttgart 1931. 3 BArch, BDC, NSDAP-Personenkartei, O 19. 4 Hermann Raschhofer, Großdeutsch oder kleinösterreichisch? Die Funktion der kleinösterreichischen Ideologie, Berlin 1933. 5 Hermann Raschhofer, Der politische Volksbegriff im modernen Italien, Berlin 1936. 6 Vgl. Gerhard Lüdke (Hg.), Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender 1940/41, Berlin 1941, Bd. 2, Sp. 421. 7 BArch, BDC, NSDAP-Personenkartei, O 19, Brief des NSDAP-Ortsgruppenleiters Gerber aus Göttingen vom 6.8.1938. 8 Hermann Raschhofer, Die Tschechoslowakischen Denkschriften für die Friedenskonferenz von Paris, 1919/20, Berlin 1938. 9 Hermann Raschhofer, Die Sudetenfrage, Ihre völkerrechtliche Entwicklung vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, München 1953. 10 Hermann Raschhofer, Der Fall Oberländer, Eine vergleichende Rechtsanalyse der Verfahren in Pankow und Bonn, Tübingen 1962, sowie Political assassination. The legal background of the Oberländer and Stashinsky cases, Tübingen 1964. 11 Hermann Raschhofer, Die Vermögenskonfiskationen der Ostblockstaaten, Zur völkerrechtlichen Natur der ostdeutschen und volksdeutschen Vermögensverluste, Berlin 1956; ders., Das Münchner Abkommen im Rahmen der völkerrechtlichen Entwicklung der Sudetenfrage, in: München 1938 – eine offene Frage, München 1958; ders. Das Selbstbestimmungsrecht, Sein Ursprung und seine Bedeutung, Bonn 1960; ders. Völkerbund und Münchner Abkommen. Die Staatengesellschaft von 1938, München 1976. 12 Otto Kimminich, Zum Tode von Professor Dr. Hermann Raschhofer, in: Volksbote vom 14.9.1974.

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Hermann Rauschning Hermann Rauschning, geboren am 7. August 1887 in Thorn (Toruń) in einer evangelischen Familie, verbrachte seine Kindheit in Thorn, Graudenz und Glogau. Sein Vater Leopold (1862–1938) war Berufsoffizier der preußischen Armee, Mutter Clara (1866–1943), geborene Tauben, stammte aus einer kaufmännischen Familie in Thorn. 1898 trat Hermann Rauschning in die Preußische Kadettenanstalt Potsdam ein und wechselte 1902 in die Hauptkadettenanstalt Großlichterfelde bei Berlin. Infolge seiner Scharlacherkrankung wurde er herzkrank, kam zur Genesung längere Zeit in das Berner Oberland in die Schweiz, verbrachte dort bei einem protestantischen Pfarrer seine Kur und musste seine Kadettenausbildung abbrechen. 1906 legte Rauschning am Realgymnasium Katharineum in Lübeck das Abitur ab und nahm im gleichen Jahr das Studium der Musiktheorie und Komposition sowie Germanistik auf. 1909 nahm er ein Studium der Fächer Musikwissenschaft und Germanistik auf. Am 30. März 1911 promovierte er an der Friedrich-Wilhelm-Universität Danzig über Musikgeschichte. Nach dem Abschluss seiner Studien arbeitete er als Landwirt. Er heiratete im Jahre 1915 Anna Schwartz, mit der er fünf Kinder aufzog. Bereits am 1. August 1914 meldete sich Rauschning freiwillig zur Armee und wurde am 18. Oktober 1914 schwer verletzt. Nach seiner Genesung kämpfte an mehreren Frontabschnitten im Osten (Wilna).1 Nach dem Kriege blieb er 1918 in den an Polen gefallenen westpreußischen Gebieten und leistete dort auf vielen Feldern Deutschtumsarbeit. Er schuf in Posen einen Mittelpunkt fūr die kulturelle und wissenschaftliche Tätigkeit der Deutschen (deutsche Intelligenz) in den abgetretenen Gebieten. Besondere Verdienste erwarb er sich um das Bibliothekswesen. 1921 gründete er eine Zentralstelle für das deutsche Volksbüchereiwesen. Er leitete die Deutsche Bücherei in Posen. Als Ergebnis seiner Bemühungen entstand der Verband deutscher Büchereien in Polen 1924. Er leitete diesen Verband bis zu seinem Fortgang 1926. Zu diesem Zeitpunkt verfügte der Verband über 150.000 Bücher in 50 Bibliotheken in Großpolen, Pommerellen, Mittelpolen und Wolhynien. Er schuf damit die Grundlagen des Systems des deutschen Büchereiwesens, das mit Erfolg sein Nachfolger Paul Zöckler fortsetzte. Hermann Rauschning betrachtete Bibliotheken als Teil der kulturellen Tätigkeit für die deutsche Minderheit.2 1921 übernahm er zusätzlich die Leitung des Kulturausschusses des Deutschtumsbundes in Posen. Während seiner Leitung dies Kulturausschusses organisierte er Konzerte, Musikabende, Ballettvorstellungen, Rezitationsabende, Autorenabende und wissenschaftliche Vorträge. Rauschning vermittelte ebenfalls Theatergruppen aus Deutschland für Auftritte in Großpolen und Pommerellen. Wichtiges Element seiner Aktivität bildete jedoch die Wissenschaft. Rauschning wurde Sekretär der Historischen Gesellschaft für Posen und veranstaltete dort hauptsächlich wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Vorträge über die Geschichte des Deutschtums im Osten. In der Zeitschrift der Historischen Gesell-

Hermann Rauschning  613

schaft für die Provinz Posen wurde er Chefredakteur bis 1926 und in den Deutschen Blättern in Polen Mitherausgeber. Im Dezember 1924 erhielt er allerdings einen Ausweisungsbefehl, weil er im Posener Tageblatt die deutsche Herkunft von Nikolaus Kopernikus nachgewiesen habe. Dank der Eingabe eines deutschen Sejmabgeordneten an das Innenministerium wurde die Anordnung des Posener Wojewoden Adolf Bninski jedoch zurückgezogen. Rauschning war ferner einer der Angeklagten im Prozess gegen den Deutschtumsbund 1925. Da er sich mit den Leitern der deutschen Minderheit in der Woiwodschaft Posen überworfen hatte, entschied sich Rauschning 1926 in die Freie Stadt Danzig umzusiedeln.3 Das war sein Protest gegen die Deutsche Vereinigung für Sejm und Senat und die →Deutsche Stiftung. Rauschning warf beiden Institutionen vor, dass sie ihr Versprechen nicht gehalten hätten, deutsche Kultureinrichtungen finanziell zu fördern. In Danzig angekommen, kaufte Rauschning ein Landgut in Warnowo im Kreis Großes Werdau. 1931 legte er die deutsche Staatsbürgerschaft ab und nahm die Danziger Staatsbürgerschaft an. Er war ein Anhänger der Deutschnationalen Partei. 1932 wurde er Vorsitzender des Danziger Landbundes und radikalisierte sich, als er kurze Zeit später der NSDAP beitrat und in der Freien Stadt Danzig einer der bedeutendsten Naziaktivisten wurde. Nach dem Sieg NSDAP bei der Wahl im Mai 1933 in der Freien Stadt Danzig wurde er zum Präsidenten des Danziger Senats gewählt; er hatte maßgeblich zum Wahlsieg der Nationalsozialisten in Danzig beigetragen. Rauschnings Verdienst war die Unterzeichnung des vorläufigen Übereinkommens zwischen Danzig und Polen bezüglich der vollen Nutzung des deutschen Hafens. Sein Verdienst war auch die Regelung der Behandlung der polnischen Bevölkerung in der Freien Stadt Danzig. Er vermittelte als Präsident des Danziger Senats in den deutsch-polnischen Gesprächen, die zu der Januar-Deklaration 1934 führten. Im Verlauf des Jahres 1934 verschlechterte sich jedoch die Position Rauschnings in der Danziger Politik zusehends. Stufenweise verlor er das Vertrauen seitens der NSDAP. Rauschning war für eine Zusammenarbeit mit dem Zentrum und den Deutschnationalen und gegen die Verfolgung der politischen Opposition. Aus rein pragmatischen Gründen war er auch gegen einen „harten Kurs“ gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Rauschning befürchtete ökonomische Sanktionen seitens der jüdischen Handelssphären, was für das Wirtschaftsinteresse der Feien Stadt Danzig schädlich gewesen wäre. Im Herbst 1934 war er nach einem verlorenen Misstrauensvotum gezwungen, im Volksrat zurückzutreten. Nach den letzten Volkstagswahlen am 7. April 1935 verließ Rauschning die Freie Stadt Danzig. Er hielt sich zeitweilig in Thorn auf, um nach einigen Monaten nochmals nach Danzig zurückzukehren. Endgültig verließ er Danzig unter dem Eindruck der Verfolgung der politischen Opposition und nach dem Rücktritt des Hohen Kommissars Sean Lester in Danzig, um ins Exil zu gehen. Das Jahr 1937 verbrachte Rauschning in Polen und in Europa. Nachdem er das Gut Warnau gezwungenermaßen verkauft hatte, begab er sich mit seiner Familie in die Schweiz. 1938 siedelte er nach Frankreich um.

614  Biographien

Im Winter 1939/1940 verlegte Rauschning seinen Wohnsitz nach London. Im britischen Exil versuchte er zwar seine politischen Aktivitäten in der Deutschen Freiheitspartei zusammen mit Carl Spiecker und Hans Albert Kluthe fortzusetzen. Wegen seiner Nazi-Vergangenheit von seinen Gegnern in der Emigrantenpresse angegriffen, entschied er sich 1940 nach den USA umzusiedeln. Er ließ sich dort nach seiner Ankunft am 19. Oktober 1941 in New York nieder und lebte dort bis 1943. Danach wohnte er bis 1947 in Los Angeles und arbeitete als Drehbuchautor in Hollywood. 1947 zog er sich nach Oregon zurück, wo er unweit Portlands, in Gaston eine kleine Farm bewirtschaftete.4 1948 nahm er die amerikanische Staatsbürgerschaft an; seine Danziger Staatsbürgerschaft war ihm bereits 1938 aberkannt worden. Rauschning blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg politisch aktiv. In den Jahren 1953 bis 1955 versuchte er erfolglos im politischen Leben in der BRD Fuß zu fassen. Er gab sich als Gegner der westeuropäischen Integrationspolitik der Regierung Konrad Adenauers zu erkennen. In seinen Arbeiten und Auftritten in der Nachkriegszeit sprach er sich für die Neutralität beider deutschen Staaten und ihre Vereinigung aus. Seiner Meinung nach diente Adenauers Politik nicht allgemeindeutschen Interessen, insbesondere nicht der künftigen Vereinigung Deutschlands. Deshalb kehrte er enttäuscht in die USA zurück.5 1953 lehnte er einen Ruf als Professor für politische Wissenschaften nach Erlangen ab. Sein Widerstand gegen die fortschreitende Militarisierung der BRD trug ebenfalls zu seiner Isolierung auf der politischen Bühne sowohl in Deutschland als auch in den USA bei. Rauschning veröffentlichte 28 Bücher. Er debütierte als Redakteur der Auswahl der Schriften und Briefe von Nikolaus Kopernikus (Posen 1923). 1931 gab er seine Dissertation über Musik und Musikpflege in Danzig heraus. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit lag in der Politik. In seinen 1930 veröffentlichten politischen Studien über die Abwanderung der Deutschen aus Westpreußen und Posen in den Jahren 1919– 1929 äußerte er sich sehr kritisch über die Entdeutschungspolitik Polens im früheren preußischen Gebiet. Im Exil 1938 erschien sein Hauptwerk Die Revolution des Nihilismus, eine Analyse des Herrschaftssystems und der Ideologie des Nationalsozialismus, in der er die Brutalität und den Zynismus des NS-Regimes offenlegte. 1940 veröffentlichte er sein Buch „Gespräche mit Hitler“, womit er einen Welterfolg erreichte. „Die Gespräche“ sind keine authentische Gesprächsniederschrift, sondern eine Kampfschrift, die der Welt die Augen über Hitler öffnen sollte. Tatsächlich hatte sich Rauschning zweimal mit Hitler in Danzig getroffen, allerdings nie unter vier Augen.6 Im Exil in England und den USA gab er noch einige weitere Anti-HitlerSchriften heraus. Sie wurden jedoch nicht so stark rezipiert wie seine früheren Publikationen. Die Bücher und Aufsätze, die er in den USA veröffentlichte, überwiegend politisch-historischer Inhalts, weckten wenig Interesse. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab er noch einige Bücher heraus.7 Sie reflektieren einerseits seine Enttäuschung über die neue politische Ordnung in Europa, andererseits bezeugen sie

Hermann Rauschning  615

den Niedergang der früher bekannten national-konservativen Ideen. Rauschning verstarb am 8. Februar 1982 in Portland (USA).

Zdzisław Gębołyś

1 Hans Wolfram von Hentig, Rauschning, Hermann Adolf Reinhold, in: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 21, Berlin 2003, S. 212f.; Marek Andrzejewski, Hermann Rauschning. Biographische Skizze, in: Gilbert Gornig (Hg.) Neunte deutsch-polnische Begegnung zu Wissenschaft und Kultur im zusammenwachsenden Europa: die Danziger Bucht: Wandel von Klima und Menschen, Einführung in die Grundlangen und Entwicklung 20, Lübeck 2009, Bd. 10, S. 170–185; Richard Breyer, Dr. Hermann Rauschning als Wissenschaftler und Publizist in Posen, in: Jahrbuch Weichsel-Warthe (1985), S. 25–31; Marek Andrzejewski, Hermann Rauschning: szkic biograficzny, in: Studia z najnowszej historii Niemiec i stosunków polsko-niemieckich, Poznań 1986, S. 397–409; Jürgen Hensel (Hg. u.a.), Hermann Rauschning. Materialien und Beiträge zu einer politischen Biographie. Warschau 2002, S. 7–33. 2 Zdzisław Gębołyś, Biblioteki mniejszości niemieckiej w II RP, Katowice 2012, S. 143–148; BArch, R 8043, Deutsche Stiftung, F 62 602, Deutscher Volksbund für Oberschlesien, K. 566; Staatsarchiv Katowice, 77/0, Deutscher Volksbund, Sygn. 533, Verein Deutscher Büchereien Deutscher Kulturbund für Polnisch Schlesien (1936–39; 1927–1931; 1933–1939), K. 198–199. Marek Andrzejewski, Hermann Rauschning, S. 170f.; Marek Andrzejewski, Hermann Rauschning: szkic biograficzny, S. 397f.; Hensel (Hg. u.a.), Hermann Rauschning, S. 7f. 3 Sławomir Łozowski, Hermann Rauschning a próba normalizacji stosunków polsko-gdańskich w latach 1933–1934, in: Rola mniejszości niemieckiej w rozwoju stosunków politycznych w Europie 1918–1945. Red. A. Czubiński, s. 243–266. 4 Hentig/Rauschning, S. 212f.; Andrzejewski, Hermann Rauschning, S. 170f.; Andrzejewski, Hermann Rauschning: szkic biograficzny, in: Studia z najnowszej historii Niemiec i stosunków polsko-niemieckich, S. 397f. 5 Sławomir Łozowski, Prusy jako idea i etos w myśli poltycznej Hermanna Rauschninga, in: Przegląd Zachodni (1988) 4, S. 49–69; Marek Andrzejewski, O potrzebie naukowej biografii Hermanna Rauschninga, in: Dzieje najnowsze (2003) 2, S. 165–176. 6 Sławomir Łozowski, Niezastąpione źródło historyczne czyli wielka mistyfikacja? Kontrowersje wokół „Gespräche mit Hitler“ Hermanna Rauschninga, in: „Przegląd Zachodni“ (1986) 1, S. 147–157. 7 Deutschland zwischen West und Ost, Berlin 1950; Die deutsche Einheit und der Weltfriede, Hamburg 1955; Ist Friede noch möglich? Die Verantwortung der Macht, Heidelberg 1953; Mut zu einer neuen Politik, Berlin 1959; Ruf über die Schwelle. Betrachtungen, Tübingen 1955.

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Otto Reche Carl Otto Reche, geboren am 24. Mai 1879 in Glatz (Kłodzko) in Schlesien, legte 1901 in Breslau seine Reifeprüfung ab. Er studierte anschliessend in Jena und Breslau Paläontologie, Geologie, Frühgeschichte und Zoologie.1 Während seines Volontariats am Schlesischen Museum für Altertümer und Kunstgewerbe in Breslau im Jahr 1904 schrieb Reche seine Doktorarbeit „Über Form und Funktion der Halswirbelsäule der Wale“ im Fach Zoologie und bestand im selben Jahr das Rigorosum in den Fächern Zoologie, Botanik, Geologie und Philosophie. Im Oktober 1905 trat Reche der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte bei, begann im darauf folgenden Monat ein Volontariat in der prähistorischen Abteilung im königlichen Museum für Völkerkunde in Berlin und wechselte im Februar 1906 in die afrikanisch-oceanische Abteilung, wo er bis Juni 1906 tätig war. In Berlin rückten die Völkerkunde und die Anthropologie zunehmend in den Mittelpunkt seines Interesses. Reche ließ sich hier speziell in die Anthropometrie bei Felix von Luschan (1854–1924) einweisen. Im Juli 1906 wurde er als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter am Hamburger Museum für Völkerkunde unter der Leitung von Georg Thilenius (1868–1937) eingestellt, wo Reche die anthropologische Abteilung unterstand. Von Sommer 1908 bis Herbst 1909 nahm Reche als Anthropologe und Ethnologe an der Südsee-Expedition 1908–1910 der Hamburger Wissenschaftlichen Stiftung2 teil, widmete sich hier außerdem geologischen und geographischen Studien, ganz besonders aber sterblichen, menschlichen Überresten. Reche las speziell aus Schädeln stets die vermeintliche Rassenzugehörigkeit, die Qualitäten der jeweiligen sogenannten Rassen, ihre soziale Stellung sowie ihre Geschichte heraus. Nach seiner Rückkehr wurde Reche neben der anthropologischen nun auch die afrikanische Abteilung des Hamburger Völkerkunde-Museums übertragen. Am Museum und von 1909 bis 1919 auch am Hamburger Kolonialinstitut hielt er anthropologische und ethnologische Vorlesungen und bot anthropologische Praktika an. Im August 1914 wurde Reche im Ersten Weltkrieg als Leutnant der Landwehr an der Front eingesetzt. Im Oktober 1917 wurde er wegen einer Verwundung aus dem Kriegsdienst entlassen und kehrte wieder nach Hamburg zurück. Im Herbst desselben Jahres begann Reche anthropologische Untersuchungen im Kriegsgefangenenlager Güstrow durchzuführen. Hier traf er zwar „keine Farbigen mit Ausnahme zweier indischer Heizer“, hingegen konnte Reche „kleine Serien von Letten, Litauern und Esten und eine größere von Rumänen bearbeite[n]“ und außerdem „recht interessante Kerle […] unter den Bretonen, unter Iren und Schotten; zum Vergleich […] auch einige Engländer aus ländlichen Bezirken“ vermessen.3 Wie bei vielen Anthropologen und auch Völkerkundlern beeinflusste der Ausgang des Krieges und seine Folgen auch Reches weiteres Wirken innerhalb wie außerhalb der Universität.4 Dies hing eben auch mit der Situation in Deutschland und Österreich nach dem Ersten Weltkrieg, dem Verlust der Kolonien und den damit erschwerten Forschungsmöglichkeiten außerhalb des eigenen Landes zusammen wie auch mit dem

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gebrochenen Selbstbewusstsein, unter dem nun zahlreiche Deutsche und Österreicher litten, die sich über ihre Zugehörigkeit zu einer Nation oder einem Volk definierten. Es waren jetzt weniger die außereuropäischen Menschen, für die sich Reche interessierte, als vielmehr die europäische, speziell die mittel- und osteuropäische sowie die deutsche Bevölkerung, die jeweilige angebliche Rassenzusammensetzung und Siedlungsgeschichte. In Reches Studien entwickelte sich die Rassenkunde zunehmend zu einer Leitdisziplin. Reche wurde in Hamburg Mitglied des Alldeutschen Verbandes, der Deutschnationalen Volkspartei, der Einwohnerwehr Brigade Ehrhardt und gehörte später dem Bund Wiking an. Außerdem zählte er zu den Mitbegründern kleinerer völkischer Organisationen, wie der Völkisch-Sozialen Partei, der Deutsch-Völkischen Freiheitsbewegung sowie des Bundes völkischer Lehrer und arbeitete mit dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund zusammen. Im Oktober 1918 wurde Otto Reche in Hamburg zum Professor ernannt. Im Sommer 1924 folgte er einem Ruf nach Wien, wo er als ordentlicher Professor für Anthropologie und Ethnographie Leiter des Anthropologisch-Ethnographischen Instituts der Universität wurde. Im Oktober 1924 zählte Reche zu den Gründern der Wiener Gesellschaft für Rassenpflege (Rassenhygiene) und übernahm den Vorstand. Für Reche war von Beginn an eine Eugenik ohne den „rassischen“ Aspekt nicht denkbar. Jede „Rasse“ war ihm zufolge sowohl mit physischen als auch mit psychischen Eigenschaften ausgestattet, die im Falle einer „Rassenmischung“ zu Disharmonien verschmelzen könnten. Die „nordische Rasse“ sei ursprünglich durch helle Haare, helle Haut und blaue Augen gekennzeichnet gewesen, das heißt durch Charakteristika, die sich zumeist rezessiv vererbten. Damit der nordische Mensch als solcher erkannt wird, sollten auch die seelischen Rassenmerkmale studiert werden, die oftmals als viel zuverlässigere Kennzeichen gewertet wurden: Um zum deutschen Volk dazugerechnet zu werden, musste insbesondere die richtige Haltung erkennbar sein. Das deutsche Volk sollte seine ‚nordischen Rassenanteile‘ nicht nur schützen, sondern auch erhöhen, und hierfür war es wichtig, sich auch mit den fremden Rassenanteilen zu beschäftigen, um sie rechtzeitig zu erkennen.5 1925 wurde Reche Vizepräsident des Deutschen Clubs in Wien, 1926 Ehrenpräsident des Instituts zur Pflege deutschen Wissens und war im selben Jahr Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Blutgruppenforschung (mit dem dazugehörigen Organ Zeitschrift für Rassenphysiologie), deren Hauptaufgabe Reche darin sah, die Relation von Blutgruppe und „Rasse“ zu erforschen. Reche wurde erstmals 1926 beauftragt, die von ihm entwickelte Methode des anthropologisch-erbbiologischen Abstammungs- und Identitätsgutachtens im Rahmen von Vaterschaftsprozessen anzuwenden. Bereits von Wien aus zählte er zum wissenschaftlichen Ausschuss der →Stiftung für Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig und beteiligte sich als Teilredakteur an der Erstellung des →Handwörterbuchs für das Grenz- und Auslandsdeutschtum. Im September 1927 wurde Reche zum ordentlichen Professor für Völkerkunde und Anthropologie und zum Direktor des Ethnologisch-Anthropologischen Instituts der Universität Leipzig ernannt und

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prägte hier wesentlich die folgenden 18 Jahre. Gleichzeitig fungierte er als Leiter des Staatlich-Sächsischen Forschungsinstituts für Völkerkunde.6 Reche setzte seine Tätigkeit als Vaterschaftsgutachter auch in Leipzig fort, wo fortan auch der Sitz der Deutschen Gesellschaft für Blutgruppenforschung sein sollte. 1928 wurde er in den Beirat der Stiftung für Volks- und Kulturbodenforschung aufgenommen. Im Mai 1932 beteiligte sich Reche an der Gründung einer Ortsgruppe Leipzig der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene (Eugenik) und übernahm auch hier den Vorsitz, während er mit seinem Umzug nach Leipzig zum Ehrenvorsitzenden der Wiener Gesellschaft für Rassenpflege (Rassenhygiene) ernannt worden war. Von 1927 bis 1933 war er Schriftleiter der Zeitschrift Volk und Rasse. Mit Unterstützung der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft und später der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie der →Rockefeller Foundation beteiligte sich Reche an den anthropologischen Erhebungen in Deutschland, wobei ihn – verbunden mit einem ausgeprägten Ressentiment gegenüber slawischen Bevölkerungsgruppen – insbesondere die Bevölkerung des „Grenzlandes“ zur Tschechoslowakei, vor allem aber die Sorben interessierten. Was die Studien in Schlesien betraf, musste sich Reche mit →Egon Freiherr von Eickstedt arrangieren, der in Breslau die Anthropologie und Völkerkunde vertrat und über viele Jahre von Reche als Konkurrent empfunden wurde. So kritisierte Reche beispielsweise im Jahr 1942 in der Zeitschrift Jomsburg öffentlich Eickstedts anthropologische Vorgehensweise in Schlesien.7 Im November 1933 unterschrieb Reche das Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat und ließ das Ethnologisch-Anthropologische Institut in Institut für Rassen- und Völkerkunde umbenennen. Während der NS-Zeit äußerte sich Reche verstärkt offen und unmissverständlich judenfeindlich und trug aktiv zur Ausgrenzung von Juden bei. Er selbst wies darauf hin, dass die von ihm entwickelte Methode des Vaterschaftsnachweises in erweiterter Form als rassenkundliches Abstammungsgutachten durchaus auch für den Ariernachweis relevant sei. Künftig erstellten Reche mit Unterstützung von Mitarbeitern diese Abstammungsgutachten am Leipziger Institut für Rassen- und Völkerkunde. Vom Institut aus ließ Reche außerdem Gefängnisinsassen und ihre Familien, Zwillingspaare sowie „Fremdrassige“ und „Bastarde“ untersuchen. Reche war Mitglied des NS-Lehrerbundes, der NS-Volkswohlfahrt e.V., der NSKulturgemeinde, der NS-Kriegsopferversorgung, des Reichsluftschutzbundes, des Reichsbundes Deutsche Familie, des NS-Altherrenbundes sowie der Deutschen Glaubensbewegung. Er arbeitete eng mit dem Rassenpolitischen Amt zusammen und stand in direkter Verbindung zu →Walter Gross. Für die Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums verfasste Reche Gutachten. Er hielt Vorträge zur (Indo-) Germanenfrage, zur Rassenkunde, Rassenhygiene und zum Abstammungsnachweis, entwarf entsprechende Wandtafeln und beteiligte sich über seine universitären Verpflichtungen hinaus an Schulungen. Von 1934 bis 1936 erster Vorsitzender der Gesellschaft für Physische Anthropologie (seit 1937 Deutsche

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Gesellschaft für Rassenforschung) und anschließend zweiter Vorsitzender, sah Reche die Aufgabe der „deutschen Rasseforschung“ darin, der deutschen →Volksgemeinschaft zu dienen. Er selbst propagierte „das Blut der Nordischen Rasse“ als „das einigende Band, das uns alle umschließt und das uns und unserer deutschen Kultur seinen übermächtigen seelischen Stempel aufdrückt“.8 1937 trat Reche der NSDAP bei und erhielt die Mitglieds-Nr. 5.172.031. Als Vorstandsmitglied des Reichsbundes für Biologie, der 1939 an die Forschungsstätte für Biologie im →SS-Ahnenerbe angegliedert wurde, stand Reche in enger Verbindung mit dem SS-Ahnenerbe, insbesondere mit dem Leiter dieser Forschungsstätte, dem SS-Obersturmführer Walter Greite (1907–1984). Reche wurde Mitherausgeber der Zeitschrift Der Biologe. Monatsschrift des Deutschen Biologen-Verbandes9, während sich Greite seinerseits an der Herausgabe der Zeitschrift für Rassenphysiologie beteiligte, was wiederum dem Fortbestehen jenes Organs zugute kam.10 Im März 1941 zählte Reche zu den Teilnehmern der Arbeitstagung im Anschluss an die Eröffnung des Frankfurter Instituts zur Erforschung der Judenfrage.11 Reche saß im Beirat der →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG) als Fachvertreter für Rassenkunde.12 Von deren →Publikationsstelle Berlin-Dahlem wurde er wiederholt beauftragt, Expertisen zu verfassen. Insbesondere im Zusammenhang mit seinen „Grenzlandforschungen“ stand er in Kontakt mit dem Bund Deutscher Osten, der die anthropologischen Erhebungen bei den Sorben finanziell unterstützte. Gegenüber den Aktivitäten der →Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung und der Volksdeutschen Mittelstelle skeptisch eingestellt, bemühte sich Reche während des Zweiten Weltkrieges über die NOFG, insbesondere über →Albert Brackmann, über das Rasse- und Siedlungshauptamt sowie über den Reichsminister Rudolf Heß intensiv um Mitarbeit bei der →Umvolkung in den besetzten polnischen Gebieten.13 Im Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften beteiligte sich Reche beim „Indogermanisteneinsatz“ in der Gruppe „Indogermanische Kultur- und Geistesgeschichte“.14 Mit seinem Artikel „Stärke und Herkunft des Anteiles Nordischer Rasse bei den West-Slawen“ leistete er einen Beitrag zur Festschrift „Deutsche →Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg“ (1942) für Albert Brackmann, herausgegeben von →Hermann Aubin. Im Juni 1945 wurde Reche von US-Amerikanern festgenommen und bis November 1946 interniert. Im April 1948 wurde er in Kategorie V (unbelastet) eingestuft. Reche konnte in Hamburg wieder seiner Tätigkeit als Gutachter in Vaterschaftsprozessen nachgehen. 1954 bekam er von der Universität Köln die Goldene Doktorurkunde verliehen. Die Deutsche Gesellschaft für Anthropologie nahm Reche 1958, die Anthropologischen Gesellschaft Wien 1959 als Ehrenmitglied auf. Im Zusammenhang mit dem sogenannten Anastasia-Prozess wurde er 1959 als Gutachter bestellt.

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1965 wurde ihm das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst erster Klasse verliehen. Otto Reche starb am 23. März 1966 in Schmalenbek bei Hamburg.

Katja Geisenhainer

1 Vgl. Katja Geisenhainer, „Rasse ist Schicksal“. Otto Reche (1879–1966) – ein Leben als Anthropologe und Völkerkundler, Leipzig 2002. 2 Vgl. Hans Fischer, Die Hamburger Südsee-Expedition. Über Ethnographie und Kolonialismus, Frankfurt a.M. 1981. 3 Staatsbibliothek Berlin, Handschriftenabteilung, NL Felix von Luschan, Reche an Luschan, 8.1.1918. 4 Vgl. Robert Proctor, From Anthropologie to Rassenkunde in the German Anthropological Tradition, in: George W. Stocking (Hg.), Bones, Bodies, Behavior. Essays on Biological Anthropology, Madison/WI 1988, S. 139. 5 Vgl. Katja Geisenhainer, Otto Reches Rassenkunde zwischen Metaphorik und Metatheorie, in: Bernhard Streck (Hg.), Ethnologie und Nationalsozialismus, Gehren 2000, S. 83–100. 6 Vgl. Katja Geisenhainer, Das Staatlich-Sächsische Forschungsinstitut, in: Karin Bautz (Hg. u.a.), Die vergessene Expedition: Auf den Spuren der Leipziger Moçambique-Expedition Spannaus/Stülpner 1931, Leipzig 1999, S. 11–14; dies., „Rasse ist Schicksal“, S. 141–147 und 162–169. 7 Otto Reche, Rasse, Volk und Erbgut in Schlesien, in: Jomsburg 6 (1942), S. 312–317. 8 Otto Reche, Das Rassebild des deutschen Volkes, in: Ernst Wegner (Hg.), Rassenhygiene für Jedermann, Dresden 19352, S. 30–43. 9 Zur Zeitschrift „Der Biologe“ vgl. Uwe Hoßfeld, Geschichte der biologischen Anthropologie in Deutschland: von den Anfängen bis in die Nachkriegszeit, Stuttgart 2005: S. 281–286. 10 Vgl. IEUL, Re XIV, Korrespondenz von Reche mit Greite im Jahr 1939. 11 Vgl. Dieter Schiefelbein, Das „Institut zur Erforschung der Judenfrage Frankfurt am Main“. Vorgeschichte und Gründung 1935–1939, Frankfurt a.M. 1994. 12 Vgl. Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienste der nationalsozialistischen Politik. Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945, Baden-Baden 1999, S. 178–247; Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 20022. 13 Vgl. Katja Geisenhainer, Otto Reches Rassenkunde als Leitwissenschaft und Basis seines Engagements für den NS-Staat, in: Michael Fahlbusch (Hg. u.a.), Völkische Wissenschaften und Politikberatung im 20. Jahrhundert. Wissenschaftliche Expertise und Praxis. Paderborn u.a. 2010: 199–233; dies., „War in particular offers exceptionally favourable opportunities for surveying foreign racial material“: The effects of World Wars on anthropologist Otto Reche’s activities, in Anthropological Notebook XV (2), Ljubljana 2009, S. 35–48; dies., Reches Engagement für die „Be- und Umsiedelung des bisher polnischen Ostens“, in: dies., „Rasse ist Schicksal“, S. 346–371. Zur „Ostforschung“ allgemein während des Dritten Reiches vgl. u.a. Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards: A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988; Mechtild Rössler (Hg. u.a.), Der „Generalplan Ost“ – Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993. 14 Vgl. Notker Hammerstein, Die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Wissenschaftspolitik in Republik und Diktatur, München 1999, S. 356ff.; FrankRutger Hausmann, Deutsche Geisteswissenschaft im Zweiten Weltkrieg. Die ‚Aktion Ritterbusch‘ (1940–1945), München 1998; Horst Junginger, Völkerkunde und Religionswissenschaft, zwei nationalsozialistische Geisteswissenschaften?, in: Bernhard Streck (Hg.), Ethnologie und Nationalsozialismus, Gehren 2000, S. 60ff.

_____________________________________________________________________Otto Sigfrid Reuter  621

Otto Sigfrid Reuter Otto Sigfrid Reuter wurde am 2. September 1876 in Leer geboren. Er besuchte Schulen in Leer, Hamburg-Altona und Leipzig und legte 1894 die Reifeprüfung ab. Danach schlug er eine Laufbahn im höheren Post- und Telegraphendienst ein und bestand 1905 die Verwaltungsprüfung. Zwischen 1902 und 1904 besuchte er Vorlesungen in Geschichte und Rechtswissenschaften an der Universität Bonn. Er durchlief Dienststellen in Berlin und Elberfeld bevor er 1917 zum Telegraphendirektor und Leiter des Fernsprechwesens in Bremen ernannt wurde. Bereits 1924 wurde Reuter infolge von Personalabbaumaßnahmen und aufgrund seiner Aktivitäten in der völkisch-religiösen Bewegung 47-jährig in den Ruhestand entlassen.1 Seit seiner Ausbildungszeit betätigte sich Reuter schriftstellerisch. Nach einem kirchenkritischen Schauspiel und einem heimatbewegten Roman erschien 1910 – zunächst anonym – seine erste völkisch-religiöse und viel beachtete Agitationsschrift Sigfrid oder Christus?!.2 Im gleichen Jahr trat er dem von Philipp Stauff gegründeten Deutschvölkischen Schriftstellerverband bei.3 Reuter propagierte in seinen Arbeiten das völkische Ideologem einer kulturellen und „rassischen“ Überlegenheit der sogenannten Germanen, in deren direkter Tradition die Deutschen stünden.4 Die Christianisierung Europas stellte für ihn eine völkische Katastrophe dar; der christliche Wertekanon galt ihm nicht nur als konträr zu „germanischen“ Moralvorstellungen, er sah in der christlichen Mission auch eine bewusste Zerstörung „germanischer“ Kultur und ihrer Überlieferung. Dem Nachweis dieser vermeintlichen Kulturleistungen galt Reuters schriftstellerisches Werk.5 Die daraus resultierende politische Forderung nach einer Abkehr der Gesellschaft vom Christentum zugunsten einer „arteigenen“ religiösen Neuausrichtung versuchte er 1911 mit der Gründung zweier völkisch-religiöser Gemeinschaften umzusetzen: dem Deutschen Orden und der Deutschreligiösen Gemeinschaft (seit 1916: Deutschgläubige Gemeinschaft).6 Als Vertreter letzterer wurde Reuter im Juli 1933 in den Führerrat der von →Jakob Wilhelm Hauer initiierten Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung berufen.7 Durch eine wissenschaftliche Anmutung seiner Schriften wollte Reuter seinen völkisch-religiösen Überzeugungen zusätzliches Gewicht verleihen.8 Dazu arbeitete er mit Quellentexten und Verweisen auf Forschungsliteratur, die er jedoch frei interpretierte und selektiv nach Übereinstimmungen mit seinen eigenen Thesen auswählte. In seinem zweibändigen Werk Das Rätsel der Edda machte er es sich zur Aufgabe, eine verloren geglaubte „Heilige Schrift“ der Germanen zu rekonstruieren. Ausgehend von der Überzeugung einer gemeinsamen „arischen“ Abstammung und Religionsvorstellung von Persern, Indern und Germanen verglich er religiöse Textsammlungen des Hinduismus und des Zoroastrismus mit der isländischen Liederund Prosa-Edda, um die Inhalte der im 13. Jahrhundert entstandenen eddischen Texte zu archaisieren und ihnen einen religiösen und normativen Charakter zuzuschreiben. In seinem 1934 erschienenen voluminösen Hauptwerk →Germanische

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Himmelskunde wollte er den Nachweis einer eigenständigen germanischen Astronomie führen, die der christlichen Wissenschaftstradition überlegen gewesen sei. Durch Vermittlung des Bremer Bildungssenators Richard von Hoff, mit dem er bereits während der Zeit des ausgehenden Kaiserreichs maßgeblich an der Propagierung einer völkischen Volkshochschulidee gearbeitet hatte,9 erhielt Reuter für die Publikation finanzielle Unterstützung von der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. In den 1920er Jahren pflegte und intensivierte Reuter Kontakte zu Wissenschaftlern und Vereinen, in denen Akademiker und wissenschaftliche Laien gemeinsame Forschungsinteressen teilten. In Bremen war er Mitglied der 1920 von Lehrern der Seefahrtschule und Amateurastronomen gegründeten Olbers-Gesellschaft und hielt dort Anfang 1923 einen Vortrag über Himmelsglaube in arischer Vorzeit.10 An der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität besuchte Reuter Veranstaltungen der völkisch gesinnten Professoren Gustav Neckel und →Gustaf Kossinna. Seit 1922 war er Mitglied in Kossinnas Gesellschaft für deutsche Vorgeschichte, in der er sich mit einem Vortrag und Beiträgen im Vereinsorgan „Mannus“ einbrachte.11 Neben anderen einschlägigen Zeitschriften mit völkischer Zielsetzung schrieb er auch für das renommierte schwedische Arkiv för nordisk Filologi.12 Reuters erfolgreiche Vernetzung wird nicht zuletzt in seiner Teilnahme an den beiden „Nordischen Things“ 1933 und 1934 in Bremen anschaulich, zu denen der Unternehmer und Mäzen Ludwig Roselius ausgewählte Gäste einlud, um Akademiker, Laien und Vertreter des neuen nationalsozialistischen Staates zum Austausch über Germanenkunde zu versammeln und seine völkischen Kulturprojekte zu präsentieren.13 Während sein Halbbruder, der Sozialdemokrat Ernst Reuter, vor der politischen Verfolgung in das türkische Exil flüchtete, begann Reuter nach der Veröffentlichung der Germanischen Himmelskunde seine Karriere als angesehener Laienforscher im Nationalsozialismus. Der Franz-Eher-Verlag – Zentralverlag der NSDAP – veröffentlichte 1936 die Schrift Himmel über den Germanen in der Reihe Nationalsozialistische Wissenschaft. Anlässlich seines 60. Geburtstags würdigte der Völkische Beobachter Reuter als „Wiederentdecker der Germanischen Himmelskunde“. Im gleichen Jahr erhielt er als erster Preisträger den mit 1.000 Reichsmark dotierten „Gustaf-Kossinna-Preis“ des Reichsbunds für deutsche Vorgeschichte.14 Seit 1937 war er Anwärter auf eine NSDAP-Mitgliedschaft. Im Jahr 1938 ernannte die Bremer Wissenschaftliche Gesellschaft Reuter zum Ehrenmitglied und im darauffolgenden Jahr verlieh ihm die mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig auf Betreiben des Astronomen Josef Hopmann und anderer anerkannter Wissenschaftler die Ehrendoktorwürde. Im Empfehlungsschreiben wird die „strenge Wissenschaftlichkeit“ seiner Arbeit hervorgehoben, die sich dadurch von „manchen gutgemeinten, aber doch phantastischen anderen Büchern“ absetzen würde.15 Nachdem die Kossinna-Gesellschaft 1933 im Reichsbund für deutsche Vorgeschichte aufgegangen war, engagierte Reuter sich auch hier mit Vorträgen und Zeit-

Otto Sigfrid Reuter  623

schriftenartikeln.16 Im Jahr 1939 wurde er Mitherausgeber des „Mannus“ und begann eine Zusammenarbeit mit dem Potsdamer Astronomen Rolf Müller in einer vom Reichsbund ausgerufenen Arbeitsgemeinschaft für Ortungsfragen.17 Gemeinsam traten sie im Sommer eine unter persönliche Schirmherrschaft Alfred Rosenbergs gestellte Forschungsexkursion nach Island an, auf der sie Landmarken zur Bestimmung von Tageszeiten untersuchten.18 Zu einer mit dem Reichsbund vergleichbaren Zusammenarbeit zwischen Reuter und den SS-eigenen Forschungseinrichtungen kam es nicht, auch wenn sich beide Seiten daran interessiert zeigten. Bereits 1935 hatte ein Mitarbeiter der „SS-Schule Haus Wewelsburg“ um Reuters Unterstützung bei der Suche nach einem Mitglied im dortigen Wissenschaftlerstab für das Gebiet der Himmelskunde gebeten – sie blieb ohne Ergebnis.19 Der Präsident der Forschungs- und Lehrgemeinschaft Das Ahnenerbe, Walter Wüst, stellte im Mai 1938 ein persönliches Treffen in Aussicht, das jedoch nicht zustande kam. Eine für den Sommer 1939 geplante Ahnenerbe-Exkursion nach Island, an der auch Reuter und Müller teilnehmen sollten, konnte aufgrund fehlender Devisen nicht durchgeführt werden.20 Auch wenn Reuter kein offizieller Mitarbeiter des Ahnenerbes war, trat er dennoch als Autor und Referent in Erscheinung.21 Während des Krieges arbeitete Reuter an einer letzten Monographie, die jedoch erst posthum im Mannus-Verlag Hückeswagen erschien – ein Hinweis auf die enge Verbundenheit mit dem „Mannus“.22 Am 5. April 1945 starb er in Bremen an den Folgen eines Herzinfarkts. Der Einfluss von Otto Sigfrid Reuters parawissenschaftlichen Arbeiten auf die akademische Germanenforschung der 1920er und 1930er-Jahre ist – verglichen mit seiner Bedeutung als völkisch-religiöser Ideologe und Gründer der bis in das 21. Jahrhundert bestehenden Deutschgläubigen Gemeinschaft – als gering einzuschätzen. An seinem Beispiel lässt sich jedoch der Weg eines völkischen Agitators und Dilettanten zum anerkannten Laienforscher unter den Vorzeichen einer ideologisierten Wissenschaft nachzeichnen.

Stefanie Haupt

1 Vgl. hierzu Uwe Puschner, Reuter, Otto Theodor Ludwig Sigfrid, in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 465ff. 2 [Otto Sigfrid Reuter], Sigfrid oder Christus?! Kampfruf an die germanischen Völker zur Jahrtausendwende, von einem Deutschen, 1910 Leipzig; frühe Werke: Otto Reuter, Heilwig Rennenberg. Ein Schauspiel in vier Aufzügen, Berlin 1905; ders., Hero Omkens Ausfahrt und Heimkehr, Berlin 1909. 3 Gregor Hufenreuter, Philipp Stauff – Ideologe, Agitator und Organisator im völkischen Netzwerk des Wilhelminischen Kaiserreichs. Zur Geschichte des Deutschvölkischen Schriftstellerverbandes, des Germanen-Ordens und der Guido-von-List-Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2011, S. 73 u. 200. 4 Vgl. Uwe Puschner, Germanenideologie und völkische Weltanschauung, in: Heinrich Beck (Hg. u. a.), Zur Geschichte der Gleichung, „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, RGA E-Bd. 34, Berlin 2004, S. 103–129.

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5 In Auswahl: Otto Sigfrid Reuter, Das Rätsel der Edda und der arische Urglaube, 2 Bde, Sontra 1922 und Bad Berka 1923; ders., Germanische Himmelskunde. Untersuchungen zur Geschichte des Geistes, München 1934; ders., Der Himmel über den Germanen, München 1936. 6 Vgl. Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich – Sprache, Rasse, Religion, Darmstadt 2001, S. 234–262; ders., Rasse und Religion. Die Ideologie arteigener Religionsentwürfe, in: Wolfgang Braungart (Hg.), Stefan George und die Religion, Berlin u.a. 2015, S. 145–156. 7 Vgl. Ulrich Nanko, Die Deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung, Marburg 1993, S. 44ff. 8 Vgl. Justus H. Ulbricht, „Budda“, „Sigfrid“ oder „Christus“. Religiöse Suchbewegungen als Ausdruck kultureller Identitätskrisen im deutschen Bildungsbürgertum um 1900, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, Bd. 4 (1998), S. 209–226, 213. 9 Vgl. ders., Völkische Erwachsenenbildung. Intentionen, Programme und Institutionen zwischen Jahrhundertwende und Weimarer Republik, in: Uwe Puschner, Handbuch zur völkischen Bewegung 1871–1918, München 1996, S. 252–276; vgl. ders. (Hg. u.a.), „Die Erziehung zum deutschen Menschen“. Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik, Essen 2007; zu Richard von Hoff vgl. Matthias Loeber, Völkische Bewegung zwischen Weser und Ems. Richard von Hoff und die Nordische Gesellschaft in Bremen und Nordwestdeutschland, Frankfurt a. M. 2016. 10 Vgl. Benjamin Mirwald, Volkssternwarten. Verbreitung und Institutionalisierung populärer Astronomie in Deutschland 1888–1935, Leipzig 2014, S. 264. 11 Otto Sigfrid Reuter, Astronomie und Mythologie. Zur Methodik, in: Mannus. Zeitschrift für Vorgeschichte 18 (1926) 1/2, S. 34–78; ders., Oddi Helgason und die Bestimmung der Sonnenwenden im alten Island, in: Festgabe für den 70-jährigen Gustaf Kossinna von Freunden und Schülern, Leipzig 1928, S. 324–332; zu Gustaf Kossinna vgl. Heinz Grünert, Gustaf Kossinna. Vom Germanisten zum Prähistoriker – Ein Wissenschaftler im Kaiserreich und der Weimarer Republik, Leidorf 2002; zu Gustav Neckel vgl. Julia Zernack, Gustav Karl Paul Christoph Neckel, in: Neue Deutsche Biographie 19 (1999), S. 20f. 12 Otto Sigfrid Reuter, Die Bedeutung des ok um c. dat. (Grimnism. 24.23), in: Arkiv för nordisk filologi, 49 (1933), S. 30f.; ders., Zur Bedeutungsgeschichte des hundrað im Altwestnordischen, ebd. S. 36–67. 13 Vgl. Dirk Mahsarski, Prähistorische Archäologie als politische Großveranstaltung. Archäologische Jahrestagungen der 1930er Jahre im Spannungsfeld von Wissenschaft, Verbandspolitik, Macht und Propaganda, in: Archäologische Informationen 34 (2011) 1, S. 97–112; zu Roselius und seinen Projekten vgl. Hans Tallasch (Hg.), Projekt Böttcherstraße, Delmenhorst 2002. 14 VB, vom 2.9.1936, Der Wiederentdecker der germanischen Himmelskunde, von J. Benecke, S. 6; Otto Sigfrid Reuter – Der Träger des Gustaf-Kossinna-Preises 1936, in: Germanen-Erbe. Monatsschrift für deutsche Vorgeschichte 1 (1936) 7, S. 221f. 15 UAL, Ehrenpromotion 122, Bl. 1: Josef Hopmann, Otto Reche, Konstantin Reichardt und Kurt Tackenberg an den Dekan der mathematisch-naturwissenschaftlichen Abteilung der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig vom 28.1.1936. 16 Zum Reichsbund vgl. Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, München 20062. 17 Vgl. Amtliche Mitteilungen, in: Germanen-Erbe, Heft 4 (1939), S. 128; erste Nennung als Mitherausgeber in: Mannus 31 (1939) 2. 18 Vgl. Otto Sigfrid Reuter, Island und die erste Entdeckung Amerikas. Ergebnisse der himmelskundlichen Forschungsreise 1939 des Reichsbundes für Deutsche Vorgeschichte, in: Mannus 33 (1941) 3, S. 293–348; Rolf Müller, Altnordische Eyktmarken und die Entdeckung Amerikas, in: Greinar II (1949) 3, S. 33–82.

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19 Das Schreiben an Reuter ist abgedruckt in: Karl Hüser, Wewelsburg 1933–1945. Kult- und Terrorstätte der SS, Paderborn 1982, S. 210 Dok. 55; zu den Forschungsvorhaben in Wewelsburg vgl. die Beiträge von Markus Moors in: Jan Erik Schulte (Hg.), Die SS, Himmler und die Wewelsburg, Paderborn 2009. 20 Zur Korrespondenz zwischen Walter Wüst und Otto Sigfrid Reuter, vgl. BArch, NS 21/352; zur Island-Expedition vgl. BArch, NS 21/40, sowie: Gerd Simon u.a., Die Island-Expedition des „Ahnenerbes“ der SS, online unter: https://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/island.pdf (Stand: 19.12.2015) 21 Vgl. Otto Sigfrid Reuter, Die Urkunde des Himmels, in: Germanien. Monatshefte für Germanenkunde (1937) 8, S. 225–231; vgl. die Ankündigung zu seinem Vortrag „Ortung und Seefahrt“ auf der Kieler Ahnenerbe-Tagung 1939, in: ebd., (1939) 5, S. 237–240. Zur Kieler Tagung des Ahnenerbes vgl. Michael Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, München 20064, S. 113–116, sowie Mahsarski, Prähistorische Archäologie als politische Großveranstaltung, (wie Anm. 13). 22 Otto Sigfrid Reuter, Gestalten und Gedanken im Nibelungenliede, Hückeswagen 1979.

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Gotthold Rhode Gotthold Rhode, einer der bekanntesten bundesdeutschen Polenhistoriker seiner Zeit, wurde 1916 in Kamillental bei Schildberg (Ostrzeszów) in der Provinz Posen geboren.1 Er wuchs als jüngstes von sechs Kindern des evangelischen Theologen Arthur Rhode und seiner Frau Martha, geb. Harhausen, in der Stadt Posen auf, die seit 1918/19 erneut zum wiederbegründeten polnischen Staat gehörte. Mit sechs Jahren erlernte Rhode die polnische Sprache und besuchte das deutsche Privatgymnasium, wo er im Jahre 1934 das polnische Abitur ablegte. Die spannungsreiche Nachbarschaft von polnischer Mehrheits- und deutscher Minderheitsbevölkerung prägten seine Jugendzeit; umso mehr, als seine Familie eine profilierte Stellung in der deutschen Minderheit in Posen einnahm. Beeinflusst durch ein historisch interessiertes Elternhaus sowie dem „ständigen Erlebnis der Begegnung mit einem fremden Volkstum“2 entschloss Rhode sich zum Studium der Geschichte und Geographie. Seit 1934 studierte Rhode als polnischer Staatsbürger im Deutschen Reich:3 Zunächst in Jena, wo er sich bei →Max Hildebert Boehm, einem der führenden völkischen Theoretiker, wie auch später bei →Karl Haushofer und →Johann Wilhelm Mannhardt mit der Volkstumskunde vertraut machte. Als Erstsemester trat Rhode dem Kyffhäuser-Verband der Vereine Deutscher Studenten bei, einer protestantisch-konservativen Korporation mit völkischer Grundhaltung, die den auslanddeutschen Studenten eng verbunden war. Im Sommer 1936 wechselte er nach München, wo er sein Studium um das praxisbezogene Fach der Zeitungswissenschaften erweiterte. Das nächste Semester verbrachte Rhode 1937 an der Universität Königsberg. Dort arbeitete er als Sachbearbeiter in der Oststelle der Reichsstudentenführung, deren Ziel es war, die Grenzlandarbeit im nationalsozialistischen Sinne zu vereinheitlichen. Bereits zum Wintersemester 1937/38 folgte Rhode seinem späteren Doktorvater, dem Kirchenhistoriker →Hans Koch, an die Friedrich-Wilhelms Universität zu Breslau. Hier erweiterte Rhode seine Kenntnisse der Osteuropäischen Geschichte. Obwohl die Slawistik nicht zu seinen Studienfächern zählte, eignete er sich ukrainische und russische Sprachkenntnisse an, so dass er über eine solide philologische Grundausbildung verfügte. Es war sein Ziel, später „forschend und lehrend oder in unmittelbarer Wirksamkeit innerhalb des Deutschtums im Osten tätig zu sein.“4 Im Januar 1939 wurde Rhode bei Hans Koch mit einer Dissertation über Brandenburg-Preußen als Schutzherr von Minderheiten in der Republik Polen 1640– 1740 promoviert,5 in der er die schutzpolitischen Maßnahmen, ihre Entwicklung und Erfolge untersuchte. Die Studie hatte darüber hinaus die „politische Aufgabe“6, die Ähnlichkeiten der deutschen Schutzmachtpolitik gegenüber der konfessionellen Minderheit im 17. und 18. Jahrhundert sowie der völkischen Minderheit der Zwischenkriegszeit in Polen zu verdeutlichen. Nach Rhode provozierte die polnische „Unduldsamkeit“ das Eingreifen der Schutzmacht und führte somit letztlich zum selbstverschuldeten „Zusammenbruch“ Polens.7 Waren solche Denkfiguren als Rechtfertigung für den deutschen Einmarsch in Polen weit verbreitet, konstatierte

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Rhode außerdem dem konfessionellen Konflikt des vornationalen Zeitalters die ahistorische Qualität einer „unbewußt“ völkischen Auseinandersetzung.8 In diesem „Volkstumskampf“ sah Rhode den völkischen Gegner über Jahrhunderte – ebenso 1939 – vor allem im „krankhaft polnisch-katholischen Fanatismus“.9 Am 1. April 1939 wurde Rhode von Hans Koch, der zugleich Direktor des Osteuropa-Instituts Breslau (OEI) war, als Referent für Polen im Institut eingestellt. Rhode, der dem OEI seit Beginn seiner Breslauer Studienzeit durch kleinere Übersetzungsdienste zugearbeitet hatte, behielt diese Anstellung formal bis Mai 1945.10 Seine Hauptaufgabe war die Auswertung polnischer Zeitungen und die Anlage eines Pressearchivs, auf dessen Grundlage er bis August 1939 verschiedene propagandistisch gefärbte Auftragsarbeiten erstellte.11 Beim Überfall auf Polen wirkte Rhode nach freiwilliger Meldung als Dolmetscher im Rang eines Sonderführers (K) mit, ehe er am 1. November aus der Wehrmacht entlassen wurde. Durch seine Teilnahme am „Polenfeldzug“ erhielt Rhode im November 1939 die deutsche Staatszugehörigkeit.12 Kurz darauf beantragte er die Aufnahme in die SA und die NSDAP.13 Auf Anforderung des Chefs des Verwaltungsdistrikts Krakau, Otto Wächter, erfolgte ebenfalls im November 1939 Rhodes Abordnung an die dortige Abteilung für Landesplanung und Raumordnung. Hier hatte Rhode vor allem bevölkerungspolitische und Pressefragen zu bearbeiten.14 Er übersetzte Stadt- und Kreisgeschichten und fertigte mit seinem Vorgesetzten, dem Geographen Hans Graul, einen Landesplanungsatlas für den Distrikt Krakau an. Nach zehn Wochen meldete sich Rhode freiwillig zur Wehrmacht und verließ Krakau im Februar 1940, um in Bunzlau eine zweimonatige Grundausbildung als Soldat anzutreten. In der Folge wurde Rhode mehrmals vom Militärdienst freigestellt, um für die Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes Denkschriften zu konfessionellen Themen in Polen auszuarbeiten. Diese sollten dazu beitragen, das brutale Vorgehen der Besatzer gegenüber der polnischen Katholischen Kirche propagandistisch im Ausland zu rechtfertigten.15 Nachdem Rhode im Winter 1940/41 bei der Umsiedlung der Litauendeutschen als dienstverpflichteter „SS-Umsiedlungshelfer“ – ohne selbst jemals der SS angehört zu haben – mitwirkte16, wurde er im Frühjahr 1941 endgültig zur Wehrmacht eingezogen. Als Dolmetscher und später Leutnant wurde Rhode überwiegend an den osteuropäischen Kriegsschauplätzen eingesetzt. Nach Kriegsende lebte Rhode, der in Breslau alles verloren hatte, mit seiner Familie zunächst in Bergen/Niedersachsen, wo er als Landarbeiter, Anzeigenakquisiteur und Hauslehrer arbeitete.17 Bereits 1946 holte ihn →Hermann Aubin, Rhodes letzter Vorgesetzter am OEI Breslau und Betreuer einer während der Kriegstage unvollendeten Habilitationsschrift, als Tutor an die Universität Hamburg. Dort erhielt Rhode 1947 eine Assistentenstelle und widmete sich verstärkt zeitgeschichtlichen Fragestellungen sowie dem Problem der europäischen „Massenzwangswanderungen“. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um die Vertreibungsgebiete bediente er sich verstärkt demographisch-statistischer Methoden der Bevölkerungswissenschaft, um polnische

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Ansprüche abzuwehren. Im Jahre 1952 habilitierte er sich mit einer Arbeit über Die Ostgrenze Polens18 an der Philosophischen Fakultät der Universität Hamburg und erhielt die venia legendi für Mittlere und Neuere Geschichte. Als Mitarbeiter des →Johann Gottfried Herder-Forschungsrats in Marburg beteiligte Rhode sich in den Jahren zwischen 1952 bis 1957 aktiv an einem Wiederaufbau der →Ostforschung. Er trat erneut für die genaue Beobachtung polnischer Veröffentlichungen ein und war für die Herausgabe mehrerer politisch gewollter und staatlich finanzierter Buchprojekte zuständig. Nachdem Rhode 1954 nach Marburg umhabilitiert worden war, übernahm er nach vorheriger Vertretung 1957 den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Hier wirkte er als Direktor des Instituts für Osteuropakunde (Institut für Osteuropäische Geschichte) bis zu seiner Emeritierung 1984. Einen Ruf an die neu gegründete Ruhr-Universität Bochum lehnte Rhode 1965 ab. Regional und thematisch setzte er sich vornehmlich mit der Geschichte Ostmitteleuropas, insbesondere aber Polens und der deutsch-polnischen Beziehungen auseinander. Rhode blieb zeitlebens ein konservativer, politischer Historiker, dessen aufrichtiges Ziel es war, auf der Basis gegenseitiger Kenntnis zunächst zu einer Annäherung mit Polen zu gelangen, um später eine echte Verständigung zwischen Deutschen und Polen zu erreichen. Schon in den fünfziger Jahren unterhielt Rhode Kontakte mit führenden polnischen Historikern wie Marian Wojciechowski oder Gerard Labuda; zudem pflegte er unter anderem durch die von ihm mitangestoßenen Lindenfelser Gespräche einen regen Gedankenaustausch mit polnischen Exilhistorikern. In diesem Kontext ist ebenfalls seine engagierte Mitarbeit an den deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen zu sehen, die ihm teilweise heftige Kritik aus dem Umfeld seiner Landsleute einbrachte. Früher als andere Historiker verfasste er mit seiner Kleinen Geschichte Polens 1965 ein Werk,19 das mit seiner Breitenwirkung einen Beitrag zur besseren Kenntnis des polnischen Nachbarn leistete und das auch in der polnischen Geschichtswissenschaft Anerkennung fand. Als Hochschullehrer betreute Rhode über 20 Dissertationen und Habilitationen, die sich unter anderem mit den ‚neuralgischen Punkten‘ der deutsch-polnischen und polnisch-sowjetischen Beziehungsgeschichte befassten. Als Hermann Aubin als Präsident des Herder-Forschungsrates 1960 abtrat, war Rhode als sein Nachfolger im Gespräch, konnte sich aber aufgrund seines Alters nicht als Leiter der Schaltstelle der bundesdeutschen Ostforschung etablieren.20 Erst nach seiner Lehrtätigkeit wurde er 1984 zum Präsidenten des Herder-Forschungsrates gewählt. Dagegen führte er bereits seit 1964 den Vorsitz der Historisch-Landeskundlichen Kommission für Posen und das Deutschtum in Polen, deren Wiederbegründung er im Herbst 1950 maßgeblich vorangetrieben hatte.21 Ebenso wichtig war Rhode ein frühzeitiges Engagement in „seiner“ Landsmannschaft Weichsel-Warthe, wie er auch sonst seine historisch-politischen Überlegungen in Vertriebenenkreisen

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mit einbrachte, dem dortigen Funktionärswesen jedoch skeptisch gegenüberstand. Mit 74 Jahren verstarb Rhode am 20. Februar 1990 in Mainz.

Eike Eckert

1 Zur Biographie Rhodes bis in die 1960er Jahre vgl. Eike Eckert, Zwischen Ostforschung und Osteuropahistorie. Zur Biographie des Historikers Gotthold Rhode (1916–1990), Diss. Kiel 2011, Osnabrück 2012. 2 StAHH, 361–6 Hochschulwesen, IV 2846, Gotthold Rhode, Lebenslauf vom 6.1.1952. 3 Vgl. Eike Eckert, Zwischen Ostforschung und Osteuropahistorie, zur Studienzeit Kapitel II,1. 4 Gotthold Rhode, Lebenslauf von 1952. 5 Gotthold Rhode, Brandenburg-Preußen und die Protestanten in Polen 1640–1740. Ein Jahrhundert preußischer Schutzpolitik für eine unterdrückte Minderheit, Leipzig 1941. 6 Ebd., S. VII. 7 Ebd., S. 236. 8 „Nicht bewußt, aber unbewußt hat so die völkische Gemeinsamkeit doch einen bedeutenden Einfluß auf die Schutzpolitik [des 17. und 18. Jahrhunderts – E.E.] ausgeübt.“ Ebd., S. 230. 9 Ebd., S. VI. 10 Vgl. Hans-Jürgen Bömelburg, Das Osteuropa-Institut in Breslau 1930–1940. Wissenschaft, Propaganda und nationale Feindbilder in der Arbeit eines interdisziplinären Zentrums der Osteuropaforschung in Deutschland, in: Michael Garleff (Hg.), Zwischen Konfrontation und Kompromiß. Oldenburger Symposium: Interethnische Beziehungen in Ostmitteleuropa als historiographisches Problem der 1930er/1940er Jahre, München 1995, S. 47–72. 11 Die Arbeiten, die primär das deutsch-polnische Verhältnis 1939 thematisieren, liegen nur unvollständig vor. Vgl. die Auflistung der Titel und Auftragsgeber im Tätigkeitsbericht des OEI Breslau (1.4.1939 – 31.3.1940), S. 28–29. 12 Gotthold Rhode, Lebenslauf von 1952. 13 BArch, BDC, Gotthold Rhode, Die Parteiaufnahme erfolgte am 1.1.1940, eine Mitgliedskarte wurde am 20.2.1941 ausgestellt; die Mitgliedsnummer lautet 7.942.413. 14 Eike Eckert, Zwischen Ostforschung und Osteuropahistorie, S. 131–133. 15 Ulrich Sahm, Rudolf von Scheliha 1897–1942. Ein deutscher Diplomat gegen Hitler, München 1990, S. 115–116; Gotthold Rhode, Nationalistisches Polentum und Katholizismus, in: Jahrbuch des Osteuropainstituts zu Breslau 1940, S. 73–110. 16 Vgl. Eike Eckert, Zwischen Ostforschung und Osteuropahistorie, S. 136–139; Gotthold Rhode, Als Ortsbevollmächtigter in Neustadt (Kudirkos Naumiestis) in Litauen. Erinnerungen an die Umsiedlung der Litauendeutschen Januar bis März 1941, in: Hermann Schubnell (Hg.), Alte und neue Themen der Bevölkerungswissenschaft. Festschrift für Hans Harmsen, Wiesbaden 1981, S. 151–166. 17 Gotthold Rhode, Jahrgang 1916, in: Rudolf Birkl (Hg. u.a.), Erwartungen. Kritische Rückblicke der Kriegsgeneration, München 1980, S. 219–226. 18 Gotthold Rhode, Die Ostgrenze Polens. Politische Entwicklung, kulturelle Bedeutung und geistige Auswirkung, I. Band. Im Mittelalter bis zum Jahre 1401, Köln 1955. 19 Gotthold Rhode, Geschichte Polens. Ein Überblick, Darmstadt 19803. Insgesamt wurden von diesem Buch 34.000 Exemplare verkauft. 20 Eike Eckert, Zwischen Ostforschung und Osteuropahistorie, S. 239–240; Eduard Mühle, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005, S. 452ff.

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21 Eike Eckert, Die Historisch-landeskundliche Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen und ihre Vorsitzenden Gotthold Rhode und Richard Breyer, in: Wolfgang Kessler (Hg. u.a.), 125 Jahre Forschung zur Geschichte der Deutschen in Polen, Osnabrück 2013.

_____________________________________________________________________Bolko von Richthofen  631

Bolko von Richthofen Den Namen des Prähistorikers, Ideologen und Vertriebenenpolitikers Bolko von Richthofens blenden interessanterweise selbst die meisten Nachschlagewerke und Autobiographien aus dem Umfeld der Landsmannschaft Schlesien aus, obwohl er einst zu ihren Verbandsfunktionären gezählt hat. Bolko Karl Ernst Gotthard Freiherr von Richthofen wurde am 13. September 1899 auf dem Rittergut Mertschütz/Mierczyce bei Jauer/Jawor als Sohn des Regionalpolitikers Ernst Freiherr von Richthofen (1858–1933) und dessen Frau Helga, geb. Hewitt (1862–1954), geboren. Nach der Grundschule besuchte Bolko von Richthofen wie zahlreiche Kinder seines Standes die renommierte Ritterakademie in Liegnitz/Legnica und legte dort im Jahr 1917 das Abitur ab. In den letzten beiden Kriegsjahren 1917/18 leistete er noch als Freiwilliger Kriegsdienst. Nach dem Ende der Militärzeit trat er in ein Freikorps des sogenannten Grenzschutzes Ost ein, das in Oberschlesien und im Posener Land kämpfte. Im Jahr 1919 beteiligte er sich auch an den Kämpfen gegen die Räterepublik in München. Im September 1919 schrieb sich von Richthofen an der LMU München ein – zunächst in der Jurisprudenz und der Nationalökonomie, um nach zwei Studiensemestern auf →Prähistorische Archäologie und Geschichte umzusatteln. Dieses Studium setzte er an der Schlesischen Friedrich-Wilhelm-Universität zu Breslau/Wrocław fort. Von April bis Juli 1921 war er Angehöriger des Selbstschutzes Oberschlesien (SSOS), beteiligte sich am später mythisch überhöhten „Sturm auf den Annaberg“ (21.–27. Mai 1921) und erhielt das Schlesische Bewährungsabzeichen („Schlesischer Adler“) verliehen. Im Wintersemester 1921/22 studierte Bolko von Richthofen wieder Vorgeschichte, Klassische Archäologie und Geographie in Breslau. Er wurde 1924 mit einer von Hans Seger (1864–1945) betreuten Arbeit zur älteren Bronzezeit in Schlesien promoviert.1 Anschließend verschaffte ihm Seger eine Anstellung als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schlesischen Museum für Kunstgewerbe und Altertümer.2 Zwischen Juli und November 1925 wirkte von Richthofen als Abteilungsleiter und Kustos für Vorgeschichte am Städtischen Museum in Beuthen OS/Bytom, eine Position, an das auch das Amt des Staatlichen Vertrauensmanns für kulturgeschichtliche Bodendenkmäler in der Provinz Oberschlesien geknüpft war. In dieser Funktion betreute von Richthofen den Aufbau des Museums in Ratibor/Racibórz. Schon im Oktober 1929 wurde er als Vertrauensmann für kulturgeschichtliche Bodenaltertümer bei der oberschlesischen Provinzialverwaltung verabschiedet, um sich neuen Aufgaben zuzuwenden: Er wechselte als Abteilungsleiter ans Museum für Völkerkunde in Hamburg. Nach seiner Habilitation hatte er zudem 1930–1933 einen Lehrauftrag als Privatdozent an der Universität Hamburg inne. Daneben war von Richthofen ehrenamtlicher Dozent einer nationalsozialistischen Volkshochschule in Hamburg. Er trat der im Mai 1932 auf Initiative des Tübinger Prähistorikers Hans Reinerth (1900–1990) neu eingerichteten Fachgruppe für Vorgeschichte im →Kampfbund für deutsche Kultur (KfdK) bei. Im September 1933 wurde er auf einer

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Tagung in Görlitz Leiter der Berufsvereinigung Deutscher Vorgeschichtsforscher, die auf Antrag Reinerths aus der ‚gleichgeschalteten‘ Deutschen Gesellschaft für Vorgeschichte hervorgegangen war und bis Ende 1933 bereits siebzig deutsche Fachwissenschaftler einschloss. Von Richthofen forderte von allen Mitgliedern einen „Ariernachweis“ und die Unterordnung unter das „Führerprinzip“. Im Jahr 1933 übernahm Bolko von Richthofen das Ordinariat für Vor- und Frühgeschichte an der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen/Kaliningrad. Am 17. April des Jahres war er der NSDAP beigetreten, nachdem er sich schon mehrere Jahre zuvor verbal zum Nationalsozialismus bekannt hatte. Allerdings wurde er sich 1933 auch der Grenzen seines Einflusses gewahr, als er versuchte, gegen den deutsch-niederländischen Archäologen →Herman Wirth (1885–1981) vorzugehen und sogar dessen Entfernung von der Berliner Universität empfahl. Wirth erhielt von einflussreichen NSDAP-Größen Rückendeckung. Internationales Aufsehen erregte die fachliche, zunehmend aber auch persönliche Polemik, die sich von Richthofen mit dem Posener Archäologen Józef Kostrzewski (1885–1969) lieferte. Dieser hatte in den Jahren 1910 bis 1914 bei →Gustaf Kossinna (1858–1931) in Berlin studiert und dessen siedlungsarchäologische Methode rezipiert, mit deren Hilfe versucht wurde, ethnische Gruppen und archäologische Kulturkreise in Kongruenz zu bringen. Die Standpunkte Kostrzewskis und von Richthofens liefen auf einen konkurrierenden Kontinuitätsdiskurs hinaus – die Frage, ob Polen aus einer vermeintlichen „slawischen“ Siedlungskontinuität seit dem ersten Jahrtausend v. Chr. oder Deutschland aus einer angeblich dauerhaften „germanischen“ Besiedlung seit 2.000 Jahren territorial-politische Ansprüche auf Gebiete herleiten könne, die im Osten des damaligen deutschen Reichsgebiets bzw. im Westen des damaligen polnischen Staatsgebiets lagen.3 Allerdings schwenkte Bolko von Richthofen nach der Unterzeichnung des Deutsch-Polnischen Nichtangriffspakts (26. Januar 1934) zunächst auf den staatlich verordneten Versöhnungskurs ein und publizierte neben einer in deutscher Sprache in Warschau/Warszawa gedruckten Arbeit zur „Urheimat der Slawen“ sogar eine Schrift, in der er die deutsch-polnische Zusammenarbeit im Bereich der Frühgeschichtsforschung herausstellte.4 Dies war jedoch nur ein taktisches Täuschungsmanöver, denn gleichzeitig intervenierte er mit dem Hinweis auf die Pressebestimmungen des Abkommens bei der Polnischen Botschaft in Berlin und legte gegen öffentliche Äußerungen Kostrzewskis Beschwerde ein. Seit der Mitte der 1930er Jahre wandte sich von Richthofen immer offener nationalsozialistischen Prämissen zu und weitete seine Tätigkeit über die Archäologie hinaus aus. 1936 erhielt er an der Königsberger Universität einen zusätzlichen Lehrauftrag für Auslandspressekunde, außerdem wurde er Zensor bei der Prüfungsstelle des nationalsozialistischen Schrifttums. Er galt als führender Fachmann für wissenschaftliche Fragen zum Kommunismus sowjetischer Prägung. 1937 führte er einen umfangreichen Schriftverkehr mit Hochschulen zur Anwerbung antikommunisti-

Bolko von Richthofen  633

scher Persönlichkeiten. Ziel war ein Vorläufiges Sekretariat eines „Antibolschewistischen Weltkongresses“, dessen Vorsitzender von Richthofen werden sollte.5 Außerdem arbeitete von Richthofen am Institut zum Studium der Judenfrage mit, das 1934 im Auftrag des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda unter der Leitung von Eberhard Taubert (1907–1976) gegründet worden war. Darüber hinaus lässt sich eine vielseitige Zusammenarbeit mit der SS-nahen Forschungsgemeinschaft Deutsches →Ahnenerbe e.V. belegen. Mit dem Prager Ordinarius Lothar F. Zotz (1899–1967) verfasste Bolko von Richthofen 1940 eine gegen die tschechische Archäologie gerichtete Schrift, bei der es um deutsche Legitimitätsansprüche, in diesem Fall in der besetzten Tschechoslowakei, ging.6 Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde von Richthofen aufgrund seiner außergewöhnlichen Sprachkenntnisse als „Dolmetsch-Offizier“ für Englisch, Französisch, Italienisch, Polnisch und Russisch verpflichtet. Er arbeitete in der dem Stab des Oberkommandos des Heeres (OKH) unterstellten Abteilung „Fremde Heere Ost“. Diese Behörde unterstand ab 1942 Generalmajor Reinhard Gehlen (1902–1979), dem späteren ersten Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes (BND) in Pullach bei München. Der stark ausgeprägte Antibolschewismus von Richthofens ging, wie Zitate aus den Kriegsjahren zeigen, mit einem unverhohlenen Rasseantisemitismus einher. Während der deutschen Besetzung der UdSSR ernannte man von Richthofen zum „Sonderbeauftragten für Kalmücken“. Die Kalmücken, ein westmongolisches, traditionell nomadisch lebendes Volk, hatten aus Unzufriedenheit mit den stalinistischen Kollektivierungs- und Ansiedlungsmaßnahmen ab 1941 mehrheitlich mit der deutschen Wehrmacht kollaboriert. Von Richthofen erstellte am 14. Januar 1943 einen „Erfahrungsbericht“ über das „deutschfreundliche Verhalten der Kalmücken“. Für die Kalmücken selbst hatte ihre Option zur Folge, dass sie später von Stalin mehrheitlich nach Sibirien umgesiedelt wurden. Viele der Taten von Richthofens während des Zweiten Weltkriegs liegen noch im Dunkeln. Im Auftrag des Auswärtigen Amtes soll er unter anderem die Bibliothek der Altertumsgesellschaft in Nowgorod sowie das Museum in Staraja Russa vernichtet haben.7 Zwischen 1942 und 1945 hatte von Richthofen das Ordinariat für Ur- und Frühgeschichte an der Universität Leipzig inne. Die Arbeitsbedingungen wurden zunehmend ungünstig, nachdem 1943 nach einem Bombenangriff das Institutsgebäude in Brand geraten und ein bedeutender Teil der dort gelagerten Akten verlorengegangen war. Im November 1944 wurde von Richthofen erneut zur Wehrmacht eingezogen. Ein Jahr später geriet er in amerikanische Kriegsgefangenschaft, kam aber schon nach einigen Wochen frei. Seine Versuche, sich an der Universität Hamburg erneut als Prähistoriker akademisch zu etablieren, scheiterten, weshalb er sich nach außeruniversitären Betätigungsfeldern umsehen musste. Im „Wilhelmstraßen-Prozeß“ 1948 war Bolko von Richthofen als „Fachberater der deutschen Gesamtverteidigung“ aktiv; er ließ sich dauerhaft in Bayern nieder und trat der CSU bei.

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Archäologische Forschungsprojekte, die er bei der DFG beantragte, wurden abgelehnt, allerdings gelangte er schließlich beim Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen, beim Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte sowie beim Auswärtigen Amt in den Genuss öffentlicher Fördermittel. Ab 1945 überwog bei von Richthofen die Politik gegenüber der Wissenschaft. Im Kalten Krieg wurde er häufig zu Vorträgen im In- und Ausland eingeladen, im Inland zu Beginn von den sogenannten Amerika-Häusern, die 1946 als Kultur- und Informationsangebote der USA in Deutschland und Österreich eingerichtet wurden. Vortragsreisen führten ihn unter anderem nach Großbritannien, Irland, Kanada und in die USA. Seit 1961 gehörte er dem Institut zur Erforschung der UdSSR e.V. in München an, das 1950 als gemeinsame Initiative der Harvard University und des Radio Liberty Committee in New York gegründet worden war. Für diese Institution hatte er bereits 1956 die Schrift „Die kommunistische Darstellung der ostdeutschen Geschichte“ publiziert. Einen Schwerpunkt bildete in der Nachkriegszeit das vertriebenenpolitische Engagement von Richthofens, der spöttisch und bewundert zugleich als „Außenminister Schlesiens“ tituliert wurde. Er gehörte ab 1953 dem Bundesvorstand der Landsmannschaft Schlesien an, als deren Bundeswissenschaftsberater er zeitweilig seinen Lebensunterhalt verdiente. Beim Bestreben, die Befassung mit den verlorenen deutschen Ostgebieten im Rahmen der „Ostkunde“ im westdeutschen Schulunterricht dauerhaft zu implementieren, engagierte er sich ab 1956 in der Deutschen Pestalozzi-Gesellschaft sowie im Arbeitskreis für Ostfragen. In den USA legte er bereits 1956 eine englischsprachige Schrift zur landsmannschaftlichen Sichtweise auf die OderNeiße-Grenze vor, um die Westalliierten von den Potsdamer Beschlüssen abzubringen. Das entsprach der von den Landsmannschaften und dem Bundesvertriebenenministerium zu jener Zeit betriebenen Politik. Im Jahr 1957 wurde Bolko von Richthofen Mitglied des Gesamtdeutschen Ausschusses, des außenpolitisches Beratergremiums des BdV. Ein Jahr später wurde er auch Mitarbeiter der Europäischen Arbeitsgruppe für Flüchtlingsfragen sowie der Weltgesellschaft für Flüchtlingsfragen. Die Niedersächsische Landeszentrale für Politische Bildung brachte 1959 von Richthofens vom Geist des Kalten Krieges durchzogene Schrift „Deutschland und Polen – Schicksal einer nationalen Nachbarschaft“ heraus, die kurz danach die Landsmannschaft Schlesien unverändert nachdruckte. Innerhalb der Publizistik von Richthofens während der Nachkriegsjahrzehnte nahmen die deutsch-polnischen Beziehungen einen immer prominenteren Rang ein; seine in diesem Kontext verfassten Schriften bekannten sich immer offener zu geschichtsrevisionistischen, rechtsextremen Denkmustern. Sie bezweckten, die Vertreibung der Deutschen aus Polen mit den nationalsozialistischen Verbrechen zu parallelisieren und gleichzeitig die deutsche Schuld am Kriegsausbruch 1939 zu relativieren, indem Polen, der UdSSR, Großbritannien, Frankreich und der Tschechoslowakei ebenfalls eine Mitverantwortung zugewiesen wurde. Hinter deutsch-polni-

Bolko von Richthofen  635

schen Fragen rangierten Schriften zu schlesischen Themen sowie zur Sowjetunion und zum Kommunismus. Bolko von Richthofen betätigte sich ab den frühen 1960er Jahren im rechtsextremen Organisationswesen. Unter anderem war er Angehöriger des Deutschen Kulturwerks Europäischen Geistes. 1962 gehörte er zu den Mitgründern der Aktion OderNeiße (AKON), die 1970 in der Aktion Widerstand und 1972 mit der Deutschen Volksunion (DVU) im Freiheitlichen Rat (FR) aufging. Seit 1966 war er Kuratoriumsmitglied der Internationalen Grotiusstiftung zur Verbreitung des Völkerrechts. Ferner trat von Richthofen 1967 der Deutschland-Stiftung e.V. bei, die eine „konservative Erneuerung des geistigen, kulturellen und politischen Lebens“ betrieb und von Antikommunismus getragen wurde. Sechs Jahre später wurde er wegen seiner Mitgliedschaft in der NPD aus dieser Stiftung ausgeschlossen. Gemeinsam mit dem Völkerrechtler Fritz Münch (1906–1995), der sich auch als Berater der Landsmannschaft Schlesien betätigte und 1972 von der CDU zur NPD wechselte, initiierte er 1970 die Gemeinschaft Ost- und Sudetendeutscher Grundeigentümer und Geschädigter e.V. (GOG). Bis zuletzt ging von Richthofen von einer Rückgewinnung der ehemaligen deutschen Reichsgebiete östlich von Oder und Lausitzer Neiße aus. Neben anderen Vertretern des rechtsextremen Spektrums in der Bundesrepublik Deutschland zählte er 1978 zu den Signataren einer Erklärung des FR, die eine „Generalamnestie“ für alle noch unter Anklage stehenden bzw. inhaftierten Vertreter des NS-Regimes forderte. Am 18. März 1983 kehrte von Richthofen von einem Spaziergang, den er von seinem letzten Wohnsitz, einem Seniorenheim im oberbayerischen Seehausen am Staffelsee, aus unternommen hatte, nicht mehr nach Hause zurück und galt monatelang als vermisst. Seine Leiche wurde erst am 20. Oktober 1983 in einem Wassergraben in der Nähe des Staffelsees aufgefunden. Die mysteriösen Todesumstände nährten Gerüchte in rechtsradikalen Kreisen, von Richthofen sei einem politischen Mord zum Opfer gefallen. Posthum verlieh ihm die Deutsche Nationalzeitung ihren sogenannten Freiheitspreis.

Tobias Weger

1 Bolko von Richthofen, Die Ältere Bronzezeit in Schlesien, Berlin 1926 2 Vgl. Tobias Weger, Bolko Freiherr von Richthofen und Helmut Preidel. Eine doppelte Fallstudie zur Rolle von Prähistorikern und Archäologen in den Vertriebenenorganisationen nach 1945, in: Judith Schachtmann (Hg. u.a.), Politik und Wissenschaft in der prähistorischen Archäologie. Perspektiven aus Sachsen, Böhmen und Schlesien, Göttingen 2009, S. 125–148; ders., Bolko Freiherr von Richthofen. Frühgeschichtsforscher – völkischer Ideologe – Vertriebenenpolitiker, in: Marek Hałub/Anna Mańko-Matysiak (Hg.), Śląska Republika Uczonych – Schlesische Gelehrtenrepublik – Slezská vědecká obec, Bd. 4., Wrocław 2010, S. 398–418. 3 Bolko von Richthofen, Gehört Ostdeutschland zur Urheimat der Polen? Kritik der vorgeschichtlichen Forschungsmethode an der Universität Posen, Danzig 1929; Józef Kostrzewski, Vorgeschichtsforschung und Politik. Eine Antwort auf die Flugschrift von Bolko Frhr. von Richthofen: Gehört

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Ostdeutschland zur Urheimat der Polen?, Poznań 1930; ders., Argumenty niemieckiego profesora prehistorii, Katowice 1935. 4 Bolko von Richthofen, Die Urheimat der Slawen in der Vorgeschichtsforschung, Warszawa 1934; ders., Zur deutsch-polnischen Zusammenarbeit in der Vor- und Frühgeschichtsforschung, Leipzig 1935. 5 Bolko von Richthofen, Bolschewistische Wissenschaft und „Kulturpolitik“. Ein Sammelwerk. Königsberg in Preußen, Berlin 1938 [19422]. 6 Bolko von Richthofen/Lothar F. Zotz, Ist Böhmen-Mähren die Urheimat der Tschechen?, Leipzig 1940. 7 Christiane Mückenberg, Deutsche Slawistik und Ostforschung, in: Gerhard Ziegengeist: Wissenschaft am Scheidewege. Kritische Beiträge über Slawistik, Literaturwissenschaft und Ostforschung in Westdeutschland, Berlin 1964, S. 34.

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Robert Ritter Robert Ritter wurde am 14. Mai 1901 in Aachen geboren.1 Sein Vater war Marineoffizier, was einige Schulwechsel nach sich zog. 1916–1918 gehörte Ritter der Kadettenanstalt Berlin-Lichterfelde an. Nach bestandenem Abitur 1921 nahm er ein Studium der Pädagogik, Psychologie, Philosophie, Psychiatrie und Heilpädagogik in Bonn, Tübingen, Marburg, Oslo, München, Berlin und Heidelberg auf. Zu seinen Lehrern gehörten Emil Kraepelin, der in seinen Schriften Geisteskrankheiten auf Vererbung zurückführte, Ernst Kretschmer, der menschliches Sozialverhalten auf genetische Prädispositionen zurückführte und August Homburger, der in „Milieus“ Bedingungen für die Entwicklung von Psychopathien suchte.2 Ritter wurde 1930 zum Doktor der Medizin promoviert und studierte fortan die Jugendpsychiatrie in Frankreich. Er arbeitete 1931/1932 an der Psychiatrischen Klinik der Universität Zürich, wo er laut Zimmermann zum Anhänger der Eugenik wurde, die er nun auch in Deutschland einführen wollte.3 Er wurde von Robert Gaupp, dem Leiter der Universitäts-Nervenklinik in Tübingen, als Assistenzarzt dorthin geholt. Ritter arbeitete dort vor allem im Jugendheim der Klinik. Dort konnte er seine Gedankenstränge aus seiner Ausbildung zusammenführen und in der Praxis anwenden. So führte er Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen auf die Vererbung zurück. Da er durch die DFG gefördert wurde, konnte er ein Forschungsprojekt durchführen, das letztlich von der Universität Tübingen als Habilitation anerkannt wurde. In dem Projekt versuchte er nachzuweisen, dass der verbreitete „Züchtungskreis“ mit „Jaunern“ und „Zigeunermischlingen“ dafür verantwortlich sei, dass die württembergische Bevölkerung als in großen Teilen zurückgeblieben gelten müsse.4 Er empfahl sich mit dieser vielfach beachteten „Studie“ für eine Verwendung am Reichsgesundheitsamt in Berlin, wo er ab 1936 die →Rassenhygienische Forschungsstelle aufbaute, die Anfang 1937 ihre Arbeit aufnahm. Fortan reiste Ritter mit einem kleinen Stab an festen und freien Mitarbeitern durch das Land, um mit Hilfe von Polizeiakten, Befragungen, Blutuntersuchungen und Archivmaterial Genealogien anzulegen, um möglichst alle „Zigeuner“ im Reich erbbiologisch zu erfassen. Hinter den Untersuchungen steht ein eindeutiges, abwertendes Bild der Minderheit. Zimmermann fasst Ritters Zigeunerbild treffend in einem Satz zusammen: „Ritter […] stigmatisierte sie [die „Zigeuner“] als ‚geschichtslos‘, ‚kulturarm‘ und durch ‚urtümlich ererbte Instinkte‘“ gesteuert.5 Ritter arbeitete fortan eng mit dem Reichskriminalpolizeiamt zusammen, beriet die Führung der Kriminalpolizei auch bei dem Vorschlag an Himmler, den Deportationsbefehl für die sogenannten „Zigeunermischlinge“ zu geben.6 Die von Ritters Forschungsstelle erstellten „gutachterlichen Äußerungen“ wurden dazu verwendet, Zehntausende Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich in Konzentrationslager zu deportieren. Die Zahl der Opfer dieser Mordpolitik lag zum Beispiel beim „Zigeunerfamilienlager Auschwitz“ bei circa 19.300 von 22.600 Häftlingen. Ab Ende 1941 arbeitete Ritter auch als Leiter des neu gegründeten Kriminalbiologischen Instituts der Sicherheitspolizei welches zum Reichskriminalpolizei-

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amt gehörte. Dort beschäftigte sich Ritter mit sogenannten „jugendlichen Rechtsbrechern“, die aus scheinbar erbbiologischen Gründen deviantes und kriminelles Verhalten an den Tag legten. Ritter besuchte für diese Tätigkeit immer wieder die euphemistisch „Jugend-Konzentrationslager“ genannten Lager Moringen und Uckermark. Dort wurden unter seiner Aufsicht Jungen und Mädchen schikaniert und einem höllischen Drill unterzogen.7 Nach dem Ende des 2. Weltkrieges setzte Ritter alles daran, um seine Tätigkeit als reine Forschungstätigkeit darzustellen. Er sei nur „Leiter einer Forschungsstelle“ gewesen, wie er in seinem ersten Entnazifizierungsbogen angab.8 Er sammelte diverse „Persilscheine“, etwa vom ehemals hochrangigen Mitarbeiter des Reichsgesundheitsamts Paul Wiedel, und stilisierte sich in eine quasi Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, so habe er „[…] fast ständig unter dem Druck [gelebt] plötzlich in ein KZ abgeführt zu werden.“9 Für diese Behauptung gibt es keinerlei Belege. Ritter fand Ende 1947 schließlich eine Anstellung bei der Stadt Frankfurt am Main, nachdem der Versuch gescheitert war, in Tübingen auf eine Professur zu wechseln.10 Nachdem er seine Frankfurter Tätigkeit aufgenommen hatte, wurde Ritter allerdings bei den Justizbehörden angezeigt, weshalb gegen ihn Ermittlungsverfahren angestrengt wurden, wegen Meldebogenfälschung und mutmaßlich verschwiegener SSMitgliedschaft, aber auch wegen Misshandlung während der Untersuchungen und Mitwirkung bei den Deportationen.11 Die Verfahren wurden jedoch eingestellt, teils aus Geringfügigkeitsgründen, teils, weil eine SS-Mitgliedschaft nicht nachgewiesen werden konnte. Im Verfahren wegen der Beteiligung an Deportationen und den Misshandlungen tätigte der zuständige Staatsanwalt folgende Aussage, was die damit benannten Zeugen, allesamt Opfer der rassistischen Politik gegen die Minderheit der Sinti und Roma, als persönlichen Tiefschlag empfunden haben müssen: „[…] es erhebt sich die Hauptfrage, ob und inwieweit überhaupt den Darstellungen der Zeugen zu glauben ist. Es handelt sich um die grundsätzliche Frage, ob und inwieweit Aussagen von Zigeunern zur Grundlage richterlicher Überzeugungen gemacht werden können.“12 In den Verfahren spielten die Zuträgerdienste Ritters für die NS-Zigeunerverfolgung keine nennenswerte Rolle, nur durch seine Tätigkeit jedoch gab es überhaupt eine, wenn auch pseudowissenschaftliche Grundlage für die Umsiedlungs-, Sterilisations- und Deportationspläne. Ritter war in den Frankfurter Jahren stets unzufrieden mit seiner Stellung respektive Bezahlung und oft krank, in einer Personalsitzung wurde daraufhin seine Entlassung aus gesundheitlichen Gründen beschlossen. Ritter verstarb jedoch während eines Kur-Aufenthalts am 15. April 1951, bevor die Kündigung wirksam wurde. „Der strebsame Mediziner aus Tübingen, der sich durch wohlkalkulierten Fleiß, gekonnte Übertreibungen und sehr gute Beziehungen 1937 zum Leiter eines für ihn maßgeschneiderten Instituts hocharbeiten konnte […]“.13 So charakterisiert Martin Luchterhandt Robert Ritter. Im Falle eines Kriegsgewinns der Nationalsozialisten wäre für Ritter eine Professorenstelle an einem neu zu gründenden Reichsinstitut für Kriminalwissenschaften oder an einer „kriminalwissenschaftlichen Reichsakademie“ vorgesehen gewesen.14 Michael Zim-

Robert Ritter  639

mermann schätzt das Wirken Ritters mit als den „wohl einflußreichste[n] Zigeunerforscher der NS-Zeit“ ein.15 Ritter war nach bisher vorliegenden Erkenntnissen kein Mitglied der NSDAP, wohl aber des NS-Dozentenbunds16, was er karrierefördernd einzusetzen wusste. Nach dem Krieg schmückte er sich damit, kein Mitglied der Partei gewesen zu sein.17 1931 ordnete er sich in Briefen an eine Zeitung in das jungkonservative Spektrum ein und fand für sich die Attribute „national und sozial“.18

Sebastian Lotto-Kusche

1 Sämtliche biografische Angaben sind bis auf Ausnahmen, die entsprechend mit anderen Verweisen gekennzeichnet sind, folgender Monographie entnommen, die eine erste gesamtbiografische Annäherung an Robert Ritter ermöglicht: Tobias Schmidt-Degenhard, Vermessen und Vernichten. Der NS-„Zigeunerforscher“ Robert Ritter, Stuttgart 2012. Bevor die Arbeit Schmidt-Degenhards erschien, stützten sich die meisten Autoren auf eine Publikation von Joachim S. Hohmann, Robert Ritter und die Erben der Kriminalbiologie, Frankfurt a.M. u.a. 1991. Zwar ist diese Arbeit Hohmanns eine immense Fleißarbeit, jedoch verzichtet er auf eine klare Belegstruktur. Auch im Lichte der Auslassungen und formalen Mängel seiner Herausgeber-Tätigkeit im Rahmen der Reihe „Studien zur Tsiganologie und Folkloristik“, in der auch dieses Buch erschienen ist, sind seine Schriften mit äußerster Skepsis zu verwenden. →Tsiganologie 2 Vgl. Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid, Hamburg 1996, S. 125–162, 126. 3 Vgl. ders., „Mit Weigerungen würde also nichts erreicht“. Robert Ritter und die Rassenhygienische Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt, in: Gerhard Hirschfeld (Hg. u.a.), Karrieren im Nationalsozialismus. Funktionseliten zwischen Mitwirkung und Distanz, Frankfurt a.M. u.a. 2004, S. 291–318, 292. 4 Vgl. ebd., S. 293.; Robert Ritter, Ein Menschenschlag. Erbärztliche und erbgeschichtliche Untersuchungen über die – durch 10 Geschlechterfolgen erforschten – Nachkommen von „Vagabunden, Jaunern und Räubern“, Leipzig 1937. 5 Vgl. Zimmermann, „Mit Weigerungen würde nichts erreicht“, S. 294; Robert Ritter, Primitivität und Kriminalität, in: Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform 31 (1940), S. 198–210. 6 Vgl. Zimmermann, „Mit Weigerungen würde nichts erreicht“, S. 302. 7 Vgl. ebd., S. 303f. 8 Vgl. Joachim S. Hohmann, Persilscheine für den Schreibtischtäter. Das Beispiel des NS-Kriminalbiologen Dr. Dr. Robert Ritter, in: Historical Social Research 19 (1994) 4, S. 42–59, 44. 9 Ebd., S. 45. 10 Vgl. Stadtarchiv Frankfurt a.M., Personalakte Robert Ritter, Signatur 18.576. 11 Vgl. Hohmann, Persilscheine für den Schreibtischtäter, S. 44; Schmidt-Degenhard, Vermessen und Vernichten, S. 194–195. 12 Zitiert nach Hohmann, Robert Ritter und die Erben der Kriminalbiologie, S. 168. 13 Martin Luchterhandt, Robert Ritter und sein Institut. Vom Nutzen und Benutzen der „Forschung“, in: Michael Zimmermann (Hg.), Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2000, S. 321–328, 321. 14 Vgl. Hohmann, Persilscheine für den Schreibtischtäter, S. 47. 15 Zimmermann, „Mit Weigerungen würde also nichts erreicht“, S. 291. 16 Vgl. Schmidt-Degenhard, Vermessen und Vernichten, S. 3. 17 Vgl. Brief Robert Ritters an seine Töchter vom April 1945, S. 25–26, 122. 18 Vgl. Zimmermann, Rassenutopie, S. 127.

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Paul Ritterbusch Der am 25. März 1900 in Werdau geborene Sohn eines Ziegelmeisters besuchte die Schulen in Torgau und Eilenburg. Dort legte er auch im Mai 1918 das Kriegsabitur ab. Im Anschluss diente Ritterbusch bis November des Jahres im Ersten Weltkrieg. Sein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften absolvierte er von 1920 bis 1925 in Halle und Leipzig. An der Leipziger Juristenfakultät wurde er 1925 mit einer Arbeit über Regierung und Volk in England 1700–1714 beim Juristen Richard Schmidt promoviert, der ihm eine „vorzügliche theoretische juristische Ausbildung“ zuteil werden ließ.1 In seiner anschließenden Assistentenzeit am örtlichen Institut für Politik, Öffentliches Recht und Völkerrecht unternahm er mehrfach Studienreisen nach Großbritannien, deren Ergebnisse in seine 1928 fertiggestellte Habilitationsschrift über Parlamentssouveränität und Volkssouveränität in der Staats- und Verfassungsrechtslehre Englands einflossen. In den folgenden Jahren vertrat Ritterbusch die Fachgebiete Öffentliches Recht und Völkerrecht als Privatdozent an der sächsischen Hochschule und kam dort um 1927/28, wie er später erklärte, mit der nationalsozialistischen Bewegung in Kontakt, für deren Ideen er sich fortan enthusiastisch engagierte. In einem weiteren Schritt trat er am 1. September 1932 der NSDAP bei und veröffentlichte gemeinsam mit seinem Bruder Willi im Selbstverlag eine programmatische Broschüre mit einschlägigem NS-Gedankengut.2 Seine akademische und politische Karriere befeuerte Ritterbusch in den folgenden Jahren wiederholt mit lautstarken Postulaten, aber auch mit ungeheurem Tatendrang. So arbeitete er im Rahmen eines von der Reichsschrifttumskammer eingesetzten Ausschusses der Deutschen Bücherei Leipzig an der Erstellung von sogenannten „Schwarzen Listen“ mit, anhand derer vermeintlich schädliches bzw. politisch unerwünschtes Schrifttum indiziert und ausgesondert wurde. Aufgrund seiner Fachkenntnisse übernahm er die Zuständigkeit des Bereiches „Recht, Politik, Staatswissenschaften“. Ritterbuschs Engagement für das NS-Regime zahlte sich aus. Noch im September des Jahres 1933 berief ihn das preußische Kultusministerium gegen den Willen der Fakultät auf das völkerrechtliche Ordinariat der Königsberger Universität. Begründet wurde dieser Schritt mit der gewünschten nationalpolitischen Schulung der Studenten, die, so das Ministerium, keiner der von der Fakultät favorisierten Kandidaten gewährleisten würde, zumal auf einen genuinen Völkerrechtler ohnehin verzichtet werden könne, da die Ostpolitik des NS-Staates in den kommenden Jahren „nicht von völkerrechtlichen Erwägungen ausgehen“ werde.3 Mit seiner Bestallung an der nördlichsten Universität des Deutschen Reiches wurde Ritterbusch auch das Amt des Direktors des Instituts für Politik, ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht übertragen, weiterhin erhielt er einen Lehrauftrag an der örtlichen Handelshochschule. In Königsberg knüpfte Ritterbusch engere Verbindungen zum damaligen Rektor der Universität, dem Philosophen Hans Heyse, den er bei dessen Plänen zur Um-

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wandlung der Grenzlanduniversität in eine Reichsuniversität mit verpflichtendem Ostsemester unterstützte. Demnach sollte es jedem deutschen Studenten zur Pflicht gemacht werden, mindestens ein Semester in Königsberg zu studieren und bestimmte Vorlesungen zu belegen. Kräftig vorangetrieben wurde das Projekt auch vom ostpreußischen Gauleiter Erich Koch.4 Blieben diese Bemühungen auch letztlich unverwirklicht, so konnte Ritterbusch doch erstmals seine Gedanken einer nationalsozialistischen Universitätsreform einem breiteren Publikum zugänglich machen, die er in der von →Carl Schmitt herausgegebenen Reihe Der deutsche Staat der Gegenwart als Heft 8 veröffentlichte und in den folgenden Jahren noch mehrfach modifizierte. Bestimmend waren für eine erfolgreiche Neuausrichtung der deutschen Hochschulen, so die Ansicht des Juristen, die ausschließliche Anerkennung „der Totalität der nationalsozialistischen Weltanschauung“ und der „aktive kämpferische Einsatz“ der Wissenschaftler. Für Ritterbusch stellten Politik, Kunst und Wissenschaft keineswegs verschiedene, „sondern nur unterschiedene Momente der Bewegung“ dar.5 Seine Schrift fand allerdings im Kompetenzgerangel der NSHochschulfunktionäre kaum Berücksichtigung, wodurch ihm die Ablehnung der Partei gegenüber professoralen Hochschulreformern, welche die NS-Ideologie nur unnötig komplizierten oder sich als nationalrevolutionäre Vordenker zu profilieren versuchten, erspart blieb.6 Der engagierte Nationalsozialist widmete sich fortan mit vollem Einsatz der intellektuellen Gleichschaltung des Wissenschaftsbetriebes, was in Berlin mit Genugtuung notiert wurde. Die Amtsenthebungen jüdischer oder politisch missliebiger Hochschullehrer erklärte er wiederholt für notwendig, da insbesondere den Juden jede Fähigkeit zur Gestaltung deutscher Wissenschaft fehle.7 Ritterbusch bezog sich dabei vor allem auf den Wert der jüdischen Hochschullehrer für das völkische Wissenschaftskonzept, ohne diese pauschal als wissenschaftsunfähig abzuurteilen. Er verzichtete daher in der stark ideologiedurchtränkten Festschrift der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) des Jahres 1940 auf eine ausführliche Bewertung jüdischer Wissenschaftler und überließ es künftigen Untersuchungen, „die Bedeutung des Judentums für die Kieler Universität und ihre einzelnen Fakultäten zusammenfassend zu behandeln“.8 Ritterbusch legitimierte die rassistische Entlassungspolitik des NS-Regimes aber nicht nur, er profitierte auch persönlich davon. Seit dem Frühjahr 1933 bemühte man sich an der CAU, die während der Weimarer Republik berufenen, meist liberalen Professoren der Rechtswissenschaften zu versetzen, zu entlassen oder zwangsweise zu emeritieren. Bedingt durch die periphere Lage sowie die wohlwollende Bevorzugung der „Nordmarkuniversität“ durch einflussreiche Referenten innerhalb des Reichserziehungsministeriums (REM), wurde der Plan gefasst, die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der CAU in eine „Stoßtruppfakultät“ umzuwandeln, deren junge Rechtsvertreter loyal zum neuen Staat stünden und von denen man sich eine rührige Mitarbeit versprach. Die hohe Vakanz der örtlichen Lehrstühle nach den ersten Säuberungsmaßnahmen im Frühjahr 1933 prädestinierte Kiel zu-

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dem als neues Zentrum für die völkische Rechtserneuerung, ohne dass zusätzliche Planstellen geschaffen werden mussten. Innerhalb dieser sogenannten „Kieler Schule“, deren Kern die Professoren Georg Dahm, Karl Larenz und Ernst Rudolf Huber bildeten, wurde Ritterbusch nach Auffassung der Parteistellen und des Inhabers des germanistischen Lehrstuhls, Karl August Eckhardt, die Ausrichtung der Fakultät im Sinne des NS-Staates als Aufgabe zugedacht.9 Im Oktober 1935 nahm Ritterbusch den Ruf auf das öffentlich-rechtliche Ordinariat an, das bis 1933 der renommierte Völkerrechter Walther Schücking innegehabt hatte. Damit verbunden war auch die Übernahme des Instituts für Internationales Recht, das mit dem von Ritterbusch aus Königsberg mitgebrachten Institut für Politik, ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Institut für Politik und Internationales Recht an der Universität Kiel vereinigt wurde.10 Zum Direktor ernannte das REM den jungen Juristen, (stellvertretender) Mitdirektor wurde Walther Schoenborn, der als einziger Kieler Rechtswissenschaftler bereits vor der personellen Umstrukturierung an der Fakultät gewirkt hatte. Ritterbusch nahm seine Tätigkeit am Institut allerdings nur eingeschränkt wahr, in Forschung und Lehre wurde das öffentliche Recht vor allem von Huber, Schoenborn und verschiedenen Assistenten vetreten. Ritterbusch gelang es hingegen nicht, ein wissenschaftliches Profil in diesem Bereich zu entwickeln, zu zeitintensiv waren seine parteioffiziellen Aktivitäten.11 Bereits ab 1937 begann schließlich die „Kieler Schule“ durch auswärtige Rufe nach Leipzig auseinanderzufallen. Vor allem Ritterbusch bedauerte die Inkonsequenz der Durchführung dieses Experiments, da er den Gedanken, dass „einige von homogenen Kräften getragene Fakultäten“ den Anstoß zur „Erneuerung der Rechtswissenschaft und Rechtsordnung aus der nationalsozialistischen Weltanschauung heraus“ geben sollten, stark befürwortete.12 Aber auch ohne die Weiterführung der „politischen Stoßtruppfakultät“ konnte er in Kiel seinen Einfluss auf die deutschen Universitäten in den kommenden Jahren stetig ausbauen und vereinigte bald eine Fülle von Ämtern in seiner Person: Hochschullehrer, „Führerrektor“ (1937–1941) und Dozentenbundführer der CAU (1937–1940), Mitglied des Ausschusses für Völkerrecht der Hans Frank unterstellten →Akademie für Deutsches Recht sowie zwischen 1936 und 1940 Nachfolger Carl Schmitts als Leiter der Reichsgruppe Hochschullehrer im NS-Rechtswahrerbund. Zusätzlich übernahm er ab 1939 die Position des „Obmanns“ der →Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung (RAG). Hier entwickelte Ritterbusch auch – unter Rückgriff auf den innerfakultären Gemeinschaftsgedanken einer geschlossenen Kameradschaft, wie er bereits für die 1938 gegründete erste Wissenschaftliche Akademie des NS-Dozentenbundes und die „Kieler Schule“ proklamiert worden war – die Raumforschungskonzepte für den →Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften („Aktion Ritterbusch“), dessen Oberleitung er als Ideengeber und Initiator am 3. Februar 1940 offiziell zugesprochen bekam.13

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Für den Juristen stellte die „Auseinandersetzung mit der geistigen und Wertwelt des Gegners“ die vordringlichste Aufgabe der Geisteswissenschaften im Krieg dar, für die er etwa 1.000 in- und ausländische Gelehrte sämtlicher geisteswissenschaftlicher Disziplinen mobilisierte, die an einem oder mehreren Projekten des „Kriegseinsatzes“ mitwirkten.14 Zugleich richtete ihm das REM für die Dauer des Krieges ein befristetes Referat ein, wobei seine dauerhafte Anwesenheit im Ministerium nicht vorausgesetzt wurde. Erst mit Wirkung vom 1. Oktober 1941 verlegte Reichserziehungsminister Rust den von Ritterbusch an der CAU bekleideten Lehrstuhl für Verfassungs-, Verwaltungs- und Völkerrecht sowie Rechtsphilosophie an die Berliner Universität unter gleichzeitiger Bestellung des Ordinarius ins REM, wo er im Rang eines Ministerialdirigenten als stellvertretender Amtschef des Amtes Wissenschaft weiterhin für das Gemeinschaftsprojekt der Geisteswissenschaften zuständig war.15 Für den Wechsel nach Berlin dürften neben der Zusicherung über die freie Einteilung seines Lehrdeputats und der 1942 erneuerten Freistellung vom Wehrdienst vor allem die Erhöhung seines jährlichen Grundgehaltes von 11.600 auf 13.600 RM sowie die nebenamtliche Abordnung ins REM ausschlaggebend gewesen sein.16 Der Umzug in die politische Schaltzentrale des Reiches bedeutete für den Juristen zumindest kurzfristig die ministerielle Krönung seiner Karriere als „Wissenschaftsmanager“, die er auch nach dem Kriege weiter auszubauen gedachte. Dazu sollte es allerdings nicht mehr kommen, da ihm bereits im Juli 1944 nahegelegt wurde, von seinem Amt als Vorsitzender der RAG zurückzutreten und diese Position an seinen Stellvertreter Kurt Brüning zu übergeben. Mangelndes Engagement und Interesse sowie die völlige Konzentration Ritterbuschs auf den „Kriegseinsatz“ hatten nach Ansicht des Staatssekretärs Hermann Muhs’ diese Ämterneuregelung notwendig erscheinen lassen.17 Zudem hatte die Verlegung der RAG nach Wittenberg zum Jahreswechsel 1943/44 bei Brüning für Missstimmung gesorgt.18 Ritterbusch, der diesem Positionswechsel gegenüber anscheinend selbst nicht abgeneigt war,19 schied zum 1. September 1944 aus der RAG und dem REM aus. Künftig widmete er sich wieder verstärkt seinen Lehr- und Forschungsaufgaben sowie der von ihm neugegründeten Arbeitsgemeinschaft für Staats- und Verwaltungsrecht. Ihm gelang es noch im Etatjahr 1944, seine Arbeitsgemeinschaft bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) anzugliedern, wodurch er Zugriff auf die doppelte Forschungsförderung erhielt – denn auch der von ihm weiterhin verwaltete „Kriegseinsatz“ wurde aus den Mitteln der DFG finanziert. Maßgeblich dafür dürften seine persönlichen Verbindungen ins REM sowie seine Funktion als Generalsekretär der im Mai 1942 in Berlin unter Leitung von Wilhelm Stuckart gegründeten Internationalen Akademie für Staats- und Verwaltungswissenschaften gewesen sein. Unter dem Dach der Akademie ist wohl auch die neue Arbeitsgemeinschaft entstanden. Eine umfangreiche Tätigkeit konnte diese allerdings nicht mehr entfalten, zumal mit Ritterbuschs Einberufung als Volkssturmführer zur Wehrmacht Ende 1944 der organisations- und verwaltungstechnische Aufbau erheblich gestört wurde. Am 26. April 1945 wählte der desillusionierte Wissenschaftsorganisator im Dreieck Dessau, Wit-

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tenberg, Torgau beim Herannahen der alliierten Streitkräfte schließlich den Freitod. Wie einem späteren Briefwechsel zwischen seinem Bruder Willi und Carl Schmitt entnommen werden kann, waren dafür wahrscheinlich persönliche wie auch weltanschauliche Gründe ausschlaggebend.20 In der gegenwärtigen Forschung zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte gilt Paul Ritterbusch als „einer der profiliertesten nationalsozialistischen Wissenschaftsfunktionäre“ (M. Otto). Vor allem die organisatorischen Leistungen im Rahmen der Gründung und Verwaltung des „Kriegseinsatzes“ werden dabei als gewichtige Argumente angeführt. Zugleich sollte nicht übersehen werden, dass die verwaltungstechnische Überbelastung durch dieses geisteswissenschaftliche Mammutprojekt und seine parteioffizielle Ämterfülle zu einer mangelhaften Profilbildung im akademischen Lehr- und Forschungsbereich führten. Das Fehlen einer profunden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Œuvre und der Person des Juristen erschwert weiterhin seine kritisch-historische Einordnung. Und auch zeitgenössische Zuschreibungen – Ritterbusch sei „eine Mischung aus Bohemien und Landsknecht, ideenreich, aber in der Arbeit nicht ausdauernd“21 und ein „Ober-Nazi erster Klasse“22 gewesen – werden der Wirklichkeit und den geschichtswissenschaftlichen Ansprüchen kaum gerecht. Dies gilt umso mehr, als dass den Kritikern rückblickend daran gelegen war, sich von den hochschulpolitischen Entwicklungen des NS-Regimes und ihren eigenen Aktivitäten während der Jahre 1933 bis 1945 zu distanzieren.23

Martin Göllnitz

1 Zu Ritterbusch siehe bisher am ausführlichsten Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940–1945), Heidelberg 20073, S. 30–48, 33; vgl. Martin Otto, Art. „Ritterbusch, Paul Wilhelm Heinrich“, in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 668–670; Michael Grüttner, Art. „Ritterbusch, Paul“, in: Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2004, Sp. 140. 2 Willi Ritterbusch, Der Verfassungskompromiß in Weimar, das Experiment der Präsidialregierung und die nationalsozialistische Staatsidee, Wittenberg 1932. Paul Ritterbusch bekannte sich erst später zu seiner Mitarbeit an der Broschüre. Zum Parteibeitritt siehe LASH, Abt. 47, Nr. 2025, Ritterbusch an Georg Dahm vom 19.9.1935. 3 GStA-PK, I. HA Rep. 90 A, Nr. 1767, Brief des preuß. Kultusministeriums an das preuß. Staatsministerium vom 28.9.1933; vgl. Christina Wiener, Kieler Fakultät und ‚Kieler Schule‘. Die Rechtslehrer an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zu Kiel in der Zeit des Nationalsozialismus und ihre Entnazifizierung, Baden-Baden 2013, S. 102. 4 Vgl. die Zusammenfassung einer Rede Kochs vom Sommer 1933, abgedruckt in „Reichsuniversität Königsberg“, in: Ostland. Halbmonatsschrift für Ostpolitik 14 (1933), S. 556; Hans Heyse, Reichsuniversität im Osten, in: Kreis Ostland der Deutschen Studentenschaft/NSDStB (Hg.), Hochschulführer der Ostmark 1934/1935, Königsberg 1934, S. 7ff. 5 Paul Ritterbusch, Idee und Aufgabe der Reichsuniversität, Hamburg 1935, S. 26f. 6 Vgl. dazu Michael Grüttner, Das Scheitern der Vordenker: Deutsche Hochschullehrer und der Nationalsozialismus, in: Michael Grüttner (Hg. u.a.), Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt a.M. 1999, S. 458–481.

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7 Vgl. Illustrierte Zeitung (Leipzig) 195 vom August 1940, Nr. 4956, S. 118. 8 Paul Ritterbusch u.a., Vorwort der Herausgeber, in: Gottfried E. Hoffmann (Hg. u.a.), Festschrift zum 275jährigen Bestehen der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Leipzig 1940, S. V-VI, VI. 9 Siehe dazu Jörn Eckert, Die nationalsozialistische Umgestaltung der Juristenausbildung, insbesondere an der Universität Kiel, in: Jörn Eckert (Hg. u.a.), Juristische Fakultäten und Juristenausbildung im Ostseeraum. Zweiter Rechtshistorikertag im Ostseeraum, Stockholm 2004, S. 366–410; Ralf Walkenhaus, Gab es eine „Kieler Schule“? Die Kieler Grenzlanduniversität und das Konzept der „politischen Wissenschaften“ im Dritten Reich, in: Wilhelm Bleek (Hg. u.a.), Schulen der deutschen Politikwissenschaft, Opladen 1999, S. 159–182. 10 Vgl. Ursula E. Heinz, 100 Jahre Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht, in: Jost Delbrück (Hg. u.a.), Aus Kiel in die Welt: Kiel’s contribution to international law. Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht, Berlin 2014, S. 13– 38, 20f. 11 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, München 1999, S. 280ff. 12 Paul Ritterbusch, Die Entwicklung der Universität Kiel seit 1933, in: Gottfried E. Hoffmann (Hg. u. a.), Festschrift zum 275jährigen Bestehen der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Leipzig 1940, S. 447–466, 454; vgl. auch Rudolf Meyer-Pritzl, Die Kieler Rechts- und Staatswissenschaften. Eine „Stoßtruppfakultät“, in: Christoph Cornelißen (Hg. u.a.), Wissenschaft an der Grenze. Die Universität Kiel im Nationalsozialismus, Essen 2009, S. 151–173, 169. 13 BArch, R 4901, 25308, Mitteilung Rudolf Mentzels an Werner Zschintzsch vom 3.2.1940. 14 Paul Ritterbusch, Wissenschaft im Kampf um Reich und Lebensraum, Stuttgart 1942, S. 16. Vgl. Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ (wie Anm. 1). 15 BArch, R 4901, 25308, Erlass Rusts vom 15.9.1941. 16 Zu Ritterbuschs Vergütungen siehe Christian Maus, Der ordentliche Professor und sein Gehalt. Die Rechtsstellung der juristischen Ordinarien an den Universitäten Berlin und Bonn zwischen 1810 und 1945 unter besonderer Berücksichtigung der Einkommensverhältnisse, Göttingen 2013, S. 258– 260. 17 BArch, R 4901, 25308, Muhs an Mentzel vom Juli 1944. 18 Ebd., 14084, Bl. 155–158, Antrag Brünings zur Institutsverlegung der RAG vom 11.8.1944; vgl. Jörg Gutberger, Volk, Raum und Sozialstruktur. Sozialstruktur- und Sozialraumforschung im „Dritten Reich“, Münster 1996, S. 331. 19 BArch, R 4901, 14084, Bl. 162, Vermerk zur uk-Stellung Ritterbuschs; vgl. den Schriftwechsel in UAHUB, UK, R 157, Bd. II. 20 LANRW R, Nl Carl Schmitt, RW 0265, Brief von Willi Ritterbusch an Carl Schmitt vom 10.2.1952. 21 Erich Hofmann, Die Christian-Albrechts-Universität in preußischer Zeit, in: Erich Hofmann (Hg. u.a.), Allgemeine Entwicklung der Universität. 2. Teil, Neumünster 1965, S. 9–115, 110, Anm. 79. 22 Heinz-Dietrich Wendland, Wege und Umwege. 50 Jahre erlebter Theologie 1919–1970, Gütersloh 1977, S. 155. 23 Zu Hofmanns Verstrickungen in die NS-Hochschulpolitik siehe: Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus und die Universität Prag. Dokumente eingeleitet und hg. von Gerd Simon, Tübingen 2001, S. 9; zu Wendlands Aktivitäten für die Deutschen Christen vgl. Martin Göllnitz, Karrieren zwischen Diktatur und Demokratie. Die Berufungspolitik in der Kieler Theologischen Fakultät 1936 bis 1946, Frankfurt a.M. 2014, S. 71–76.

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Robert Van Roosbroeck Um Robert van Roosbroecks Leben nachzuvollziehen, ist ein kurzer Blick auf die belgische Geschichte und die Entstehung der Flämischen Bewegung vonnöten. Nach der endgültigen Niederlage Napoleons 1815 beschlossen die europäischen Großmächte, in Anlehnung an die Geschichte dieses Raumes in der Frühen Neuzeit, das belgische Grundgebiet wieder mit den niederländische Provinzen zum Vereinigten Königreich unter König Wilhelm I. aus dem Hause Oranien-Nassau zu vereinen.1 Diese Situation wurde jedoch für einen Großteil der frankophonen Führungsschicht im Süden des Landes aus politischen, sprachlichen und religiösen Gründen in zunehmendem Maße untragbar. Es kam zu einer Revolution und zur Gründung des Königreichs Belgien, mit Leopold I. als konstitutionellem König.2 Trotz des lang anhaltenden Widerstands der sogenannten Orangisten – der Befürworter einer Wiedervereinigung mit den Niederlanden – konnte sich die neue Regierungsform konsolidieren.3 Die frankophone Elite spielte dabei eine wichtige Rolle. Französisch wurde zur Sprache der gesetzgebenden, rechtsprechenden und militärischen Organe. Der niederländischsprachige Hochschulunterricht an der von Wilhelm I. gegründeten Universität Gent wurde abgeschafft. Damit war die niederländische Sprache in Flandern dazu verurteilt, als Dialekt der Bauern, Arbeiter und unteren Klassen weiterzuleben. Darüber hinaus war der nördliche Teil Belgiens aus ökonomischen und geologischen Gründen viel stärker von der Landwirtschaft abhängig als der sich rascher industrialisierende Süden. So entstand eine doppelte Kluft: eine soziologisch-kulturelle zwischen frankophonen und niederländischsprachigen Belgiern, und eine ökonomische zwischen Flandern und Wallonien. Auf lange Sicht war dieser Zustand unhaltbar, Revolten waren unvermeidlich. Einerseits wurden auf sprachlichem Gebiet Klagen laut, die in der Forderung neben der aus dem 18. Jahrhundert stammenden Belgischen Akademie nach einer vollwertigen Flämischen Akademie gipfelten.4 Es wurden historische Romane und andere Literatur in niederländischer Sprache publiziert, verfasst von Flamen, die auf diese Art einen Beitrag zur Bildung eines flämischen Nationalbewusstseins leisten wollten. Das bekannteste Beispiel dafür ist das Werk Hendrik Consciences. Seine Bücher – darunter De leeuw van Vlaanderen (Der Löwe von Flandern), ein teils fiktiver Roman über die Schlacht der Goldenen Sporen (1302) – fanden großen Anklang und wurden sogar in mehrere andere europäische Sprachen übersetzt.5 Andererseits entstanden in flämischen Kreisen soziale Bewegungen, die die herrschende Armut anprangerten und mit Nachdruck auf das große Wohlstandsgefälle zwischen Flandern und Wallonien hinwiesen. Galionsfiguren dieser Strömung waren, auf katholischer Seite, der Priester Adolf Daens (1839–1907) und der Jesuit Desiderius Stracke (1875– 1975), auf sozialistischer Seite der Genter Journalist und Politiker Edward Anseele (1856–1936).6 Seiner Ansicht nach musste jedoch die Wahrung der Rechte der Arbeiter Vorrang haben vor dem flämischen Freiheitskampf.

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In dieser stürmischen Zeit erblickte Robert van Roosbroeck das Licht der Welt. Sein Vater, Leopold van Roosbroeck, ein aus Ostflandern stammender Zollbeamter, hatte nach seiner Heirat die Versetzung nach Antwerpen beantragt, um seinen Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen, und in dieser Stadt wurde Robert am 3. November 1898 geboren.7 Schon bald kamen das Interesse des jungen Mannes an Literatur und Geschichte und sein Engagement für die Emanzipation des flämischen Volkes zum Vorschein. Er wurde zu einem überzeugten Flaminganten8 und verkürzte seinen Vornamen zum markigeren „Rob“. Er beschloss, Lehrer zu werden und schrieb sich 1913 an der Lehrerbildungsanstalt in Antwerpen ein. Nach dem Einmarsch in Belgien im August 1914 nützte die deutsche Besatzungsmacht die Sprachsituation im Land aus, um durch die sogenannte „Flamenpolitik“ die öffentliche Meinung in Flandern zu einem möglichst großen Teil für sich zu gewinnen. Flamen wurden gegenüber Wallonen in vielerlei Hinsicht bevorzugt, und der innige Wunsch der flämischen Intellektuellen nach einer eigenen Universität wurde im Oktober 1915 mit der Niederlandisierung der Universität Gent erfüllt.9 Diese Politik sowie auch die Unzufriedenheit über die Sprachsituation an der belgischen Front wirkten als Spaltpilz in der Flämischen Bewegung. Auf der einen Seite standen die „Aktivisten“, Befürworter einer Zusammenarbeit mit dem Besatzer; auf der anderen die „Passivisten“, die sich dem heftig widersetzten. Van Roosbroeck stand auf der Seite der Aktivisten. Im Juli 1917 erhielt er das Lehrerdiplom und wurde noch im selben Jahr in einer Gemeindeschule seiner Geburtsstadt angestellt. Er legte auch die für weitere akademische Studien erforderliche Prüfung vor einer zentralen Kommission ab. Das Kriegsende und die Wiederherstellung der belgischen Staatsverwaltung bedeuteten jedoch einen schweren Rückschlag für Van Roosbroeck. Seine Bestellung als Lehrer durch eine flämische autonome Verwaltung wurde widerrufen und das erlangte Universitätszeugnis für ungültig erklärt. Damit war er arbeitslos, seine Hoffnung auf weiterführende Studien war vereitelt. Er ließ sich dadurch jedoch nicht entmutigen. Im Gegenteil, sein Widerwillen gegen das bestehende frankophone Establishment wurde dadurch noch mehr geschürt. Er schloss sich der Vlaamsche Front, der ersten ausgesprochen flämisch-nationalistischen Partei an, in deren Wochenblatt De Stormram (Der Rammbock) er als Journalist mitarbeitete.10 Wenngleich Van Roosbroeck dem Blutbad des Ersten Weltkriegs nicht unmittelbar ausgesetzt war, so wurde er danach doch ein überzeugter Pazifist. Er sympathisierte mit der europäischen Clarté-Bewegung und publizierte in deutschen pazifistischen Blättern wie Weltjugendliga und Vivos voco.11 Nach seinem Militärdienst gelang es Van Roosbroeck 1923, wieder als Lehrer an einer Gemeindeschule in Hemiksem angestellt zu werden. Er widmete sich der Lehre mit ganzem Herzen, entwickelte Methoden für eine effizientere Gestaltung des Unterrichts und spielte eine wesentliche Rolle bei der Gründung einer Volkshochschule in Antwerpen nach dem Vorbild der proletarischen Volkshochschule Groß-

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Berlin.12 Gleichzeitig schrieb er sich auf Initiative des angesehenen Historikers Leo Van der Essen als außerordentlicher Hörer an der Universität von Löwen ein. Van Roosbroeck arbeitete an der Herausgabe einer Antwerpener Chronik aus dem 16. Jahrhundert13 und promovierte 1930 summa cum laude mit einer Arbeit über den Antwerpener Aufstand gegen die spanische Herrschaft.14 Anschließend ermöglichte ihm ein Stipendium eine Reise nach Deutschland. Dort besuchte er das Deutsch-Niederländische Institut in Köln und knüpfte erste Kontakte mit deutschen, mit der Flämischen Bewegung sympathisierenden Historikern, wie Robert Paul Oszwald (1883–1945).15 Nach seiner Rückkehr nach Belgien erhielt Van Roosbroeck eine Anstellung als Geschichtslehrer an der Lehrerbildungsanstalt in Antwerpen, wo er sich den Ruf eines glühenden Flaminganten erwarb. 1933 kam er in Belgien mit →Franz Petri in Kontakt, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte. Seit damals konzentrierten sich Van Roosbroecks Aktivitäten auf drei Ebenen. Als leidenschaftlicher Flame setzte er sich für die Emanzipation und die Bildung des flämischen Volkes ein, und wurde auf kulturellem und historischem Gebiet ein gefragter Referent. Als Historiker widmete er sich der Realisierung seines Meisterwerks: der Herausgabe einer sechsbändigen Geschiedenis van Vlaanderen, an der eine große Zahl belgischer Fachleute aus verschiedenen politischen Strömungen mitwirkten. Dieses Werk sollte sieben Jahre seines Lebens in Beschlag nehmen.16 Daneben wirkte Van Roosbroeck seit 1933 unermüdlich als Korrespondent der flämisch-nationalistischen Tageszeitung De Schelde, die 1936 zum deutschfreundlichen und den Nationalsozialismus unterstützenden Volk en Staat wurde; er betreute dort die Auslandschronik und berichtete regelmäßig über aktuelle Ereignisse. In jenen Jahren entwickelten sich in flämisch gesinnten Kreisen verschiedene Strömungen und Anschauungen, von denen sich Van Roosbroeck angezogen fühlte und die sein Denken beeinflussten. Eine Zeitlang war er begeisterter Anhänger der Großniederländischen Idee, wie sie der niederländische Historiker Pieter Geyl vertrat, die eine Wiedervereinigung der Niederlande und Flanderns in Aussicht stellte.17 Auch sympathisierte er mit der Politik des Verbond van Dietsche Nationaal Solidaristen [Verband der großniederländischen Nationalsolidaristen] (Verdinaso), der aus großniederländischer Perspektive für einen faschistischen, korporatistischen Staat eintrat. Schließlich schloss sich Van Roosbroeck jedoch dem rechtsgerichteten, 1933 von Staf de Clercq (1884–1942) mit dem Ziel einer Bündelung der verschiedenen flämisch-nationalistischen Strömungen gegründeten Vlaamsch Nationaal Verbond (VNV) an.18 Diese Partei sollte jedoch einen immer ausgeprägteren deutschfreundlichen Standpunkt einnehmen. Während sich in Deutschland die →Westforschung dem Aufspüren germanischer Elemente in den westlichen Grenzgebieten widmete, erlebte auch in Flandern, als Exponent eines romantischen Nationalgefühls, die großgermanisch ausgerichtete Volkstumsforschung eine Blütezeit. Experten wie Maurits de Meyer (1895–1970), Edgard Blanquaert (1894–1964) und Clemens Trefois (1894–1984) arbeiteten auf

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dem Gebiet der Märchenliteratur, Dialektologie beziehungsweise der ländlichen Architektur. Alle standen in engem Kontakt mit Petri und →Franz Steinbach und nahmen an Treffen der Rheinischen Forschungsgemeinschaft teil.19 Van Roosbroeck widmete sich der Zusammenarbeit mit Deutschland auf historischem Gebiet; von 1938 an schrieb er regelmäßig Beiträge in De Vlag, der Monatsschrift der zwei Jahre zuvor gegründeten Deutsch-Vlämischen Arbeitsgemeinschaft (DeVlag).20 Im Mai 1940 überfiel die deutsche Armee Belgien zum zweiten Mal, und die Besatzer richteten eine Militärverwaltung für Belgien und Nordfrankreich ein. Für die Verwaltung wurden auf Westforschung spezialisierte Akademiker eingesetzt. Obwohl Van Roosbroeck, trotz seiner engen Kontakte zu seinen deutschen Kollegen, offiziell für die Wahrung der belgischen Neutralität eingetreten war, wurde er unverzüglich von Petri, der in der Militärverwaltung zusammen mit Werner Reese das Amt des Referenten für Volkstum, Kultur und Wissenschaft bekleidete, kontaktiert. Van Roosbroeck entschied sich für die Zusammenarbeit mit dem Besatzer und erstellte auf Petris Anfrage Berichte und Empfehlungen für die zu verfolgenden Zielsetzungen in Petris Zuständigkeitsbereichen.21 Darüber hinaus trat Van Roosbroeck kurz darauf der neu gegründeten Flämischen SS bei, was seiner weiteren Karriere dienlich war. Er wurde als Mitglied der Kommission zur Überarbeitung der Schulbücher sowie als Mitglied des Niederländischen Kulturrates eingesetzt.22 1941 wurde er an der Universität Gent zum Dozenten ernannt, und einige Monate später in seiner Geburtsstadt zum Beigeordneten für Unterricht und Bibliotheken.23 Inzwischen war Van Roosbroeck sowohl in Flandern als auch in Deutschland ein gefragter Redner geworden. Die meisten Themen, über die er referierte, betonten die historischen Bande zwischen beiden Völkern. So sprach er beispielsweise 1941 in Helgoland über Leben und Werk von Hoffmann von Fallersleben, Dichter und Kenner des Altniederländischen. Eine gekürzte deutsche Fassung von Van Roosbroecks Flämischer Geschichte erschien 1942.24 Daneben publizierte der Historiker auch regelmäßig in Kollaborationszeitschriften De Vlag, Balming und De SS-Man. Auch spielten er und Petri eine Rolle bei den aufwändig inszenierten deutsch-flämischen Kulturtagen, die DeVlag im August 1943 in Brüssel organisierte.25 Kollaboration ist kein bipolares Phänomen, sondern ein Verhalten, das ein breites Spektrum von Schattierungen aufweist.26 Mit zunehmender Dauer der Besetzung Belgiens fächerte sich dieses Spektrum immer mehr auf. Ein Teil der flämischen Kollaborateure optierte für eine vollständige Zusammenarbeit mit den Besatzern und verlagerte sich ideologisch vom Vlaamsch Nationaal Verbond zur Denkweise von DeVlag. So auch Van Roosbroeck. Obwohl er stets behauptete, sich für ein autonomes Flandern innerhalb des Germanischen Reiches einzusetzen, begann er doch immer mehr in Richtung einer großgermanischen Einheit zu denken. Er unterrichtete im SS-Ausbildungslager in Schoten bei Antwerpen und an der SS-Junkerschule in Bad Tölz.

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Auch auf dem Gebiet der →Volkskunde blieb Van Roosbroeck nicht untätig. Nach einem Besuch von Hans Ernst Schneider im Juni 1942 in Flandern wurden Ende desselben Jahres, in Anlehnung an die von Schneider im Auftrag des →SS-Ahnenerbe in den Niederlanden unternommenen Aktivitäten des Germanischen Wissenschaftseinsatzes, in Gent die Germaansche Werkgemeenschap Vlaanderen gegründet und die Monatsschrift Hamer herausgegeben. Roger Soenen (1902–1977), Arzt und Professor für Anthropologie, und Clemens Trefois waren dabei federführend. Als Soenen sich jedoch im Sommer desselben Jahres allzu negativ über die imperialistische Politik der SS äußerte, wurde er durch den willfährigeren Van Roosbroeck ersetzt.27 Beim Herannahen der alliierten Truppen flüchteten die prominentesten flämischen Kollaborateure nach Deutschland. Dort wurde unter Leitung von Jef Van de Wiele (1903–1979)28, dem namhaften flämischen Nationalisten, Mitglied der SSFlandern und seit 1940 Leiter der flämischen DeVlag, in dem von Gauleiter Hartmann Lauterbacher zur Verfügung gestellten Schloss in Bad Pyrmont die Vlaamsche Landsleiding [Landesleitung Flandern] ins Leben gerufen.29 Diese Gruppierung radikaler flämischer Kollaborateure war als eine Art flämische Exilregierung gedacht, mit dem Ziel, den Grundstein für ein zukünftiges Reichsland Flandern zu legen. Alles in allem umfasste diese „Regierung“ rund zwanzig Experten in drei Arbeitsgruppen, mit einem Beratungsgremium bestehend aus drei führenden deutschgesinnten Vorkämpfern der Flämischen Bewegung: Cyriel Verschaeve, August Borms und Antoon Jacob. Die Mitglieder sollten beraten und konkrete Vorschläge zu verschiedenen Aspekten der zukünftigen Politik unterbreiten. Van Roosbroeck wurde als Leiter der Gruppe für Kunst und Unterricht eingesetzt; seiner Gruppe gehörte unter anderem Clemens Trefois an. Im Bereich der Volkskunde schlug die Gruppe vor, dem Fach Folklore im Unterricht viel größere Aufmerksamkeit zu widmen. Außerdem wurde die – eher unrealistische – Empfehlung abgegeben, die Reihendörfer in Flandern soweit wie möglich durch Dorfkerne zu ersetzen. Den Plenarsitzungen der drei Gruppen wohnten noch weitere führende flämische Kollaborateure bei, sowie Horst Wagner, Legationsrat beim Außenministerium und glühender Nationalsozialist.30 Weil die Nazis das Bad Pyrmonter Schloss bald wieder benötigten, musste die „Landesleitung“ es nach drei Zusammenkünften räumen, seine Mitglieder wurden verlegt.31 Ende Dezember 1944 wurden sie aber nach Soltau in der Lüneburger Heide geladen, denn die Flamen rechneten damit, im Gefolge der Ardennenoffensive nach Flandern zurückzukehren und dort die Führung zu übernehmen. Das erwies sich jedoch als Trugschluss. Einige Tage später kehrten die Mitglieder der „Landesleitung“ unverrichteter Dinge zurück und zerstreuten sich über das deutsche Grundgebiet. Nach der völligen Niederlage Deutschlands kehrte Van Roosbroeck unter falschem Pass mit seiner Familie nach Belgien zurück und versteckte sich bei Verwandten. Kurz darauf begann er, unter Pseudonymen einige Rezensionen und Artikel in zwei flämischen Zeitschriften, die für einen verständnisvollen Umgang mit ehemali-

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gen Kollaborateuren eintraten, zu publizieren. Im Januar 1946 wurde der Historiker jedoch vom Militärgericht Antwerpen in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Dagegen legte der Staatsanwalt des Kriegsauditorrats, in Abwesenheit des Angeklagten, Berufung ein. Nach Van Roosbroeck wurde intensiv gefahndet, und Ende 1947 wurde ihm klar, dass er sich entweder stellen oder flüchten müsse. Er überquerte, erneut mit gefälschtem Pass, die niederländische Grenze und fand in Breda mit Hilfe der Brabanter Bewegung32 schließlich Unterschlupf bei Albert Van de Poel, einem Flamen, der sich nach dem Ersten Weltkrieg in den Niederlanden ein neues Leben aufgebaut hatte.33 Von da an begann Van Roosbroeck unermüdlich unter verschiedenen Pseudonymen zu publizieren, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Zunächst schrieb er einige Beiträge für die Zeitschrift Edele Brabant, dem Organ der Brabanter Bewegung.34 Dann erschienen bei kleinen flämischen Verlagen, die verurteilte Kollaborateure unterstützten, einige Bücher aus seiner Feder. Diese hatten Van Roosbroecks flämische Idole (Cyriel Verschaeve und August Borms, beide ehemalige Aktivisten) zum Thema oder waren niederländische Übersetzungen von Memoiren ausländischer Kollaborateure (des norwegischen Autors Knut Hamsun und des schwedischen Entdeckungsreisenden Sven Hedin). Allmählich boten sich in Flandern auch in katholischen Kreisen weitere Publikationsmöglichkeiten. So schrieb Van Roosbroeck regelmäßig in einer Kulturzeitschrift eines Dominikaners, sowie in einer weiteren, die von einem Priester und Dichter herausgegeben wurde.35 Diese Beiträge behandelten sowohl historische Themen als auch Kommentare zu aktuellen Ereignissen. Auch die Prämonstratenser, die in Averbode einen eigenen Verlag hatten, boten ihm Hilfe an. Jahrelang sollte Van Roosbroeck Beiträge über historische Personen und Ereignisse für deren Wochenblatt und Jugendschriften liefern. Außerdem gab die Abtei zu Tongerlo eine Monatsschrift heraus, in der Van Roosbroeck zehn Jahre lang über die aktuelle Politik schrieb und einen historischen Fortsetzungsroman über den Burgunderherzog Karl den Kühnen publizierte. Selbstverständlich erschienen alle diese Beiträge auch unter einem Decknamen oder unter Verwendung fiktiver Initialen.36 1954 trat in Van Roosbroecks Situation eine wesentliche Veränderung ein. Vermutlich durch die Fürsprache von Pieter Geyl und mit Zustimmung des niederländischen Justizministers wurde ihm der offizielle Aufenthalt im Land gestattet, unter der Auflage, sich wöchentlich bei der Polizei zu melden. Mit erneuter Unterstützung der Brabantia Nostra-Bewegung und mit Hilfe des Pfarrers konnte er sich in Oosterhout (Nord-Brabant) niederlassen. Nun konnte Van Roosbroeck sich langsam zu erkennen geben und allmählich wieder unter seinem eigenen Namen in Flandern publizieren, obwohl ihm die Einreise nach Belgien noch immer nicht möglich war. Inzwischen hatte er mit Franz Petri Kontakt aufgenommen, wodurch sich ihm neue Möglichkeiten eröffneten. Vermutlich über Vermittlung des Historikers →Harold Steinacker (1875–1965) erschien im Januar 1959 Van Roosbroecks erster deutschsprachiger Beitrag der Nachkriegs-

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zeit in der von Josef Papesch (1893–1968) in Graz herausgegebenen rechtsextremen Monatsschrift Aula,37 in dem er die Rolle Kaiser Karls V. in den Niederlanden kurz zusammenfasste.38 Die Kontakte mit Deutschland verstärkten sich daraufhin sehr schnell, wobei zwei Personen aus Hamburg eine zentrale Rolle spielten. Die erste war der Historiker Gustav Adolf Rein (1885–1979), ehemaliger Rektor der Universität Hamburg, Nationalsozialist, Befürworter einer NS-Universität und nach dem Krieg Mitbegründer der Ranke-Gesellschaft, einer Gruppierung rechtskonservativer Historiker. Dank ihm konnte Van Roosbroeck regelmäßig Rezensionen für Das Historisch-Politische Buch (HPB) verfassen, eine Publikation der neu gegründeten Vereinigung.39 Rein half dem Flamen auch bei der Veröffentlichung seines ersten in Deutschland nach dem Krieg erschienenen Buches; es behandelte das Leben von Wilhelm von Oranien, ein Thema, das ihn sein Leben lang faszinieren sollte.40 Schließlich wurde auch Van Roosbroeck Mitglied der Ranke-Gesellschaft und regelmäßig zu den Büdinger Gesprächen, den in Kooperation mit der Vereinigung organisierten historischen Kolloquien, eingeladen.41 Der Großteil seiner Beiträge befasste sich mit der Rolle der niederländischen Migranten in Deutschland Ende des 16. Jahrhunderts, ebenfalls ein Hauptthema im Werk von Van Roosbroeck.42 Der andere Hamburger, der Van Roosbroeck unter die Arme griff, war der Unternehmer, Reeder und Mäzen →Alfred C. Toepfer.43 Dieser Mann hatte Jugendherbergen finanziert und eine Reihe von Stiftungen für die Verleihung von Literatur- und Wissenschaftspreisen ins Leben gerufen. Der Flame wurde sein Vertrauensmann in Bezug auf den für niederländische, flämische und niederdeutsche Künstler und Wissenschaftler bestimmten Vondel-Preis.44 Zwar wurde Van Roosbroeck selbst nicht als Mitglied des Kuratoriums zugelassen, doch sollte er Toepfer lange Zeit über mögliche flämische Mitglieder des Kuratoriums oder potentielle flämische Preisträger beraten. Ab 1959 begann Van Roosbroeck auch in flämischen Zeitschriften wieder unter seinem eigenen Namen zu publizieren45, und drei Jahre später erschienen in den Niederlanden und in Belgien seine beiden kurzen Biographien von Wilhelm von Oranien. Doch noch immer konnte der Historiker nicht offiziell nach Belgien reisen. 1965 wäre es Van Roosbroeck höchstwahrscheinlich möglich gewesen, durch ein Gnadengesuch rehabilitiert zu werden. Obwohl ihn einige einflussreiche flämische Freunde dazu drängten, weigerte er sich aus Abneigung gegen den belgischen Staat, diesen Schritt zu tun. Er bestand darauf, ‚seinen Schild rein zu halten‘. Vier Jahre später wurde ihm jedoch auf sein Ersuchen die Genehmigung erteilt, gelegentlich nach Belgien zu kommen – jeweils auf Antrag und unter der Bedingung, nicht offiziell an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. 1968 erschien in Flandern beim angesehenen Davidsfonds das Resultat seiner beinahe lebenslangen Forschungen zum Schicksal der niederländischen Emigranten in Deutschland im 16. Jahrhundert.46 Das Buch wurde in Flandern und Deutschland positiv aufgenommen, doch kam es, entgegen Petris Wunsch, nie zu einer

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deutschen Übersetzung. Zudem sah sich Van Roosbroeck ein Jahr später mit heftigem Widerstand konfrontiert. Der Heideland-Verlag hatte dem Historiker vorgeschlagen, unter seiner Leitung eine komplett überarbeitete Fassung der Geschichte Flanderns herauszugeben.47 Einige der ausgewählten Projektmitarbeiter waren jedoch mit dem von Van Roosbroeck vorgeschlagenen Konzept nicht einverstanden und verweigerten die Mitarbeit. Letztendlich blieb Van Roosbroeck zwar für einige Teile verantwortlich, doch mit der allgemeinen Projektleitung wurde der flämische Kulturphilosoph Max Lamberty (1893–1975) betraut.48 Inzwischen hatte sich Van Roosbroeck in Oosterhout gut eingelebt. Mit seiner früheren Erfahrung als Lehrer für Heimatkunde war er der geeignete Mann, um auch in Oosterhout auf diesem Gebiet tätig zu sein. Er setzte sich für die Gründung eines lokalen Heimatkreises ein und wurde zu dessen erstem Präsidenten ernannt. Gegen Ende seines Lebens wurden Van Roosbroeck von verschiedenen Seiten Ehrungen zuteil. 1969 wurde ihm auf Fürsprache von Alfred C. Toepfer die RankeMedaille verliehen, und 1978 erhielt der flämische Historiker anlässlich seines 80. Geburtstages die Vondel-Medaille, eine Ehrenmedaille der Vlaamse Cultuurgemeenschap49, sowie die Goldene Nadel der Gemeinde Oosterhout. Van Roosbroeck bekam aber auch noch einmal Gegenwind zu spüren. Als das niederländische Fernsehen 1984 anlässlich des 400. Jahrestags des Mordanschlags auf Wilhelm von Oranien eine Fernsehserie über das Leben des niederländischen ‚Vaters des Vaterlandes‘ vorbereitete, wurde der Flame als Berater beigezogen. Dabei durchleuchteten Journalisten die Vergangenheit des Historikers und enthüllten davon in Artikeln einige bis dahin in den Niederlanden unbekannte Aspekte. Van Roosbroeck fühlte sich dadurch tief gekränkt und ungerecht behandelt. Vier Jahre später starb er. Seine sterblichen Überreste wurden nach Antwerpen überführt und dort im engen Kreis auf dem Schoonselhof beigesetzt. Er hatte für seine Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland einen hohen Preis bezahlt.

Armand Van Nimmen (Übersetzung aus dem Niederländischen: Christine Hermann)

1 Vgl. Jeroen Koch, Koning Willem I. 1772–1843, Amsterdam 2013. 2 Als kürzlich erschienene Publikation über die Periode 1815–1830 mit Beiträgen von Niederländern und Flamen vgl. Aerts Remieg (Hg. u.a.), Het (on)Verenigd Koninkrijk, Rekkem 2015. 3 Der Widerstand der Orangisten gegen die Revolution von 1830 und ihre Versuche, wieder bei den Niederlanden Anschluss zu finden, werden ausführlich behandelt in Els Wittes meisterhafter Studie: Het verloren Koninkrijk, Antwerpen 2014. 4 Jan Frans Willems (1793–1846), Verfasser von Flugschriften, und Ferdinand Augustijn Snellaert (1809–1872), Arzt und Schriftsteller, sind also zu zwei Wegbereiter der „Flämischen Bewegung“ geworden. 5 Für eine kürzlich erschienene Analyse der Entstehung des Romans und seiner Rezeption in Belgien und in anderen europäischen Ländern, siehe: Ludo Simons, ‚Hij leerde zijn volk lezen‘. Cons-

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cience: een groot schrijver of een mythe?, in: Karel Wauters, Verhalen voor Vlaanderen, Kapellen 1997, S. 11–32. 6 Typisch hierfür sind beispielsweise die Schriften von Pater Stracke, „Volksslaap en -ontwaken“ (1913) und „Arm Vlaanderen“ (1914). 7 Zu biographischen Daten über Van Roosbroeck, vgl. Armand Van Nimmen, Roosbroeck, Robert Gaston Emile van, historicus, hoogleraar, journalist, in: Nationaal Biografisch Woordenboek, Bd. 19, Brüssel 2009, S. 795–811, und: Ders., Rob Van Roosbroeck en tijdgenoten – Het verdriet van Vlaanderen, Gent 2014. 8 „Flamingant“ war ursprünglich eine pejorative Bezeichnung für Flamen, die sich dem französischen Einfluss widersetzten. Später verwendeten Flämischgesinnte diesen Begriff als positiv konnotierte Selbstbezeichnung. 9 Ein sehr informatives Werk zur Rolle der Flamenpolitik ist Lode Wils, Flamenpolitik en Aktivisme, Leuven 1974. 10 1921 wurde die Wochenschrift umbenannt in ‚De Ploeg‘. 11 Weltjugendliga, die Monatsschrift der pazifistischen Bewegung in Deutschland und Österreich, erschien erstmals am 15. November 1919 in Berlin und wurde von dem Pazifisten Artur Zickler (1897–1963) herausgegeben. Die Zeitschrift Vivos voco wurde 1919 in Leipzig von den Freunden Hermann Hesse (1877–1962) und Richard Woltereck (1877–1944) gegründet. 12 Die Grundsätze der Berliner Volkshochschule wurden beschrieben in: Aus der Jugendbewegung und Erziehungsreform, Vivos voco, (1919) 1, S. 262f. 13 De kroniek van Godevaert van Haecht over de troebelen van 1565 tot 1574 te Antwerpen, ingeleid en toegelicht door Rob. Van Roosbroeck, Bd. 1 und 2, Antwerpen 1929–1930. 14 Het Wonderjaar te Antwerpen (1566–1567), Antwerpen u.a. 1930. 15 Marta Baerlecken/Ulrich Tiedau, Das Deutsch-Niederländische Forschungsinstitut an der Universität Köln 1931–1945 und der Aufbau des Faches Niederlandistik in der frühen Bundesrepublik, in: Burkhard Dietz (Hg. u.a.), Griff nach dem Westen. Die ‚Westforschung‘ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919–1960), 2. Bd., Münster u.a. 2003, S. 851–855. 16 Geschiedenis van Vlaanderen, onder leiding van Dr. R. Van Roosbroeck, Bd. 1 bis 5, De Standaard, Brussel, 1936–1940. Band 6 sollte erst nach Kriegsende (1949) erscheinen, ohne direkte Mitwirkung Van Roosbroecks. 17 Die beiden Hauptwerke Pieter Geyls zu diesem Thema sind: De Groot-Nederlandsche gedachte: historische en politieke beschouwingen, Haarlem 1925, und Geschiedenis van de Nederlandsche stam, 3 Bd., Amsterdam 1930–1937. In seinen Memoiren behauptet Geyl, er sei in dieser Angelegenheit für eine eher gemäßigte Lösung eingetreten. Unter Historikern entstand jedoch rasch eine Debatte darüber, ob der Niederländer diesen gemäßigten Standpunkt aus prinzipiellen oder eher aus taktischen Gründen – aufgrund der Einsicht, dass eine Teilung Belgiens in naher Zukunft nicht realistisch war – eingenommen hatte. Vgl. Jo Tollebeek, De toga van Fruin. Denken over geschiedenis in Nederland sinds 1860, Amsterdam 1996, S. 324–332. 18 Als Standardwerk über den VNV gilt: Bruno De Wever, Greep naar de macht. Vlaams-nationalisme en Nieuwe Orde. Het VNV 1933–1945, Tielt 1994. 19 Eine zusammenfassende Analyse über die Volkskunde jener Zeit stammt von Björn Roszka u.a., Volkskunde en Groot-Germaanse cultuurpolitiek in Vlaanderen 1934–1944, in: Bijdragen tot de Eigentijdse Geschiedenis 11 (2003), S. 71–100. Beiträge dieser beiden Autoren fanden übrigens auch Eingang in das oben erwähnte Werk: Dietz (Hg. u.a.), Griff nach dem Westen, Bd. 1, S. 291–323 und S. 447–471. Ich danke Barbara Henkes für ihren Kommentar. 20 Zu den Aktivitäten von De Vlag in jenen Jahren vgl. Frieda Meire, DeVlag vóór mei 1940, in: Belgisch Tijdschrift voor Nieuwste Geschiedenis (1982) 2/3, S. 419–466.

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21 Diese auf Niederländisch verfassten Berichte (Petri beherrschte diese Sprache) beinhalten Vorschläge für die Bereiche Unterricht, Verlagswesen und Bühnen- und Opernleben; vgl. Westfälisches Archivamt Münster, 914/56. 22 Dieser wiedereingerichtete Kulturrat stand unter der Leitung des extrem deutschgesinnten und nazifreundlichen Dichters und Priesters Cyriel Verschaeve (1874–1949). Ihm gehörten etliche prominente Kollaborateure an, darunter Jef Van de Wiele, Filip De Pillecyn und Antoon Jacob. Der Rat war als Gegenstück zur Deutschen Kulturkammer gedacht, verfügte jedoch über viel weniger Macht und Einfluss. 23 Wenngleich Van Roosbroeck nicht direkt in die Judenverfolgung in Flandern involviert war, so war er doch in seiner Funktion als Beigeordneter für das Schulwesen verantwortlich für die Durchführung der Segregationsmaßnahmen für jüdische Schulkinder und die anschließende Einführung des Judensterns in diesen Schulen. 24 Robert van Roosbroeck, Die Geschichte Flanderns, Jena 1942. 25 Eine detaillierte Beschreibung des belgischen Kulturlebens während der Besatzung findet sich in Herman van de Vijver, België in de Tweede Wereldoorlog, Bd. 8, Kapellen 1990. 26 Vgl. den Essay Marnix Beyen ‚Van Brunclair tot Peleman‘, in: Lukas De Vos (Hg. u.a.), Verbrande schrijvers, Gent 2009. Der darin verwendete Begriff „c-Kurve“ wurde von Jonathan Judaken, Intellectuals, Culture and the Vichy Years, in: Dennis Provencher (Hg. u.a.), Contemporary French Civilization 31 (2007) 2, S. 83–115 geprägt. 27 Roszka u.a., Volkskunde en Groot-Germaanse cultuurpolitiek, S. 93–96. 28 Über diese Galionsfigur der flämischen Kollaboration während des Zweiten Weltkrieges ist noch keine umfassende Biografie erschienen. Vgl. jedoch Frank Seberechts, Jef van de Wiele (1903–1979): een biografische schets, 2 Bd., in: Verschaeviana Jaarboek 1987, S. 181–203 und Jaarboek 1990–1991, S. 265–341. 29 Das Schloss gehörte Josias Prinz zu Waldeck und Pyrmont (1896–1967), einem überzeugten Nationalsozialisten, seit 1929 Mitglied der NSDAP und der SS. 1936 zum SS-Obergruppenführer befördert, war der Prinz seit 1939 verantwortlich für das Gebiet, in dem das KZ Buchenwald lag. Er hatte sein Schloss der SS als Lazarett zur Verfügung gestellt. Nach dem Eintreffen der Delegation aus Flandern wehte die Fahne mit dem Flämischen Löwen über dem Schloss. Vgl. Titus Malms, Belgische NS-Exilregierung im Schloss Pyrmont, in: Pyrmonter Nachrichten vom 13.8.2005, S. 33. 30 Als Hauptquelle für die Aktivitäten der „Landesleitung Flandern“ dient Willem C.M. Meyers, De Vlaamse Landsleiding. Een emigrantenregering in Duitsland na september 1944?, in: Bijdragen tot de Geschiedenis van de Tweede Wereldoorlog (1972) 2, S. 29–86, 59; Horst Wagners Aufzeichnungen über diese Zusammenkünfte sind in seiner Vortragsnotiz betr. Arbeiten der Landesleitung Flandern zu finden, vgl. ebd., S. 57. 31 Danach fanden jedoch noch zwei Zusammenkünfte der Landesleitung in Potsdam und Aussig (dem heuten Ústí nad Labem in der Tschechischen Republik) statt. 32 Die Brabanter (oder Brabantia Nostra) Bewegung war eine römisch-katholische Bewegung, die die Emanzipation von Nord-Brabant anstrebte und viele Anknüpfungspunkte an die Großniederländischen und die Flämischen Bewegung hatte. Vgl. J.L.G. van Oudheusden, Brabantia Nostra – 1935–1951, in: Bijdragen tot de geschiedenis van het Zuiden van Nederland, Tilburg 1990. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass die Landesleitung in ihren Zukunftsplänen vorgesehen hatte, dass Nord-Brabant zum Reichsgau Flandern gehören solle. Vgl. Meyers, De Vlaamse Landsleiding, S. 57. 33 Bemerkenswert ist, dass Albert Van de Poel mehr als ein Jahr im Konzentrationslager Neuengamme verbracht und über diese Erfahrungen Memoiren publiziert hatte. Vgl. Armand Van Nimmen, Raakpunten tussen twee journalistieke loopbanen. Albert Van de Poel en Rob Van Roosbroeck, in: Wetenschappelijke tijdingen 69 (2010) 3, S. 199–216.

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34 Brabantia Nostra, das ursprüngliche Organ der Bewegung wurde von 1948 bis 1950 ersetzt durch Edele Brabant. 35 Die Zeitschrift Kultuurleven stand unter der Leitung des Dominikaners Jan Hendrik Walgrave, während der Priester und Dichter José Aerts (besser bekannt als Albert Westerlinck) Redaktionssekretär von Dietsche Warande en Belfort war. 36 Insgesamt publizierte Van Roosbroeck unter rund zwanzig Pseudonymen oder fiktiven Initialen. 37 Josef Papesch war ein österreichischer Schriftsteller, seit 1934 Mitglied der damals noch illegalen NSDAP und 1938 von den Nazis als Kulturlandesrat im Reichsgau Steiermark eingesetzt. 2016 wurde in Aula noch eine Buchrezension veröffentlicht, in der die 1945 befreiten Häftlinge des KZ Mauthausen als „Kriminelle“, „Massenmörder“ und „Landplage“ beschrieben wurden. Dies verursachte beträchtliche Aufregung in der Presse (vgl. Standard vom 8.2.2016) und führte zu einer parlamentarischen Anfrage. 38 Dr. R. von Roosbroeck (sic), Kaiser Karl V. in niederländischer Sicht, in: Aula 9 (1959), S. 7–8. 39 Dieser Vereinigung gehörten eine Reihe rechtsgerichteter Historiker und Personen an, die in unterschiedlichem Ausmaß mit den Nazis zusammengearbeitet hatten. Vgl. Michael Salewski, Die Ranke-Gesellschaft und ein halbes Jahrhundert, in: Jürgen Elvert (Hg. u.a.), Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2003, S. 124–142. 40 Robert van Roosbroeck, Wilhelm von Oranien. Der Rebell, Persönlichkeit und Geschichte, Bd. 15, Göttingen 1959. 41 Helmuth Rössler (1910–1968) und Friedrich Wilhelm Euler (1908–1995), zwei völkisch orientierte Historiker mit einer etwas fragwürdigen nationalsozialistischen Vergangenheit, wirkten ebenfalls bei den Büdinger Gesprächen mit. 42 Van Roosbroecks Beiträge wurden in den Sammelbänden „Büdinger Vorträge“ im C.A. Starke Verlag, Limburg/Lahn, 1968, 1970 und 1973 herausgegeben. 43 Vgl. Jan Zimmermann, Alfred Toepfer, Hamburg 2008 oder – kritischer – Dirk Hoeges, Die Menschenrechte und ihre Feinde, Köln 2013, S. 153–208 und Karl Heinz Roth u.a., Völkische Netzwerke: Alfred Toepfer und das Stiftungsunternehmen ACT/F.V.S. Eine Forschungsbilanz, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 64 (2016) 3, S. 213–234. 44 Zu Entstehung und Geschichte dieses Preises vgl. Georg Kaufmann, Der Joost-van-den-Vondel Preis 1960–2000, Hamburg 2001. 45 Eine dieser Zeitschriften war Periodiek, die Monatsschrift der Vereinigung flämischer Mediziner. Vermutlich konnte Van Roosbroeck darin auf Empfehlung von Leon Elaut (1897–1978) publizieren, eines mit dem Historiker befreundeten Arztes, der nach dem Krieg wegen seiner Unterstützung der „Neuen Ordnung“ angeklagt wurde. 46 Robert van Roosbroeck, Emigranten, Leuven 1968. 47 Der Redaktionssekretär dieses Verlages war Frans Van der Auwera (1914–1997), ein alter Bekannter des Historikers und ehemaliges Mitglied der Landesleitung. 48 Max Lamberty (Hg. u.a.), Twintig eeuwen Vlaanderen, 15 Bde., Hasselt 1972–1979. 49 Diese Institution stellte seit 1970 auf kulturellem Gebiet die staatrechtlich fundierte Zusammenfassung der flämischen Bevölkerung dar.

_____________________________________________________________________Fritz Rörig  657

Fritz Rörig Fritz Rörig wurde am 2. Oktober 1882 in St. Blasien im Schwarzwald geboren.1 Sein Vater war selbständiger Apotheker. Rörig wuchs in Barmen auf, wo er 1901 sein Abitur ablegte. Er studierte Geschichte und Nationalökonomie in Tübingen, Göttingen und Leipzig bei Georg von Below, Konrad Beyerle und Gerhard Seeliger, bei dem er 1906 mit einer Arbeit über „Die Entstehung der Landeshoheit des Trierer Erzbischofs“ promovierte. Nach Hilfsbibliothekars- und Archivassistentenposten in Leipzig und Metz wurde er 1911 für sieben Jahre Archivar im Staatsarchiv Lübeck. Ohne Habilitation wurde er 1918 mit 36 Jahren zum außerordentlichen Professor für historische Hilfswissenschaften in Leipzig berufen. 1923 erhielt er das Ordinariat für mittlere und neuere Geschichte in Kiel und schließlich 1935 in Berlin den vakanten Lehrstuhl Erich Caspars, der aufgrund seiner rassistischen Verfolgung Suizid begangen hatte.2 Von →Albert Brackmann gefördert wurde Rörig ohne Habilitation berufen, was durch die neue Reichshabilitationsordnung vom Dezember 1934 sanktioniert war.3 Rörig war korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (1932) und ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften (1942). 1946 nahm er seine Lehrtätigkeit in Berlin wieder auf und lehrte bis zu seinem Tod 1952 an der Humboldt-Universität. Von 1948 bis 1952 leitete er die Arbeitsstelle der Monumenta Germaniae Historica (MGH) in Berlin. Bereits seit 1925 gehörte Rörig dem Vorstand des Hansischen Geschichtsvereins an. Für das nationalsozialistische Regime spielte Rörig als politischer Wissenschaftsmanager und Experte für die nordisch-völkische Ideologie und Geschichte eine zentrale Rolle.4 1936 wurde er in den Vorstand der →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG) als verantwortlicher Sektionsleiter „Ostsee“ berufen. Als Gebietsführer war er für die Überwachung des wissenschaftlichen Betriebs in seiner Region im Sinne „kämpfender NS-Wissenschaft“ zuständig.5 Er war Mitherausgeber der Zeitschrift →Jomsburg und gehörte dem Wissenschaftlichen Beirat der Gesellschaft für europäische Wirtschaftsplanung und Großraumwirtschaft e.V. unter der Leitung von Werner Daitz sowie der Abteilung Hansische Geschichte des Reichsinstituts für Seegeltungsforschung (Edmund Zechlin) an. Noch 1944 wurde Rörig von der obersten SS-Führung als Dozent an der SS-Junkerschule in Bad Tölz für die weltanschauliche Erziehung der SS-Führungsanwärter („germanische Junker“) eingesetzt.6 Fritz Rörigs mediävistisches Lehrgebäude engte Stadtentwicklung allein auf die aus den alten Römerstädten hervorgegangenen Bischofsstädte im Westen des Reiches ein.7 Eine überlegene, finanziell unabhängige, vermögende, gegen die bischöfliche Stadtherrschaft kämpfende Schicht von Fernkaufleuten taucht bei ihm unvermittelt als Führerin und Stoßtrupp für die gesamte Stadtbevölkerung auf. Rörig verklärte den frühen, fahrenden und noch schriftunkundigen, niederdeutschen Fernhändler zu einem geschichtsbestimmenden, politischen Führertypen und wa-

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genden, kraftstrotzenden, jede Konkurrenz aus dem Feld schlagenden Unternehmerpionier.8 Dieser paradigmatische Kern bildete die Blaupause für die Erfindung kapitalistischer, die Städte gründender Unternehmerkonsortien. Sie stellten vom Beginn an in „Gründungsstädten“ eine Behörde, waren die Obrigkeit und beherrschten als Rat die Städte bürgerlich-aristokratisch.9 Die lange Zeit sukzessiver Emanzipation mittelalterlicher Städte von ihren jeweiligen Stadtherren, dessen Ministerialen, in den Städten sitzenden Adligen und den Domkapiteln war bei Rörig nicht vorgesehen.10 Dieser überlegene Fernkaufmann aus dem westfälischen „Altdeutschland“ sei von einem höheren Drang nach Osten beseelt gewesen, der von den höchsten Mächten, nämlich Reich und Volk, ausgegangen sei und ihn auf diese Weise mit einer Hanse-Idee erfüllte. „Das Ganze“ – der mystisch-völkische Hanseplan als solcher – existierte für ihn vor „den Teilen“, die der deutsche Kaufmann gemäß Plan als „organisches“ Netzwerk deutscher Städte entlang der Ostseeküsten schuf.11 Es handelte sich nicht um entwicklungsgeschichtliche mittelalterliche Stadtund Handelsgeschichte, sondern um die städtischen Stützpunkte einer die Ostseekonkurrenz ausschaltenden, die Ostsee beherrschenden, niederdeutschen Pioniertruppe als Vorläuferin neuzeitlicher deutscher Eroberungspläne. Es ging ihm um die Darstellung einer „Großraumwirtschaft“ schaffenden Hanse als historische Vorläuferin der angestrebten kontinentaleuropäischen Großraumwirtschaft unter deutscher NS-Herrschaft. Rörigs Stadt- und Hanselehre geriet zu einer wissenschaftlich kaschierten Geschichtsklitterung im Dienste aggressiver Strategien und Eroberungspläne für das Dritte Reich.12 Sowohl während als auch nach der NS-Zeit polemisierte Rörig gezielt gegen einen sogenannten „Bücher-Sombartschen Komplex“. Sowohl Karl Bücher, als auch Werner Sombart, dazu noch im Wesentlichen die Schifffahrts- und Hansehistoriker der wilhelminischen Ära praktizierten die korrekte wissenschaftliche Methodik, historische Phänomene in ihrem Entstehen und Wachsen unter den Bedingungen ihrer räumlichen und zeitlichen gesellschaftlichen Einbindung zu untersuchen. Rörig war vor allem deren mittelalterlich-entwicklungsgeschichtliche Analyse ein Dorn im Auge, da sie seinen Mystifizierungen von Kaufmann und Hanse im Wege standen. Diese bei der Legendenbildung um den Fernkaufmann nicht geeignete historische Methode wurde von Rörig bewusst bekämpft.13 Diese Zusammenfassung Rörigscher Lehre aus der Weimarer Epoche und der nationalsozialistischen Zeit erklärt aber noch nicht die Änderungen seiner Geschichtsvorstellung nach dem zweiten Weltkrieg bis zu seinem Tod 1952. Aus den ersten Schriften Rörigs nach dem Krieg 1946 und 1947 ist herauszulesen, wie sich Rörig den neuen Gegebenheiten sprachlich anpasste:14 Erstens trat der Kontrolleur der nationalsozialistischen Wissenschaftsausrichtung15 und SS-Schulungsexperte zwei Jahre später so auf, als habe er nie dazugehört. Er legte die völkisch-rassische und nordisch-germanische Diktion ab. Dazu versah er das NS-System mit Etiketten, die offenbar einen Gesinnungswandel, Geg-

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nerschaft und Abscheu vorspielten: Hitler sei eine „ins Verbrecherische umgebogene Karikatur“; das Reich sei ein „zynisches, grausames Zerrbild Hitlerscher Konzeption“ gewesen. Dabei unterblieb grundsätzlich die inhaltliche Auseinandersetzung mit der NS-Weltanschauung oder die Aufarbeitung der eigenen Rolle im Regime. Es fehlte jedes Zugeständnis von Mitverantwortung oder Schuld am Krieg, jegliche Empathie gegenüber den Opfern des nationalsozialistischen Terrors. Zweitens passte Rörig nunmehr Sprachgebrauch und Wortwahl westlich-demokratisch an. Er sah nun „einen wahrhaft demokratischen deutschen Staat“ mit Platz in „einer demokratischen Welt“. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich dieses neue demokratische Deutschland jedoch als die Neuauflage des Reiches im Sinne Bismarcks und der klein- oder großdeutschen Vorstellungen der 1848er. Zum Vorbild erklärt er nun das mittelalterliche deutsche Königreich, das er mit der Tradition von Nation und Nationalstaat in eins setzte, wovon das mittelalterliche Reich allerdings weit entfernt war. Das neue Deutschland müsse nicht „Reich“ heißen, aber es müsse die Reichseinheit des „Volkskörpers“, die Einheit von Volk und Staat der Deutschen darstellen, in der breite Volkskreise, vor allem die Arbeiterschaft, sich mit ihrem Reich leidenschaftlich und mit festem Willen identifizieren.16 Er griff somit auf die Reichsideologie der zwanziger Jahre zurück, die er bereits in seinen Festreden 1928 und 1929 verwandt hatte.17 Drittens änderte sich an der Substanz seiner Hansedeutung indes kaum etwas. Der Kaufmann wurde weiterhin heroisiert. Die Hanse blieb ein ursprüngliches „Ganzes ohne Teile“, getragen von einer „verehrungswürdigen Ursubstanz hansischen Seins“ und durchdrungen von „hansischem Geist“. Die entscheidende Anpassung an die Nachkriegsverhältnisse besteht darin, dass die Hansekaufleute nicht mehr im Sinne der →Ostforschung eine Speerspitze gewaltsamer Osteroberung waren, sondern nun dem Osten als allseitig wirtschaftlich, kommerziell und kulturell überlegene Akteure die Errungenschaften des christlichen Abendlandes vermittelten. Rörig wurde nach dem Krieg eine Autorität für diejenigen, die sich aus der Verantwortung stahlen, und ihre alte Ideologie der neuen Zeit anpassten. So erklärt sich, dass Rörig als Meinungsführer der →Hanseforschung und Doyen einer umfangreichen historischen Schule auch nach dem Krieg weiterarbeiten konnte, – sowohl im Westen als auch in der damaligen DDR.18 Rörigs Einfluss reicht bis in die heutige Zeit und er wird immer noch bemerkenswerterweise kontrovers diskutiert.

Reinhard Paulsen

1 Zu den Lebensdaten und dem beruflichen Werdegang von Rörig: Birgit Noodt, Fritz Rörig (1882– 1952): Lübeck, Hanse und Volksgeschichte, in: ZVLGA 97 (2007), S. 155–180; Pauler, Roland, „Rörig, Fritz Hermann“ in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 736–737 [Onlinefassung]; http://www. deutsche-biographie.de/pnd116593113.html (25.8.2016); Nachruf: Fritz Rörig und die Lübeckische Geschichte, in: ZVLGA 33 (1952), S. 7–12; Ahasver von Brandt, Fritz Rörig †. Worte des Gedenkens,

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gesprochen auf der Hansischen Pfingstversammlung in Höxter, am 3. Juni 1952, in: HGbl. 71 (1952), S. 1–8. 2 Am 22.1.1935 nahm sich Caspar, „der seine teilweise jüdische Herkunft verschwiegen hatte“, in Berlin das Leben: Michael Grüttner u.a., Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933–1945, in: VfZ 55 (2007), S. 123–186, 154. 3 Diese RHO trennte die „facultas docendi“, also die wissenschaftliche Lehrbefähigung, von der „venia legendi“, der staatlichen Lehrerlaubnis. Damit beruhte die Lehrerlaubnis nicht mehr auf der durch Habilitation nachgewiesenen „facultas docendi“. Die rassische Säuberung und nationalsozialistische Gleichschaltung der Universitäten wurde auch hiermit durch das Reichserziehungsministerium direkter steuerbar: Michael Hartmer, Das Recht des wissenschaftlichen Nachwuchses, in: HSchR-Praxishandbuch, Heidelberg 20112, S. 199–244, 213; Grüttner u.a., Die Vertreibung von Wissenschaftlern S. 135. 4 Eine Zusammenstellung von Rörigs Engagement im und für den NS Staat mit Literaturnachweisen: Reinhard Paulsen, Die Koggendiskussion in der Forschung. Methodische Probleme und ideologische Verzerrungen, in: HGbll. 128 (2010), S. 19–112, 77–81. 5 Walter Frank, Kämpfende Wissenschaft. Mit einer Vor-Rede des Reichsjugendführers Baldur von Schirach, Hamburg, 1934. 6 Die Vortragsreihe stand unter den Leitgedanken „germanische Gemeinsamkeit“, „gemeinsame Aufgaben im Osten“ und „geistige Einheit des Germanentums“: Fritz Rörig, Die Hanse im europäischen Raum, in: Der Reichsführer-SS, SS-Hauptamt (Hg.), Germanische Gemeinsamkeit. Vorträge gehalten an der SS-Junkerschule Tölz, Posen 1944, S. 94–117. 7 Zu den Frühformen und Typen der mittelalterlichen Stadt: Evamaria Engel, Die deutsche Stadt im Mittelalter, München 1993 (Neudruck Düsseldorf 2005), S. 17–38; Edith Ennen, Die europäische Stadt des Mittelalters, Göttingen 19874. 8 Solche Kennzeichnungen benutzte Rörig durchgehend von seinen frühen Schriften bis zu seiner letzten: Fritz Rörig, Die Hanse, ihre europäische und nationale Bedeutung, in: Deutsche Rundschau 188 (1921), S. 265–277 („deutscher Charakter“, „klarer Wille“ (268), „Geist wirtschaftlicher Expansion und ungebundener Handelsfreiheit“ (269)). ders.(†), Die Stadt in der deutschen Geschichte, in: ZVLGA 33 (1952), S. 13–32: „Führer und Stoßtrupp für die gesamte Stadtbevölkerung“ (17); „diesen kraftstrotzenden wirtschaftlichen und politischen Pionieren …“ (18). In der Grundsatzrede von 1928: ders., Die geistigen Grundlagen der hansischen Vormachtstellung, in: HZ 139 (1929), S. 242–251: Leistungsfähigkeit „in Gesinnung und geistiger Haltung“ (243); durch genossenschaftliche Struktur „jene starke Blutsgemeinschaft“ und „starke seelische und geistige Kräfte: echter wagender Unternehmergeist“ (246); ein Wirtschaft und Handel tragendes „starkes Individuum“ (248); „die kräftigsten Führer“, – die hansische Leitung – erhalten das Gewonnene „fast über das Menschenmögliche hinaus“; es wirkte „der schaffende Geist in übersprudelnder Kraftentfaltung“ (250). 9 Rörig bezeichnet die Hansestädte als „aristokratische Stadtrepubliken“: Fritz Rörig, Bürgertum und Staat in der älteren deutschen Geschichte. Rede zur Reichsgründungsfeier gehalten an der Christian-Albrechts-Universität am 18.1.1928, Kiel 1928. 10 Bereits in seiner ersten bedeutenderen wissenschaftlichen Veröffentlichung von 1915 unterstellte Rörig für Lübeck ein „kapitalistisches Unternehmerkonsortium“: Fritz Rörig, Lübeck und der Ursprung der Ratsverfassung, in: Rörig, Hansische Beiträge zur deutschen Wirtschaftsgeschichte, Breslau 1928, S. 11–39, 23. Zu Rörigs Theorie kaufmännischer Gründungsunternehmerkonsortien grundsätzlich: Reinhard Paulsen, Schifffahrt, Hanse und Europa im Mittelalter. Schiffe am Beispiel Hamburgs, europäische Entwicklungslinien und die Forschung in Deutschland, Wien u.a. 2016, S. 608–628. 11 Diese mystische, völkische Sicht der Hanse trug Rörig zusammenhängend 1928 unter dem Titel „Die geistigen Grundlagen der hansischen Vormachtstellung“ auf dem internationalen Historikerkongress in Oslo vor: Fritz Rörig, Die geistigen Grundlagen der hansischen Vormachtstellung (wie

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Anm. 8). Das scheinphilosophische Gerede vom „Ganzen ohne Teile“ wiederholte Rörig als eingängiges Diktum bis zum Ende immer wieder. 12 1944 sprach Rörig von „hansischer Großraumwirtschaft“: Fritz Rörig, Volk, Raum und politische Ordnung in der deutschen Hanse, Berlin 1944, S. 16. 13 Es handelt sich um den Historiker Karl Bücher und den Nationalökonomen Werner Sombart (Karl Bücher, Die Entstehung der Volkswirtschaft. Vorträge und Aufsätze. Erste Sammlung, Tübingen 192014 und Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus: historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Erster Band (in zwei Halbbänden): Die vorkapitalistische Wirtschaft, München u.a. 19287). Die Polemiken Rörigs in: Fritz Rörig, Wandlungen der Hansischen Geschichtsforschung seit der Jahrhundertwende, in: Hermann Aubin u.a. (Hg. u.a.), Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg, Bd. 1, Leipzig 1942, S. 421–445, 422–425; Fritz Rörig, Stand und Aufgaben der hansischen Geschichtsforschung (1947), in: HGbll. 69 (1950), S. 1–13, 4. Rörig, Die Stadt in der deutschen Geschichte (wie Anm. 8), S. 23–24. Zu der Kritik an Bücher und Sombart: Paulsen, Schifffahrt, Hanse und Europa im Mittelalter, S. 535–545. 14 Es handelt sich um eine Serie von Zeitungsartikeln von 1946 und ein Grundsatzreferat im Hansischen Geschichtsverein 1947: Fritz Rörig, Geschichte und Gegenwart. Eine Aufsatzfolge aus der „Täglichen Rundschau“, Berlin 1946; ders., Stand und Aufgaben der hansischen Geschichtsforschung (1947), in: HGbll. 69 (1950), S. 1–14. Zu den Wandlungen Rörigs: Paulsen, Schifffahrt, Hanse und Europa im Mittelalter, S. 529–535. 15 Im Sinne von Walter Frank, Kämpfende Wissenschaft. 16 Fritz Rörig, Das „Reich“ und das deutsche Gegenwartsproblem, in: Rörig, Geschichte und Gegenwart (wie Anm. 14), S. 11–17. 17 ders., Bürgertum und Staat; ders., Vom Werden deutscher Staatlichkeit. Rede zur 10-jährigen Verfassungsfeier gehalten an der Christian-Albrechts-Universität am 24.7.1929, Kiel 1929. 18 Eckhard Müller-Mertens, Die Hanse in europäischer Sicht. Zu den konzeptionellen Neuansätzen der Nachkriegszeit und zu Rörigs Konzept, in: Eckhard Müller-Mertens (Hg. u.a.), Konzeptionelle Ansätze der Hanse-Historiographie, Trier 2003, S. 19–43; Eckhard Müller-Mertens, Hansische Arbeitsgemeinschaft 1955 bis 1990. Reminiszenzen und Analysen, Trier 2011.

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Hans Rothfels Hans Rothfels, geboren am 12. April 1891 als Sohn jüdischer Eltern in Kassel, konvertierte 1910 zum Protestantismus. Sein Vater Max Rothfels war Justizrat und nahm aktiv am Gemeindeleben der jüdischen Synagoge in Kassel teil. Mentalitätsgeschichtlich gehört sein Sohn Hans Rothfels der „Frontkämpfergeneration“ an. Bevor er sein Geschichtsstudium bei Friedrich Meinecke abschloss, meldete er sich 1914 freiwillig zum Militär. Als Unteroffizier nahm er an der Marne-Schlacht teil, verlor ein Bein und wurde dekoriert. Schließlich promovierte er 1918 über den Militärhistoriker Carl von Clausewitz bei Friedrich Meinecke, dem damaligen „Nestor“ der deutschen Historiker.1 Seine erste Anstellung in dem 1920 neu gegründeten Potsdamer Reichsarchiv war mit der Aufgabe verbunden, die Geschichte des Deutschen Reiches seit 1867/ 1871 aufzuarbeiten, was Rothfels im Geist seiner Zeit produktiv umsetzte. Seine vielfältigen Arbeiten über Bismarcks Reichsgründung blieben dem Stil verpflichtet, die Geschichte der Reichsgründung und dessen Kanzlerschaft als vorläufigen Höhepunkt der deutschen Geschichte auszuweisen. Die Weimarer Republik lehnte Rothfels im Gegensatz zu seinem Förderer Friedrich Meinecke, der selbst an der Reichsverfassung mitgearbeitet hatte, ab. Meinecke wies nur die direkte Partizipation der Sozialdemokratie zurück und sah in der starken Position des Reichspräsidenten in Verbindung mit alten, bürgerlichen Elite einen gangbaren Weg.2 Das sah Rothfels 1922 anders. Wolfgang Kapp war für ihn kein Fanatiker, sondern ein Patriot, der über Bismarcks Hannoveraner Studenten-Korps als Beamter in das preußische Finanzministerium gelangte, ein Rittergut in Ostpreußen erwarb und 1919 den rechten Flügel der DNVP im Reichstag vertrat. Seinen Sinn für Bürgerlichkeit, Staatlichkeit und dessen Parteinahme für die konservative Agrarordnung Preußens sah Rothfels als Triebfedern an, warum Kapp nach 1914 den U-Bootkrieg befürwortete, die Ansiedlungsgesetze unterstützte und die Sozialdemokratie ablehnte. Rothfels lobte, dass Kapp das ländliche Proletariat durch das Ansiedlungsgesetz an die alte Agrarordnung band. Die Idee, die Armen auf der Scholle zu halten, habe der Sozialdemokratie das Potential entzogen. Am Ende seines biographischen Abrisses sprach Rothfels klar aus, warum er 1919 für Kapp voreingenommen war: Dieser „hat nie hinter Fiktionen sich versteckt, er hat nie behauptet, die Verfassung bloß ‚ausführen‘ zu wollen, sondern sich unverhohlen zu ihrem Sturze bekannt“.3 Das Gebot der Werturteilsfreiheit des Historismus war Rothfels fremd. Das Problem der Werterelativität löste er einseitig: Zum einen liebte er politische Stellungnahmen, zum anderen griff er die Ansätze kritischer Historiker an, insbesondere derjenigen, die bereits im Kaiserreich für den Verständigungsfrieden eingetreten waren und nun in Verbindung mit ihren demokratischen Schülern über die Fehler der deutschen Kriegszielpolitik von 1914 reflektierten. Er veröffentlichte in Justus Hashagens „Kriegsschuldfrage“, der Monatsschrift für internationale Aufklärung

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des Auswärtigen Amtes, wo er die Verständigungspolitik Bethmann-Hollwegs angriff.4 Dagegen hielt Hans Delbrück fest, die deutsche Diplomatie habe aufgrund der überhitzten Flottenbaupolitik die englischen Bündnisgesuche nicht erkannt. Das war für Rothfels nur eine „captatio benevolentiae“ gegenüber den Siegermächten.5 Politisch gehörte Rothfels zum Spektrum der radikalen Rechtsopposition. So trat er dem Deutschen Herrenklub bei, der ihn mit →Arthur Moeller van den Bruck, →Max Hildebert Boehm und Freiherr von Gleichen in Verbindung brachte.6 In diesem Kreis lehnte er das parlamentarische System und Stresemanns europäische Verständigungspolitik ab: „Parlamentarismus und Internationalismus sind Fiktionen“. Er plädierte für eine Sammlung der bürgerlichen Rechten, „um die Spannung auf ein im Staat geeintes und nach außen autonom dargestelltes Volkstum zu erhalten“.7 Die Alternative, für die Rothfels eintrat, setzte auf eine föderative Reichsidee, welche die osteuropäischen Nationen unter deutscher Führung zusammenschließen sollte. Polen galt ihm als „barbarischer Osten“.8 Seine eigenen Aktivitäten in den baltischen Staaten folgten den Werbungsversuchen des „Herrenklubs“ und der von der Berliner Motzstraße ausgehenden Instrumentalisierung der Auslandsdeutschen für großdeutsche Zwecke. Im Baltikum wollten Martin Spahn, mit dem Rothfels publizierte, und Max Hildebert Boehm, den Rothfels schätzte, die Abgeordneten Axel de Vries (Estland) und Paul Schiemann (Lettland) beeinflussen, um von dort aus „Großdeutschland“ aufzubauen. Beide beriefen sich aber auf ihre Wahl als Vertreter der deutschen Minderheiten, die sie als „echte“ Minoritäten im Sinne des Völkerbundes begriffen. Das Auswärtige Amt, das mit Stresemann gerade den Dawes-Plan verhandelte, beobachtete diese Aktivitäten verärgert. Immerhin wollten Spahn und Boehm die deutschen Minderheiten zur gewaltsamen Abtrennung vom Mutterland und zum Anschluss bewegen.9 1927 trat Rothfels der „jungpreußischen Bewegung“ bei, dem ostpreußischen Herrenklub. Seine Hörerschaft beschrieb er als „die Großagrarier, die im Stande sind mit Hilfe eines bequemen Sofas und einer guten Zigarre zwei Vorträge am Tag ohne ernsten Schaden über sich ergehen zu lassen“.10 Mit seiner 1926 erworbenen Professur in Königsberg nahm Rothfels Einfluss auf die Historische Reichskommission, in die er 1930 auf Intervention Georg Schreibers als Vertreter Ostpreußens eintrat. Dort ging er in Opposition zu Friedrich Meinecke, Hermann Oncken und dessen demokratischen Mitarbeitern Gustav Mayer, Veit Valentin und Martin Hobohm. Er war empört, dass die Geschichte der Sozialistengesetze und der Weimarer Republik, aber nicht der aktuelle Grenzkampf und die Frage des Grenzdeutschtums auf der Agenda standen.11 Ab 1929 ging Rothfels über Salonreden hinaus. Er begeisterte sich für den Bund der „Frontkämpfer“ und die studentische Rechtsbewegung. Deren Anti-Young-Plan-Kundgebungen stufte die preußische Sozialdemokratie als Bedrohung ein.12 Den Beamten wurde untersagt, dort aufzutreten. Trotzdem sprach Rothfels am 28. Juni 1929 vor diesem Publikum über den „Schuldspruch im Versailler Frieden“.13 Als die „nationale Opposition“ im März

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1931 das Volksbegehren zur Auflösung des Preußischen Landtages ankündigte, marschierten die Königsberger Studenten mit.14 Ihr Anti-Versailles-Protest vom 7. Juli war eine klare „Verneinung des Staates“.15 Zwar versuchten die sozialdemokratischen und jüdischen Studenten sich den Demonstrationen auf dem Campus entgegenzustellen, wurden aber angegriffen. Als die Polizei die gewalttätigen Rechtsextremen entfernen wollte,16 stellte sich Rothfels zwischen die rechten Krawallmacher und die Polizei. Als die Polizei Rothfels bedrängte, warf sich Horst Krutschinna, der NS-Studentenführer und Initiator des Protestes, dazwischen.17 Kurz bevor das zweite Kabinett Brüning die Regierungsgeschäfte übernahm, traten Rothfels und seine Assistenten →Erich Maschke und →Rudolf Craemer der Ringbewegung bei, der Nachfolgerin des Herrenklubs.18 Diese Gruppe wollte den „Rückfall in das System der Parlamentsregierung“ verhindern.19 Nachdem Rothfels am 4. November 1931 einen Artikel von →Johann Wilhelm Mannhardt gelesen hatte, erklärte er sich „weitgehend d´accord.“20 Der Direktor des Instituts für Grenz- und Auslandsdeutschtum in Marburg lehnte Brüning ab.21 Ihm galt der Artikel 48 der Reichsverfassung als Hebel zum Präsidialregime. Indessen stand die Ringbewegung den Nationalsozialisten zwischen Januar und Mai 1932 skeptisch gegenüber. Umgekehrt nahm die NSDAP die Ringbewegung nicht ernst, weil sie ohne Massenbewegung war.22 Während sich Siegfried A. Kaehler bereits von der „Auffassung vom Volkstum“ distanzierte, die Mannhardt, Friedrich Weber und →Karl Haushofer vertraten,23 unterstützte Rothfels deren Visionen. Die „Neuordnung Europas“ sollte, wie Rothfels das in Anlehnung an Giselher Wirsing, den Vordenker des Tat-Kreises, festhielt, alle deutschen Volksgruppen von „Bukarest bis Reval“ einbeziehen. Ferner übernahm Rothfels aufgrund der Initiative seiner Schüler Erich Maschke und →Werner Conze die Königsberger Ortsgruppe des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA), um die Mitteleuropadoktrin der →Leipziger Stiftung deutsche für Volks- und Kulturbodenforschung umzusetzen.24 Unterdessen wählte Rothfels im zweiten Durchgang der Reichspräsidentenwahl im April 1932 nicht Hindenburg, sondern Hitler.25 Nur war der Preis des Erfolgs, die Weimarer Republik mit Hilfe der NS-Bewegung zu stürzen, weder von den Anhängern der Ringbewegung noch des Tat-Kreises einkalkuliert: nämlich der Aufstieg der NSDAP.26 Der Wandel der Ringbewegung, die NSDAP als Massenbasis für die Durchsetzung des Präsidialregimes anzuerkennen, war im Juli 1932 erfolgt, als Reichskanzler Franz von Papen putschte. Die Ringbewegung akzeptierte die Nationalsozialisten deshalb, weil Papens Putschkabinett sich im Kampf gegen die SPD in Preußen auf Hitler stützte.27 Auch Rothfels rechnete mit den Nationalsozialisten: „Das Notverordnungsregiment ist in seiner Weise eine Wiederbelebung des alten Obrigkeitsstaates, der Ministerialbürokratie, die gewiß nur Übergang sein kann, aber zunächst einmal den Staat vom Regiment der Interessenten löst und ihn fähig macht, die nationale Bewegung, die gegen ihn läuft, in sich aufzunehmen. Wir hoffen, dass das geschieht und daß die Opfer, die täglich gebracht werden, eine Bürgschaft dafür sind.“28

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Als Siegfried A. Kaehler seinem Freund Rothfels am 22. Februar 1933 schrieb, dass man sich, falls die Nationalsozialisten die Märzwahl gewännen, „ja wohl künftig auf einen staatlichen Verbrauch von Maulkörben gefaßt“ machen könne, folgte die Antwort erst zwei Monate später.29 Als „Nichtarier“ fiel Rothfels unter das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933. Außerdem griff ihn die NS-Studentenschaft inzwischen als Sohn eines „Oberrabbiners“ an.30 Als seine Assistenten öffentlich erklärten, ihr Lehrer sei ein „Vorkämpfer für den neuen Geist“, beruhigte sich die Lage wieder.31 Indessen bezeichnete Friedrich Hoffmann, der als Universitätskurator die „Gleichschaltung“ der Albertina vorantrieb, Rothfels gegenüber Bernhard Rust als „Wegbereiter des neuen Deutschlands“.32 Rothfels ging es nun darum, „daß es das Prinzip des willens- und leistungsmäßigen (wenn auch nicht blutsmäßigen) Deutschen“ gebe. Er gab sich der Illusion hin, dass der Staat, der für ihn „ordnender und objektiver Geist“ war, den NS-Terror bändigen könne: „Der doktrinäre →Antisemitismus (den realen teile ich weiterhin) ist nun mal der äußerste Vorposten all der Züge, die als trüber Bodensatz in den unzweifelhaft […] idealistischen Aufbruch sich mischen.“33 Rothfels ergriff die Chance, sich dem NS-Regime erneut zur Verfügung zu stellen, während der Vorbereitungen des Internationalen Historikertags in Warschau. Er bot Bernhard Rust am 4. Juli 1933 an, dieser könne seine jüdische Herkunft für die NS-Propaganda funktionalisieren: „Ich könnte mir auch durchaus denken, dass es außenpolitisch erwünscht ist, mich in Warschau zu zeigen, weil mein Fehlen etwas auffallen könnte und umgekehrt mein Erscheinen als Beleg dienen würde, daß es ‚ja gar nicht so schlimm ist‘.“34 Rothfels Strategie ging auf. Außerdem erhielt er die Unterstützung der →Ostforschung des Nationalsozialismus. Nachdem →Albert Brackmann ihn als Gebietsführer Ostpreußens in die →Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft berief, zog Karl Brandi als „Reichsbeauftragter“ der Historikerkommission und Präsident des Historikerverbandes nach.35 Rothfels’ konzeptionelle Leistung für den Aufbau der neuen Ostforschung, die vor allem von seinen Königsberger Schülern Werner Conze, →Theodor Schieder und Erich Maschke getragen wurde, war unstrittig. Seit 1933 hatte sich Rothfels in enger Kooperation mit österreichischen Historikern für den Mitteleuropagedanken völkisch-großdeutscher Historiker eingesetzt.36 Während er auf dem Göttinger Historikertag von 1932, der als Vorbereitung für den Internationalen Historikerkongress in Warschau fungierte, Bismarck noch dafür gelobt hatte, dass dieser die Reichseinigung auf Kosten der großdeutschen Lösung forcierte habe,37 kritisierte er nun im Januar 1933 dessen Begrenzung. Die kleindeutsche Lösung galt ihm nun als Preisgabe der „sinnvollen Neuordnung des östlichen Europas“, die jetzt von Österreich und Ostpreußen ausgehen sollte: „Beide sind als rein deutsche Außenposten weit vorgeschoben in eine gemischt-nationale oder fremd-nationale Umwelt hinein; beiden ist daher nicht mit lokalen Grenzrevisionen oder provinziellen Lösungen gedient, so notwendig die Bereinigung der Anschluß- wie der Korridorfrage an und für sich auch sein mag.“38 In seiner Schrift über die „Geschichtswissenschaft in den dreißiger Jahren“, sprach

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Rothfels, gerade in der Frage der „Reichsidee“, die damals mangelnde Abgrenzung zwischen autoritär-konservativem und nationalsozialistischem Denken an.39 Weil Rothfels auf langfristige Lösungen in der „Neuordnungsfrage“ abzielte, gewann er die Unterstützung weiterer Nationalsozialisten als nur die von →Hermann Rauschning, der allerdings im November 1934 als NS-Senatspräsident scheiterte. Auch Brackmann versuchte Einfluss zu nehmen: „Ich habe oft an Sie gedacht und mich um eine Revision des ganzen unhaltbaren jetzigen Zustandes bemüht.“ Dabei nutzte er insbesondere dessen Beitrag zu seinem Sammelband Deutschland und Polen, um den NS-Dienststellen zu zeigen, „wie sehr wir Sie und ihre Mitarbeit brauchen“.40 Dafür, dass Rothfels Königsberg 1935 zwar verlassen musste, aber für Berlin ein Vorlesungsrecht erhielt, hatte sich Joachim Ribbentrop eingesetzt. Gegenüber Bernhard Rust hielt Ribbentrop fest, er habe Rothfels Fall „neulich in der Wohnung des Führers“ erfolgreich erörtert.41 Erst später, nämlich am 18. Februar 1936, wurde Rothfels aufgrund von § 3 des Reichsbürgergesetzes die Lehrbefugnis entzogen, nicht aber das Privileg der Forschungserlaubnis. Noch kurz vor der Saarabstimmung hielt Rothfels am „Volkstumsrecht“ fest, das „aus der Weltanschauung des neuen Deutschland durch seinen Führer programmatisch verkündet worden“ sei.42 Eine feindliche Haltung gegenüber dem NS-Regime blieb aus. Rothfels versuchte sogar zweimal noch, die Reichsbürgerschaft zu erlangen, was ihm aber nicht gelang. 1937 siedelte er erstmals nach England über.43 Bis 1938 betrieb er mit Unterstützung Brackmanns im Preußischen Geheimen Staatsarchiv Quellenstudien, womit er sich auf seine Englandreisen vorbereitete.44 Nicht nur in Deutschland selbst, auch während seines Englandaufenthaltes verstand Rothfels sich als deutscher Patriot, wenn auch nur noch für eine kurze Zeit bis immerhin 1936.45 So unterstützte er im Winter 1936, als er sich in England aufhielt, die britischen Appeasementvertreter. Ein Treffen zwischen Rothfels und Ribbentrop beim Lunch, das Lord Lothian arrangierte, scheiterte an Ribbentrops „Zahnweh“.46 Erst mit seiner zweiten Englandreise im Mai 1937 ist eine deutliche Abkehr von NS-Deutschland zu vermerken. Die Deutschen in England, die mit den Nationalsozialisten sympathisierten, bezeichnete er nun als „Nazis“.47 Erst im September 1938, als das Danske Komité til Støtte for landflygtige Aandsarbejdere erkannte, dass Rothfels, der wieder nach Deutschland zurückgekehrt war, in „Gefahr“ laufe, „wie andere Juden […] in Baracken einquartiert zu werden“, lief die Fluchthilfe an.48 Am 15. August 1939 fasste Rothfels den Entschluss, seinen inzwischen geflüchteten Kindern nachzureisen. Mit Englands Kriegseintritt wurde er auf der Isle of Man interniert.49 Nachdem Rothfels 1940 in die USA zog, wo ihn ein Netzwerk konservativer USHistoriker und Emigranten unterstützte, setzte er seine Karriere zunächst als Gastprofessor fort. 1946 erhielt er in Chicago einen der bedeutendsten Lehrstühle für „Modern History“. Zweimal lehnte er Angebote aus Deutschland ab, bis ihn die Universität Tübingen 1950 berief.50 Rothfels Verdienste für den deutschen Wiederaufbau liegen weniger in der Würdigung des deutschen Widerstands, dessen Geschich-

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te er in dichter Konkurrenz zu Gerhard Ritter bereits in Chicago lehrte und schrieb. Tatsächlich setzte er sich erfolgreich für die Marshallplanhilfe ein. Nach dem Urteil verschiedener Historiker ist sein Nachkriegsengagement ambivalent zu bewerten. Weil Rothfels den bürgerlichen Eliten, die sich aktiv im Nationalsozialismus integrierten, durch seine Geschichte des deutschen Widerstandes eine neue Projektionsfläche schuf, nun selber dem „besseren Deutschland“ angehören zu können, ist ihm vorgeworfen worden, er selbst trug zur Exkulpation der Aufbaugeneration nach 1945 bei.51 Außerdem ließ er den Abschlussband der Dokumentation der Vertreibung, der die Vertreibung der Deutschen als Folge der NS-Neuordnung darstellte, und der von seinen Schülern erarbeitet worden war, in Absprache mit Theodor Schieder aus persönlichen Rücksichtnahmen gegenüber den alten Seilschaften aus Königsberg unpubliziert. Dennoch gab Rothfels der bundesdeutschen Zeitgeschichte, sofern er sich nicht in Bahnen Königsberger Seilschaften bewegte, entscheidende Impulse. Als Nestor des Instituts für Zeitgeschichte und der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte sorgte er dafür, dass die NS-Forschung nicht mehr hoffnungslos hinter der weit fortgeschrittenen US-Historie zurückfiel. Außerdem ließ er gegen den Widerstand des Oldenbourg-Verlages die „Gleichschaltung“ der HZ und der Geschichtswissenschaft im NS-Regime untersuchen, ohne sich von den Drohungen ehemaliger NS- und SS-Historiker beeindrucken zu lassen, die seinen Schüler Helmut Heiber vorführen wollten.52 Ferner schlug er eine produktive Brücke zu den Historikern der USA. Bereits 1953 konfrontierte er die deutsche Geschichtswissenschaft mit den Ergebnissen des 1938 aus Deutschland geflüchteten Historikers Gerhard L. Weinberg, der den Krieg gegen die Sowjetunion als Angriffskrieg bewertete, was der bis dahin gängigen Präventivkriegsthese widersprach. Bis zum Historikerstreit 1989 gehörte diese Position nicht zum Gemeingut.53 Das analytische Korsett, das der Zeitgeschichte, die lange genug nur die Alternative zwischen „Intentionalisten“ und „Strukturalisten“ kannte, aufgezwungen wurde, zog nicht er, sondern seine „Epigonen“ fest. Rothfels selbst blieb zwar bis zu seinem Tod am 22. Juni 1976 in Tübingen konservativ, aber nicht dogmatisch.

Ingo Haar

1 Vgl. Jan Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005, S. 31. 2 Gerhard A. Ritter, Einleitung. Friedrich Meinecke und seine emigrierten Schüler, in: Friedrich Meinecke, Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler. Briefe und Aufzeichnungen 1910–1977, München 2006, S. 23, 35. 3 Hans Rothfels, Wolfgang Kapp, in: Deutsches biographisches Jahrbuch, Stuttgart 1922, S. 132–143, 136ff. 4 Hans Rothfels, England und die „Aktivierung“ der Entente im Jahre 1912, in: Die Kriegsschuldfrage 3 (1926), S. 201–211.

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5 Vgl. Hans Delbrück, England und der Weltkrieg, in: Die Kriegsschuldfrage 3 (1926), S. 410–412; ders., Der deutsche Flottenbau und der Weltkrieg, in: Die Kriegsschuldfrage 3 (1926), S. 552–554. Vgl. Rothfels „Entgegnungen“ in derselben Zeitschrift auf S. 413–418, 418 und 554–558. 6 Yuhi Ishida, Jungkonservative in der Weimarer Republik. Der Ring-Kreis 1928–1933, Frankfurt a. M. 1988, S. 155. 7 Hans Rothfels, Deutschlands Krise, in: Alfred Bozi (Hg.), Die Einheit der nationalen Politik, Stuttgart 1925, S. 6, 10f., 14. 8 Zitiert nach John L. Harvey, Hans Rothfels: Issues and Paradoxes of an International Debate, in: Sozial.Geschichte 22 (2007), S. 7–39, 21f. 9 PA, R 64686, Bericht der Deutschen Gesandtschaft in Riga an das Auswärtige Amt vom 10.10.1924. 10 SUB, Nl S.A. Kaehler, 144b, Bl. 144r, Rothfels an Kaehler vom 12.11.1927. 11 Vgl. Ingo Haar, Anpassung und Versuchung. Hans Rothfels und der Nationalsozialismus, in: Johannes Hürter (Hg. u.a.), Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte, München 2005, S. 63–82, 65f. 12 „Der Trauertag von Versailles“, in: Königsberger Allgemeine Zeitung vom 28.6.1929. 13 Hans Rothfels, Der Schuldspruch im Versailler Frieden, in: Königsberger Allgemeine Zeitung vom 28.6.1929; ders., Die Universitäten und der Schuldspruch von Versailles zum 28. Juni 1929. Eine ungehaltene akademische Rede, Königsberg 1929. 14 GStA PK, Rep. 77, Abt. 4043, Nr. 9, Abschrift für das Volksbegehren „Landtagsauflösung“ vom 13.3.1931. 15 Vgl. Studentenkundgebung in der Stadthalle, in: Königsberger Hartungsche Zeitung vom 9.7.1931. 16 Vgl. Die Polizei zu der Studentenkundgebung, in: Königsberger Allgemeine Zeitung vom 18.11.1930. 17 GStA PK, Rep. 77, Abt. 4043, Nr. 9, Bl. 210, Der Königsberger Regierungspräsident vom 27.5.1932. 18 StaMgl, Nl Brauweiler, 101, Rothfels an Morsbach vom 4.11.1931. 19 Ebd., Programm zur Gründung der außerparlamentarischen Bewegung von Oktober 1931. 20 Ebd., Rothfels an Brauweiler vom 6.11.1931. 21 Johann W. Mannhardt, Drei Gruppen mühen sich um den Staat, in: Deutsche Allgemeine Zeitung vom 4.11.1931. 22 StaMgl, Nl Brauweiler, 101, Rundbrief vom 21.11.1931. 23 Kaehler an Mannhardt vom 7.7.1932, in: Walter Bußmann (Hg. u.a.), Siegfried A. Kaehler. Briefe 1900–1963, Boppard 1993, S. 206. 24 Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der Volkstumskampf im Osten, Göttingen 20022, S. 87f., Anm. 74., und 89f. 25 Gerhard A. Ritter. Rothfels, in: Friedrich Meinecke, München 2006, S. 36. 26 Hans Mommsen, Regierung ohne Parteien. Konservative Pläne zum Verfassungsumbau am Ende der Weimarer Republik, in: Heinrich-August Winkler (Hg.), Die deutsche Staatskrise 1930–1933: Handlungsspielräume und Alternativen, München 1992, S. 1–18, 17. 27 StaMgl, Nl Brauweiler, 100, Bericht der Politischen Gesellschaft vom 14. und 28.1.1933. 28 BArch, Nl Rothfels, 12, Hans Rothfels, Der deutsche Staatsgedanke von Friedrich des Grossen bis zur Gegenwart, undatiertes Manuskript, circa um Anfang 1933. Anders Heinrich August Winkler, Hans Rothfels – ein Lobredner Hitlers? Quellenkritische Bemerkungen zu Ingo Haars Buch „Historiker im Nationalsozialismus“, in: VfZ 4 (2001), S. 643–652; darauf Haar, Quellenkritik oder Kritik der Quellen? Replik auf Heinrich August Winkler, in: VfZ 3 (2002), S. 497–505; wieder Winkler, Geschichtswissenschaft oder Geschichtsklitterung? Ingo Haar und Hans Rothfels. Eine Erwiderung, in: VfZ 4 (2002), S. 635–651. 29 Kaehler an Rothfels vom 22.2.1933, in: Bußmann, Kaehler, S. 224.

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30 GStA PK, Rep. 76 Va, Sekt. 11, Tit. IV, Nr. 21, Bd. XXXIV, Bl. 100, Rothfels an Hoffmann vom 4.4.1933. 31 Ebd., Bl. 117 ff., Resolution von Craemer und Maschke an die Deutsche Studentenschaft vom 3.4.1933. 32 Ebd., Bd. 109, Hoffmann vom 8.4.1933, und ebd., Bl. 112, DAAD vom 18.8.1934 an Bernhard Rust. 33 SUB, Nl S.A. Kaehler, 144b, Brief 191. Bl. 131ff., Rothfels an Kaehler vom 22.4.1933 34 SUB, Nl Karl Brandi, 44, Brief 89, Rothfels an Brandi vom 4.7.1933. 35 Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 139, 200. 36 Hans Rothfels, Deutschland und der Donauraum, in: Königsberger Zeitung vom 13.1.1933. 37 Hans Rothfels, Bismarck und die Nationalitätenfrage des Ostens, in: HZ 147 (1933), S. 88–105, 90f. 38 Hans Rothfels, Deutschland und der Donauraum, in: ders., Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke. Historische Abhandlungen, Vorträge und Reden, Leipzig 1935, S. 223–227. 39 Hans Rothfels, Geschichtswissenschaft in den dreißiger Jahren, in: Andreas Flitner (Hg.), Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus, Tübingen 1965, S. 90–107, 95. 40 GStA PK, Nl Brackmann, 29, Brackmann an Rothfels vom 30.7.1934. 41 BArch, ZB II 4538 A.1., Ribbentrop an Rust vom 25.2.1935 42 Hans Rothfels, Selbstbestimmungsrecht und Saarabstimmung, in: ders., Ostraum, S. 207–222, 220. Rothfels ließ diesen Sammelband 1965 erneut auflegen, und zwar als Beleg für die Stimme des „besseren“ Deutschlands, also des Widerstands. Der Saarartikel ist dem Band entnommen, und die Fußnoten, die positiv auf Moeller van den Brucks „Drittes Reiches“ oder besser noch auf den „Führer“ Hitler Bezug nahmen, wurden getilgt. Bearbeiter des Buches war Hans Mommsen. 43 BArch, Nl Rothfels, 20, Kurator der Albertus-Universität vom 18.2.1936. 44 Ebd., Brackmann an Rothfels vom 29.3.1935. 45 So Werner Conze, Hans Rothfels, in: HZ 237 (1983), S. 311–360, 340. 46 BArch, Nl Rothfels, 127, Hans Rothfels, Aufzeichnung über meine Englandreise von Dezember 1936. 47 Ebd., Hans Rothfels, Bericht über die Englandreise vom 3. bis zum 27.5.1937. 48 Bodleian Library Oxford, Special Collection, Rothfels, Bl. 485, Brief an Adams vom 22.9.1938. 49 Deutsches Rundfunkarchiv, Dep. 1779, 10, Hans Rothfels, Protokoll eines SFB-Interviews um 1960. 50 Peter Thomas Walter, Hans Rothfels im amerikanischen Exil, in: Johannes Hürter, Hans Rothfels, S. 83–86, 92f., und Harvey, Hans Rothfels, S. 35ff. 51 Karl Heinz Roth, Hans Rothfels. Geschichtspolitische Doktrinen im Wandel der Zeiten, in: ZfG 49 (2001), S. 1061–1073, 1068f.; Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003, S. 120ff., 145ff., und Christoph Cornelißen, Hans Rothfels, Gerhard Ritter und die Rezeption des 20. Juli 1944, S. 97–120. 52 BArch, Nl Schieder, 249, Rothfels an Schieder vom 26.6.1966. 53 Gerhard L. Weinberg, Der deutsche Entschluß zum Angriff auf die Sowjetunion, in: VfZ 1 (1953), S. 301–318.

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Arnold Ruge Arnold Ruge (1881–1945) war ein Philosoph und Aktivist der völkischen Bewegung.1 Er war der einzige rechtsextreme Hochschullehrer, der in der Weimarer Republik aus politischen Gründen seine Lehrberechtigung verlor.2 Ruge stammte aus großbürgerlichen Verhältnissen – sein Vater Albrecht (1849–1910) war Reichsbankdirektor in Görlitz – und war mit dem Pathologen und liberalen Politiker Rudolf Virchow verwandt. Der Achtundvierziger Demokrat Arnold Ruge (1802–1880) war sein Großonkel. Nach einem Philosophiestudium in Berlin, Zürich, Straßburg und Heidelberg wurde er dort Assistent des Neukantianers Wilhelm Windelband (1848–1915). Bereits mit seinen ersten Publikationen, die er noch als Student über →Fichte und das Studentenleben seiner Zeit verfasste, outete sich Ruge als extremer Nationalist und Antisemit.3 Er erhielt wegen der politischen Tendenz dieser Pamphlete einen offiziellen Verweis der Universität Heidelberg, die bis 1933 eine Hochburg des bildungsbürgerlichen Liberalismus war. Der renommierte Philosoph Wilhelm Windelband promovierte Ruge 1908 mit einer Arbeit über Kant. Im selben Jahr organisierte Ruge den 3. Internationalen Kongress für Philosophie in Heidelberg. Zwei Jahre später habilitierte er sich mit einer weiteren Studie zu Kant.4 Diese schnelle Karriere auf inhaltlich schmaler Basis und immer in den Fußstapfens Windelbands basierte auf dessen Kränklichkeit, so dass er einen fleißigen und subalternen Helfer brauchte. Nach dem glanzvollen Philosophenkongress begann Ruge mit der Herausgabe einer fünfbändigen Reihe Die Philosophie der Gegenwart zwischen 1910–1915. Hinter diesem anspruchsvollen Titel verbarg sich – eine Bibliografie. Daneben begann er zusammen mit seinem Chef mit der Herausgabe einer Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im renommierten Verlag Mohr in Tübingen. 1912 erschien der erste Band zur Logik – offenbar hat Ruge fünf Bände vorbereitet, aber wahrscheinlich war der Krieg die Ursache dafür, dass er keine weiteren Bände publizierte. Über Ruges philosophische Schriften urteilte sein Alters- und Gesinnungsgenosse Martin Heidegger (1889–1976): Sie seien so kümmerlich, dass „man sie mit Schweigen übergehen möchte“.5 Neben seinem universitären Brotberuf provozierte Ruge als politischer Publizist und Polemiker. Der völkische Nationalist war ein fanatischer Gegner der Frauenemanzipation und insbesondere des 1900 in Baden eingeführten Frauenstudiums.6 Mit diesem Engagement löste er im Dezember 1910 einen weiteren Streit aus, der in einer Duellforderung des renommierten Soziologen Max Weber gipfelte. Das Heidelberger Tageblatt hatte einen Leserbrief Ruges zu einer Versammlung des von Webers Ehefrau Marianne geleiteten Vereins „Frauenbildung – Frauenstudium“ veröffentlicht, in dem es unter anderem hieß: „Möchte die Zeit kommen, wo es eine wirkliche Frauenbewegung gibt, eine Zeit, wo die Männer für das Recht ihrer Frauen eintreten. Heute gibt es noch keine Frauenbewegung, sondern nur eine Bewegung […] derer, die nicht Frauen sein können und nicht Mütter sein wollen. Die Frauenbewegung von heute […] ist eine Bewegung, die sich zusammensetzt aus alten Mädchen,

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sterilen Frauen, Witwen und Jüdinnen, die aber, welche Mütter sind und die Pflichten der Mütter erfüllen, sind nicht dabei“.7 Max Weber sah dadurch seine Frau beleidigt. Aufgrund seines patriarchalen Ehrbegriffs forderte er Ruge zum Duell. Dieser konterte geschickt und bekannte sich als Duellgegner, so dass Weber düpiert war.8 Im Weltkrieg war Ruge wegen eines Augenleidens untauglich. Umso mehr engagierte er sich an der „Heimatfront“ mit zahlreichen Schriften und Reden.9 Für ihn bestand eine Mitschuld aller Deutschen am Weltkrieg darin, „daß wir zu spät aufgestanden sind. Gegen alles Große und Wichtige sind wir fabelhaft gleichgültig gewesen; nun fließen die Ströme des Blutes […]. Nun muß uns mit furchtbarem Leiden die selbstverständlichste Lehre eingehämmert werden: der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“10 Ruge verurteilte Materialismus und Dekadenz der Friedenszeit und hetzte gegen „Wurzellose“, „Krämerseelen“, alles Jüdische und die Frauenemanzipation. Ohne Krieg wäre es „zum Zusammenbruch auf allen Gebieten des geistigen Lebens“ gekommen.11 Vom Krieg hingegen erwartete er „völlige Ablösung und Befreiung von all dem Erbärmlichen und Kleinen des täglichen Daseins.“12 Das „einzige große Kriegsziel“ sei es, „innere und äußere Lebensbedingungen“ zu schaffen, unter denen „die Idee des Deutschtums“ nicht mehr „um des Fremden und Fremdstämmigen willen verdrängt“ werde.13 Wie sich hier schon andeutet, waren seine Kriegsziele völkisch bestimmt. Anders als viele alldeutsche Annexionisten, die militärstrategisch oder ökonomisch argumentierten, durften deutsche Eroberungen für Ruge nicht abstrakt und auf keinen Fall wirtschaftspolitisch begründet sein, sondern mussten von „wirklichem Willen zum Leben“ getragen sein: „So wollen wir unsere Totenhügelgrenze ausdehnen, bis sie ein neues Vaterland umschließt, in dem die ungebrochene Kraft eines erstarkten und wachgerufenen Volkes Platz hat […]. Das Land, wo deutsches Blut in Strömen geflossen, ist für immerdar deutsches Heimatland.“14 Nach der großen Enttäuschung der deutschen Kapitulation und der Novemberrevolution nahm die Zahl antisemitischer Polemiken nicht nur bei Ruge, sondern auch in den Publikationen anderer Hochschullehrer deutlich zu. Neben Vorwürfen, die Juden hätten sich während des Krieges durch „Schleichhandel und Wucher“ „gemästet“ und die Deutschen dazu gebracht, ihre „heiligsten Güter vollends an Juden und Judengenossen“ zu verkaufen, diagnostizierte Ruge eine Überrepräsentation des jüdischen Bevölkerungsteiles in den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und militärischen Eliten. Ruge fand, dass die „Hochschulen, einstmals Ertüchtigungsanstalten für die männliche Jugend, im Kriege zu Tummelplätzen von jungen Mädchen und namentlich von Juden geworden“ seien. „Die ganze öffentliche Presse“ sei „in jüdischen Händen“. Vor dem Frontdienst hätten sich die Juden gedrückt, dafür „sich in der Etappe herumgetrieben“ und „an so vielen Eckpfeilern im Kriege“ gestanden, also wichtige Positionen im Wirtschaftsleben und in der Politik übernommen, anstatt sich im Krieg zu opfern.15 Der vermeintlich große Einfluss der Juden war für Ruge an Niederlage, Revolution, Inflation, Versailler Vertrag und allen anderen Übeln schuld.

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Politisch engagierte Ruge sich zunächst in der DNVP, einem Sammelbecken für Kaisertreue, Völkische, Antisemiten, radikale Nationalisten und konservative Republikgegner. Parallel dazu wirkte er in völkischen, teils klandestinen Organisationen mit, insbesondere im Deutschen Schutz- und Trutzbund und dessen Nachfolger (seit 1. Oktober 1919), dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund, in dem er zu den „heftigsten“ Agitatoren gehörte.16 Für diesen sprach er auch am 22. November 1919 auf einer antisemitischen Kundgebung vor der Heidelberger Universität gegen das „jüdische Tribunal […], das die maßlose Frechheit besitzt, deutsche Männer, wie einen Hindenburg, auf die Anklagebank zu setzen.“17 Gemeint war der Untersuchungsausschuss des Reichstags zur Kriegsschuldfrage. Diese Rede ist nur in Zeitungsberichten überliefert, sie beendete aber Ruges Tätigkeit als Hochschullehrer. Er wetterte angeblich gegen „das elende und verlogene neue System“ und wiederholte einmal mehr seine antisemitischen Tiraden.18 Wegen dieser Aussagen zeigte ihn eine Arbeitsgemeinschaft zur Abwehr antisemitischer Angriffe beim badischen Unterrichtsministerium an. Nachdem die Universität über Jahre hinweg die politischen Aktivitäten des Privatdozenten Ruge geduldet (oder darüber hinweggesehen) hatte, hatte sich seit der Novemberrevolution der Wind gedreht. Das Rektorat zitierte Ruge mit einem Schreiben vom 4. Dezember 1919 vor den Akademischen Disziplinarbeamten. Hierauf reagierte Ruge mit weiteren Flugblättern und wütenden Briefen. Schließlich fasste das Rektorat unterschiedliche Vorwürfe gegen Ruge zusammen – einerseits die „öffentliche Beleidigung“ der „Universität und ihrer Repräsentanten“ durch den „Vorwurf der ‚Feigheit‘“ bei der Kundgebung am 22. November 1919, andererseits weitere „Beleidigungen“ des Rektors, eines Senatsmitgliedes und des Windelband-Nachfolger Heinrich Rickert im Verlauf des Disziplinarverfahrens – und setzte einen Untersuchungsausschuss ein. Da Ruge nicht einlenkte, sondern weiter polemisierte, beschloss die Philosophische Fakultät am 12. März 1920, dass Ruge nur Mitglied der Fakultät bleiben könne, wenn er „sämtliche Beleidigungen“ zurücknehme und sich „formell“ entschuldige. Die Fakultät betonte, dass „alle Äußerungen politischen Charakters grundsätzlich aus diesem Verfahren ausgeschieden werden sollten“, da der Fakultät „gegenüber politischen Handlungen und Äußerungen ihrer Glieder keinerlei disziplinäre Kompetenz“ zustehe. Diese Einschränkung war symptomatisch für den nur begrenzten Konsens gegen Ruge und sollte die Fakultät gegen öffentliche Kritik absichern. Vier Jahre später hatte dieselbe Fakultät im Fall des Sozialisten und Pazifisten Emil Julius Gumbel (1890–1966) keine Bedenken, politische Äußerungen eines ihrer Mitglieder disziplinarisch zu beurteilen. Offenbar sanktionierte sie Engagement im linken Spektrum der Weimarer Republik strenger als verfassungsfeindlichen Rechtsextremismus.19 Im Fall Ruge ersetzte der Vorwurf der „Beleidigung der Gesamtkorporation der Universität und ihrer Repräsentanten“ eine politische Auseinandersetzung mit Ruges radikalem →Antisemitismus und seinen antirepublikanischen Aktivitäten. Die Fakultät kreidete Ruge an, dass er ihr „Feigheit“ vorgeworfen hatte, und forderte ihn im März 1920 auf, diese und drei andere

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Beleidigungen zurückzunehmen. Das Ministerium setzte ihm hierfür eine Frist bis Ende Mai. Erst als Ruge diese verstreichen ließ, stellte die Fakultät am 12. Juni den Antrag, ihm wegen „schwerer ehrverletzender Beleidigung von Kollegen und Universitätsbehörden“ die Lehrberechtigung zu entziehen. Dem schlossen sich Senat und Ministerium an. Obwohl die überwiegende Mehrheit des Lehrkörpers Ruges politische Positionen ablehnte, hatte die Universität den Nebenkonflikt um den Beleidigungsvorwurf, gegen den Ruge mehrere Zeugen aus dem Lehrkörper aufbieten konnte, zur Hauptsache gemacht. Nach dem Verlust der Lehrberechtigung überzog Ruge die Universität und seine ehemaligen Kollegen mit weiteren Tiraden und Pamphleten.20 Dass Ruge als einziger rechtsextremer Hochschullehrer in der Weimarer Republik die Venia Legendi entzogen bekam, ist also mehr auf sein unnachgiebiges und provokantes Verhalten zurückzuführen als auf eine politische Entschlossenheit der Universität. Als sie später mehrfach diese Entscheidung rechtfertigen musste, argumentierte sie immer wieder völlig zu Recht, sie sei, „solange es ging, mit Nachsicht und Milde“ vorgegangen.21 Dennoch war die Universität Heidelberg eine Ausnahme in der Weimarer Republik: Während verfassungsfeindliche Äußerungen von Hochschullehrern sonst kaum sanktioniert wurden, führten sie an der Ruperto Carola bei Ruge zum Entzug der Lehrberechtigung und wurden zwei Jahre später im Fall des völkischen Physikers →Philipp Lenard förmlich gerügt. Dieser solidarisierte sich bereits 1921 mit Ruge und rief zu einer Spende für seinen von der Universität entfernten Mitstreiter auf: „Ruge hat sich in allen seinen Äußerungen als erbitterter Feind jeglicher Art von Bonzentum gezeigt. Deshalb werden seine Vorträge überall von Judenknechten vergewaltigt.“22 Ruge hatte während des Disziplinarverfahrens seine Funktionen in der DNVP niedergelegt und trat Anfang 1921 aus, wurde aber noch im August 1922 als Spender für die Heidelberger DNVP-Zeitschrift genannt. Er rechnete aber wohl seit Anfang 1920 mit dem Ausschluss aus dem Heidelberger Lehrkörper, oder er radikalisierte sich in der Revolutionszeit, die zugleich eine Hochzeit der völkischen, verfassungsfeindlichen Opposition war, so sehr, dass er größere Risiken für seine politischen Überzeugungen einzugehen bereit war. Jedenfalls gründete er im Frühjahr 1920 zusammen mit zwei anderen Vertretern des völkisch-antisemitischen Flügels in der DNVP, dem Generalsekretär der Partei, Richard Kunze (1872–1945), und dem wegen seiner Radikalität als Chefredakteur der Deutschen Zeitung, des Organs des →Alldeutschen Verbandes, entlassenen Reinhold Wulle den Deutschvölkischen Arbeitsring Berlin. Diese Organisation, die als Konkurrenz zum Deutschvölkischen Schutzund Trutzbund gedacht war, verließ Ruge im Sommer 1920 nach dem Verlust seiner Lehrberechtigung wieder und kehrte in den Schutz- und Trutzbund zurück. Allerdings engagierte er sich nun in dessen besonders radikalen bayerischen Landesverband und betrieb zusammen mit dem völkischen Esoteriker Rudolf John Gorsleben die Abspaltung von der Gesamtorganisation, weshalb er Anfang 1922 ausgeschlossen wurde.23

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Der beste zeitgenössische Kenner der rechtsextremistischen Geheimbünde und Gewalttäter, Emil Julius Gumbel, erwähnte Ruge als Mitglied der Freikorps Oberland, in welchem er die (interne) Spionage- und Überwachungsabteilung geleitet haben soll. In dessen Abspaltung, dem Freikorps Blücher, soll Ruge das „geistige Oberhaupt“ gewesen sein. Gumbel zitierte Ruges Parole: „Jeder Nationalgesinnte muss sich einen Juden aufs Korn nehmen.“ Diese Drohung passt zu seiner andernorts geäußerten Überzeugung, dass politische Morde durch militante Rechtsextremisten nötig seien, um die Republik zu beenden und „Ruhe und Ordnung“ wiederherzustellen. Nach den Freikorpskämpfen gegen die im Versailler Vertrag beschlossene Abtretung Oberschlesiens an Polen wurde Ruge 1921 wegen Hochverrats, unerlaubten Waffenbesitzes, Urkundenfälschung etc. gesucht, aber nach einer Verhaftung von einem der vielen auf dem rechten Auge blinden Richter wieder freigelassen. 1923 ging er nach München, tummelte sich in der dort besonders lebendigen völkisch-rechtsextremistischen Szene, lernte Heinrich Himmler und Adolf Hitler kennen, war beteiligt an verfassungsfeindlichen Verschwörungen, gründete weitere Geheimorganisationen zur Durchführung politischer Morde, wobei sich sein besonderer Hass auf den „Bauerndoktor“ und Anführer der katholischen Bauernbewegung in Bayern Georg Heim (1865–1938) richtete. Wegen Aufforderung zum Fememord an einem der Mitglieder seiner Geheimbünde, Karl Bauer, der zeitweise sein Privatsekretär gewesen war, wurde Ruge 1923 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Die Strafe saß er 1923/24 in Landsberg ab, die letzten Monate zusammen mit Hitler.24 Nach der Verbüßung seiner Strafe gründete Ruge die Deutschvölkische Reichspartei und kandidierte für sie bei der Reichstagswahl im Dezember 1924 als badischer Spitzenkandidat. Er hatte keine Chance (0,3%), auch weil das völkische Lager gespalten war: Die Aktivisten der in Baden seit der Ermordung Rathenaus im Juni 1922 verbotenen NSDAP schlossen sich überwiegend der Deutschen Partei (Völkisch-Sozialer Block) an. 1926 soll es eine „große persönliche Aussprache“ zwischen Ruge und Hitler gegeben haben, über die Ruge 1940 in seiner Autobiografie berichtete: „Der Führer rät mir, vorläufig noch nicht der Partei als Mitglied beizutreten. […] Getrennt marschieren, vereint schlagen!“25 Später kritisierte Ruge jedoch das Bündnis der NSDAP mit der DNVP, das unter dem Vorsitz Alfred Hugenbergs seit 1928 immer enger wurde. Diese Polemik gegen die Machtpolitik der NSDAP schadete Ruge, als sie zur größten Partei im rechtsextremen Lager aufgestiegen war: Als er sich 1932 der NSDAP als „früher Nationalsozialist“ andiente, wies man ihn – wie viele andere völkische Aktivisten – als Sektierer zurück. Das änderte sich auch im Dritten Reich nicht, obwohl Ruge seit März 1933 Parteigenosse war. Anstatt ihn, wie er selbst vorschlug, zum Rektor der Universität Heidelberg zu machen, speiste man ihn mit einem Posten im Badischen Generallandesarchiv in Karlsruhe ab. Auch sein alter Rivale und Gesinnungsgenosse Heidegger, der den Aufstieg zum Rektor in Freiburg i. Br. mit Hilfe der NSDAP geschafft hatte, fiel ihm erneut in den Rücken: „Solange im Nationalsozialismus das Leistungsprin-

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zip für die Auswahl der Führer und verantwortlichen Leiter von Stellen gilt, kommt Herr Ruge für eine philosophische Professur überhaupt nicht in Betracht.“26 Immerhin wurde er als Archivrat Staatsbeamter – nach all den Jahren als rechtsextremer Aktivist und Publizist war das eine deutliche Statusverbesserung und materielle Absicherung, die Ruge jedoch keineswegs als angemessene Entschädigung für sein Märtyrertum im Dienste der „Bewegung“ während der „Judenrepublik“ erschien. Im Rahmen der von Himmler initiierten Hexenforschung schrieb Ruge mehrere, teilweise verschollene Abhandlungen. Ein Manuskript kaufte ihm Himmler 1934 für 1.000 RM (das Monatsgehalt eines Lehrstuhlinhabers) ab – unter der Bedingung, es weder zu veröffentlichen noch vor Parteigenossen zu erwähnen. Ein weiteres – „Die mittelalterlichen Hexenprozesse. Ein Abschnitt aus dem deutschen Kulturkampf“ (1938) – ist überliefert. Es basiert ausschließlich auf Sekundärliteratur, hat eine deutlich antikatholische Tendenz und sieht die Hexenverfolgung als Kampf der „römischen“ Kirche gegen das Germanentum und seine „arteigene“ Religion. 1938 erhielt Ruge zwar einen Lehrauftrag an der TH Karlsruhe, nicht jedoch die erhoffte Leitung des Generallandesarchivs.27 1940 verfasste der zunehmend verbitterte und kranke Archivrat eine Lebensbilanz unter dem Titel „Völkische Wissenschaft“, in der er sich zum Vorkämpfer des Nationalsozialismus stilisierte und seine politischen Gegner als Teil einer „jüdischen Verschwörung“ charakterisierte. Nachdem er sich noch den Besatzungsmächten als völkisches Opfer der Nationalsozialisten präsentiert hatte, das mit den Verbrechen des Regimes nichts zu tun habe, starb Ruge an Weihnachten 1945.28

Christian Jansen

1 Es gibt wenig biografische Literatur. Ich stütze mich auf meine Monographie „Professoren und Politik. Politisches Denken und Handeln der Heidelberger Hochschullehrer 1914–1935“ (Göttingen 1992), den Artikel „Arnold Ruge (Philosoph)“ in Wikipedia; Hansmartin Schwarzmaier, Ruge, Arnold Paul, in: Bernd Ottnad (Hg.), Badische Biographien. N.F., Bd. 4, Stuttgart 1996, S. 244–247, sowie Christian Peters/Arno Weckbecker, Der Weg zur Macht. Zur Geschichte der NS-Bewegung in Heidelberg 1920–1934, Heidelberg o.J., S. 36–59. 2 Der Rostocker Zahnmediziner Johannes Reinmöller (1877–1955) wurde wegen seiner Äußerung „In dieser Drecksrepublik wird ja nicht gearbeitet“ von einem Disziplinargericht verurteilt (vgl. Geschichte der Universität Rostock 1419–1969. Festschrift zur Fünfhundertfünfzig-Jahr-Feier der Universität, Rostock 1969, S. 171f.). Aus dieser Darstellung geht allerdings nicht hervor, welche Konsequenzen dies hatte. Reinmöller reichte ein Entlassungsgesuch ein, um sich bis zu seiner Berufung an die reaktionärste Universität der Weimarer Republik (Erlangen) ganz der Arbeit in der DNVP zu widmen. Fritz Marschall von Bieberstein (1883–1939) wurde wegen seiner Reichsgründungsrede in Freiburg i.Br. 1925, die unter dem Titel Kampf des Rechtes gegen die Gesetze, Stuttgart 1927, S. 167– 183 erschien, zwar disziplinarisch verfolgt, aber nur gerügt. 3 Über die einzig mögliche Störung der Akademischen Freiheit von J. G. Fichte. Als ein Beitrag zu den Zeitfragen mit einer Einleitung herausgegeben von Arnold Ruge, Heidelberg 1905; Arnold Ruge, Kritische Betrachtung und Darstellung des deutschen Studentenlebens in seinen Grundzügen, Tübingen 1906.

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4 Als Buch erschienen unter dem Titel Das Problem der Freiheit in Kants Erkenntnistheorie, Leipzig 1910. 5 Zitiert nach Schwarzmaier, Ruge, Arnold Paul, S. 245. Vgl. den Nachruf Arnold Ruge, Wilhelm Windelband als Philosoph und Persönlichkeit, in: Heidelberger Tageblatt, 25.10.1915. 6 Vgl. Arnold Ruge, Das Wesen der Universität und das Studium der Frauen, Leipzig 1912. 7 Heidelberger Tageblatt, 3.12.1910, zitiert nach Max-Weber-Gesamtausgabe, Bd. II/6: Briefe 1909– 1910, Tübingen 1994, S. 715. 8 Die Max Weber-Forschung hat diese Episode in vielen Facetten ausgedeutet; sie kostete außerdem den Heidelberger Zeitungsforscher Adolf Koch (1855–1922) die Stelle, weil er Interna aus der RugeWeber-Affäre ausgeplaudert hatte und in einem skandalösen Disziplinarverfahren seine Venia Legendi entzogen bekam. Hierbei spielten auch antisemitische Ressentiments eine Rolle. Vgl. Reinhard Riese, Die Hochschule auf dem Wege zum wissenschaftlichen Großbetrieb. Die Universität Heidelberg und das badische Hochschulwesen 1860–1914. Stuttgart 1977, S. 375f. 9 Vgl. folgende Schriften: Aufruf an die Frauen deutscher Nation, in: Heidelberger Zeitung, 9.9.1914; wiederveröffentlicht in: Peters/Weckbecker, Der Weg zur Macht, S. 38f.; Deutsche Heimkehr. Eine Ostergabe an das deutsche Volk, Leipzig 1917 (Wiederveröffentlichung diverser Texte von 1914–1917); Unser Kampf gegen den englischen Hungerfeind. Ob wir wohl bei längerer Dauer des Krieges werden Not leiden müssen? Donaueschingen 1915; Der Dienst der Frauen im Kriege und im Frieden. Donaueschingen 1915; Die Mobilmachung der deutschen Frauenkräfte für den Krieg (1915); Worum kämpfen wir eigentlich? in: Heidelberger Tageblatt, 14.9.1915; Verborgene Kräfte, in: Zeitfragen, 26.1.1916; Welches Volk wird den Sieg davontragen? in: Süddeutsche Zeitung, 17.7.1916; Im dritten Kriegsjahre, in: Zeitfragen, 20.9.1916; Das Wesentliche, in: Heidelberger Neueste Nachrichten, 20.9.1916; Wie lange wird der Krieg noch dauern? in: Heidelberger Zeitung, 20.9.1916; Kriegsdienstpflicht – Arbeitspflicht, in: Süddeutsche Zeitung, 18.11.1916; Unsere Toten. Ein Weck- und Mahnruf an die Lebenden. Leipzig 1917; Die Truppenaufklärung. Vortrag, gehalten im Kasino des 1. Badischen Leibdragonerregiments Nr. 20 im September 1917, in: Deutscher Volkswart 4 (1919); Die innere Not unseres Volkes, in: Deutscher Volkswart 3 (1918); In allertiefster Not, in: Deutscher Volkswart 4 (1919). 10 Arnold Ruge, Die innere Not unseres Volkes, in: Deutscher Volkswart 3 (1918), S. 106; vgl. ders., Unsere Toten. Ein Weck- und Mahnruf an die Lebenden, Leipzig 1917, S. 13. 11 Ruge, Die innere Not, S. 105. 12 Ruge, Mobilmachung, S. 16. 13 Ruge, Unsere Toten, S. 25. Vgl. seinen Brief an Max von Baden vom 9.10.18 (In allertiefster Not, S. 9ff.). 14 Ruge, Unsere Toten, S. 20. Diesem Satz und der Forderung, der Friedensschluss müsse deutscherseits „von machtpolitischen Gedanken diktiert“ sein, steht in der widersprüchlichen Publizistik Ruges eine Polemik gegen die annexionistische „Ländergier“ (Ruge, Deutsche Heimkehr, S. 119) gegenüber. 15 Ruge, Die innere Not, S. 11, 16 und 3. 16 Uwe Lohalm, Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bundes. 1919–1923, Hamburg 1970, S. 224. Leider ist dieses Spektrum bis heute kaum erforscht. 17 UA Heidelberg, PA Ruge, Flugblatt Ruges zitiert nach Peters/Weckbecker, Der Weg zur Macht, S. 41; ebd., S. 40–45 weitere Dokumente zu Ruges Engagement im Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bund 1919/20. 18 Die Entweihung der Feier oder eine studentische Kundgebung, in: Heidelberger Tageblatt, 24.11.1919, wiederabgedruckt in: Peters/Weckbecker, Der Weg zur Macht, S. 42ff. 19 Vgl. Christian Jansen, Professoren und Politik. Politisches Denken und Handeln der Heidelberger Hochschullehrer 1914–1935, Göttingen 1992, S. 189–194. Bereits zwei Jahre später nahm der Senat

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gegen den rechtsextremen Physiker Philipp Lenard, der sich weigerte, an seinem Institut anlässlich der Ermordung Rathenaus halbmast zu flaggen, dezidiert politisch Stellung, vgl. ebd. S. 147f. 20 Vgl. Peters/Weckbecker, Der Weg zur Macht, S. 49–58. 21 Ebd., S. 53ff.; Jansen, Professoren und Politik, S. 146f. (mit weiteren Nachweisen). 22 „Aufruf“ in: Hallesche Zeitung, Dezember 1921, zit. nach Peters/Weckbecker, Der Weg zur Macht, S. 58f. 23 Jansen, Professoren und Politik, S. 160 (mit Nachweisen); Wikipedia-Artikel „Arnold Ruge (Philosoph)“. 24 Emil Julius Gumbel, Verschwörer. Beiträge zur Geschichte und Soziologie der deutschen nationalistischen Geheimbünde seit 1918, Wien 1924 (Reprint Heidelberg 1979), S. 158, 164ff., 172; Christoph Hübner, Blücherbund, 1922/23, publiziert am 11.5.2006, (http://www.historisches-lexikonbayerns.de/Lexikon/Blücherbund, 1922/23 (15.10.2016); Wikipedia-Artikel „Arnold Ruge (Philosoph)“. 25 Zitiert nach Klaus Graf, Eine von Himmler angeregte antikirchliche Kampfschrift Arnold Ruges (1881–1945) über die Hexenprozesse (1936), in: Himmlers Hexenkartothek. Das Interesse des Nationalsozialismus an der Hexenverfolgung, hg. von Sönke Lorenz u.a., Bielefeld 1999, S. 38. 26 Ebd.; vgl. Katarzyna Leszczyńska, Hexen und Germanen. Das Interesse des Nationalsozialismus an der Geschichte der Hexenverfolgung, Bielefeld 2009, S. 38–41. 27 Jansen, Professoren und Politik, S. 343 (mit detaillierten Nachweisen); Wikipedia-Artikel „Arnold Ruge (Philosoph)“ unter Verweis auf Johnpeter Horst Grill, The Nazi movement in Baden, 1920– 1945, Chapel Hill 1983, S. 105f.; Peters/Weckbecker, Der Weg zur Macht, S. 37; Schwarzmaier, Ruge, Arnold Paul, S. 246f. 28 Ebd.; vgl. Arnold Ruge, Völkische Wissenschaft, Berlin 1940, auch https://archive.org/details/ Ruge-Arnold-Voelkische-Wissenschaft (24.1.2017).

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Georg-Wilhelm Sante Nachdem der am 3. Oktober 1896 in Hildesheim geborene Georg Wilhelm Sante1 den Ersten Weltkrieg als Soldat an der Westfront überlebt hatte, studierte er Geschichte und Kunstgeschichte in Münster, München und Bonn. Mit einer Arbeit über „Die kurpfälzische Politik Johann Wilhelms und die Friedensschlüsse zu Utrecht, Rastatt und Baden“ promovierte er 1923 an der Universität Bonn.2 Nach der Promotion studierte er noch Rechtswissenschaft in München und war als Historiker und Stipendiat für die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft tätig. Nach der Archivarsausbildung am preußischen Institut für Archivwissenschaft in Berlin-Dahlem 1927/ 28 kam er als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter an das preußische Staatsarchiv Wiesbaden, um schon zwei Jahre später an das Stadtarchiv Saarbrücken abgeordnet zu werden. Nach dem Anschluss des Saarlandes an das Deutsche Reich im Jahre 1935 kehrte er nach Wiesbaden zurück und wurde 1938 mit Planungsarbeiten zur Errichtung eines saarländisch-pfälzischen Staatsarchivs betraut. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war er als Oberleutnant für die Auslagerung der Archivalien aus der „Freimachungszone“ im Saarland und in der Pfalz verantwortlich. Seine bisherigen beruflichen Aufgaben prädestinierten ihn dazu, im Rahmen des Westfeldzuges der deutschen Wehrmacht ab 1940 zum „Archivschutz“ in den besetzten westlichen Ländern abkommandiert zu werden. Dabei galt es, die in den Besitz genommenen Archivalien im Interesse des Dritten Reiches sicherzustellen und auf ihrer Grundlage territoriale Ansprüche politisch und historisch zu belegen. So war der „Archivschutz“ nur in zweiter Linie eine wissenschaftliche Institution, dessen vorrangiges Ziel es war, die Neuordnungsbestrebungen Hitlers in Europa archivalisch zu unterstützen, was ihn regelmäßig zu enger Zusammenarbeit mit der Gestapo und dem SD veranlasste. Sante erhielt am 20. Mai 1940 den Befehl, sich bei der Heeresgruppe B in Düsseldorf zu melden, um im Gefolge der vorrückenden Wehrmacht die Archive in den Niederlanden, Belgien und Frankreich zu besichtigen, die Kriegsschäden festzustellen und die ersten Kontakte zu den Archivverwaltungen vor Ort aufzunehmen, um auf diese Weise die Entsendung von deutschen Archivkommissionen in diese Länder zu beschleunigen. Ab dem 8. Juli 1940 war er im Bereich der deutschen Militärverwaltung in Belgien und Nordfrankreich als Beauftragter des Generalquartiermeisters beim OKH für den Archivschutz mit Sitz in Brüssel tätig3, am 15. August übernahm er die Leitung der Brüsseler Archivschutzkommission. Sie hatte zum einen den Archivschutzauftrag (Schutz aller Archive vor Kriegsgefahren, Hilfe für den Wiederaufbau von beschädigten oder zerstörten Archivdepots und die Suche nach Archivalien, die infolge von Kriegseinwirkungen abhandenkamen oder ausgelagert waren). Zum anderen war seine Arbeit in dieser Zeit des Waffenstillstandsregimes von dem Bestreben geprägt, die besetzten Länder über die bloße wirtschaftliche Ausbeutung hinaus für die deutsche Kriegsführung nutzbar zu machen. Dazu gehörte im

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Falle Belgiens die Auslieferung von allen Materialien, die das Gebiet Eupen-Malmédy betrafen, das am 18. Mai auf Erlass des „Führers“ „heim ins Reich“ geholt worden war. Hinzu kam die Vorbereitung von Archivforderungen im Hinblick auf den künftigen Friedensvertrag. Dass diese ersten Maßnahmen einen repressiven Charakter besaßen, war auch Sante bewusst, der die Verhandlungen mit der belgischen Seite als ein „verschleiertes Diktat“ charakterisierte4, dabei jedoch nicht zu weit gehen wollte, um die Beziehungen nicht unnötig zu belasten. Ziel sollte es sein, „die belgische Geschichtswissenschaft aus ihren Bindungen an die englische und französische zu lösen und mit der deutschen zu verknüpfen“.5 Nach dem Sieg über Frankreich im Mai/Juni 1940 begab sich Sante umgehend nach Paris, um die Auswertung der Archive und Bibliotheken vorzubereiten und die an Frankreich im Friedensvertrag zu stellenden archivalischen Forderungen zusammenzustellen. Dabei ging es vor allem um Dokumente, die in früheren Zeiten, besonders während der Revolutionskriege unter Napoleon I., von Deutschland nach Frankreich gebracht worden waren. Hatte sich die historische →Westforschung bis 1933 zumeist nur in einem geschichtspolitischen „Abwehrkampf“ gegenüber Frankreich gefühlt, so bot die Besatzungsherrschaft in Belgien und Frankreich nun „schwindelerregende Möglichkeiten“.6 In einem allgemein zu beobachtenden Neuordnungseifer wollte die Archivverwaltung ein wissenschaftliches Westprogramm auflegen und zu diesem Zweck eng mit →Franz Petri und →Franz Steinbach von der →Westdeutschen Forschungsgemeinschaft zusammenarbeiten. Dabei waren gerade auch für Sante Grenzfragen nicht alleine von wissenschaftlicher Bedeutung, sondern besaßen im Kontext der Besatzungsherrschaft auch „einen verborgenen politischen Sinn“.7 Die hochtrabenden Pläne rieben sich jedoch schnell an den harten Realitäten des Krieges, standen doch gerade ab 1943 immer weniger Ressourcen für solche Projekte zur Verfügung, so dass die Archivverwaltung den Blick bereits auf die Zeit nach dem (gewonnenen) Krieg richtete. Gerade in den letzten Kriegsmonaten waren harte Verteilungskämpfe zwischen den verschiedenen Akteuren der deutschen Kulturpolitik im Ausland zu beobachten gewesen, was den propagandistischen Aktivismus und den Radikalismus der NSWeltanschauung nochmals erhöhte. So blieb schließlich auch der „Archivschutz“ in Belgien und Frankreich in Organisation und Struktur bis 1944 unverändert. Erst ab Frühjahr kam es zu Umstrukturierungen, doch blieb Sante noch bis Ende August in Brüssel und tat „seine Pflicht bis zum letzten Aktenstück“, indem er einen Großteil der von der Archivkommission produzierten Akten verbrannte. Sante zog ein positives Fazit seiner Arbeit und war der Überzeugung, die Zusammenarbeit mit den Archivaren der besetzten Länder in einem herrschaftsfreien Diskurskontext betrieben zu haben, so dass ein Unrechtsbewusstsein über das eigene Handeln gar nicht aufkam und über das Kriegsende hinaus zu der Auffassung führte, in den besetzten Ländern „unabhängig von aller Politik“ gearbeitet zu haben. Die vorwiegend mit technischen Fragen beschäftigten Archivare verstanden ihr Tun als Fortsetzung ih-

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rer bisherigen Arbeit, ohne die räumliche Verlagerung des Arbeitsplatzes in ein besetztes Land als einen Bruch im Selbstverständnis des eigenen Berufes zu verstehen. Zwischen den von Sante beschriebenen Formen der Kooperation auf der einen und den repressiven Maßnahmen auf der anderen Seite lässt sich aber ein Feld vielfältiger Grautöne ausmachen, auf dem Archivare zwischen praktisch-technischer Arbeit in den besetzten Gebieten, außenpolitischem Revisionismus und nationalsozialistischer Lebensraumpolitik manövrierten. Mit dieser Sicht auf die eigene Arbeit während des Krieges kann es nur wenig überraschen, dass Sante bereits Anfang der 1950er Jahre wieder in die internationale Kooperation einstieg und dabei auf ausländische Kollegen traf, denen er bereits in der Zeit des „Archivschutzes“ gegenübergestanden hatte. So bemühte er sich um die Aufnahme deutscher Archivare in das von dem High Commissioner of Germany (HICOG) finanzierte Europa-Austauschprogramm, was ihm schließlich auch gelang, so dass im April 1953 sechs deutsche Archivare, unter ihnen Sante, zu einem dreiwöchigen Aufenthalt nach Belgien und Frankreich reisen konnten. Er kündigte dem weiterhin im Amt befindlichen Brüsseler Generalarchivar Camille Tihon sein Kommen an, wollte sich aber doch vergewissern, an alter Wirkungsstätte willkommen zu sein: „Dann allerdings sehe ich besondere Vorteile, die Beziehungen, die ‚inter arma‘ begonnen, ‚armis depositis‘ fortzusetzen und zu pflegen“.8 Tihon hatte gegen diesen Besuch nichts einzuwenden und hegte keine Ressentiments gegenüber Sante.9 Der „Wunsch, weitermachen zu dürfen“10, ließ Sante, der zeitweilig als erster Direktor des 1952 eröffneten Bundesarchivs im Gespräch war, schließlich aber Direktor des Staatsarchivs in Wiesbaden blieb, den Sprung in die bundesrepublikanische Gesellschaft problemlos schaffen. Ausgeblendet blieb dabei auch bei ihm, dass er an der Schnittstelle von Verwaltung und Wissenschaft als Mitglied der gesellschaftspolitischen Funktionseliten einen Beitrag zum Funktionieren der NS-Diktatur und zur Besatzungsherrschaft geleistet hatte. Ihr Platz innerhalb der deutschen Wissenschaftslandschaft und ihre Verbindungen zu den höchsten politischen Stellen über die verschiedenen Regimewechsel hinweg, die Interaktion verschiedener, oft schwer auseinanderzuhaltender Institutionen und ihr Konkurrenzverhältnis während des Krieges untereinander dokumentieren die Bedeutung von Archivaren innerhalb einer Geschichte von Herrschaft. Santes Handeln bietet uns dabei einen Einblick in Fremdherrschaft, Besatzungspolitik und Besatzungspraxis, der zugleich neue Erkenntnisse zur besonderen Bedeutung von Aktengut im Kampf um historische Deutungsmacht in Kriegszeiten liefert. Er starb am 11. März 1984 in Wiesbaden.

Ulrich Pfeil

1 Vgl. auch Wolfgang Freund, Volk, Reich und Westgrenze: Deutschtumswissenschaften und Politik in der Pfalz, im Saarland und im annektierten Lothringen 1925–1945, Saarbrücken 2006, S. 98ff.; Els Herrebout, Georg Sante und der deutsche Archivschutz in Belgien während des Zweiten Welt-

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krieges, in: Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart, hg. v. Verband deutscher Archivarinnen und Archivare, bearb. v. Robert Kretschmar u. a., Essen 2007, S. 208–216. 2 Georg Wilhelm Sante, Die kurpfälzische Politik Johann Wilhelms und die Friedensschlüsse zu Utrecht, Rastatt und Baden (1711–1716), Elberfeld 1923. 3 HHSTAW, 1150, Bd. 23, Generalquartiermeister des Generalstabs des Heeres an den Militärbefehlshaber in Belgien und den Niederlanden vom 1.8.1940. 4 Ebd., 1150, Bd. 21, Bericht Sante vom 22.4.1941. 5 BArch, R 146, Bd. 44. 6 Peter Schöttler, Die historische „Westforschung“ zwischen „Abwehrkampf“ und territorialer Offensive, in: ders. (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a. M. 19992, S. 204–261, 212. 7 HHStAW, 1150, Bd. 1, Sante an Zipfel vom 27.6.1940. 8 Generalstaatsarchiv Brüssel, Archiv des Archivs, Port. 795, Sante an Tihon vom 21.3.1953. 9 Ebd. Tihon an Sante vom 26.3.1953. 10 Norbert Frei (Hg.), Hitlers Eliten nach 1945, München 2003, S. 272.

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Leo Santifaller Leo Santifaller (1890–1974)1 war nach 1945 der „starke Mann“ der österreichischen Geschichtswissenschaft und verfügte als Direktor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (IÖG) (1945–1962) sowie als Generaldirektor des neugegründeten Österreichischen Staatsarchives (1945–1954) über eine einzigartige Machtfülle. Es ist bemerkenswert, dass derselbe Mann, dessen steiler Aufstieg zur Macht untrennbar mit dem Ende des NS-Regimes im Jahr 1945 verknüpft scheint, ein klassisches Beispiel von Elitenkontinuität vor und nach Ende des Nationalsozialismus war. Immerhin erreichte er, in der Nachfolge von →Hans Hirsch (bzw. des sehr kurzfristig amtierenden →Heinz Zatschek), die prestigeträchtige Professur für Mediävistik und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Wien im Jahre 1943. Er musste sich überdies auch im Jahre 1946 im Rahmen der österreichischen Entnazifizierung wegen einer 1938 verfassten Schrift verantworten, die anlässlich des Anschlusses Österreichs an Hitlerdeutschland in Breslau erschienen war.2 Santifallers traditionalistische, an den historischen Hilfswissenschaften orientierte methodische Einstellung wurde bereits damals heftig als „positivistisch“ sowie als angeblich „exemplarisch“ für die an die Tradition des IÖG gekoppelte „Wiener Schule“ kritisiert.3 Hingegen blieben kritische Auseinandersetzungen mit seiner Karriere vor 1945 (bzw. mit seiner „Verflechtung“ innerhalb der völkischen Wissenschaften) weitgehend aus. Dieser Artikel soll hierzu einen ersten Versuch liefern, ohne jedoch Vollständigkeit zu beanspruchen bzw. ein abschließendes Urteil anzustreben. Leo Santifaller wurde am 24. Juli 1890 im Südtiroler Ort Kastelruth geboren. Zunächst studierte er Mathematik und Physik in Wien. Die Bekanntschaft mit seinem ersten großen historischen Mentor Oswald Redlich veranlasste Santifaller jedoch, ein Geschichtsstudium zu absolvieren. Auch der Einfluss seines später nicht immer hochgeschätzten Lehrers Hans Hirsch (mit dem gemeinsam Santifaller während des 1. Weltkrieges diente) war stark.4 Nach der Promotion 1919 sowie der anschließenden Absolvierung des Institutskurses am IÖG von 1919 bis 1921 ging Santifaller zunächst als Archivar ins heimatliche Südtirol, wo er bis 1927 das Staatsarchiv Bozen leitete. Vor allem aus politischen Gründen scheint den zu dieser Zeit am völkischen Anliegen stark interessierten Santifaller das Bleiben nicht zuletzt aufgrund der Italienisierungspolitik des Mussolini-Regimes schließlich unerträglich gewesen zu sein. Schließlich wurde ihm das Betreten italienischer Archive „unmöglich“ gemacht.5 In einem auf Ersuchen seines zeitweiligen Mentors Paul Kehr verfassten Lebenslauf schrieb Santifaller, er habe nur im „Interesse der Südtiroler Sache dort so lange ausgehalten“.6 Wesentlich wichtiger als Kehr, der Santifaller einen Posten bei der Monumenta Germaniae Historica (MGH) in Berlin verschaffte, wurde für die Laufbahn des jungen Historikers jedoch →Albert Brackmann, der Santifaller bereits in Südtirol förderte. Santifaller jedenfalls rühmte ihn später als seinen wichtigsten Mentor. Brackmann war es, der sowohl Santifallers Habilitation in Berlin ermöglichte (im Hintergrund hatte auch Hans Hirsch ein gutes Wort für Santifaller eingelegt),

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wie später auch die Professur in Breslau (1929). Brackmann seinerseits sprach von Santifaller als einem „Vorkämpfer für das Südtiroler Volkstum“, der so lange ausgeharrt habe, bis die Lage in Italien für ihn deshalb unhaltbar geworden sei.7 Santifaller bemühte sich nunmehr wiederholt, die exakte Urkundenforschung in der Tradition der Wiener Schule der Hilfswissenschaften als Basis für den „Volkstumskampf“ anzubieten, einen methodischen Ansatz, den er bereits 1928 (mit dem Fokus auf Südtirol) ausführlich darlegte.8 Diesen Ansatz nahm Santifaller noch 1942 als Pionierleistung für sich in Anspruch, als Heinz Zatschek dies ihm streitig zu machen versuchte.9 Tatsächlich deckten diese Vorhaben sich offensichtlich auch mit damaligen Intentionen von Brackmann. In diesem Kontext ist – bereits während des NSRegimes – auch Santifallers Bearbeitung des Schlesischen Urkundenbuches zu sehen. Er hatte diese nur auf ausdrücklichen Wunsch seines Breslauer Kollegen →Hermann Aubin übernommen, da er lieber seine Südtiroler Forschungen fortgesetzt hätte.10 Umso überraschender fiel eine heftige Kontroverse zwischen Santifaller und Brackmann aus dem Jahre 1935 aus. Hierbei ging es sowohl darum, dass Santifaller nicht zu Sitzungen der →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG) eingeladen wurde, als auch um Mittel zur Wissenschaftsfinanzierung. Santifallers Ansatz scheint gegenüber den modischen Zielsetzungen der Volksgeschichte als nachrangig beurteilt worden zu sein – und dies, obwohl der Historiker versicherte, die nationale Bedeutung seines Projektes sei von maßgeblichen Stellen sehr wohl erkannt worden, wobei er sich auf den Reichsminister für Wissenschaft und Volksbildung, Bernhard Rust, berief.11 Das gute Verhältnis zu Brackmann wurde allerdings nicht einmal vorübergehend getrübt. Ebenso wenig ist eine grundsätzliche Distanzierung Santifallers gegenüber dem NS-Regime festzustellen. Neben der erwähnten umstrittenen Schrift zur Begrüßung des Anschlusses, die jedenfalls zur Gänze in der Diktion von Srbiks gesamtdeutscher Geschichtsauffassung gehalten ist und sich mit ihr auch inhaltlich deckt, ist auch etwa Santifallers Bemühen, dem NSAltherrenbund beizutreten, zu erwähnen.12 Indes geriet der Historiker mit der offiziellen Südtirol-Politik des NS-Regimes zumindest vorübergehend in Konflikt. So befürchtete er 1939 Probleme mit der Gestapo, falls Richard Heuberger in seiner Rezension in der Historischen Zeitschrift Kritik an dem Erscheinungsort des Zweiten Bandes des Brixner Urkundenbuches übe.13 Der Druck dieses Werkes sei nur unter der Bedingung gestattet worden, dass es in einem norddeutschen Verlag erscheinen würde. Die zunehmenden Zweifel an der offiziellen Südtirol-Politik des NS-Regimes waren jedoch keinesfalls gleichzusetzen mit Distanz zu auch sehr vehement völkisch und nationalsozialistisch eingestellten Historikerkollegen. So erfreute sich Santifaller bester Beziehungen etwa zu Ludwig Bittner, der das von der →Alpenländischen Forschungsgemeinschaft geförderte Brixner Urkundenbuch enthusiastisch als „von höchster nationaler Bedeutung“ feierte.14 Es dürften durchwegs die bis 1945 ganz betont kollegialen Beziehungen zu alteingesessenen „nationalen“ Größen der Wiener Historikerschule wie Bittner und →Otto Brunner gewesen sein, die es Santifaller schließlich 1943 ermöglichten, von Breslau nach Wien zu wech-

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seln – anscheinend hatte hierbei auch →Theodor Mayer mitzureden (Santifaller übernahm 1943 auch die von ihm selbst so genannte „Wiener Abteilung“ der MGH).15 Wie Santifaller vom bestens völkisch-kollegial vernetzten Historiker vor 1945 zu einem Wissenschaftsorganisator großen Stiles nach 1945 wurde, der über ausgezeichnete politische Beziehungen verfügte, ist noch ein Forschungsdesiderat. Santifaller, von Hermann Wiesflecker als „moderner Ghibelline“16 bezeichnet, blieb jedenfalls, trotz manchem Zugeständnis an den klerikal-konservativen, österreichisch-patriotischen Zeitgeist der Nachkriegszeit, der großdeutschen, der Reichsgeschichte der Mittelalterlichen Kaiserzeit verhafteten Tradition der Wiener Schule der Mediävistik treu. Auch ein abschließendes Urteil über Santifallers Förderung von ehemaligen Nationalsozialisten nach 1945 kann hier leider noch nicht ausgesprochen werden. Zusammenfassend ist festzustellen, dass Santifaller sich schon früh völkisch engagierte und neben Wilhelm Bauer, Otto Brunner, Hans Hirsch und Heinrich Ritter von Srbik zu Vertretern der Wiener Schule der gesamtdeutschen Geschichtsauffassung gehörte. Darüber hinaus kooperierte er eng mit Hermann Aubin und Albert Brackmann. Es war Santifallers frühes Bestreben, die Methoden der Wiener Schule der Historischen Hilfswissenschaften als Grundlage einer national ausgerichteten Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Nicht eine grundsätzliche Distanz zum Nationalsozialismus, sondern ein mit seiner Herkunft verknüpftes Wechselbad der Gefühle gegenüber der Südtirol-Politik des Dritten Reiches dürften seinen Eifer eingeschränkt haben, sich der im Zweiten Weltkrieg begonnenen Umvolkungspolitik des NS-Regimes dienstbar zu machen.

Johannes Holeschofsky

1 Am ausführlichsten bis dato Hannes Obermair, Leo Santifaller (1890–1974). Von Archiven, Domkapiteln und Biografien, in: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, Wien 2008, S. 597–619. 2 Leo Santifaller, Deutschösterreich und seine Rückkehr in das Reich, Weimar 1938. Zum Thema zuletzt Hans Pfefferle u.a., Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft der Universität Wien von 1944 in den Nachkriegsjahren, Wien 2014 S. 38f. 3 Obermaier, Santifaller, S. 598f. 4 HHSta, SB NL Leo Santifaller, Nr. 8, Leo Santifaller an Hans Hirsch vom 18.12.1939 5 Ebd., Nr. 9–12, Leo Santifaller an Albert Brackmann vom 5.11.1932. 6 Ebd., Nr. 9, undatierter Lebenslauf Leo Santifallers, auf Ansuchen von Paul Kehr verfasst. 7 Eduard Mühle, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung. Schriften des Bundesarchivs 65, Düsseldorf 2006 S. 284. 8 HHSta, SB NL Leo Santifaller, 1–9, Denkschrift von Leo Santifaller für die Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums (undatiert), 1928/29. 9 Ebd., Nr. 9–12, Brief von Leo Santifaller an Albert Brackmann vom 20.4.1942. 10 Mühle, Aubin 284.

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11 HHSta, SB NL Leo Santifaller, Nr. 9–12, Brief von L.S. an Albert Brackmann vom 10.4.1935. 12 Ebd., Nr. 7–10, Otto Brunner an Leo Santifaller vom 4.11.1942 13 Ebd., Nr. 8, Leo Santifaller an Walther Kienast vom 25.2.1947. 14 Ebd., Nr. 5–12, Ludwig Bittner an Leo Santifaller vom 21.2.1941. 15 Manfred Stoy, Geschichte des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 1929–1947, Wien 2007, S. 247; Brackmann hatte gegenüber Metz erwähnt, ihn zur Unterstützung Hassingers nach Wien zu versetzen. Vgl. Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst S. 537. 16 Hermann Wiesflecker, Leo Santifaller – Versuch eines Lebensbildes, in: ders. (Hg.), Beiträge zur allgemeinen Geschichte. Alexander Novotny zur Vollendung seines 70. Lebensjahres gewidmet, Graz 1975, S. 185–205, 199.

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Hans Heinrich Schaeder Hans Heinrich Schaeder, geboren am 31. Januar 1896 in Göttingen und aufgewachsen im nationalprotestantischen Milieu seines Vaters, des Universitätstheologen Erich Schaeder, entschied sich nach dem Abitur für ein Studium der alten Sprachen sowie der Geschichte in Kiel. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs meldete er sich als Freiwilliger für den Fronteinsatz, er kam aber aufgrund von gesundheitlichen Einschränkungen nur für den Sanitätsdienst infrage. Nach dem Kriegsende beendete Schaeder sein Studium an der Universität Breslau nach insgesamt nur drei Semestern im Dezember 1919 mit der Verteidigung seiner Dissertation in orientalischer Philologie. Wiederum nur ein Jahr später reichte er seine unveröffentlicht gebliebene Habilitationsschrift ein, die sich mit dem persischen Dichter Hafis auseinandersetzte. Nach kurzer Zeit als Privatdozent in Breslau berief ihn die dortige Universität 1924 zum nichtplanmäßigen außerordentlichen Professor für Iranische Philologie. 1926 folgte er dem Ruf nach Königsberg auf den Lehrstuhl für Semitische Philologie, ehe er 1930 nach Leipzig als Professor für Orientalische Philologie wechselte. Wiederum nur ein Jahr später nahm Schaeder das Angebot an, in Berlin den verwaisten Lehrstuhl für Semitische Philologie zu übernehmen, den er bis 1945 bekleidete.1 Schaeder erlangte vor allem Bedeutung durch seine Arbeiten über den Zoroastrismus und Manichäismus2 sowie seine weitreichenden Geschichts- und Sprachkenntnisse im Bereich der Iranistik und Semitistik, die er nicht nur im fachlichen Verständnis betrachtete, sondern ebenso mit literarischen und künstlerischen Arbeiten aus jenen Kulturen verband.3 Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 nutzte der bereits international anerkannte Orientalist für seine persönlichen Ziele: Zum einen entledigte er sich unliebsamer Kollegen wie des Berliner Professors Franz Babinger, dessen „arische“ Abstammung Schaeder infrage stellte.4 Ebenso begann Schaeder ab 1933, seine bisherigen Forschungsschwerpunkte mit gegenwartspolitischen Entwicklungen durch Hinzufügen von Rassenuntersuchungen zu verknüpfen und präsentierte derartige Erkenntnisse auch außerhalb des universitären Bereichs. In einem 1934 für den Deutschen Orientverein gehaltenen Vortrag attestierte er dem Orient eine niedere Entwicklungsstufe aufgrund des zersetzenden, aufklärerischen Denkens des Hellenismus in dieser Region, in dessen Folge sich der Islam als dem Gebiet gemäße Religion etablieren konnte. Wegen dieser ‚einfacheren Geisteshaltung‘ im gesamten Orient sah Schaeder besonders dort die Gefahr einer Sowjetisierung in der Gegenwart.5 1934 beteiligte sich Schaeder auch an der wissenschaftlichen Rasseneinteilung von Völkern. In einer philologischen Abhandlung attestierte er den Armeniern, dass deren Sprache eine linguistische Verwandtschaft mit dem Deutschen zeige, ebenso gäbe es Überschneidungen in Glaube und Bildung.6 Sein eigentliches Hauptaugenmerk galt indes den Persern, die er als „arisches“ Urvolk verstand und sie deshalb als Teil der europäischen Kulturgeschichte deutete.7 Aus der gemeinsamen „arischen“ Tradition heraus, die dennoch aufgrund des niederen geistigen Entwick-

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lungsstandes einer deutschen Hegemonialstellung über den Orient bedurfte, leitete Schaeder zusätzlich eine antisemitische Grundintention des Islams ab. Zwar gehörten die Araber der semitischen Rasse an, doch sei der Prophet Mohammed ein Antisemit gewesen, der eine ‚judenfreie‘ Gesellschaft erschaffen habe.8 Geschichtlich betrachtet hätten sich aufgrund der rassischen Verbundenheit die muslimischen Eroberungen in Europa niemals gegen die europäische Kultur gerichtet. Im Kontrast dazu interpretierte er die Feldzüge asiatischer Heere als Versuch, Europa zu vernichten. Im russischen Bolschewismus zeige sich gegenwärtig abermals dieser asiatische Vernichtungswille, so Schaeder. Entsprechend forderte er die deutsche Jugend 1943 direkt zum Kampf auf, da Deutschland zusammen mit seinen Rassenbrüdern aus dem Orient Russland beherrschen müsse, da ansonsten den Ariern eine bolschewistisch-asiatische Herrschaft drohe.9 Schaeder gehörte in der Zeit des Dritten Reiches diversen NS-Organisationen an, er trat der NSDAP aber nie als Mitglied bei. Ihm ging es auch weniger um die Unterstützung und Verbreitung der NS-Ideologie, sondern er machte sich die Diktatur zunutze, um sein antiwestliches und antikommunistisches Weltbild zu verbreiten. Für dieses Ziel hielt er Vorträge vor Wehrmachtsangehörigen, wie er selbst nach Kriegsende vermerkte,10 und engagierte sich als Redner der NSDAP-Propagandaleitung im Gau Brandenburg.11 Bei derartigen öffentlichkeitswirksamen Auftritten positionierte er die Arier respektive die Indogermanen als Gegenstück zu den Semiten und rückte damit die Perser als „arisches“ Urvolk in den europäischen Kulturkontext. Eine solche rassische Verbundenheit bestand für Schaeder bis in die Gegenwart hinein, weshalb er immer wieder einen gemeinsamen Kampf von Deutschen und Persern gegen die westlichen Alliierten sowie Sowjetrussland einforderte.12 In der ab 1943 von Schaeder herausgegebenen und teils antisemitisch geprägten Schriftenreihe Arabische Welt favorisierte er einen solchen gemeinsamen Kampf auch mit den Arabern, da diese von der europäischen, sprich „arischen“ Kultur durchdrungen seien.13 Neben derartigen Einzelinitiativen von Schaeder beteiligte er sich überdies an verschiedenen Forschungszusammenschlüssen und -instituten. Für den vom Reichwissenschaftsministerium initiierten Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaft leitete Schaeder die Fachgruppe 7 (Germanen und Indogermanen) und arbeitete darüber hinaus in der von →Jakob Wilhelm Hauer geführten Fachgruppe 4 (Lebensmächte und Wesen des Indogermanentums) mit.14 Unter anderem brachte diese Arbeit 1944 einen Sammelband hervor, der auf einer 1942 stattgefundenen Tagung basierte und an der sich auch der Leiter des SS-Ahnenerbes, Walter Wüst, beteiligt hatte. Schaeder steuerte in diesem von ihm selbst herausgegebenen Band einen Artikel bei, in welchem er Russland in historischer Betrachtung aus dem europäischen Geschichtskontext löste und es vielmehr zum „barbarischen Asiatentum“ zählte, das schon immer die Unterwerfung Europas zum Ziel hatte.15 Schaeder definierte hier Europa als eine Angelegenheit der Deutschen, weshalb er diesen auch eine Hegemonialstellung zuschrieb.

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Er beteiligte sich ebenso mehrfach an den Arbeiten des →Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben, auch wenn er mit der Ideologie der Deutschen Christen nichts anzufangen vermochte.16 Auf der ersten Religionswissenschaftlich-Nordischen Arbeitstagung des Instituts im November 1941 sprach Schaeder über den dänischen Religionswissenschaftler Vilhelm Grønbech,17 der Vortrag von Schaeder auf der zweiten Tagung im Oktober 1942 hatte wieder die Ostgrenze der europäischen Kultur zum Thema. Wahrscheinlich wiederholte Schaeder hier nur seine Ausführungen, die er zuvor für den →Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften ausgearbeitet hatte. Darüber hinaus erklärte sich Schaeder 1942 bereit, in dem Institutsarbeitskreis für Neues Testament und Altjüdische Religionsgeschichte einen Vortrag über die arischen Einflüsse auf das Urchristentum zu halten, zu dem es aber aus terminlichen Gründen nicht kam.18 Einen solchen Vortrag hatte Schaeder bereits 1941 vor internationalen Wissenschaftlern auf der 10. Tagung der Luther-Akademie in Sondershausen gehalten,19 was verdeutlicht, dass es Schaeder in erster Linie darum ging, seine Thesen einem möglichst großen Auditorium zu präsentieren. In der von Alfred Rosenberg Ende Oktober 1944 gegründeten Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der bolschewistischen Weltgefahr wirkte Schaeder gleichfalls aktiv mit. Diese Arbeitsgemeinschaft wollte am Gegenbild des Bolschewismus die Ideologie des Nationalsozialismus stärken und vergab hierfür verschiedene Forschungsaufträge. Schaeder selbst übernahm hierfür das Thema „Stalin, Kritik einer Legende“,20 welches aber aufgrund des Zusammenbruchs des Dritten Reiches keine Realisierung mehr erfuhr. Schaeders Haltung zum Judentum blieb während des gesamten Dritten Reiches ambivalent. Es finden sich öfters antisemitische Aussagen in seine Schriften, ohne dass diese aber den Mittelpunkt seiner Argumentation bildeten. So half er einerseits dem jüdischen Arabisten Franz Rosenthal noch Ende 1938 zur Ausreise nach Schweden,21 andererseits versuchte er in Berlin einen Lehrstuhl für die „Erforschung der Judenfrage“ einzurichten.22 Die „Judenfrage“ stand für ihn aber nicht im Zentrum seines Interesses, sondern die Verkündigung einer „arischen“ Rassenverbundenheit zwischen den Deutschen und diversen Völkern des Nahen und Mittleren Ostens. Schaeder ging es um den Kampf gegen die Verwestlichung bzw. Bolschewisierung des Morgen- und des Abendlandes, einen Kampf, für den er im Nationalsozialismus einen nützlichen Gehilfen zu haben glaubte. Deshalb engagierte er sich in verschiedenen, teils in Konkurrenz zueinander stehenden Forschungszusammenschlüssen, um sein Weltbild großflächig zu verbreiten. Nach dem militärischen Zusammenbruch ging Schaeder 1945 nach Göttingen, er geriet dort aber aufgrund diverser öffentlicher Aussagen gegen die Besatzungsmächte immer wieder in Konflikt mit der Universitätsleitung, was unter anderem ein zeitweiliges Redeverbot nach sich zog.23 Er widmete sich neuen Forschungsprojekten, die aber größtenteils unvollendet blieben. Den abermaligen Zusammenbruch Deutschlands und die nunmehrige Besetzung des Landes konnte Schaeder

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mit seinem nationalkonservativen Weltbild offenbar nicht mehr in Einklang bringen, so dass er in einen Zustand anhaltender körperlicher Leiden und depressiver Stimmung verfiel und 1957 verstarb.24

Dirk Schuster

1 Biographische Angaben bei Omeljan Pritsak, Hans Heinrich Schaeder, in: Zeitschrift der Morgenländischen Gesellschaft 108 (1958), S. 21–40. 2 Ludmila Hanisch, Arabistik, Semitistik und Islamwissenschaft, in: Jürgen Elvert (Hg. u.a.), Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, S. 503–525, 513. 3 Carsten Colpe, Hans Heinrich Schaeder, in: RGG, Bd. 7, Tübingen 20084, Sp. 858. 4 Suzanne L. Marchand, German Orientalism in the Age of Empire, Cambridge 2010, S. 491. 5 Hans Heinrich Schaeder, Der Neuere Orient, in: ders. (Hg.), Der Orient und wir. Sechs Vorträge des Deutschen Orient-Vereins Berlin, Berlin u.a. 1935, S. 31–55. 6 Ders., Die Stellung des Armenischen unter den indogermanischen Sprachen, in: Deutsch-Armenische Gesellschaft Berlin (Hg.), Armeniertum – Ariertum, Potsdam 1934, S. 5–8. 7 Ders., Die islamische Welt im 19. Jahrhundert, in: Willy Andreas (Hg.), Die neue Propyläen-Weltgeschichte, Bd. 5, Berlin 1943, S. 473–514, 483. 8 Ekkehard Ellinger, Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus 1933–1945, EdingenNeckarhausen 2006, S. 365f. 9 Hans Heinrich Schaeder, Europa in der Abwehr des Ostens, in: Wille und Macht. Führerorgan der nationalsozialistischen Jugend (1943) 4, S. 16–22. 10 UA Göttingen (UAG), Cod. MS W. Trillhaas B, 62 [unfoliert]. 11 Ellinger, Deutsche Orientalistik, S. 183f. 12 Hans Heinrich Schaeder, Das persische Weltreich, in: Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau (Hg.), Die Weltreiche der Geschichte und die Großraumidee der Gegenwart, Breslau 1942, S. 9–39. 13 Ders., Zur Einführung, in: Friedrich Wilhelm Fernau: Imperialismus und arabische Frage, Heidelberg u.a. 1943, S. VII-XV; Manfred Bauschulte, Straßenbahnstellen der Aufklärung. Studien zur Religionsforschung 1945–1989, Marburg 2012, S. 257. 14 Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, Stuttgart 1999, S. 325f. 15 Hans Heinrich Schaeder, Asien und die Ostgrenze der europäischen Kultur, in: ders. (Hg.), Der Orient in der deutschen Forschung. Vorträge der Berliner Orientalistentagung Herbst 1942, Leipzig 1944, S. 6–17. 16 Staatsarchiv Leipzig, 22208, Nr. 624, Bl. 60, Schaeder an den Leiter des J.C. Hinrich-Verlages Leopold Klotz vom 20.11.1941. 17 BArch, R 4901/2966, Bl. 183–184, Bericht über die Tagung von Wolf Meyer-Erlach. 18 LKArchE, NL Grund, 85 [unfoliert], Protokolle der zweiten und dritten Sitzung des Arbeitskreises für Neues Testament und altjüdische Religionsgeschichte vom 15.–16.9.1942 sowie am 16.2.1943. 19 PA, R 67681, Bl. 224, Veranstaltungsprogramm der 10. Tagung der Luther-Akademie in Sondershausen vom 3.–16.8.1941. 20 BArch, NS 30/10, Bl. 15. 21 Bauschulte, Straßenbahnhaltestellen der Aufklärung, S. 258. 22 Hanisch, Arabistik, S. 516. 23 Vgl. die verschiedenen Eintragungen in UAG, Rek. PA Schaeder, Hans Heinrich [unfoliert]. 24 Pritsak, Hans Heinrich Schaeder, S. 37.

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Hildegard Schaeder Hildegard Schaeder wurde am 13. April 1902 als eines von sechs Kindern der Jugend- und Kinderbuchautorin Anna Schaeder, geborene Sellschopp, und des Professors für systematische Theologie Erich Schaeder in Kiel geboren. Nach dem Abitur 1920 studierte sie Osteuropäische Geschichte, klassische Philologie (später Byzantinistik und Slavistik) und Philosophie in Breslau und Hamburg. 1927 wurde sie an der Universität Hamburg bei Richard Salomon mit der Dissertation „Moskau – das dritte Rom. Studien zur Geschichte der politischen Theorien in der Slawischen Welt“ promoviert. Diese Arbeit, die 1929 erstmals erschien und nach 1945 zwei weitere Auflagen erfuhr,1 begründete maßgeblich das fachwissenschaftliche Ansehen Hildegard Schaeders, auch wenn in der Forschung heute weitgehender Konsens darüber besteht, dass es sich bei der Theorie von Moskau als einem „dritten Rom“ um eine theologisch-eschatologische Lehre und nicht um die Programmatik der weltlichen Herrscher Russlands handelte.2 Nach dem Abschluss der Promotion erhielt Hildegard Schaeder ein Habilitationsstipendium der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft. Von 1928 bis 1930 forschte sie in Prag sowie in Nordrussland zur Entwicklung der politischen Theorie in Russland im 18. Jahrhundert. Die Annahme der bereits fertiggestellten Habilitationsschrift in Breslau wurde jedoch, soweit heute bekannt, durch die dortige nationalsozialistische Hochschulgruppe verhindert, der Hildegard Schaeder als Schülerin des jüdischen Ordinarius Richard Salomon galt.3 Nach dem Scheitern ihrer universitären Karriere arbeitete Hildegard Schaeder zunächst als Hauslehrerin und schrieb sich als Gasthörerin an der Universität Rostock ein. 1934 erschien ihre Studie “Die dritte Koalition und die Heilige Allianz“. In dieser interpretierte sie die von Russland, Österreich und Preußen 1815 begründete „Heilige Allianz“ als ersten Versuch, eine europäische politische Ordnung auf Grundlage des Christentums herzustellen.4 Für Schaeder stellte dieser christliche Einigungsgedanke zugleich eine fortdauernde politische Aufgabe dar, wobei sie 1934 in Adolf Hitler den potentiellen Akteur erblickte, der eine solche Neuordnung Europas realisieren könnte, während sie nach 1945 den Ökumenischen Rat als Vertreter der Idee einer „Heiligen Allianz“ benannte. Durch die Vermittlung ihres Bruders, →Hans Heinrich Schaeder, Ordinarius für Orientalische Sprachen in Berlin,5 kam Hildegard Schaeder im Herbst 1934 in Kontakt zu →Albert Brackmann und der →Nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft (NOFG). Ab dem 1. April 1935 arbeitete sie als wissenschaftliche Stipendiatin bei der →Publikationsstelle Dahlem PuSte und forschte dort zum Thema „BrandenburgPreußen und die polnischen Teilungen unter besonderer Berücksichtigung des Bündnisses von 1790“.6 Darüber hinaus gehörte sie der Redaktion der hauseigenen Zeitschrift →Jomsburg an, leitete hauptverantwortlich die Polnische Kartei und war gemeinsam mit Robert Adolf Klostermann für die Zeitschriften- und die Presseabteilung der PuSte zuständig.7 Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion ka-

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men weitere Aufgaben hinzu, darunter die Beobachtung der russischen Presse sowie die Mitarbeit an einem Atlas zu Weißruthenien.8 Trotz ihrer langjährigen Tätigkeit und ihrer zahlreichen Aufgaben wurde Schaeder jedoch von →Johannes Papritz, dem Leiter der PuSte, im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen nicht fest angestellt. Erst im April 1943 erhielt sie einen Vertrag als wissenschaftliche Referentin, allerdings ohne die von ihr anvisierte Verbeamtung.9 Schaeders Tätigkeit bei der PuSte ging mit einer Veränderung der Ausrichtung ihrer Publikationen einher. Hatte ihr Schwerpunkt bisher auf der Kirchen- und Ideengeschichte Russlands gelegen, so wandte sie sich nun der ‚polnischen Frage‘ zu und übernahm hierbei wesentliche Versatzstücke des völkischen Diskurses der deutschen →Ostforschung. So zog Schaeder in ihrer 1937 erschienenen Arbeit „Geschichte der Pläne zur Teilung des alten polnischen Staates seit 1386. I. Der Teilungsplan von 1392“ eine Kontinuitätslinie von der Zersplitterung des polnischen Staates in Teilfürstentümer im Hochmittelalter über einen Teilungsplan des Herzogs von Oppeln 1392 zu den Teilungen Polen-Litauens am Ende des 18. Jahrhunderts und interpretierte dies als Ausdruck eines „Widerstreit[s] der staatsbildendenden und staatsauflösenden Kräfte im Innern des polnisch-litauischen Staates selbst“, während die benachbarten Mächte lediglich „ihre politischen Rechte und Bedürfnisse und Wünsche geltend“ gemacht hätten.10 1392 wie 1795 seien die „inneren Grenzen des polnischen Staats […] zutage“ getreten, womit sie zugleich die Nachbarstaaten Polens von jeglicher „willkürliche[r] Raub- und Zerstörungstendenz“11 freisprach. Es folgten Publikationen in der Jomsburg, in denen sie die Legitimität der territorialen Ausdehnung der Zweiten Polnischen Republik unter Verweis auf eine in deren östlichen Gebieten nicht vorhandene „Volkstumsmehrheit“ in Abrede stellte,12 sowie 1942 zur „Warägerfrage“, wobei Schaeder den Beginn der altrussischen Staatlichkeit als das Werk skandinavischer Normannen darstellte.13 1943 gehörte sie zu den Autorinnen und Autoren des programmatischen Kompendiums, das Albert Brackmann zu dessen 70. Geburtstag gewidmet war.14 Anfang 1943 sprach Schaeder auf Anforderung des Oberkommandos der Wehrmacht vor Offizieren und Mannschaften der Heeresgruppe Nord in Pskov und Umgebung.15 In ihren Vorträgen, die nach ihrem Verständnis dazu dienen sollten, „den deutschen Soldaten in Nordwestrussland in seinen dortigen Aufgaben zu fördern und ihm darüber hinaus gediegene geistige Anregung und Bildung [zu] vermitteln“16, legitimierte Schaeder die deutsche Besatzungspolitik, indem sie die Geschichte des nordwestlichen Russlands als „deutsche“ Geschichte interpretierte, die seit über tausend Jahren von den Taten „germanischer und deutscher Seefahrer und Staatsgründer“, den „Vorfahren“17 der heutigen Soldaten, geprägt sei. Der Wehrmacht sei es zu verdanken, dass die kulturellen Schätze „aus der Feuerlinie in das Hinterland gerettet“ worden seien und dass der „alte übermütige Spruch ‚Wer kann etwas ausrichten gegen Gott und Grossnowgorod‘ verklungen“18 sei. Ab 1935 war Hildegard Schaeder Mitglied der Bekennenden Kirche und des „Dahlemer Kreises“ in der Gemeinde von Martin Niemöller und Helmut Gollwitzer

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in Berlin. Seit 1936 studierte sie an der illegalen Kirchlichen Hochschule in Berlin Theologie.19 Spätestens seit der Verhaftung Martin Niemöllers im Juli 1937 gehörte Schaeder zum engeren Kreis derjenigen, die gezielt Menschen halfen, die als „Taufjuden“ diskriminiert und verfolgt wurden. Sie organisierten gefälschte Papiere, versorgten untergetauchte Gemeindemitglieder mit Lebensmitteln, organisierten Fluchtmöglichkeiten und sandten Pakete in das Ghetto Lublin. Schaeder leitete zudem später stellvertretend für Helmut Gollwitzer eine „dogmatische Arbeitsgemeinschaft“, die die von der Universität Ausgeschlossenen versammelte.20 Am 14. September 1943 wurde Hildegard Schaeder nach einer Denunziation wegen „Begünstigung flüchtiger Juden“21 verhaftet und nach sechsmonatiger Einzelhaft im Polizeigefängnis Berlin Alexanderplatz am 15. März 1944 in das KZ Ravensbrück deportiert (Haftnr. 31.795).22 Mehrmalige Versuche ihres Bruders, Hans Heinrich Schaeder, die Freilassung seine Schwester zu bewirken, scheiterten. In Ravensbrück lag Hildegard Schaeder mehrere Wochen mit Lungenentzündung im Krankenrevier und magerte bis auf die Knochen ab. Ab August 1944 bearbeitete sie in der Verwaltung die Häftlingskartei. Nachdem sie im April 1945 bereits zur Ermordung selektiert worden war, rettete die Intervention einer polnischen Mitgefangenen ihr das Leben.23 Ende April wurde Hildegard Schaeder auf einem der Evakuierungsmärsche aus dem Lager getrieben, von dem sie sich in der ersten Nacht nach einer Explosion eines nahe gelegenen Munitionslagers absetzen konnte.24 Anschließend arbeitete sie zunächst (von Mai bis November 1945) als Dolmetscherin und Pfarrgehilfin in Parchim; später leitete sie die ostkirchliche Arbeitsgemeinschaft der Universität Göttingen. 1948 stand ihr der Weg zur Fortsetzung der Ostforschung in Marburg oder der Wissenschaft an der wieder eröffneten Kirchlichen Hochschule Berlin offen.25 Sie entschied sich jedoch für ein Angebot Martin Niemöllers und war von 1948 bis 1970 als Oberkirchenrätin im kirchlichen Außenamt der evangelischen Kirche (Referentin für die orthodoxen Kirchen bei der EKD) in Frankfurt am Main tätig. Rückblickend begründete sie ihre Entscheidung damit, dass sie ihre „Arbeit, seit den plötzlich geöffneten Toren von Ravensbrück Ende April 1945, immer gern als Diakonie“ aufgefasst habe; der Diakon aber gehe dahin, „wo die Not am größten ist“, so Schaeder unter Bezug auf eine Regel des Hl. Benedikt. Diese größte Not erblickte sie in „dem unvergleichlich leidenden Teile der Christenheit, der Orthodoxen Kirche des Ostens und der Diaspora in allen Kontinenten.“26 In ihrer Funktion als Referentin bei der EKD war Hildegard Schaeder maßgeblich an der Wiederaufnahme des Dialogs zwischen der deutschen Evangelischen Kirche und der Russisch-Orthodoxen Kirche beteiligt. In zahlreichen Veröffentlichungen setzte sie sich mit Fragen der west-östlichen Ökumene auseinander, sie bereitete die Reise von Martin Niemöller nach Moskau 1952 vor und war Teil der Delegation beim Besuch des damaligen Präsidenten der Synode der EKD und späteren Bundespräsidenten, Gustav Heinemann, in der Sowjetunion 1954.27 1962 kehrte Schaeder zudem noch einmal an die Hochschule zurück – zunächst als Lehrbeauf-

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tragte, und dann von 1965 bis 1977/78 als Honorarprofessorin für Geschichte der orthodoxen Kirchen an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Das thematische Spektrum ihrer Lehrveranstaltungen reichte hierbei von der Osteuropäischen Geschichte über die Geschichte der russischen Literatur bis zur orthodoxen Kirchengeschichte und Theologie.28 Am 11. April 1984 ist Hildegard Schaeder in Freiburg i.Br. gestorben.29 Sie hat sich nach 1945 wiederholt in die öffentlichen Debatten über den Umgang mit der jüngsten deutschen Vergangenheit eingebracht. Insbesondere mit ihrer autobiographischen Schilderung der Hafterfahrungen in Ravensbrück in dem Buch „Ostern im KZ“, das 1947 erstmals erschien und im Folgenden mehrere Auflagen erfuhr,30 vertrat sie eine religiöse Deutung der NS-Zeit, bei der sie ihre Haftzeit als spirituelles Erlebnis begriff.31 Ihr Verständnis von Nächstenliebe und Vergebung, das auch die KZ-Aufseher der SS mit einschloss, traf nicht überall auf Zustimmung und rief teilweise heftige Gegenreaktionen hervor. Schaeder hat auf diese Kritik öffentlich geantwortet und dabei ihre christliche Interpretation der Jahre der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verteidigt.32 1978 erhielt sie das „Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland“, und in Frankfurt am Main ist heute eine Straße nach ihr benannt.33 Aufgrund ihres Engagements für verfolgte Jüdinnen und Juden wurde Hildegard Schaeder im April 2000 von der Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.34 In der Literatur zum christlichen Widerstand gegen das NS-Regime ist der Name Hildegard Schaeders, vor allem dank der langjährigen Arbeit Gerlind Schwöbels,35 heute einigermaßen präsent. In der Osteuropaforschung ist er hingegen, ebenso wie die Person des marxistischen Osteuropahistorikers Georg Sacke (1902–1945), der Widerstandsgruppen mit Informationen versorgte und bei einem Todesmarsch nach der Räumung des KZ Neuengamme Ende April 1945 starb, weitgehend in Vergessenheit geraten.36 Erst Heike Anke Berger hat sich in ihrer Dissertation eingehend mit der Biographie Schaeders beschäftigt und hierbei erstmals auch ihr Wirken im Kontext der deutschen Ostforschung beleuchtet.37 Die Biographie Hildegard Schaeders zeigt, dass retrospektive und sich vermeintlich ausschliessende Zuschreibungen im Leben einer Person miteinander verwoben sein können. Das in der Literatur dominierende Bild der christlichen Oppositionellen umfasst nur einen Teil der Biographie Hildegard Schaeders, zu deren vollständiger Beschreibung ebenso ihre Arbeit für die PuSte wie auch die Vorträge in der besetzten Sowjetunion gehören. Dies festzustellen, bedeutet nicht, ihre Bedeutung als Widerständlerin gegen den Nationalsozialismus zu mindern. Vielmehr hat sie durch ihr selbstloses Eintreten für die Opfer des Regimes bewiesen, dass andere Verhaltensweisen, als sie die übergroße Mehrheit der völkischen Forscher und Forscherinnen zwischen 1933 und 1945 an den Tag legten, möglich waren.

Sabine Arend/Hans-Christian Petersen

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1 Hildegard Schaeder, Moskau, das dritte Rom. Studien zur Geschichte der politischen Theorien in der slawischen Welt, Prag 1929 (Darmstadt 19572, 19633). 2 Vgl. u.a. Edgar Hösch, Die Idee der Translatio Imperii im Moskauer Russland, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 12.3.2010. URL: http://www.ieg-ego.eu/hoesche-2010-de, URN: urn:nbn:de:0159–2010102586 [27.7.2016]. 3 Vgl. hierzu Heike Anke Berger, Deutsche Historikerinnen 1920–1970. Geschichte zwischen Wissenschaft und Politik, Frankfurt a.M. 2007, S. 106, sowie den Brief Hildegard Schaders aus Prag vom 6.2.1929, in: GSTA Dahlem, VI. HA, Nl Carl Heinrich Becker, Nr. 3835. 4 Hildegard Schaeder, Die dritte Koalition und die Heilige Allianz. Nach neuen Quellen, Berlin u.a. 1934 (ergänzte Auflage unter dem Titel „Autokratie und Heilige Allianz. Nach neuen Quellen“ Darmstadt 19632). 5 Vgl. zur Person Hans Heinrich Schaeders, der vielfältig für nationalsozialistische Institutionen und Organisationen aktiv war: Dirk Schuster, Hans Heinrich Schaeder, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL) 37 (2016), Sp. 1038–1050; vgl. den Beitrag zu Hans Heinrich Schaederin diesem Handbuch. 6 Vgl. BArch, R 153/1255, unpag., Notiz von Johannes Papritz vom 3.12.1934. Das Thema wurde bald darauf erweitert: „Die Idee der Teilung Polens in der Geschichte“. Vgl. GSTA, HA Rep 178 B, Nr. 824, Nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft Berlin Dahlem. Übersicht über die der NOFG bekanntgegebenen deutschen Ostarbeiten. Stand Juli 1934. 7 Vgl. BArch, R 153/10, unpag., Geschäftsverteilungspläne der PuSte vom 12[?].7.1938 und 16.1.1939. 8 Vgl. BArch, R 153/1666, unpag., Geschäftsverteilungsplan vom 1.6.1941, sowie zu Weißruthenien ebd., R 153/302 und 1054, unpag. Siehe GSTA, HA Rep 178 B, Nr. 826, S. 6–20, 14, Tätigkeitsbericht der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften 1940/41. 9 Vgl. hierzu detailliert Berger, Deutsche Historikerinnen, S. 156–177 (vgl. Anm. 3). 10 Hildegard Schaeder, Geschichte der Pläne zur Teilung des alten polnischen Staates seit 1386. I. Der Teilungsplan von 1392, Leipzig 1937, S. VIII. 11 Ebd., S. VIII und 88. Vgl. hierzu auch die Rezensionen von Adalbert Hahn, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 50 (1938), S. 149f., sowie von Alfred Lattermann, in: Deutsche Wissenschaftliche Zeitschrift für Polen (1937) 33, S. 259. 12 Vgl. Hildegard Schaeder, Die historischen Ostgrenzen Polens im Verhältnis zur heutigen polnischen Volkstumsmehrheit, in: Jomsburg 2 (1938), S. 28–34; dies., Die neuen polnischen Wojwodschaftsgrenzen, in: ebd., S. 197–199. 13 Vgl. dies., Die Normannomachie. Der Ursprung des altrussischen Staates im Meinungskampf der Jahrhunderte, in: Jomsburg 6 (1942), S. 298–305; vgl. auch dies., Waren die Normannen an der Gründung des litauischen Staates beteiligt?, in: ebd., S. 122–124. Vgl. diese Argumentation auch bereits vier Jahre zuvor: Dies., Russischer Winter vor 1000 Jahren, in: Geistiges Leben, Nr. 97/98, 27.2.1938. Für eine Einordnung der ‚Warägerfrage‘ in die widerstreitenden historiographischen Traditionen vgl. Birgit Scholz, Von der Chronistik zur modernen Geschichtswissenschaft. Die Warägerfrage in der russischen, deutschen und schwedischen Historiographie, Wiesbaden 2000. 14 Hildegard Schaeder, Epochen der Reichspolitik im Nordosten von den Luxemburgern bis zur Heiligen Allianz, in: Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben. Hg. von Hermann Aubin u.a., Bd. 2, Leipzig 1943, S. 1–43. 15 Vgl. BArch, R 153/1255, Hildegard Schaeder, Bericht über die Vortragsreise im Gebiet der Heeresgruppe Nord im März 1943. 16 Ebd., S. 4. 17 Zentralarchiv der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Darmstadt (ZAEK HN), Bestand 232 (Sammlung Gerlind Schwöbel zu Hildegard Schaeder), Ordner Nr. 7, S. 1, Typoskript Hildegard

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Schaeder, Wikinger und Hanseaten in Nordwest-Russland. Zusammenfassung von Vorträgen vor Offizieren und Mannschaften der Heeresgruppe Nord, März 1943. 18 Ebd., Typoskript Hildegard Schaeder, Die Hanseaten in Nowgorod, 1943, S. 5. 19 Vgl. UAFfm, Abt. 14, Nr. 109, Bl. 20–22, 20, Lebenslauf Hildegard Schaeders vom 11.8.1965. 20 Vgl. Evangelisches Zentralarchiv in Berlin (EZA), 50/960, Bericht 9a, vierseitiger Text über die Gemeinde. 21 Vgl. ZAEK HN, Bestand 232, Nr. 1, unpag., Erklärung Hildegard Schaeders über ihre Verhaftung und die anschließende Haftzeit vom 21.1.1954 sowie eine Kopie des Auszugs aus der SchutzhaftKartei. 22 Archiwum Glowna Komisja Badania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu, Instytut Pamieci Narodowej Warzawa, MF Nr. 135 Sygn. 62/100–101, Zugangsliste vom 15.3.1944. 23 Vgl. den 1947 erstmals erschienen autobiographischen Bericht Hildegard Schaeders „Ostern im KZ“, der 1995 in vierter Auflage erschien, in: Gerlind Schwöbel, Leben gegen den Tod. Hildegard Schaeder: Ostern im KZ, Frankfurt a.M. 19962, S. 49–99, 70–74. 24 Ebd., S. 93f. 25 EZA 742/512, Schaeder an Bischof D.D. Hermann Kunst in Bonn, Pfingsten 1972. Schaeder spricht hier von einer Fortsetzung der „Arbeit im Preußischen Geheimen Staatsarchiv/Berlin-Dahlem, jetzt in Marburg“. 26 Ebd., Schaeder an den stellvertretenden Ratsvorsitzenden der EKD, Herrn Bischof Dr. Kurt Scharf Berlin, 15.3.1970. 27 Vgl. hierzu EZA 4/441, Martin Niemöller erzählt von seinem Besuch im Patriarchat Moskau (nach Stichworten wiedergegeben von Dr. Hildegard Schaeder), in: Bekennende Kirche, 15.2.1952, S. 13– 19; Bericht über den Besuch einer Delegation von Mitarbeitern der Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Deutschland in Moskau vom 17.6.–6.7.1954; ZAEK HN, Bestand 232, Nr. 9, unpag., Kontakte der EKD zu den Orthodoxen Kirchen des Ostens, seit dem Zweiten Weltkrieg. Vortragstyposkript von Hildegard Schaeder, 30.10.1967; Martin Rohkrämer, Kirchliche Ost-West-Beziehungen zwischen 1952 und 1959, in: Ein Richter, ein Bürger, ein Christ. Festschrift für Helmut Simon. Hg. von Willy Brandt u.a., Baden-Baden 1987, S. 929–951. Schaeder ist später auch maßgeblich am theologischen Dialog zwischen der EKD und der Russisch-Orthodoxen Kirche beteiligt gewesen. Vgl. dazu EZA 4/ 441, sowie die Würdigung zu ihrem 70. Geburtstag, A-14.4.72, ELAB, 55/538, sowie Katharina Wegner, Hildegard Schaeder und der Beginn des theologischen Dialogs zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Russischen Orthodoxen Kirche, in: Im Dienste der Sache. Liber amicorum für Joachim Gärtner. Hg. von Ricarda Dill u.a., Frankfurt a.M. 2003, S. 719–727. 28 Vgl. UAFfm, Abt. 14, Nr. 109, die Titel ihrer Lehrveranstaltungen. 29 Vgl. den Nachruf vom 11.4.84, in: Mitteilungen aus Ökumene und Auslandsarbeit vom 1.2.1985. 30 Hildegard Schaeder, Ostern im KZ, Berlin 1947 (Neuauflage unter dem Titel „Die letzte Freiheit“ Berlin 19512; „Ostern im KZ“ Berlin u.a. 19603). 31 Bereits im März 1944 hatte Schaeder aus Anlass ihrer Überstellung vom Polizeigefängnis nach Ravensbrück ihre halbjährige Haftzeit in Berlin Alexanderplatz als „halbjährige, vertraute und kaum abgelenkte Zwiesprache mit Gottes Heiligem Wort“ beschrieben, für die sie „von ganzem Herzen dankbar“ sei: „Es war vielleicht das größte Geschenk meines Lebens.“ ZAEK HN, Bestand 232, Nr. 2, unpag., Hildegard Schaeder an ihre Mutter, Anna Schaeder vom 14.3.1944. Der Brief findet sich ebenfalls in Schwöbel, Leben, S. 59f. 32 Vgl. den Briefwechsel mit Ernest Alvis sowie die weiteren diesbezüglichen Zuschriften: Zweierlei Sprache. Briefwechsel zwischen Hildegard Schaeder und Ernest Alvis, in: Göttinger Universitätszeitung 2 (1947) 8, S. 6–8; Briefe auf „Zweierlei Sprache“. Auslandsstimmen zur deutschen Schuld, in: ebd. 2 (1947) 15, S. 12f. 33 Vgl. URL: http://www.meinestadt.de/frankfurt-am-main/stadtplan/strasse/hildegard-schaederstr (20.11.2016).

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34 Mit Kommissionsbeschluss vom 15.5.2000 wurde ihr die Ehrenmedaille „Gerechte unter den Völkern“ mit einer Ehrenurkunde zuerkannt und am 10.10.2000 posthum verliehen. Siehe Urkunde und Medaille in den Sammlungen der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Signatur V2284 N und V2285 N. 35 Vgl., neben der bereits erwähnten Publikation „Leben gegen den Tod“ (vgl. Anm. 23), u.a. auch Gerlind Schwöbel, Hildegard Schaeder, in: BBKL 8 (1994), Sp. 1379–1384. Vgl. zur Person Gerlind Schwöbels: Antje Schrupp, Gerlind Schwöbel, in: Evangelisches Frankfurt 26 (2002) 7, URL: http:// www.evangelischesfrankfurt.de/stale/archiv/archiv_02_20.htm (20.11.2016); Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, „Pionierin der Gleichberechtigung im Pfarramt“, 20.4.2010, URL: http://www. ekhn.de/ueber-uns/presse/mitteilungen/detailpresse10/news/pionierin-der-gleichberechtigung-impfarramt.html (20.11.2016). 36 Vgl. zu Schaeder Klaus Zernack, Hildegard Schaeder 75 Jahre alt, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 25 (1977), S. 317; den Nachruf von Julia Oswalt, Hildegard Schaeder (1902–1984), in: ebd. 33 (1985), S. 156f., sowie die Erwähnungen der KZ-Inhaftierung Hildegard Schaeders bei Michael Burleigh, Germany turns Eastwards: a Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge u.a. 1989, S. 237f.; Gabriele Camphausen, Die wissenschaftliche historische Russlandforschung im Dritten Reich 1933–1945, Frankfurt a.M. u.a. 1990, S. 191f. 37 Vgl. Berger, Deutsche Historikerinnen (vgl. Anm. 3).

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Otto Scheel Geboren in Tondern, Nord-Schleswig, in einer bescheidenen dänischen, evangelischen Mittelschichtfamilie, wurde Jürgen Otto Einar Immanuel Scheel (1876–1954) einer der wichtigsten Kirchenhistoriker Deutschlands und glühender Verfechter völkischer Politik.1 Seine akademische Ausbildung erhielt er an den Universitäten Halle und Kiel. Scheel beendete 1900 seine Dissertation über „Die Anschauung Augustins über Christi Person und Werk“. 1906 trat er eine Position als Privatdozent in Kiel an. Kurz danach wurde er Titularprofessor für Religion und nahm die prestigereichere Stelle eines Professors für Kirchengeschichte an der Universität Tübingen an.2 Scheel entwickelte zügig seine Reputation mit Werken über St. Augustin und Martin Luther.3 Aber er entwickelte genauso ein Gespür für deutschnationale und liberale Politik.4 Schleswig-Holsteins Liberale Partei erlitt schwere Verluste an die Sozialdemokraten im Juni 1903. Tief betroffen von diesen Wahlverlusten an die „vaterlandlose“ SPD begann der junge Nationalliberale eine „Blut-und-Boden“-Kampagne gegen die „wurzellose“ Internationale der Sozialisten zu fördern. Im Zusammenhang mit den kolonialen Träumen in Deutsch-Südwest-Afrika erzielte diese nationalistische Partei eine schnelle Akzeptanz bei den Wählern der ländlichen Mittelschicht; eine bürgerliche Koalition mit den Konservativen verhalf seiner Partei 1907 schliesslich 7 von 11 provinziellen Reichstagsmandaten zu erhalten. Obwohl die Sammlung der Konservativen und antisemitischen Rechten 1909 endete, pflegte Scheel vorsorglich die engen Bande mit anderen völkischen Intellektuellen wie Ernst Troeltsch, Friedrich Michael Schiele und Otto Baumgarten.5 Der Erste Weltkrieg forderte diese völkischen Akademiker heraus, um ihren vorbehaltslosen Nationalismus an den humanistischen Idealen des klassischen Liberalismus zu überprüfen. Wie seine notablen Zeitgenossen stand Scheel unter dem Dilemma, einerseits die annexionistischen Gelüste des Pangermanismus zu unterstützen, sich aber andererseits für fortschrittliche Friedensinteressen und politische Reformen im Reichstag einzusetzen. Die Sachverhalte und schwindende militärische Optionen abwägend, entschied sich Scheel für die letztere: die „übernationalen und überweltlichen Güter […], die uns durch Martin Luther beschert wurden“ zu sichern. Er unterstützte im Reichstag die Friedensresolution vom Juli 1917.6 Scheels Vernunftpazifismus bedeutete keineswegs eine Abkehr von seinen völkischen Überzeugungen.7 Er griff als Nachkriegsaktivität umgehend in die Diskussion um den Dänisch-Deutschen Abstimmungskampf in Nord-Schleswig ein. Dieser endete mit der Session Nord-Schleswigs nach Dänemark 1920.8 Als Gründungsmitglied des deutschnationalen Schleswig-Holsteiner Bundes wurde Scheel ein führender Akteur mit antidänischem Flair in seiner Provinz.9 Das überschwängliche Interesse am Schicksal des Grenzgebiets führte Scheel 1924 zurück an die Universität Kiel. Allerdings führte er keine Textexegese an lateinischen Manuskripten über die religiöse Wahrheit aus. Die letzten drei Dekaden seines Lebens sollte er sich nicht

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mehr der Theologie, sondern der Geschichte, Kultur und Politik, namentlich der Landesgeschichte Schleswig-Holsteins, der nordisch-germanischen Kultur und der deutschen Geopolitik widmen.10 Scheels völkische Besessenheit beschränkte sich nicht auf den Nordseeraum allein. Als Präsident des Schleswig-Holsteiner Bundes wurde er Mitglied der Baltischen Kommission für die Erhaltung des deutschen Volkstums im Osten.11 Zu einer Zeit, als die Linksliberalen bereits ihre Wähler davor warnten, ihre Kinder nicht darin zu unterrichten, „welcher Rasse er entstammt“, eröffneten sich Scheel mit den provinziellen Wurzeln der völkischen Ideologie ein unvergleichbar radikalerer Bildungsstandard. Er wechselte bald zur rechtsliberalen Deutschen Volkspartei (DVP), die seiner Überzeugung am nächsten kam.12 Die DVP machte Anlehnungen an den klassischen Liberalismus, und Scheel selbst insistierte, dass sie „eine liberale Regelung der Minderheitsfragen in Schleswig-Holstein“ anstrebe, „die der dänischen Minderheit die Pflege ihres Volkstums“ sichern würde.13 Aber seine sehr eigenwilligen demagogischen Ansichten einer „echten dänischen Minderheit“ näherten ihn rasch der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) an. Er unterminierte in Schleswig-Holstein jeden Versuch, eine kulturelle Toleranz und Selbstverwaltung zu fördern.14 Allerdings war Scheel sichtlich mehr zuversichtlich hinsichtlich einer Wiederversöhnung mit den Dänen, als mit den anderen Minoritäten im Deutschen Reich. Die Dänen galten im Gegensatz zu Polen, Tschechen, Wenden oder Juden als ein Teil der „nordischen Rasse“ und gehörten deswegen für viele provinzielle Liberale zu Schleswig-Holsteins „westgermanischer und nordgermanischer“ Gesamtkultur.15 Scheels pseudowissenschaftlicher Rassismus trug mit dazu bei, das Grundgerüst für die Nordische Anthropologie zu liefern, wie sie lokale Parteigrössen der NSDAP propagierten.16 In der Tat eilte Scheel bereits Ende der 1920er Jahre der internationale Ruf voraus, zusammen mit seinem Koautor, dem pangermanischen Annexionisten Anton Schifferer in der Deutsch-Nordischen Zeitschrift, als einer der norddeutschen Chefideologen zu gelten.17 In den Jahren vor Hitlers Machtergreifung konzentrierte sich Scheel auf zwei Tätigkeiten: als talentierter Organisator verband er die völkischen Organisationen Schleswig-Holsteins und die völkischen Gruppen in Ost- und Süddeutschland mit dem Deutschen Schutzbund und der Deutsch-Österreichischen Arbeitsgemeinschaft; gleichzeitig trat er als völkischer Publizist in Erscheinung. Zusammen mit seinem DVP-Kollegen an der Universität Kiel, Carl Petersen, übernahm Scheel 1931 die Hauptredaktion des bereits 1926 von den Geographen →Wilhelm Volz und →Albrecht Penck angeregten Kompendiums der völkischen Wissenschaft: das →Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums der Leipziger Stiftung für Volksund Kulturbodenforschung. Danach wurde Scheel wissenschaftlicher Leiter des neugegründeten Instituts für Landes- und Volksforschung an der Universität Kiel. Zusätzlich wurde er wissenschaftlicher Beirat in der →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft.18

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In dieser Funktion drängte er auf die Wiederaufnahme der Ausgrabungen von Haithabu und Danevirke in Schleswig, wo er ein Zeugnis für eine gemeinsame nordische, Deutschland und Dänemark verbindende Vorgeschichte erhoffte.19 Trotz Scheels ganzer Bemühungen konnte er die dänischen Akademiemitglieder nicht für eine Teilnahme am Projekt gewinnen. Ganz offensichtlich, weil dänische Kollegen Scheels wissenschaftlichem Ausweis und der pangermanischen Ideologie misstrauten.20 Und tatsächlich machte Scheel gegen Ende der Weimarer Republik kein Geheimnis um seine völkisch-imperialistischen Sichtweise auf die deutsche Geschichte. Das Loblied der deutschen Nationalität und der Rassenkunde versicherte Scheel, solle als „eine Übersicht aller Zweige des Deutschtums auf wissenschaftlicher Grundlage für den praktischen Gebrauch aller Berufsstände“ dienen, um im „Selbsterhaltungskampf des deutschen Volkstums im Ausland und in den alten und neuen Grenzgebieten des deutschen Vaterlandes […] das Bewußtsein der schicksalhaften und geistigen Verbundenheit aller Deutschen [zu] stärken“.21 Zwar fielen die Präsidentschaftswahlen im April 1932 zugunsten Hindenburgs aus, aber diese Wahl stärkte kaum das Vertrauen in die Weimarer Republik. Knapp ein Jahr später trat Scheel der NSDAP bei und begründete dies mit den Worten seinem Freund und völkischen Genossen, Pfarrer Johannes Schmidt-Wodder, dass die „nationale“ Revolution die „grösste Bewegung unserer Zeit, die stärkste und umfangreichste seit der Reformation gewesen ist, die uns politische und geistige Verjüngung bringen wird und für uns die Vorbedingung für eine neue und glückliche Entfaltung deutschen Lebens bieten werde.“22 Als Verehrer Hitlers legte Scheel jetzt seine ganzen wissenschaftlichen Fähigkeiten in den Dienst des NS-Regimes. 1934 publizierte er seine umfangreiche Studie über „Bismarcks Wille zu Deutschland in den Friedensschlüssen 1866“ und legte eine weitere Arbeit zur Huldigung Martin Luthers als Mystiker des deutschen Volkes vor. Beide Arbeiten waren implizit Hitler gewidmet, als Staatsmann wie auch als geistigen Vollender Luthers.23 Tatsächlich verglich Scheel darin Hitler mit Luther, er sah beide als von Gott gesandte Helden, die über dem Gesetz stehend prädestiniert seien, neues Recht zu setzen.24 Scheels Enthusiasmus für das NS-Regime steigerte sich im Verlaufe der 1930er Jahre, und 1938 nahm er am Internationalen Historikertag in Zürich teil. Einem weitgehend ausländischem Publikum versuchte er die Vorzüge des Hitler-Regimes, nämlich die Aufhebung des bürgerlichen Liberalismus anzupreisen, und die christliche Moral eines Martin Luthers nahe zu bringen, der den Ruf nach einem „gesunden Helden“ und einen „Wundermann“ gerecht geworden sei, der „das morsch Gewordene niederzureissen und neues Recht schaffen“ könne. Angesichts solcher theologiehistorischen Ausfälle kam selbst Joseph Goebbels im „Völkischen Beobachter“ nicht umhin, Scheel als einen der grossen deutschen Wanderprediger zu bezeichnen. Scheel wurde permanenter Agitator auf Parteiveranstaltungen, um über nationalistische Ansprachen in Militärlagern und Waffenfabriken das Fussvolk moralisch auf den kommenden Krieg gegen die Reichsfeinde vorzubereiten.25

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Häufig genug benutzte Scheel Geschichte für politische Ziele, indem er in vielen populärwissenschaftlichen Artikeln die Überlegenheit der „Nordischen Rasse“ in Zeitschriften wie Die Nordische Welt, oder in Büchern mit Titeln wie die „Die Wikinger: Aufbruch des Nordens“ verherrlichte.26 Im Ringen zwischen Heinrich Himmler und Alfred Rosenberg über die bestimmende Lesart der deutschen Vorgeschichte, hielt Scheel zu Rosenberg und seinem Verbündeten Hans Reinerth, dessen geringer wissenschaftlicher Leistungsausweis als Archäologe nur noch durch dessen Hochschätzung der Einzigartigkeit der Nordischen Rasse als Basis der nationalsozialistischen Weltanschauung übertroffen wurde.27 Tatsächlich war Scheels und Reinerths gemeinsame Arbeit in Haithabu und im Schleswigschen Danevirke politisch und wissenschaftlich derart dubios, dass die dänischen Organisatoren des Sechsten Archäologischen Kongresses in Kopenhagen sich weigerten, sie einzuladen, und stattdessen Himmlers Lieblingsarchäologen Herbert Jankuhn bevorzugten. Möglicherweise als Vergeltung verbat Rosenberg Jankuhn und anderen Archäologen die Teilnahme am 1937 stattfindenden Baltischen Kongress in Riga mit einer einzigen Ausnahme: Otto Scheel. Nachdem Jankuhn sich beim Reichserziehungsminister beschwert hatte, erlaubte schliesslich auch Rosenberg die Teilnahme, jedoch nur unter dem Vorbehalt, dass Otto Scheel die deutsche Delegation leiten würde.28 Scheels Loyalität zu Alfred Rosenberg und der pangermanischen Vision einer Nordischen Vorgeschichte wurde umgehend mit einer neuen Funktion belohnt: Als Präsident des →Deutschen Wissenschaftlichen Instituts (DWI) in Kopenhagen machte Scheel allerdings selbst die NS-Führung nervös, als er sich 1940 für die Revision der Grenze nach Nord-Schleswig einsetzte.29 Scheels gänzlich undiplomatische, leidenschaftliche Nazi-Attitüde erzürnte umgehend die dänischen Akademiker, die sich nun weigerten, mit ihm im DWI zu kooperieren. Die wachsende Abneigung der deutschen Okkupation in der dänischen Bevölkerung unterschätzte Scheel zweifelsohne masslos.30 Nachdem im Februar 1944 das Deutsche Reich die dänische Regierung aufgelöst und im Sommer zuvor den Ausnahmezustand verhängt hatte, beklagte Scheel, den Dänen fehle ein eigentliches völkisches, antisemitisches und antidemokratisches Bewusstsein. Während des Zweiten Weltkriegs griff Scheel nicht nur aggressiv Tabuthemen auf, er begleitete auch von einem sehr subjektiven Standpunkt aus den Aufstieg und Niedergang der britischen Seemacht. In seinem Werk „Aufstieg und Niedergang der englischen See- und Weltmacht“ prophezeite er: „Das deutsche Weltvolk, Nachfahre germanischer Seevölker, Erbe deutscher Kraft auf der See, wird sich ihm wieder vermählen.“31 Gegen Kriegsende verliess Scheel das DWI und kehrte 1944 nach Kiel zurück, als sein Haus ausgebombt worden war. Sein Lebenswerk zerfiel zu Asche, was ihn jedoch nicht daran hinderte, nochmals nach Kopenhagen zurückzukehren. Diesmal in der Rolle des Vermächtnisses des Reichsbevollmächtigten in Dänemark, SS-Sturmbannführers Werner Bests. Die letzten Monate des Krieges befasste sich Scheel mit der Beurteilung der Okkupation Skandinaviens und beklagte sich bitterlich über die tollkühnen Dänen, weiterhin zu ihren liberalen Werten zu stehen.

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„Erst eine neue nordeuropäische Generation wird für eine fruchtbare Aussprache zu haben sein […] Erst der deutsche Sieg wird auch die geistige Welt des Nordens, die im 19. Jh. ganz dem angelsächsischen Liberalismus und der semitischen Demokratie sich öffnete, zu wandeln berufen sein und auch die Kraft besitzen.“32 Knapp vor seinem siebzigsten Geburtstag erlebte Scheel das endgültige Scheitern seines Gespinstes, an dem er selbst über eine Dekade nicht nur geglaubt hat, sondern aktiv mitgewirkt hatte. In einer letzten flammenden Rede zu Ehren des deutschen Volkes forderte er alle germanischen Menschen zum Aufstand und zur Verteidigung ihrer Rasse und ihrer Ehre bis zum letzten Tropfen Blut auf.33 Ungeachtet seines resoluten Einsatzes für das NS-Regime stieg Scheel als graue Eminenz Schleswig-Holsteins politischer und akademischer Elite aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs auf, um als „treuer Sohn Ihrer Heimat“, als „ein guter Schleswig-Holsteiner, ein aufrechter Deutscher“ gefeiert zu werden.34 Mit seinem Ableben 1954 starb ein deutscher Professor in Kiel in der Gewissheit, mit seiner Arbeit nur das Beste zum Wohle des deutschen Volkes gegeben zu haben, oder wie sein getreuer Freund, Pastor Johannes Schmidt-Wodder, es bezeichnete: Er habe ein grösseres „germanisches Gemeinbewusstsein“, ein tiefes Bewusstsein für völkische Solidarität entwickelt, was auch für die Zukunft Europas von Bedeutung sei.35

Eric Kurlander

1 Vgl. Otto Scheel, Tondern Zwischen Wiking- und Hansezeit, Tondern 1952. 2 Erwin L. Lueker (Hg.), Lutheran Cyclopedia, St. Louis 1975; Alexander Scharff, Otto Scheel, in: Historische Zeitschrift, 179 (1955) 2, S. 436. 3 Otto Scheel, Die Anschauung Augustins über Christi Person und Werk unter Berücksichtigung ihrer verschiedenen Entwicklungsstufen und ihrer dogmengeschichtlichen Stellung, Tübingen 1901; ders. (Hg.), Augustins Enchiridion, Tübingen 1903; ders., Luthers Stellung zur Heiligen Schrift: Vortrag gehalten auf der 14. theologischen (2. landeskirchlich-wissenschaftlichen) Konferenz am 3. Juli 1902 in Kiel, Tübingen 1902; ders., Wie erhalten wir das geistige Erbe der Reformation in den Kämpfen der Gegenwart? Leipzig 1904; ders. (Hg.), Dokumente zu Luthers Entwicklung (bis 1519), Tübingen 1911, ders., Die Kirche im Urchristentum, Tübingen 1912; Scharff, Otto Scheel, S. 436f. 4 Im Dezember 1903, mit nur 27 Jahren, hielt Scheel eine Ansprache zur jährlichen Zusammenkunft des Evangelischen Bundes Schleswig-Holsteins: „Wie erhalten wir das geistige Erbe der Reformation in dem Kämpfen der Gegenwart?“ Scheels Beitrag enthielt radikalen Antiklerikalismus und liberalen Nationalismus: vgl. Otto Scheel, Wie erhalten wir, S. 20–27. 5 Hermann Gunkel (Hg. u.a.), Die Religion in Geschichte und Gegenwart: Handwörterbuch in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 1913. 6 „Deutschlands Weltgeltung soll nicht bestehen ohne die Ehrfurcht vor dem übernationalen weltgeschichtlichen Inhalt seiner Geschichte im 16. Jahrhundert“. Vgl. Otto Scheels Vorwort zur ersten Auflage von „Martin Luther: Vom Katholizismus zur Reformation“, Tübingen 1917, S. V-VI. 7 Genau zwei Wochen nach der Friedensresolution schrieb Scheel am 4. August: „Beim Eintritt ins vierte Kriegsjahr können nicht wohl die Ansprüche gestellt werden, die in ruhigen Jahren des Friedens erhoben werden dürfen“. Vgl. Scheels Vorwort zur zweiten Auflage von „Martin Luther: Vom Katholizismus zur Reformation“, S. VIII.

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8 Manfred Jakubowski-Tiessen, Kulturpolitik im besetzten Land, in: ZfG 42 (1994) S. 132; Scharff, Otto Scheel, S. 438. 9 LASH, Abt. 309, 35266, hier Scheels Einbindung in die Erhebungsfeier von März-April 1923, anlässlich des 75. Jahrestages Schleswig-Holsteins Revolution gegen die dänische Herrschaft vom 26.2.1923, 28.2.1923 und 4.4.1923. 10 Vgl. Vorwort in Harald Thurau (Hg.), Festschrift für Otto Scheel, Neumünster 1952; Scharff, Otto Scheel, S. 437f. 11 LAStr, 98 AL 691, auf französische Autoren sich abstützend führte Otto Scheel aus: „au premier range de ceux qui travaillent pour la cause allemande dans le Slesvig rédimé […] Il est président de la ligue du Slesvig-Holstein dont les membres sont pour le plupart des nationalistes et des conservateurs prussiens qui n’ont rien oublié et presque rien appris“. Vgl. den Band „Minority questions: ‚Les Minorités devant la L.D.N‘“. Scheel wurde ebenfalls Vorsitzender des Deutschen Hochschulverbands und des Vereins für Reformationsgeschichte. Er war aktiv in der Gesellschaft für SchleswigHolsteinische Geschichte. Vgl. Jakubowski-Tiessen, Kulturpolitik im besetzten Land, S. 132, und Broder Schwensen, Der Schleswig-Holsteiner-Bund 1919–1933: Ein Beitrag zur Geschichte der nationalpolitischen Verbände im deutsch- dänischen Grenzland, Frankfurt a.M. 1993, S. 370ff. 12 Kieler Zeitung vom 27.4.1924 und vom 30.4.1924. 13 LBK, Cc, 19, NL Ludwig Ahlmann, Scheel vom 25.10.1925, vom 13./15. und vom 19.2.1926. 14 In seinem Vortrag vom 25.10.1925 hob Scheel die Entscheidung der anderen bürgerlichen Parteien hervor, die Sozialisten und das Zentrum zu unterstützen, „sodass nur die DVP und die DNVP auf ihren Beschlüssen für 1925 beharrten und die von der Regierung vorgeschlagene Regelung verwarfen […]. Der geschäftsführende Ausschuss verwirft die getroffene Regelung, die weder dem Willen der überwiegenden Mehrheit der SHen Bevölkerung noch der Stellungnahme der SHen Parteien entspricht.“ 15 1925 schrieb Scheels Kollege Anton Schifferer, dass die Nordmark sich vom Rheinland oder der Ostmark unterscheide, weil in den beiden Gebieten ein ewiger Konflikt zwischen der germanischen Rasse und den Abkömmlingen der lateinischen und slawischen Rasse bestünde. Dagegen habe nur in Schleswig-Holstein in „seiner Geschichte und der Eigenart seines Volkstums im Rahmen deutscher Gesamtkultur“ eine „1000-jährige Auseinandersetzung zwischen westgermanischer und nordgermanischer Kultur“ stattgefunden. Vgl. Anton Schifferer, Deutsche Kulturarbeit in Schleswig-Holstein: Vortrag gehalten am 22. Juni 1925 auf dem Bierabend bei dem Herrn Reichsbankpräsidenten Dr. Schacht, Berlin 1925, S. 3–16; LASH, Abt. 309, 35298, Pastor Johannes Schmidt-Wodder, On the Meaning of Deutschtum, in: Jahresschrift (1929), im Hefter „Verband der Vereine Heimattreuer Deutscher Nordschleswigs e.V. Kiel“. Scheels Nachfolger im SHB, das DVP-Mitglied Wilhelm Iversen, rief zu einem nationalen Organismus auf, in dem die Macht schlummere, Rasse und Boden zu entfalten, um die niederdeutschen Regionen zu einigen und die Kräfte der schlummernden Rasse zu erwecken. Viele Nazis schworen auf Iversen, weil er über einsichtige völkische Ideologeme wie „Führerqualität“ und „Nordisch-Germanisch“ Positionen verfügte. Vgl. Schwensen, Der Schleswig-Holsteiner Bund, S. 370ff., 403ff. 16 Der Historiker Bröder Schwensen beurteilte Scheels „neue Richtung“ korrekt, dass diese wegen der überwiegend rechtsgerichteten Opposition der preußischen Konservativen im SHB keine Annäherung zu Skandinavien erreichen könne. Schwensen, Der Schleswig-Holsteiner Bund, S. 319–325. 17 Vgl. LAStr, 98 AL 691, Akte „Minderheiten Fragen: ‚Les Minorités devant la L.D.N‘“, und Harald Dähnhardt (Hg. u.a.), Festgabe Anton Fischerer zum 60. Geburtstag, Breslau 1931. 18 Vgl. Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards. A Study of „Ostforschung“ in the Third Reich, Cambridge 1988, S. 124, und Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945, Baden-Baden 1999, S. 187, 194ff.

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19 J. Lawrence Hare, Excavating Nations: Archaeology, Museums, and the German-Danish Borderlands. Toronto: University of Toronto Press, p. 131. 20 Hare, Excavating Nations, p. 132. 21 APSla, Widzial Samorzadowy, Prowincji Slaskiej, K 792, Berichte des DSB vom 22.2., 20.9.1931 und 30.3.1933, ebd., K 792, Akte Deutsche Schutzbund-Briefe betreffend. 22 LASH, Abt. 399, 71; zitiert nach Jakubowski-Tiessen, Kulturpolitik im besetzten Land, S. 132; BArch, R 45, II, 48, Kurt Maeder, DVP-Vorsitzender, vom 23.4.1933. Maeder, dessen Logik Scheel akzeptierte, beurteilte die Zwangsauflösung der DVP so, als sei dies „kein feindseliger Akt“: „Denn welches Mitglied der Deutschen Volkspartei sollte nicht die nationalen Grosstagen der Führer der Nationalsozialisten begeistert anerkennen? […] Wir haben nun einmal dem nationalen auch ein liberales Herz in uns. Und dieses kann nicht ganz zu schlagen aufhören“, und BArch, Nl Zapf, 1, offizielle DVP Erklärung vom 10.5.1933, wo es heißt: „Ausgehend von der Grundeinstellung der Partei, immer im Dienste des Vaterlandes zu stehen, wünsche die DVP aus ganzem Herzen den Bestrebungen der Regierung des Reichskanzlers Adolf Hitler vollen Erfolg.“ 23 Otto Scheel, Bismarcks Wille zu Deutschland in den Friedensschlüssen 1866, Breslau 1934, und ders., Evangelium, Kirche und Volk bei Luther, Leipzig 1934; Scharff, Otto Scheel, S. 438. 24 Stephan Schwarz, “Science Technology, and the Niels Bohr Institute in occupied Denmark” in: Phys. Perspect 13 (2011), S. 407. 25 Vgl. Jakubowski-Tiessen, Kulturpolitik im besetzten Land, S. 133; Otto Scheel, Der Volksgedanke bei Luther, 1940; vgl. ders. (Hg. u.a.), Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums, Breslau 1936. 26 Otto Scheel, Die Wikinger, Aufbruch des Nordens, Stuttgart 1938. 27 Hare, Excavating Nations, S. 146f. 28 Ebd., S. 151ff. 29 Vgl. Jakubowski-Tiessen, Kulturpolitik im besetzten Land, S. 134. 30 Hare, Excavating Nations, S. 166. 31 Otto Scheel, Aufstieg und Niedergang der englischen See- und Weltmacht, Flensburg 1940. 32 LASH, Abt. 399, 67 (Kt. 18), Scheel an Matthes vom 28.2.1944. Zitiert in Jakubowski-Tiessen, Kulturpolitik im besetzten Land, S. 138. 33 Ebd., und das Vorwort in Thurau (Hg.), Festschrift für Otto Scheel. 34 „Sie haben uns das Gemeinsame des Germanischen gelehrt, vor dem das Trennende der Gegenwart und Vergangenheit, schon um der Zukunft willen, zurücktreten müsse […] Als treuer Sohn Ihrer Heimat waren Sie stets ein guter Schleswig-Holsteiner, ein aufrechter Deutscher, der frühzeitig die Forderung nach einem vereinten Europa erhob.“ Vgl. Vorwort von Thurau (Hg.), Festschrift für Otto Scheel. 35 Johannes Schmidt-Wodder, Mein erstes Auftreten im dänischen Reichstag, in: Thurau (Hg.), Festschrift für Otto Scheel, S. 176.

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Peter Scheibert Peter Scheibert, 1961 bis 1981 Ordinarius für Osteuropäische Geschichte an der Philipps-Universität Marburg, entstammte einer protestantischen Offiziersfamilie. Er wurde als dritter von vier Söhnen des preußischen Generalstabsoffiziers Friedrich Wilhelm Scheibert, und seiner aus dem Berliner Großbürgertum stammenden Mutter Johanna, geborene Prinz, am 3. Mai 1915 in Berlin-Lichterfelde geboren.1 Sein Großvater mütterlicherseits war Direktor bei der I.G. Farben Industrie, sein Großvater väterlicherseits der 1831 in Stettin geborene Justus Scheibert. Er hatte als Major am amerikanischen Bürgerkrieg auf Seite der Südstaaten teilgenommen, wo er den Auftrag hatte, für die damalige Großmacht Preußen die Kriegsführung der Sezessionisten zu erkunden. Danach wohnte Justus Scheibert während des Boxeraufstandes den deutschen Truppen in China bei.2 1885 wechselte er als Militär-Redakteur zur Neuen Preußischen (Kreuz-)zeitung in Berlin, wo später auch sein Sohn, Peter Scheiberts Vater, arbeitete.3 Nach dem Abitur 1933 nahm Peter Scheibert sein Studium der Geschichte, Kunstgeschichte, Philosophie und Slawistik in Berlin auf, das er später in Breslau und Königsberg fortsetzte.4 Er pflegte ein gutes Verhältnis zu seinem Lehrer Otto Hoetzsch, welcher 1935 als Leiter des Berliner Seminars für Osteuropäische Geschichte entlassen wurde, weil man ihm aufgrund seiner neutralen bis positiven Haltung zu Russland „bolschewistische Zersetzung“ des Deutschen Reiches vorgeworfen hatte.5 Hoetzschs Nachfolger und Scheiberts Doktorvater wurde Hans Uebersberger, Mitbegründer der Großdeutschen Partei in Österreich und erster nationalsozialistischer Rektor in Wien.6 Bei ihm wurde Scheibert 1939 mit einer Dissertation über Staat und Volk in Finnland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts promoviert. Nach seiner Promotion schlug Scheibert zunächst keine wissenschaftliche Karriere ein, sondern trat in den Dienst des Auswärtigen Amtes.7 Es ist nicht ausgeschlossen, dass ihm Uebersberger hier behilflich war, der als Professor an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin im Auftrag des Auswärtigen Amtes einige Akteneditionen bearbeitet hatte und daher über enge Verbindungen zur Archivkommission verfügte.8 Seit dem 1. November 1939 war Peter Scheibert dort als „wissenschaftlicher Hilfsarbeiter“, also nichtbeamteter Angestellter, in der „Kommission zur Auswertung erbeuteter Akten“ tätig, die der Personal- und Verwaltungsabteilung unterstand. Er verzeichnete bis 1940 Akten und Dokumente aus Warschau, Oslo, Frankreich, Belgien, →Luxemburg und den Niederlanden. Für die Beschlagnahmung der Akten stand das neu gegründete Sonderkommando Künsberg zur Verfügung, eine Organisation des Auswärtigen Amtes, die unter dem Befehl des Reichsaußenministers stand. Laut Befehlssituation waren politisches Aktenmaterial, landeskundliche Daten und militärisch-geographische Karten in den besetzten Gebieten sicherzustellen. Am 1. August 1941 wurde das Sonderkommando in die Waffen-SS eingegliedert9, deren Mitglied Scheibert somit wurde, während er

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bereits 1933 in die SA und 1937 in die NSDAP eingetreten war.10 Im Sonderkommando Künsberg war er als Dolmetscher, Sachbearbeiter für Politik und für die Archivkommission in den Einsatzkommandos des RSHA VI G „Stettin“, „Nürnberg“ und „Süd B“ tätig, die im Baltikum und in den Gebieten um Leningrad, Moskau und Stalingrad operierten. Im Bereich der völkischen Wissenschaft trat Scheibert nur mittelbar in Erscheinung. Am deutlichsten wird seine Arbeit im Zusammenhang mit den „weißruthenischen Forschungen“ des Sonderkommandos Künsberg. In zwei Aufsätzen, die in der Zeitschrift Jomsburg 1938 und 1940 erschienen waren, lieferte Scheibert die inhaltliche Grundlage für Forschungsergebnisse des Sonderkommandos mit der Kernaussage, Weißrussland sei über einen erheblichen Zeitraum „fremdbestimmt“ gewesen und habe kein eigenes Profil oder auch Nationalbewusstsein entwickeln können; die polnische Oberschicht habe das gesamte geistige und öffentliche Leben in der Hand gehabt, gefolgt von der Behauptung, die Aufhebung der kirchlichen Union (die „religiöse Spaltung“) habe zur Dominanz der russischen Orthodoxie und damit des russischen Kultureinflusses geführt, was langfristig der nationalen Entwicklung der „Weißruthenen“ geschadet habe.11 Darüber hinaus stützte sich die „Weißruthenische Vertrauensstelle“ in einem von ihr herausgegebenen Städteführer auf Scheiberts Forschungen.12 Auch die →Reinhard-Heydrich-Stiftung in Prag fragte nach Scheibert auf der Suche nach Weißrussischen Übersetzern. Das Sonderkommando Künsberg, von dem es hieß, es habe „verdienstvolle Tätigkeit“ geleistet für eine „beschleunigte Eroberung des Ostraumes“13, wurde zum 1. September 1943 aufgelöst. 24 Personen, darunter Scheibert, wurden in die →Reichsstiftung für Länderkunde des Reichssicherheitshauptamtes VI G übernommen. Von dieser Abteilung wurde Scheibert im September 1943 als „Kunstschützer“ nach Italien entsandt, wo er die Aufsicht über die Räumung des Benediktinerklosters Monte Cassino hatte. Die Kunstschätze des Klosters wurden in den Vatikan gebracht, wobei 17 der 172 Kisten mit Gemälden nach dem Transport nicht mehr aufzufinden waren.14 Nach der Etappe beim Reichssicherheitshauptamt kehrte Scheibert Anfang 1944 in den Dienst des Auswärtigen Amtes zurück, wo er zunächst in der Rundfunkpolitischen Abteilung eingesetzt wurde. Im September 1944 wurde er in die Deutsche Gesandtschaft Budapest versetzt, von wo er in das Deutsche Konsulat Kaschau (Košice) gerufen wurde.15 Dort betrieb er dem Auswärtigen Amt vorbehaltene „kulturpolitische Arbeit“, sprich völkische Propaganda, unter den „Volksdeutschen“. Deren Rückführung „Heim ins Reich“ war durch die Entwicklungen des Krieges zu einer Bewegung kriegsflüchtiger Menschen geworden. Um die Jahreswende 1945 vertrat Scheibert für kurze Zeit den Konsul. Mit seiner Tätigkeit bediente er die Politik des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums. Kenntnis oder eine direkte Mitarbeit Scheiberts an Verhaftungen und Deportationen der ungarischen Juden, an denen das Deutsche Konsulat Kaschau sowie die Deutsche Gesandtschaft in Budapest beteiligt war, lässt sich anhand der Quellen nicht nachweisen.

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Wo Scheibert in Gefangenschaft geriet ist nicht bekannt. In der Nachkriegszeit finden sich zuverlässige Angaben über ihn erst Anfang 1946, wo er bei Percy Ernst Schramm in Göttingen Unterschlupf fand. Bis zum Beginn seines Entnazifizierungsverfahrens im September 1948 war Scheibert als Religionslehrer tätig. Als er zur Finanzierung seiner Habilitation beim Hamburger Rundfunk als Radiokommentator arbeiten wollte, verlangte dieser einen Nichtbetroffenheitsbescheid, woraufhin Scheibert am 18. September 1948 um die sofortige Aufgreifung seines Entnatifizierungsverfahrens bat. Am 3. Mai 1950 wurde Scheibert in die Kategorie V (entlastet) eingestuft, nachdem am 6. Oktober 1948 und am 17. November 1949 eine Einstufung in die Kategorie IV (Mitläufer und Anhänger) erfolgt war, gegen die Scheibert beide Male geklagt hatte. Als Begründung gab er an, stets nur als „Beamter im Dienste des Staates“ agiert zu haben.16 Vor seiner Habilitation bereiste Scheibert für die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, der Vorgängerin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die westdeutschen Bibliotheken für einen umfassenden Lagebericht. Und noch nachdem er seine wissenschaftliche Arbeit an der Universität Köln 1952 als Lehrbeauftragter aufgenommen hatte, suchte er nach einer Alternative zur Hochschulkarriere. Er scheiterte 1953 mit einer Initiativbewerbung beim Auswärtigen Amt sowie mit der Bewerbung auf eine Referentenstelle bei der Fulbright-Kommission. Es ist nicht bekannt, inwieweit seine SS-Vergangenheit für den Negativbescheid verantwortlich war.17 1955 habilitierte sich Scheibert bei →Theodor Schieder mit der Arbeit „Von Bakunin zu Lenin“ als einer „Geschichte der russischen revolutionären Ideologien 1840–1895“. Er verließ 1959 Köln und ging als außerordentlicher Professor nach Marburg, nachdem er einen Ruf nach Aachen abgelehnt hatte. Der spätere Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte in Marburg entsprang der Absicht, den „Ausbau der →Ostforschung“ voranzutreiben. Am 27. Februar 1961 wurde Scheibert zum ordentlichen Professor ernannt.18 Scheibert engagierte sich außeruniversitär in der Kommission für Ostforschung der DFG, die von 1958 bis 1960 existierte, und der Marxismuskommission der Evangelischen Studiengemeinschaft. Dieser gehörte er von 1951 bis 1978 an. Außerdem hielt er Vorträge für das Bundesverteidigungsministerium und wurde vom Arbeitsgebiet Innere Führung des Bundeswehramtes für beratende Tätigkeiten herangezogen.19 Seine berufliche Tätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland war durch einen strikten antikommunistischen Kurs gekennzeichnet sowie einem vorbehaltlosen Bekenntnis zur Politik der USA. In diesem Zusammenhang arbeitete er nicht nur mit dem International Book Exchange zusammen, der russischen Wissenschaftlern bei Bedarf westliche Literatur beschaffte, sondern auch mit dem CIA-Sender Radio Liberty, das für „jegliche Information über Sowjetisch-Zentral-Asien dankbar“ war.20 Das Erscheinungsbild Scheiberts als Hochschullehrer war Schwankungen unterworfen. Galt er bis weit in die 1960er Jahre hinein als aufgeschlossen für Utopien

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und führte zahlreiche Veranstaltungen mit dem Marburger Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth durch, so entwickelte er sich im Zuge der Studentenbewegung zu einem erbitterten Gegner aller, die er als politisch „links“ einstufte. Er war Marburger Sektionsleiter des Bundes Freiheit der Wissenschaft, kämpfte gegen die Berufung des Marxisten Hans Heinz Holz auf einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft und focht Auseinandersetzungen mit Studierenden und Kollegen gerichtlich aus, wozu auch sein Vorgehen gegen die Habilitation des späteren Kasseler Professors Richard Lorenz zu zählen ist.21 Der Tatsache, dass der Marxistische Studentenbund Spartakus Scheiberts SSVergangenheit untersucht und in diversen Flugschriften publiziert hatte, widmete Scheibert sein Mammutwerk „Lenin an der Macht“, von dem er angab, es als Versuch der inneren Bewältigung der Marburger kommunistischen Offensive konzipiert zu haben.22 Von 1970 bis zu seiner Emeritierung 1981 hielt sich Scheibert nahezu die Hälfte seiner Zeit in den USA als Gastprofessor sowie als Research Fellow auf. 1987 zog er in seine Heimatstadt Berlin, wo er 1995 verstarb.

Esther Abel

1 Inge Auerbach/Hans Lemberg (Hg.), Peter Scheibert zum Gedächtnis. Nachrufe, Erinnerungen, Würdigungen, Marburg 1997, S. 7. 2 Dietlind Wünsche, Feldpostbriefe aus China. Wahrnehmungs- und Deutungsmuster deutscher Soldaten zur Zeit des Boxeraufstandes 1900/1901, Berlin 2008, S. 37. 3 Dagmar Bussiek, „Mit Gott für König und Vaterland!“ Die Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung) 1848–1892, Kassel 2002, S. 277. 4 UAHUB, Promotionsakte Peter Scheiberts, Lebenslauf, Littr. 713 No. P4 Vol., 1939. 5 Hermann Greife, Sowjetforschung. Versuch einer nationalsozialistischen Grundlegung der Erforschung des Marxismus und der Sowjetunion, Berlin 1936, S. 58f. 6 Manfred Stoy, Das Seminar für osteuropäische Geschichte der Universität Wien 1907–1948, Wien 1983, S. 132. 7 Vgl. Esther Abel, Kunstraub – Ostforschung – Hochschulkarriere. Der Osteuropahistoriker Peter Scheibert, Paderborn 2016. 8 Gideon Botsch, „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Deutschen Auslandswissenschaften“ im Einsatz 1940–1945, Paderborn 2006, S. 228. 9 PA, R 27574, Bezugnahme auf Künsbergs Schreiben vom 2.1.1941 durch Ribbentrop, 8.1.1941. 10 Nds. 171 Hannover, 19132 (Entnazifizierungsakte), erster Entnazifizierungsbescheid mit Einstufung in Kat. IV. vom 6.10.1948. 11 PA, R 27003, Druckstück Nr. 26, „Meldungen vom Einsatz in den baltischen Ländern“, 1941, S. 18–20; Scheibert in Jomsburg 4 (1940), S. 191f. 12 BArch, R 153/302, „Deutsche Städteführer im Osten“. Bd. 11: Städteführer von Weißruthenien 1941. 13 Ebd., ZSTA Potsdam, Film 13890, Ges. Frhr. V. Dörnberg, Chef Prot. Nr. 427/42, Aufnahme 221791–221811, hier zitiert nach: Hartung 1997, S. 95. 14 Lutz Klinkhammer, Die Abteilung „Kunstschutz“ der deutschen Militärverwaltung in Italien 1943–1945, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 72 (1992), S. 483–549, 513. 15 PA, Personalakte 13107 (Scheibert, Peter), Telegramm Nr. 2850 vom 4.10.1944.

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16 Nds. 171 Hannover, 19132 (Entnazifizierungsakte), Entnazifizierungs-Entscheidung im mündlichen Verfahren, vom 3.5.1950, Begründung. 17 BArch, B 227/1804K, Fulbright-Bewerbungen 1952–53, Az. 63/7/53. 18 UAMar, Universitätsakte Peter Scheibert, 307d, Acc. 1974/17, Nr. 889 (1959–1970) vom 27.2.1961. 19 STAMar, 340, Scheibert, Nr. 10, Persönliches, Dr. Widder an Scheibert vom 13.10.1964. 20 Ebd., Scheibert, Nr. 39, USA, Gaither Stewart an Scheibert vom 20.7.1966. 21 Ebd., 280 Kassel Nr. 2875 (I / E 134/71 % Lorenz). 22 Peter Scheibert, Lenin an der Macht, Winheim 1984, S. XI.

_____________________________________________________________________Max Erwin von Scheubner-Richter  709

Max Erwin von Scheubner-Richter Max Richter, 1884 in Riga geboren, war Ingenieur und Diplomat, Abenteurer und Spion, Nazi-Konspirateur und „Märtyrer“. Er war Hitlers „unersetzbarer Kamerad“.1 Er war eine Inspiration für die NS-Rekrutierung und er stellt selbst heute noch eine Relevanz im Diskurs über den Genozid an den Armeniern dar, obwohl er 1923 an Hitlers Seite starb.2 Richter studierte chemische Ingenieurwissenschaften am Politechnikum in Riga. Dort gehörte er der studentischen Burschenschaft Rubonia an, einer Brutstätte für frühe NS-Aktivisten wie →Otto von Kursell, Arno Schickedanz und Alfred Rosenberg. Sie bekämpften zusammen die russische Revolution von 1917 und gelangten 1920 nach München, wo sie 1923 am Hitlerputsch teilnahmen. Riga erlebte eine der schlimmsten sozial und ethnisch motivierten Konflikte bereits während der Revolution von 1905. Richter wurde dort am Knie angeschossen, als er baltische deutsche Landbesitzer während der Enteignungskampagne verteidigte. Die Namensänderung in Scheubner-Richter erfolgte durch seine Heirat mit Mathilde von Scheubner, die beinahe dreißig Jahre älter war, 1911 in München, wohin er geflüchtet war. Mathildes Mutter Klara adoptierte Max Richter, um das Überleben des adligen sächsischen Familiennamens zu sichern. Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete sich Scheubner-Richter freiwillig zum Königlich Bayerischen 7. Chevaulegers in Straubing. Im Regiment entwickelte sich die Freundschaft zu den Gebrüdern Karl-Gustav und Paul Leverkuehn (1893−1960). Im Dezember 1914 wurde Leutnant Scheubner-Richter von der Westfront in die Provinz Erzerum im türkisch-persischen Grenzgebiet als deutscher Vizekonsul versetzt. Er förderte aufgrund seiner fließend russischen Sprachkenntnisse die ethnischen Unabhängigkeitsbewegungen in der russischen Kaukasusregion. Deshalb war er 1915 beim Beginn des Genozids an der armenischen Bevölkerung in der östlichen Türkei zugegen. Seine unzähligen Augenzeugenberichte sind wichtige Belege dieses Genozids, umso mehr, als es sich um einen Alliierten des Osmanischen Reiches handelte: „Den noch in der Stadt gebliebenen Frauen und Kranken wurden die bereits erteilten Aufenthaltsscheine wieder abgenommen und sie auf die Landstrasse getrieben – einem sichern Tode entgegen. […] Von den Anhängern [des brutalen Vorgehens gegen die Armenier] wird übrigens unumwunden zugegeben, dass das Endziel ihres Vorgehens gegen die Armenier die gänzliche Ausrottung derselben in der Türkei“ sei.3 Weiter führte er an anderer Stelle aus: „Daß diese Ausrottung möglich, daß sich, wie das hier geschehen, Zehntausende von Armeniern ohne Gegenwehr von einer kleinen Anzahl Kurden und Freischärlern abschlachten lassen, ist wohl auch ein Beweis dafür, wie wenig kampffroh und revolutionär dieses Volk gesinnt ist. Die Armenier, besonders die Stadtbewohner, diese ‚Juden des Ostens‘, sind wohl gerissene Handelsleute, und kurzsichtige Politiker, aber in ihrer Mehrzahl und soweit ich sie kennen gelernt, keine aktiven Revolutionäre […] Überall sonst verlief die Aussiedelung ohne jeden Zwischenfall und haben sie sich dann später mit Gott-

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ergebenheit abschlachten lassen. Die Furchtsamkeit der türkischen Armenier dürfte vielleicht nur noch durch die Angst der Türken vor ihnen übertroffen werden.“4 Und noch deutlicher wurde er am 15. August in seinem Bericht nach Konstantinopel: „Ich will hier davon absehen, daß diese Regierungsmassnahmen in einer Form ausgeführt wurden, die einer absoluten Ausrottung der Armenier gleichkam. Ich glaube auch nicht, daß es auf andere Weise gelingen könnte, eine Kultur zu vernichten, die älter und viel höher ist, als die der Türken. Auch sonst scheinen mir die Armenier gleich den Juden als Rasse von grosser Widerstandskraft. Durch ihre Bildung, ihre meist bis zur Gewissenlosigkeit gehenden kommerziellen Fähigkeiten, ihr Anpassungsvermögen dürfte es ihnen gelingen, auch unter ungünstigsten Verhältnissen wirtschaftlich wieder zu erstarken. Nur eine gewaltsame Ausrottungspolitik, ein gewaltsames Vernichten des ganzen Volkes könnte die türkische Regierung auf diesem Wege zum ersehnten Ziel, zur ‚Lösung‘ der Armenier-Frage führen.“5 Scheubner-Richter lud daraufhin Paul und Karl-Gustav Leverkuehn zusammen in die Türkei ein. Sie führten eine geheime Expedition nach Kurdistan durch, wo sie weitere Massaker und Gräueltaten beobachteten. Paul Leverkuehns 1938 erschienene Biographie über Scheubner-Richter resümierte aufgrund der eigenen Beobachtungen: „Von 1,8 Millionen Armeniern lebten bestenfalls noch vierhunderttausend.“6 Scheubner-Richters Expedition ist ein Bericht über den Genozid, ein Zeugnis der Art und Weise der Gewalttaten, über die Passivität der Opfer, das Ziel der Täter, ihrer zentralen Organisation, die Auswirkung der Angst bei den Opfern durch Gewaltanwendung und dem Ergebnis dieses Genozids. Die Expedition belegte ebenso die vergeblichen Anstrengungen für die Armenier, um Druck auf die lokale türkische Führung auszuüben und um das deutsche Auswärtige Amt und die Kriegsführung in Deutschland zu informieren. Die Zensur im Deutschen Reich unterband jedoch Publikationen über den Genozid in Armenien zu dem Zeitpunkt. Scheubner-Richters Interesse am Genozid an den Armeniern blieb nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Oktober 1916 erhalten. Im November bestätigte der Sekretär des Pastors und Orientalisten Johannes Lepsius (1858−1924) an Karl-Gustav Leverkuehn die umgehende Weiterleitung von Lepsius’ umfangreichem Bericht an Scheubner-Richter über die Gräueltaten.7 Scheubner-Richter schrieb sodann an den Reichskanzler in Berlin mit der dringenden Aufforderung, die Aufmerksamkeit auf diesen Vernichtungsprozess zu lenken und diesem, wenn immer möglich, entgegenzuwirken. Nachdem seine Kaukasusmission auch General Ludendorff zur Kenntnis gelangte, wurde Scheubner-Richter ins Baltikum beordert und gegen die bolschewistische Revolution eingesetzt. Er ging daraufhin im Juli 1917 nach Stockholm, einem Zentrum sowohl der Gruppe der Bolschewisten als auch der Antibolschewisten. Nach der Besetzung Rigas durch die Reichswehr im September 1917 kehrte Scheubner-Richter in seine Heimat zurück und wurde Presseoffizier bei der deutschen Militärverwaltung in Ober Ost. Er beteiligte sich beim weiteren Vormarsch in die baltischen Staaten und dem

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deutschen Vorstoß nach Petersburg, um das neue bolschewistische Regime zu bekämpfen. Stattdessen endete der Krieg, die siegreichen Bolschewisten inhaftierten ihn in Riga, wo er zum Tod verurteilt wurde. Später kritisierte er die deutsche (das heißt Ludendorffs) Politik, Lenin unterstützt zu haben und Russland aus dem Krieg zu nehmen, als Irrsinn. Scheubner-Richter entkam jedoch nach Königsberg, wo sein Antikommunismus sich verschärfte. Er wurde politischer Berater von August Winnig, dem Reichskommissar für Ost- und Westpreussen. Ein halbes Jahr später, im Oktober 1919, forderte die Entente Deutschland auf, Freikorps und weißrussische Kräfte nach Litauen zu entsenden. Diesen Schritt deutete Scheubner-Richter nun als Beugung des Drucks „demokratischer, sozialistischer und vor allem jüdischer Kreise“ in Deutschland. Er reiste danach nach München, aufgefordert vom bereits dort anwesenden Arno Schickedanz, der Rosenbergs Anstrengungen unterstützte, die immer noch gegen Russland kämpfenden Weißen Kräfte zu finanzieren.8 In München zu der Zeit, als Alfred Rosenberg Adolf Hitler in die Gesellschaft einführte, gründete und leitete Scheubner-Richter die deutsch-russische Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung, eine deutsch-russische Exilorganisation, die völkisch antikommunistisch und antisemitisch eingestellt war und deren Aufbau-Korrespondenz er herausgab. Dies war der fatale Beginn einer nur drei Jahre währenden Kooperation, welche in einen „gemeinsamen Weißen/NS-Kreuzzug gegen Weimar und die Sowjetunion“ mündete.9 Scheubner-Richter, bereits Mitglied des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes, trat nun im November 1920 der NSDAP bei. Im Mai 1921 folgte er trotz seiner nationalsozialistischen Überzeugung mit Johannes Lepsius und anderen der Vorladung als Zeuge der Verteidigung im Prozess wegen der Tötung Mehmet Talaat Paschas durch einen armenischen Flüchtling. Der Prozess wurde zu einem Tribunal über die Kriegsverbrechen Talaats. War es schon bemerkenswert, dass ein führender Nationalsozialist wie Scheubner-Richter an diesen Vorgängen beteiligt war und als Zeuge auftrat, so ist es noch bemerkenswerter, dass Hitler gleichzeitig zu den Verhandlungen in Berlin, wo er Gelder für seine neue Parteizeitung sammelte, die Kontakte mit der Berliner Rechten aufbaute und die Beziehung zu Ludendorff vertiefte, was auf Scheubner-Richter zurückging. Es ist kaum vorstellbar, dass sie den Freispruch des Attentäters gegen den Hauptschuldigen des Genozids unbewegt verfolgt haben. Der Umstand, dass Paul Leverkuehn seine alten Kollegen zu dieser Zeit in Berlin wieder aufsuchte, mag die Sichtweise auf die Resultate des Genozids verstärkt haben.10 1922 wurde Scheubner-Richter zuerst Ludendorffs und dann Hitlers politischer Berater und stieg somit zum „Führer des Führers“ auf. Ende Dezember 1922 machte Hitler seine früheste dokumentierte und weniger bekannte, aber höchst bedeutsame Aussage im Zusammenhang über den Genozid an den Armeniern in Verbindung mit der „Judenfrage“: „Eine Lösung der Judenfrage muß kommen […] Wenn dies nicht erreicht wird, so gibt es nur zwei Möglichkeiten, entweder das deutsche Volk wird ein Volk wie die Armenier oder die Levantiner, oder es erfolgt eine blutige Ausei-

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nandersetzung.“11 Hitler übernahm Scheubner-Richters Auffassung: keine Furcht, kein Genozid. Scheubner-Richter sah, wie im ottomanischen Türkenreich die Furcht vor den Armeniern geschürt wurde, um den Genozid überhaupt erst akzeptabel machen zu können. Außerdem beobachtete er die Propagandatechniken, wie die Täter ihre eigenen Vernichtungsabsichten auf die Opfer übertrugen. 1922 schmiedete er mit Hitler den Plan, bei den Deutschen die gleiche Angst vor den Juden zu erzeugen, und legte damit die Basis für den späteren Genozid. Wie lässt sich die Furcht, ein potentielles Opfer des Genozids zu werden, besser beschreiben, als vom Schicksal der Armenier zu lernen? Scheubner-Richter starb an Hitlers Seite am 9. November 1923. Die Kugel hätte möglicherweise Hitler treffen können, wenn die Polizei ihn nicht von Ludendorff weggezogen hätte. Hitler stilisierte Scheubner-Richter zum Hauptmärtyrer während der Gedenkfeiern zum Putsch von 1923. Jährlich marschierte er am 9. November mit seinen alten Kampfgefährten vom Bürgerbräukeller zur Feldherrenhalle, wo dieser erschossen worden war. Über seinen Sarg brannte eine ewige Flamme, ein „Posten auf ewiger Wache“. Paul Leverkuehns Biographie, zuerst 1938 erschienen, war wahrscheinlich das einzige Buch in der NS-Ära, das eine detaillierte Beschreibung und Verurteilung des Genozids enthielt. Während Hitler im Dritten Reich Scheubner-Richter als herausragenden Nazi-Märtyrer idealisierte, pflegte Leverkuehn indessen Scheubner-Richters Bild einer ungewöhnlichen Karriere als Kronzeuge des Genozids an den Armeniern in der Adenauer-Ära, was sich hartnäckig bis in die Gegenwart hält. In jüngster Zeit werden Scheubner-Richters Aussagen über und gegen den Genozid häufig von Historikern und Publizisten im Zusammenhang mit dem Armeniermord zitiert. Dabei wird indessen weniger nachvollzogen, wie er aus der Erfahrung des Genozids an den Armeniern gelernt hat, um den Diskurs des nächsten Genozids mit zu etablieren. Durch seinen frühen Tod wird der Augenzeuge und Kommentator des armenischen Genozids Scheubner-Richter in der Historiographie des Dritten Reichs zu Unrecht ausgeblendet.12 Insbesondere stellt sich die Frage, ob es zu einer Konvergenz der antisemitischen Einstellungen Hitlers und des antisemitisch verbrämten Antibolschewismus Scheubner-Richters kam.

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1 „Alle sind sie ersetzbar, nur einer nicht: Scheubner-Richter!“ Hitler über die „Gefallenen“ des 9.11.1923, überliefert von Mathilde von Scheubner; Zitat bei Georg Franz-Willing, Die Hitlerbewegung. Der Ursprung 1919−1922, Hamburg 1962, S. 133. 2 Vgl. Sonsuz Nöbette Görev, Paul Leverkuehn’ün Anıları, trans. Zekiye Hasançebi, Istanbul 1998, eine türkische Übersetzung von Paul Leverkuehn, Posten auf ewiger Wache von 1938; Hans-Lukas Kieser (Hg. u.a.), Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah, Zürich 2002; Michael Kellogg, The Russian Roots of Nazism, Cambridge 2005, und Mike Joseph, Max Erwin von Scheubner-Richter: The Personal Link from Genocide to Hitler, in: Hans-Lukas Kieser (Hg. u.a.), Der Völkermord an den

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Armeniern, die Türkei und Europa, Zürich 2006, S. 147–165. Die beiden letzten Titel bilden die Basis für diesen Beitrag. 3 PA, BoKon, 170, Bericht Verweser in Erzerum (Scheubner-Richter) an den Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim), Erzerum vom 28. Juli 1915, in: Wolfgang und Sigrid Gust (Hg.), Der Völkermord an den Armeniern 1915/16: Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Springe 1995−2006, Internet: www.armenocide.net [16.7.2007]. 4 Vgl. PA, BoKon, 170, Bericht Verweser in Erzerum (Scheubner-Richter) an den Botschafter in ausserordentlicher Mission in Konstantinopel (Hohenlohe-Langenburg), Erzerum, 5.8.1915, in: ebd. [16.7.2007]. 5 Vgl. ebd., 15.8.1915, Verweser in Erzerum (Scheubner-Richter) an den Botschafter in ausserordentlicher Mission in Konstantinopel (Hohenlohe-Langenburg), in: ebd. [16.7.2007]; vgl. auch www.armenian-genocide.org. 6 Paul Leverkuehn, Posten auf ewiger Wache, Essen 1938, S. 46. Mit dieser Biographie versuchte Leverkuehn sich im NS zu etablieren: er stieg im diplomatischen Korps auf wurde in der Nachkriegszeit CDU-Mitglied des Bundestags. Vgl. Joseph, Max Erwin von Scheubner-Richter: The Personal Link from Genocide to Hitler. 7 Es handelt sich um Johannes Lepsius, Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei, der am 7.8.1916 von der deutschen Zensur verboten worden war. Vgl. Joseph, Max Erwin von Scheubner-Richter: The Personal Link from Genocide to Hitler, S. 147–165. 8 Michael Kellogg, The Russian Roots of Nazism, Cambridge 2005. 9 Ebd.; vgl. auch Johannes Baur, Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung, 1920/21−1924, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung, 1920/21–1924 (20.01.2016). 10 So erwähnte Leverkuehn: „Ich habe Scheubner zuletzt im Sommer 1921 gesehen.“ Vgl. Leverkuehn, Posten auf ewiger Wache, S. 194. 11 Eberhard Jäckel (Hg. u.a.), Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905−1924, Stuttgart 1980. Vgl. Karsten Brüggemann, Max Erwin von Scheubner-Richter (1884–1923) – der „Führer des Führers“, in: Michael Garleff (Hg.), Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich, Köln u.a. 2001. 12 Vgl. Brüggemann, Max Erwin von Scheubner-Richter (1884–1923).

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Theodor Schieder Theodor Schieder, geboren am 11. April 1908, wuchs in Oettingen, Augsburg und Kempten auf. Er stammte aus einer bürgerlich-protestantischen Familie. Nachdem er das humanistische Gymnasium St. Anna bei Augsburg beendet hatte, erfolgte bis 1931 das Studium an den Universitäten München und Berlin. Während seiner Studienzeit in München erhielt er entscheidende Impulse von Paul Joachimsen, dem Renaissance-Historiker und Luther-Darsteller, und promovierte 1933 nach dessen Tod bei →Karl Alexander von Müller über „Die Kleindeutsche Partei in Bayern in den Kämpfen um die nationale Einheit 1863–1871“. Als Gymnasiast gehörte Schieder der Jugendbewegung an, über die er zur Deutsch-Akademischen Gildenschaft kam. Er leitete deren Münchener Gilde „Greif“. Als Angehöriger der „Kriegsjugendgeneration“, die zwar 1914 die Begeisterung, aber nicht mehr das Kriegsgrauen erlebte, teilte Schieder das Programm dieser Korporation, die antisemitisch, militaristisch und radikalnationalistisch, aber nicht schlagend war und Trinkgelage ablehnte. Anders als Schieder gehörten die Gründungsmitglieder der Gilden der „Generation von 1914“ an. Es war die schmale protestantische Bildungselite des untergehenden Kaiserreichs, die zwischen 1885 und 1911 ihre Hochschulzugangsberechtigung erwarb und nur 0,8 bis 1,2% aller 19-jährigen ausmachte. Erst 1919 grenzten sich diese ehemaligen Jungdeutschen gegenüber den republikanischen Bünden ab, indem sie Frauen ausschlossen, das Führerprinzip einführten und Wehrsport betrieben.1 Die süddeutschen Gilden bekämpften unter Freiherr von Epp die Räterepublik und beteiligten sich an den Kämpfen im Baltikum, Oberschlesien und Kärnten. Einer seiner älteren Bundesbrüder war →Theodor Oberländer, ein zweiter Friedrich Weber, der mit Oberländer am Hitler-Putsch teilnahm und Hitlers Haft teilte.2 Als Schieder seiner Gilde beitrat, war ihre aktiv militante Phase abgeschlossen. Nun agierte sie offiziell als Hochschulbund und unterhielt eigene Häuser.3 Schieder profitierte von seinen „Brüdern“ eminent. Sie repräsentierten nicht nur die rechtsextreme Opposition der Weimarer Republik. Sie boten auch eine sichere Seilschaft. Ihre Mitglieder strebten den Sturz der Weimarer Republik, die Revision des Versailler Vertrages und ein „Großdeutsches Reich“ an, ob es sich nun um Nationalsozialisten wie Ernst Anrich, Nationalrevolutionäre wie Ernst Niekisch oder Jungkonservative wie →Erich handelte. Für Schieder war die Gilde eine „Kameradschaft in einer Gesinnung“.4 Er schloss sich dem jungkonservativen Flügel der Gilden an und trat im Herbst 1930, als die NSDAP mit 18,3% der Stimmen drittstärkste Partei im Reichstag wurde, der Volkskonservativen Vereinigung unter Gottfried Reinhold Treviranus bei, einer Rechtsabspaltung der DNVP. Wenn er sich über Berufschancen äußerte, vertraute er seinem „Corps“, das den „Kampf um die Herrschaft einer Gesinnung“ im Staat antreten solle.5 Die eigene Professionalisierung war eines von zwei Mitteln zur Karriere, die Seilschaft die andere.6 Schieder erkannte nach der Anti-Young-Plan-Kampagne und den Osthilfeszenarien der Weimarer Rechten, dass Deutschlands politische Zukunft sich im Osten ent-

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schied. Die Isolation Ostpreußens vom Reich und Danzigs Unterstellung unter den Völkerbund galten ihm als ein ökonomisches Hemmnis und als Beschneidung des Großmachtanspruchs. Deshalb führte er seine „Brüder“ in die radikalen Vordenker der Revisionspolitik ein. →Karl Haushofer, dessen Sohn Albrecht Gildenmitglied war, stellte vor der Münchener Gilde sein Konzept einer „Flurbereinigung“ Europas persönlich vor. Schieder grenzte sich früh von den Nationalsozialisten ab. Seiner Meinung nach böten diese nur die Formel an, die „Herrschaft der Weisen von Zion“ bedrohe Deutschland und Europa. Die „Proklamierung des reinen Nationalstaates“ im zersplitterten „deutschen Volksraum“ Ostmitteleuropas lehnte Schieder ab. Sie führe zu „Balkanisierung“. Er vertrat dagegen die jungkonservative Reichsidee, die „politisch unreife[n] Völker“ an Großdeutschland zu binden.7 In Anlehnung an Moeller van den Bruck setzte er, ähnlich wie →Hans Rothfels, auf eine konföderierte Völkerordnung Europas unter staatlicher Führung der Deutschen. Sein Engagement für den Osten entsprach einem allgemeinen Verständniswandel unter den konservativen Historikern. Die Volksgeschichte, der Schieder sich zurechnete, suchte weder die Staatsfixierung zu überwinden, noch stand die politische Geschichtsschreibung zur Disposition. Es ging lediglich um die Umsetzung neuer Inhalte, die sich verfahrenstechnisch der Kartographie, der Siedlungsgeschichte und der Bevölkerungsstatistik bedienten. Eine Methodendiskussion fand nicht stand. Somit blieb auch der immanente Wissensfortschritt aus. Die Linie, durch die Schieder sich von den Vertretern des Historismus abgrenzte, war großdeutsch und nicht kleindeutsch, strebte ein Drittes Reich an und nicht den Nationalstaat in den Grenzen von 1913/14 und favorisierte das „Volkstum“ als Ordnungsfaktor der Nation und nicht den republikanischen Verfassungsstaat. Die Volkstumshistoriker, denen sich Schieder nach seinem Wechsel von München nach Königsberg anschloss, repräsentierten den Typus von Wissenschaftler, den →Max Hildebert Boehm 1933 als Vordenker des Dritten Reiches8 und Ulrich Herbert schlicht als „Führungsnachwuch[s] des Nationalsozialismus“ auswies.9 Tatsächlich gehörte Schieder der Elite im Wartestand an, die die deutsche Frage in Europa autoritär und militärisch zu klären suchte.10 Wenn Schieder der NS-Ideologie vor 1933 ablehnend gegenüberstand, so profitierte er 1934 doch umso mehr von den Karrieren seiner nationalsozialistischen Gildenbrüder. Als Erich Maschke, →Rudolf Craemer und →Günther Franz in Verbindung mit Ernst Anrich, →Walter Frank und Ernst Krieck die Historiker des Historismus wie Friedrich Meinecke und Hermann Oncken als „Epigonen Bismarcks“ denunzierten,11 strebten sie die Übernahme der Ressourcen der Historischen Kommissionen an und grenzten deren demokratischen Nachwuchs aus. Schieder profitierte von den Denunzierungen und Vertreibungsaktionen, die Hans Rosenberg und Eckhardt Kehr, Veit Valentin und Hajo Holborn trafen. Während die Habilitierten die frei gewordenen und neuen universitären Stellen einnahmen, erhielt er die Leitung der Landesstelle Ostpreußen für Nachkriegsgeschichte, die aus der Erbmasse der Historischen Reichskommission entstand. Er dankte seiner Nominierung, indem er

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1934 dem Angriff Albert Brackmanns auf die vergleichende Ostmitteleuropahistorie einen eigenen folgen ließ. Schieder warf Otto Hoetzsch in Friedrich Heiß’ Zeitschrift →Volk und Reich vor, dieser erkenne weder den Volkstumskampf als universalgeschichtliche Kraft an, noch würde berücksichtigt, dass sich im Verlauf der deutschen Kolonisationstätigkeit im „Ostraum“ eine „einheitliche Ostfront von Tilsit bis Passau“ gebildet habe, die frei von slawischen Einflüssen sei.12 Schieder entsprach den Erwartungen von Erich Maschke, der 1934 im Verbandsorgan des VDA die Position vertrat, dass „Warschau deutsch ist“, was er durch demographische, soziale und kulturelle Aspekte der deutschen Ostkolonisation nachweisen wollte.13 Auch Schieder wünschte nun „Volksgeschichte“ zu schreiben, und zwar von „den kleinen Zellen des volklichen Lebens her“. Ihm ging es um die historische Rekonstruktion des westpreußischen „Volksbodens“.14 Tatsächlich erhielt Schieder seine Königsberger Stelle nicht durch Hans Rothfels’, sondern auf Empfehlung Maschkes. Als Rothfels als „jüdisch“ stigmatisiert wurde, gehörte Schieder nicht mit zu den Unterzeichnern der Petition. Aber Rothfels’ Abschiedsfeier war für ihn das „Ergreifendste“, was er „als junger Mensch an einer Universität“ erlebt habe.15 Die Empfehlung an Brackmann, Schieder als Mitglied der →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG) aufzunehmen, kam letztlich von Erich Maschke, Max Hein, dem Leiter des Staatsarchivs Königsberg, Karl Budding, dem Regierungspräsident von Marienwerder, und Theodor Oberländer.16 Die Landesstelle Ostpreußen für Nachkriegsgeschichte entsprach der Zentralstelle für Landesgeschichte in Berlin, die die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft finanzierte. Während Paul Kluke dort den Sonderauftrag Josef Bürckels ausführte, aus Berliner Archiven Akten über die französische Besetzung des Rheinlandes zusammenzustellen, um der Staatspolizei Trier das nötige Wissen zur Verfolgung von „Separatisten“ bereitzustellen,17 war Schieders Einrichtung erst im Aufbau. Auch sie diente der „Aufspürung und Nennung wissenschaftlicher Themen und schließlich der Auskunftsvermittlung an Behörden und Organisationen“.18 Seine 1935 projektierte Habilitation, die sich auf die Entwicklung des „polnischen Preußen“, also auf Westpreußen in der Zeit von 1466 bis 1772 konzentrierte, war aber nicht bevölkerungs-, sondern ideengeschichtlich angelegt.19 Schieder entschied sich nicht für eine Siedlungsgeschichte, weil „die politischen Ergebnisse“ zum Teil „nicht sehr erfreulich“ waren. Alternativ hob er den Gedanken der städtischen „Autonomie“ der deutschen Stadtbürger gegen den polnischen Herrschaftsanspruch hervor, um wenigstens die kulturhistorische Dominanz der Deutschen zu behaupten, wenn diese nicht auf bevölkerungsstatistischem Weg nachzuweisen war.20 Infolgedessen wies Schieder das Fehlen einer effektiven Siedlungspolitik des Deutschen Ordens als Mangel aus. Außerdem stellte er die „Idee“ des Reiches dem westlichen Nationalstaatsprinzip als konkurrierendes Modell für die „Neuordnung“ Ostmitteleuropas gegenüber. Seiner Ansicht nach lag die Fehlleistung, die zur Abtretung Westpreußens an Polen führte, daran, dass Ostpreußen seine „Flügelräu-

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me“ an der unteren Weichsel und in Livland „volksmäßig“ nicht gesichert habe. Nun sollte Erich Koch das isolierte Ostpreußen an das Reich heranführen.21 Schieders NS-Loyalität stand außer Frage: Im Mai 1937 war er der NSDAP beigetreten, für die er ehrenamtlicher Mitarbeiter des NS-Hauptschulungsamtes in Königsberg war.22 Sein →Antisemitismus blieb selbst dem Auswärtigen Amt nicht verborgen. So gab er in seinem Bericht über die wirtschaftliche Lage Finnlands und der Sowjetunion 1936 an, ihn befremde der Anblick der „jüdischen Emigranten aus Deutschland“ in Petersburg.23 Indessen begrüßte die nationalsozialistische Führung in Ostpreußen, allen voran der Gauleiter Erich Koch und das Regierungspräsidium, Schieders Arbeit als Leiter der Landesstelle für Nachkriegsgeschichte. Er machte ihren wissenschaftlichen Apparat nachrichtendienstlich verwertbar. Gauleiter Erich Koch dankte der Leistung und Gesinnung Schieders, indem er ihn im Sommer 1939 in den Expertenstab für Volksgruppenfragen des Reichsinnenministeriums sandte, der den Krieg gegen Polen vorbereitend unterstützte.24 Als Polen am 1. September 1939 angegriffen wurde, übernahm Schieder die Redaktion der Denkschrift der Arbeitsgruppe der NOFG über die „Siedlungs- und Volkstumsfragen in den wiedergewonnenen Gebieten“. Die Deportationen der jüdischen und polnischen Bevölkerung rechtfertigte er mit dem Recht des Siegers, obwohl das der Genfer Konvention widersprach. Der harte „Volkstumskampf“ erschien ihm als „Wiedergutmachung“ legitim, weil der Versailler Frieden eine „beispiellose[.] Vernichtung und Verdrängung des ansässigen deutschen Volkstums“ mit sich gebracht habe. Er sprach von einem Schaden von 2,5 Mio. Morgen Grundbesitz. Unterdessen empfahl er die „Abgrenzung von polnischem und deutschen Volkstum“, um den „Gefahren rassischer Vermischung“ zu begegnen. Ferner plädierte er für die „Herauslösung des Judentums aus den polnischen Städten“ und die Beseitigung der polnischen Intelligenz.25 Die politische Radikalität seiner Denkschrift und ihr völkisch-nationalsozialistischer Duktus sind bisher kein Streitpunkt der seriösen wissenschaftlichen Forschung über Theodor Schieder gewesen. Tatsächlich trennt die Denkschrift gemäß der Nürnberger Rassengesetze und der Reichsbürgergesetze terminologisch zwischen deutscher, polnischer und jüdischer Volkszugehörigkeit. Für die polnische Bevölkerung, die er zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner Denkschrift bereits von den Deutschen und den Juden als getrennt ansah, empfahl er neben ihrer Enteignung deren „Überseeauswanderung“. Es war als Lösung gedacht, damit die aus den einzudeutschenden Provinzen vertriebenen Polen im polnischen „Reststaat“ keinen Unruheherd bildeten.26 Dies wird in der Schieder-Denkschrift insbesondere durch die präzise Planung der Deportationen unterstrichen: „Von besonderer Dringlichkeit ist die sofortige Klärung des Problems, wie und wohin der zu erwirkende polnische Auswanderungsstrom aus Posen-Westpreußen zu lenken ist. Hierbei ist festzuhalten, dass die Überseewanderung gegenüber einer Abwanderung in de[n] polnischen Reststaat unter allen Umständen zu fördern ist.“ In diesem Satz sind nicht mehr die polnischen Juden als eine existente Problemgruppe angesprochen, son-

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dern nur die Nationalpolen. Die Lesart, dass er nicht nur der jüdischen, sondern darüber hinaus auch der polnischen Bevölkerung einen „harten Volkstumskampf“ aufzwingen wollte, verdeutlicht Schieders Plädoyer dafür. Falls die Polen in ihren „Reststaat“ deportiert würden, war dort zuvor die jüdische Bevölkerung zu entfernen: „Eine stärkere Einwanderung nach Polen erscheint unter zwei Voraussetzungen möglich: 1) der Herauslösung des Judentums aus den polnischen Städten, 2) Der landwirtschaftlichen Intensivierung, die den Nahrungsspielraum in Polen erhöht und durch eine weitgehende Melioration und Separation die agrarische Überbevölkerung wenigstens abdrückt.“27 Tatsächlich plante Schieder nicht nur radikale Maßnahmen gegen die Juden in den eingegliederten Ostgebieten, sondern auch gegen den polnischen „Reststaat“. Er richtete sein Augenmerk insbesondere auf die Angehörigen der polnischen Intelligenz. Um künftige Aufstände durch Polen zu vermeiden, die von der „neuen polnischen Führerschicht“ zu befürchten seien, empfahl er bevölkerungspolitische Eingriffe durch die künftig zu schaffende deutsche Besatzungsherrschaft. Er empfahl Repressionen, Vertreibungen und eine besondere Behandlung, im Jargon der Nationalsozialisten der Ausdruck für Völkermord. Juden und polnische Intelligenz stellt er sowohl politisch als auch völkisch als Problemgruppe dar. Solche Maßnahmen, die in Summe aller, nur polizeilich, raumplanerisch und agrarwirtschaftlich zu bewerkstelligen waren, zielten auf eine deutliche Einschränkung der polnischen Souveränität. Sie setzten auf die komplette Beherrschung Polens durch die deutsche Besatzungsmacht, die – raumplanerisch und demographisch von Experten unterstützt – Bevölkerungs- und Rassenpolitik betrieb. Schieders Plan, in erster Linie die nationalpolnische und nicht die jüdische Bevölkerung nach Übersee abzuschieben, war zu diesem Zeitpunkt weitgehender als die Überlegungen anderer SS- und NSPlaner. Wetzel und Hecht forderten zum Beispiel in ihrer Denkschrift vom 5. November 1939, wie zwar eben Schieder auch, die Assimilation der Wasserpolen und der Kaschuben, aber „nur“ die Abschiebung der Polen in den polnischen Reststaat. Eine Überseelösung für Polen war nicht angestrebt. Die Härte, mit der Schieder argumentiert, drückt sich in der unbedingten Rigorosität gegenüber der polnischen Bevölkerung aus. Semantisch ist seine Empfehlung eindeutig, die „polnische Führungsschicht“, die sich „aus dem neuen polnischen Mittelstand“ entwickeln werde,28 besonders in Augenmerk zu nehmen. Auch Wetzel und Hecht forderten die augenblickliche Abschiebung der polnischen Intelligenz nach Restpolen, aber dort mit dem Endziel der „Sonderbehandlung“.29 Schieder hatte dagegen nicht etwa über die polnischen Lehrer und Priester, Akademiker und politischen gesprochen, die bereits verhaftet und danach ermordet wurden, sondern über die potentielle Führungsschicht der Zukunft. Selbst in der Frage der einzudeutschenden sogenannten Zwischenschichten, gemeint waren die slawisch-polnischen Minderheiten (den Kaschuben im nördlichen Westpreußen) im deutschen Grenzgebiet, nahm Schieder die Lösung von Wetzel/Hecht vorweg, ihnen im Sinne einer „völkischen Dekompostierung“ eine Art Reichsbürgerrecht minderen Status zu erteilen.

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Tatsächlich lehnen sich die rassenpolitischen Kerne in der Denkschrift Schieders den Leitsätzen →Otto Reches an. Bei Reche heißt es sehr präzise: „Die Belassung fremdvölkischer und rassisch minderwertiger Bewohner würde sich zwangsläufig zu einer Bastardisierung der deutschen Einwanderer auswachsen, die zu einer verhängnisvollen Schwächung der deutschen Volkskraft und Kulturfähigkeit führen müsste. […] Aus den […] abzutretenden Gebieten haben sofort auszuwandern: a) alle Juden und Zigeuner und ihre Mischlinge, b) alle seit 1918 zugewanderten Polen […]“.30 Saul Friedländer interpretierte nach dem semantischen Abgleich der Denkschriften von Schieder und Reche, dass beide im Kern eine ähnliche Argumentation verfolgten: die massenhafte Vertreibung von Polen und Juden aus den neu eingegliederten Ostgebieten sowie die Hereinahme der Volksdeutschen, die Liquidierung der polnischen Eliten, die gezielte Einwanderung der Reichsdeutschen in den neuen Gebiete und eine Rassenpolitik gemäß der Deutschen Volksliste.31 Schieders Denkschrift wurde zu einem Zeitpunkt fixiert, als die Ziele bereits feststanden, aber die administrativen Kompetenzen in der künftigen Umsiedlungsund Vernichtungspolitik noch offen waren, da der Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums erst am 7. Oktober 1939 von Hitler beauftragt worden ist. Deshalb ging die Denkschrift auch den Reichsministerien, der Wehrmachtsabwehr und der Deutschen Arbeitsfront, aber noch nicht dem SD zu. Theodor Schieder und →Hermann Aubin wollten sich als Leiter und Führer ihrer Landesstellen vorausblickend vor allem ihren Gauleitern als Experten empfehlen und nicht unbedingt den zentralen Reichsbehörden, mit denen die Berliner →Publikationsstelle Dahlem Ost intensiver kooperierte. Das Feld der Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik baute nicht nur auf dem SD und dem →Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) auf, sondern vor allem auf den Ostgauleitern, was sich insbesondere in ihrer Zuständigkeit für die →Deutsche Volksliste zeigte.32 Schieder schickte Gauleiter Koch als Antwort auf dessen Anfrage, ob er die dortigen „völkischen“ Verhältnisse erkunden könne, im März 1940 einen Plan zur Erforschung der Ostpreußen zugeschlagenen Gebiete Polens zu.33 Während die Ostgauleiter sich ihr Wissen über die Bevölkerungsverhältnisse zum Teil aus den Landesstellen in Breslau und Königsberg holten, bediente die Berliner Publikationsstelle das Reichsinnenministerium, das Rassenpolitische Amt der NSDAP und SS-Polizeidienststellen. Diese arbeitsteilige Vorgehensweise ermöglichte den teils konkurrierenden, teils kooperierenden Behörden vor Ort und in Berlin den überkreuzten Abgleich von regional fokussierten Untersuchungen über die einzelnen Bevölkerungsgruppen. Sie sammelten Zahlen, Karten und Statistiken einerseits aus der Zeit vor der deutschen Besatzung und andererseits aus den polnisch-regionalen Spezialuntersuchungen. Diese Zahlen verglich insbesondere die Publikationsstelle Dahlem mit den Soll- und Ist-Zahlen im anlaufenden Volkslistenverfahren. Der Wert dieses Verfahrens lag vor allem darin, sofern es sich nicht um Spezialuntersuchungen für den direkten Zugriff auf die örtliche Einwohnerschaft handelte, aus der Summe der Einwohner die An-

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teile Teil der zu deportierenden oder zu exterminierenden Bevölkerung herauszurechnen, um neue Maßnahmen der Siebung und Ausweisung zu begründen. Schieders Umsiedlungs- und Vernichtungspläne von 1939 verhalfen ihm dazu, sich neben seiner jungen wissenschaftlichen Karriere weiterhin auf die regionale Politikberatung zu konzentrieren. Die neuere Forschung versucht Schieders Tätigkeit harmloser darzustellen als sie war und sie vor allem aus dem Dunstkreis Erich Kochs herauszunehmen.34 Dies ist nicht plausibel. Im Dezember 1939 zeigten sich zwei Königsberger Regierungsdirektoren an Schieders Einbindung weniger in die „politische Bildung“, als vielmehr an seinen bevölkerungspolitischen Arbeiten über die Ostpreußen zugeschlagenen polnischen Gebieten interessiert. Dies dokumentiert Brackmanns Reise nach Königsberg im unmittelbaren Anschluss an die Kattowitzer Tagung vom 14. Dezember 1939, die er mit Hermann Aubin durchführte, um die deutsche →Ostforschung den rassenpolitischen Zielen der NS-Gauleiter anzudienen. Zu diesem Zeitpunkt machten sich die Arbeiten der anderen Landesstellen bezahlt. Hermann Aubin und sein Kreis um →Alfred Lattermann und →Walter Kuhn arbeiteten dem SD und der NS-Gauleitung Schlesien zu. Diese Gruppe diskutierte intensiv, wie sie der Politik mit anwendungsorientiertem Wissen zur Hand gehen konnte: etwa durch die Analyse der Abwanderung deutscher Bevölkerungsteile, der Ansässigkeitswerdung fremdstaatlicher Elemente, der Zuwanderung und des Ansässigwerdens von Polen, sowie des Eindringens von Tschechen und Polen in das als vermeintlich ursprünglich von Deutschen beherrschte oberschlesische Siedlungsgebiet.35 Als Brackmann seinen Landestellenleiter Westpreußen, →Erich Keyser, über die Ergebnisse der Königsberger Tagung vom 17. bis 20. Dezember 1940 informierte, macht er ihn besonders auf das Interesse der politischen Führung in Königsberg aufmerksam. An der Tagung nahm Erich Koch zwar nicht persönlich teil, aber – wie Brackmann ausführte – die maßgeblichen Führer aus Politik und Verwaltung: „Im Oberpräsidium herrschte zunächst eine etwas gleichgültige Stimmung, aber als mir die Gelegenheit gegeben wurde, in etwa 20 Minuten unsere Pläne darzulegen und auf unsere Abmachungen in Kattowitz verwies, schlug die Stimmung mit einem Mal um, und die beiden Regierungsdirektoren, darunter die rechte Hand des Gauleiters Erich Koch, der in der Provinz eine ganz besondere Rolle spielt, zeigten sich sehr interessiert. Es wurden nicht bloss über Zichenau und die dortigen geistigen Bedürfnisse erörtert, sondern man zeigte auch grosses Interesse für die Bevölkerungsgeschichte und begriff, dass wir mit der dortigen Arbeit eine Ergänzung zu der Breslauer Arbeit liefern müssten.“ Brackmann unterstrich dabei besonders Schieders Leistung: „Er geht mit größtem Eifer an die Arbeit […]“.36 Neben den zwei Vertretern des Oberpräsidiums waren neben dem Gebietsvertreter der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft Kurt von Raumer und dem Direktor des Königsberger Staatsarchivs Max Hein auch der Dozent Theodor Schieder anwesend. Dessen Arbeiten ließen nicht lange auf sich warten.37 Auftraggeber für die Arbeiten im Zichenauer Gebiet war Erich Koch. Er leistete zusammen mit dem Landeshauptmann die

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Anschubfinanzierung. Hierzu heißt es in dem Brief von Brackmann an Erich Keyser vom 5. März 1940: „In Ostpreußen haben der Gauleiter und Landeshauptmann als vordringliche Aufgabe eine Arbeit über die Zusammensetzung der Bevölkerung des neuen Regierungsbezirks Zichenau gewünscht. Infolgedessen sind dort ausser Herrn Dozent Dr. Schieder ein älterer Schüler von Herrn Professor Dr. von Raumer Herr Dr. Keit, und Herr Dr. Sielmann aus Riga eingesetzt worden […] Für diese Arbeiten sind insgesamt RM 8000 vom Gauleiter und vom Landeshauptmann bewilligt worden.“38 Indessen erhielt der Gauleiter von Schieder zwei Berichte: erstens eine Analyse der Stärke und des Einflusses der Nationaldemokratie Polens bis auf die Kreisebene, zweitens eine Studie über das Wirken der früheren preußischen Ansiedlungskommission, inklusive der Aufstellung der erhaltenen Siedlungsreste.39 Indem Schieder die Bevölkerung des neuen ostpreußischen Regierungsbezirks Zichenau und des Kreises Suwalki erfasste, wirkte er unmittelbar in der Vernichtungspolitik mit. Die Daten bildeten die Grundlagen für die ethnische Segregation der „Volksdeutschen“ und der jüdischen und slawischen „Mischehen“ im DVL-Verfahren.40 Schieder selbst hatte dem SD bereits Ende 1939 dabei geholfen, die Matrikel aus den aufgelassenen Synagogen und katholischen Kirchen, die Akten der Alleinsteiner Freimaurerloge und solche aus den Abstimmungskämpfen in Masuren zu requirieren, indem er im SD-Kübelwagen mitfuhr.41 Die Funktion, die Schieder in Königsberg einnahm, lässt sich unschwer mit der von Erich Kohte vergleichen, der in der Publikationsstelle in Berlin-Dahlem als Schnittstelle zwischen den Gauverwaltungen, dem Reichsinnenministerium und →Konrad Meyers Planungsstab im RKF der SS tätig war, um das Volkslistenverfahren statistisch zu begleiten, die Ab- und Zuwanderungszahlen abzugleichen und um detailliertere Auskünfte im Planungsverfahren der „ethnischen Säuberungen“ zu geben. Schieder etablierte diesen Service der politiknahen Beratung und Berichtstätigkeit für Ostpreußen. So hielt Schieder in seinem achten Bericht über die „völkischen Verhältnisse“ in Białystok, das nach dem Überfall auf die Sowjetunion eingegliedert werden sollte, 1942 fest, dass die „die Juden“ dort völlig „entfernt“ seien und sich nur noch auf die „Ghetti der Städte“ konzentrierten.42 Solche Angaben erhielt er aus den streng geheimen Akten der Bodenämter des RKF unter Konrad Mayer.43 Erich Koch dankte Schieder am 18. März 1942 für seine „selbstlose und erfolgreiche Tätigkeit“, indem er ihn für unabkömmlich erklärte. Ohne ihn wäre die „Neugestaltung“ Biaystoks nicht so weit fortgeschritten.44 Im Mai 1942 setzte sich das Oberpräsidium Ostpreußen mit seiner Hausberufung gegenüber dem Wissenschaftsministerium durch.45 1944/45 floh Schieder in den Westen. 1947 nahm er ein Ordinariat an der Universität Köln an. Ab 1954 gab er die Historische Zeitschrift heraus. Von 1967 bis 1972 stand er dem Verband deutscher Historiker vor. Er lehrte bis zu seiner Emeritierung am 1. Oktober 1974 in Köln. Bis Mitte der fünfziger Jahre blieb er den alten Grundsätzen der Ostforschung verpflichtet, schaltete sich – zum Beispiel bei der Aufnahme Werner Conzes –, in die Personalia des →Johann Gottfried Herder-Forschungsra-

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tes ein,46 gab dem Vertriebenenministerium unter der Leitung Theodor Oberländers mit der Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa ein Instrument in die Hand, die alte Revisionspolitik neu fortzuführen, indem er das Potsdamer Abkommen angriff, und saß im Beirat des Göttinger Arbeitskreises.47 Doch indem er unter anderem die Nachkriegshistoriker Martin Broszat und Hans-Ulrich Wehler, Heinz-Gerhard Haupt und Hans Henning Hahn betreute, beteiligte er sich am Paradigmenwandel um 1968, der die bundesdeutsche Geschichtswissenschaft international wieder anschlussfähig machte. Er stellte sich insbesondere hinter Hans-Ulrich Wehler, der aufgrund seiner exzeptionellen Machtstaatskritik angegriffen wurde, indem er von den älteren Kollegen Maßgaben normaler Höflichkeit einklagte. Diese Vorgehensweise, den Nachwuchs vor ausufernder Polemik und innerfachlicher Ausgrenzung zu schützen, war damals wie heute nicht selbstverständlich in Deutschland. Auch seine Selbstreflexionen zwei Jahre vor seinem Tod am 8. Oktober 1984 sind beachtlich: „Die deutsche Geschichtswissenschaft hat in den […] Jahrzehnten nach 1945 wieder einen […] hohen Standard erreicht, wenn dieser auch nicht mit dem in der Weimarer Republik vergleichbar ist. Es ist bezeichnend, daß besonders große historiographische Leitungen […] in einer Außenseiterposition entstanden sind.“ Er mahnte den Historikerverband, neue und kontroverse Ansätze prinzipiell nicht auszugrenzen, sondern einzubinden. Außerdem sei nicht akzeptabel, dass dem Nachwuchs „rücksichtslos der Stuhl vor die Tür gesetzt“ werde, ohne „eine soziale Mindestabsicherung“ zu bieten.48 Trotz seiner Altersweisheit ist die Ambivalenz seines Gesamtwerkes evident. Die Projekte, durch die er sich selbst oder den wissenschaftlichen Nachwuchs professionalisierte, waren eminent politisch aufgeladen, nicht nur vor 1945. So täuschte die Dokumentation der Vertreibung im statistischen Teil empirisch abgesicherte Positionen vor, die tatsächlich politische waren. Einer Diskussion ging er aus dem Weg, indem er diesen Aspekt der Forschung dogmatisierte und die kritischen Ergebnisse seiner jungen Mitarbeiter aus dem geplanten Abschlussband der Dokumentation der Vertreibung nicht veröffentlichte, also auch der Öffentlichkeit vorenthielt.49

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1 Sigrid Bias-Engel, Studenten im Krieg. Zur Situation der studentischen Jugendbewegung im Ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 16 (1986/87), S. 241–250, 250; Werner Conze, Jugendbewegung – politisch gesehen. Auf dem Wege zum politischen Realismus, in: Deutsche Studentenzeitung vom 6.10.1950, S. 9f. 2 Vgl. Werner Kindt, Die Deutsche Jugendbewegung 1920–1933. Die bündische Zeit, Bd. 3, Düsseldorf 1972, S. 1371; Heinrich Jantzen, Namen und Werke. Biographien und Werke zur Soziologie der Jugendbewegung, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1977, S. 195–200; BArch, BDC-Akte 0–297 I, S. 189a und ZA V 171, Unterlagen zu Oberländer. 3 Günther Franz, Jugendbewegung und Universität, in: Kindt, Die Deutsche Jugendbewegung, Bd. 3, S. 1316f.

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4 AdtJW, 400242/1, Theodor Schieder, Deutsche Hochschulgruppe „Greif“, in: Gemeinsamer Rundbrief der Gilden des Arbeitsabkommens, 1. Folge, Februar 1930, S. 9–12. 5 Theodor Schieder, Vom politischen Wesen der Gilde, in: Jungnationale Stimmen 5 (1930), S. 89. 6 AdtJW, Witzenhausen, 400242/1, Theo Schieder, Gedanken über die Grundlagen unserer Gemeinschaft, in: Gemeinsamer Rundbrief des Arbeitsabkommens, 2. Folge, Mitte November 1930, S. 16. 7 AdtJW, 400242/1, Theodor Schieder, Unsere Stellung zum Nationalsozialismus, in: Gemeinsamer Rundbrief der Gilden des Arbeitsabkommens, 1. Folge, Mitte Februar 1930, S. 19. 8 Max Hildebert Boehm, Ruf der Jungen. Eine Stimme aus dem Kreise um Moeller van dem Bruck, Freiburg 19333, S. 19ff.; BArch, 61 Re 1, 315, Bl. 128, ders., Das Werk Moeller van den Brucks. Zu seinem 50. Geburtstage, in: Correspondenz Ring-Dienst vom 26.4.1926. 9 Ulrich Herbert, Generation der Sachlichkeit. Die völkische Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre, in: ders., Arbeit, Volkstum, Weltanschauung. Über Fremde und Deutsche im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1995, S. 31–58, 58. 10 Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Die deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 20022, S. 79. 11 Rudolf Craemer, Gedanken über Geschichte als politische Wissenschaft der Nation, in: Geistige Arbeit 1 (1934), S. 5–6, 9–10; Günther Franz, Über Historische Kommissionen, in: ebd., S. 4–5; Ernst Krieck, Schöpferisches Epigonentum, in: Volk im Werden 3 (1935), S. 322; Walter Frank, L’Incorruptible, in: VB vom 3./4.2.1935. 12 Theodor Schieder, Rezension Otto Hoetzsch, Osteuropa und Deutscher Osten, in: Volk und Reich 10 (1934), S. 958f. 13 Erich Maschke, Deutsches Volk in der Geschichte Polens, in: Deutsche Arbeit 34 (1934), S. 489– 493. 14 Theodor Schieder, Die Aufgaben der Landesstelle Ostpreußen für Nachkriegsgeschichte, in: Der ostpreußische Erzieher. Mitteilungsblatt für die Gauschaften im nationalsozialistischen Ostpreußen, 1935, S. 750–752. 15 Theodor Schieder berichtet über die Albertus-Universität in Königsberg, an der er von 1934 bis 1945 tätig war, in: Filmdokumente zur Zeitgeschichte, hg. vom Institut für den wissenschaftlichen Film, Göttingen 79, S. 3–17, 15ff. 16 BArch, R 153, 1220, Maschke an Brackmann vom 20.6.1934; ebd., 1313, Karl Budding an Brackmann vom 12.3.1935. 17 GStA PK, Rep. 178, 14, Nr. 94, Bl. 1ff., 18f., 29f., Paul Kluke an die Zentralstelle für Nachkriegsgeschichte vom 7.10.1934; Brackmanns Geheimgesuch an den Präsidenten der Notgemeinschaft deutscher Wissenschaft für die Weiterbewilligung des Stipendiums am 13.9.1934 und seine Eingaben an Hermann Göring vom 29.6.1940 und das RMI vom 3.1.1941. 18 Theodor Schieder, Die Aufgaben der Landesstelle Ostpreußen für Nachkriegsgeschichte, S. 750. 19 BArch, R 153, 1313, Karl Budding an Brackmann vom 12.3.1935; ebd., Brackmann zurück am 14.3.1935. 20 Ebd., 1313, Schieder an Brackmann vom 20.3.1935; ebd., Schieders Arbeitsbericht über seinen PuSte-Forschungsauftrag „Preußische Idee und preußisches Bewußtsein im 18. Jahrhundert“; ders., Elbinger Jahrhundertfeiern in früherer Zeit, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte von Ost- und Westpreußen 12 (1938), S. 42–48. 21 Theodor Schieder, Ostpreußen in der Reichsgeschichte, in: Volk und Reich 11 (1935), S. 730ff., 744ff. und 748. 22 BArch, ZAV 157, S. 1, Personaldokumente Schieders. 23 PA, R 60276, aus Schieders Bericht über die Studienfahrt nach Finnland und Estland vom 1. bis zum 12.7.1936. 24 BArch, R 153, 54, Geheime Mitteilung des Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen an den RMI über den nationalpolitischen Einsatzes der deutschen Ostforschung vom 10.6.1939 aus Königsberg.

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25 Ebd., 291, Ergebnisse des Berliner Arbeitskreises über die Siedlungs- und Volkstumsfragen in den wiedergewonnenen Gebieten vom 29.8. und 3.9.1939, S. 1–2, 7. 26 Laut Christoph Nonn habe Schieder für eine Deportation der Juden im Sinne des MadagaskarPlanes von 1938 gestimmt. Eine Verbindung zum Völkermord gebe es von daher nicht. Siehe Nonn, Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2013, S. 90–91. Anders als Nonn es mutmaßt und gemäß des originalen Textlauts der Denkschrift wollte Schieder nicht die Juden nach „Übersee“ deportieren, sondern die polnisch-nationale Bevölkerung. Dem Interpretationsfehler, die Denkschrift als Deportationsplan ‚nur‘ für Juden umzudeuten, folgen weitere. So erscheint die Madagaskarlösung nicht als Genozid, sondern als humane Auswanderung. Ferner sollen ‚die‘ Polen selbst – und unbeteiligte Franzosen – gewünscht haben, die polnischen Juden nach Madagaskar zu deportierten, um dort die soziale Frage zu entschärfen. Nonn verwechselt auf diese Weise, unbeeindruckt von dem, was in der Denkschrift zu lesen ist, nicht nur die Opfergruppen; er macht aus polnischen Opfern nachträglich auch Mittäter. Die Tatsache, dass diverse Experten in den 1930er und 40er Jahren durch Deportationen oder Umsiedlungen soziale und politische Modernisierungsimpulse für ihr Land oder geopolitisch bedeutsame Konfliktregionen erwarteten, mündet bei Nonn in eine Argumentation der Verharmlosung deutscher Kriegsverbrechen. Schieder sah – gemäß der Doktrin Haushofers im Zuge des Münchener Abkommens von 1938 – das jüdische Problem in Europa als gelöst an. Ende 1939 richteten sich die radikalen Maßnahmen deshalb vor allem gegen die Nationalpolen. Abgesehen davon bezweckte auch der Madagaskar-Plan einen Genozid; vgl. Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt: Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2013. 27 Wie Anmerkung 25, S. 7. 28 Ebd., S. 7. 29 IfZ, MA 125/9, Erhard Wetzel/Günther Hecht, Die Frage der Behandlung der Bevölkerung der ehemaligen polnischen Gebiete nach rassenpolitischen Gesichtspunkten. Im Auftrag des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, Berlin 3.12.1939, S. 21. Vgl. Bruno Wasser, Himmlers Raumplanung im Osten. Der Generalplan Ost in Polen 1940–1944, Basel 1993, S. 21f. 30 Otto Reche, Leitsätze zur bevölkerungspolitischen Sicherung des deutschen Ostens, Leipzig vom 24.9.1939, in: Mechtild Rössler u.a., Der „Generalplan Ost“: Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993, S. 351, 353. 31 Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, München 2008, S. 413f. 32 Götz Aly, Endlösung. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a. M. 1995, S. 38ff., 69. 33 BArch, R 153, 317, Brackmann an Ernst Vollert vom 8.3.1940, und Bericht über die Arbeiten zur Bevölkerungsgeschichte in den Grenzgebieten vom 8.3.1940. 34 Nonn, Theodor Schieder, S. 97, Anm. 170 35 BArch, R 153, 317, Brackmann an Keyser vom 5.3.1940. 36 Ebd. 37 GStA PK, Nl Brackmann, Nr. 83, Bl. 10f., Brackmann an Aubin vom 23.12.1939, Bl. 10. 38 BArch, R 153, 317, Brackmann an Keyser vom 5.3.1940. Nonn bestreitet die direkte Zuarbeit für Koch, um Schieders Mitwirkung an den ethnischen Säuberungen der Nationalsozialisten herunterzuspielen. Nonn, Theodor Schieder, S. 97, Anm. 170. Aber die Quelle ist eindeutig. Nonns Behauptung, ich hätte eine direkte Zuarbeit erfunden, um aus Schieder – mit den Worten Hans Ulrich Wehler – einen „Schreibtischtäter“ machen zu können, ist falsch. 39 BArch, R 153, 1196, Der Regierungsbezirk Zichenau im Spiegel der früheren polnischen Sejmwahlen, Bericht Nr. 2, Königsberg 1940; ebd., 317, Die preußische Kolonisation von 1795–1807 im Regierungsbezirk Zichenau, Bericht Nr. 1, Königsberg 1940. 40 Ebd., R 153, 317, Landesstelle Ostpreußen für Nachkriegsgeschichte, Fragebogen für deutsche Siedlungen im Regierungsbezirk Zichenau und Kreis Suwalken.

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41 GStA PK, Rep 178, XXIV, Bd. 1, Nr. 16, Bl. 33f., Bericht des Staatsarchivassessors Dr. Quednau über die Dienstreise nach Allenstein, 1.7.1940; GStA PK, Rep. 178, XXIX, Bd. 1, Nr. 16, Bl. 29–30 RS, Kurt Forstreuter, Bericht über eine Dienstreise nach Suwalki vom 27.5. bis zum 2.6.1940. Diese drei Akten aus dem ehemaligen Merseburger Archiv konnten von mir nur einmalig eingesehen werden. Nach ihrer Abgabe an das Geheime Staatsarchiv verweigerte dieses die nochmalige Einsicht, die jedoch Christoph Nonn erhielt. Er behauptet nun, ich hätte Schieders Rolle als Leiter der Landesstelle in der Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik nicht nur über-, sondern falsch bewertet. Seine Heuristik baut aber auf einer unbegründeten Vermutung auf. Er unterstellt, ich hätte Schieder als Beteiligten an allen drei Raubzügen an polnischen Institutionen vermerkt, einschließlich einer jüdischen. Tatsächlich ging es mir um die Tätigkeit dieser „Kampfgruppe Königsberg“ (so M. Rainer Lepsius über den Maschke/Schieder/Conze-Kreis), bestehend aus Archivaren und Historikern, im Archivraub und nicht um Aktionen Einzelner. Gleichzeitig erhielt Nonn Einsicht in die Aktenbestände der Landesstellen für Nachkriegsgeschichte, die das Preußische Geheime Staatsarchiv – trotz gegenläufiger Gesetzeslage durch das Stasi-Unterlagengesetz – weder mir noch Götz Aly offenlegte. Aufgrund dieser vertieften Aktenkenntnis scheinen Nonns Forschungen an Detailtiefe zu gewinnen. Er nutzt seine Erkenntnisse aber nicht, um einen fachlichen Erkenntnisfortschritt zu erzielen, sondern um die Arbeit anderer Forscher herabzuwürdigen. Dabei etabliert er einen Tonfall, der weder in der Sache noch fachethisch überzeugen kann. Leider erhielt ich auf der zentralen Tagung des GStA PK, auf der die eigene NS-Hausgeschichte erstmals aufgearbeitet werden sollte, nicht die Gelegenheit, meine Positionen darzulegen, obwohl ich und Michael Fahlbusch schriftlich auf diesen Missstand vorenthaltener Akten hinwiesen. Dass ein Historiker und ein Archiv in Kooperation eine eigene Publikationspolitik betreiben, ist die eine Sache; ein hermetisches Wissenschaftsverständnis und die Nichterfüllung des gesetzlichen Auftrags eine andere. 42 GStA PK, Rep. 178, F, Kasten 9079, Theodor Schieder, Die völkischen Verhältnisse des Bezirks Bialystok und ihre geschichtliche Entwicklung, Bericht Nr. 8, Königsberg 1942, S. 3, 19. 43 BArch, R 153, 96 und 946, Kreisberichte der Bodenämter aus den eingegliederten polnischen Gebieten in Ostpreußen. 44 Ebd., 88, Erich Koch an Theodor Schieder vom 18.1.1942. 45 GStA PK, Rep. 178, VII, 10, Bl 10, Brackmann an das ostpreußische Oberpräsidium vom 23.5.1942 aus Berlin. 46 BArch, Nl 1188, 3044, Schieder an Keyser vom 5.4.1957 über die Aufnahme Werner Conzes in den Rat. 47 Matthias Beer, Der „Neuanfang“ der Zeitgeschichte nach 1945. Zum Verhältnis von nationalsozialistischer Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik und der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa, in: Winfried Schulze (Hg. u.a.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2000, S. 274–305. 48 BArch, Nl 1188, 310, Theodor Schieder, Die deutsche Geschichtswissenschaft in ihren Institutionen vom 18.3.1983. 49 Vgl. Ingo Haar, Die deutschen „Vertreibungsverluste“ – Zur Entstehungsgeschichte der „Dokumentation der Vertreibung“, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 35 (2007), S. 251–272.

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Bruno Schier Bruno Schier (1902–1984), ein deutscher Ethnologe, wurde als Sohn einer Handwerkerfamilie in Hohenelbe geboren. Diese Region im Riesengebirge gehörte nach dem Untergang der Habsburgermonarchie zur Tschechoslowakei, was von der deutschsprachigen Bevölkerung, zumal in den Anfangsjahren, vielfach vehement abgelehnt wurde. Auch Bruno Schier, dessen politischer und akademischer Werdegang eng verflochten sind, gehörte diesem Milieu an. Politisch sozialisiert in völkischen Vereinen und Verbänden wie dem Deutschvölkischen Turnverband, dem Kampfbund Böhmerland und der Freischar Fichte (Mitglied seit 1919 beziehungsweise 1923) trat er 1927 der DNSAP bei. Nach deren Auflösung durch die tschechoslowakischen Behörden im Jahre 1933 wurde er 1934 Mitglied in der Sudetendeutschen Partei (SdP). Beim Umzug von Prag nach Leipzig ein Jahr später ließ er seine SdP-Mitgliedschaft in die NSDAP überführen und bemühte sich um die Anerkennung als „Altparteigenosse“.1 Seine wissenschaftliche Laufbahn begann Bruno Schier mit einem Studium der Germanistik, Slawistik, Geschichte und Geographie, das er – unterbrochen durch ein Gastsemester an der Universität München 1922/23 – mit einer Promotion über das Siedlungswesen Nordböhmens 1926 in Prag abschloss. Von dort ging er als Assistent an die Anstalt für sudetendeutsche Heimatforschung nach Reichenberg, wo er Schriftführer und Kartograph für den Kulturatlas der böhmischen Länder war. Bereits im Wintersemester 1926/27 kehrte er nach Prag zurück, wo er eine Stelle als Assistent am Seminar für deutsche Philologie an der Deutschen Universität annahm und zu den Mitbegründern des NS-Studentenbundes gehörte. Im Jahr 1931 habilitierte er sich mit einer Arbeit über Hauslandschaften und Kulturbewegungen im östlichen Mitteleuropa. Drei Jahre später wurde er zum außerordentlichen Professor für deutsche →Volkskunde an die Universität Leipzig berufen. Von 1940 bis Ende 1944 hatte er eine Gastprofessur an der Universität in Bratislava (Preßburg) inne. Unklar ist, warum eine Berufung 1942/43 als Nachfolger von Gustav Jungbauer auf den Lehrstuhl für deutsche Volkskunde an der Deutschen Universität Prag trotz Fürsprache der →Reinhard-Heydrich-Stiftung bei Karl Hermann Frank und dessen Aufgeschlossenheit für den Kandidaten scheiterte.2 Gemäß seinem Verständnis von der Volkskunde als „Wissenschaft im Volkstumskampf“ – so der Titel der Festschrift für seinen akademischen Lehrer →Erich Gierach3 – verband Schier wissenschaftliches mit politischem Engagement: Seit 1934 als Sachbearbeiter für Volkskunde im Stabsamt des Reichsbauernführers, im Amt Rosenberg und beim Reichsdozentenführer, seit 1937 als Mitarbeiter der Arbeitsgemeinschaft deutsche Volkskunde sowie als wissenschaftlicher Referent für sächsische Volkskunde im Heimatwerk Sachsen. Außerdem verfasste er Beiträge für den Völkischen Beobachter und propagierte in einer Vielzahl von Vorträgen eine nationalsozialistische Volkskunde, die er als völkische Leitwissenschaft mit der Vor- und Frühgeschichte verbunden sehen wollte.4

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Themen, die Bruno Schier schon in seiner Habilitationsschrift beschäftigt hatten, darunter Fragen der der sogenannten „Kontaktzone“ zwischen Deutschen und Slawen, Siedlungsmuster und Hausforschung, verfolgte er auch in den späteren Jahren weiter, so auch während seiner Gastprofessur in Bratislava. Politisch stand er dort einer kleinen radikalen Gruppe innerhalb der paramilitärischen Hlinka-Garde nahe, die sich um die Zeitung Náš boj (Unser Kampf) sammelte. Sie favorisierte im Sinne des „Neuen Europa“ eine enge Anlehnung an das Deutsche Reich, was Bruno Schier publizistisch unterstützte. Er stand dabei in engem Kontakt zum Berater der Garde, dem SS-Obersturmbannführer Viktor Nageler.5 Viktor Nageler war Angehöriger des SS-Hauptamtes. Dessen Chef, Gottlob Berger, stütze sich auf Arbeiten von Bruno Schier, als er 1943 Heinrich Himmler schrieb, dass in „volkspolitischer“ Hinsicht die „rassische Substanz des slowakischen Volkes […] weitgehend dieselbe [sei] wie die des deutschen, zurückgehend auf die germanische Vorbesiedlung und eine tausend Jahre währende deutsche Besiedlung und Durchdringung“. Entsprechend sei „eine Umsiedlung in größerem Ausmaße unnötig“, für eine Assimilation jedoch seinen „alle Voraussetzungen […] gegeben“.6 Auch übersandte Berger dem Reichsführer-SS Schiers Schrift „Aufbau der slowakischen Volkskultur“. Zwar trug dieser Text 1943 den Vermerk „Geheim“, seit 1989 jedoch lässt sich in dem posthum herausgegebenen Werk „West und Ost in den Volkskulturen Mitteleuropas“ nachlesen, was Bruno Schier als Ergebnisse seines Lebens als Wissenschaftler bilanziert wissen wollte. Der Abdruck des Textes erfolgte nach einer nur geringfügigen Überarbeitung: Wo 1943 „rassisch“ stand, hieß es 1989 „anthropologisch“. Exemplarisch wird dabei deutlich, wie stark der Verfasser der Vorstellung vom deutschen „Kulturboden“ und einer entsprechenden Mission der deutschen Minderheit verhaftet blieb. So betonte er noch 1973, dass er schon in seiner Jungend durch „die geistige Auseinandersetzung mit der nahen Sprachgrenze im Zeichen der nationalistischen Radikalisierung des tschechischen Nachbarn“ geprägt worden sei.7 Auch hielt er bis zu seinem Lebensende an der Vorstellung fest, dass in der Slowakei „der deutsche Kultureinfluss beherrschend im Vordergrund“ gestanden habe, so „dass die deutsche Durchdringung dieses Landes ehemals größer als jene von Böhmen und Mähren gewesen sein muss.“ Besondere Bedeutung schrieb er dabei den Bewohnern der sogenannten deutschen Sprachinseln zu: Ihre „Zugehörigkeit zum Deutschtum ermöglichte es ihnen, alle Fortschritte Deutschlands leichter als der Slowake zu verstehen, sie rascher zu übernehmen und in einer landgerechten Form an den slawischen Nachbarn weiterzugeben.“ Entsprechend habe „der deutsche Einfluss unaustilgbare Züge in das kulturelle Antlitz des Landes eingeprägt.“8 Methodisch verfocht Schier sowohl 1943 als auch 1989 eine vergleichende Volkskunde. Der modern anmutende Ansatz erweist in der Schierschen Praxis jedoch regelmäßig den deutschen Ursprung des Untersuchungsgegenstandes. So sei der „heiße Streit“ zwischen magyarischen und slowakischen Wissenschaftlern über die Urheberschaft von Gegenständen der materiellen Kultur „in vielen Fällen des-

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halb müßig, weil die vergleichende Volkskunde nachweisen kann, dass die betreffende Erscheinung weder madjarisch noch slowakisch, sondern in ihrer Ausgangsform abendländisch-deutsch“ sei.9 In Geist, Duktus und Wortwahl, so zeigt sich, hielt Bruno Schier auch als Hochschullehrer in der Bundesrepublik an seinen völkisch-nationalistischen Überzeugungen fest. In der Slowakei hielt man Bruno Schier dagegen lange in Ehren. Nicht nur stellte ihm die slowakische Polizei noch im September 1948, also nach der Machtübernahme der Kommunisten, ein Leumundszeugnis aus, wonach Schier sich zwar „als Deutscher“ verhalten habe. „Nazismus“ oder „Faschismus“ mochte man ihm jedoch nicht attestieren.10 Auch führte die slowakische Ethnologie ihre Modernität, etwa im Verhältnis zur einheimischen Geschichtswissenschaft, lange auf die Ausbildung einer Wissenschaftlergeneration durch Schier zurück, der das Fach für die Erforschung von „minority cultures“ sensibilisiert habe. Bruno Schier selbst stellte sich nach dem Krieg als unpolitischen Wissenschaftler dar und eine NSDAP-Mitgliedschaft in Abrede. Bereits 1948 erhielt er einen Lehrauftrag für westslawische Philologie in Halle (Saale), 1950 eine Gastprofessur für Volkskunde in Marburg (Lahn). Im Jahr 1951 wurde er auf eine entsprechende Professur an die Universität Münster berufen, die er bis zu seiner Emeritierung innehatte. Er gehörte außerdem zu den Gründungsmitgliedern der Historischen Kommission der Sudetenländer, war seit 1965 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Johannes-Künzig-Institutes für ostdeutsche Volkskunde in Freiburg und erhielt 1978 den Großen Sudetendeutschen Kulturpreis.11

Tatjana Tönsmeyer

1 BArch, BDC, Parteikorrespondenz Bruno Schier. 2 Zu den wissenschaftlichen Stationen vgl. BArch, ZA VI 2828 A.12, mit Ernennungsurkunde zum ordentlichen Professor vom 26.9.1942. Der Schriftwechsel der verschiedenen beteiligten Institutionen bezüglich der Nachfolge Jungbauer aus dem Jahre 1943 ebd. Der Titel der Habilitationsschrift lautet „Hauslandschaften und Kulturbewegungen im östlichen Mitteleuropa“; sie wurde 1932 in Reichenberg publiziert. 3 Wissenschaft im Volkstumskampf. Festschrift für Erich Gierach zu seinem 60. Geburtstag, hg. v. Kurt Oberdorffer, Bruno Schier und Wilhelm Wostry, Reichenberg 1941. 4 BArch, BDC, Parteikorrespondenz Bruno Schier, hier die verschiedenen Funktionen. 5 Schier publizierte (in slowakischer Übersetzung) in der Zeitung Nášboj zum Beispiel die Beiträge „Hirtenspiel im Karpatenraum“ (Dezember 1942) oder „Die Slowakei als Rückgrat Mitteleuropas“ (März 1943). Im folgenden Monat brachte die Redaktion ein Interview mit ihm: „Professor Schier und die Slowakei“. Zur Hlinka-Garde, dem Nášboj-Kreis und der Tätigkeit des Beraters Viktor Nageler für die Grade vgl. Tatjana Tönsmeyer, Das Dritte Reich und die Slowakei 1939–1945. Politischer Alltag zwischen Kooperation und Eigensinn, Paderborn 2003, S. 174–188. 6 BArch, NS 19, 2042, Schreiben vom 19.2.1943. 7 Bruno Schier, Fünfzig Jahre ostdeutsch-westslawischer Volksforschung; in: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde 16 (1973), S. 406–422, 407. 8 Ders., West und Ost in den Volkskulturen Mitteleuropas, Marburg 1989, S. 259ff.

Bruno Schier  729

9 Ebd., S. 256f. 10 BArch, ZA VI 2828, A.12, Leumundszeugnis der Staatssicherheit Bratislava vom 9.9.1948. 11 Ebd., Schreiben Schier vom 18.9.1945. Zu den wissenschaftlichen Stationen nach 1945 vgl. die Einleitung von Otakar Nahodil, „Das Vermächtnis eines gelehrten Deutschböhmers“, in: Bruno Schier, West und Ost, S. Xff., XI.

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Friedrich Schmidt-Ott Einer alten protestantischen Pfarrers- und Juristenfamilie entstammend, absolvierte der am 4. Mai 1860 in Potsdam geborene Sohn eines späteren Konsistorialpräsidenten der Evangelischen Kirche die typische humanistische Schulausbildung seiner Zeit; einschließlich des Einjährig-Freiwilligen Militärdienstes und der Ernennung zum Reserveoffizier.1 Durch die berufsbedingte Versetzung des Vaters nach Kassel war Schmidt-Ott von 1873 bis 1877 zeitweilig ein Mitschüler des damaligen Kronprinzen Wilhelm II. Das Studium der Rechtswissenschaft in Berlin, Heidelberg, Leipzig und Göttingen schloss er 1883 in Berlin mit der Promotion zum Dr. jur. ab. Bereits ein Jahr zuvor war er 1882 als Hilfsarbeiter im Reichsjustizamt in den preußischen Staatsdienst eingetreten. Im Jahre 1888 folgte ein Wechsel ins preußische Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten. Dort wurde er 1895 zum Geheimen Rat ernannt und war ein enger Mitarbeiter des Hochschulreformers Friedrich Althoff,2 dessen Nachfolge er 1907 als Ministerialdirektor in der Unterrichtsabteilung antrat. Bereits 1902 war ihm auf Wunsch des Kaisers, nach einer gemeinsamen Englandreise mit Wilhelm II., die Leitung des Kunstreferats übertragen worden, so dass er im Ministerium für den Auf- und Ausbau der Kunststadt Berlin zuständig war (aus dieser Zeit stammt die Verballhornung seines Namens durch „Kunst-Schmidt“). Im August 1917 zum Staatsminister ernannt, war Schmidt-Ott bis November 1918 der letzte preußische Kultusminister.3 Neben dem Chemiker Fritz Haber4 war Schmidt-Ott 1920 einer der Initiatoren für die Gründung der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, dem Vorläufer der →Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).5 Als deren erster Präsident in den Jahren von 1920 bis Juni 1934 (sein Nachfolger war Johannes Stark) war Schmidt-Ott einer der wichtigsten deutschen Forschungspolitiker. Auf seine Anregung und Initiative entstanden zahlreiche Großprojekte und Gemeinschaftsarbeiten, vornehmlich im geisteswissenschaftlichen Bereich.6 Der sehr autokratische Führungsstil des überzeugten Monarchisten und die mitunter undurchsichtige Vergabepraxis der Fachausschüsse bedingten aber auch berechtigte und mitunter massive Kritik.7 Bei der Vergabe von Forschungsstipendien der Notgemeinschaft stand für Schmidt-Ott weniger die Nachwuchsförderung als vielmehr die wissenschaftliche Relevanz des beantragten Forschungsthemas im Vordergrund. Zwar versuchte er im November 1933 in einem Rundbrief die Selbstanpassung der Notgemeinschaft zu betreiben und als „neue Aufgaben“ der Forschungsförderung die weltanschaulichen „Zielsetzungen des nationalen Staates“ durch medizinische Forschungen zur Eugenik und Erbbiologie zu unterstützen sowie die besondere Bedeutung der →Volkskunde herauszustellen,8 doch für die Nationalsozialisten blieb Schmidt-Ott ein Mann des verhassten Weimarer Systems, der allein schon aus Altersgründen abgelöst gehörte. Großen Einfluss auf wissenschaftspolitische Entscheidungen hatte Schmidt-Ott darüber hinaus im Vorfeld der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften im Jahre 1911 sowie als deren 2. Vizepräsident und Sena-

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tor in den Jahren 1919–37.9 Darüber hinaus war er von 1935 bis 1945 Vorsitzender des Stifterverbands für die deutsche Wissenschaft.10 Er war mit Geheimrat Carl Duisberg befreundet und deshalb von 1920 bis 1945 auch Aufsichtsratsmitglied der Bayer AG Leverkusen sowie von 1925 bis 1945 Aufsichtsratsmitglied der I.G. Farben. Interessante, wenn auch sehr subjektive Einblicke in die deutsche Wissenschaftslandschaft bietet seine 1952 veröffentlichte Autobiographie.11 Zu den wichtigsten bleibenden Verdiensten Schmidt-Ott gehört vor allem die Institutionalisierung der deutschen Wissenschaftsförderung in formell vom Staat unabhängigen gemeinnützigen Körperschaften, die, obgleich vom Staat alimentiert, weitgehend autonom ihre Entscheidungen treffen können.12 Er starb am 28. April 1956 in Berlin (West).

Lothar Mertens † 1 Lothar Mertens, Bildungsprivileg und Militärdienst im Kaiserreich. Die gesellschaftliche Bedeutung des Einjährig-Freiwilligen Militärdienstes für das deutsche Bildungsbürgertum, in: Bildung und Erziehung 43 (1990), S. 217–228. 2 Bernhard vom Brocke, Friedrich Althoff, in: Wolfgang Treue (Hg. u.a.) Berlinische Lebensbilder. Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber, Berlin 1987, S. 195–214; ders., Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882–1907. Das „System Althoff“, in: Peter Baumgart (Hg.) Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs, Stuttgart 1980, S. 9–118. 3 Wolfgang Treue, Friedrich Schmidt-Ott, in: W. Treue (Hg.) Berlinische Lebensbilder, S. 235–250, 240; Winfried Schulze, Selbstbild und Fremdbild. Friedrich Schmidt-Ott, ein Gestalter des deutschen Wissenschaftssystems, in: Forschung 1 (2005), S. 1–8, 3. 4 Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber 1868–1934. Eine Biographie, München 1998, S. 528ff. 5 Ulrich Marsch, Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. Gründung und frühe Geschichte 1920–1925, Frankfurt a.M. 1994; Notker Hammerstein, Die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Wissenschaftspolitik in Republik und Diktatur 1920–1945, München 1999, S. 39ff., 110ff. 6 Lothar Mertens, „Nur politisch Würdige“. Die Forschungsförderung der DFG im Dritten Reich 1933–1937, Berlin 2004, S. 42ff. 7 Kurt Zierold, Forschungsförderung in drei Epochen. Deutsche Forschungsgemeinschaft, Geschichte, Arbeitsweise, Kommentar, Wiesbaden 1968, S. 108ff. 8 Lothar Mertens, „Nur politisch Würdige“, S. 46, 50ff. 9 Bernhard vom Brocke, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Kaiserreich. Vorgeschichte, Gründung und Entwicklung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: Rudolf Vierhaus (Hg.) Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/MaxPlanck-Gesellschaft, Stuttgart 1990, S. 17–162, 79ff. 10 Winfried Schulze, Der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft 1920–1995, Berlin 1995, S. 45ff. 11 Friedrich Schmidt-Ott, Erlebtes und Erstrebtes 1860–1950, Wiesbaden 1952. 12 Winfried Schulze, Selbstbild und Fremdbild, S. 2.

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Carl Schmitt Carl Schmitt, geboren am 11. Juli 1888 in Plettenberg (Sauerland), studierte ab 1907 Staats- und Rechtswissenschaft in Berlin, München und schließlich in Straßburg, wo er 1910 mit einer strafrechtlichen Arbeit bei Fritz van Calker promovierte.1 Der akademische Karriereweg des schon bald berühmten und umstrittenen Staatsrechtslehrers führte von der Handelshochschule München über die Universitätsstandorte Greifswald und Bonn 1928 an die Handelshochschule nach Berlin. Eine breite Rezeption erreichte der zunächst im Milieu des politischen Katholizismus beheimatete Schmitt durch den ihm eigenen, als prägnant wahrgenommenen Stil, eine überaus polemische Begriffsbildung sowie durch ein Politikverständnis, das auf Polarisierung hin angelegt war. Im Weimarer Methoden- und Richtungsstreit – der grundlegenden Debatte innerhalb der damaligen Staatsrechtslehre über das Grundverständnis des Staates – führten seine aufgeladenen Begrifflichkeiten wie „politische Romantik“, „politischer Okkasionalismus“, oder polarisierende Begriffspaare, wie das von der „souveränen“ versus „kommissarischen“ Diktatur zu heftigen Kontroversen. Durch sein schillerndes Säkularisierungskonzept einer „politischen Theologie“ sowie seinen auf die Unterscheidung von „Freund und Feind“ fokussierten „Begriff des Politischen“ gelangte Schmitt in den Fokus einer Öffentlichkeit, die weit über die juristische und akademische Fachwelt hinausging. Seit seinem Ruf 1928 nach Berlin wandte sich Schmitt zunehmend jungkonservativen und völkisch-nationalistischen Kreisen zu und vollzog einen sichtbaren Wandel hin zum führenden Rechtsintellektuellen am Ende der Weimarer Republik, der sich beispielhaft in der Freundschaft mit Ernst Jünger niederschlug.2 Schmitt veröffentlichte nun in der von →Wilhelm Stapel und Albrecht Erich Günther herausgegebenen Zeitschrift „Deutsches Volkstum“ sowie in der Zeitschrift „Der Ring“, als deren weltanschaulicher Leitstern der völkische Autor →Arthur Moeller van den Bruck galt. Während der Zeit der Präsidialkabinette (1930–1933) pflegte Schmitt Kontakte zur Ministerialbürokratie, die bis ins direkte Umfeld des Reichswehrministers und späteren Kanzlers Kurt von Schleicher reichten. Der Höhepunkt seines öffentlichen Einflusses in diesen Jahren war, als Schmitt im Oktober 1932 vor dem Reichsgerichtshof in Leipzig die deutsche Reichsregierung im Prozess um den sogenannten „Preußenschlag“ erfolgreich verteidigte und damit die Übernahme des Exekutivrechts in Preußen durch das Reich rechtlich legitimierte. In seinen Weimarer Schriften entwarf Schmitt Positionen, die der staatlichen Einheit den Vorrang gegenüber partikularen Einzelinteressen einräumten. Grundlegend war seine Ablehnung des Liberalismus, den er für die gesellschaftliche Pluralisierung und die damit verbundene Erosion der politischen Ordnung verantwortlich machte. Ausgehend vom Begriff der Souveränität präferierte er eine zur entschlossenen Entscheidung führende Politik („Dezisionismus“), welche dem parlamentarischen Prinzip der über Diskussion erfolgten Konsensfindung diametral entgegenstand.3 Demokratie basierte nach Schmitts Verständnis auf der Voraussetzung einer

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„substantiellen Gleichheit“ (Homogenität) eines Volkes, die als äußerstes Mittel durch die „Ausscheidung“ oder sogar „Vernichtung“ der „Ungleichen“ sich verteidigen müsse.4 Mit seinen polemischen Begriffen, etwa dem auf dem Kriterium von „Freund und Feind“ basierenden Begriff des Politischen, schrieb er gegen den bürgerlichen Rechtsstaat und den Parlamentarismus an, die in seinen Augen für die Neutralisierung und Fragmentierung des Politischen verantwortlich waren. Insbesondere freien und geheimen Wahlen stand Schmitt kritisch gegenüber. So konvergierte in der Endphase der Weimarer Republik Schmitts theoretisches Werk mit seinem politischen Engagement für die autoritäre Präsidialdiktatur.5 Mit der Machtübertragung auf die Nationalsozialisten im Januar 1933 setzte Schmitts Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reiches“ ein. Schon in den ersten Monaten zeigte er sich als entschiedener Unterstützer des neuen Regimes, dem er fortan zu juristischer Legitimation verhalf. Im April 1933 wurde er in eine von Hitler beauftragte Kommission berufen, die mit der Ausarbeitung des Reichsstatthaltergesetzes – einem Instrument der nationalsozialistischen Gleichschaltungspolitik – beauftragt war. Einen Monat später trat Schmitt in die NSDAP sowie in den Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen (später Rechtswahrerbund) ein, den er drei Jahre lang leitete. Als Herausgeber der Reihe „Der deutsche Staat der Gegenwart“ baute er am theoretischen Fundament für den NS-Führerstaat mit.6 Sein akademisches Wirken in Berlin hatte Schmitt 1932/33 mit einem kurzen Zwischenspiel an der Universität Köln unterbrochen, doch bereits im Oktober 1933 folgte er dem Ruf an die Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Kurz zuvor, im Juli 1933, war seine Ernennung zum Preußischen Staatsrat erfolgt, unterstützt durch den Nationalsozialisten und Juristen Hans Frank, der zu diesem Zeitpunkt für die Gleichschaltung der Justiz in den Ländern und die Erneuerung der Rechtsordnung zuständig war. Seinen Einfluss in der Wissenschaft und der Politik vergrößerte Schmitt zudem kontinuierlich durch sein publizistisches Schaffen, das zunehmend einer nationalsozialistischen Polemik folgte und durch das er selbst langjährige Weggefährten diffamierte.7 In kleineren, viel beachteten Programmschriften forderte Schmitt eine strikte Abkehr vom Prinzip des Normativismus. Gegenüber dem Gesetzesbegriff des liberalen Rechtsstaats brachte er im Rahmen seines „konkreten Ordnungsdenkens“ die Rechtswillkür des Führerstaats in Stellung.8 Die politischen Morde des NS-Regimes während des sogenannten „Röhm-Putschs“ im Juli 1934 verteidigte er in einem berüchtigten Artikel unter dem Titel „Der Führer schützt das Recht“.9 Die sogenannten „Nürnberger Rassegesetzte“ unterstützte er 1935 unter dem Stichwort „Die Verfassung der Freiheit“.10 Aus völkerrechtlicher Perspektive führte er seine – schon während der Weimarer Republik begonnene – Argumentation gegen den Völkerbund fort. Während ihm in Weimar der Liberalismus als erklärter Gegner galt, an dem sich sein theoretisches Werk abarbeitete, wurde im Dritten Reich der →Antisemitismus dafür konstitutiv. Denn jetzt wurde seine lebenslange Judenfeindschaft deutlich, die er bis dahin nur in seinen Tagebüchern und gegenüber engen Freunden offenbart hatte. Schmitts zentrale und offen formulierte politische Zielsetzung war:

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die Ausmerzung der Juden aus dem deutschen Recht und der deutschen Gesellschaft.11 Die Aggressivität seiner antisemitischen Überzeugung zeigte sich an der von ihm organisierten Tagung „Das Judentum in der Rechtswissenschaft“ am 3. und 4. Oktober 1936, mit der er die Befreiung des „deutschen Geist[es] von allen jüdischen Fälschungen“ voranzutreiben suchte.12 Die Ausrichtung der Tagung bildete den Zenit seines nationalsozialistischen Engagements. Zeitgleich setzte eine gezielte Kampagne gegen Schmitt aus den Reihen von Mitgliedern des Sicherheitsdienstes der NSDAP ein, die ihn in der Ämterhierarchie absinken ließ, sodass er ab 1937 sein offensives Engagement für den Nationalsozialismus reduzierte und sich bis zum Kriegsende weitestgehend in den Universitätsbetrieb zurückzog. Die Kritik an Carl Schmitt war von der Substanz her vor allem der Tatsache geschuldet, dass er auf heftige Konkurrenz innerhalb der neuen „Elite“ im NS-Staat traf. So sind die Vorwürfe, die in einem Dossier des SD gegen Schmitt angehäuft wurden, vielfältig und reichen von der zu großen Nähe zum politischen Katholizismus bis hin zu seinen ehemaligen Freundschaften mit jüdischen Intellektuellen, versuchen jedenfalls, seine reine Überzeugung für den Nationalsozialismus in Frage zu stellen. Diejenigen, die ihn dabei angriffen, sollten in späteren Wellen, mit oftmals ähnlichen Argumenten, auch wiederum Opfer von Intrigen innerhalb des NS-Staates werden.13 Gleichwohl entwarf Schmitt mit seinen Schriften zur „völkerrechtlichen Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Rechte“ auch nach dem Ende seiner nationalsozialistischen Karriere eine Theorie, die den Raumaspekt des Rechts in den Vordergrund rückte und der aggressiven Außenpolitik des Dritten Reichs entsprach.14 Nach dem Sieg der Alliierten verbrachte Schmitt ein Jahr in amerikanischen Internierungslagern. Im Anschluss an eine abermalige kurze Haft in Nürnberg zog er sich, von allen juristisch relevanten Vorwürfen befreit, in seinen Heimatort Plettenberg zurück. Dort versammelte er bald einen Kreis von ehemaligen Schülern und Kollegen um sich. In den Lehrbetrieb durfte er nicht zurückkehren und auch in der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit trat er kaum mehr in Erscheinung. Ab den 1950er Jahren fand sich eine neue Schülergeneration ein, die sich an einer liberalen Rezeption seines Werkes versuchte, wodurch Schmitts Denken bis zu seinem Tod eine starke „subkutane Wirkung“ innerhalb der politischen Kultur der Bundesrepublik entfalten konnte.15 Carl Schmitt verstarb am 7. April 1985 in Plettenberg. Carl Schmitts Stellung innerhalb der völkischen Bewegung zu bestimmen ist schwierig, da er oftmals seinen politischen Standpunkt revidierte oder im Unklaren ließ und seine berühmten Positionen und Begriffe je nach politischem Umfeld und Perspektive stark changierten. Insbesondere die zentralen Schlagworte und Begriffspaare vor 1933 sind meist so offen gehalten, dass eine völkische Lesart nicht immer eindeutig ist. Die bewusste Kontaktaufnahme zu konservativ-nationalistischen Kreisen seit den frühen 1930er Jahren führte ihn allerdings mehr und mehr in ein entsprechendes völkisches Netzwerk ein. Seine scharfe Liberalismuskritik, sein seit

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1933 öffentlich artikulierter Antisemitismus wie auch seine nationalsozialistische Grundhaltung bildeten eine klare Schnittmenge zwischen Schmitt und den Völkischen, die seine Schriften in ihren weltanschaulichen Kanon einbezogen. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass in seinen Ausführungen zu den Begriffen „Volk“ und „Gemeinschaft“ schon vor 1933 eine essentialistische Lesart derselben durchscheint. Entgegen seiner dezisionistischen Auffassung des Politischen, nach der Zusammengehörigkeit eine Sache der Entscheidung sei, geht er mancherorts von der Existenz einer vor-politischen Gleichheit als „Gleichartigkeit“ aus.16 Kritische Rezipienten wie der Philosoph Karl Löwith sahen darin daher schon früh eine strukturelle Nähe zum völkischen Denken.17 Während des Nationalsozialismus, in dem sich Schmitt über das „Mißverhältnis“ des Judentums „zu unserer Art“ ausließ, bezog er sich dann öffentlich auf den Rassenantisemitismus.18 Gleichwohl hob sich sein theoretisches Schaffen von seinem ideologischen Umfeld insofern ab, dass es zwar von einer antisemitischen Grundhaltung durchdrungen ist und sich an einem rechtskonservativen Ordnungsdenken orientiert, jedoch – zumindest während der Weimarer Republik – auf offen völkische Argumentationsmuster weitgehend verzichtet. Trotz der Ambiguität seiner Biographie führte der Spannungsreichtum seiner Begriffe dazu, dass Schmitts Werk in zahlreiche Sprachen übersetzt und noch einmal verstärkt seit den 1980er Jahren auch über Europa hinaus an den Universitäten, aber auch innerhalb der politischen Rechten und Linken breit rezipiert wurde. Im Vergleich zu anderen Weimarer und NS-Intellektuellen erreicht Carl Schmitt damit einen bis heute unerreichten Wirkungskreis.

Ludwig Decke/Raphael Gross

1 Die folgenden bibliografischen Angaben nach Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009. Für Schmitts Wirken in Weimar vgl. auch Ellen Kennedy, Constitutional Failure. Carl Schmitt in Weimar, Durham u.a. 2004. 2 Stefan Breuer, Carl Schmitt im Kontext. Intellektuellenpolitik in der Weimarer Republik, Berlin 2012, S. 174ff. 3 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 20099 (zuerst 1922). 4 Ders., Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 19968 (zuerst 1923), S. 13ff. 5 Ders., Der Begriff des Politischen, Berlin 20098 (zuerst 1932); ders., Der bürgerliche Rechtsstaat, in: Die Schildgenossen 8 (1928), S. 127–133. 6 Ders., Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, Hamburg 1933. 7 Ders., Die deutschen Intellektuellen, in: Westdeutscher Beobachter, 31. Mai 1933. 8 Ders., Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934. 9 Ders., Der Führer schützt das Recht. Zur Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 13. Juli 1934, in: Deutsche Juristen-Zeitung 39 (1934) 15, Sp. 945–950. 10 Ders., Die Verfassung der Freiheit, in: Deusche Juristen-Zeitung 40 (1935) 19, Sp. 1133–1135. 11 Zu Schmitts Antisemitismus Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt a.M. 2005; ders., The „True Enemy“. Antisemitism in Carl Schmittʼs Life and Work,

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in: The Oxford Handbook of Carl Schmitt, hg. von Jens Meierhenrich und Oliver Simons, Oxford online publ. November 2014. 12 Carl Schmitt, Eröffnung der wissenschaftlichen Vorträge durch den Reichsgruppenwalter Staatsrat Professor Dr. Carl Schmitt, in: Das Judentum in der Rechtswissenschaft. Ansprachen, Vorträge und Ergebnisse der Tagung der Reichsgruppe Hochschullehrer des NSRB. am 3. und 4. Oktober 1936, Teil 1: Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist, Berlin 1936, S. 14–17, 15. 13 Vgl. Raphael Gross, Politische Polykratie 1936. Die legendenumwobene SD-Akte Carl Schmitts, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 23 (1994), S. 115–143. 14 Vgl. Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht (1939), Berlin 19913; ders., Raum und Großraum im Völkerrecht, in: Zeitschrift für Völkerrecht 24 (1940), S. 145–179. Vgl. auch Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940– 1945), Heidelberg 20073, S. 42f., 165 und 262. 15 Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 20022, S. 8. 16 Vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 19938 (zuerst 1928), S. 234. 17 Karl Löwith, Der okkasionelle Dezisionismus von C. Schmitt, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 8: Heidegger – Denker in dürftiger Zeit. Zur Stellung der Philosophie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1984 (zuerst 1935), S. 32–71, 55. 18 Carl Schmitt, Schlußwort des Reichsgruppenwalters Staatsrat Prof. Dr. Carl Schmitt, in: Das Judentum in der Rechtswissenschaft, S. 28–34, 32.

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Leopold von Schroeder The scholarly career of the Indologist Leopold von Schroeder (1851–1920) coincided with the high tide of ‘Völkisch’ nationalism in Germany and Austria. Through works meant for scholarly as well as popular audiences, Schroeder reinforced a number of Völkisch ideals. Schroeder was born in Dorpat, Estonia, then a part of the Russian empire, to one of the many aristocratic German families living there. Like most Baltic Germans, maintaining their German identity was a priority for the Schroeder family. The children were given traditional German “Bildung” and devout Protestant upbringing.1 Leopold von Schroeder wrote poetry and dramas in Germany in school and read works on Natural Philosophy. Friedrich Schlegel’s work on the history of old and new literature inspired the young Leopold to study Comparative Linguistics at the University of Dorpat, before moving on to the University of Leipzig to study history of Comparative Literature. Soon, Schroeder found himself drawn to Sanskrit, from which his poetic self hoped to find inspiration and satisfaction. He continued his studies at Jena and at Tübingen, where he perused the Veda and the Avesta with the famous Indologist, Rudolph von Roth. In 1877 Schroeder returned to Dorpat and completed his dissertation on the Laws of accent in compound nouns in Homer and the Veda. Subsequently, he returned to Jena and concentrated on the Maitrayani Samhita which, he claimed, was a “truer, older Veda, a part of the Yajurveda or the Veda of the sacrificial mantras.” This was the beginning of Schroeder’s lifelong academic involvement with what he considered to be the oldest and truest religious thinking of the Aryans. Schroeder wished to belong to the public space through his poetry and drama, rather than be confined solely to the academic ivory tower. In 1876, while still at Tübingen, he wrote a drama, “König Sundara”, which was inspired by Buddhist philosophy and was well received by the audience there. In 1890, it was staged at the city Theatre at Riga. Despite Schroeder’s efforts, it was never staged anywhere else. The other historical drama that Schroeder wrote about the Mughal emperors of India, titled “Dara oder Schah Dschehan und seine Söhne” suffered a similar fate (although it was performed in Riga a single time in 1891). It was in 1878, during a visit to Weimar that Schroeder discovered the greatest passion of his life–Wagnerian drama. After watching the opera Tannhäuser, Schroeder felt that it had an uniquely “deep and great” impact on his “inner person” and that it was a turning point in his religious development. Schroeder had undergone a crisis of faith which made him incline towards Buddhism when he wrote ‘König Sundara’. Wagnerian dramas apparently led him back to rediscover the glories of Protestant Christianity.2 Events in Russia shaped another vital element that influenced Schroeder’s world view: German patriotism. He felt the brunt of the surging Russian nationalism, when, despite a recommendation from the internationally respected scholar

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Otto Böhtlink, Schroeder was denied a post at the prestigious Academy of Science at St Petersburg, allegedly due to his German identity. In 1883, Schroeder became Lecturer for Indian Literature at the German University of Dorpat. He was concerned at the time with the supposed superiority of ancient Indian philosophical thought, which predated and influenced European culture. This view was reflected in his book “Pythagoras und die Inder” (Leipzig 1884) which professed that the teachings of Pythagoras own their origin to the Veda. Another book, titled “Indiens Literatur und Kultur in historischer Entwicklung”, (Leipzig 1887), comprising a series of lectures delivered by Schroeder, resonated far beyond the academia and won him many friends, including the amateur ideologue, →Houston Stewart Chamberlain. Despite his academic success, Schroeder began to feel frustrated as he realised that he could never become a Professor (Ordinarius) at Dorpat since the Russian government saw little reason to establish a Professorial position there, especially in Sanskrit which was regarded as of little use. Things came to a head in the beginning of 1890s, when Dorpat underwent a wave of Russification. The government issued a directive that all lectures at the University were to be held solely in Russian, failing which the lecturers should leave their posts. Schroeder saw in this move a plan of the Russian authorities to destroy all powers of Baltic German Protestantism in Dorpat. He found the conditions unacceptable and opted to resign. His German aristocratic network helped Schroeder to avoid the insecurity of joblessness. A special post was created for him at the University of Innsbruck, where he joined as junior Professor for ancient Indian history and antiquities with respect to general Ethnography, in 1895. After the death of his friend and benefactor Georg Bühler, Professor for →Indology at the University of Vienna, Schroeder was chosen as his successor and he moved there in 1899. The Austrian capital at the turn of the century provided the political and religious context in which many of Schroeder’s Völkisch oriented ideas evolved. Here, Schroeder came to know Chamberlain personally. The popular champion of Aryan supremacy called himself a student of Schroeder, claiming that all his ideas about ancient India were derived from Schroeder’s “Indiens Literatur”. Chamberlain and Schroeder shared an unique friendship in which their mutual interest in Wagnerism, with its inherent Völkisch nationalism, played a crucial role. The bond between the two men deepened after the death of Lilly, Schroeder’s wife, in 1902. In order to cope with his grief, Schroeder, the committed Protestant, turned ever more to religion. During this phase, Schroeder moved steadily into the “Christian circle of Germany”, as he put it.3 This circle comprised mostly German Protestants who celebrated a brand of Völkisch-nationalist, anti-Semitic, “Germanic” Christianity (Deutsche Christen). It included Wagnerites like Chamberlain, Ludwig Schemann and Hans Paul von Wolzogen. The German Christian movement was an influential cultural minority, which laid the foundation for the Protestant group called German Christians who eventually allied with the Nazi regime.4

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Schroeder also found consolation in ancient Aryan religion, which he tried to establish as the spiritual ancestor of Christianity. Simultaneously, he attempted to identify Germans as direct heirs to the Aryan cultural legacy. He employed his scholarly knowledge of India to this quest, maintaining that it was now possible to reach deep into the Aryan past and to track the origins of German mythologies with the help of the Indian “Aryan brothers”.5 Schroeder’s master work, “Arische Religion”, published in two volumes in 1914 and 1916 respectively, developed in stages out of such attempts to Aryanise Christianity and to Germanize the Aryans. In this book, Schroeder claimed that “Religion is a belief in a spiritual power that reigns outside and over the sphere of men; the feeling of dependence on such a power, and the need to put oneself in harmony with it.” This belief, according to Schroeder, was present in all peoples, but the Aryans, more than any others, progressed beyond a primitive and universal monotheism. The Jews had developed “true monotheism” but Christianity, the highest and purest revelation of god’s word, had triumphed over Judaism.6 Without completely denying the importance of Judaism as a world religion, Schroeder claimed that Aryans are superior among the two since the greatest cultures of the past have been created by Aryans, who were predestined to rule the future as well. Islam, for Schroeder, never stood at the same “spiritual height” and “its followers today were mostly people of second and third order”.7 Schroeder also used his Indological tools to champion Christian faith in the face of increasing secularization that resulted from the rise of science and advancement of industrialization.8 The way to reconcile religion and science was, for Schroeder, to look for the philosophical origins of Christianity in the ancient Indian Upanishad. According to him, this philosophical tradition was carried forward by the ancient Greeks and then by the Germans, culminating in the works of Immanuel Kant. This “Aryan world view”, he wrote, “if properly understood, could remove all the barriers that exist between science and faith”.9 According to Schroeder, such an understanding of Aryan thinking was particularly important for the contemporary Germans, “since no branch of peoples (Völkerfamilie) is closer to us, or more important for our development than the ancient Aryans.”10 Though Schroeder considered it to be his divine mission to bring faith in harmony with science, his writings make it evident that by this time he was under the influence of Chamberlain, whose call for a renewal of “our” religion and philosophy by going back to the fountain of youth of the Aryan religion – ancient India – was given an academic footing by Schroeder. The outbreak of the First World War was, for Schroeder, “the destructive will of the enemy, directed towards our dear Vaterland and our precious German Volk.” The war prompted him to write a series of patriotic poems which were published in German newspapers and in pamphlets for soldiers. Around this time, Schroeder was also associating with extreme right wing German political groups. He celebrated the

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“emancipation” of Estonia through the Germans by composing a poem titled “Baltisches Dankgebet”. It was published in the magazine “Deutschlands Erneuerung” which belonged to the Völkisch nationalist and overtly racist Deutsche Vaterlandspartei.11 The most distinctive aspect of Schroeder’s scholarship was to bring Wagnerism into Indological studies. He had done this as early as in 1906, professing that the original home of the Indo-Aryans was in Europe, a view which was accepted only in marginal right-wing circles of the time.12 From this point onwards, Schroeder steadily attempted to glorify the Nordic-Aryan tale, using Vedic India as a conduit. Schroeder’s propagation of Wagnerism went beyond the theoretical. As the dean of the Philosophical Faculty at Vienna, Schroeder took the side of the “German” students against their Jewish counterparts, who were objecting to a proposed centenary celebration of Wagner at the University in 1913. On one occasion, Schroeder led the “German” students to sing the nationalistic song “Die Wacht am Rhein” in the face of the Jewish students whom he forbade to protest.13 He gave the commemoration speech at the celebration, titled “Richard Wagner als nationaler Dramatiker” which received tremendous applause from his “German audience”. The speech was published in 1914 in “Bayreuther Blätter”, the mouthpiece of Wagnerism, völkisch nationalism and anti-Semitism. Schroeder subsequently published a number of articles in this and other periodicals on different themes that connected ancient Indian/Aryan thought with Christianity and Wagner. Among other works published in this period was an article titled “Lebensbaum und Lebensraum” which Schroeder considered one of his best works. This essay, written in 1915 to felicitate the Indologist Ernst Kuhn, traced the roots of the Germans to back to the Upanishad.14 To Schroeder’s poetic mind, art was a better medium than scholarship in propagating out the Aryan worldview and the greatest work of art bequeathed to the Germans (and the world) by the `genius of Bayreuth` led one to rediscover religion and its ultimate spiritual end, Christianity. The book which legitimized this pastiche of ideas was “Die Vollendung des arischen Mysteriums in Bayreuth” (Munich, 1911.) This work was based on a series of lectures that Schroeder delivered at the University of Vienna in 1910/11. In the book Schroeder claimed that the Aryan spirit, first manifested in ancient Indian dramas and subsequently disseminated in Greek ones, reached its fullest expression in the works of Wagner. The nature worship and fertility cult of the Rg Veda, the moral of altruism enshrined in the Upanishad, the abstinence propagated by Buddha and finally the message of love spread by Jesus and his followers, belonged to the trajectory of Aryan religious development. It was Wagner who transfigured all these elements by combining the masculine “Germanic” cult of valour and heroism with the feminine Buddhist and Christian ideals of selflessness and piety, which made his dramas the greatest articulation of Aryan mystique. Though the central figures of Wagner`s “Ring des Nibelungen” were Nordic rather than Germanic, Schroeder claimed that Wagner’s creativity made this “disjecta

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membra” into a true expression of German/Aryan ethos. For Schroeder, the Holy Grail, which played a central role in some Wagnerian operas, could be traced back to the ancient Aryan notion of the sun and the moon as celestial vessels. By the middle ages, the Grail had become a powerful symbol of Christian faith, notwithstanding the numerous Ur-Aryan myths that formed its back story. Wagner’s “Parsifal” made it an even more potent symbol, a perfect synthesis of Aryanism and Germanic Christianity. According to Schroeder, the concept of heavenly siblings, the sun and moon, who were bound in conjugal love, was present in Rg Veda. Wagner made this vision come alive through the figures of Sieglinde and Siegmund in “Walküre”. “Götterdämmerung” signified the quintessence of Buddhist teaching – Nirvana. Similarly inspired by Buddhism was “Parsifal”, with its message of strength in abstinence. Schroeder came to the conclusion that ever since their separation more than 5,000 years ago, Bayreuth for the first time provided a meeting ground for all the Aryan peoples, a place where they could see the ancient Aryan mystique reaching its conclusion through Wagner’s dramas. He concluded: “With this, Germany and Germans have secured the invaluable privilege to become the chosen protectors of this blessed site.”15 Leopold von Schroeder thus set a precedent for using knowledge of ancient India to call for a spiritual revival of the German/Aryan Christians and making Völkisch nationalist and racist thinking a part of Indological scholarship.

Baijayanti Roy

1 Leopold von Schroeder, Lebenserinnerungen, Leipzig 1921. 2 Ibid., p. 88. 3 Lebenserinnerung, p. 229. 4 Suzanne Marchand, German Orientalism in the age of empire. Religion, race and scholarship, New York 2009, p. 319. 5 Ibid., p. 318. 6 Ibid., p. 313. 7 Schroeder, Arische Religion, Einleitung, Leipzig 1914, p. 2. 8 Ibid. 9 Schroeder, Lebenserinnerungen, p. 235. 10 Schroeder, Arische Religion, p. 2. 11 Thomas Müller, Imaginierter Westen: Das Konzept des ‚deutschen Westraums‘ im Völkischen Diskurs zwischen Politischer Romantik und Nationalsozialismus, Bielefeld 2009, p. 169. 12 Marchand, German Orientalism, p. 318. 13 Schroeder, Lebenserinnerungen, p. 243. 14 Ibid., p. 262. 15 Schroeder, Die Vollendung des arischen Mysteriums in Bayreuth, p. 211.

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Bruno K. Schultz He was born on August 3, 1901 in Sitzenberg by Tulln in Lower Austria in the family of police vice-president Dr. jur. Bruno Schultz and his wife Sophie, née Bauer. In 1928 he married Ilse, née Irrlböck (born 1904), with whom he had six children.1 He was strongly influenced by his uncle, Wolfgang Schultz (1881–1936), a völkisch oriented philosopher and after 1933 prominent professor at the University of Munich, among his contemporaries known as ‘Mondschultz’.2 Schultz’s ancestors originally came to Vienna from Silesia after the Seven Years’ War and since that time married into families of Viennese officials.3 After graduating from an eight-year Gymnasium with focus on humanities in Vienna (1911–1919), Schultz studied anthropology at the University of Vienna with short internships at universities in Upsalla and Leipzig.4 In 1924, he graduated at the Faculty of Philosophy of the University of Vienna after defending a doctoral thesis “Contribution to the Notions of an Intermediate State after Death among the Germans” (Beiträge zu den Jenseitsvorstellungen der Germanen). A year later, he started working as a voluntary assistant at the Leipzig Foundation for Research for Ethnicity and Land Cultivation (→Leipziger Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung) in Leipzig under →Otto Reche’s (1879–1966) supervision. In 1926, he served as a voluntary assistant in the Museum of Natural History (Naturhistorisches Museum) in Vienna while employed as a scientific worker at the Institute of Anthropology of the University of Vienna. In 1927 he left to Germany where he was appointed assistant curator of anthropological collections of the Bavarian State Museum in Munich.5 His academic career started in 1931 when he became an assistant at the Institute of Anthropology of the University of Munich under Theodor Mollison (1874–1952).6 Among other things, he was interested in the methodology of anthropometry where he largely followed a Munich school of Rudolf Martin (1864–1926), Mollinson’s predecessor.7 He specialised in anthropology, theory of human heredity, and racial hygiene.8 On February 24, 1934, with Himmler’s consent, he habilitated at the University of Munich based his work “Fossils of Hominids Sinanthropus and Pithecanthropus and Their Importance for the Development of Humans” (Die fossilen Hominiden Sinanthropus und Pithecanthropus in ihrer Bedeutung für die Stammesgeschichte des Menschen).9 Two years later, he was also habilitated at the Berlin University. In early March 1938, his academic career progressed further when he was appointed extraordinary professor of theory of human races and heredity (menschliche Rassenkunde und Erblehre) at the Berlin University and at the same time was offered the post of head of the Institute of Biology of the Reich Academy for Physical Exercise (Reichsakademie für Leibesübungen) in Berlin.10 His academic interest at that time included not only racial hygienic propaganda but also especially the methodology of anthropometry. Schultz was also one of the most tireless and prominent promoters of the Nordic racial worldview. In 1929–1943, he was the third (and last) editor-in-chief of Volk

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und Rasse, a journal which since 1926 tried to promote racial theories using attractive graphic presentation. Until October 1937, Schultz was also co-editor of the traditional review Anthropologischer Anzeiger.11 Moreover, he served since the end of 1920s as managing director of the German Society for Racial Hygiene (Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene).12 Since 1918, he was also a member of local branch of the Thule Student Society in Vienna.13 In politics, he was active in various ‘protective’ associations since 1918. During his university studies, he also joined the German Academic Guild, was member of the national bloc of German students (Kammer- und Vorstandsmitglied des völkischen Blocks der Deutschen Studentenschaft) at the University of Vienna, he was member of the organisation Nordischer Ring,14 and since 1931 attended educational lectures of various branches of the NSDAP.15 In 1932, he held the lectures on the subject of racial policy and racial hygiene at the very first training course for SA leaders. A year later, he joined the SS (membership No. 71.679) and NSDAP (membership No. 935.761).16 His advancement in the SS continued as follows: on August 7, 1933 promoted to SS-Sturmführer, on January 30, 1938 to SS-Sturmbannführer, on November 9, 1940 made SS-Obersturmbannführer, and on December 1, 1942 promoted to SS-Standartenführer. At the age of thirty, he belonged to the founding generation of RuSHA’s predecessor, the Rassenamt (which later became one of its departments).17 Already in 1931, he helped formulate the order pertaining to the regulation of marriage for members of the SS (Heiratsbefehl).18 In January 1932, he was appointed the first (honorary) head of the Department of Racial Science (Abteilung Rassenkunde) in the RuSHA.19 In April 1934, he was appointed a full-time head of department (Abteilungsleiter) in the RuSHA and, still in the same year, he was also appointed head of department in the staff office of Walther R. Darré (1895–1953).20 Since 1934, he was active in the working group Farmer’s Community (Die bäuerliche Lebensgemeinschaft), which he later also presided.21 Since he was also active as Secretary of the German Society for Racial Hygiene,22 Hitler appointed him member of the Reich Committee for the Protection of German Blood (Reichsausschuß zum Schutze Deutschen Blutes) in 1935. Effective as of December 1, 1940, a new Institute for Racial Biology (→Institut für Rassenbiologie) of the Faculty of Natural Science of the German Charles University (Deutsche Karls-Universität) in Prague for the year 1941. As of the same day, B. K. Schultz became by proxy its head.23 His introduction to the office was then finalised on May 1, 1942 when he was, with Himmler’s consent, officially appointed full professor and head of the Institute.24 The new institute, which was to conduct investigations in both physical anthropology and ‘race research’, was from the very beginning seen by the local Nazi authorities in Prague as the most prominent research centre in the Protectorate region.25 B. K. Schultz took first ‘inspection’ trip to Prague in October 1941, after being released of his teaching duties at the University in Berlin. He should first deliver lectures in Prague only every 14 days during the winter term, second become full

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professor paid by the University, but get the renumerations from the RuSHA, and third be provided by one faithful assistent as his representative. Based on a previous agreement, he used to commute to Prague approximately every two weeks, and worked there basically as a so-called ‘flying professor’. The reasons behind this were obvious: his work revolved mainly around the Rassenamt and its activities.26 Beside the Institute’s stuff, B. K. Schultz was directly involved also the Nazi repressions – as was the case in Lidice and Ležáky – in the Protectorate. According to the then valid internal RuSHA regulation of November 18, 1941 Schultz was responsible for the enlisting (Einberufung) and dismissal (Abberufung) of particular race examiners of the children of executed inhabitants as well as for their activity and its ‘results’, whereby his conclusions had to have the consent of the head of the RuSHA.27 Schultz’s career as a chief of the Rassenamt was connected with a ‘Report on the issue of retroactively effective alien (Jewish) racial admixture’ (Gutachten zur Frage weit zurückreichenden fremden (jüdischen) Rasseneinschlages) from November 1943. Because of Himmler’s disagreement within not less than four months Schultz was, officially as on April 1, 1944, removed from the top post at the Rassenamt and replaced by SS-Obersturmbannführer Walter Dongus (born 1900), who thus became the last chief.28 After the end of the winter term of 1943/1944, Schultz was supposed to join the Waffen-SS in April 1944.29 Nonetheless, given his university post, the still ongoing ‘setting up’ of the Institute, its lack of qualified staff, and a large number of expert reports in paternity cases he was supposed to deliver in Prague, the curator of the German Charles University submitted an official application for an Uk-Stellung.30 In the end, it turned out that in the second half of 1944, Schultz would be expected to teach in the fourth run of officer courses at a prominent SS-Junkerschule in Bad Tölz. When on May 5, 1945 the Nazi regime in Bohemia and Moravia started to collapse, Bruno K. Schultz was supposed to be with his SS unit at the SS-Truppenübungsplatz Beneschau/Benešov in Central Bohemia. It would fit with the fact that already since September 24, 1943 he and his family had been settled in a small holiday resort of Zlenitz/Slenitz nearby.31 On May 6, 1945, he and his entire family managed to escape, loaded on one truck, to Munich.32 The scope, extent and complexity of his activities remained unknown in the post-war period. The only attempt to investigate them was made in late 1945 but it concerned solely the person of Bruno K. Schultz. At that time, he was declared by the Czechoslovak authorities a War Criminal.33 It is most surprising that his role in the selection of the children of Lidice, which followed from his function of Chief of the Rassenamt, was not later highlighted during the RuSHA Case in Nuremburg in 1947–1948.34 Already six years after his escape from Prague, Schultz was in 1951 appointed professor ‘for further use’ (zur Wiederverwendung) at the Institute for Human Genetics under Otmar Freiherr von Verschuer (1896–1969) at the University of Münster in

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Westfalen.35 He was charged only with being a Mitläufer in post-war Germany. In 1960 and 1966 he was twice interrogated by the West German authorities in connection with his role in the racial evaluation of the Polish and Soviet POWs.36 Schultz died at the age of 96 on December 9, 1997 in Altenberge, Nordrhein-Westfalen.

Michal V. Šimůnek 1 Národní archiv v Praze (National Archives in Prague, hereinafter NA), Reich Protector’s Office (ÚŘP), 114–209–8, personal questionnaire, Bruno K. Schultz, from 1936. 2 Ernst Klee, Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a.M., 2007, p. 498. 3 Id., Wolfgang Schultz †, in: Manus 28 (1936) 4, pp. 545–557. 4 NA, Reich Protector’s Office (ÚŘP), 114–209–8, personal questionnaire – Bruno K. Schultz, from 1936. 5 Ibid. See Isabel Heinemann, Ambivalente Sozialingenieure? Die Rasseexperten der SS, in: Gerhard Hirschfeld (eds. et al.), Karrieren im Nationalsozialismus. Funktionseliten zwischen Mitwirkung und Distanz, Frankfurt a.M. u.a. 2004, p. 79. 6 See 65. Geburtstag Professor Mollisons, in: Volk und Rasse 14 (1939) 2, p. 47; Wolfgang Gieseler, Lebensbild Theodor Mollison, in: Archiv für Rassenbiologie 33 (1939) 2, pp. 187–189. 7 Rudolf Martin, Lehrbuch der Anthropologie, Jena 1928. 8 NA, Reich Protector’s Office (ÚŘP), 114–209–8 (Schultz Bruno Kurt); UAHUB, 288, curriculum vitae B. K. Schultz, February 18, 1934. 9 Ibid., note on the habilitation colloquium, March 21, 1934; BArch, OPG B93 (Schultz, B. K., b. 1901), Schultz’s letter to Pancke, February 20, 1934. See Bruno K. Schultz, Die frühesten, heute bekannten Menschenformen, Pithecanthropus und Sinanthropus, in: Volk und Rasse 13 (1938) 7, pp. 236–242. 10 UAHUB, 288, curriculum vitae B. K. Schultz, February 18, 1934. See Ernst Wiegand, Ernennung zu Professoren – SS-Sturmbannführer Dr. B. K. Schultz, in: Volk und Rasse 13 (1938) 5, p. 163; Gerhard Heberer, Gesellschaft für physische Anthropologie – 1937, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 34 (1938) 4, p. 85. See Lothar Schott, Zur Geschichte der Völkerkunde an der Berliner Universität, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt Universität Berlin 9 (1959/60), pp. 67– 79, and Hajo Bernett, Nationalsozialistische Leibeserziehung. Eine Dokumentation ihrer Theorie und Organisation, Schomdorf bei Stuttgart, 1966. 11 Walter Scheidt, Volk und Rasse. Einführung in den Arbeitsplan der Zeitschrift, in: Volk und Rasse 1 (1926) 1, pp. 1–6; An die Leser von Volk und Rasse, in: Volk und Rasse 8 (1933) 3, pp. 113–114. 12 Wiegand, op. cit., p. 163. See Hoßfeld, Geschichte der biologischen Anthropologie in Deutschland. Von den Anfängen bis in die Nachkriegszeit, Stuttgart 2005, pp. 316–323. 13 Heinemann, Ambivalente, p. 79. 14 BArch, OPG B93 (Schultz), biography, March 2, 1937. 15 NA, Reich Protector’s Office (ÚŘP), 114–209–8, personal questionnaire – Bruno K. Schultz, from 1936. 16 Ibid. 17 Isabel Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut. Das Rassen- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003, pp. 73–75. 18 BArch, OPG B93 (Schultz), recommendation of the Chief of the RuSHA (Hofmann) for Schultz’s promotion, January 16, 1941. See Michael Wildt, Die Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, pp. 190–203.

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19 BArch, OPG B93 (Schultz), curriculum vitae, July 24, 1935. See Ernst Wiegand, Ernennung zu Professoren – SS-Sturmbannführer Dr. B. K. Schultz, in: Volk und Rasse 13 (5), 1938, p. 163 and Heinemann, Ambivalente, p. 79. 20 Ibid., and March 2, 1937. See Wiegand, Ernennung, p. 163 and Heinemann, Ambivalente, p. 79. 21 Ulrich Kimpel, Zur Person Rechenbachs, in: Horst Kahr et al., Modelle für ein deutsches Europa. Ökonomie und Herrschaft im Großwirtschaftsraum. Berlin, 1992, pp. 203–204. 22 BArch, OPG B93 (Schultz), curriculum vitae, March 2, 1937. 23 Archiv Univerzity Karlovy (Archives of the Charles University; hereinafter AUK) Praha, R NU, curator of the DKU to the dean of the Faculty of Science, November 22, 1941. 24 BArch, OPG B93 (Schultz), Schultz an Personalabteilung RuSHA, August 11, 1942; ibid., Hofmann’s letter to Saure from November 24, 1941. 25 Ibid., R 31, letter from K. Thums to B. Gudden from January 15, 1944. 26 Ibid., REM to B. K. Schultz from July 8, 1942; UA-HU, Personalakten – 288. See “Notizen”, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 36 (1942) 2, p. 162. 27 BArch, NS2/88, memorandum of O. Hofmann defining the jurisdiction of Chief of the Rassenamt RuSHA in relation to provincial offices and in relation to individual race examiners from November 18, 1941. 28 Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen (hereinafter ZSLJV) Ludwigsburg, IV 414 AR 122/65, interim report of the ZSLJV Ludwigsburg from March 23, 1965. 29 BArch, OPG B93 (Schultz), letter from H. Turner to the curator of the German Charles University from March 2, 1944. 30 Ibid., letter of the curator of the German Charles University to the RuSHA from February 12, 1944. 31 Státní okresní archiv (State District Archives; hereinafter SOkA) Benešov, community Lštění (Elsthien) – index, 1904–1988. 32 Archiv bezpečnostních složek (Archives of the Security Services; hereinafter ABS) Praha, Z– 41560/45, report on the Institute of Racial Biology from December 11, 1945 (confidential). 33 ABS, 316–136–4, circular Z–IV–3060/338 from June 11, 1946. 34 ‘Únosci lidických dětí před soud’ (The Kidnapers of the Children of Lidice Before Trial), in: Severočeská Mladá fronta, July 4, 1947, p. 1. 35 See Heinemann, Ambivalente, p. 85, 94–95. See Hans–Peter Kröner, Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik und die Humangenetik der Bundesrepublik Deutschland, in: Doris Kaufmann (ed.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2000, pp. 653–666. For the situation at the Faculty of Medicine and especially connection between Prague and Münster, see Petr Svobodný, Dieselben Leute – neue Karrieren: Die Schicksale von Hochschullehrern der deutschen medizinischen Fakultät in Prag nach 1945, in: Michal Svatoš (eds. et al.), Magister noster. Studies dedicated to Prof. Jan Havránek, CSc., in memoriam, Praha 2005, pp. 261–275; Alena Míšková, Das Schicksal der Professoren der Prager Deutschen Universität in der Nachkriegszeit, in: Antonín Kostlán (eds. et al.), Wissenschaft im Exil. Die Tschechoslowakei als Kreuzweg 1918– 1989, Praha 2004, pp. 136–154. 36 ZSLJV, ZSt. AR 122/65, August 19, 1966; ibid., ZSt. AR/420/62, August 30, 1960.

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Wilhelm Schuster Wilhelm Robert Georg Schuster wurde am 10. Juni 1888 in Grabow, einer Vorstadt von Stettin (Szczecin) als Sohn eines Apothekers geboren. Er heiratete die Bibliothekarin Elfriede Luise Auras in Gleiwitz. Ihr einziger Sohn fiel an der sowjetisch-lettischen Grenze am 8. März 1944.1 Wilhelm Schuster besuchte das Königliche Friedrichs-Gymnasium in Frankfurt an der Oder, wohin seine Familie 1885 übergesiedelt war. Als Gymnasialschüler unternahm er mehrere Auslandsreisen nach der Schweiz, Frankreich, Spanien, Italien, Rumänien und Skandinavien. Die Abiturprüfung absolvierte er 1907 in Göttingen. Anschließend studierte er Germanistik, Altphilologie und Philosophie in Göttingen, Berlin und Kiel. Das Studium schloss er mit einer Dissertation über Christian Hofmann von Hofmannswaldau ab. 1914 Jahre legte er das Staatsexamen ab. Im April 1914 erhielt Schuster seine erste unbezahlte Stelle als Volontär-Assistent am Germanischen Seminar der Hamburger Universität bei Conrad Borchling. Nach Ausbruch des 1. Weltkrieges meldete sich Schuster im August 1914 zum Wehrdienst und wurde dem Neumärkischen Feldartillerieregiment Nr. 54 in Küstrin zugeteilt. Im Verlaufe des Kriegs wurde er 1915 zum Leutnant der Reserve, 1917 zum Regiments-Adjutanten befördert. Er wurde mit dem Ehrenkreuz I und Ehrenkreuz II ausgezeichnet. Nachdem er am 1. Januar 1919 aus dem Wehrdienst entlassen worden war meldete er sich wahrscheinlich beim Freikorps und beteiligte er sich auch an der Niederschlagung des Weihnachtsaufstandes in Berlin. Da die ihm versprochene Hamburger Assistentenstelle inzwischen besetzt worden war, verzichtete er vorläufig auf eine wissenschaftliche Laufbahn. Er begann am 1. Februar 1919 als Volontär beider Universitätsbibliothek Halle/Saale. Im selben Jahre kehrte er nach Göttingen zurück, um sein Studium fortzusetzen und ließ sich beim Freikorps anwerben, wo er sich im Göttinger Studentenbataillon in den Kämpfen an der Ruhr beteiligte. Am 1. Juli 1920 kehrte er für drei Monate als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter an die Stadtbibliothek in Stettin in den Bibliotheksdienst zurück, wo er mit dem bekannten Bibliothekar Erwin Ackerknecht zusammenarbeitete. Am 1. Oktober 1920 begab er sich nach Gleiwitz/Oberschlesien, wo er Bibliothekar im Verband Oberschlesischer Volksbibliothekare wurde. Auch hier engagierte sich Schuster politisch und militärisch. Er nahm am Kampf gegen die Abtretung Oberschlesiens an Polen teil, wahrscheinlich im 2. und 3. Schlesischen Aufstand. Für seinen Einsatz erhielt er den Schlesischen Adlerorden II. Klasse. Über diesen „Abwehrkampf“ hinaus verfasste er 1921 dazu seine Erinnerungen als Zeitzeuge im Buch Ein vergewaltigtes Volk (1921). Nach der Aufteilung Oberschlesiens zwischen Deutschland und Polen übernahm er in Kattowitz das Amt desVerbandsbibliothekars im Verband der deutschen Volksbüchereien (VDB) in Oberschlesien. Er leitete diese Organisation bis 1926. Im Jahr 1925 wurde er verhaftet und in Polen des Hochverrats angeklagt. Die Anklage gegen ihn erfolgte, da in einem Bücherpaket aus Deutschland Bücher und Propa-

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gandamaterial zum Kampf gegen den polnischen Staat gefunden wurden. Schuster wurde freigesprochen, jedoch musste er am 1. Juli Polen noch verlassen. Er wählte mit seiner Familie Berlin als neuen Wohnort und arbeitete dort ab 1. Juli 1926 als Bibliotheksrat in der Stadtbibliothek Berlin. Schnell stieg er zum stellvertretenden Bibliotheksdirektor von Gottlieb Fritz auf. Gleichzeitig begann Schuster an der Berliner Bibliotheksschule zu unterrichten. 1931 trat er die Position des Direktors der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen an, wo er die nächsten drei Jahre blieb. Als in Berlin aus politischen Gründen Gottlieb Fritz als Direktor entlassen wurde, übernahm Schuster dessen Stelle, die er bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges mit Ausnahme zweier Kriegseinsätze ununterbrochen innehatte. Vom Anfang September bis Dezember 1939 beteiligte er sich an den Besetzung Polens und von Mai bis September 1940 an der Frankreichs. Während des Krieges reiste er wiederholt in die besetzten Gebiete, jedoch gibt es keinen Nachweis über seine Mitwirkung an der Beschlagnahme von Bibliotheken. Gegen Ende des Krieges wurde Schuster zum Volkssturm eingezogen, wo er Ende April er schwer verletzt wurde. Kurz darauf geriet er in sowjetische Gefangenschaft und kehrte 1946 gesundheitlich stark angeschlagen nach Berlin zurück. Sein politisches Engagement, seine Mitgliedschaft in der NSDAP und Förderung der Nationalsozialisten, führte noch 1945 zu seiner Entlassung aus der Berliner Bibliothek. Anfangs arbeitete er als freier Mitarbeiter im Verlag de Gruyter, nach seiner Entnazifizierung 1949, wurde er wieder in der Berliner Bibliotheksschule eingestellt (1950–1953). 1953 Jahre trat er in den Ruhestand. Nach 1945 musste Schuster die Folgen seines politischen Opportunismus tragen. Es geht hier nicht nur um seine Teilnahme an Freikorpskämpfen. Noch 1920 war er der Deutsch-Nationalen Volkspartei (DNVP) beigetreten. Allerdings engagierte er sich nach Machtübergabe an die Nationalsozialistensehr schnell für das neue System. Bereits am 18. März 1933 sprach er sich für den Dienst der Volksbüchereien im Sinne des neuen Regimes aus. Mitte April erschien in der Hamburger Presse sein Artikel über den Umbau der öffentlichen Bibliotheken im Sinne des Nationalsozialismus. Er lieferte Listen für die Aussonderung von unerwünschter Literatur aus Schulbibliotheken und er erstellte „Schwarze Listen“ unerwünschter Literatur. Zudem wirkte er an der Kampagne gegen Leihbüchereien mit. Bereits Ende April 1933 trat Schuster der NSDAP bei. Als alter und neuer Vorsitzender des Verbandes Deutscher Bibliothekare (VDB) setzte er das „Führerprinzip“ durch und richtete ihn nach der NS-Ideologie aus. Neben dem Bibliothekswesen agierte Schuster in der oberschlesischen Zeit als Herausgeber und Redakteur. Er redigierte und gab bis zur seiner Ausweisung aus Polen die kulturwissenschaftliche Zeitschrift der Deutschen in Polen „Schaffen und Schauen“ der Deutschen heraus, in der er geschichtliche, volkskundliche, bibliothe-

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karische und allgemeinwissenschaftliche Beiträge veröffentlichte. Ferner war er stellvertretender Chefredakteur der Kattowitzer Zeitung.2 Schuster intensivierte als Leiter des Verbandes deutscher Volksbüchereien in Oberschlesien die deutsche Kulturarbeit. So steigerte er die Anzahl der Bibliotheken, welche er auch auf Galizien ausweitete. Nach der Ausweisung aus Polen intensivierte er die Entwicklung des deutschen Auslandsbüchereiwesens als Dozent für Büchereikurse deutscher Auslandsbibliothekare. In der Zeit von 1926 bis 1931 war sein Einfluss auf die Bibliotheksentwicklung noch begrenzt gewesen: Erstens leitete er keine Bibliothek nicht, obwohl er als Vorsitzender des VDB über Einfluss verfügte. Zweitens ruhte während der Weltwirtschaftskrise die Verbandsarbeit. In dieser Periode beteiligte sich Schuster lebhaft an Diskussionen über die politische Ausrichtung der Volksbüchereien. Hier versuchte er einerseits Vermittler zwischen „Stettinern“ und den „Leipzigern“ (Hoffmann) zu sein, andererseits votierte er als Anhänger der „Stettiner“ für eine offene Bibliothek gegen Bibliotheken, die nicht nur ausliehen, sondern auch pädagogisch wirken sollten. Schuster widmete sich auch der Problematik der Grenzlandbüchereien – wozu er Vorträge hielt und zahlreiche Texte schrieb. Vom 1931 bis 1933 leitete er die Hamburger Öffentlichen Büchereien. Er übernahm sie in schweren Zeiten der Inflation, Arbeitslosigkeit, die für die Bibliotheken Kostendruck, Einschränkung der Öffnungszeiten, Erhöhung der Gebühren, Entlassung von Personal und Verlängerung der Arbeitszeit bedeutete. Trotzdem organisierte er den Ausbau eines alphabetischen und systematischen Katalogs, zur Ausarbeitung von Leserverzeichnissen und die Freihandaufstellung. Schuster hatte sich in der Zeit seines Direktorats von 1934 bis 1945 in Berlin eben den laufenden Bestandsergänzungen besonders bemüht, den Autographen Bestand der Bibliothek, der in seinen Anfängen auf Buchholtz zurückging, zu erweitern. Nach der Säuberung der Bibliotheken veranlasste er eine Neukatalogisierung des gesamten Buch- und Handschriftenbestandes. Von Anfang an verfolgte die neue politische Führung eine zentralistische Bibliothekspolitik, welche bald reichsweit wirkte. In der Amtszeit Schusters erfolgten die Eröffnung der neuen Büchereien und die Sanierung der alten Büchereien. Er starb am 15. März 1971 in Berlin (West).3

Zdzislaw Gębołyś

1 Über Schuster liegen folgende Arbeiten vor: Angela Graf, Antirepublikaner und Netzwerker: Wilhelm Schuster, Direktor der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen von 1931 bis 1934, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 98 (2012), S. 101–125; Adolf von Morzé, Erinnerung an Wilhelm Schuster (10.6.1888–15.3.1971), in: Buch und Bibliothek (BuB) 23 (1971), S. 733–737; Carl Jansen, Wer wahren will, muß wagen. Dank an Wilhelm Schuster, in: Bücherei und Bildung (1954) 2, S. 661–666; Otto-Rudolf Rothbart, Nazi oder Camoufleur? Wilhelm Schuster als Exempel, in: BuB (2001), S. 53–56; Angela Graf, Schuster Wilhelm, in: Hamburgische Biografie. Personenlexikon, Göttingen 2012, S. 306–309.

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2 Zdzisław Gębołyś, Biblioteki mniejszości niemieckiej, S. 288–289; Zdzisław Gębołyś, „Schaffen und Schauen“ – niemieckie czasopismo bibliotekarskie w Polsce. in: Studia Śląskie, T. 62, S. 35–49. 3 Angela Graf, Antirepublikaner und Netzwerker: Wilhelm Schuster, S. 101ff.; Harald Pilzer, Das öffentliche Bibliothekswesen Berlin in der Weimarer Republik, S. 3ff.; Adolf von Morzé, Erinnerung an Wilhelm Schuster, S. 733ff.; Carl Jansen, Wer wahren will, muß wagen. Dank an Wilhelm Schuster, S. 661ff; Otto-Rudolf Rothbart, Nazi oder Camoufleur? Wilhelm Schuster, S. 53ff.

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Ilse Schwidetzky Ilse Schwidetzky (1907–1997) gehörte zu den wichtigsten VertreterInnen der biologischen Anthropologie und besonders der Rassenkunde (→Rassenbiologie/Rassenkunde/Rassenlehre) in Deutschland. Ihre Karriere war zunächst eng mit derjenigen Egon Freiherr von Eickstedts (1892–1965) verknüpft. Als seine wichtigste Mitarbeiterin und Nachfolgerin setzte sie die „Breslauer“ beziehungsweise „Mainzer Schule“ der Anthropologie in der Bundesrepublik Deutschland fort.1 Ilse Erika Schwidetzky wurde am 6. September 1907 in Lissa in der preußischen Provinz Posen (heute: Leszno, Polen) geboren. Ihr Vater, der Jurist Georg Schwidetzky (1875–1952), war von 1905 bis 1909 Zweiter Bürgermeister von Lissa, danach bis 1918 Stadtrat in Bromberg (heute: Bydgoszcz, Polen). Nebenbei beschäftigte er sich mit vermeintlichen „Ur-“ und „Tiersprachen“. In Bromberg besuchte Ilse Schwidetzky das Städtische Lyzeum. Als die Provinz Posen 1920 größtenteils zu Polen kam, siedelte die Familie nach Leipzig über, wo Georg Schwidetzky Bibliothekar an der Deutschen Bücherei wurde.2 In Leipzig legte Ilse Schwidetzky 1927 das Abitur ab. An der dortigen Universität studierte sie zunächst Mathematik, Physik und Biologie, nach vier Semestern änderte sie ihre Studienfächer in Geschichte, Anthropologie, Geographie und Biologie. 1930 wechselte sie an die Universität Breslau, was sie in einem 1937 verfassten Lebenslauf mit ihrem besonderen Interesse an den „biologischen und geschichtlichen Ostfragen“ begründete.3 Schwidetzkys Dissertation, die 1934 in der Schriftenreihe des Breslauer Osteuropa-Instituts publiziert wurde, behandelte ein historisch-politisches Thema: die polnische Wahlbewegung in Oberschlesien zwischen 1825 und 1914.4 Ihr Doktorvater Manfred Laubert (1877–1960), außerplanmäßiger Professor für Mittlere und Neuere, besonders polnische Geschichte an der Universität Breslau,5 war von 1933 bis 1934 auch kommissarischer Leiter des 1918 gegründeten Osteuropa-Instituts, einer außeruniversitären Einrichtung, die neben der Forschung in starkem Maße der Politikund Wirtschaftsberatung in osteuropäischen Fragen diente.6 Zweitgutachter von Schwidetzkys Arbeit war der Breslauer Historiker →Leo Santifaller (1890–1974). Im Nebenfach Anthropologie wurde sie von von Eickstedt geprüft, der seit 1928 als Dozent, ab 1933 als außerordentlicher Professor dem Ethnologischen und dem Anthropologischen Institut vorstand. Bereits seit dem 1. Januar 1933 war Schwidetzky wissenschaftliche Hilfskraft am Ethnologischen Institut. Schnell wurde sie von Eickstedts wichtigste Mitarbeiterin, und zum 1. April 1935 wechselte sie als planmäßige Assistentin an das Anthropologische Institut. 1937 habilitierte sich Schwidetzky mit einer Arbeit zur „Rassenkunde der Altslawen“,7 wurde aber, weil im Reichserziehungsministerium Vorbehalte gegen Frauen als Hochschullehrerinnen bestanden, erst 1939 zur Dozentin ernannt.8 Bereits 1933 hatte sie zusammen mit Günther Holtz (1912–?), der als wissenschaftliche Hilfskraft am Anthropologischen Institut sowie für den NS-Ärztebund tätig war,9 den Begleittext für eine von von Eickstedt herausgegebene, für den Schul-

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unterricht bestimmte Dia-Serie verfasst. Dort ist der NS-Innenminister Wilhelm Frick (1877–1946) als Beispiel für die angeblich führende „nordische Rasse“ abgebildet, die mit der „ostbaltischen Rasse“ – „nicht gute Herren, aber gute Untertanen“ – und mit dem mittels antisemitischer Stereotype beschriebenen „jüdischen Volkstypus“ kontrastiert wird.10 Schwidetzky war eine der aktivsten AutorInnen in von Eickstedts „Zeitschrift für Rassenkunde“. Ein erheblicher Teil ihrer Publikationen fügte sich in die Ausrichtung der Breslauer Universität als ostdeutsche „Grenzlanduniversität“ ein, wobei ihr ihre polnischen Sprachkenntnisse von Nutzen waren.11 So setzte sie sich kontrovers mit polnischen Rassenkundlern auseinander, denen sie vorwarf, den „nordischen“ Anteil in der polnischen Bevölkerung zu hoch zu veranschlagen; das „Nordische“ sollte den Deutschen vorbehalten bleiben.12 Entsprechend betonte Schwidetzky nach dem deutschen Einmarsch in Polen 1939 angebliche „rassische“ Unterschiede zwischen der dortigen deutschen Volksgruppe und der übrigen polnischen Bevölkerung: Die „Volksdeutschen“ unterschieden sich von den PolInnen „in derselben Weise, wie sich innerhalb des deutschen Volkskörpers die sozial gehobenen und führenden Schichten von der Gesamtheit abheben“.13 Sie trug damit propagandistisch zur rassenpolitischen Hierarchisierung der polnischen Bevölkerung und zur Behauptung einer angeblichen „Minderwertigkeit“ der PolInnen bei. Gemeinsam mit von Eickstedt, tatsächlich wohl weitgehend eigenständig,14 leitete Schwidetzky das Großprojekt der „Rassenuntersuchung Schlesiens“, bei dem ab 1934 ca. 70.000 DorfbewohnerInnen vermessen und mittels einer eigens entwickelten „Rassendiagnoseformel“ nach ihren angeblichen rassischen Anteilen klassifiziert wurden. Von der Schriftenreihe „Rasse, Volk, Erbgut in Schlesien“, in der die Ergebnisse publiziert wurden, erschienen zwischen 1939 und 1942 insgesamt 14 Hefte unter der Mitherausgeberschaft mehrerer Parteifunktionäre, darunter →Fritz Arlt (1912–2004), Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP im Gau Schlesien. Schwidetzky stellte auf Tagungen und in Publikationen die Methodik und einige Ergebnisse vor und verfasste selbst eine Studie über drei oberschlesische Landkreise, die den beteiligten DoktorandInnen als Muster diente.15 Die Untersuchung sollte für die schlesische Bevölkerung eine vorwiegend „nordische“ Prägung nachweisen, die auf die mittelalterliche deutsche Ostsiedlung zurückgehe. Besonders wegen dieser Bezüge zur Siedlungsgeschichte stieß das rassenkundliche Schlesienprojekt auf großes Interesse bei dem Breslauer Ostforscherkreis um den Historiker →Hermann Aubin (1885–1969), dessen Mitglieder die Rassenkunde als Bestandteil einer interdisziplinären →Ostforschung ansahen.16 Hermann Aubin fungierte als Zweitgutachter für Schwidetzkys Habilitationsschrift und für eine der Dissertationen aus dem Schlesien-Projekt.17 Er sowie der Geograph Herbert Schlenger (1904–1968) nahmen an einem Symposium über dessen Ergebnisse teil, und der Volkskundler →Walter Kuhn (1903–1983) rezensierte die Reihe „Rasse, Volk, Erbgut in Schlesien“ sehr positiv.18 In dem von Aubin herausgegebenen Handbuch „Geschichte Schlesiens“ trägt der rassenkundliche Abschnitt in dem von Schlenger verfassten Beitrag „Natürliche

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Grundlagen“ das Gepräge der „Rassenuntersuchung Schlesiens“, auch wenn diese nicht explizit genannt wird.19 Der Danziger Historiker →Erich Keyser (1893–1968) bezog sich in einigen seiner Publikationen zur Bevölkerungsgeschichte ebenfalls auf die Arbeiten von Eickstedts und Schwidetzkys.20 Hermann Aubin verteidigte das Schlesien-Projekt in Stellungnahmen für die →Publikationsstelle Dahlem gegen Angriffe insbesondere von Seiten des Leipziger Rassenkundlers Otto Reche (1879–1966), der bezweifelte, dass das politisch gewünschte Ergebnis herauskommen werde, weil der „nordische“ Anteil in Schlesien von den Breslauer RassenkundlerInnen zu hoch eingeschätzt werde. Zudem geriet das Schlesien-Projekt wegen seines morphologisch-typologischen Ansatzes in die Kritik von Seiten genetisch orientierter Rassenforscher.21 Neben Reche trat hier vor allem →Fritz Lenz (1887–1976) hervor, auf dessen Angriff Schwidetzky in der Zeitschrift für „Morphologie und Anthropologie“ ausführlich antwortete.22 Die Kritik Reches und Lenz’ gelangte über die Publikationsstelle an das Reichsinnenministerium, was schließlich zum widerwilligen Rückzug Arlts als Mitherausgeber und zur Einstellung der Heftreihe „Rasse, Volk, Erbgut in Schlesien“ führte. Zwar stellte sich bei Aubin und seinem Breslauer Umfeld ab Ende der 1930erJahre eine gewisse Ernüchterung hinsichtlich der Aussagekraft rassenkundlicher Forschungen für die Siedlungsgeschichte ein,23 dennoch sahen sie in der Rassenkunde auch nach 1945 weiterhin ein von der Geschichtswissenschaft zu beachtendes und zu rezipierendes Fachgebiet.24 Die fortdauernde Verbundenheit mit Aubin und den Ostforschern aus dem Umfeld der →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG) zeigt sich auch in Schwidetzkys Mitgliedschaft im →Johann Gottfried Herder-Forschungsrat, in den sie kurz nach dessen Gründung berufen wurde.25 In Studien zur Breslauer Großstadtbevölkerung stellte Schwidetzky Bezüge zwischen „Rasse“ und sozialem Status her: So nehme der Anteil der „Nordischen“ mit der „Leistungshöhe der Berufe“ zu, und überhaupt seien „Standes“– und „Berufstypen“ durch biologische Siebung geprägt.26 1940 heiratete Schwidetzky den Kaufmann Bernhard Rösing (1906–1944)27 und nannte sich fortan auch Rösing-Schwidetzky oder Schwidetzky-Rösing. Ihr Mann kam 1944 kriegsbedingt ums Leben. Anfang 1945 floh Schwidetzky aus Breslau. Nachdem von Eickstedt im September 1945 den anthropologischen Lehrstuhl an der Universität Leipzig übernommen hatte, wurde Schwidetzky dort Oberassistentin, nach von Eickstedts Berufung an die neu gegründete Universität Mainz im Herbst 1946 war sie dort als Dozentin tätig. Schwidetzky blieb von Eickstedts wichtigste Mitarbeiterin und „rechte Hand“. Bei beiden Berufungen spielte sie eine aktive Rolle, ebenso in der Verwaltung beider Institute, in der Lehre und bei der Rekrutierung des weiteren Personals.28 1950 wurde sie zur außerplanmäßigen Professorin ernannt, und angesichts ihrer tragenden Funktion am Anthropologischen Institut war es nur folgerichtig, dass sie 1961 nach von Eickstedts Emeritierung seine Nachfolge-

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rin als ordentliche Professorin wurde. 1975 wurde sie emeritiert, am 18. März 1997 starb sie in Mainz. Nach der Übernahme des Mainzer Lehrstuhls wurde Schwidetzky eine der einflussreichsten VertreterInnen ihres Faches, was sich in zahlreichen Mitgliedschaften und Funktionen in deutschen und internationalen wissenschaftlichen Institutionen niederschlug. Unter anderem war sie langjährige Gutachterin der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie von 1968 bis 1970 Vorsitzende der Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik. Inhaltlich setzte sie die „Breslauer“ und „Mainzer Schule“ der Anthropologie fort, wozu nicht zuletzt auch ihre zahlreichen Schüler beitrugen. Zu ihnen gehören: Wolfram Bernhard (geb. 1931), der 1965 in Mainz bei Schwidetzky promovierte und 1976 ihr Nachfolger auf dem Mainzer Lehrstuhl wurde; Rainer Knußmann (geb. 1936), 1960 in Mainz bei Schwidetzky promoviert und ab 1972 Direktor des Anthropologischen Instituts (später: Institut für Humanbiologie) der Universität Hamburg; Virendra Chopra (geb. 1939), 1968 in Mainz bei Schwidetzky promoviert und ab 1976 Professor an Knußmanns Institut in Hamburg; Schwidetzkys Sohn Friedrich Wilhelm Rösing (geb. 1944), 1975 in Hamburg bei Knußmann promoviert, ab 1977 Dozent und seit 1994 Professor für Anthropologie an der Universität Ulm, außerdem Mitbetreiber einer privaten „Praxis Forensische Anthropologie“; Hubert Walter (1930–2008), nach Promotion in Kiel 1962 bei Schwidetzky habilitiert, ab 1974 Professor an der Universität Bremen.29 Von 1956 bis zu ihrem Tod war Schwidetzky Mitherausgeberin der Fachzeitschrift „Homo“, die von Eickstedt 1950 als Nachfolgerin der „Zeitschrift für Rassenkunde“ gegründet hatte und in der zahlreiche während der NS-Zeit aktive RassenkundlerInnen und -hygienikerInnen publizierten (Sophie Ehrhardt, Gerhard Heberer, Friedrich Keiter, Gottfried Kurth, Karl Valentin Müller, Heinrich Schade). Einige häufiger in „Homo“ vertretene Autoren (Bertil Lundman, Brunon Miszkiewicz, R. Travis Osborne, Donald A. Swan) schrieben daneben für die seit 1960 in Großbritannien erscheinende, wegen ihrer offen rassistischen Ausrichtung fachintern äußerst umstrittene Zeitschrift The Mankind Quarterly oder bewegten sich in neonazistischen Kreisen (Heinrich Schade).30 Von Schwidetzky selbst erschien 1961 in The Mankind Quarterly ein Beitrag über Rassenpsychologie, die Übersetzung eines zuvor auf Deutsch erschienenen Lexikonartikels.31 Nachträglich behauptete sie, es habe sich um einen unautorisierten Abdruck gehandelt.32 1967 veröffentlichte sie jedoch in einem Sammelband des Mankind Quarterly-Umfeldes einen eigens dafür verfassten Aufsatz.33 Sie unterhielt somit Kontakte zum internationalen Netzwerk rassistisch und eugenisch orientierter WissenschaftlerInnen und SemiwissenschaftlerInnen, trat aber nach außen in diesem Zusammenhang aus Gründen der Reputation nur zurückhaltend auf beziehungsweise versuchte diese Verbindung zu leugnen. Sie solidarisierte sich jedoch mit der „Internationale der Rassisten“ (Stefan Kühl) durch Unterzeichnung einer 1972 von den Psychologen und Intelligenzforschern Hans Jürgen Eysenck (1916–1997), Arthur Jensen (1923–2012) und Richard J. Herrnstein (1930–1994) initiierten Resolution, die im Namen der Wissenschaftsfrei-

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heit die Proteste gegen deren rassistische Forschungen verurteilte und die sowohl in „Homo“ als auch in rechtsextremen Zeitschriften wie Nation Europa und Neue Anthropologie abgedruckt wurde.34 Inhaltlich führte Schwidetzky im Wesentlichen von Eickstedts Synthese von kultur- und naturwissenschaftlicher Anthropologie unter dem Primat der Biologie fort, unter anderem die sozialdarwinistisch geprägte Konstruktion der Menschheitsgeschichte als einer Geschichte des „Kampfes ums Dasein“ zwischen „progressiven“ und „primitiven“ Bevölkerungsgruppen.35 Sie entwickelte diese jedoch eigenständig weiter. Insbesondere hatte sie maßgeblichen Anteil an der Zusammenführung der morphologisch-typologischen Schule mit moderneren Methoden der Rassenkunde und Bevölkerungsbiologie (Statistik, Serologie, Populationsgenetik) und mit neueren Forschungsrichtungen wie der Verhaltensforschung.36 Sie vollzog die populationsgenetische Modernisierung in der Anthropologie mit und versuchte dabei, den Rassenbegriff zu erhalten. Dass aus der Konkurrenz zu den HumangenetikerInnen eine – wenn auch nicht immer spannungsfreie – Kooperation wurde, war unter anderem Voraussetzung für das Zustandekommen eines Nachfolgeprojekts der Schlesien-Untersuchung, einer anthropologischen Studie an über 20.000 westfälischen Schulkindern in den Jahren 1955 bis 1958. Diese wurde ermöglicht durch die Anbindung an das Institut für Humangenetik der Universität Münster unter Otmar Freiherr von Verschuer (1896–1969), der während der NS-Zeit einer der führenden Rassenhygieniker und wissenschaftlicher Mentor Josef Mengeles (1911–1979) gewesen war (Kaiser-Wilhelm-Institute [Rassenkunde]).37 Schwidetzkys Westfalen-Studie war ein Teil des von Hermann Aubin begründeten und herausgegebenen Sammelwerks „Der Raum Westfalen“, das 1931 begonnen worden war und auf der Grundlage des Konzepts eines nach angeblichen Stämmen gegliederten „Volkstums“ heraus „das Westfälische“ auf möglichst vielen Gebieten der Geschichte und Kultur bestimmen sollte.38 Dass in Westfalen, im Gegensatz zu Schlesien, Kinder untersucht wurden, begründete Schwidetzky unverblümt: Eine genügend große Stichprobe von Erwachsenen zu erlangen sei „praktisch nur unter einer autoritären Regierung möglich, die ihre örtlichen Organe […] anweist, die betreffenden Männer und Frauen zur Untersuchung zu laden“.39 Diejenigen RassenkundlerInnen und RassenhygienikerInnen, die nach 1945 im Wissenschaftsbetrieb verblieben oder dort wieder Fuß fassen konnten – und das waren die meisten –, waren keine akademischen AußenseiterInnen, sondern ein überwiegend anerkannter (wenn auch nicht immer unumstrittener) Teil der scientific community.40 Gerade von Eickstedt und Schwidetzky verstanden die Anthropologie als „ganzheitliche“ Forschung am Menschen auf biologischer Grundlage und suchten daher den interdisziplinären Zusammenhang mit Geistes- und SozialwissenschaftlerInnen. In der BRD gelang ihnen dies nicht nur im Kontext der Ostforschung, sondern mehr noch im Bereich der Bevölkerungswissenschaft und der Soziologie. So war Schwidetzky Mitglied in der 1953 von →Hans Harmsen (1899–1989) in Hamburg gegründeten Deutschen Akademie für Bevölkerungswissenschaft. Leo-

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pold von Wiese (1876–1969), in den 1950er und 1960er Jahren einer der einflussreichsten deutschen Soziologen, sorgte durch die Veranstaltung dreier „anthropologisch-soziologischer Konferenzen“ – an zweien von ihnen nahm Schwidetzky als Referentin teil41 – sowie durch die Aufnahme Schwidetzkys, von Eickstedts und weiterer Rassenkundler und -hygieniker in die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) für die Einbeziehung der Sozial- und Bevölkerungsbiologie in die Soziologie.42 In der vor- und frühgeschichtlichen Archäologie hielten sich die Rassenklassifikationen der Eickstedt-Schwidetzky-Schule bis in die jüngste Zeit in Form fragwürdiger Versuche, Bestattungen ethnisch zuzuordnen – etwa wenn Skelette als „germanisch“ oder „romanisch“ klassifiziert wurden.43 Während international die Klassifizierung von Menschen nach „Rassen“ und anderen angeblichen biologischen Eigenschaften wie „Intelligenz“ seit den 1950er Jahren auch fachintern zunehmend kritisiert wird,44 wurden entsprechende Forschungen von der Eickstedt-Schwidetzky-Schule bis in die allerjüngste Zeit entweder ignoriert oder pauschal abqualifiziert.45 Die Geschichte ihres Faches während der NS-Zeit hat Schwidetzky mehrfach in verharmlosender und (selbst-)apologetischer Weise dargestellt.46 Dabei griff sie sogar zur bewussten Lüge mit der Behauptung, am Anthropologischen Institut der Universität Breslau seien während der NSZeit keine rassenkundlichen Abstammungsgutachten erstellt worden.47 Tatsächlich gehörte jedoch die Mitarbeit an solchen Gutachten während Schwidetzkys Assistentinnenzeit in Breslau zu ihren Aufgaben, und aus dem Jahr 1942 ist ein Gutachten mit ihrer Unterschrift erhalten.48 Als 1989/90 in „Homo“ ein Aufsatz der Tübinger Rassenkundlerin Sophie Ehrhardt (1902–1990) – einer ehemaligen Mitarbeiterin des „Zigeunerforschers“ →Robert Ritter (1901–1951) an der →Rassenhygienischen Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamtes – über die SetukesInnen, eine Volksgruppe in Estland, erschien, dessen Daten die Autorin 1942 während der deutschen Besetzung gesammelt hatte,49 führte dies zu einem zunftinternen Eklat: Im Auftrag des Vorstandes der Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik verfassten die Anthropologen Bernd Herrmann (geb. 1946) und Ulrich Kattmann (geb. 1941) eine kritische Stellungnahme. Darin kamen sie zu dem Schluss, dass Ehrhardts Forschungen ursprünglich offensichtlich im Zusammenhang mit der NS-Besatzungspolitik standen und dem Zweck dienen sollten, die Beforschten als „eindeutschungsfähig“ oder „rassisch unerwünscht“ zu klassifizieren. Sie stellten fest: „Wer Daten, die in diesen Zusammenhängen gewonnen wurden, weiterhin unbedenklich verwendet, verhöhnt und verletzt die Opfer des Unrechts und der Verbrechen aufs Neue.“50 Die damaligen HerausgeberInnen von „Homo“, Ilse Schwidetzky, Rainer Knußmann und Friedrich Wilhelm Rösing, lehnten den Abdruck dieser Stellungnahme ab, da sie angeblich „einseitig“ sei. Sie erschien stattdessen im Anthropologischen Anzeiger. Mediendebatten in Frankreich im Jahre 1980 anlässlich einer Ehrung Schwidetzkys sowie von studentischer Seite initiierte Proteste gegen die anthropologi-

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schen Institute an den Universitäten Mainz (1989–1991) und Hamburg (1996–1998) führten zu kontroversen öffentlichen Auseinandersetzungen.51

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1 Literatur zu Person und Werk: Bärbel Baumann u.a., Elemente einer anderen Universitätsgeschichte, Mainz 1991, S. 90–118; Jakob Michelsen, Die „Breslauer Schule“ der Rassenkunde – zur Geschichte des Hamburger Instituts für Humanbiologie, in: AG gegen Rassenkunde (Hg.), Deine Knochen – Deine Wirklichkeit. Texte gegen rassistische und sexistische Kontinuität in der Humanbiologie, Hamburg u.a. 1998, S. 88–127; Andreas Lüddecke, Rassen, Schädel und Gelehrte. Zur politischen Funktionalität der anthropologischen Forschung und Lehre in der Tradition Egon von Eickstedts, Frankfurt a.M. u.a. 2000, S. 71–73, 165–235; Dirk Preuß, Egon Freiherr von Eickstedt (1892–1965) – Anthropologe und Forschungsreisender. Selbstbild und Entwicklung der deutschen Anthropologie im 20. Jahrhundert am Beispiel des Begründers der „Breslauer Schule“, 2 Bde., Diss. Jena 2006, besonders Bd. 1, S. 115–118, 150f.; ders., „Anthropologe und Forschungsreisender“. Biographie und Anthropologie Egon Freiherr von Eickstedts (1892–1965), München 2009, besonders S. 132–134, 169f.; W.[ilhelm] E.[mil] Mühlmann, Ilse Schwidetzky zum 65. Geburtstag, in: Homo. Zeitschrift für die vergleichende Forschung am Menschen 23 (1972), S. 298–305 (mit unvollständigem Schriftenverzeichnis); W.[olfram] Bernhard / R.[ainer] Knußmann / F.[riedrich] W.[ilhelm] Rösing, Ilse Schwidetzky 6.9.1907–18.3.1997, in: Homo. Zeitschrift für vergleichende Biologie des Menschen 48 (1997), S. 205–212 (mit Fortsetzung des Schriftenverzeichnisses). 2 Preuß, „Anthropologe und Forschungsreisender“, S. 132; Alexandra Habermann u.a., Lexikon deutscher wissenschaftlicher Bibliothekare 1925–1980, Frankfurt a.M. 1985, S. 325f. (hiernach war Georg Schwidetzky bereits seit 1918 an der Deutschen Bücherei als Hilfsarbeiter tätig und erhielt dort 1920 eine Bibliothekarstelle). 3 Zitiert nach Preuß, „Anthropologe und Forschungsreisender“, S. 133. 4 Ilse Schwidetzky, Die polnische Wahlbewegung in Oberschlesien, Breslau 1934. 5 Zu Laubert, der 1938 als außerordentlicher Professor an die Universität Berlin berufen wurde, siehe: Manfred Laubert zum 75. Geburtstag am 4. November 1952. Sein Leben und sein Werk. Unter Mitwirkung der Historischen Kommission für Posen und das Deutschtum in Polen überreicht vom Johann Gottfried Herder-Forschungsrat, Marburg 1952; Gotthold Rhode, Manfred Laubert (1877– 1960), in: Zeitschrift für Ostforschung 10 (1961), S. 630–632. Die antipolnische Ausrichtung von Lauberts wissenschaftlicher Tätigkeit wird in diesen Publikationen rein affirmativ benannt. 6 Hans-Jürgen Bömelburg, Das Osteuropa-Institut in Breslau 1930–1940. Wissenschaft, Propaganda und nationale Feindbilder in der Arbeit eines interdisziplinären Zentrums der Osteuropaforschung in Deutschland, in: Michael Garleff (Hg.), Zwischen Konfrontation und Kompromiß. Oldenburger Symposium: „Interethnische Beziehungen in Ostmitteleuropa als historiographisches Problem der 1930er/1940er Jahre“, München 1995, S. 47–72; ders.: Osteuropa-Institut (OEI), Breslau, in: OnlineLexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2014, URL: ome-lexikon.unioldenburg.de/p32794 (4.1.2016). 7 Ilse Schwidetzky, Rassenkunde der Altslawen, Stuttgart 1938. 8 BArch Berlin, BDC, Reichserziehungsministerium, Personalkarteikarte Ilse Schwidetzky; Preuß, „Anthropologe und Forschungsreisender“, S. 134. 9 Preuß, „Anthropologe und Forschungsreisender“, S. 362; Hans-Christian Harten u.a., Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reichs. Bio-bibliographisches Handbuch, Berlin 2006, S. 252, 405. Zu Holtz’ späterer Tätigkeit im Sonderdezernat Rassenpolitik von Alfred Rosenbergs Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete: Götz Aly u.a., Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991, S. 427.

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10 Egon Freiherr von Eickstedt (Hg.) unter Mitwirkung von Günther Holtz und Ilse Schwidetzky, Ausgewählte Lichtbilder zur Rassenkunde des deutschen Volkes. Erläuterungen, Stuttgart 19332, S. 12, 15, 19–22. Hierzu: Baumann u.a., Elemente einer anderen Universitätsgeschichte, S. 116– 118; Michelsen, Die „Breslauer Schule“ der Rassenkunde, S. 92f.; Preuß, „Anthropologe und Forschungsreisender“, S. 64, 178, 211. 11 Preuß, „Anthropologe und Forschungsreisender“, S. 133. 12 Ilse Schwidetzky, Die Rassenforschung in Polen, in: Zeitschrift für Rassenkunde 1 (1935), S. 76– 83, 136–204, 289–314, 153f., 193–200; dies., Rassenfragen zwischen dem Deutschen Reich und Polen. Eine Klarstellung, in: Volk und Reich 10 (1934), S. 910–925. 13 Ilse Schwidetzky, Beitrag zur Rassenkunde der Deutschen im bisherigen Polen, in: Deutschtum im Ausland 22 (1939), S. 547–556, 554. 14 Preuß, „Anthropologe und Forschungsreisender“, S. 99, 133f. 15 Egon Freiherr von Eickstedt/Ilse Schwidetzky, Die Rassenuntersuchung Schlesiens. Eine Einführung in ihre Aufgaben und Methoden, Breslau 1940; Ilse Schwidetzky, Rassenkunde des nordöstlichen Oberschlesien (Kreise Kreuzburg, Rosenberg, Guttentag), Breslau 1939; dies., Einige Ergebnisse der „Rassenuntersuchung Schlesien“, in: Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Rassenforschung 9 (1938), S. 85–94. Ausführlicher zur „Rassenuntersuchung Schlesiens“: Baumann u. a., Elemente einer anderen Universitätsgeschichte, S. 90–115; Michelsen, Die „Breslauer Schule“ der Rassenkunde, S. 96–102; Katja Geisenhainer, „Rasse ist Schicksal“. Otto Reche (1879–1966) – ein Leben als Anthropologe und Völkerkundler, Leipzig 2002, S. 325–346; Preuß, „Anthropologe und Forschungsreisender“, S. 93–118, 133f.; ders., „1933 brachte die Wandlung“. Rassen, Volkskörper und Anthropologie des „Deutschen Ostens“ bei Egon Freiherr von Eickstedt, in: Michael Fahlbusch (Hg. u.a.), Völkische Wissenschaften und Politikberatung im 20. Jahrhundert. Expertise und „Neuordnung“ Europas, Paderborn u.a. 2010, S. 235–250. 16 Zum Kreis um Aubin: Eduard Mühle, Die „schlesische Schule der Ostforschung“. Hermann Aubin und sein Breslauer Arbeitskreis in den Jahren des Nationalsozialismus, in: Marek Hałub (Hg. u.a.), Śląska republika uczonych / Schlesische Gelehrtenrepublik / Slezská vědecká obec. Vol. 1, Wrocław 2004, S. 568–604; ders., Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005, S. 235–269, zu Aubins Rezeption rassenkundlicher Forschungen und des Schlesienprojekts: S. 508–515; Jakob Michelsen, Von Breslau nach Hamburg. Ostforscher am Historischen Seminar der Universität Hamburg nach 1945, in: Rainer Hering (Hg. u.a.), Lebendige Sozialgeschichte. Gedenkschrift für Peter Borowsky, Wiesbaden 2003, S. 659–681; Arno Herzig, Die Ostforschung an der Universität Hamburg nach 1945, in: Rainer Nicolaysen (Hg. u. a.), 100 Jahre Geschichtswissenschaft in Hamburg, Berlin u.a. 2011, S. 181–196. 17 Preuß, Egon Freiherr von Eickstedt, Bd. 1, S. 117, Anm. 657 (Habilitationsbegutachtung). Die von Aubin mitbegutachtete Dissertation ist: Theda Hahn, Die rassische Zusammensetzung der Landbevölkerung des Kreises Ratibor, Diss. Breslau 1940; hierzu: Michelsen, Die „Breslauer Schule“ der Rassenkunde, S. 98f., 120, Anm. 49; Mühle, Für Volk und deutschen Osten, S. 512, Anm. 182 (der von Mühle angenommene Widerspruch zu meinen Aussagen existiert nicht); Preuß, „Anthropologe und Forschungsreisender“, S. 358 (Tabelle der Promotionen bei von Eickstedt in Breslau). 18 Walter Kuhn, Rezension zu „Rasse, Volk, Erbgut in Schlesien“, Hefte 1–7, in: Schlesische Blätter für Volkskunde 3 (1941), S. 89–91. 19 Herbert Schlenger, Natürliche Grundlagen, in: Historische Kommission für Schlesien unter Leitung von Hermann Aubin (Hg.), Geschichte Schlesiens. Bd. 1: Von der Urzeit bis zum Jahre 1526, Breslau 1938, S. 1–17, 12f. Hierzu auch, mit anderer Einschätzung: Mühle, Für Volk und deutschen Osten, S. 511f. 20 Erich Keyser, Bevölkerungswissenschaft und Geschichtsforschung, in: Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik 5 (1935), S. 145–161, 154f. Vgl. Alexander Pinwinkler, „Bevölkerungsgeschichte“ in der frühen Bundesrepublik Deutschland: Konzeptionelle und institutionen-

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geschichtliche Aspekte. Erich Keyser und Wolfgang Köllmann im Vergleich, in: Historical Social Research 31 (2006), S. 64–100. 21 Zur Methodenkontroverse und zu den „Schulen“ der Rassenkunde im nationalsozialistischen Deutschland: Benoît Massin, Anthropologie raciale et national-socialisme: heurs et malheurs du paradigme de la „race“, in: Josiane Olff-Nathan (Hg.), La science sous le Troisième Reich. Victime ou alliée du nazisme?, Paris 1993, S. 197–262; ders., Rasse und Vererbung als Beruf. Die Hauptforschungsrichtungen am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik im Nationalsozialismus, in: Hans-Walter Schmuhl (Hg.), Rassenforschung an Kaiser-WilhelmInstituten vor und nach 1933, Göttingen 2003, S. 190–244; Geisenhainer, „Rasse ist Schicksal“, S. 325–346; Preuß, „Anthropologe und Forschungsreisender“, S. 195–198, 217–219, 271–279. 22 Fritz Lenz, Über Wege und Irrwege rassenkundlicher Untersuchungen, in: Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie 39 (1941), S. 385–413; Ilse Schwidetzky, Über Wege rassenkundlicher Untersuchungen, in: Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie 40 (1942/43), S. 178–184; Fritz Lenz, Noch einmal die Irrwege bei rassenkundlichen Untersuchungen, in: ebd., S. 185–187. 23 Mühle, Für Volk und deutschen Osten, S. 511–514. Dies kommt auch in der Neuauflage der „Geschichte Schlesiens“ von 1961 zum Ausdruck, in der Schlenger nun schreibt, die Untersuchungen über Zusammenhänge zwischen Siedlungs- und Kulturgeschichte und „der neuzeitlichen anthropologischen Gliederung der Bevölkerung“ (Schlenger ersetzt hier das Wort „rassisch“) seien „zu keinem endgültigen Ergebnis gelangt“ (Herbert Schlenger, Natürliche Grundlagen, in: Historische Kommission für Schlesien [Hg.], Geschichte Schlesiens. Bd. 1: Von der Urzeit bis zum Jahre 1526, Stuttgart 19613, S. 9–27, 22). 24 So enthält die 1949 erschienene „Kleine Bücherkunde zur Geschichtswissenschaft“, die Aubin von seinem Schüler und Assistenten Werner Trillmich (1914–1985) für die universitäre Lehre erstellen ließ, zahlreiche rassenkundliche Titel aus der NS-Zeit, darunter zwei Publikationen Schwidetzkys, von Eickstedts Buch „Rassenkunde und Rassengeschichte der Menschheit“ (Stuttgart 1934) sowie die „Zeitschrift für Rassenkunde“ (Werner Trillmich, Kleine Bücherkunde zur Geschichtswissenschaft. Eingeleitet von Hermann Aubin, Hamburg 1949, S. 30, 125f.). 25 Mühle, Für Volk und deutschen Osten, S. 416, Anm. 1095. 26 Ilse Schwidetzky, Standes- und Berufstypus in Breslau, in: Egon Freiherr von Eickstedt (Hg.), Bevölkerungsbiologie der Großstadt, Stuttgart 1941, S. 215–243. 27 Genealogische Website „Schwidetzky-Familie“, http://www.schwidetzky.de/Nachkommenliste. htm, 2013; nicht mehr direkt online, aber einzusehen unter: https://archive.is/www.schwidetzky. de (18.1.2016). 28 Preuß, „Anthropologe und Forschungsreisender“, S. 135–157; ders., „Zeitenwende ist Wissenschaftswende“. Egon Freiherr von Eickstedt und die Neuanfänge der „Breslauer Tradition“ in Leipzig und Mainz 1945–1950, in: ders. (Hg. u.a.), Anthropologie nach Haeckel, Stuttgart 2006, S. 102– 124. Zu Schwidetzkys Aktivitäten in Mainz auch: Lüddecke, Rassen, Schädel und Gelehrte, S. 165– 167. 29 Zu Schwidetzkys Schülern und den anthropologischen Instituten in Mainz und Hamburg: AStA der Universität Mainz (Hg.), Die tausendjährige Geschichte der Mainzer Anthropologie. Eine Dokumentation, Mainz 1989; AG gegen Rassenkunde (Hg.), Deine Knochen – Deine Wirklichkeit. Texte gegen rassistische und sexistische Kontinuität in der Humanbiologie, Hamburg u.a. 1998. Zu Hubert Walter, der als Einziger der Genannten in späteren Jahren eine partiell kritische Haltung zur Tradition seines Faches einnahm: Uwe Hoßfeld, Nachruf Prof. Dr. rer.nat. habil. Dr. med. h.c. Hubert Walter (* 14. April 1930 – † 6. Dezember 2008), in: Michael Kaasch (Hg. u.a.), Das Werden des Lebendigen. Beiträge zur 18. Jahrestagung der DGGTB in Halle (Saale) 2009, Berlin 2010, S. 281–307. 30 Zu Schade: Frank Sparing, Von der Rassenhygiene zur Humangenetik – Heinrich Schade, in: Michael G. Esch (Hg. u.a.), Die Medizinische Akademie Düsseldorf im Nationalsozialismus, Essen 1997, S. 341–363.

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31 Ilse Schwidetzky, Racial Psychology, in: The Mankind Quarterly 2 (1961) 1, S. 10–12. Originalfassung: Rassenpsychologie, in: Gerhard Heberer u.a., Das Fischer-Lexikon, Bd. 15: Anthropologie, Frankfurt a.M. 1959, S. 288–291. 32 Ilse Schwidetzky, Betr.: Die tausendjährige Geschichte der Mainzer Anthropologie. Richtigstellung, in: Unipress (Hg.: AStA der Universität Mainz), Nr. 250 (15.6.1989), wieder abgedruckt in: AStA der Universität Mainz (Hg.), Die tausendjährige Geschichte der Mainzer Anthropologie, S. 16. 33 Ilse Schwidetzky, Race and the Biological History of Peoples, in: Robert E. Kuttner (Hg.), Race and Modern Science. A Collection of Essays by Biologists, Anthropologists, Sociologists and Psychologists, New York 1967, S. 94–119. Zu diesem Sammelband: Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1997, S. 214f. 34 Die Rolle der Vererbung im menschlichen Verhalten: Entschließung. Resolution in scientific freedom regarding human behaviour and heredity, in: Homo 24 (1973), S. 52–55, und in: Neue Anthropologie 2 (1974) 2, S. 29f. Vgl. Kühl, Die Internationale der Rassisten, S. 226–228. Zur Geschichte rassistischer und sozial diskriminierender Intelligenzforschung, unter anderem auch zu Eysenck und Jensen: Stephen Jay Gould, Der falsch vermessene Mensch, Basel u.a. 1983. Herrnstein wurde später vor allem als Ko-Autor des umstrittenen Buches „The Bell Curve“ bekannt (Richard J. Herrnstein u.a., The Bell Curve. Intelligence and Class Structure in American Life, New York u.a. 1994); zur Debatte darüber: Russell Jacoby (Hg. u.a.), The Bell Curve Debate. History, Documents, Opinions, New York 1995; Steven Fraser (Hg.), The Bell Curve Wars. Race, Intelligence, and the Future of America, New York 1995; Bernie Devlin (Hg. u.a.), Intelligence, Genes, and Success. Scientists Respond to The Bell Curve, New York u.a. 1997. – Dass biologistische Intelligenzforschung nach wie vor auch in Deutschland auf Resonanz stößt, zeigt nicht zuletzt die Kontroverse um den 2010 erschienenen Bestseller des SPD-Politikers und damaligen Bundesbank-Vorstandsmitglieds Thilo Sarrazin (geb. 1945) „Deutschland schafft sich ab“, in dem er sich unter anderem auf „The Bell Curve“ beruft. Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 20109, S. 77–100, 225–228, 416–420, 429. 35 Ilse Schwidetzky, Grundzüge der Völkerbiologie, Stuttgart 1950; dies., Das Problem des Völkertodes. Eine Studie zur historischen Bevölkerungsbiologie, Stuttgart 1954; dies., Das Menschenbild der Biologie. Ergebnisse und Probleme der naturwissenschaftlichen Anthropologie, Stuttgart 19712. 36 Ilse Schwidetzky (Hg.), Die neue Rassenkunde, Stuttgart 1962; dies., Hauptprobleme der Anthropologie. Bevölkerungsbiologie und Evolution des Menschen, Freiburg i.Br. 1971; dies., Grundlagen der Rassensystematik, Mannheim u.a. 1974; dies., Rassen und Rassenbildung beim Menschen. Typen – Bevölkerungen – Geographische Variabilität, Stuttgart 1979. 37 Peter Weingart u.a., Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a.M. 19962, u.a. S. 572–580; Hans-Peter Kröner, Von der Rassenhygiene zur Humangenetik. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik nach dem Kriege, Stuttgart u.a. 1998; Benoît Massin, Mengele, die Zwillingsforschung und die „Auschwitz-Dahlem Connection“, in: Carola Sachse (Hg.), Die Verbindung nach Auschwitz. Biowissenschaften und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten. Dokumentation eines Symposiums, Göttingen 2003, S. 201–254; Achim Trunk, Zweihundert Blutproben aus Auschwitz. Ein Forschungsvorhaben zwischen Anthropologie und Biochemie (1943–1945), Berlin 2003; Hans-Walter Schmuhl, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927–1945, Göttingen 2005; Sheila Faith Weiss, The Nazi Symbiosis. Human Genetics and Politics in the Third Reich, Chicago u.a. 2010; dies., After the Fall. Political Whitewashing, Professional Posturing, and Personal Refashioning in the Postwar Career of Otmar Freiherr von Verschuer, in: Isis 101 (2010), S. 722–758; Hans-Peter Kröner, „Die Fakultät hat in politisch schwierigen Situationen Charakter bewiesen“. Der „Lehrstuhl für Erbbiologie und Rassenhygiene“ und die Berufung Otmar Freiherr von Verschuers in Münster, in: Hans-Ulrich Thamer (Hg. u.a.), Die

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Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960. Bd. 2, Münster 2012, S. 993–1027. 38 Karl Ditt, Raum und Volkstum. Die Kulturpolitik des Provinzialverbandes Westfalen 1923–1945, Münster 1988, S. 95–105; ders., Was ist ‚westfälisch‘? Zur Geschichte eines Stereotyps, in: Westfälische Forschungen 52 (2002), S. 45–94, 82–85. 39 Ilse Schwidetzky/Hubert Walter, Untersuchungen zur anthropologischen Gliederung Westfalens, Münster 1967 (Hermann Aubin [Hg.u.a.], Der Raum Westfalen, Bd. V, Teil 1), S. 3. 40 Veronika Lipphardt, Das „schwarze Schaf“ der Biowissenschaften. Marginalisierungen und Rehabilitierungen der Rassenbiologie im 20. Jahrhundert, in: Dirk Rupnow (Hg. u.a.), Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a.M. 2008, S. 223–250, 241–247. 41 Irmgard Pinn u.a., Kontinuität durch Verdrängung. Die „anthropologisch-soziologischen Konferenzen“ 1949–1954 als ein „vergessenes“ Kapitel der deutschen Soziologiegeschichte, in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1990, S. 177–218. 42 Henning Borggräfe u.a., Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie und der Nationalsozialismus. Verbandsinterne Transformationen nach 1933 und nach 1945, in: Michaela Christ (Hg. u.a.), Soziologie und Nationalsozialismus. Positionen, Debatten, Perspektiven, Berlin 2014, S. 445–479, 462. Entsprechend würdigte Karl Valentin Müller 1959 im „Internationalen Soziologenlexikon“ Schwidetzkys „unermüdlichen und erfolgreichen Einsatz für die Anerkennung der Sozial- und Völkerbiologie […] als Vorfeldwissenschaft der Soziologie“ (K.[arl] V.[alentin] Müller, Schwidetzky, Ilse, in: Wilhelm Bernsdorf in Verbindung mit Horst Knospe [Hg.], Internationales Soziologenlexikon, Stuttgart 1959, S. 498). 43 Hubert Fehr, Germanen und Romanen im Merowingerreich. Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschehen, Berlin u.a. 2010, S. 97–125, besonders S. 117–125. Fehr führt die von Schwidetzky angeregte, von Knußmann begutachtete und viel rezipierte Dissertation Friedrich Wilhelm Rösings „Die fränkische Bevölkerung von Mannheim-Vogelstang (6.–7. Jh.) und die merowingerzeitlichen Germanengruppen Europas“ (Diss. Hamburg 1975) als Beispiel an, „wie sehr die Anthropologie in der Nachkriegszeit ihre ethnischen Interpretationen des Skelettmaterials auf historischen ‚Vor-Urteilen‘ aufbaute“ (ebd., S. 124). 44 Ashley Montagu (Hg.), The Concept of Race, London 1964; Ulrich Kattmann, Warum und mit welcher Wirkung klassifizieren Wissenschaftler Menschen?, in: Heidrun Kaupen-Haas (Hg. u.a.), Wissenschaftlicher Rassismus. Analysen einer Kontinuität in den Human- und Naturwissenschaften, Frankfurt a.M. u.a. 1999, S. 65–83; Kerstin Palm, Der „Rasse“-Begriff in der Biologie nach 1945, in: AG gegen Rassismus in den Lebenswissenschaften (Hg.), Gemachte Differenz. Kontinuitäten biologischer „Rasse“-Konzepte, Münster 2009, S. 240–255. 45 AG gegen Rassenkunde (Hg.), Deine Knochen – Deine Wirklichkeit. 46 Ina Spiegel-Rösing/Ilse Schwidetzky, Maus und Schlange. Untersuchungen zur Lage der deutschen Anthropologie, München u.a. 1982, S. 92–96, 111–113; Ilse Schwidetzky, Geschichte der Anthropologie, in: Rainer Knußmann (Hg.), Anthropologie. Handbuch der vergleichenden Biologie des Menschen, zugleich 4. Auflage des Lehrbuchs der Anthropologie, begründet von Rudolf Martin. Bd. I: Wesen und Methoden der Anthropologie. 1. Teil: Wissenschaftstheorie, Geschichte, morphologische Methoden, Stuttgart u.a. 1988, S. 47–126, 97–100. 47 Ilse Schwidetzky, History of Biological Anthropology in Germany, Newcastle upon Tyne 1992 (International Association of Human Biologists: Occasional Papers, vol. 3, no. 4), S. 26. Zur Bedeutung dieser Gutachten: Benno Müller-Hill, Tödliche Wissenschaft. Die Aussonderung von Juden, Zigeunern und Geisteskranken 1933–1945, Reinbek 1984, S. 38–41; Georg Lilienthal, Anthropologie und Nationalsozialismus: Das erb- und rassenkundliche Abstammungsgutachten, in: Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung 6 (1987), S. 71–91; ders., Arier oder Jude? Die Geschichte des erb- und rassenkundlichen Abstammungsgutachtens, in: Peter Propping

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(Hg. u.a.), Wissenschaft auf Irrwegen. Biologismus – Rassenhygiene – Eugenik, Bonn u.a. 1992, S. 66–84. 48 Preuß, „Anthropologe und Forschungsreisender“, S. 134; Benoît Massin, Anthropologie und Humangenetik im Nationalsozialismus oder: Wie schreiben deutsche Wissenschaftler ihre eigene Wissenschaftsgeschichte?, in: Heidrun Kaupen-Haas (Hg. u.a.), Wissenschaftlicher Rassismus. Analysen einer Kontinuität in den Human- und Naturwissenschaften, Frankfurt a.M. u.a. 1999, S. 12–64, 41f. 49 Sophie Ehrhardt, Setukesen. Eine Bevölkerungsgruppe zwischen Esten und Russen im südöstlichen Estland, in: Homo 40 (1989), S. 159–175 (erschienen 1990). Zu Ehrhardt, ab 1950 Dozentin für Anthropologie an der Universität Tübingen, ab 1957 dort außerplanmäßige Professorin, vgl. Joachim S. Hohmann, Robert Ritter und die Erben der Kriminalbiologie. „Zigeunerforschung“ im Nationalsozialismus und in Westdeutschland im Zeichen des Rassismus, Frankfurt a.M. u.a. 1991, S. 323– 329; Hans-Joachim Lang, „Ein schöner Einblick in die Forschungsarbeit“. Vorbereitende Beiträge Tübinger Wissenschaftler für die Zwangssterilisation und Ermordung deutscher Sinti, in: Ulrich Hägele (Hg.), Sinti und Roma und Wir. Ausgrenzung, Internierung und Verfolgung einer Minderheit, Tübingen 1998, S. 75–90; Kommunisten und Homosexuelle. Wie Sophie Erhardt [sic!] ihre Vergangenheit bewältigte, in: ebd., S. 91–93 (Interview mit Sophie Ehrhardt aus dem Jahr 1983); Michelsen, Die „Breslauer Schule“ der Rassenkunde, S. 110f. 50 Bernd Herrmann u.a., Stellungnahme zur Veröffentlichung von S. Ehrhardt (1990): Setukesen. Eine Bevölkerungsgruppe zwischen Esten und Russen im südöstlichen Estland. Homo 40 (1989), 159–175, und Überlegungen zur Verantwortung in anthropologischen Arbeiten, in: Anthropologischer Anzeiger 50 (1992), S. 157–163, 160. 51 Massin, Anthropologie und Humangenetik im Nationalsozialismus, S. 56, Anm. 38; AStA der Universität Mainz (Hg.), Die tausendjährige Geschichte der Mainzer Anthropologie; AG gegen Rassenkunde (Hg.), Deine Knochen – Deine Wirklichkeit.

_____________________________________________________________________Peter-Heinz Seraphim  763

Peter-Heinz Seraphim Peter-Heinz Seraphim (1902–1979), einer der Protagonisten der deutschen →Ostforschung, war das sechste Kind des Journalisten Ernst Seraphim und dessen Frau Sophie, geborene Wegner, und entstammte einer traditionsreichen deutschbaltischen Familie. Nach dem Besuch der Rigaer Albertschule sowie eines Landesgymnasiums der deutschbaltischen Ritterschaft in Mitau schloss er sich Ende 1918 als Freiwilliger dem Kampf der „Baltischen Landeswehr“ gegen die Rote Armee an. Er wurde Mitglied einer „Stoßtruppe“, die bei dem gescheiterten Putsch gegen den lettischen Ministerpräsidenten Ulmanis die bisherigen Minister verhaften und wichtige Dienststellen besetzen sollte. Im Folgenden nahm er an der Besetzung Rigas sowie anschließenden Hausdurchsuchungen, Verhören und Gefangenenerschießungen teil. Im Herbst 1919 schied Seraphim leicht verletzt aus der „Landeswehr“ aus.1 Von 1919 bis 1921 besuchte Seraphim in Königsberg das Wilhelmsgymnasium und begann im Anschluss an der dortigen Universität mit dem Studium der Volkswirtschaftslehre. Nach einem Studienaufenthalt in Graz wechselte er im September 1923 an die Breslauer Universität, die er 1924 mit einer von dem Volkswirtschaftler Albert Hesse betreuten Dissertation über Das Eisenbahnwesen Russlands unter der Herrschaft der Bolschewiken (1917–22) verließ. Anschließend war er von 1924 bis 1926 am Breslauer Osteuropa-Institut als Assistent in der Wirtschaftsabteilung und Referent in der neu geschaffenen Pressestelle tätig.2 Nach seiner Rückkehr nach Königsberg arbeitete Seraphim zunächst als Lokalredakteur der Königsberger Allgemeinen Zeitung und engagierte sich kurzzeitig bei der Volkskonservativen Vereinigung, bevor er Ende 1930 die Stelle eines Assistenten am Institut für Ostdeutsche Wirtschaft (IOW) übernahm, an dem er zum Leiter des Polen-Referats aufstieg. Ende April 1933 trat er der NSDAP bei, am 1. Oktober 1933 der SA. Darüber hinaus wurde er Anfang 1934 Mitglied im Volksbund für das Deutschtum im Ausland (VDA) sowie dem Bund Deutscher Osten (BDO). Nach seiner Habilitation 1937 mit einer Arbeit über Die Ostseehäfen und der Ostseeverkehr erhielt Seraphim im folgenden Jahr eine Dozentur an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Königsberger Universität. Parallel hierzu übernahm er Ende 1937 für knapp ein Jahr die geschäftsführende Leitung des IOW.3 Der geographische Fokus seiner Publikationen lag ab Anfang der 1930er Jahre auf dem Gebiet Polens. Seine Studien beruhten in aller Regel auf einer breiten Datenbasis und die Darstellung erfolgte in einem weitgehend sachlichen Duktus. Dies verband sich bei Seraphim jedoch stets mit grundlegenden ideologischen Paradigmen: Ausgehend von einem völkischen Staatsbegriff und einer deutschtumszentrierten Perspektive kritisierte er die seiner Ansicht nach „unnatürliche“ Entstehung Polens infolge des „Versailler Diktats“ und konstatierte eine bevölkerungspolitische „Zerrissenheit“ des polnischen Staates.4 Hinzu kam eine bewusste Funktionalisierung der eigenen Arbeiten: Seraphim betätigte sich als Schulungsleiter im BDO und trat

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als Verfasser und Herausgeber mehrerer „Schulungsbriefe“ sowie Referent auf öffentlichen Veranstaltungen im Westen des Deutschen Reiches in Erscheinung. Ab 1934 nahm Seraphim auch bevölkerungswissenschaftliche Studien, insbesondere zur „Judenfrage“, auf. Er entwickelte sich zum führenden Experten der deutschen Ostforschung für das osteuropäische Judentum. Sein diesbezügliches Hauptwerk Das Judentum im osteuropäischen Raum verbindet eine breite empirische Datenbasis und quantifizierende Darstellungsformen mit der Einforderung eines →Antisemitismus, der „den rassischen Gesichtspunkt als den allein maßgebenden betrachtet.“ Hierzu gehöre „ein Begriff der Wertigkeit der Menschengruppen“, wobei die „rassische Minderwertigkeit der Juden, eine unabänderliche Tatsache, […] ihre Entfernung aus dem öffentlichen und wirtschaftlichen Leben“ erfordere.5 Diese Verknüpfung von wissenschaftlicher Methodik und ideologischen Paradigmen stellt das übergreifende Charakteristikum seiner Arbeiten dar. Nach der Okkupation Polens wurde er der Wehrwirtschaftsinspektion (später Rüstungsinspektion) Oberost zugeteilt. Neben seiner Tätigkeit als Kriegsverwaltungsrat in Krakau (Kraków) entstanden mehrere Studien zu bevölkerungspolitischen und ökonomischen Fragen des Generalgouvernements. Er plädierte für eine langfristige Nutzung des okkupierten Gebiets durch das Deutsche Reich und verstand seine Arbeit explizit als Beitrag zur politischen Praxis und Planung. Mit dem Rückgriff auf das bereits vor 1939 entwickelte Paradigma der „agrarischen Überbevölkerung“ plädierte Seraphim für „das Fernziel der bevölkerungsmäßigen Bereinigung dieses Raumes“,6 und forderte die sukzessive Zwangsaussiedlung der jüdischen Bevölkerung. In diesem Kontext stand er auch wiederholt mit dem Krakauer →Institut für deutsche Ostarbeit in Kontakt, bei dessen erster Arbeitstagung er mit einem Vortrag über „Die Juden in Polen“ als Referent in Erscheinung trat. Anfang 1941 zum a. o. Professor für Volkwirtschaft als Nachfolger →Theodor Oberländers an die Universität Greifswald berufen, initiierte Seraphim dort einen Arbeitskreis zur wissenschaftlichen Skandinavienarbeit, dessen Forschungen sich an den aktuellen und perspektivischen ökonomisch-politischen Kriegszielen des Deutschen Reiches orientierten. Die Initiative Seraphims wurde von der →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG) und der →Publikationsstelle (PuSte) Berlin-Dahlem begrüßt und finanziell gefördert.7 Im März 1941 referierte er auf der ersten Arbeitstagung des →Instituts zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt am Main, der ersten eröffneten Außenstelle der „Hohen Schule“ der NSDAP. An der Tagung nahmen neben diversen Staats- und Parteifunktionären, unter ihnen der Leiter des rassenpolitischen Amtes der NSDAP, →Walter Gross, und Giselher Wirsing, Palästinaexperte des SD, auch prominente ausländische Vertreter wie Alexandru Cuza aus Rumänien oder der Führer von Nasjonal Samling, der norwegische Staatsrat Vidkun Quisling, teil. Die Tagung befasste sich mit „dem Gedanken und der Forderung einer gesamteuropäischen und dauerhaften Lösung der Judenfrage“. Seraphim plädierte in seinem Referat über „Die bevölkerungs- und wirtschaftspolitischen Probleme einer europäischen Gesamtlösung

Peter-Heinz Seraphim  765

der Judenfrage“ für die Zwangsaussiedlung der europäischen Juden und Jüdinnen in ein außereuropäisches Gebiet.8 Damit wies er sich als zugleich als neuer Schriftleiter der institutseigenen Zeitschrift Weltkampf aus und war überdies maßgeblich an der Gründung der Außenstelle des Instituts in Litzmannstadt (Łódź) beteiligt. Des Weiteren nahm er am Kulturraub des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg in der besetzten Ukraine teil. Im Sommer 1941 wurde Seraphim zum Wehrdienst bei der Wirtschaftsinspektion Ukraine einberufen und mit den Massenerschießungen in Rowno und Kameniez-Podolsk konfrontiert. In einem am 29. November 1941 verfassten Bericht kritisierte er dieses Vorgehen, wobei er aus einer strikt ökonomischen Perspektive auf die aktuelle Notwendigkeit ukrainischer Arbeitskräfte für die wirtschaftlichen und militärischen Interessen des Deutschen Reichs verwies. Ein Widerspruch zu seiner langfristigen Forderung, dass Europa „judenfrei“ werden müsse, lässt sich hieraus nicht ableiten.9 Ende 1941 kehrte Seraphim an die Universität Greifswald zurück und wurde dort im Februar 1943 zum o. Professor ernannt. Darüber hinaus beteiligte er sich an der Gründung des →Oder-Donau-Instituts in Stettin (Szczecin). Dieses wurde von lokalen und regionalen Staats- und Wirtschaftsstellen getragen und nahm im Mai 1943 seine Arbeit auf. Als Leiter des Instituts war er in dieser Funktion federführend an einer Übereinkunft mit der Amtsgruppe des →Reichssicherheitshauptamts VI G über den Weiterbetrieb der Forschungen im Januar 1945 beteiligt.10 Im April 1945 geriet er in Kriegsgefangenschaft und erstellte als „Ostexperte“ vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden Kalten Krieges in der Nähe Washingtons Gutachten für amerikanische Militär- und Geheimdienststellen. Ende 1946 kehrte er nach Deutschland zurück und arbeitete für die Organisation Gehlen: Als leitender Koordinator der Zentrale in Pullach für die „ostwissenschaftlichen Mitarbeiter“, darunter →Hans Koch und →Wilfried Krallert, war er neben seiner nachrichtendienstlichen Tätigkeit auch für die entsprechende Personalpolitik zuständig. Im Rahmen dieser Tätigkeit baute er ein umfangreiches „Ostarchiv“ auf. Parallel setzte er sich für eine Reorganisation der deutschen Ostforschung ein und gehörte dem Münchener Arbeitskreis für Ostforschung sowie 1950 bis 1976 als ordentliches Mitglied dem Marburger →Johann Gottfried Herder-Forschungsrat an. Seine Publikationstätigkeit konzentrierte sich nun auf die ehemaligen deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße sowie die Situation der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen.11 Am 7. Mai 1948 wurde Seraphim von der Spruchkammer Landsberg/Lech in die Kategorie 5 (entlastet) eingestuft, wobei Reinhart Maurach und →Theodor Oberländer Erklärungen zu seinen Gunsten abgaben. Als Professor zur Wiederverwendung nach Artikel 131 GG erhielt Seraphim von 1950 bis 1954 einen Lehrauftrag für Osteuropäische Wirtschaft an der Universität München sowie 1952 an der PhilosophischTheologischen Hochschule Bamberg. Die von ihm angestrebte dauerhafte Wiederaufnahme seiner Hochschultätigkeit blieb ihm jedoch verwehrt.12

766  Biographien

1954 wurde Seraphim zum Studienleiter der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie Industriebezirk in Bochum gewählt. Seine Funktion umfasste die berufsbegleitende Fortbildung im öffentlichen Dienst und in der Wirtschaft tätiger Personen. Darüber hinaus leitete er die Verwaltungsakademie für Westfalen in Hagen und lehrte bis 1961 Volkswirtschaftslehre an der damaligen Verwaltungsakademie Ostwestfalen-Lippe. Mit Erreichen des 65. Lebensjahres ging er in den Ruhestand, wobei er noch einige Jahre als Dozent tätig blieb.

Hans-Christian Petersen

1 Peter-Heinz Seraphim, Glieder einer Kette. Erinnerungen an Peter-Heinz Seraphim, o. O. 1980 (unveröffentlichte Autobiographie); Wilhelm Lenz (Hg.), Deutschbaltisches biographisches Lexikon 1710–1960, Wien 1970, S. 726f. 2 Vgl. Hans-Jürgen Seraphim (Hg.), Jahrbuch des Osteuropa-Instituts zu Breslau 1942, Breslau 1943. 3 BArch, ZA VI 1354, A. 5, Peter-Heinz Seraphims NSDAP-Mitgliedskartei, Karte NS-Lehrerbund. 4 Vgl. Peter-Heinz Seraphim (Hg.), Polen und seine Wirtschaft, Königsberg 1937. 5 Peter-Heinz Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum, Essen 1938, S. 281, 659. Vgl. zur Stellung Seraphims in der NS-„Judenforschung“ sowie zur Bedeutung des Buches von 1938 auch Alan Steinweis, Studying the Jew. Scholarly Antisemitism in Nazi Germany, Cambridge, Massachussets u.a. 2006; Hans-Christian Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik. Eine biographische Studie zu Peter-Heinz Seraphim (1902–1979), Osnabrück 2007; Dan Michman, Angst vor den „Ostjuden“. Die Entstehung des Ghettos während des Holocaust, Frankfurt a.M. 2011; Dirk Rupnow, „Judenforschung“ im „Dritten Reich“. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, Baden-Baden 2011. 6 Peter-Heinz Seraphim, Die Judenfrage im Generalgouvernement als Bevölkerungsproblem, in: Die Burg. Vierteljahresschrift des Instituts für deutsche Ostarbeit Krakau 1 (1940), S. 56–64, 63. 7 UAGr, PA 433, Personalakte Peter-Heinz Seraphim; BArch, R 153, 811, 1483, und 1584. 8 F. Zschaeck, Bericht über die Eröffnung und Arbeitstagung des Instituts zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt a.M. vom 26.–28.3.1941, in: Weltkampf 1 (1941), S. 106–112, 111; Peter-Heinz Seraphim, Bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Probleme einer europäischen Gesamtlösung der Judenfrage, in: ebd., S. 43–51. 9 BArch, RW 30/103, Bl. 4–22, Peter-Heinz Seraphim, Zur Lage im Reichskommissariat Ukraine vom 29.11.1941. 10 UAGr, R 334, R 479, K 710; BArch, R 153, 1072, 1483, und ebd., R 8033, 69. Vgl. zum Oder-DonauInstitut auch Klemens Grube, Das ‚Ruhrgebiet des Ostens‘ – die NS-Raumplanung für Oberschlesien, der Oder-Donau-Kanal und die pommerschen Wirtschaftsinteressen, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 101 (2014) 4, S. 415–432. 11 Vgl. Peter-Heinz Seraphim, Ostwärts der Oder und Neiße, Hannover 1949. 12 Vgl. STAM, Spruchkammerakten K 1522 (Peter-Heinz Seraphim); BayHStA, MK 69883–69885, MK 72973, MK 72985, Akten des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus.

_____________________________________________________________________Wolfram Sievers  767

Wolfram Sievers Wolfram Sievers war ein Wissenschaftsmanager des NS-Regimes. Der am 10. Juli 1905 in Hildesheim geborene Sohn eines evangelischen Kirchenmusikdirektors verließ 1922 nach dem frühen Tod des Vaters als alleiniger Ernährer der Familie das Gymnasium zu Gunsten eines praktischen Berufs.1 Nach dem Besuch einer Handelsschule und einer Lehre als Verlagskaufmann arbeitete Sievers ab 1924 in Hannover in der Verlagsbranche.2 Nach Verlust dieser Tätigkeit wechselte er 1928 zu einem Verlag nach Stuttgart.3 Sievers schrieb sich als Gasthörer an der Technischen Hochschule Stuttgart ein und hörte Vorlesungen in Geschichte, Philosophie und Religionswissenschaft.4 Nach abermaligem Verlust seiner Arbeitsstelle, nach Krankheit und einer Tätigkeit in der Filmbranche wurde er im April 1932 Sekretär des völkischen Privatgelehrten →Herman Wirth.5 Aus Geldmangel musste Wirth ihn im Frühjahr 1933 entlassen.6 Nachdem Himmler auf die Publikationen Wirths aufmerksam geworden war, glaubte er ihn beim Aufbau einer völkisch geprägten Kulturabteilung innerhalb der SS heranziehen zu können. Da beide planten, gemeinsam eine völkische Forschungseinrichtung ins Leben zu rufen, schlug Wirth Himmler vor, Sievers zum Generalsekretär des geplanten „→Ahnenerbe“ zu berufen. Bis zum Sommer 1935 war Sievers – vorübergehend oder dauerhaft – Mitglied im Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund gewesen, des Pfadfinderbundes, des Wandervogel, des Jungnationalen Bundes, des →Kampfbundes für Deutsche Kultur, des Württembergischen Jungbauernbundes und der Artamanen.7 Er trat 1929 in die NSDAP ein, verließ die Partei kurz darauf wieder, um 1933 unter seiner alten Mitgliedsnummer 144.983 erneut einzutreten.8 Damit zählte er zu den sogenannten „Alten Kämpfern“ der NSDAP. Mit Wirkung vom 9. November 1935 trat Sievers auch in die SS ein.9 Seit Gründung am 1. Juli 1935 war Sievers Generalsekretär der „Studiengesellschaft für Geistesurgeschichte ‚Deutsches Ahnenerbe‘“. Nach der Satzungsänderung von 1937 hieß der Verein „Das Ahnenerbe e.V.“ und Sievers’ Position war die eines „Reichsgeschäftsführers“. Trotz der Veränderungen an der Spitze des Vereins war von Beginn an ausschließlich Sievers im rechtlichen Sinne dessen alleiniger Vertreter, bis Himmler selbst nach der Satzungsänderung vom 1. Januar 1939 in diese Position gelangte.10 Parallel wurde Sievers Geschäftsführer des Nordland-Verlages, 1934 als erstes Wirtschaftsunternehmen der SS gegründet, und blieb es bis zur Zusammenlegung mit dem Ahnenerbe-Stiftungs-Verlag im Jahre 1938.11 Ab 1937 drängten Sievers und Himmler sowohl Herman Wirth als auch den bisherigen Hauptfinanzier, den Reichsnährstand und dessen Leiter Richard Walther Darré, aus dem Ahnenerbe. Die Satzung wurde entsprechend verändert. Der neue wissenschaftliche Leiter, der Indogermanist →Walter Wüst (Universität München), vermittelte Sievers Kenntnisse in der Forschungsförderung, so dass es ihm fortan gelang, einen Großteil des Ahnenerbe-Haushalts über die DFG zu finanzieren.12

768  Biographien

Sievers gründete bis Ausbruch des Krieges einige Dutzend Ahnenerbe-Forschungsstätten. Anteil und Einfluss unseriöser Forscher und Forschungsfelder – oft auf Geheiß Himmlers etabliert, um dessen Theorien „wissenschaftlich“ zu belegen – drängte Sievers sukzessive zu Gunsten seriöser Forschungen zurück. Nachdem der Stellvertretende Reichsgeschäftsführer, der Journalist Dr. Friedhelm Kaiser, nach Kriegsausbruch eingezogen worden war, wurde dieser ab 1940 von dem Juristen Dr. Theodor Komanns vertreten.13 Anfang 1941 meldete Sievers sich freiwillig zum Wehrdienst, um auch in dieser Hinsicht den Erwartungen Himmlers zu entsprechen.14 Sievers begann die Grundausbildung im Juni 1941 bei der SSLeibstandarte.15 Nach rund sechs Wochen brach er seine militärische Ausbildung ab, da sein Stellvertreter Komans bei einem Autounfall tödlich verunglückt war.16 Sievers verhinderte die Berufung neuer Stellvertreter und blieb bis Kriegsende Offizier der Waffen-SS, kommandiert zum Ahnenerbe. Die mit nicht kriegswichtigen Forschungen – wie Sammeln von Volksliedern oder Hausmarken – befassten Wissenschaftler drohten dauerhaft eingezogen zu werden, weshalb Sievers um die Existenz seiner Einrichtung fürchtete. Daher implementierte er ab Mitte 1941 neben Geistes- und Naturwissenschaften die „Wehrwissenschaften“ in das Ahnenerbe. So gründete er zunächst das Entomologische Institut der Waffen-SS, in dem jene Insekten beforscht werden sollten, die Krankheiten übertragen. Kurz darauf gründete Sievers das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung der Waffen-SS (IWZ) als neuen Schwerpunkt seiner Arbeit. Es inkorporierte ab Sommer 1942 das Entomologische Institut. Die Forschungen des Straßburger Anatomen August Hirt zur Intravitalmikroskopie und zu flüssigem Lost wurden als Abteilung H eingegliedert. Die Versuche mit dem chemischen Kampfstoff Lost an fünfzehn Häftlingen endeten in drei Fällen tödlich. Diese – und andere – Versuche erfolgten unter der Direktion von Sievers. Er war nicht formal, wohl aber faktisch der verantwortliche Direktor des IWZ. Im Jahre 1942 wurde für den Mediziner Sigmund Rascher im IWZ die Abteilung R geschaffen, wo er parallel zu seinen Forschungen für die Luftwaffe an Häftlingen eigene Experimente durchführte. Oft musste Sievers bei Himmlers Referenten Rudolf Brandt nachfragen, welche Befehle Rascher von Himmler erhalten habe.17 Während Sievers durchgehend eine große Fürsorge, weit über dienstliche Obliegenheiten hinaus, für seine Mitarbeiter zeigte, ist eine auffallende Distanz zu den Luftwaffenversuchen und zur Person Rascher in den Quellen erkennbar. Dies mag vor allem an der bekannten Religiösität Sievers’ gelegen haben, die er nach dem Kriege besonders herausstellte. Diese Haltung tritt immer wieder hervor, hinderte Sievers jedoch nicht, zwei Mal letalen Luftwaffen-Versuchen Raschers beizuwohnen und unmenschliche Versuche anderer Wissenschaftler zu organisieren und zu unterstützen. Anderen Projekten aus Raschers Abteilung – Erfindungen seiner Funktionshäftlinge – stand Sievers sehr offen und fördernd gegenüber. Gefährliche Zwangsversuche an Häftlingen wurden für diese Erfindungen nicht benötigt. Rascher soll jedoch

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auf einen Häftling geschossen haben, was er mit einem „Test“ rechtfertigte. Es handelt sich um Rostschutzmittel, Instant-Kartoffelbrei und das Blutstillmittel Polygal. Sievers plante weitere Abteilungen wie etwa die Mathematische Abteilung oder die Abteilung für Züchtungsforschung, die zum Teil erst in den letzten Kriegswochen die Arbeit aufnahmen. Obschon das Ahnenerbe am 17. März 1942 als „Amt A“ in den Persönlichen Stab RFSS implementiert und Sievers dort Hauptabteilungsleiter wurde – der Verein Ahnenerbe bestand bis 1955 rechtlich weiter – müssen auch seine zahlreichen Aktivitäten außerhalb der von Ahnenerbe und Waffen-SS betrachtet werden.18 Von 1939 bis 1941 war er als Generaltreuhänder für die Sicherstellung deutschen Kulturguts in der Haupttreuhandstelle Ost am Kulturgutraub beteiligt; von 1940 bis 1944 leitete er die →Kulturkommission bei der amtlichen Ein- und Rückwandererstelle Umsiedlung Südtirol. Als Leiter dieser Kulturkommission versuchte Sievers 1941, die Aktivitäten des Ahnenerbes auf die Umsiedlung der Volksdeutschen aus Bessarabien, Wolhynien und Galizien auszudehnen.19 Im Jahre 1943 wurde er stellvertretender Leiter des Geschäftsführenden Beirates im →Reichsforschungsrat, der bedeutendsten Organisation der Forschungsförderung im Dritten Reich. Aufgrund dieser Position ließ er sich von Admiral Canaris, dem Leiter der Abwehr in der Wehrmacht, zum Abwehrbeauftragten des Reichsforschungsrates bestellen, was ihm Zugang zu allen geheimen Forschungsprojekten dieser Einrichtung ermöglichte. Da der Reichsforschungsrat in den letzten Kriegsjahren in den Großteil der in Deutschland stattfindenden Forschung eingebunden war, konnte Sievers einen genauen Überblick über die Aktivitäten fast aller Wettbewerber der Ahnenerbe-Forscher gewinnen. Durch Sievers’ Mitgliedschaft im in der exklusiven „Wehrforschungsgemeinschaft“ konnte er diesen Überblick erweitern und junge Talente mit Blick auf mögliche spätere Einbindung ins Ahnenerbe oder IWZ beobachten.20 Dies zeigt, dass er nicht nur formal als Himmlers Gewährsmann im Reichsforschungsrat installiert worden war. Durch seinen guten Überblick über die Forschungslandschaft konnte Sievers auch die Einbindung des IWZ in die B- und C-Waffenentwicklung erreichen. Bis Ende des Krieges war Sievers einer der prominentesten Netzwerker in der Wissenschaftslandschaft des Regimes bis hin zur Abteilung III C 1 (Wissenschaft) des RSHA unter Heinz Fischer.21 An Ehrungen hatte es nicht gefehlt. Im Jahre 1942 erhielt er das Ritterkreuz des Ordens „Isabella die Katholische“ sowie das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern, dem 1944 die I. Klasse mit Schwertern folgte.22 Er war Träger von Ehrenwinkel, Ehrendolch, Ehrendegen und Totenkopfring der SS.23 Die Beförderung zum hohen Rang eines SS-Oberführers sollte per 20. April 1945 erfolgen.24 Sie kam nicht mehr zustande, da die 1943 nach Waischenfeld in Franken verlegte Ahnenerbe-Zentrale am 14. April 1945 von der US-Army überrollt und Sievers am 1. Mai 1945 verhaftet wurde. Nachdem Sievers im Nürnberger Ärzteprozess angeklagt worden war, versuchte sein langjähriger Mentor Friedrich Hielscher, ihn als Angehörigen des Widerstandes

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hinzustellen. Naturgemäß sind die Belege zu konspirativen Aktivitäten nicht sehr zahlreich, so dass viele der Angaben Hielschers letztlich nicht überprüft werden können. Jedoch dürfte Sievers keinen aktiven Widerstand geleistet haben. Belegt wurden jedoch u.a. seine Unterstützung für Oppositionelle aus dem Umkreis des Solf-Kreises und Informationsweitergabe an Gruppen, die Juden schützten.25 Er stellte ebenso Mitarbeiter im Ahnenerbe an, die von den NS-Behörden beargwöhnt oder sogar Verfolgungsmaßnahmen erlitten.26 Sievers’ Handeln bis zur beginnenden Emanzipation von SS und Himmler ab Ende 1943 ist ein Beispiel für „dem (Reichs-)Führer entgegen arbeiten“.27 Sievers hat um der Karriere willen nie offen gegen Himmler opponiert. Nach planmäßigem Auslaufen der Humanversuchsreihen bei Hirt und dem Ausscheiden des HimmlerProtegés Rascher ab Frühjahr 1944 fanden jedoch keine Humanversuche unter Sievers’ Verantwortung mehr statt, auch wenn diese ursprünglich von Himmler befohlen worden waren. Dieses geschah noch vor Himmlers Weisung vom 15. Mai 1944 fortan alle Humanversuche persönlich zu genehmigen und obwohl Himmler diese Versuche weiter forderte. Sievers forcierte allerdings seit Kriegsbeginn in zwei Bereichen aus eigener Initiative NS-Tötungsverbrechen: Die Lost-Versuche von Hirt und die „→Straßburger Schädelsammlung“ von Bruno Beger. Für diese Verbrechen wurde Wolfram Sievers in Nürnberg zum Tode verurteilt und am 2. Juni 1948 in Landsberg hingerichtet. Es darf jedoch auch nicht außer Acht gelassen werden, dass Sievers im Wege des Organisationsverschuldens Verantwortung auch für alle in seinem Bereich unmittelbar von Himmler angeordneten oder gewünschten Verbrechen zugerechnet werden muss. Dazu zählen die Luftwaffenversuche Raschers ebenso, wie die rein formale Unterstellung der Versuche der nicht zum Ahnenerbe oder IWZ gehörenden Wissenschaftler Eugen Haagen und Otto Bickenbach – auch nach dessen Unterstellung unter Karl Brandt – unter die Abteilung H des IWZ. Diese Versuche förderte Sievers organisatorisch, auch wenn sie nicht, wie bei beiden vorbezeichneten Verbrechen, eigeninitiativ von ihm selbst ausgingen. Hinzu kommen noch nicht abschließend aufgeklärten Sachverhalte, wie die Mescalin- und N-Stoff-Versuche des IWZ-Abteilungsleiters Kurt Plötner. Es sind keine Belege bekannt, dass Sievers selbst Versuche geleitet hat oder Versuchsanordnungen konzipierte, denn Sievers verstand sich stets als Wissenschaftsmanager und nie als Wissenschaftler. Komplimente oder Vermutungen dahingehend, dass er über eigene wissenschaftliche Kompetenz verfüge, wies er stets zurück.28 Mit Hilfe seiner zahlreichen Funktionen verstand es Sievers, das „Ahnenerbe“ zu einer weit verzweigten Organisation mit über vierzig wissenschaftlichen Abteilungen auszubauen, und der SS auf diese Weise Einfluß im NS-Forschungsbetrieb zu sichern.29 Sievers war seit November 1934 mit Helene Siebert verheiratet und hatte mit ihr drei Kinder. 1944 wurde er Vater eines unehelichen Sohnes. Dessen Mutter, Sievers’ Sekretärin, lebte mit der Familie im Dienstgebäude in Waischenfeld unter einem Dach. Dort hatten sie Haushaltsunterstützung durch eine Zeugin Jehovas, für die Sievers monatlich 25 RM an das KZ Ravensbrück zahlte.30 Zeitzeugen betonen Sie-

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vers’ Religiosität, seine Fürsorglichkeit gegenüber Mitarbeitern, das harmonische Familienleben und seine Musikalität. Sievers spielte Cello und Clavichord. Wolfram Sievers war durch sein Organisationsgeschick und seinen Fleiß, seinen Opportunismus und Ehrgeiz ein typischer Vertreter der „Generation des Unbedingten“.31 Als „Prototyp des neuen Schlages der Schreibtischmörder“ stand er in einer Reihe mit einem Adolf Eichmann.32

Julien Reitzenstein

1 BArch, NS 21/694 Personalakte Sievers, Erklärung ohne Datum. 2 BArch, SSO 127 B Personalakte Sievers, Zeugnis der Firma Berthold Pokrantz vom 15.10.1928. 3 Ebd., Zeugnis des Industrieverlages vom 31.12.1930. 4 Michael Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1974, S. 28. 5 BArch, SSO 127 B Personalakte Sievers, Zeugnis der Kling-Film GmbH vom 20.4.1942. 6 Schmidt, Hielscher, S. 246. 7 Ebd., SSO 137 B Personalakte Sievers, Lebenslauf vom 24.10.1934, Lebenslauf nach dem 6.2.1944, Zeugnis des Württembergischen Jungbauernbundes vom 26.6.1933. Vgl. Kater, Ahnenerbe, S. 29, 367. 8 BArch, NS 21/30, Lebenslaufformular vom 1.10.1938. Dort gab Sievers als Eintrittsdatum den 1.9.1928 an. 9 BArch, SSO 137 B Personalakte Sievers, Beförderungsvorschläge ohne Datum, Zeitraum zwischen 31.1.1933 und 18.10.1944. Vgl. ebd., DS G 138 Personalakte Sievers, Lebenslauf nach dem 6.2.1944; ebd., NS 21/30, Lebenslauf Sievers vom 1.10.1938. 10 Amtsgericht Charlottenburg von Berlin, Vereinsregister, 95 VR 7996. 11 BArch, RS F 5322 Personalakte Sievers, Schreiben von Dr. Alfred Mischke an Sievers vom 26.08.1938. 12 Ebd., NS 21/28, jährliche Bewilligungsschreiben der DFG an die Ahnenerbe-Stiftung. 13 Ebd., 567, Prüfbericht des Wirtschaftsprüfers Dr. Hohmann vom 31.3.1940, ebd., BDC SSO 149 A; Kaiser, Beförderungsbericht vom 2.3.1939, ebd., RS D 134; Komanns, Personalbogen ohne Datum, jedoch erstellt zwischen 1.1.1940 und 15.6.1940, sowie Aufnahmebestätigung ohne Datum, handschriftlich unterfertigt vom Leiter des SS-Personalhauptamtes, Schmitt. 14 BArch, DS G 138 Personalakte Sievers, Sievers an Himmler vom 3.4.1941. 15 Ebd., NS 21/127 Diensttagebuch Sievers vom 16.6.1941. 16 Ebd., Diensttagebuch Sievers vom 23.7.1941. 17 BArch, NS 21/845 Personalakte Rascher, Schreiben von Sievers an Brandt vom 9.3.1942. 18 Ebd., SSO 137 B Personalakte Sievers, Himmler an Sievers vom 8.8.1942. 19 Ebd., DS G 138 Personalakte Sievers, Sievers an VoMi vom 8.4.1941. 20 Niels Bohr Library & Archives, Folder 26, Box 24, Samuel A. Goudsmit papers, Vorblatt und Liste der Mitglieder der Wehrforschungsgemeinschaft des Reichsforschungsrates, S. 27ff. 21 BArch BDC G 114 Boseck, Vermerk von Sievers vom 28.07.1944 22 BArch, SSO 137 B Personalakte Sievers, Schreiben vom Persönlichen Stab, Hauptabteilung Orden und Gäste an Sievers vom 20.3.1943, mit Annahmegenehmigung bzgl. des Spanischen Ordens; ebd., DS G 138 Personalakte Sievers, Lebenslauf nach dem 6.2.1944; ebd., SSO 137 B Personalakte Sievers, Verleihungsurkunde mit Unterschrift Himmlers vom 30.1.1944. 23 BArch, DS G 138 Personalakte Sievers, Lebenslauf nach dem 6.2.1944. 24 BArch, SSO 137 B Personalakte Sievers, von Brandt an v. Herff vom 18.10.1944.

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25 Schmidt, Hielscher, S. 252. 26 Ärzteprozess, S. 5838, Vernehmung Sievers vom 11.4.1947 mit Verweis auf Sievers-Exhibit Nr. 29 vom 21.1.1947. Vgl. IfZ, ZS A 0025 01–462 Sammlung Michael H. Kater („Ahnenerbe“), Gedächtnisprotokoll des Gespräches von Kater mit Herbert Jankuhn vom 14.5.1963, S. 183f. 27 Die Mechanismen, die Ian Kershaw in seiner Hitler-Biographie als „dem Führer entgegen arbeiten“ definierte und Bernhard Gotto für die Ebene der Gauleiter im Wesentlichen bestätigte, fanden parallel auf der nachgelagerten Ebene von Persönlichem Stab und Ahnenerbe statt. 28 Kater, Ahnenerbe, S. 307. 29 Flachowsky, Sören, „Sievers, Wolfram“ in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 392–393 [Online-Version]; https://www.detsche-biographie.de/gnd117375756.html_ndbconten 30 BArch, NS 21/505, Rechnung KL Ravensbrück an Sievers vom 06.09.1943 mit Zahlungsvermerken Wolffs und Überweisungsbeleg zu Lasten Sievers’. 31 Vgl. Michael Wildt, Generation des Unbedingten, Hamburg 2002. 32 Bettina Stangneth (Hg.), Avner Werner Less: Lüge! Alles Lüge! Aufzeichnungen des EichmannVerhörers. Rekonstruiert von Bettina Stangneth, Hamburg 2012, S. 222.

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Franz Alfred Six Neben dem Staatsrechtler Reinhard Höhn war Franz Alfred Six der einflussreichste Hochschulpolitiker des Sicherheitsdienstes der SS (SD). Six steht paradigmatisch für eine politische und politisierte Geisteswissenschaft nationalsozialistischer Prägung. Dies schlug sich nicht zuletzt darin nieder, dass Six und seine wissenschaftlichen Mitarbeiter in der Regel im „politischen Einsatz“ bei einer der zahllosen Dienststellen NS-Deutschlands standen. Beim SD beziehungsweise innerhalb des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) lag Sixʼ Hauptarbeitsgebiet in der mit wissenschaftlichem Anspruch auftretenden „Gegnerforschung“, von der er sich jedoch Ende 1939/Anfang 1940 weitgehend zurückzog, um zum mit außerordentlichen Vollmachten ausgestatteten Gründungsdekan der Auslandswissenschaftlichen Fakultät an der Berliner Universität zu avancieren. Unter Beibehaltung dieser Funktion beendete Six seine Karriere im „Dritten Reich“ als Leiter der Kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes. Seinem Selbstverständnis nach war er sowohl NS-Aktivist als auch Wissenschaftler, dessen Spezialität in der Forcierung supradisziplinärer Einheiten lag, die sich unter weitgehender inhaltlicher Entgrenzung auf Staatsforschung und →Deutsche Auslandswissenschaft konzentrierten. Sixʼ Bedeutung liegt nicht zuletzt in seiner Rolle beim Prozess der Institutionalisierung politikwissenschaftlicher Auslandsstudien in Deutschland, wenngleich die „braunen Wurzeln“ der deutschen Politikwissenschaft bisher nur teilweise aufgearbeitet worden sind.1 Sixʼ atemberaubende Karriere, basierend auf einem selbst für die Verhältnisse der Zeit überaus dürftigen wissenschaftlichen Output, illustriert die Chancen, die ein ehrgeiziger und von den Machtzentralen geförderter junger Mann innerhalb des NS-Staates nutzen konnte.2 Am 12. August 1909 in Mannheim als Sohn eines Möbelhändlers geboren, nahm Six 1930 in Heidelberg das Studium der Sozial- und Staatswissenschaften, der Neueren Geschichte sowie der Zeitungswissenschaft auf. Seit Mai 1933 war er am Heidelberger Institut für Zeitungswesen als Hilfsassistent beschäftigt. 1934 promovierte Six mit einer mageren Schrift über die Propaganda der NSDAP.3 Bereits 1936 gelang ihm mit einer ebenso fragwürdigen Arbeit die Habilitation.4 Mit dem Wintersemester 1935/36 trat Six seine Lehrtätigkeit an der Universität Königsberg an, mit welcher der Aufbau eines zeitungskundlichen Instituts verbunden war. Hierbei befasste er sich vorrangig mit der organisatorischen Institutionalisierung des jungen Fachs, trug aber zu dessen Fragestellungen, Gegenständen und Methoden kaum etwas bei. 1938 erfolgte seine Ernennung zum außerordentlichen Professor für Politische Wissenschaften. War schon Sixʼ Studium von seiner Betätigung als nationalsozialistischer Studentenfunktionär kaum zu trennen, so verschmolz Mitte der 30er Jahre seine wissenschaftliche Tätigkeit vollends mit seiner Rolle als hauptamtlicher Funktionär des SD. Von Höhn vermittelt, wurde Six im Juli 1935 Chef des Amtes für Presse und Schrifttum innerhalb des SD-Hauptamtes unter Reinhard Heydrich. Der SD verstand sich als nationalsozialistische Elite, die nicht nur die besten Analysen liefern wollte,

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sondern auch erfolgreiche politische Konzepte, in denen sich Rationalität mit extremer Radikalität in der Zielsetzung verband. Six stellte die Schrifttumsauswertung um auf eine systematische, nachrichtendienstliche Analyse der Printmedien, über deren Tendenzen regelmäßig Lageberichte vorgelegt wurden. In dieser umfassenden Querschnittsaufgabe erblickte Six den Schlüssel zur Überwachung aller „Lebensgebiete“ der Nation, wobei es über die Erkundung organisatorischer Zusammenhänge hinaus die Substanz beziehungsweise die historisch-geistigen Wurzeln des Gegners und dessen verborgenes Wirken zu untersuchen galt. Six, seit April 1937 Leiter der Zentralabteilung „Weltanschauliche Auswertung“ des SD-Hauptamtes, oblag es, potenzielle Gefahren für den Nationalsozialismus frühzeitig zu erkennen.5 Seine „wissenschaftliche Gegnerforschung“ bestand aus der Anlage von Karteimitteln, die es erlaubten, Gegner „wesensmäßig“ zu begreifen, zu beschreiben und zu vernichten. Als zeitweiliger Vorgesetzter Adolf Eichmanns, der in dieser Zeit mit dem Aufbau einer reichsweiten Judenkartei begann, prägte Six entscheidend die SD-Judenpolitik dieser Jahre, die unter ihm an Dynamik, Radikalität und Systematik zunahm.6 Dabei beanspruchte er gegenüber der Gestapo die Federführung.7 De facto bald Chef des Inland-SD, erreichte seine SD-Karriere 1938 ihren vorläufigen Höhepunkt. Beim Anschluss Österreichs bestand die Aufgabe des Standartenführers Six in der Sicherstellung von Schriftgut politischer Gegner, das ins Altreich überführt und ausgewertet wurde. Solcherart als Heydrichs Experte für Gegnerarchive und Aktenbeschlagnahmungen ausgewiesen, wurde Six während des Weltkrieges für ähnliche Spezialeinsätze in Großbritannien und der Sowjetunion („Vorkommando Moskau“) vorgesehen. Einschlägige Erfahrungen auf diesem Gebiet hatte Six bereits 1937 sammeln können, als ihm die Übernahme der Bibliotheksbestände des Breslauer Osteuropa-Instituts glückte, die den Grundstock für ein Ostforschungsinstitut unter der Kontrolle des SD abgaben und in eine als →Wannsee-Institut bezeichnete Einrichtung unter der Ägide Sixʼ transferiert wurden.8 Während bei der Gründung des RSHA im September 1939 die Gegnerforschung noch stärker berücksichtigt wurde (Six wurde Chef des Amtes II beziehungsweise – nach einer Umgliederung – VII9), rückten mit der Ausweitung des Krieges exekutive, nachrichtendienstliche Aufgaben in den Vordergrund. Sixʼ ausufernder geistesgeschichtlicher Ansatz, der ihn zu nichts weniger als einem „wissenschaftlichen Führer-Berater“10 machen sollte, wurde obsolet. Wohl stimmte seine (gemeinsam mit Höhn und Otto Ohlendorf schon Mitte der 30er Jahre durchgeführte) Analyse, die weltanschaulichen Gegner seien entweder ins Ausland geflüchtet oder in der „→Volksgemeinschaft“ abgetaucht, so dass sie nur durch eine intensive Beobachtung aller „Lebensgebiete“ der Nation aufgespürt werden könnten. Von dieser Ausweitung des zu observierenden Feldes, welche das ursprüngliche SD-Konzept der Ausspionierung deklarierter Gegner weit hinter sich ließ, profitierte in erster Linie der auf praktische Verwertbarkeit bedachte Ohlendorf, während Six mit seinen weitschweifigen Analysen mehr und mehr ins Abseits geriet.11 Gleichwohl bleibt es erstaunlich, dass noch 1939/40 ein solches der reinen akademischen Forschungsar-

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beit beziehungsweise der Grundlagenforschung für die exekutiven Teile des RSHA gewidmetes Amt überhaupt eingerichtet wurde.12 Six leistete gegen die drastische Beschneidung seines Kompetenzbereiches, wie sie sich u.a. im Ausscheren des ihm bislang unterstellten Wannsee-Instituts Ende 1940 spiegelt, kaum Widerstand, war er doch bereits seit einer Weile bestrebt, seine Karriere auf akademischem Boden zu krönen, ohne freilich seine Stellung im RSHA zunächst gänzlich aufzugeben und ohne den von ihm herbeigeführten engen Konnex zwischen SD und Hochschule aufzulösen. Für diese Verzahnung war typisch, dass Sixʼ Referenten die Lage ganzer Wissenschaftszweige evaluierten und sämtliche Vertreter der jeweiligen Fächer hinsichtlich ihrer politischen Zuverlässigkeit qualifizierten.13 Die seit Beginn seiner Karriere angestrebte Zwitterstellung ermöglichte Six den Aufbau einer Entourage von Hilfswerkern und Ghostwritern, ohne deren Zuträgerdienste es ihm unmöglich gewesen wäre, seine unzähligen Funktionen an mehreren geographisch weit entfernten Orten mit einem auf den ersten Blick beeindruckenden wissenschaftlich-publizistischen Schaffen unter einen Hut zu bringen. Charakteristisch für Sixʼ rastlosen Aktivismus war zum einen seine Begabung, bestehende Institutionen wie die Zeitschrift Volk im Werden, deren Schriftleitung er von 1936 bis 1938 übernahm, oder den SS-Forschungsverbund →Ahnenerbe e.V.14 für eigene Zwecke einzuspannen, zum anderen sein meist erfolgreiches Streben, völlig neue, ganz auf seine Person zugeschnittene, mehr oder minder wissenschaftlich verbrämte Institutionen ins Leben zu rufen. Six verschrieb sich niemals gänzlich einem der konkurrierenden Machtträger des Regimes, sondern verfolgte spätestens seit seiner Promotion mehrere Optionen, die ihm die maximale Entfaltung seiner Karriere garantierten. Zwischen diversen einflussreichen Protektoren lavierend, ließ er etablierte Kontakte niemals abreißen, wenngleich ihn die Vielzahl der von ihm übernommenen Verpflichtungen mehr und mehr an die Grenzen seiner Arbeitskapazität führte. In der Überspannung seiner Kräfte liegt wohl auch die Erklärung dafür, dass er nicht alle seine weitgespannten Ziele erreichte. So missglückte etwa sein Anfang 1939 detailliert ausgearbeiteter Plan, ihn mit der Leitung eines neuen „Reichsinstituts für politische Geistes- und Zeitgeschichte“ zu betrauen. Auch ohne ein solches Institut verfügte Six über vielfältige Möglichkeiten, sich allerorten als Berater in Weltanschauungsfragen zu profilieren und zu einer Zentralfigur der sich herausbildenden Deutungselite der nationalen wie internationalen Gegnerforschung zu avancieren. Ab Kriegsbeginn stand die Bekämpfung ausländischer Gegner naturgemäß im Mittelpunkt des Interesses. Die Ausweitung des deutschen Herrschaftsbereiches erhöhte den Bedarf an einschlägig ausgebildeten Experten schlagartig. Diese Faktoren mündeten in Überlegungen, die als eigenständige Disziplin zu konstituierende „Auslandskunde“ institutionell zu verankern. Six gelang es mit massiver Unterstützung durch Heydrich, dem Reichswissenschaftsministerium die Etablierung einer eigenen Auslandswissenschaftlichen Fakultät (AWI-Fakultät) im Rahmen der Universität Berlin abzuringen. In die neue Fakultät wurden Ende 1939/Anfang 1940 ne-

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ben Teilen der Geisteswissenschaftlichen Fakultät mehrere bislang unabhängige Institutionen wie die Deutsche Hochschule für Politik überführt.15 Der 30-jährige Six avancierte zum Ordinarius für Auslandskunde und zum mit besonderen Steuerungsbefugnissen in Forschung und Lehre ausgestatteten Dekan auf Lebenszeit – eine im deutschen Hochschulwesen einzigartige Laufbahn. Damit nicht genug, initiierte Six gleichzeitig die Gründung eines Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts (DAWI), zu dessen Präsidenten er postwendend ernannt wurde. 1942 wurde das DAWI aus der Universität herausgelöst und in ein Reichsinstitut umgewandelt. Unter expliziter Anlehnung an ausländische Vorbilder wie das Londoner Royal Institute of International Affairs oder das Council of Foreign Relations in New York – von deren empirischer Sozialforschung Six freilich keine Ahnung hatte – wies er seinem DAWI die Aufgabe zu, „eine Art politischer Geländekunde für das Reich“ zu erarbeiten.16 Charakteristisch war mithin eine spezifische Kombination außenpolitischer Grundwissenschaften mit spezialisierter Sprach- und Landeskunde, eine „totale →Volkskunde“ oder „totale Volksforschung“, welche die einzelnen Grundwissenschaften bei der Anwendung auf spezifische Länder integrieren sollte. Zu nennenswerten Ansätzen echter Politikberatung kam es jedoch nicht. Es blieb bei der Herausgabe anwendungsorientierter Hand- und Wörterbücher, wobei jene aus den Arbeitsgebieten Politische Geistesgeschichte und →Ostforschung für den SS-Komplex von besonderem Interesse waren.17 Six war unermüdlich bestrebt, Bedeutung und Leistungen der von ihm geleiteten Institutionen durch eine aufwendige Publikationstätigkeit zu untermauern. Neben der Zeitschrift für Politik erfüllten unter anderem Jahrbücher diesen Zweck. 1940 noch als Jahrbuch der Hochschule für Politik erschienen, fungierte Six ab dem folgenden Jahr als Alleinherausgeber des nunmehrigen Jahrbuchs für Politik und Auslandskunde, das 1942 in Jahrbuch der Weltpolitik umbenannt wurde und dessen letzter, dem Jahr 1943 gewidmeter und mehr als 1.100 Seiten starker Band noch 1944 zur Auslieferung gelangte. Six steuerte jeweils ein Vorwort sowie einen Tätigkeitsbericht18 und fallweise einen größeren Aufsatz bei.19 Mit dem Auswärtigen Amt, seinem nächsten Dienstherrn, war Six bereits 1942 in Verbindung getreten, als dieses die AWI-Fakultät zur Ausbildung des diplomatischen Nachwuchses heranziehen wollte. Im selben Jahr ersuchte Reichsaußenminister Joachim v. Ribbentrop den Reichsführer-SS Heinrich Himmler, ihm einige befähigte SS-Führer zur Verfügung zu stellen. Six nutzte die Gelegenheit, um dem RSHA endgültig den Rücken zu kehren und wechselte im März 1943 auf den lukrativen Posten des Leiters der Kultur- und Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes; bald darauf wurde er zum Gesandten I. Klasse ernannt. Hingegen legte er Ende 1943 seine Funktion als Dekan zurück.20 Six verkörperte in Personalunion die engen Verquickungen zwischen der AWI-Fakultät, dem DAWI, dem Auswärtigen Amt und seinen Deutschen Wissenschaftlichen Instituten.21 Letztere waren ab 1940 in den besetzten, verbündeten und neutralen Ländern als repräsentative Stützpunkte deutscher Kulturpropaganda gegründet worden.

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Sixʼ Wechsel ins Auswärtige Amt vorausgegangen war das Scheitern seiner Konzeption, innerhalb des RSHA ein zentrales Forschungsamt vornehmlich für Auslandsfragen zu errichten; spätestens im Frühjahr 1943 hatte sich der Chef des Auslands-SD Walter Schellenberg gegen Six durchgesetzt. Dieser konnte auch seine Absicht, das DAWI systematisch in die Arbeit des SD einzubeziehen, nicht verwirklichen.22 In den letzten zwei Kriegsjahren nutzte Six seine Stellung zu einer umfangreichen, mit Vorträgen verbundenen Reise- und Inspektionstätigkeit. Bei allen seinen disparaten Funktionen umgab er sich mit einem harten Kern bewährter Mitarbeiter, die er großteils schon von seinem studentenpolitischen Engagement her kannte und die ihm vom SD über die Berliner Universität bis ins Auswärtigen Amt folgten. Am 30. Januar 1945 noch zum SS-Brigadeführer befördert, setzte sich Six im April 1945 in den süddeutschen Raum ab. Nachdem er einige Monate unter falschem Namen untergetaucht war, wurde er von einem Spitzel verraten und im Januar 1946 verhaftet. 1947 fand er sich als Angeklagter im Fall IX der Nürnberger Nachfolgeprozesse, dem sogenannten Einsatzgruppenprozess. Neben seiner mit einem Generalsrang verbundenen Zugehörigkeit zur SS, einer bereits als verbrecherisch eingestuften Organisation, wurde ihm zur Last gelegt, im Zuge seines kurzen Gastspiels als Führer des „Vorkommandos Moskau“ im Spätsommer 1941 an den Massenexekutionen der Einsatzgruppe B mitgewirkt zu haben. Obwohl das Gericht diesen Vorwurf als nicht zweifelsfrei erwiesen ansah, erhielt Six im April 1948 eine 20-jährige Haftstrafe, die später auf die Hälfte herabgesetzt wurde.23 Die vorzeitige Entlassung aus der Festung Landsberg erfolgte im November 1952. Ab dem folgenden Jahr bereits wirkte er als Verlagsgeschäftsführer bei C.W. Leske in Darmstadt, seit 1957 als Werbeleiter bei Porsche-Diesel in Friedrichshafen. Beide Anstellungen waren ihm von alten Kameraden vermittelt worden. Später wurde er selbstständiger Unternehmensberater, unterrichtete an Reinhard Höhns Harzburger Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft und veröffentlichte 1968 ein Lehrbuch „Marketing in der Investitionsgüterindustrie.“ Politisch nicht mehr hervorgetreten, verbrachte Six nach zweimaliger Ehescheidung seinen Lebensabend in Südtirol, wo er am 9. Juli 1975 in Bozen (Bolzano) verstarb und in Kaltern (Caldaro) beigesetzt wurde.

Werner Augustinovic/Martin Moll

1 Gideon Botsch, „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Deutschen Auslandswissenschaften“ im Einsatz 1940–1945, Paderborn 2006, S. 14–32, 229–233. 2 Vgl. Regina Urban/Ralf Herpolsheimer, Franz Alfred Six (geb. 1909), in: Arnulf Kutsch (Hg.), Zeitungswissenschaftler im Dritten Reich. Sieben biographische Studien, Köln 1984, S. 169–213; Lutz Hachmeister, Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998. 3 Franz Alfred Six, Die politische Propaganda der NSDAP im Kampf um die Macht, Heidelberg 1936. 4 Ders., Die Presse der nationalen Minderheiten in Deutschland, Habil-Schrift, Heidelberg 1936. 5 Wolfgang Dierker, Himmlers Glaubenskrieger. Der Sicherheitsdienst der SS und seine Religionspolitik 1933–1941, Paderborn 2002, S. 56, 278ff.

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6 Hachmeister, Gegnerforscher, S. 186. 7 Michael Wildt (Hg.), Die Judenpolitik des SD 1935 bis 1938. Eine Dokumentation, München 1995, S. 36ff. 8 Gideon Botsch, „Geheime Ostforschung“ im SD. Zur Entstehungsgeschichte und Tätigkeit des „Wannsee-Instituts“ 1935–1945, in: ZfG 48 (2000), S. 509–524, 510, 523; ders., Der SD in BerlinWannsee 1937–1945. Wannsee-Institut, Institut für Staatsforschung und Gästehaus der Sicherheitspolizei und des SD, in: Villenkolonien in Wannsee 1870–1945. Großbürgerliche Lebenswelt und Ort der Wannsee-Konferenz, Berlin 2000, S. 70–95. 9 Jörg Rudolph, „Sämtliche Sendungen sind zu richten an …“ Das RSHA-Amt VII „Weltanschauliche Forschung und Auswertung“ als Sammelstelle erbeuteter Archive und Bibliotheken, in: Michael Wildt (Hg.), Nachrichtendienst, politische Elite und Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, Hamburg 2003, S. 204–240. 10 Hachmeister, Gegnerforscher, S. 212. 11 Vgl. Jürgen Matthäus, „Weltanschauliche Forschung und Auswertung“. Aus den Akten des Amtes VII im Reichssicherheitshauptamt, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 5 (1996), S. 287– 330. 12 Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 364, 412; Dierker, Glaubenskrieger, S. 328–332. 13 Joachim Lerchenmüller, Die Geschichtswissenschaft in den Planungen des Sicherheitsdienstes der SS. Der SD-Historiker Hermann Löffler und seine Denkschrift „Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland“, Bonn 2001. 14 Michael H. Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, München 20013, S. 69. 15 Ernst Haiger, Politikwissenschaft und Auslandswissenschaft im „Dritten Reich“. (Deutsche) Hochschule für Politik 1933–1939 und Auslandswissenschaftliche Fakultät der Berliner Universität 1940–1945, in: Gerhard Göhler (Hg. u.a.), Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft, Baden-Baden 1991, S. 94–136; ders., Deutsche Hochschule für Politik, Auslandswissenschaftliche Fakultät und Deutsches Auslandswissenschaftliches Institut in der Bauakademie, 1920–1945, in: Frank Augustin (Hg.), Mythos Bauakademie. Die Schinkelsche Bauakademie und ihre Bedeutung für die Mitte Berlins, Berlin 19982, S. 91–100; Botsch, „Politische Wissenschaft“, S. 33–117. 16 Hachmeister, Gegnerforscher, S. 131. 17 Erich Siebert, Die Ostforschung an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Berliner Universität in den Jahren 1940–1945, in: Informationen über die imperialistische Ostforschung 5 (1965), S. 1–34. 18 Auch in Zeitschrift für Politik 31 (1941), S. 733–739; ebd. 32 (1942), S. 823–827; ebd. 33 (1943), S. 512–517. 19 Franz Alfred Six, Die Weltpolitik im Jahre 1943, in: Jahrbuch der Weltpolitik 1944 (1944), S. 13– 41. Vgl. das vollständige Publikationsverzeichnis bei Botsch, „Politische Wissenschaft“, S. 308–326. 20 Hans-Jürgen Döscher, Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der „Endlösung“, Berlin 1987, S. 193, 196; Botsch, „Politische Wissenschaft“, S. 74. 21 Frank-Rutger Hausmann, „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht“. Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im zweiten Weltkrieg, Göttingen 2001; Eckard Michels, Das Deutsche Institut in Paris 1940–1944. Ein Beitrag zu den deutsch-französischen Kulturbeziehungen und zur auswärtigen Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1993; Manfred Jakubowski-Tiessen, Kulturpolitik im besetzten Land. Das Deutsche Wissenschaftliche Institut in Kopenhagen 1941 bis 1945, in: ZfG 42 (1994), S. 129–138. 22 Botsch, „Politische Wissenschaft“, S. 178. 23 Fall 9. Das Urteil im SS-Einsatzgruppenprozeß, Berlin 1963.

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Heinrich Ritter von Srbik Heinrich (Ritter von) Srbik (1878–1951) wird in der Literatur häufig als der „größte“, „bedeutendste“ oder „prominenteste“ österreichische Historiker des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Üblicherweise wird er trotz seiner Mitgliedschaft in der NSDAP (ab Frühjahr 1938) als in Wirklichkeit nicht nationalsozialistischer, bloß konservativer Idealist gezeichnet, der den Nationalsozialisten allenfalls nur für kurze Zeit und dann allein infolge eigener Weltfremdheit und Gutgläubigkeit nahegestanden sei. Demgegenüber hat jüngst die Verfasserin Srbik als einen – sich hinter der Maske eines naiven Altruisten verbergenden – kühl kalkulierenden, niemals vertrauenswürdigen Machtmenschen und durchaus typischen Nationalsozialisten zu erweisen versucht.1 In Wien wurde er als Student in einer dem Gedankengut des Proto-Nationalsozialisten Georg Ritter von Schönerer verpflichteten Burschenschaft akademisch sozialisiert. Aufgrund von Publikationen, die keinerlei Bezug zur zeitgenössischen politischen und sozialen Realität aufwiesen, Extraordinarius für Allgemeine Geschichte (1912) und schließlich Ordinarius für Neuere und Wirtschaftsgeschichte (1917) in Graz, bildete er jedenfalls die Grundzüge seiner „gesamtdeutschen Geschichtsauffassung“ wohl schon ebenda gleich nach Kriegsende aus. Diese besagte, dass ein einziges Deutsches Reich als Hegemon alle Länder mit einer deutschsprachigen Minderheit zu „führen“ hatte, was nicht etwa nur die Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie, sondern auch die nunmehrige Sowjetunion und die baltischen Staaten betraf. Die spätere Kriegspolitik der Nationalsozialisten hätte sich also durchaus auf diese Srbik-Doktrin berufen können, doch kannte Hitler von Srbik offenbar nicht einmal den Namen. 1922 wurde Srbik schließlich als Ordinarius für Geschichte an die Universität Wien berufen. Wenig später, im Jahr 1925, erlangte er durch eine ebenso umfängliche wie inhaltlich bahnbrechende Monographie über Metternich den Status eines Mandarins in der internationalen Historikerzunft – und Popularität auch bei dem gerade erst durch eine Hyperinflation verarmten und durch die Möglichkeit einer auf der Grundlage demokratischer Wahlen zustande kommenden sozialdemokratischen „Diktatur des Proletariats“ in Angst versetzten österreichischen Bürgertum. Wohl speziell im Hinblick auf dieses Zielpublikum wie auch generell aus Profilierungsgründen zeichnete er als erster Historiker ein im Wesentlichen positives Bild von diesem zuvor kaum anders denn als bête noire wahrgenommenen Staatsmann; solche Würdigung galt freilich nur dem Feind der Revolution und der Demokratie, der Gegner eines deutschen Nationalstaates ist von dem unverändert einen völkischen Standpunkt einnehmenden Srbik sehr wohl kritisiert worden.2 Der Wiener Universitätsprofessor Srbik wurde schon bald nach seinem Amtsantritt Mitglied im von Klaus Taschwer aufgedeckten konspirativen Zirkel „Bären-Höhle“3; dieser bestand aus insgesamt 18 katholisch-konservativen und deutschnationalen Professoren, die die akademische Karriere von linksgerichteten Nachwuchswissenschaftlern vorwiegend jüdischer Herkunft zu verhindern trachteten. Auch im Rahmen der akademischen Selbstverwaltung und als Unterrichtsmi-

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nister agierte er – wenngleich unspektakulär – stets zugunsten (proto)nazistischer und antisemitischer Anliegen.4 Gleichzeitig legte er aber als Historiker gegenüber linksgerichteten und/oder jüdischen Studenten und Kollegen nach außen hin eine peinlich korrekte Attitüde an den Tag. Nach dem Machtantritt der NSDAP im Deutschen Reich verhielt er sich dann ganz anders als damals in Österreich wirkende Publizisten vom Schlag eines Dietrich von Hildebrand, Ernst Krenek, Karl Kraus oder Ernst Karl Winter, die man sinnvollerweise nur als Konservative bezeichnen kann. Während diese nun mehr denn je für eine Eigenstaatlichkeit Österreichs eintraten und dabei für Dollfuß und/oder Otto von Habsburg optierten, intensivierte Srbik nun im akademischen Unterricht ebenso wie in seinen Publikationen seine Propaganda für einen „Anschluss“ und stellte sich etwa 1935 zur Empörung vieler konservativer Historikerkollegen wie Gerhard Ritter als „Renommierfachmann“ →Walter Franks Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands zur Verfügung. Dementsprechend ist Srbik sowohl vom österreichischen Schuschnigg-Regime wie eben auch etwa von Gerhard Ritter schlicht als Vertrauensmann der Nationalsozialisten angesehen worden. Gleich nach dem „Anschluss“ publizierte er eine Fülle von euphorischen Zeitungsartikeln und betrieb auch aktiv seine Aufnahme in die NSDAP, die dann schon per 1. Mai 1938 erfolgte. Auf Betreiben seines Freundes Arthur Seyß-Inquart (den er in dessen Zeit als Reichskommissar für die besetzten Niederlande ebenda samt seiner Frau besuchte) wurde er (durch eine Wahl bestätigter) Präsident der Akademie der Wissenschaften in Wien und Mitglied des großdeutschen Reichstags. Freilich machte seine Begeisterung schon bald einer gewissen Ernüchterung Platz, als er zur Einsicht gelangte, dass es sich in beiden Fällen um rein dekorative Posten handelte. Gleichwohl hat er den Nationalsozialismus in seinen wichtigsten Grundzügen weiterhin uneingeschränkt unterstützt. Er äußerte sich nun nicht mehr nur wie bisher privat, sondern auch in „wissenschaftlichen“ Publikationen offen antisemitisch, begrüßte den Überfall auf die Sowjetunion, wobei er der russischen Bevölkerung in Akademiereden zunächst (da auch bei ihr „das rein Vegetative, Triebhafte“ vorherrsche) noch den Status von Pflanzen, wenn nicht sogar Tieren, schließlich aber nur mehr jenen von Maschinen („Kampf der Seele gegen die Maschine“) zuerkannte, und befürwortete auch noch nach 1945 einen „nicht marxistisch-orthodoxen“ (am ehesten „abendländischen“) Sozialismus. Schon Anfang März 1945 begab er sich angesichts der auf Wien vorrückenden Roten Armee auf seinen Tiroler Zweitwohnsitz in Ehrwald; aus diesem selbstgewählten „Exil“ sollte er nie mehr nach Wien zurückkehren. Zunächst vom Dienst enthoben und aller staatlicher Bezüge verlustig, wurde er schließlich 1948 in den dauernden Ruhestand versetzt. In diesem letzten Lebensabschnitt ist Srbik mehr denn je publizistisch tätig gewesen, insbesondere ist das zweibändige Werk „Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart“ zu nennen, in welchem er den Nationalsozialismus (ungeachtet einiger oberflächlicher Distanzierungen) in den Augen seiner Leser gewiss überwiegend positiv beurteilt hat (vgl. etwa dessen Bezeichnung als „der große Rückschlag gegen Liberalismus und Christentum, internationa-

Heinrich Ritter von Srbik  781

len Sozialismus, Kommunismus und Judentum“). Der zweite Band erschien dabei erst postum, nach seinem Tod am 16. Februar 1951. Bis zuletzt ließ Srbik keine Reue für die von ihm zwischen 1933 und 1945 eingenommene Rolle erkennen und zeigte für die ihm nach 1945 zuteilgewordenen Zurücksetzungen keinerlei Verständnis.

Martina Pesditschek

1 Am ausführlichsten in Martina Pesditschek, Heinrich (Ritter von) Srbik (1878–1951). „Meine Liebe gehört bis zu meinem Tod meiner Familie, dem deutschen Volk, meiner österreichischen Heimat und meinen Schülern“, in: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker. Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Bd. 2, Wien u.a. 2012, S. 263–328; zu Teilbereichen vgl. dies., Heinrich (von) Srbik (1878– 1951) und die Wiener Akademie der Wissenschaften, in: Johannes Feichtinger (Hg. u.a.), Die Akademie der Wissenschaften in Wien 1938 bis 1945. Katalog zur Ausstellung, Wien 2013, S. 37–46; englisch: Heinrich (von) Srbik (1878–1951) and the Academy of Sciences, in: Johannes Feichtinger (Eds. et al), Translation from German Nick Somers, Cynthia Peck-Kubaczek, The Academy of Sciences in Vienna 1938 to 1945, Wien 2014, S. 35–43; dies., Heinrich (Ritter v.) Srbik – Professor für Geschichte, Unterrichtsminister, Reichstagsabgeordneter im Nationalsozialismus, in: Mitchell Ash (Hg. u.a.), Universität, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, I: Die Universität Wien als Ort der Politik seit 1848, Teil 2: Angehörige die Universität Wien als politische Akteure: politisches Handeln „außerhalb“ und machtpolitisches Handeln „innerhalb“ der Universität, Wien 2015, S. 151–158; dies., Heinrich (von) Srbik, in: Elisabeth Grabenweger/Annegret Pelz (Hg.), Die Antrittsvorlesung. Wiener Universitätsreden der Philosophischen Fakultät, Wien 2017, (1878–1951). Metternichs Plan einer Neuordnung Europas (1922). Alle Angaben und Urteile des vorliegenden Eintrags werden – wenn nicht anders angegeben – hier ausführlich belegt bzw. begründet. 2 Vgl. Wolfram Siemann, Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, München 2016, S. 21– 30. 3 Grundlegend Klaus Taschwer, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien 2015, S. 102–127. 4 Vgl. Walter Höflechner, Die Baumeister des künftigen Glücks. Fragment einer Geschichte des Hochschulwesens in Österreich vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis in das Jahr 1938, Graz 1988, passim; Taschwer, Hochburg, S. 136f.

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Wilhelm Stapel Wilhelm Stapel, Sohn eines Uhrmachers, wurde am 27. Oktober 1882 in Calbe an der Milde geboren. Seine schulische und berufliche Ausbildung verlief unstet: Den 1892 begonnenen Besuch des Humanistischen Gymnasiums in Salzwedel brach Stapel 1898 ab, um eine Lehre als Buchhändler zu absolvieren. Im Anschluss daran kehrte er 1901 zurück ans Gymnasium und studierte nach bestandenem Abitur Kunstgeschichte, Philosophie und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Göttingen, München und Berlin. Ein zudem begonnenes Studium der Theologie brach Stapel ab. Nach erfolgreicher Promotion im Bereich der Kunstgeschichte1 begann Stapel im Frühjahr 1911 seinen journalistischen Werdegang: Erste Station war die Stuttgarter Tageszeitung Der Beobachter, ein damals der Fortschrittlichen Volkspartei verpflichtetes Blatt. Entsprechend standen auch Stapels Beiträge für den Beobachter „unter ausgesprochen linksliberale[n] Vorzeichen“2. Doch schon im November 1911 folgte Stapel einem Angebot aus Dresden und wurde Mitarbeiter der bedeutenden Kulturzeitschrift Der Kunstwart unter Ferdinand Avenarius, in dessen Dürerbund er sich zudem engagierte.3 Ebenso, wie sich die politisch-ideologische Haltung des Kunstwart je nach Beitrag stark unterschied, changierte auch Stapels Denken vor dem Ersten Weltkrieg zwischen sehr unterschiedlichen Polen. Bereits in seinen „Primanerjahren“, so Stapel im Rückblick, seien seine „Gefühle und Gedanken“ zwischen zwei „Welten“ hin und her gewandert: Einerseits sei ihm Friedrich Naumann zum „politischen Lehrmeister“ geworden, andererseits hätten die radikal nationalistischen Alldeutschen Blätter großen Eindruck auf ihn gemacht.4 Für die Zeit vor 1914 wird man indes von einem entscheidenden Einfluss Naumanns sprechen dürfen. All dies änderten die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Im Denken Stapels, der vom Militärdienst freigestellt wurde, vollzog sich damals eine jähe „Ausmerzung liberaler Geisteselemente“5 und eine schrittweise Hinwendung zur völkischen Ideologie. Manifest wurde dies bereits in der Schrift „Volksbürgerliche Erziehung“ (1917), in der Stapel einen grundsätzlichen Vorrang des „Volks“ vor dem „Staat“ postulierte: Der „lebendige Organismus des Volkes“ müsse „als die höhere Einheit gegenüber dem menschlichen Gebilde des Staates“ anerkannt werden; das Volk sei „ein primäres Phänomen“ und „unmittelbares Gebilde aus Gottes Schöpferhand“, der Staat hingegen ein bloß „sekundäres [Phänomen]“ und „Gebilde des menschlichen Willens“.6 Nach Abschluss des Manuskripts fand Stapel Anstellung im Hamburger Volksheim, eine Bildungseinrichtung, die sich vor allem der „Verständigung mit der Arbeiterschaft“ und ihrer Versöhnung „mit der Nation“7 verschrieb. Doch blieb diese Tätigkeit Episode; bereits im Sommer 1919 endete die Zusammenarbeit, nachdem ein kurz zuvor publizierter Artikel Stapels zum Thema „→Antisemitismus“ für Unmut und Kritik gesorgt hatte.8 Großes Wohlgefallen fanden Stapels Schriften hingegen bei führenden Funktionären des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbands (DHV), hier vor allem bei Max Ha-

Wilhelm Stapel  783

bermann. So überrascht es nicht, dass ihm im Herbst 1918 die Herausgeberschaft der verbandseigenen Zeitschrift Deutsches Volkstum angetragen wurde – eine Tätigkeit, die das Leben Stapels in den folgenden zwei Jahrzehnten bestimmen sollte.9 Stapels Publizistik in dieser Zeit divergiert inhaltlich zu stark, als dass sie sich auf einen einfachen Nenner bringen ließe. Doch war die „Judenfrage“ zweifellos ein besonders prominentes, immer wieder aufgegriffenes Thema. Hier eilte Stapel rasch der Ruf voraus, „Virtuose einer vornehmen und deshalb auch für Intellektuelle verführerischen Version des ‚Salonantisemitismus‘“10 zu sein. Grundlage hierfür war Stapels (freilich nicht immer eingelöster) Anspruch, sich durch distinguierte, objektivitätsheischende Ausdrucksformen von der ungleich schärferen Agitation maßund geschmackloser „Radauantisemiten“ abzuheben. Sein Renommee als Referenzautor eines vermeintlich sachlichen Antisemitismus ohne Ressentiments fußte dabei nicht allein auf Zuschreibungen innerhalb des eigenen Lagers, auch wenn der DHV nach Kräften darum bemüht war, seinen Autor in der Öffentlichkeit entsprechend zu positionieren.11 Vielmehr wurde Stapel auch von jüdischer Seite als jener Autor der völkischen Rechten betrachtet, dessen Äußerungen besonders ernst genommen werden müssten. Respektvolle Anerkennung und scharfe Kritik liefen hier parallel: Beifall für seine Ausführungen, insbesondere zur vermeintlichen Unmöglichkeit aller Juden, „wesenhaft zum Deutschen“12 zu werden, erhielt Stapel von zionistischer Seite.13 Völlig anders urteilte freilich ein „assimilierter“ Philosoph wie Julius Goldstein, der Stapels Thesen für so suggestiv und gefährlich hielt, dass er ihnen eine ganze Artikelserie in der von ihm redigierten Zeitschrift Der Morgen entgegenstellte, die 1927 auch in Buchform erschien.14 Im Kern basierte Stapels Antisemitismus auf der Überzeugung, dass jedes Volk einen besonderen, gottgewollten und -geschaffenen „Nomos“15 besitze, den es vor jeder politischen und kulturellen „Überfremdung“ – und genau diese assoziierte Stapel pauschal mit den Juden im Deutschen Reich – abzuschirmen gelte.16 Eine völlige Gleichberechtigung von Deutschen und Juden kam vor diesem Hintergrund nicht infrage; gerade in den „hierarchischen Funktionen des Richtens und Erziehens“17, also in Schulen, Universitäten und Gerichten, forderte Stapel konkrete Rechtsbeschränkungen für jüdische Staatsbürger. Verbunden war dies mit der zynischen Behauptung, Juden mit „Taktgefühl“ strebten in diesen Bereichen ohnehin keine Karrieren an.18 Besonders aufmerksam verfolgte Stapel im „Deutschen Volkstum“ auch den Aufstieg der NSDAP. Schon früh verteidigte er sie vehement gegen öffentliche Kritik, insbesondere als nach dem 9. November 1923 viel Hohn über die gescheiterten Münchner Putschisten ausgegossen wurde.19 Die öffentliche Kritik am Handeln der Nationalsozialisten diffamierte Stapel dabei als „Technik gewisser jüdischer und jüdisch geschulter Literaten“, mutige deutsche Männer gezielt „beim Volke durch Lächerlichmachung zu entwerten“; in Wirklichkeit hätten Hitler und Ludendorff jedoch mit „leidenschaftlich glühende[n] Seelen und einem lauteren Willen für Deutschlands Ehre und Größe“20 gekämpft. Seine innere Verbundenheit mit der NSBewegung bekundete Stapel zudem durch eine (erfolglose) Kandidatur für die Ham-

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burger Wahlliste der Nationalsozialistischen Freiheitspartei bei der Reichstagswahl vom 4. Mai 1924. Zu dem Ziel, die NSDAP vor öffentlicher Kritik zu schützen, gesellte sich bei Stapel spätestens seit 1930 die dezidierte Absicht, deren innere Entwicklung von außen zu beeinflussen. Sichtbarster Ausdruck dieses Wunschs waren zwei Beiträge in dem 1932 erschienenen Sammelband „Was wir vom Nationalsozialismus erwarten“.21 Wie viele Autoren der deutschen Rechten seiner Generation machte Stapel dabei die enttäuschende wie frustrierende Erfahrung, dass die maßgeblichen Protagonisten der NSDAP dergleichen Wortmeldungen mit demonstrativem Desinteresse oder aber offener Ablehnung begegneten. Mehr noch: Im „Dritten Reich“ geriet Stapel in das Visier zahlreicher, meist sehr junger nationalsozialistischer Kritiker. In ihren Artikeln, erschienen vor allem in den Nationalsozialistischen Monatsheften und dem SS-Blatt Das Schwarze Korps, attestierten sie Stapel nicht nur, keinesfalls für die NS-Bewegung sprechen zu dürfen22, sondern warfen ihm sogar vor, sich als unbelehrbarer, ewig gestriger „Literat“23 gegen den nationalsozialistischen Geist gestellt zu haben, ja ein verkappter Feind des „neuen Deutschlands“ zu sein.24 Haltlose Unterstellungen wie diese, verbunden mit einem heftigen Konflikt mit dem Schriftleiter des Schwarzen Korps Gunter d’Alquen, gegen den Stapel 1935 ein (freilich aussichtloses) Ehrengerichtsverfahren anstrebte, führten zu einer tiefen inneren Entfremdung zum NS-Staat. Stapels Bereitschaft, in seiner Zeitschrift weiter eigeninitiativ für das „Dritte Reich“ zu werben, wurde dadurch zwar vermindert, versiegte jedoch nicht. Die spannungsreiche Gleichzeitigkeit von privater Enttäuschung und öffentlicher Propagandabereitschaft für die neuen Machthaber kleidete Stapel bereits im Herbst 1933 gegenüber seinem engen Vertrauten →Erwin Guido Kolbenheyer in die aufschlussreiche Formel „Treue ohne jede Hoffnung“.25 Zur Zäsur wurde hier der Dezember 1938, als Stapel aufgrund der anhaltenden Kritik an seiner Person sowie beständig sinkender Auflagezahlen die Herausgeberschaft des Deutschen Volkstums niederlegte.26 Was folgte, war ein immer stärkerer Rückzug Stapels aus dem öffentlichen Leben, der dadurch erleichtert wurde, dass Stapel eine großzügige finanzielle Entschädigung erhielt,27 für zwei Jahre weiter sein reguläres Gehalt der Hanseatischen Verlagsanstalt bezog und ab 1941 als Berater des Verlags wirkte, wobei ihm weiterhin viel Freiraum für eigene Buchprojekte gewährt wurde.28 Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Stapel weitgehend unbehelligt. Zwar verlor er im März 1946 unter Verweis auf sein öffentliches Wirken während der Zwischenkriegszeit seine Anstellung bei der Hanseatischen Verlagsanstalt, und auch seine unverkauften Bücher wurden fast vollständig vernichtet. Das 1947 initiierte Spruchkammerverfahren endete im Folgejahr jedoch mit der Einordnung Stapels als „entlastet“. Dieses überaus günstige Urteil führte indes nicht zu einem größeren Aktivitätsschub. Bestimmend für Stapels seelische Verfassung nach 1945 blieb vielmehr der Hang zu Verbitterung und Resignation, der sich privat auch in dem häufig formulierten Wunsch manifestierte, möglichst bald sterben zu dürfen. Stapel sah sich vor die deprimierende Einsicht gestellt, dass sein umfangreiches publizistisches

Wilhelm Stapel  785

Werk letztendlich sinnlos und „vergeblich gewesen“ war, wie er im März 1954, wenige Wochen vor seinem Tod, bekannte. Hinzu kam eine tiefe innere Entfremdung zur bundesrepublikanischen Gesellschaft: „Die Deutschen sind keine Deutschen mehr, sie sind Dschörmans (Germans) geworden“29, so sein Lamento vom November 1951. Stapels Versuche, weiter journalistisch tätig zu sein und – soweit möglich – auf die deutsche Öffentlichkeit einzuwirken, blieben denn auch zaghaft und vornehmlich von dem Motiv getragen, seine eklatanten finanziellen Probleme zu lindern.30 Relativ regelmäßige Beiträge verfasste Stapel nach 1945 noch für das Deutsche Pfarrerblatt und für die vom früheren SS-Sturmbannführer Arthur Ehrhardt geführte Zeitschrift Nation Europa.31 Doch blieben diese Texte, ebenso wie Stapels Tod am 1. Juni 1954, in der Öffentlichkeit weitestgehend unbeachtet.

Thomas Vordermayer

1 Thema der Promotion war: „Der Meister des Salzwedeler Hochaltars nebst einem Überblick über die gotischen Schnitzaltäre der Altmark.“ 2 Heinrich Keßler, Wilhelm Stapel als politischer Publizist. Ein Beitrag zur Geschichte des konservativen Nationalismus zwischen den beiden Weltkriegen, Nürnberg 1967, S. 15. 3 Zu Avenarius, Kunstwart und Dürerbund vgl. Rüdiger vom Bruch, „Kunstwart“ und Dürerbund, in: Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hg.), Le milieu intellectuel conservateur en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1890–1960), Bern 2003, S. 353–375. 4 Vgl. Wilhelm Stapel, Friedrich Naumann, in: Deutsches Volkstum. Monatsschrift für das deutsche Geistesleben 20 (1938), S. 380–387, 380. 5 Keßler, Stapel, S. 23. 6 Wilhelm Stapel, Volksbürgerliche Erziehung, Jena 1917, S. 9, 34. 7 Ascan Gossler, Publizistik und konservative Revolution. Das „Deutsche Volkstum“ als Organ des Rechtsintellektualismus 1918–1933, Hamburg 2001, S. 104. 8 Vgl. Wilhelm Stapel, Antisemitismus, in: Deutsches Volkstum 1 (1919), S. 165–171. 9 1938 beschrieb Stapel die Ziele, mit denen er die Herausgeberschaft der Zeitschrift antrat, wie folgt: „Erstens. Das alte Bildungsgut unseres Volkes […] für die deutsche Nationalerziehung fruchtbar zu machen […]. Zweitens. Das volksechte und künstlerisch wertvolle Bildungsgut der Gegenwart herauszufinden und den Empfänglichen zu vermitteln. Drittens. Die defaitistischen und zersetzenden Mächte in Volk und Reich zu bekämpfen, an die Stelle der auflösenden Gedanken aufbauende Gedanken zu setzen, Gedanken einer deutschen Sitte, eines deutschen Rechtes, einer deutschen Erziehung, eines deutschen Glaubens, einer deutschen Ordnung.“ Dies und anderes sollte dabei „zunächst nur Einem [sic!] Zwecke dienen: Kräfte zu wecken, um die Sklavenkette von Versailles, die von einer verworrenen Versammlung in Weimar ‚angenommen‘ worden war, zu zerreißen – hier schied sich das geschichtliche deutsche Volk von einer trägen biologischen Lebensmasse, die, zwar durch Geburt nun einmal vorhanden, doch nicht die Autorität hatte, geschichtliche Entscheidungen zu treffen. Wir erkannten Versailles nicht an. Die, welche Versailles anerkannten, waren unsere Feinde auf Leben und Tod.“ Vgl. Wilhelm Stapel, Zwanzig Jahre „Deutsches Volkstum“. Erinnerungen, in: Deutsches Volkstum 20 (1938), S. 795–810, 797f. (Herv. i. Orig.). 10 Siegfried Lokatis, Wilhelm Stapel und Carl Schmitt – Ein Briefwechsel, in: Schmittiana. Beiträge zu Leben und Werk Carl Schmitts 5 (1996), S. 27–108, S. 32.

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11 Zur Rezeption der einschlägigen Texte Stapels vgl. Thomas Vordermayer, Bildungsbürgertum und völkische Ideologie. Konstitution und gesellschaftliche Tiefenwirkung eines Netzwerks völkischer Autoren (1919–1959), Berlin 2016, S. 160–170. 12 Stapel, Antisemitismus, S. 167. 13 Die Zeitschrift Die Arbeit übernahm 1919 einen Aufsatz Stapels zum Thema „Antisemitismus“ gar als Wiederabdruck mit dem Hinweis, Stapels „aufrechten und ehrlichen“ Ausführungen sei „nichts hinzuzufügen“. Vgl. Die Arbeit. Organ der Zionistischen Volkssozialistischen Partei Hapoel Hazair 1 (1919), S. 252–255. 14 Vgl. Julius Goldstein, Deutsche Volks-Idee und deutsch-völkische Idee. Eine soziologische Erörterung der völkischen Denkart, Berlin 1927. Mit Blick auf Stapels 1920 veröffentlichte Broschüre Antisemitismus urteilte Goldstein, dass „gerade in jenen Kreisen“, die ansonsten von der „Ungezogenheit und Unerzogenheit der antisemitischen Tagesliteratur“ abgestoßen seien, Stapels Arbeit „als das Beste und Unangreifbarste“ anerkannt werde, „was sich über diesen Gegenstand sagen“ lasse. (Ebd., S. 8). 15 Den Kern seiner Volksnomoslehre fasste Stapel in seinem Werk Der christliche Staatsmann (1932) wie folgt zusammen: „Jedes Volk wird zusammengehalten durch ein Gesetz des Lebens, das, entsprechend seiner Natur, seine innere und äußere Form, seinen Kult, seinen Ethos, seine Verfassung und sein Recht bestimmt: durch den Nomos. Der Nomos macht das Volk, das ursprünglich Kultgemeinde ist, zum Volke […]. Jedes Volk hat seinen besonderen Nomos. […] Aber er stammt nicht aus der verderbten Natur des Menschen, sondern aus Gott […].“ (Wilhelm Stapel, Der christliche Staatsmann. Eine Theologie des Nationalismus, Hamburg 1932, S. 174). Zur „Volksnomostheologie“ vgl. den Artikel von Thomas Martin Schneider im vorliegenden Handbuch. 16 Die Volkszugehörigkeit des Individuums galt Stapel dabei als eine „in Blut und Seele vom Schicksal“ festgeschriebene Größe, die nicht durch autonome Willensentscheidungen geändert werden konnte. Vgl. Wilhelm Stapel, Recht und Unrecht im Antisemitismus, in: Deutsches Volkstum 3 (1921), S. 46–52, hier: S. 47. 17 Wilhelm Stapel, Versuch einer praktischen Lösung der Judenfrage, in: Albrecht Erich Günther (Hg.), Was wir vom Nationalsozialismus erwarten. Zwanzig Antworten, Heilbronn 1932, S. 186–191, 189. 18 Vgl. Vordermayer, Bildungsbürgertum, S. 157–160. 19 Vgl. Vordermayer, Bildungsbürgertum, S. 262–266. 20 Deutsches Volkstum 5 (1923), S. 455f. 21 Titel der beiden Beiträge war: „Forderungen zur Kulturpolitik“ sowie „Versuch einer praktischen Lösung der Judenfrage“. Vgl. Albrecht Erich Günther (Hg.), Was wir vom Nationalsozialismus erwarten. Zwanzig Antworten, Heilbronn 1932, S. 154–157, 186–191. 22 Siehe exemplarisch Eberhard Achterberg, Zeitschriftenschau, in: Nationalsozialistische Monatshefte 7 (1936), S. 199f. (darin die Aussage, Stapels Zeitschrift Deutsches Volkstum sei „nur sehr bedingt auch unser Volkstum“) sowie Matthes Ziegler, Wilhelm Stapel und die Judenfrage, in: Nationalsozialistische Monatshefte 8 (1937), S. 410–417 (der Artikel schließt mit der provozierenden und drohenden Aufforderung an Stapel, künftig „auf den Ruhm eines Wissenschaftlers im Staate Adolf Hitlers zu verzichten!“). 23 Ziegler, Stapel, S. 415. 24 Vgl. etwa Otto Hildebrand, Hinter der freundlichen Maske, in: Das Schwarze Korps. Zeitung der Schutzstaffeln der NSDAP. Organ der Reichsführung der SS vom 10. Juni 1935. Zum Konflikt Stapels mit dem Schwarzen Korps vgl. Oliver Schmalz, Kirchenpolitik unter dem Vorzeichen der Volksnomoslehre. Wilhelm Stapel im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 2004, S. 103–108. 25 Zitiert nach: Vordermayer, Bildungsbürgertum, S. 330. 26 Die Auflagenziffer 1938 wurde in der Forschung auf „erheblich unter 3000“ (Keßler, Stapel, S. 211) beziffert.

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27 Zehn Jahre nach den Ereignissen sprach Stapel gegenüber Hans Grimm von einer Abfindung von 24.000 Reichsmark. Vgl. Vordermayer, Bildungsbürgertum, S. 347. 28 Vgl. Schmalz, Kirchenpolitik, S. 212. Im selben Jahr erschien Stapels lange geplante Schrift Die drei Stände. Versuch einer Morphologie des deutschen Volkes. 29 Vgl. Vordermayer, Bildungsbürgertum, S. 359–362, 360, 361. 30 Im April 1952 vermerkte Stapel gegenüber Hanns Lilje, sich und seine Frau „im wesentlichen aus dem Pastorengehalt“ seines Sohnes Henning Stapel zu ernähren. Zitiert nach: Schmalz, Kirchenpolitik, S. 233. 31 Zur Zeitschrift Nation Europa vgl. Armin Pfahl-Traughber, Zeitschriftenporträt, Nation Europa, in: Jahrbuch Extremismus und Demokratie 12 (2000), S. 305–322. In ihr veröffentlichte Stapel mehrere dezidiert antiparlamentarische Artikel, vor allem zu außenpolitischen Themen. Vgl. Keßler, Stapel, S. 229–231; Vordermayer, Bildungsbürgertum, S. 386f.

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Hans Steinacher Hans Steinacher wurde am 22. Mai 1892 als Sohn eines Bergarbeiters in Kreuth/Bleiberg (Südkärnten) geboren.1 Da ein Gymnasialbesuch nicht von der Familie finanziert werden konnte, verschaffte ihm ein Lehrer ab September 1906 ein dreijähriges Stipendium des Schulvereins Südmark, Graz, für die Evangelische Lehrerbildungsanstalt Bielitz. Hier wurde Steinacher als Mitglied der Schülerverbindungen Gothia und deren Nachfolgeorganisation Leier und Schwert zum überzeugten Schönerianer. Nach der Matura unterrichtete er von 1911 bis 1914 an der evangelischen Schule in Meran (Südtirol). Die Lehrbefähigungsprüfungen für die Volksschule bestand er im Oktober 1913 und für die Bürgerschule im März 1916 je mit Auszeichnung. 1914 heiratete er Bertha Muggenthaler, von der er nach dem Krieg geschieden wurde. Im Juli 1914 trat er als Kriegsfreiwilliger in das 7. k. k.-Infanterieregiment Graf von Khevenhüller ein, wo er außerplanmäßig zum Leutnant und 1917 zum Oberleutnant befördert wurde. Im Ersten Weltkrieg wurde er mehrfach (unter anderem EK II 1917, Orden der Eisernen Krone III 1918) ausgezeichnet.2 Als Ende 1918 das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen das zumeist von Slowenischsprachigen bewohnte Südkärnten besetzte, organisierte Steinacher an führender Stelle den „Abwehrkampf“ und nach dem Abschluss der militärischen Auseinandersetzungen Mitte 1919 den Propaganda- und Abstimmungskampf. Hierzu knüpfte er Kontakt zum Deutschen Schutzbund für das Grenz- und Auslanddeutschtum (DSB) und seinem Vertreter →Karl Christian von Loesch (1920 Teilnahme an der DSB-Pfingsttagung in Berlin, September 1920 Presseoffensive von Loeschs in Klagenfurt, 1921 DSB-Pfingsttagung in Klagenfurt). Nach dem Abstimmungssieg am 10. Oktober 1920 wurde Steinacher zum Helden des „Kärntner Freiheitskampfes“ (Auszeichnung Kärntner Kreuz für Tapferkeit) stilisiert. So entschied er sich statt einer Eingliederung ins österreichische Bundesheer für „den Weg eines Reisekaders der ‚Deutschtumsbewegung‘“.3 Da er auch die Mobilisierung der in Österreich und dem Ausland wohnenden Abstimmungsberechtigten zur Stimmabgabe organisiert hatte, riefen ihn die Reichsregierung und Hans Lukaschek (1919–1921 Leiter des Schlesischen Ausschusses, erster Vertriebenenminister der BRD) im Frühjahr 1921 nach Kattowitz in Oberschlesien zur Vorbereitung der dortigen Volksabstimmung. Für seine erfolgreiche Arbeit erhielt er den Oberschlesischen Adler 1. und 2. Klasse. Danach war er auch bei den Abstimmungen in Tirol am 24. April 1921, bei der es um den symbolischen Anschluss Tirols an das Deutsche Reich ging, und in Ödenburg/Sopron am 14. Dezember 1921 führend beteiligt. Nach der verlorenen Abstimmung plante Steinacher die militärische Besetzung des „Ödenburger Halses“, um das Ödenburger Gebiet von Ungarn abzuschneiden. Kurz vor der Durchführung zog jedoch die österreichische Regierung ihre Genehmigung zurück.4 Von 1923 bis 1924 bekämpfte er zusammen mit dem späteren Staatssekretär im Gesamtdeutschen Ministerium, Franz Thedieck, als Undercoveragent (Decknamen: Anders, Berg(e)mann, Hochberg, Schmittmann) die Separatisten im französisch be-

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setzten Rheinland. In Flugblättern und späteren Aufsätzen stellte er sie als „Gesindel“ und „moralisch und gesellschaftlich Deklassierte“ dar, die außerhalb des „Volkstums“ stünden,5 und bewirkte so deren brutale Verfolgung in der NS-Zeit mit. Anfang Januar 1924 nahm Steinacher an der Würzburger Tagung des DSB teil.6 Als führender Abwehrkämpfer im Rheinland sollte er mit seinen Erfahrungen den Kampf gegen die Separatisten in der bayerischen Pfalz befruchten. Neben Vorträgen wurde auch der Mord an dem pfälzischen Separatisten Heinz Orbis vorbereitet. War Steinacher an diesen Planungen nur mittelbar beteiligt, so gab er wenige Tage später den Auftrag zum Mord an dem ehemaligen separatistischen Mayener Landrat Wilhelm Schlich, der am 24. Januar 1924 erschossen wurde.7 Parallel studierte Steinacher von 1922 bis 1925 an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt am Main Nationalökonomie, Bürgerliches Recht, Finanzwissenschaft und Wirtschaftsgeographie. Ende 1924 legte er seine Dissertation „Wirtschaft und Volksabstimmungen“ vor, in der er den Einfluss wirtschaftlicher Faktoren auf die Abstimmungen in Kärnten und Oberschlesien verglich. Im Februar 1925 bestand er die mündliche Prüfung mit „sehr gut“. Im Juli 1925 wurde er Geschäftsführer des Deutschen Schulvereins Südmark, dem Verband Österreich des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA), in Wien, von dem er sich nach einem inhaltlichen und persönlichen Konflikt mit dessen Leiter Gustav Groß im November trennte. Nach Frankfurt zurückgekehrt, betraute ihn das Preußische Innenministerium ab Anfang 1926 bis zum Ende der Rheinland-Besetzung durch Frankreich am 30. Juni 1930 unter dem Decknamen „Stöger“ (später auch: Steiger) mit der Beobachtung separatistischer Bewegungen im Rheinland, wofür er ein Ministerialratsgehalt erhielt. Über die Deutsche Arbeitsstelle und den Rhein-Mainischen Verband für Volksbildung unterstützte Steinacher nationalpolitische Vorträge und Tagungen, organisierte Reisekostenzuschüsse für DSB- und VDA-Tagungen, lancierte einschlägige Inhalte an Presse und Rundfunk und versuchte, wichtige Stellenbesetzungen zu beeinflussen, so zum Beispiel 1926 im Falle des Historikers →Harold Steinacker an der Universität Köln. 1927 heiratete er Lilli Donner, die Tochter des Frankfurter Fabrikanten Maximilian Otto Donner, mit dessen Hilfe er 1929 den Miklauzhof in Südkärnten als „deutsche Bastion“ gegen die Slowenen ersteigerte. Am 1. Juli 1930 wurde er Leiter der unter Ägide des Auswärtigen Amtes stehenden Mittelstelle für deutsches Auslandsbüchereiwesen in Berlin und Geschäftsführer des Vereins von Freunden und Förderern der Mittelstelle, dessen Vorsitzender Konrad Adenauer war.8 Schon kurz nach 1925 hatte Steinacher zusammen mit Karl Mehrmann im Verein Deutscher Rhein seine Arbeit besonders gegen den katholischen großdeutschen Föderalisten Benedikt Schmittmann gerichtet, der Professor für Sozialwissenschaften an der Universität Köln und Zentrumsabgeordneter war. Hatte Steinacher anfangs noch von Polizeimethoden abgeraten, da sie propagandistisch zum Nachteil gereichen konnten, so hielt er 1933 im Entwurf eines Schreibens an das Reichsministerium des Innern „eine weitere Zurückhaltung gegenüber der ärgerniserregenden und verräteri-

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schen Publizistik“ Schmittmanns für untragbar und bat um „geeignete Massnahmen“.9 Schmittmann erhielt im September 1933 Lehrverbot; 1939 wurde er im KZ Sachsenhausen ermordet. Neben seiner Mitgliedschaft im Volksdeutschen Klub referierte Steinacher häufig auf Tagungen der Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit und fungierte als Kuratoriumsmitglied der 1929 gegründeten Stiftung →Volk und Reich, die die gleichnamige Zeitschrift unterstützen sollte.10 Gehörte Steinacher 1931 dem Geschäftsführenden Ausschuss und dem Kleinen Arbeitskreis des DSB an, so wurde er im Mai 1931 auch in den Hauptvorstand des VDA gewählt und Referent für das Studentenwerk.11 Ende April 1933 wurde er vom VDA-Wahlausschuss zum Reichsführer des VDA bestimmt und damit die nationalliberalen „Exzellenzen“ aus der Führung verdrängt. Mit der Massenorganisation VDA im Rücken und unter Patronage des Stellvertreters des Führers, Rudolf Heß, leitete er die „Gleichschaltung“ der Volkstumsarbeit unter VDA-Führung ein. Von dieser „Reorganisation“ waren allerdings nicht nur volkstumspolitische Vereine,12 sondern auch wissenschaftliche Einrichtungen wie das liberaldemokratisch geführte →Deutsche Ausland-Institut (DAI) in Stuttgart betroffen. Nachdem Steinacher den meisten Führungsgremien der größten politischen Organisationen der Volkstumsarbeit angehörte, war er bald auch in denen der wissenschaftlichen Institutionen dieses Bereichs vertreten. 1933 wurde er in den DAI-Vorstand und in den Kleinen Rat der Deutschen Akademie in München aufgenommen.13 Zur Absicherung der „Reorganisationspolitik“ und Schaffung eines think tank der NS-Regierung wirkte Steinacher an der Gründung des Volksdeutschen Rates mit, in dem er unter Karl Haushofers Vorsitz die treibende Kraft als Geschäftsführer war. Anfang 1932 war Steinacher kommissarischer Leiter der →Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften (VFG) geworden. Als solcher forcierte er die Gründung weiterer regionaler Forschungsgemeinschaften. Er fungierte hier nicht als Wissenschaftler,14 sondern als Politiker, der als „Mittelsmann“ zwischen Wissenschaftlern und den Reichsministerien Auswärtiges Amt und Innenministerium diente.15 Nach Steinacher sollten die Mitglieder der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften zwar propagandistisch denken, jedoch nicht zu sehr propagandistisch-wissenschaftlich arbeiten. Die Propaganda sollten sie den Deutschtumsverbänden überlassen, jedoch nicht völlig auf die Mitwirkung an kleinen Propagandaschriften verzichten.16 1933 unterstellte er die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften dem Volksdeutschen Rat. Jedoch waren Steinachers Befugnisse nicht unbegrenzt. So scheiterte er bei dem Versuch, →Theodor Oberländer im Januar 1934 als Geschäftsführer der neugegründeten →Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG) zu installieren, wofür er zudem vom Reichsministerium des Innern gerügt wurde.17 Die Geschäftsführung der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften gab Steinacher im August 1934 an →Emil Meynen ab. Ideologisch stand für Steinacher der „Volksgenosse“ über dem Staatsbürger.18 Auf jüdische Deutsche gemünzt betonte er Ende 1933: „Kein Taufwasser und kein Staatsbürgerpaß kann einen Deutschen schaffen.“19 Als Vertreter des volksge-

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schichtlichen Ansatzes unterstrich er unter Verweis auf die Abstimmungskämpfe, dass das einfache, namenlose Volk Geschichte gemacht hätte; das Volkstum sei das formgebende Prinzip der Geschichte.20 Bereits im Dezember 1932 hatte Steinacher die deutschen Studenten im Reich als angehende Multiplikatoren und als Wissenschaftler zu „volksdeutschem Aktivismus“ dies- und jenseits der Grenzen aufgerufen. Jenseits der Grenzen werde als eine Form der Fortsetzung des Krieges das deutsche Volkstum zerstört. Da dürfe es die Jugend nicht bei Fahrten, Geldsammelaktionen und intellektuellem Spezialistentum belassen.21 Innerhalb der NS-Polykratie hatte Steinacher zunächst mit der aufstrebenden NSDAP-Auslandsorganisation (NSDAP-AO) zu kämpfen, was Anfang 1935 den Volksdeutschen Rat funktionslos werden ließ. Der VDA konnte nach der erfolgreichen Saarabstimmung 1935 in Königsberg eine große Pfingsttagung abhalten, jedoch verhinderte die NSDAP-AO die für 1936 in Bremen geplante Jahrestagung. Offiziell sollten dem Ausland wegen der Olympiade keine Vorwände geschaffen werden. Zudem versuchte die erstarkte SS ihren Einfluss auf die Dienststelle Kursell (ab März 1936 auch Volksdeutsche Mittelstelle genannt) auszudehnen, die als eine Art Nachfolgeinstitution des Volksdeutschen Rates unter Ägide des Stellvertreters des Führers, Rudolf Heß, zur Abwehr der Avancen verschiedener Parteistellen im Oktober 1935 etabliert worden war.22 Obwohl →Otto von Kursell und seine Mitarbeiter SS-Angehörige waren, hielten sie Steinacher und dem VDA den Rücken frei. Dies änderte sich, als Kursell bei Göring, dem Leiter des Vierjahresplans, erfolgreich die Kontrolle der Devisen der SS beanspruchte. Darauf zwang Himmler Kursell, seine Entlassung als SS-Obersturmbannführer einzureichen und setzte seine Beurlaubung durch. Mit der offiziellen Installierung des neuen Leiters der Volksdeutschen Mittelstelle, SS-Obergruppenführer Werner Lorenz, zum 1. Februar 1937 wurden die Kontakte reichsdeutscher Stellen und Personen mit Auslandsdeutschen und die diesbezügliche Devisenverwendung der SS-Kontrolle unterworfen; auch sollte die Mittelstelle die Implementierung des NS unter den Auslandsdeutschen fördern. Für Steinacher betonten Auslandsorganisation und SS zu sehr die staatliche Seite und vernachlässigten die „volkliche“. Ferner vertrat er in der Südtirol-Politik eine andere Auffassung als die herrschende NS-Fraktion, die „Südtirol“ der Achse Berlin-Rom „opferte“. Diese Differenzen bildeten den Hintergrund für Steinachers kurze Verhaftung am 25. Oktober 1936 auf einer Reise in Leipzig und tags drauf in Regensburg, weil die Aufhebung des Haftbefehls noch nicht überall bekannt war. 1937 häuften sich die Konflikte mit der vorgesetzten Mittelstelle. Da der wenig diplomatische Steinacher auf seinen Positionen beharrte, wurde er am 19. Oktober 1937 als VDAFührer beurlaubt.23 Um die „Wirkungsmöglichkeit“ des VDA zu erhöhen, gehörte Steinacher in Abstimmung mit Heß als VDA-Bundesleiter nicht offiziell der NSDAP an.24 Nach dem „Anschluß“ Österreichs beantragte Steinacher die NSDAP-Mitgliedschaft als Kärntner „Kämpfer“ bewusst bei der Ortsgruppe Miklauzhof und betonte dabei, dass er in Kärnten bereits seit 1933 bei der NSDAP und seit 1934 bei der SS gemeldet sei.25 Da

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jedoch sein ständiger Wohnsitz in Berlin lag, wurde er zum 1. Mai 1940 in eine Berliner NSDAP-Ortsgruppe aufgenommen. Er hatte dort die Mitgliedsnummer 7.753.917. Hatte Steinacher sich 1937 noch vergeblich bei der Wehrmacht beworben, so wurde er am 15. November 1939 auf eigenes Betreiben zum Generalkommando Salzburg einberufen. Im Zweiten Weltkrieg nahm er am Frankreich-Feldzug teil, kämpfte ab Februar 1941 in Rumänien, dann in Griechenland und ab Juli 1941 bei Murmansk. Im Herbst 1942 wurde er Festungskommandant von Kirkenes in Norwegen. 1942 wurde er mit dem EK I ausgezeichnet. 1945/46 befand er sich in britischer Gefangenschaft. Ab Mai 1947 bewirtschaftete er den Miklauzhof und wurde im neugegründeten Bund heimattreuer Südkärntner und später im 1957 gegründeten Kärntner Heimatdienst mit seinen Unterorganisationen aktiv. 1949 trat Steinacher als Leitungsmitglied der „Jungen Front“ des Grafen Ernst von Strachwitz zur Stärkung des nationalen Flügels in die Österreichische Volkspartei (ÖVP) ein und wurde 1952 zum stellvertretenden ÖVP-Obmann Kärntens gewählt. Nach der Kärntner Landtagswahl im Oktober 1949 wurde er als Landeshauptmann gehandelt, jedoch von der BundesÖVP wegen NS-Belastung abgelehnt. 1953 kandidierte er vergeblich für den Nationalrat.26 Als die alte VDA-Führung um Steinacher von Staatssekretär Thedieck von der beabsichtigten Gründung eines Verbandes zur Pflege und Förderung der deutschen Sprache und des deutschen Brauchtums durch Studentenbünde und den Verband der Vereine deutscher Studenten erfuhr, kam man der Initiative zuvor. Anfang November 1952 trafen sich in Frankfurt am Main unter Steinachers Vorsitz ehemals führende Mitglieder des VDA und bildeten den Frankfurter Arbeitskreis für Volkstumsfragen zwecks späterer Wiederbegründung des Vereins, wofür man damals in Abstimmung mit der Bundesregierung die Zeit als noch nicht gekommen ansah.27 1954 erschien als Ergebnis eine Denkschrift, mit der die Volkstumsarbeit bis 1937 legitimiert, die Akteure politisch entlastet und der Grundstein für die Fortsetzung der Arbeit gelegt werden sollte.28 Auch propagierte Steinacher die Dichtomie etatistisch versus volklich, mit der das politisch obsolete „völkisch“ ersetzt und der Gegensatz zur etatistischen NS-Politik betont werden sollte.29 Zum 1955 wiedergegründeten VDA blieb die Gruppe um Steinacher in den ersten Jahren auf Distanz, da die Gründer NS-Belastete fern halten wollten. Von 1953 bis 1958 agierte er als österreichischer Generalkonsul in Mailand und beriet die Südtiroler Volkspartei in der „Volkstumsarbeit“. Hatte er sich wegen dieses Amtes mit Äußerungen in der Öffentlichkeit zurückgehalten, so referierte er im September 1959 auf einer Arbeitstagung in →Max Hildebert Boehms Archiv.30 Steinacher starb am 10. Januar 1971 nach längerer Krankheit in Klagenfurt.

Hans-Werner Retterath

1 Vgl. umfassender Alfred Elste, Kärntens braune Elite, Wien 19972, S. 150–171, 248–251; Hans-Werner Retterath, Hans Steinacher. Die Stilisierung zum ersten Soldaten des „Volkstumskampfes“ und

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nach 1945 zum NS-Opfer, in: Michael Fahlbusch (Hg. u.a.), Völkische Wissenschaften und Politikberatung im 20. Jahrhundert. Expertise und „Neuordnung“ Europas, Paderborn u.a. 2010, S. 153– 176; Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Hans Steinacher. Bundesleiter des VDA 1933–1937. Erinnerungen und Dokumente, Boppard 1970. 2 Richard Wichterich, Volksdeutscher Kampf. Dargestellt am Lebensgang Dr. Steinachers, Köln 1936, S. 30–36; Jacobsen, Steinacher, XV (Angabe EK II 1914 wohl falsch). 3 Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 20022, S. 151. 4 Silvester Klinge, 40 Jahre „Volksabstimmung Ödenburg“, in: Carinthia I (1962) 152, S. 441–445. 5 H. Bergmann (alias Hans Steinacher), Eifel-Mosel-Hunsrück und die Separatistenabwehr 1923, in: Volk und Reich 6 (1930), S. 436–449, 438. 6 BArch, Nl Steinacher, 60, Erinnerungen, Bd. III, Bl. 107–108f., und BayHStA, MA 108045, Bericht über die Sondertagung des DSB in Würzburg vom 5. bis zum 7.1.1924. 7 BArch, Nl Steinacher, 23, Steinacher an Paul Diels, Gestapo Berlin vom 13.11.1933. 8 F. Bergemann (alias Hans Steinacher), III. Grenz- und auslanddeutsches Büchereiwesen, in: Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums, Bd. 1, Breslau 1933, S. 580–587. 9 BArch, Nl Steinacher, 13, Steinacher an Robert Ernst vom 7.2.1933, Entwurf als Anlage. 10 Bertold Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen „Ring“-Kreises 1918–1933, Berlin 2000, S. 235, 196f., 199, 202. 11 Dorothea Fensch, Zur Vorgeschichte, Organisation und Tätigkeit des Deutschen Schutzbundes in der Weimarer Republik, Phil. Diss. Berlin 1966, S. 81, und Anhang, Liste von Sept. 1931. Die Angabe 1932 zur VDA-Hauptvorstandswahl in Jacobsen, Steinacher, XXI, ist falsch; vgl. Retterath, Steinacher, S. 163. 12 Dok. Nr. 16, Reorganisation des DAI, 15.6.1933, in: Jacobsen, Steinacher, S. 95–98, 96. Jacobsen übernimmt hier unkritisch die NS-Diktion; allgemein ist die Biographie geschönt und die Dokumentenauswahl einseitig. Vgl. auch Nikolaus Barbian, Auswärtige Kulturpolitik und „Auslandsdeutsche“ in Lateinamerika 1949–1973, Wiesbaden 2014, S. 496. 13 Jahrestagung des Deutschen Ausland-Instituts, in: Der Auslandsdeutsche 16 (1933),19/20, S. 478–496, 480, und Edgar Harvolk, Eichenzweig und Hakenkreuz. Die Deutsche Akademie in München (1924–1962) und ihre volkskundliche Sektion, München 1990, S. 27. 14 Wolfram Mallebrein, Hans Steinacher. Ein Kämpfer für Freiheit und Selbstbestimmung. Eine Biographie, Klagenfurt 1980, S. 152. 15 Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945, Baden-Baden 1999, S. 70–72, 109. 16 Ebd. S. 245. 17 Haar, Historiker, S. 188ff. 18 Vgl. Hans Steinacher, Volkstum jenseits der Grenze. Staat und Volk, Staatsbürger und Volksgenosse, Stuttgart 19342, und ders. (Bearb.), Deutsches Volkstum – Deutscher Lebensraum, (Führerbriefe für politische Erziehung; hrsg. vom Amt für Arbeitsdienst der deutschen Studentenschaft, Brief 4), Hamburg 1934. 19 Berliner Börsenzeitung Nr. 307 vom 30.12.1933, zitiert nach Dok. Nr. 26, Volksdeutsche Jahresschau, in: Jacobsen (Hg.), Hans Steinacher, S. 110–114, 110. 20 Hans Steinacher, Die Entscheidung im deutschen Abwehrkampf am Rhein, in: Deutsche Arbeit 33 (1933) 1, Okt., S. 1–13. 21 Hans Steinacher, Volksdeutscher Aktivismus, in: Deutsche Arbeit 32 (1933), 7, April, S. 169–173. 22 BArch, Nl Reinhard Wittram, Otto Kursell, Erinnerungen und Ergänzungen zu den Erinnerungen von 1965, und Hans-Adolf Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik 1933–1938, Frankfurt a.M. 1968, S. 225–235. 23 Dok. Nr. 106, Das Ende: Meine „Beurlaubung“, in: Jacobsen (Hg.), Steinacher, S. 409–418, 413.

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24 Vgl. Heß’ Telegramm an Steinacher vom 2.6.1933, in: Der Volksdeutsche 9 (1933), 7, Juli. Es handelt sich um die „Magna Charta“ des VDA. 25 BArch, BDC-PK 1110087013, Parteikorrespondenz Steinacher, Personalfragebogen vom 24.5.1938. Vgl. Dok. Nr. 99, Zur Lage des VDA im Herbst 1936, in: Jacobsen (Hg.), Steinacher, S. 372–379, 376, und dagegen Steinachers Exkulpierungsversuch nach 1945 und Jacobsens Fehlinformation in Dok. Nr. 29, Zur Lage in Österreich 1933/34, in: ebd., S. 152–155, 153. 26 Alfred Elste, Kärnten von der Ersten zur Zweiten Republik: Kontinuität oder Wandel? Klagenfurt, Ljubljana, Wien 1998, S. 69, 136. 27 Barbian, Auswärtige Kulturpolitik, S. 123–127. 28 Verpflichtendes Erbe. Volkstum im Ringen um seinen Bestand und seine Anerkennung, Kiel 1954. 29 Hannes Bergmann (alias Hans Steinacher), Etatistisches und volkliches Denken. Eine kritische Geschichtsbetrachtung über 150 Jahre europäischer Nationalitätenkämpfe, in: Karl Massmann (Hg. u.a.), Volk und Staat. Festschrift Karl Massmann. Zum 65. Geburtstag am 9. Juli 1954 dargebracht von einem Freundeskreis und dem Verband der Vereine Deutscher Studenten (KV), Kiel 1954, S. 141–161. Vgl. auch Barbian, Auswärtige Kulturpolitik, S. 172–175. 30 Ziele und Organisation der Deutschtumsbewegung 1918–1933. Kurzfassung der Referate von Hans Steinacher und Max Hildebert Boehm auf der Arbeitstagung des Volkstumsarchivs in Lüneburg am 10. und 11. September 1959, Lüneburg 1960, S. 3–15.

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Harold Steinacker Harold Steinacker, am 26. Mai 1875 in Budapest geboren, wuchs in einer stark deutschnational geprägten Familie auf.1 Der Vater Edmund Steinacker war Abgeordneter im ungarischen Parlament und übersiedelte nach Antritt seiner Pension nach Wien, wo er schließlich als Gründer der Ungarländisch-deutschen Volkspartei für die Stärkung und Identität der Auslandsdeutschen wirken wollte. Harold, von sehr kleiner Statur, besuchte in Budapest ein evangelisches ungarisches Gymnasium, wurde von den Eltern aber zu einem dreijährigen Schulaufenthalt nach Jena geschickt, um sich dem deutschen Volk nicht zu entfremden. Im Herbst 1893 nahm er an der Universität Wien ein Studium der Alten Geschichte und Klassischen Philologie auf, verfasste eine Dissertation zu einem spätantiken Thema und promovierte 1898. Aus Freude und Verehrung antiker Ideale formierte Steinacker mit einigen Freunden den humanistischen Klub „Sokratiker“. Den 22. Ausbildungskurs des Instituts für österreichische Geschichtsforschung (IÖG) konnte er 1899 mit großem Erfolg abschließen, die schriftliche Abschlussarbeit war der „älteren Papsturkundenlehre“ gewidmet. Ein Studium der Rechte blieb ohne Abschluss, da Steinacker bereits als Historiker zu arbeiten begonnen hatte: 1899/1900 forschte er neun Monate lang am Österreichischen Historischen Institut in Rom, einen weiteren Aufenthalt dort brach er ab, um in der Bibliothek der Wiener Akademie der Bildenden Künste zu arbeiten. Seit 1901 war er am IÖG im Editionsunternehmen Regesta Habsburgica beschäftigt, wurde 1905 mit einem Thema zur frühen Geschichte der Habsburger in mittelalterlicher Geschichte und Historischen Hilfswissenschaften habilitiert und trat schließlich 1909 in Innsbruck eine Stelle als a.o. Prof. an. Während sein Kollege →Hermann Wopfner 1914 zum ordentlichen Prof. ernannt wurde, blieb Steinacker dieser Erfolg versagt. Sein fortgeschrittenes Alter verhinderte seinen Einsatz als Soldat im Ersten Weltkrieg. 1904 hatte Steinacker Konstanze von Ende geheiratet und wurde Vater dreier Söhne: Wolfgang, Eberhard und Meinhard. Nach dem Tod seiner Frau 1919 vermählte sich Steinacker 1926 mit der Historikerin Hildegard Katsch, die den Sohn Ivo gebar. Nachdem Steinacker 1913 einen Ruf an die Universität Czernowitz (Černauţi) abgelehnt hatte, nahm er den Ruf an die Deutsche Universität in Prag an und begann im Frühjahr 1917 mit der Lehre. Bereits 1918 wechselte er jedoch in der Nachfolge Wilhelm Erbens wieder nach Innsbruck. Einem Ruf nach Gießen folgte er nicht und verblieb bis Juli 1945 an der Innsbrucker Universität, da ihm der angestrebte Weg an die Wiener Universität sowohl in der Nachfolge Emil von Ottenthals 1926 als auch Oswald Redlichs 1929 verwehrt blieb. Dagegen wurde er 1932 in Anerkennung seiner Arbeiten zur Urkundenforschung zum korrespondierenden Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ernannt. Weitere größere Karriereschritte Steinackers standen freilich in Zusammenhang mit seiner gesamtdeutschen „Geschichtsauffassung“, so 1936 seine Aufnahme in das Südostinstitut in München oder die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Königsberg 1938. 1926–

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1938 mit Alfons Dopsch österreichischer Vertreter im Internationalen Historikerausschuss, propagierte er in einer Diskussion auf dem Internationalen Historikerkongress 1938 in Zürich eine völkisch determinierte Geschichtswissenschaft. Nur wenige Tage nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 wurde Steinacker als überzeugter Nationalsozialist zum Rektor der Universität Innsbruck ernannt und vollzog deren „Gleichschaltung“. Seine Antrittsvorlesung hielt er in SA-Uniform und ließ auch mit dieser sein offizielles Porträt als Rektor von Hubert Lanzinger malen, zudem trat er der NSDAP bei. Das große Ausmaß seiner nationalsozialistischen Überzeugung offenbart beispielsweise Steinackers „Gedenkrede auf →Kleo Pleyer“ von 1942.2 Er wünschte sich eine „wirklich nationalsozialistische Geistes- und Willensgemeinschaft“ aus Lehrenden und Studierenden an einer großen „Grenzlanduniversität“ in Innsbruck.3 Im selben Jahr wurde er in den Beirat des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschland aufgenommen und agierte im NS-Dozentenbund. Steinacker gelang 1940 die Schaffung einer ordentlichen Professur für →Volkskunde, die mit dem Nationalsozialisten →Adolf Helbok besetzt wurde, auch die Ur- und Frühgeschichte konnte 1942 aufgewertet werden, dagegen ließ sich ein „Rassenkundlich-Historisches Institut“ nicht mehr verwirklichen. Im November 1942 trat Steinacker wegen Amtsmüdigkeit von seinem Rektorenamt zurück. Im Oktober 1941 hatte sich Steinacker für den mit ihm befreundeten Prager deutschjüdischen Althistoriker Arthur Stein eingesetzt. In einem Brief an Wilhelm Saure, Rektor der Deutschen Universität in Prag, bat er aus persönlichen und wissenschaftspolitischen Gründen, die drohende Deportation Steins zu verhindern. Das Ehepaar Stein wurde 1941 nicht – wie andere Prager Juden – nach Łódź deportiert, was ein fast sicheres Todesurteil bedeutet hätte, sondern im Sommer 1942 ins Lager Theresienstadt und überlebte das NS-Regime. Welche Rolle hierbei Steinackers Brief zukam, lässt sich nicht genau feststellen.4 1949 wurde Steinacker als minderbelasteter Nationalsozialist eingestuft. 1951 war er im wiederbegründeten Südostinstitut und nachfolgend in anderen Wissenschaftsorganisationen tätig. Steinacker, mit zahlreichen Auszeichnungen gewürdigt, so 1964 der Wahl zum Ehrenmitglied der Phil.-Hist. Kl. der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, starb hochbetagt am 29. Januar 1965. Steinacker bearbeitete Themen aus den Historischen Hilfswissenschaften, der Südostforschung und einer von ihm mitbegründeten „gesamtdeutschen Geschichtsauffassung“.5 Als Vertreter dieser Denkrichtung konnte er einige Popularität erreichen, jedoch nicht in dem Ausmaß wie ihr anderer Protagonist Heinrich von Srbik. Nachhaltigen Wert haben Steinackers quellenkundliche Arbeiten und Editionen, während seine Studien aus der Südostforschung vielfach auf einer nationalistischen Folie stattfanden. Im Bereich der „Geschichtsauffassungen“ sprach er zunächst von einer „volksdeutschen Geschichtsauffassung“, revidierte das aber zu einer „gesamtdeutschen“.6 Früh integrierte Steinacker völkisches Gedankengut in seiner „Wissenschaft“ und nannte 1908 als historischen Wirkfaktor die „Beziehung von Rasse, Na-

Harold Steinacker  797

tion und anderer auf dem Blute beruhender, also natürlicher Verbände, bis herab auf Sippe und Familie“. 1934 postulierte er: „Aber das eine ist jetzt schon sicher: die Erbmasse, deren Modifizierbarkeit bestimmte Grenzen hat, ist der Mutterboden, aus dem gewisse unveränderliche Wesenszüge eines Volkes erwachsen“.7 Auch Termini wie „Blutsgrundlage“ und „→Umvolkung“ fanden Eingang in seine Wissenschaftssprache. Seine Hinwendung zur Volksgeschichte verstand er eindeutig auszudrücken: „Mit einem Wort, daß Volk vor Staat geht. Das ist unser Grundgesetz“ (1939), oder „Volk ist alles, der einzelne ist nichts, die Stämme, und Stände und Klassen, die Konfessionen, Parteien, Dynastien, Staaten sind nichts neben dem Volk; das Volk ist Ende und Anfang von allem“ (1939). Dabei sah er die Möglichkeit, mit Volksgeschichte die geschichtliche und daraus folgernd die realpolitische Stellung Österreichs zu erhöhen, denn von einer „solchen volklichen Geschichtsauffassung erwarten wir Österreicher wieder ein volles, ein tieferes Verständnis für Österreichs Stellung in der deutschen Geschichte“.8 „Widerstreitende sonderstaatliche [deutsche] Geschichtsauffassungen“ waren für ihn ein Grund, dass ein geeinter deutscher Staat, der das „ganze Deutschtum“ umfasst hätte, nicht verwirklicht worden war. Dies könne im Nationalsozialismus und mit einer „gesamtdeutschen Geschichtsauffassung“, die zuerst von österreichischen Historikern postuliert wurde, vollbracht werden. Daher wurde er auch zu einem überzeugten Anhänger Hitlers, denn durch diesen sah Steinacker seine Ansicht bestätigt, dass eine Vormachtstellung in Mitteleuropa einzig einem deutschen, auch Österreich enthaltenden Staat zufällt. Er ging so weit, sich auch konkrete Gedanken über eine auf völkischer Grundlage bestehende Staatenordnung nach dem von Deutschland gewonnenen Krieg zu machen.9 Nach dem verlorenen Krieg versuchte er, die Verbrechen des Nationalsozialismus, auch den Holocaust, stark zu relativieren.

Karel Hruza

1 Grundlegend zu ihm Renate Spreitzer, Harold Steinacker (1875–1965). Ein Leben für „Volk und Geschichte“, in: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, Wien u.a. 2008, S. 191–223; Anna Schader, Harold Steinacker (1875–1965). Sein Weg in den Nationalsozialismus (ungedr. Diss. Klagenfurt 1997). Verharmlosend aber materialreich ist der Nachruf von Franz Huter, Harold Steinacker, in: ÖAW, Almanach für das Jahr 1965 115 (1966), S. 306–335. 2 Gedruckt im Kleo Pleyer gewidmeten Sammelband Harold Steinacker, Volk und Geschichte. Ausgewählte Reden und Aufsätze, Brünn u.a. 1943, S. 541–555. 3 Spreitzer, Steinacker, S. 201. 4 Siehe Klaus Wachtel, Arthur Stein (1871–1950) und Edmund Groag (1873–1945). Zwei jüdische Gelehrtenschicksale in Wien und Prag, in: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker. Lebensläufe und Karrieren in Österreich 1900–1945, Bd. 2., Wien u.a. 2012, S. 129–167, 152 und 165f. 5 Spreitzer, Steinacker S. 213–221. Einen Überblick gibt der Sammelband Steinacker, Volk und Geschichte. 6 Steinacker, Volk und Geschichte, S. 111–148, 148 Anm. 31. 7 Spreitzer, Steinacker, S. 216.

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8 Beide Zitate, ebd., S. 217 9 Ebd. 220.

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Wolfgang Steinacker Wolfgang Harold Agathon Steinacker wurde am 3. März 1906 im Wien der späten Habsburger Monarchie geboren.1 Als erstes von drei Kindern des evangelischen, ungarndeutschen Historikers →Harold Steinacker (1875–1965) und dessen erster Frau, der aus Wiesbaden stammenden Offizierstochter Konstanze (Cona) von Ende (1879– 1919),2 wurde der Sohn nachhaltig durch die Nationalitätenkämpfe der Epoche geprägt. Die aus Deutschland stammende väterliche Linie hatte es erst drei Generationen zuvor nach Ungarn verschlagen: Der Urgroßvater, der evangelische Geistliche Gustav Steinacker (1809–1877), der sich insbesondere durch zahlreiche Übersetzungen ungarischer Dichtung um den zeitgenössischen deutsch-magyarischen Kulturkontakt verdient machte, hatte zeitweilig in Debrecen als Schulleiter, später unter anderem in Triest als Pfarrer gewirkt, bis er nach kirchenpolitischen Konflikten mit den österreichischen Behörden 1848/49 schließlich nach Thüringen übersiedelte. Noch in Ungarn war der Großvater, der spätere Budapester Handelskammersekretär Edmund Steinacker (1839–1929), geboren worden; als einer der führenden deutschnational-„völkischen“ Minderheitenpolitiker in der ungarischen Reichshälfte trat er vor allem im Sinne einer nationalpolitischen Mobilisierung der ungarndeutschen Bevölkerungsgruppen und – nach dem Ersten Weltkrieg – durch seine Tätigkeit für das →Deutsche Ausland-Institut (DAI) in Stuttgart sowie den Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) hervor. Harold Steinacker wiederum, der Vater Wolfgang Steinackers, hatte teils in Jena, teils in Budapest das Gymnasium besucht, danach die Universität Wien, wo er sich 1905 für Allgemeine Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften habilitierte. Harold Steinacker wurde einer der richtungweisenden Vertreter deutscher „Südostforschung“ sowie einer „volksdeutschen“ Geschichtsauffassung. Seine Berufung auf den Innsbrucker Lehrstuhl für Allgemeine und Österreichische Geschichte veranlasste die Familie 1909 zur Übersiedlung von Wien in die Tiroler Landeshauptstadt. Hier verbrachte Wolfgang Steinacker mehrheitlich seine Kindheit und Gymnasialjahre. Noch ehe er am 27. Juni 1924 in Innsbruck die Hochschulreife erhielt, war der früh politisierte Wolfgang Steinacker im Vorjahr der „völkisch“-antisozialistisch orientierten Tiroler Heimatwehr beigetreten. Mitte Juli 1927 nahm er mit ihr an der Niederwerfung eines sozialistischen Eisenbahnerstreiks in Tirol teil. Als die Heimatwehr indes bald immer stärker in das Fahrwasser des italienischen Faschismus geriet und auf Manifestationen gegen die Italianisierung Südtirols verzichtete, erklärte Steinacker seinen Austritt. Unterdessen hatte er im Herbst 1925 das Studium der Rechtswissenschaft aufgenommen, das er – abgesehen von je einem Semester in Wien und Berlin – in Innsbruck absolvierte. Hier promovierte er auch am 8. Juni 1929 bei dem Staats- und Verwaltungswissenschaftler Max Kulisch (1870–1946). Anschließend, von Oktober 1929 bis August 1930, war Steinacker als wissenschaftliche Hilfskraft am volkstumswis-

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senschaftlich und insbesondere auf die Südtirol-Thematik ausgerichteten Institut für Sozialforschung in den Alpenländern an der Universität Innsbruck tätig. Im Jahre 1925 von dem Innsbrucker Staatsrechtler Karl Lamp (1866–1962) gegründet und im Oktober 1933 wegen NS-freundlicher Orientierungen behördlich aufgelöst, verstand es sich als das einzige universitäre Grenzlandinstitut Österreichs. Steinacker verfasste hier eine juristisch-soziologische Studie über den „Begriff der Volkszugehörigkeit und die Praxis der Volkszugehörigkeitsbestimmung im altösterreichischen Nationalitätenrecht“, die 1932 in der Schriftenreihe des Instituts erschien und sich teilweise an Vorstellungen des Volkstumssoziologen →Max Hildebert Boehm orientierte. Die Studienjahre verbanden sich für Wolfgang Steinacker mit der Reifung seiner politischen Überzeugungen und dem Hineinwachsen in das Netzwerk volkstumspolitisch aktiver Verbände und Wissenschaftsmilieus. An der Universität Wien hatte er den studentischen →Antisemitismus erlebt, in Berlin fand er den Weg zum Verein Deutscher Studenten (VDSt), dessen Innsbrucker Korporation er 1927 mitgründete. Hierüber gelangte er an seiner Heimatuniversität zur studentischen „Grenzlandarbeit“: Im VDSt, in der Akademischen Sektion Innsbruck des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, im Verein für das Deutschtum im Ausland sowie im Innsbrucker Grenzlandamt der Deutschen Studentenschaft, dessen Leitung er übernahm, engagierte er sich für die Revision der Brennergrenze. Speziell über die örtliche Korporation des VDSt ergaben sich Kontakte zu dem volkstumswissenschaftlich orientierten Geographen →Friedrich Metz sowie zu dem Journalisten, Publizisten und Grenzlandaktivisten Felix Kraus (1887–1950), der seit 1926 in Innsbruck als Agent des deutschen Auswärtigen Amtes für Österreich- und Südtirol-Fragen tätig war. In einem von Kraus in Innsbruck aufgebauten Südtiroler Aktionskreis, der Beziehungen zu volkstumspolitischen Aktivisten südlich des Brenners unterhielt, trat Steinacker mit jüngeren Wissenschaftlern wie Ferdinand Ulmer (1901–1974), Helmut Friedel (1901–1975) ebenso in Kontakt wie mit Repräsentanten der inzwischen illegalen politischen Gruppierungen Südtirols um Paul (1869–1948) und Lothar Freiherr von Sternbach (1905–2005) vom bürgerlichen Deutschen Verband, Rudolf (Rolf) Hillebrand (1900–1943), ein späterer Schwager Steinackers, vom nationalsozialistisch orientierten Völkischen Kampfring Südtirols. Zugleich kooperierte Steinacker, der auch selber in Südtirol in der volkstumspolitischen Untergrundarbeit aktiv wurde, mit der von Immigranten geleiteten Innsbrucker Arbeitsstelle für Südtirol unter Ernst Mumelter (1879–1963), später unter Eduard Reut-Nicolussi (1888–1958), der seit 1931 den Lehrstuhl für internationales Recht an der Universität Innsbruck innehatte. Für den italienischen Faschismus hegte Steinacker, abgesehen von dessen repressiver ethnopolitischer Komponente, indes durchaus ideologische Sympathien. Von Januar 1931 bis Februar 1934 durchlief Steinacker – hauptsächlich in Innsbruck, teilweise in Wien – den richterlichen Vorbereitungsdienst. Nach Ablegung der Großen Staatsprüfung am 14. März 1934 fiel er für die Innsbrucker Südtirol-Agi-

Wolfgang Steinacker  801

tation aus, da er wegen NS-Sympathien, die ihm im Vorjahr eine dienstliche Maßregelung eingetragen hatten, dem Justizdienst Oberösterreichs zugewiesen wurde – zunächst als Hilfsrichter in Linz, dann in Raab im Innkreis. Beruflich etabliert, heiratete er am 29. August 1934 in erster Ehe die Südtirolerin Johanna von Mairhauser (1905–1993). Mit Übernahme in den öffentlichen Dienst erfolgte zum 15. März des Jahres seine Aufnahme in die von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß (1892–1934) gegründete Vaterländische Front; im Rahmen dieser einzig zugelassenen politischen Organisation des österreichischen Ständestaates übte Steinacker ab 1936 die Funktion eines Ortsführers aus. Der erklärte Verzicht auf die Südtiroler Revisionsforderung im Tausch gegen ein Bündnis mit dem faschistischen Italien hatte Steinacker lange Zeit eine zumindest partielle Distanz gegenüber dem Nationalsozialismus einnehmen lassen. Der euphorisch aufgenommene österreichische „Anschluss“ indes, der wesentlich seinen großdeutschen Orientierungen entsprach, wurde ihm zum politischen Schlüsselerlebnis. Es veranlasste ihn zu einer Umorientierung und weckte eine auf Opfervorstellungen basierende Akzeptanz gegenüber der offiziellen Südtirolpolitik des NSRegimes. Am 1. Mai 1938 trat er der NSDAP-Ortsgruppe Innsbruck bei. In der Nachfolge rückte er bis in die Stellung eines NS-Obergemeinschaftsleiters auf und wurde Mitglied des Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, des Nationalsozialistischen Altherrenbundes deutscher Studenten, des Reichskolonialbundes sowie des Reichsluftschutzbundes. Im August 1938 kehrte Steinacker in eine berufliche Stellung nach Innsbruck zurück, wo er beim Landgericht als Ermittlungs- und Untersuchungsrichter des Berliner Volksgerichtshofes unter anderem mit der Aufdeckung von regimefeindlichen Widerstandsgruppen befasst war. Nach den deutsch-italienischen Vereinbarungen über die Umsiedlung der Deutsch-Südtiroler vom Oktober 1939 beantragte er zum 7. Dezember seine Beurlaubung aus dem Justizdienst, um als Sachbearbeiter in die Abteilung I (Allgemeine und innere Verwaltung) der Reichsstatthalterei Tirol-Vorarlberg überwechseln zu können. Hier war er – seit 1. April 1940 in der Stellung eines Regierungsrates – als Referent für Rechtsfragen und stellvertretender Stabsleiter in der neu eingerichteten Dienststelle Umsiedlung Südtirol unter dem ehemaligen Grenzlandaktivisten Hans Georg Bilgeri (1898–1949) vor allem mit juristischen Fragen sowie mit der Betreuung der Südtiroler Umsiedler befasst. „Führer“-Verklärung und Bewunderung der damals noch siegreichen Wehrmacht hatten Steinacker ungeachtet seiner vorherigen Aktivitäten im Südtiroler Volkstumskampf veranlasst, die Umsiedlungspolitik des Regimes anfangs mitzutragen. Leitend war dabei die Annahme, das Deutsche Reich könne aus einer Position militärischer Stärke doch noch von Italien einen Verzicht auf Südtirol erzwingen und somit die Umsiedlung rückgängig machen. Ein Wandel in dieser Einschätzung indes und der Entschluss zur Obstruktion des Umsiedlungsprozesses traten ab etwa 1941 und den ersten militärischen Misserfolgen der Achsenmächte ein.

802  Biographien

Zunächst inoffiziell, dann gedeckt und finanziert durch die Innsbrucker Gauleitung, hatte Steinacker schon zuvor an der Auswertung grenz- und volkstumspolitisch relevanter Studien italienischer Wissenschaftskreise gearbeitet, denen er die Legitimierung eines gegen die deutschen Interessen gerichteten imperialen faschistischen Ausgreifens auf die Südschweiz zur Last legte. Bereits im August 1940 mahnte er, die volkstumspolitischen „Alpenfragen [müssten] deutscherseits viel intensiver bearbeitet werden, jedoch unter striktester Wahrung der Interessen des deutschen Lebensraumes.“3 Der Tiroler Gauleiter Franz Hofer (1902–1975) bestellte Steinacker per 1. November 1940 zum Leiter des Sachgebietes „Grenzland- und Volkstumspflege“ (I a 12) in der Abteilung „Allgemeine und innere Angelegenheiten“ der Reichsstatthalterei Tirol-Vorarlberg (Gauselbstverwaltung); angeschlossen war dem genannten Sachgebiet zugleich das Institut für Landes- und Volksforschung des Reichsgaues Tirol-Vorarlberg. Steinacker befasste sich in dieser Amtsstellung unter anderem auch mit den in Aussicht genommenen Ansiedlungsgebieten der Südtirol-Umsiedler. In Ergänzung seiner Funktion als volkspolitischer Dezernent beim Reichsstatthalter wurde Steinacker zudem die Leitung des Gaugrenzlandamtes der Tiroler Gauleitung übertragen. Im Jahre 1941 übernahm er außerdem die Geschäftsführung der zunächst noch von dem Geologen Raimund von Klebelsberg zu Thumburg (1886–1967), seit Ende 1942 von Franz Huter (1899–1997) geleiteten →Alpenländischen Forschungsgemeinschaft in Innsbruck sowie die Führung der ihr angeschlossenen Publikationsstelle. Damit trat Steinacker ganz in den Aufgabenbereich wissenschaftlicher Politikberatung sowohl gegenüber der Gauleitung Tirol-Vorarlberg als auch gegenüber den zentralen Reichsministerien ein. Die genannten Innsbrucker Dienststellen erarbeiteten deutsche Revisions- und Expansionskonzepte im Ostalpen- und oberen Adriaraum sowie sozioethnische Raumordnungs- und Identitätsentwürfe; sie befassten sich darüber hinaus mit geopolitischen, volkstums- und bevölkerungswissenschaftlichen Publikationen Italiens zum Alpengrenzraum von der Schweiz bis Jugoslawien, mit Expertisen über die als Kontrahenten aufgefassten italienischen Wissenschaftsmilieus sowie mit politischen Grenzlandanalysen. Steinacker, am 1. September 1943 zum Oberregierungsrat befördert, galt in seiner Innsbrucker Funktion rasch als „unentbehrlich und unersetzbar“. Auch die durch ihn herausgegebenen dienstinternen Schriftenreihen der Publikationsstelle wurden als „unentbehrliches Informationsmaterial für die Reichsressorts über die volkstumspolitischen Verhältnisse in den Alpenländern“4 gewertet. Bei Herausstellung der auf den Alpenraum gerichteten kulturpolitischen Bestrebungen Italiens und seiner vermuteten territorialen Expansionsziele bestand die generelle Intention von Steinackers tendenziell antiitalienischer Berichterstattung in einer Unterminierung des deutsch-italienischen Bündnisses. Ihr unterlag die Hoffnung, doch noch einen Abbruch der Südtiroler Umsiedlung herbeiführen zu können. Zugleich wurden aber auch NS-feindliche Tendenzen innerhalb der Deutsch-Südtiroler Bevölkerungsgruppe beobachtet und darüber Meldungen an Gestapo und SD erstattet.

Wolfgang Steinacker  803

Nach der deutschen Besetzung Italiens im September 1943 übernahm Steinacker in Ergänzung seiner bisherigen Aufgaben auch die Funktion eines volkstumspolitischen Konsulenten des Chefs der Zivilverwaltung in den zur Operationszone Alpenvorland zusammengeschlossenen italienischen Alpenprovinzen Bozen, Trient (Trento) und Belluno. Hier avancierte Steinacker zur Schlüsselfigur deutscher Volkstumspolitik.5 In der Dienststelle des in Bozen eingesetzten Obersten Kommissars, des Tiroler Gauleiters Franz Hofer, fungierte er zunächst als Referatsleiter im Arbeitsbereich II (Inneres). Etwa seit der Jahresmitte 1944 leitete er dann im Arbeitsbereich V (Wissenschaft und Unterricht) bei faktisch unverändertem Aufgabenfeld das Referat „Kunst- und Denkmalschutz“. Neben Archiverfassungs- und Bergungsarbeiten erstreckte sich Steinackers Zuständigkeit vor allem auf kulturpolitische Fragen und auf die Bereitstellung bevölkerungspolitischen Herrschaftswissens für die annexionsorientierte NS-Besatzungsverwaltung („Rückdeutschung“ Südtirols, Entnationalisierung des Trentino, „Zimbern“-Forschung im Zusammenhang mit den deutschen Sprachinseln am Alpensüdhang). Des Weiteren vertrat er den Innsbrucker Geschichtsprofessor Franz Huter in der Geschäftsführung der volkstums- und kulturpolitisch ausgerichteten Arbeitsgemeinschaft für Landes- und Volksforschung Südtirol, die am 28. April 1944 durch das „Ahnenerbe“ der SS (→Kulturkommission des SS-„Ahnenerbes“ in Südtirol) und den Obersten Kommissar in der Operationszone Alpenvorland gegründet und Steinackers Referat angeschlossen worden war. Bisweilen geleitet von Vorstellungen „volkstumspolitischer Revanche“ und persönlicher Abrechnung, widmete er sich zudem der Aufdeckung von Aktivitäten italienischer Volkstumsforscher im Alpengrenzraum und deren Netzwerken um Paolo Drigo (1899–1968), Aurelio Garobbio (1905–1992), Ettore Tolomei (1865–1952) und Paolo Emilio Vinassa de Regny (1871–1957). Darüber hinaus veranlasste Steinacker die Verschleppung von Kulturgütern, darunter beispielsweise die Verbringung des Tolomei-Archivs in das Kloster Hilariberg bei Kramsach in Nordtirol, wo sich eine Ausweichstelle des nunmehrigen Instituts für Landes- und Volksforschung des Reichsgaues Tirol-Vorarlberg befand. In den letzten Kriegsmonaten bemühte sich Steinacker, der nach Dissens mit Gauleiter Hofer Ende Dezember 1944 zum Volkssturm ins Südtiroler Gossensaß einrückte, um die Erstellung eines großen, offenkundig später den Alliierten zu übergebenden Sammelbandes, mit welchem die Zugehörigkeit Südtirols zu Österreich wissenschaftlich nachgewiesen werden sollte. Bei Kriegsende im Mai 1945 wurde Steinacker zunächst kurzfristig durch amerikanische, dann durch französische Okkupationsorgane inhaftiert und verhört, anschließend der „Direction des Recherches en Autriche“ zur ethnopolitischen Unterrichtung des Oberkommandierenden der französischen Besatzungstruppen in Österreich, General Marie-Émile Béthouart (1889–1982), zugewiesen. Bis zur neuerlichen Bestätigung der österreichisch-italienischen Grenze von 1919 durch die Pariser Friedenskonferenz von 1946 blieb Steinacker daher durch die Erstellung von Berichten und Dossiers zu Grenz- und Minoritätenproblemen Italiens, vor allem zur SüdtirolFrage, auf dem Gebiet wissenschaftlicher Politikberatung aktiv.

804  Biographien

Da ihm die Fortsetzung der zuvor eingeschlagenen Beamtenlaufbahn im Nachkriegsösterreich untersagt wurde, musste Steinacker nunmehr beruflich auf die in verschiedenen Anstellungen ausgeübte Tätigkeit eines Rechtskonsulenten ausweichen. Von einer 1955 in Trient gegen ihn und Franz Huter erhobenen Anklage wegen schweren Diebstahls völkerkundlicher Dokumente (Tolomei-Archiv) wurden beide Beschuldigten freigesprochen. Wolfgang Steinacker verstarb am 14. März 1996 in Klosterneuburg (Niederösterreich).

Michael Wedekind

1 Die Personalunterlagen Steinackers finden sich im UA Innsbruck, Nationale, Standesblatt Wolfgang Steinacker, Juridische Fakultät, WS 1925/26, sowie im BArch, ZA VI 176 A 4, und ebd., RMI, Akte „Steinacker, Wolfgang“. Die Handakten aus seiner Tätigkeit beim Obersten Kommissar in der Operationszone Alpenvorland von 1943 bis 1945 sind im Stadtarchiv Bozen enthalten (Aktenbestand Arbeitsgemeinschaft der Südtiroler Optanten für Deutschland). Zu Steinacker siehe auch: Michael Gehler, Wolfgang Steinacker – Obstruktion gegen die „Achse“ Berlin-Rom, in: Das Fenster 46 (1989), S. 4548–4554, und ders., Der Hitler-Mythos in den „nationalen“ Eliten Tirols, dargestellt an Hand ausgewählter Biographien am Beispiel der Südtirolfrage und Umsiedlung, in: Geschichte und Gegenwart 9 (1990), S. 279–315, sowie: Michael Wedekind, „Völkische Grenzlandwissenschaft“ in Tirol. Vom wissenschaftlichen Abwehrkampf zur Flankierung der NS-Expansionspolitik, in: Geschichte und Region/Storia e regione 5 (1996), S. 227–265. 2 In zweiter Ehe heiratete Harold Steinacker 1926 Hildegard Katsch (1888–1985), eine Cousine seiner ersten Frau. 3 Archiv des Amtes der Tiroler Landesregierung, Sachgebiet Südtirol-Europaregion Tirol, 5/II 6 c 19: Grenz- und Volkstumsinstitut Tirol-Vorarlberg der Gauselbstverwaltung, Grenzpolitischer Bericht Nr. 3 vom 21.8.1940, S. 6f. 4 BArch, RMI, Akte „Steinacker, Wolfgang“, RMI/Abteilung VI an RMI/Abt. P 6, Berlin, 22.4.1943. 5 Siehe Michael Wedekind, Nationalsozialistische Besatzungs- und Annexionspolitik in Norditalien 1943 bis 1945: Die Operationszonen „Alpenvorland“ und „Adriatisches Küstenland“, München 2003, S. 248ff., sowie ders., Nationalsozialistische Volkstumspolitik in der Operationszone Alpenvorland (1943–1945), in: Andrea Di Michele (Hg. u.a.), Die Operationszone Alpenvorland im Zweiten Weltkrieg, Bozen 2008.

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Franz Steinbach Franz Steinbach, als langjähriger Direktor des Bonner Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande (IGL) und Mitbegründer und erster Vorsitzender der Rheinischen bzw. →Westdeutschen Forschungsgemeinschaft (WFG) einer der zentralen Protagonisten der deutschen →Westforschung, wurde am 10. Oktober 1895 im oberbergischen Rommersberg bei Engelskirchen, Rheinland, als zehntes von zwölf Kindern einer kleinbäuerlichen katholischen Familie geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Neuß studierte er Geschichte, Geographie, Germanistik und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, wo er 1922 zugleich das Doktor- und das Staatsexamen ablegte und daraufhin erster Assistent des IGL wurde. Zu seinen akademischen Lehrern gehörten →Hermann Aubin und Theodor Frings. 1925 erwarb er die venia legendi und wurde zum Privatdozenten, 1928 zum außerordentlichen Professor für rheinische Geschichte und allgemeine Wirtschaftsgeschichte und zum Direktor der Abteilung Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Historischen Seminars an der Universität Bonn ernannt. Bereits im Oktober 1926 hatte er als Nachfolger Aubins nach dessen Berufung nach Gießen (und Frings’ nach Leipzig) de facto, 1928 formell die Leitung des IGL übernommen, eine Position die er bis 1961, ein Jahr nach seiner formellen Emeritierung im Sommersemester 1960, ausüben sollte.1 Neben den Institutsgründern Aubin und Frings gilt Steinbach als der eigentliche Präger des Instituts und damit der sogenannten Rheinischen oder Bonner landesgeschichtlichen „Schule“ der Kulturraumforschung. Die lange Amtsdauer seines Direktorats von dreieinhalb Jahrzehnten, von der Weimarer Zeit über das Dritte Reich bis zur Bundesrepublik, ist zudem ein Symbol für die Kontinuität der deutschen Wissenschaft über Systemgrenzen hinweg. Zu Steinbachs Hauptarbeitsgebieten gehörten geschichtliche Landeskunde der Rheinlande und allgemeine Kulturraumforschung sowie Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Seine 1926 erschienene Habilitationsschrift „Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte“ hatte entscheidenden methodischen und inhaltlichen Einfluss auf die deutsche Volkstumsforschung im Westen und beeinflusste insbesondere seinen Protegé →Franz Petri stark.2 Eine ihrer Grundthesen, die später von Petri im Detail ausgearbeitet wurde, lautete, dass die germanisch-romanische Sprachgrenze nicht, wie bis dato angenommen, die äußerste erreichte Linie der frühmittelalterlichen germanischen Völkerwanderung widerspiegelte. Damit widersprach Steinbach der Auffassung Godefroid Kurths unter anderem, nach der an der Sprachgrenze die fränkische Siedlungsbewegung, zum Teil aufgrund natürlicher Barrieren, zum Teil aufgrund von spätrömischen Verteidigungsanlagen, zum Stehen gekommen war. Nach Steinbachs „dynamischer“ Entstehungstheorie der Sprachgrenze hätten fränkische Stämme weit westlich beziehungsweise südlich gesiedelt und wären erst im Laufe der Zeit von

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der gallo-romanischen Umgebung kulturell „rückromanisiert“ worden. Die Sprachgrenze sei somit eine „völkische Rückzugslinie“. Diese kontroversen Thesen, die zumindest latent auch zur Infragestellung politischer Grenzziehungen geeignet waren, erregten – vor allem nach ihrer Ausarbeitung en detail durch Petri – international viel Aufsehen und blieben selbst innerhalb der völkischen Wissenschaftsszene Deutschlands nicht unwidersprochen.3 Sie trafen sich jedoch mit den Vorstellungen einiger Volkskundler und Philologen in den Niederlanden und Belgien und fanden in der Zwischenkriegszeit auch bei namhaften Historikern wie dem Löwener Leo Van der Essen dem Genter Mediävisten François Louis Ganshof Gehör.4 War die Agenda des IGL vor dem Hintergrund des „Rheinischen Abwehrkampfes“ gegen die Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages bereits von seiner Gründung im Jahre 1920 an auch stark politisch bestimmt, so fiel in Steinbachs Amtszeit als Direktor die weitere Politisierung wissenschaftlicher Fragestellungen und deren Indienststellung für die „territoriale Offensive“ in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Auch außerwissenschaftlichen politischen Aktivitäten wurde nun größerer Raum eingeräumt, beispielhaft seien die Aktivitäten des IGL im Rahmen der rheinischen Jahrtausendfeiern genannt.5 Hatten sich Aubin und Frings noch weitgehend darauf beschränkt, den „deutsch-germanischen“ Charakter des Rheinlands seit dem Frühmittelalter zu unterstreichen, so bezog Steinbachs volksgeschichtliche Konzeption die westlichen Nachbargebiete des Rheinlandes zunehmend mit ein. Zahlreiche unter seiner Ägide entstandenen raum- und ethnohistorischen Untersuchungen gingen unter Anwendung von geographischen, philologischen und historischen Methoden tatsächlichen und vermeintlichen deutsch-germanischen Kultureinflüssen jenseits der Grenzen nach, darunter mit der Zeit auch „rassekundliche“ Verfahren, womit das ursprüngliche Paradigma der Kulturraumforschung eigentlich verlassen wurde. Die Vorstellung einer romanisch-germanischen Kultursymbiose wurde bei Steinbach von der eines Volkstumskampfes zwischen deutschem und „welschem“ Wesen ersetzt. Insbesondere wandte er sich gegen die Vorstellung eines kulturverbindenden lotharingischen Mittelreiches und versuchte die Bedeutung der mittelalterlichen Maaskultur herabzusetzen.6 1928/29 wurde die „Grenzlandforschung“ als eigenes neues Arbeitsgebiet des IGL institutionalisiert und vom Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung und dem Ministerium für die besetzten Gebiete im Geheimen großzügig finanziell unterstützt. Insbesondere das Saarland, mit dem sich Steinbach auch aufgrund der familiären Herkunft seiner Ehefrau verbunden fühlte, sowie →Luxemburg und das Gebiet der belgischen Ostkantone, das ehemalige Eupen-Malmédy-St. Vith, standen im Mittelpunkt des Interesses zahlreicher Seminare, Studienexkursionen und Feldforschungen. Im Nachlass Petri finden sich Aufzeichnungen über eine Vorlesungsreihe Steinbachs über Eupen-Malmedy, aus der hervorgeht, dass seine Vorstellungen über eine Revision der Versailler Gebietsverluste hi-

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nausgingen. Dies zeigt bereits die Miteinbeziehung der altbelgischen deutschsprachigen Gebiete um Montzen und Arlon, die nie zu Deutschland gehört hatten.7 Offen ausgesprochen wird dies unter anderem in einer 1934 von Steinbach mitverfassten Darstellung der französischen Saarpolitik, in der die Autoren ihrer Hoffnung Ausdruck verliehen, „daß die Wellen der völkischen Revolution mit Naturgewalt über die künstlichen und willkürlichen Staatsgrenzen hinüberschlagen“.8 Folgerichtig spielten die Forschungen des IGL auch bei der propagandistischen Vorbereitung der Volksabstimmung des Saarlandes 1935 eine wichtige Rolle. Steinbach ging dabei sogar soweit, Hitlers Ende 1933 erfolgter taktischer Erklärung, mit Ausnahme der Saar keine Revision der deutschen Westgrenze anzustreben, zu widersprechen, da der Anspruch auf die „alten volksdeutschen Gebiete im Westen“ nicht verjähren könne.9 Im Oktober 1938 wandte er sich gleichsam gegen Hitlers Zugeständnis einer Aussiedlung der Südtiroler an Mussolini.10 1931 war Steinbach auch Mitbegründer der zunächst als Rheinische Forschungsgemeinschaft (RFG) firmierenden Westdeutschen Forschungsgemeinschaft (WFG), die er von 1931 bis 1935 als erster Vorsitzender, später als Gebietsreferent, maßgeblich prägte und für die er das IGL zum „Hauptstützpunkt“ ausbaute.11 Auf regelmäßig im westdeutschen Grenzgebiet organisierten und von Berliner Ministerien finanzierten wissenschaftlichen Kolloquien, zu denen es Steinbach auch gelang, „deutschfreundliche“ westeuropäische Vertrauensleute wie den Schweizer Wirtschaftshistoriker →Hektor Ammann, den Leidener Germanisten Jan de Vries und den in London, später in Utrecht lehrenden Niederländer Pieter Geyl, einen der Vordenker der großniederländischen Bewegung, heranzuziehen, wurden etwa „germanische Wissenschaftsaufgaben im Westen“ (so der Titel einer Tagung in Kleve 1934) thematisiert. Zugleich ermöglichte die WFG die „einheitliche Ausrichtung der Volksund Landesforschung in den Gebieten an und vor der Westgrenze des Reiches gemäß den politischen Erfordernissen“.12 Dennoch war das Verhältnis Steinbachs zu den Nationalsozialisten, vor allem aufgrund seiner Verwurzelung im Katholizismus, ambivalent. Wohl war er 1934 beziehungsweise 1939 den nationalsozialistischen Standesvereinigungen NSLB und NSD beigetreten, nicht jedoch der Partei selbst. Bestrebungen, sein Extraordinariat in eine planmäßige Stelle umzuwandeln, wurden in den 1930er Jahren mit Hinweis auf die Rolle der Zentrumspartei bei seiner Berufung 1928, wiederholt abgewiesen.13 Bei den landesgeschichtlichen Forschungen Steinbachs ist jedoch zweifelsohne eine Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie zu erkennen und von den Bonner Ordinarien war Steinbach nach Ansicht Ernst Anrichs auch ohne Parteimitgliedschaft der überzeugendste Vertreter der NS-Gedanken. Seine wissenschaftliche Arbeiten stellte er, besonders nach der Besetzung Frankreichs, bereitwillig zur Legitimierung der nationalsozialistischen Expansionspolitik im Westen zur Verfügung,14 so in einem Festvortrag über den „geschichtliche[n] Sinn des Waffenstillstandes mit Frankreich“,15 und auch praktisch war seine Verwendung bei der Besatzung der Nachbarländer vorgesehen.

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Bei Kriegsausbruch wurde Steinbach, der bereits im Ersten Weltkrieg als Offizier gedient hatte, zum Militärdienst eingezogen und war im Frühjahr 1940 als Leiter der Abteilung Kultur und Volkstumsfragen im Stab Eggert Reeders bei der Militärverwaltung von Belgien und Nordfrankreich vorgesehen. Nach eigener Aussage hatte er das Amt auch bereits angetreten, musste es aber bald darauf infolge eines Einspruches der von der SS beherrschten Volksdeutschen Mittelstelle und des SD seinem Protegé Franz Petri überlassen. Außer seinem Katholizismus hatte hierbei Steinbachs Betonung der politischen und „völkischen“ Eigenständigkeit der Niederlande eine Rolle gespielt. Petri sorgte im Gegenzug jedoch dafür, dass Steinbach im Wintersemester 1940/41 als Gastprofessor an die Universität Gent entsandt wurde, nachdem sich die örtlichen Professoren geweigert hatten, sich die germanische Sache zu eigen zu machen. Ziel dieses einseitigen Austauschprogramms, im Rahmen dessen jährlich je drei deutsche Hochschullehrer an die beiden staatlichen Universitäten in Gent und Lüttich entsandt wurden, war die geistige Umorientierung Belgiens. Steinbachs Aufgabe in Gent war es, „den Flamen ein Bild von den Problemen deutscher Wissenschaft zu vermitteln und aus der Kenntnis der völkischen Fragen des niederländischen Westens die tiefe Verwurzelung der germanischen Verbundenheit in diesem Raum zu unterbauen“.16 Damit traf er bei der stark von Pirenneschen Gedanken geprägten Genter Studentenschaft jedoch auf Skepsis und regte zu deren Bekämpfung die Schaffung eines deutschen wissenschaftlichen Institutes in diesem „germanischen Vorposten im Westen“ an, das auf die Verbundenheit Belgiens mit dem Reich hinarbeiten sollte.17 Nach seinem Genter Gastspiel, war Steinbach von 1941 bis zum Kriegsende bei der Wehrmacht in Norwegen eingesetzt, zuletzt als Regimentskommandeur der Küstenartillerie nördlich des Polarkreises. Im Gegensatz zu Petri hatte Steinbach nach Kriegsende keine Probleme der Wiedereingliederung. 1946 erreichte er seine Wiederzulassung als Hochschuldozent von den britischen Militärbehörden, seine Ernennung zum planmäßigen Ordinarius erfolgte dann 1949. Gleichwohl blieb er völlig uneinsichtig, was seine Rolle in der Westforschung des Dritten Reiches betrifft und verteidigte diese aggressiv („kein Historiker und kein Bußprediger wird uns davon überzeugen, daß wir eine ‚unbewältigte Vergangenheit‘ hinter uns hätten“).18 Allerdings mied er Themen der Westforschung in der Folge und konzentrierte sich weitgehend auf deutsche Wirtschafts-, Sozial- und Verfassungsgeschichte.19 Auch die großangelegte Gesamtdarstellung der Geschichte der deutschen Westgrenze aus der Vorkriegszeit, deren Fertigstellung durch seine Kriegstätigkeit unterbrochen war, ließ er unter den veränderten politischen Umständen nach 1945 wohlweislich unvollendet.20 Seine Netzwerke konnte er hingegen auch über das Kriegsende hinaus wahren, und er vermochte es, in den letzten Jahren seines Lebens noch zum Korrespondierenden Mitglied der Königlich Flämischen Akademie der Wissenschaften und 1964 zum Ehrendoktor der Universität Löwen ernannt zu werden. Steinbachs Veröffentlichungen wurden nach 1945 mit Vorliebe bei der von Ernst Anrich gegründeten Darmstädter Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (WBG) verlegt.

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Bis zu seiner Emeritierung 1960 prägte Steinbach die Historische Landeskunde in Bonn. Sein Nachfolger wurde Franz Petri. Vom „hohem fränkischen Anteil an französischen Volksgrundlagen“ blieb er zeitlebens überzeugt. Am 7. November 1964 verstarb er in Bonn und liegt auf dem Poppelsdorfer Friedhof beerdigt.

Ulrich Tiedau

1 Hans-Paul Höpfner, Die Universität Bonn im Dritten Reich. Akademische Biographien unter nationalsozialistischer Herrschaft, Bonn 1999; Wolfgang Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Lehrstuhlinhaber für Geschichte von den Anfängen des Faches bis 1970, Frankfurt a. M. 1984, 572ff.; Michael Fahlbusch, Deutschtumspolitik und Westdeutsche Forschungsgemeinschaft, in: Burkhard Dietz (Hg. u.a.), Griff nach dem Westen. Die ‚Westforschung‘ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum, Münster u.a. 2003, S. 569–648, 596f. (im Folgenden „Griff nach dem Westen“); Max Braubach, Franz Steinbach† zum Gedenken, in: Historisches Jahrbuch 84 (1964), S. 382–391; Franz Petri, Franz Steinbach, in: Wolfgang Schmid (Hg. u.a.), In memoriam Franz Steinbach, Bonn 1965, Bonner Gelehrte – Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn: Geschichtswissenschaften, Bonn 1968, S. 376–384; Köpfe der Forschung an Rhein und Ruhr 1963, S. 537; Wer ist wer? 12 (1955), S. 611; Kürschner’s Gelehrtenkalender 6 (1940/41), S. 2017f.; 7 (1950), S. 379; Handbuch der deutschen Wissenschaft, Bd. 2: Biographisches Verzeichnis 1949, S. 426. 2 Franz Steinbach, Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte, Marburg 1926; Franz Petri, Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich. Die fränkische Landnahme in Frankreich und in den Niederlanden und die Bildung der westlichen Sprachgrenze, Bonn 1937. 3 Zum Beispiel Ernst Gamillscheg, Germanische Siedlung in Belgien und Nordfrankreich, I: Die fränkische Einwanderung und die junggermanische Zuwanderung, Berlin 1938; ders., Rezension Franz Petri, Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich, in: Deutsche Literatur-Zeitung (1938), S. 377; Hans Witte, Die deutsch-französische Sprachgrenze in Steinbachs Auffassung, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 85 (1939), S. 300–308; Friedrich Schilling, in: Westmärkische Abhandlungen zur Landes- und Volksforschung 1941. 4 Vgl. Marnix Beyen, De grenzen van de grensoverschreidende Westforschung. De wetenschappelijke zoektocht naar etnische eigenheid in Nederland en Wallonie 1850–1950, in: Tijdschrift voor Geschiedenis 118 (2005), S. 191–201; ders., Eine lateinische Vorhut mit germanischen Zügen. Wallonische und deutsche Gelehrte über die germanische Komponente in der wallonischen Geschichte und Kultur (1900–1940), in: Griff nach dem Westen, S. 351–382; Björn Rzoska, Barbara Henkes, „Das Volk wurde neu entdeckt!“ Volkskunde und die ‚großgermanische‘ Kulturpolitik in Flandern (1934– 1944), in: Griff nach dem Westen, S. 447–472. 5 Franz Steinbach, Schicksalsfragen der rheinischen Geschichte, in: Otto Brües (Hg.), Der Rhein in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart 1925, S. 107–178. 6 Heribert Müller, „Von welschem Zwang und welschen Ketten des Reiches Westmark zu erretten“. Burgund und der Neusser Krieg 1474/75 im Spiegel der deutschen Geschichtsschreibung von der Weimarer Zeit bis in die frühe Bundesrepublik, in: Griff nach dem Westen, S. 137–184, 168f. 7 Westfälisches Archivamt, Bestand 914. Vgl. Carlo Lejeune, „Des Deutschtums fernster Westen“: Eupen-Malmedy, die deutschen Dialekt sprechenden Gemeinden um Arlon und Montzen und die „Westforschung“, in: Griff nach dem Westen, S. 493–538, 501f. 8 Martin Herold, Josef Niessen, Franz Steinbach, Geschichte der französischen Saarpolitik. Ausgangsstellung und Angriff – Von der Saar zum Rhein – Wende und Wiederkehr, in: Collectanea Franz Steinbach, S. 257, zitiert nach Peter Schöttler (Hg.), Die historische „Westforschung“ zwischen

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„Abwehrkampf“ und territorialer Offensive, in: ders., Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 246f., Anm. 90. 9 Zitiert nach ebd., S. 211. 10 Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000, 314f. 11 Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945, Baden-Baden 1999, S. 350ff. 12 Definition des Auswärtigen Amtes zitiert nach Marlene Nikolay-Panter, Geschichte, Methode, Politik. Das Institut und die geschichtliche Landeskunde der Rheinlande 1920–1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 60 (1996), S. 233–262. Wiederabdruck in Griff nach dem Westen, S. 689–714, 704. 13 Das ambivalente Verhältnis kam besonders in einer Beurteilung des Bonner NSDAP-Kreisleiter Eichler zum Ausdruck: „Der Grundzug seiner Haltung ist national und seit 1933 in gewissem Sinne auch nationalsozialistisch. Steinbach ist katholisch und durch seine Familie weltanschaulich gebunden. Er bejaht in jeder Hinsicht den heutigen Staat und auch das nationalsozialistische Gedankengut mit Ausnahme der nationalsozialistischen Weltanschauung.“ Zitiert nach Hans-Paul Höpfner, Bonn als geistige Festung an der Westgrenze? Zur Rolle und Bedeutung der ‚Westforschung‘ an der Universität Bonn 1933–1945, in: Griff nach dem Westen, S. 673–688, 678. Ähnliche Gutachten von 1935 und 1940 ebd. 14 „Die geschichtliche Landesforschung im Sinne Franz Steinbachs beließ aber auch den machtpolitischen Faktoren den ihnen zukommenden Platz“, schreibt selbst Petri in seinem Nachruf auf Steinbach. 15 Franz Steinbach, Der geschichtliche Sinn des Waffenstillstandes mit Frankreich, Bonn 1940. 16 So Franz Petri in der Rolle des Leiters der Kulturabteilung der Militärverwaltung im August 1940, zitiert nach Höpfner, Bonn als geistige Festung an der Westgrenze? S. 673–688; vgl. Siska Germonpré, De oorlogsjaren 1940–44 aan de Faculteit Letteren en Wijsbegeerte – sectie Geschiedenis van de Rijksuniversiteit Gent, Gent 1992. 17 Tätigkeitsbericht an den Militärbefehlshaber in Belgien und Nordfrankreich, zitiert nach Marlene Nikolay-Panter, Geschichte, Methode, Politik. Das Institut und die geschichtliche Landeskunde der Rheinlande 1920–1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 60 (1996), S. 233–262. Wiederabdruck in Griff nach dem Westen, S. 689–714. 18 Collectanea Franz Steinbach, S. 867f., zitiert nach Peter Schöttler (Hg.), Die historische „Westforschung“ zwischen „Abwehrkampf“ und territorialer Offensive, in: ders., Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 9f. 19 Wilhelm Janssen, Das Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande der Universität Bonn nach der Ära Steinbach (seit 1961), in: Landesgeschichte in Deutschland. Bestandsaufnahme – Analyse-Perspektiven, hg. von W. Buchholz, Paderborn 1998, S. 319. 20 Franz Petri, Franz Steinbach zum Gedächtnis, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 29 (1964), S. 23.

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Lothar Stengel-von Rutkowski Ein Rassenpolitiker und Pseudo-Philosoph von ganz besonderer politischer Couleur, der zu den charismatischsten Protagonisten einer Deutschen Biologie und Deutschen Philosophie an der Universität Jena gehörte, war der Mediziner Lothar (August Arnold) Stengel von Rutkowski. Stengel von Rutkowski wurde am 3. September 1908 als sechster Sohn eines Pastors in Hofzumberge (Tervete, heute Lettland) geboren.1 Im Frühjahr 1919 erlebte er die Ermordung seiner Eltern durch bolschewistische Soldaten.2 Nach der Flucht nach Deutschland wurde Stengel in Marburg an der Lahn vom Historiker Edmund E. Stengel (1879‒1968) adoptiert. Nach dem Erwerb der Hochschulreife am Gymnasium Philippinum in Marburg zu Ostern 1928 studierte Stengel von 1928 bis 1933 an den Universitäten München, Marburg und Wien die Fächer Medizin und Rassenhygiene. Anfang der 1930er-Jahre machte Stengel eine steile Karriere. Mit nur 21 Jahren trat er am 1. April 1930 der NSDAP (Mitgliedsnummer 223.103) und gleichzeitig der SS (Mitgliedsnummer 3.683) bei; am 30. Juni 1934 wurde er Träger des SS-Totenkopfringes. Schon zwei Jahre vor der Machtergreifung war er zudem seit dem 31. März 1931 Abteilungsleiter im „Amt Rassenhygiene“ der SS. Zwei Jahre später (1933) wurde Stengel Mitglied im Verein Adler und Falken und agiler Funktionär der Münchner Gruppe des Nordischen Ringes. Der „Nordische Gedanke“ war zunächst von der Nordischen Bewegung in den 1920er-Jahren vertreten worden, bevor im Jahre 1926 dann Hanno Konopacki-Konopath den Nordischen Ring gründete. Dieser orientierte sich u.a. am Ring der Norda, einer Geheimorganisation, die 1907 Alfred Ploetz mitinitiiert hatte.3 Als Mitglied des engeren Redaktionskreises der Nationalsozialistischen Monatshefte war er auch journalistisch tätig. Zu seinen engsten Kollegen und persönlichen Freunden zählte der führende Rassentheoretiker und NS-Ideologe →Hans F. K. Günther. Zusammen mit ihm und anderen antisemitisch geprägten nationalsozialistischen Wissenschaftlern wie →Jakob Wilhelm Hauer, →Kleo Pleyer und →Herman Wirth begründete er 1933 die Deutsche Glaubensbewegung mit, die eine der Hauptstützen des NS-Staates bei der Bekämpfung des Einflusses der katholischen Kirche sowie der jüdischen Religionsgemeinden darstellen sollte. Seit 1. Februar 1939 war Stengel auch Mitglied der NSV, später des NS-Dozentenbundes (Mitgliedsnummer: 3.051) und des weiteren Vorstandsmitglied des Thüringer-Kontors der Nordischen Gesellschaft. Am 8. Dezember 1939 erhielt er den thüringischen Silbernen Gauadler. Noch während seines Studiums wurde Stengel im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS (RuSHA) angestellt. Nach zwei Jahren (1933) erfolgte die Beurlaubung zur Ablegung des medizinischen Staatsexamens an der Universität in Marburg. Zwischen dem 24. März 1934 bis 1. November 1938 gehörte er wieder dem RuSHA an, diesmal auf besonderen Wunsch von Richard W. Darré (1895‒1953) und Heinrich Himmler (1900‒1945), und wurde direkt im Stab des Reichsbauernführers (Darré) angestellt. Hier erhielt er Sonderaufträge auf den Gebieten der „Feiergestaltung“ und „Rassenkunde“. Im November 1934 wurde er mit nur 26 Jahren Leiter der Abteilung Lehre

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und Forschung, einer Außenstelle des Thüringer Landesamtes für Rassewesen an der Universität Jena, dessen Präsident sein Lehrer, Mentor und späterer Kriegsrektor der Jenaer Universität, der Mediziner und SS-Standartenführer →Karl Astel (1900– 1945) war. Gleichzeitig arbeitete er auch in der thüringischen Zweigstelle des RuSHA und wurde hier 1936 Gauhauptstellenleiter beim Amt für Rassenpolitik der NSDAP; an militärischen Auszeichnungen besaß er die Ostmedaille (1937), das EK II. Klasse (1943) sowie das Verwundetenabzeichen in schwarz (1943). Nach bestandener medizinischer Staatsprüfung (1934) in Marburg erfolgte seine Approbation (1935) zum Arzt; die Prüfung zum Dr. med. legte er am 14. November 1938 mit einer Arbeit über „Die unterschiedliche Fortpflanzung: Untersuchung über die Fortpflanzung der 20.000 thüringischen Bauern“ ab. Sein praktisches Jahr absolvierte er an der Psychiatrischen- und Nervenklinik in Jena.4 Als Gutachter und Beisitzer nahm Stengel zwischen 1937 und 1941 zudem an mindestens 33 (ZwangsSterilisierungs-)Verhandlungen beim Erbgesundheits-Obergericht in Jena teil.5 Am 1. Oktober 1937 wurde Stengel mit 29 Jahren einer der jüngsten Regierungsräte im Dritten Reich. Vom 1. November 1938 bis 20. April 1939 wurde er dem SSPersonalhauptamt und Schulungsamt zugeteilt und vom 20. April 1939 bis 1. September 1941 wurde er beim Stab des SS-Hauptamts geführt. Bereits im Februar 1939 nahm Stengel an einer Veranstaltung im internen Kreis von SS-Führern teil. Seit 1933/34 propagierte er die „Rasse als Prinzip und Tatsache“, da von dieser Einstellung und Sichtweise das „Schicksal des ganzen nordischen Abendlandes“ abhinge. Er war in seiner thematischen Radikalisierung dabei durchaus seinem Vorgesetzten Astel ebenbürtig: „Damit ist der Begriff Rasse hinausgewachsen aus den Räumen anthropologischer Institute, biologischer Laboratorien und prähistorischer Sammlungen“, apostrophierte Stengel in den Nationalsozialistischen Monatsheften.6 Als Referent stand er an den vom Thüringischen Landesamt für Rassewesen organisierten Schulungskursen für Lehrer, Ärzte, Juristen zur Verfügung; des Weiteren sorgte er als Bewunderer Astels für eine publikumswirksame Veranschaulichung der groß angelegten Erbbestandsaufnahme.7 Astel hatte mittels eines Fragebogens Tausende Thüringer nach biologischen und charakterlichen Merkmalen erfassen lassen. Nicht zuletzt zur Stärkung der Positionen der sogenannten AstelGruppe initiierte Ende der 1930er-Jahre Stengel dann in Jena ca. 14tägig einen „Sprechabend“ oder „Rutkowski-Kreis“ über Fragen aus Wissenschaft und Politik, an dem führende Persönlichkeiten wie Theodor Mollison teilnahmen.8 Am 15. Februar 1940 habilitierte sich Stengel mit einer Arbeit zum Thema „Der biologische Volksbegriff“ unter den Koreferaten von Astel und Gerhard Heberer (1901–1973), einem der regelmäßigen Teilnehmer dieser Gespräche, an der Jenaer Salana im Bereich der Rassenhygiene und Kulturbiologie. Anknüpfend daran wurde er am 31. Juli 1940 zum Dozenten der Rassenhygiene, Kulturbiologie und rassenhygienischen Philosophie ernannt, einer für das Dritte Reich einmaligen Dozentur.9 Das Engagement in der NSDAP und SS, bei Astel in Weimar und Jena sowie die Universitätsdozentur ab 1940 waren für Stengel entscheidende Momente für die Schaf-

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fung einer „kämpferischen“ Wissenschaft im Bereich der Human- und Biowissenschaften.10 Der „Rutkowski-Kreis“ in Jena musste Ende Februar 1941 beendet werden, da Stengel nach Prag berufen wurde. Zuvor war er schon einmal im Mai 1940 zur Waffen-SS einberufen worden. Am 1. September 1941 wurde Stengel mit einer SS-Polizei-Panzergrenadier-Division (zeitweise auch als Hilfsarzt bei der 2. SS-Polizei-Sanitäts-Kompanie) an die Ostfront verlegt, wo er bis 1943 blieb. Am 25. August 1942 war er zudem als Arzt bei einer SS-Polizei-Panzerjägerabteilung tätig. Mit dieser Einheit beteiligte sich Stengel vom September 1942 bis Juni 1943 u.a. an der Belagerung von Leningrad.11 Von Juli bis Dezember 1943 war er zudem mit dem SS-Polizei-Panzergrenadier Regiment 1 in der „Bandenbekämpfung Balkan“ eingesetzt. Hier blieb Stengel trotz einer Verletzung bis zum Ende des Jahres 1943. Anfang 1944 wurde diese SS-Division nach Griechenland (Saloniki) verlegt. Auch während seines Kriegseinsatzes war Stengel publizistisch weiter tätig, so erschienen die rassentheoretischen Arbeiten „Wissenschaft und Wert“, „Grundzüge der Erbkunde und Rassenpflege“, „Von Allmacht und Ordnung des Lebens“ oder „Das naturgesetzliche Weltbild der Gegenwart“. Daneben arbeitete er weiter für den Sigrune-Verlag in Erfurt an dem Buch „Deutsch auch im Glauben“ bzw. an der neuen Ausgabe seines Buches „Was ist ein Volk?“ In allen diesen Veröffentlichungen legte er stets die ganze Bandbreite seiner Weltanschauung dar.12 Vom 1. November 1943 wurde Stengel dann zum Führungsamt des RuSHA abkommandiert und seit dem 5. Januar 1944 als Leiter der ärztlichen Hauptabteilung im Heiratsamt des RuSHA (Burghof Kyffhäuser) eingesetzt. Zur Seite standen ihm dabei zwei Stabsärzte der Luftwaffe. Hier erreichte ihn auch einige Monate später ein neuer Auftrag. Stengel wurde am 11. September 1944 wiederum nach Prag abkommandiert und hatte hier mit Wirkung von 15. September 1944 die Aufgabe des „ärztlichen Dienstes“ bei der RuSHA, Außenstelle Böhmen und Mähren, die Funktion eines sog. RuS-Arztes, zu übernehmen. Die RuS-Ärzte waren eine besondere Untergruppe von RuSHA-Angehörigen, die zugleich (fachlich) dem Reichsarzt der SS (Grawitz) unterstanden und u.a. in den besetzten Ostgebieten auch an den „Durchschleusungen“ im Rahmen der Eindeutschungspolitik nach der Deutschen Volksliste beteiligt waren. Zugleich wurde Stengel Hauptabteilungsleiter im Rassenamt. Obwohl mit Gültigkeit zum 1. August 1938 auf Himmlers Befehl von der Kompetenz des damaligen RuSHA sämtliche „wissenschaftliche und Forschungsaufgaben“ ausgenommen wurden, bemühte sich Stengel in Prag auch um eine Stärkung der Position der „Rassenwissenschaft“ innerhalb seiner Tätigkeit im Rassenamt. Entsprechend setzte er kurz nach seiner Ankunft zwei Prioritäten: 1. „Verteidigung der Rassenidee“ und insbesondere 2. Erreichen „einer einheitlichen Meinung in rassischen Dingen“, die seines Erachtens angesichts der abnehmenden Bedeutung der Anthropologie und der Rassenhygiene bei der strategischen Planung der zentralen NS-Behörden zu dieser Zeit unentbehrlich war. Er war davon überzeugt, dass es sich um eine „aus der Praxis und täglichen rassenpolitischen Erfahrung als dringend

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notwendig erkannte Einwirkung handelt, deren Inangriffnahme keinen Aufschub duldet.“13 Praktisch stellte er sich vor, dass alle „Erbbiologen (Genetiker), Rassenkundler (Anthropologen) und Erbärzte (Rassenhygieniker)“ erfasst werden sollten, die zur Waffen-SS einberufen wurden und für die anschließend eine „Wissenschaftliche Pressestelle“, auch „Wissenschaftliche Verbindungsstelle“, „Wissenschaftliche Abteilung“ oder „Hauptabteilung für Lehre und Forschung“ genannt, eingerichtet werden sollte. Dieser Prager Plan hing höchstwahrscheinlich mit der gesamten Transformation des RuSHA zusammen, die gegen Ende des Krieges in Prag stattfand.14 Im Rahmen der Deutschen Karls-Universität (DKU) in Prag rechnete Stengel auch mit der Übernahme des universitären Institutes für Erb- und Rassenhygiene von Karl Thums (1904–1976) oder mit der Gründung eines vollkommen neuen Instituts, das die Bezeichnung Institut für Kulturbiologie und genetische Philosophie tragen sollte.15 Dabei ging er offensichtlich von seinen älteren Plänen vom Mai 1944 aus, als er sich um eine ähnliche Professur an der →Reichsuniversität Posen bemüht hatte, wobei ihn auch Heberer, Thums, →Bruno K. Schultz (1901–1997) oder auch Hans Nachtsheim (1890–1979) unterstützt hatten. Charakteristisch für Stengels Bemühen war ferner, dass er im Zusammenhang mit Ernst Rüdins 70. Geburtstag (19. April 1944) darauf spekulierte, dass Thums bald mit der Leitung des Rüdin-Instituts in München betraut werden und er selbst damit dessen Position und gleichzeitig die Stelle eines ordentlichen Professors für Erb- und Rassenhygiene an der Medizinischen Fakultät der DKU einnehmen könnte.16 Beides schlug aber fehl. Seit dem 1. Februar 1945 war er dann Führer beim Stab des SS-Abschnittes XXVII (Oberabschnitt „Fulda-Werra“; Sitz in Weimar). In den Rutkowski-Akten des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR finden sich ferner bisher nicht belegbare Vorwürfe, wonach Stengel „Würger von Buchenwald“ genannt worden und „Lagerkommandant in Sobibór“ gewesen sei.17 Wegen seines politischen Engagements in der Deutschen Wissenschaft und seiner persönlichen Nähe zum NS-Staat wurde Stengel am 13. September 1945 aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Im Juli 1949 kehrte er nach vier Jahren Gefangenschaft aus Russland nach Marburg zurück und verfasste hier sogleich ein 19 Seiten umfassendes Rechtfertigungsmanuskript „Der Rassengedanke in Wissenschaft und Politik“. In Marburg war er bis in die 1960er-Jahre als Medizinalrat tätig. Im Jahr 1950 war Stengel Mitbegründer der Arbeitsgemeinschaft für freie Religionsforschung und Philosophie, einer Vorform der 1956 gegründeten Freien Akademie (FA) auf Burg Ludwigstein.18 Er gründete diese Arbeitsgemeinschaft gemeinsam mit Jakob Wilhelm Hauer, dem ersten Präsidenten der FA (1956–1961), und engagierte sich anschließend über 20 Jahre in führenden Positionen, zuletzt von 1976 bis 1979

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als ihr Präsident. 1982 wurde er Ehrenmitglied der FA. Stengel starb am 24. August 1992 in Wittmund.

Uwe Hoßfeld

1 Vgl. zur Biographie die Personaldokumente im Universitätsarchiv Jena (UAJ), Best. D, Nr. 2739, Dokumente aus dem Archiv der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BstU), dem BArch, BDC – SS-Akte Stengel von Rutkowski, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (THStAW) sowie Zentralen Staatsarchiv Prag. Zudem danke ich Herrn Ulrich Nanko (Markgrönnigen) für die Überlassung von Materialien aus seinem Privatarchiv. 2 Material von Ulrich Nanko, Manuskript „Als Marburger Professorensohn in der Weimarer Republik“, undatiert, S. 1. 3 Hans-Jürgen Lutzhöft, Der Nordische Gedanke in Deutschland, 1920–1940, Stuttgart 1971, S. 64– 65. 4 Uwe Hoßfeld, Institute, Geld, Intrigen. Rassenwahn in Thüringen, 1930 bis 1945, Erfurt 2014. 5 Vgl. BStU, Best. RHE-West 679/1–5. 6 Vgl. Lother Stengel von Rutkowski, Rasse und Geist, in: Nationalsozialistische Monatshefte 4 (1933), S. 86–90, 89. 7 Uwe Hoßfeld, „Rasse“ potenziert: Rassenkunde und Rassenhygiene an der Universität Jena im Dritten Reich, in: K. Bayer (Hg. u.a.), Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus und in der frühen Nachkriegszeit, Stuttgart 2004, S. 197–218. 8 Tagebuch 1941, im Besitz des Autors, hier Eintrag auf der Seite 21. 9 Uwe Hoßfeld, Rassenphilosophie und Kulturbiologie im eugenischen Diskurs: Der Jenaer Rassenphilosoph Lothar Stengel von Rutkowski, in: Klaus-Michael Kodalle (Hg.), Homo perfectus? Behinderung und menschliche Existenz. Kritisches Jahrbuch für Philosophie, Beiheft 5 (2004), S. 77–92. 10 Uwe Hoßfeld (Hg. u.a.), „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln u.a. 2003. 11 BArch, BDC, SSO 157B, Stengel- von Rutkowski, Beförderung in der Waffen-SS, 27.8.1942. 12 Vgl. Anm. 11. 13 NA Praha, AMV-URP 114, Kt. 340, „Vorschläge“ – Material verfasst von Stengel- von Rutkowski und Dongus, 1944, geheim. 14 Ebd. 15 Uwe Hoßfeld/Michal Simunek, Die Kooperation der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Deutschen Karls-Universität Prag im Bereich der „Rassenlehre“, 1933–1945, Erfurt 2008. 16 Ebd. 17 BStU, Best. RHE-West 679/1–5, Bl. 5. Brief von einem „Ersten Staatsanwalt“ namens Kelkel aus Köln an die Zentralstelle für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Verbrechen bei dem Generalstaatsanwalt der DDR, datiert vom 26. April 1973; sowie Bl. 99. Brief von Alix Lhote (Generalsekretär) der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer an das Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR vom 26. April 1979. 18 Vgl. Ulrich Nanko, Von „Deutsch“ und „frei“ und zurück? Jakob Wilhelm Hauer und die Frühgeschichte der Freien Akademie, in: Rainer Lächele/Jörg Thierfelder (Hg.), Das evangelische Württemberg zwischen Weltkrieg und Wiederaufbau, Stuttgart 1995, S. 214–233; Lothar Stengel von Rutkowski, Die Arbeit der Freien Akademie 1956‒1976. Der wissenschaftliche Sekretär erinnert sich, in: Wirklichkeit und Wahrheit. Vierteljahreszeitschrift für Forschung, Kultur und Bildung, 1977, 2, S. 116–129.

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Karl Stumpp Mehr als fünf Dekaden wirkte der deutsche Emigrant aus der Ukraine, Karl Stumpp, um seit den frühen 1920er Jahren ein expandierendes Imperium von akademischen und populärwissenschaftlichen Zirkeln der →Ostforschung über osteuropäische Minderheiten, insbesondere in der Sowjetunion, aufzubauen. Seine akademische Karriere führte ihn von einem Ethno-Spezialisten der Weimarer Ära zur Genealogie und Dorfforschung nach dem Zweiten Weltkrieg. Allerdings ist sein bisher ausgeblendeter Karrierehöhepunkt im „Dritten Reich“ anzusiedeln, als rassistische und genozidale Einflüsse seine Forschung bestimmten. Neben Stumpp arbeiteten völkische Geographen wie →Emil Meynen, →Friedrich Metz und →Hugo Hassinger in der modernen Landeskunde.1 Weitestgehend von der Öffentlichkeit abgeschirmt arbeiteten sie in den →Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften mit verschiedenen Reichsministerien und der SS zusammen und perfektionierten ihre angewandten Methoden. RusslandEmigranten wie Stumpp dienten sich in der Regel als Kontaktmänner, Propagandisten, Informanten und als Botschafter unter den „Volksdeutschen“ im Ausland an.2 Stumpps Faszination des traditionellen ländlichen Sujets verband sich hier mit seiner ethnischen Herkunft, obwohl er frühzeitig mit der Moderne, der industrialisierten Welt in Berührung kam. 1896 in einem streng lutheranischen Haus in Alexanderhilf bei Odessa geboren, besuchte Stumpp im Nachbarsdorf Großliebenthal die Grundschule und später in Dorpat und Odessa das Gymnasium. Am Ende des I. Weltkriegs flüchtete er aus den Wirren des russischen Bürgerkriegs mit den sich zurückziehenden deutschen Truppen nach Deutschland. In Tübingen beendete er 1922 seine Dissertation in Geographie und Naturwissenschaften. Zwischen 1922 und 1933 lehrte er an einer deutschen Mädchenschule in Tarutino in Bessarabien, dem von Rumänien kurz zuvor annektierten russischen Gebiet. Tarutino lag in der Nähe seiner ukrainischen Heimat, welche nunmehr unter einer kommunistischen Diktatur litt. Neben seinem Unterricht begann Stumpp eine Jugendorganisation zu gründen, Chöre zu leiten und genealogische Studien anzufertigen. Darüber hinaus entwickelte er eine rege Vortragstätigkeit über die Geschichte der „Volksdeutschen“. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten reiste er nach Deutschland zurück, weil die rumänische Regierung seine Einbürgerung verlangte.3 Umgehend nach seiner Ankunft leitete er die Geschäftsstelle des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland (VDA) in Stuttgart bis 1938. Neben dieser Funktion wurde er zunehmend auch beim ebenfalls in Stuttgart angesiedelten →Deutschen Ausland-Institut (DAI) aktiv. Er stellte umgehend Kontakte zu ausgewanderten Deutschen nach Nord- und Südamerika her, um genealogische Gutachten zu erstellen. In den späten 1930er Jahren wuchs die Zuständigkeit des DAI und ein zentrales Archivverzeichnis der Auslandsdeutschen wurde gegründet. Ferner baute das DAI

Karl Stumpp  817

Kontakte zum Verband der Deutschen aus Russland (VDR) auf, welcher wiederum die Kontakte zu Russlanddeutschen und der NSDAP unterhielt. Im Sommer 1938 schufen der VDR und das DAI eine gemeinsame Forschungsstelle des Russlanddeutschtums im Deutschen Ausland-Institut (FstR) in Stuttgart. Dieser Zusammenschluss zur FstR bedeutete zugleich auch eine „Gleichschaltung“ zu einer NS-Informationsstelle über Russlanddeutsche, die Stumpp leitete. Sie diente dem Zweck, familien- und rassenbiologische Forschung, wie sie auch von →Hans Harmsen vertreten wurde, an den in alle Welt verstreuten Russlanddeutschen durchzuführen. Doch blieb der Schwerpunkt auf die in der UdSSR lebenden ethnischen Deutschen konzentriert, was sich mit dem Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion 1941 auszahlen sollte. 1941 kamen Stumpps Aktivitäten auch dem →Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete (RMO) Alfred Rosenbergs umgehend zu gute. Er arbeitete direkt der von →Georg Leibbrandt geleiteten Politischen Hauptabteilung zu. Leibbrandt kontrollierte nicht nur die Aktivitäten des DAI und des VDR in seinem Zuständigkeitsbereich, sondern er wandelte im Sommer 1941 Stumpps Forschungsstelle in das nach ihm so benannte →Sonderkommando Dr. Stumpp (Soko Stumpp) um, welches nun empirische „Feldarbeit“ durchzuführen hatte. Die über 80 Mitglieder zählende Spezialeinheit operierte seit August 1941 in der besetzten westlichen Ukraine. Sie führte ethnographische und „rassische“ Studien an der einheimischen Bevölkerung durch. Stumpp leitete dieses Kommando vom August 1941 bis März 1943.4 Zugleich als Ethno-Spezialist und „SS-Mann“ bei der Volksdeutschen Mittelstelle (VoMi) in Berlin im mittleren Kader, entwickelte er ein sicheres Gefühl für die Bedürfnisse der Okkupationsbürokratie. In den meisten Fällen war Stumpp als Tathelfer nur indirekt am Holocaust beteiligt, obwohl Hinweise bestehen, dass sein Kommando in Erschiessungsaktionen direkt beteiligt war.5 Das Soko Stumpp führte hinter der vorrückenden Frontlinie umfassende demographische, kulturelle und „rassische“ Untersuchungen in der besetzten Ukraine durch. Seine erarbeiteten Grundlagen dienten einerseits der VoMi zwecks Umsiedlungsaktionen der sogenannten Russlanddeutschen, andererseits besteht auch kein Zweifel darüber, dass sie den zur gleichen Zeit in dieser Region tätigen SS-Einsatzgruppen zur Information dienten, um Exekutionen, sogenannte „sicherheitspolitische Überholungen“ der Ortschaften, durchzuführen. Inspiriert durch die NS-Ideologie und durch den Antibolschewismus gewillt, das kulturelle Schicksal der Volksdeutschen in der Ukraine dem Sowjet-Regime zu entziehen, legten Stumpp und seine Mitarbeiter in ihren Dorfberichten den Akzent auf die spezifische biologische Fruchtbarkeit der ethnischen Gruppen und deren Loyalität zu Hitler-Deutschland. Demnach wurde der Erfolg von Stumpps Bemühungen, die ethnischen Deutschen zurückzugewinnen, von den Berliner Zentralen geschätzt, zumal auch die „Volksdeutschen“ die Befreiung vom Joch des Kommunismus begrüssten. Einige Besatzungsbehörden wussten gar deren ideologische Hingabe und ihre „rassische“ Reinheit zu loben.

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Stumpps Verständnis von „Volksdeutschen“ variierte insofern von dem der SS, obwohl er als „SS-Mann“ firmierte, als diese zu dem Zeitpunkt als ein Rivale des Ostministeriums über die Kontrolle des besetzten Ostens auftrat, als seine Motive in der Tat komplizierter waren. Er verstand die Ambivalenz, unter denen die von ihm untersuchten „Volksdeutschen“ standen: sie würden durch die „Neuordnung“ entweder aufblühen oder zugrunde gehen. Dementsprechend widersprachen Stumpps Beschreibungen über die sozioökonomische Lage und die zurückgebliebene Bildung in seinen Dorfberichten nicht seinem Glauben an die rassische Überlegenheit seiner ethnischen Patrioten. Ihre soziokulturelle Rückständigkeit schrieb er der bolschewistischen Unterdrückung zu, um Sympathien für sie zu erzeugen. Stumpp war überzeugt davon, dass die Ukraine-Deutschen kein verlorener Posten seien.6 Nachdem seine Spezialeinheit im März 1943 aufgelöst wurde, arbeitete Stumpp mehrere Monate in Rosenbergs Ostministerium. Während dieser Zeit bereitete er das in der Ukraine gesammelte Material auf. Im Herbst 1943, mittlerweile ohne Leibbrandts Patronage, wurde er vom RMO beauftragt, die Umsiedlung der ethnischen Deutschen aus der UdSSR zu koordinieren.7 Als einer von Tausenden von mittleren NS-Kadern nach dem Krieg entnazifiziert, bereinigte er seine braune Vergangenheit selbst, indem er nunmehr behauptete, den Nazis im guten Glauben gefolgt zu sein, weil sie sich für die gefährdeten Auslandsdeutschen eingesetzt hätten. Einer vertraulichen Quelle der nordamerikanischen russisch-deutschen Gemeinschaft zu Folge, ein ehemaliger GeheimdienstOffizier, ist indessen an dieser „Rehabilitation“ einiges mehr dran: Nach dem Krieg bot er zu seiner Entlastung den alliierten Besatzungsverwaltungen seine Unterstützung bei der Suche nach vermissten NS-Dokumenten, die jetzt im U.S. National Archive in Washington D.C. verwahrt werden.8 Es gibt Anzeichen dafür, dass Stumpp ebenso mithalf, am Genozid involvierte Deutsche zu identifizieren. Dieselbe Quelle versicherte, dass Stumpps Akte des U.S. Militär-Geheimdienstes aus Sicherheitsgründen gefiltert wurde. Weiterhin sah diese Quelle ebenfalls eine ältere Photographie Stumpps aus der Zeit des Sonderkommandos, wo er mit einer dunklen SS-Uniform in einem gepanzerten Fahrzeug saß. Während einer Reise nach Stuttgart suchte dieser US-Geheimdienst-Offizier Stumpps altes Landsmannschaft-Büro auf, welches jedoch verschlossen war. Mehrere andere, jedoch vertrauliche Quellen, die ebenfalls anonym bleiben wollen, bestätigten diese Erkenntnisse des ehemaligen amerikanischen Geheimdienst-Offiziers. Stumpp begann 1950 ein neues Kapitel in seinem Leben, als die Emigranten-Organisation Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in Stuttgart sich neu etablierte. Er verwaltete, forschte, unterrichtete und betätigte sich weiterhin als Autor und Herausgeber. Bis Anfang der 1970er Jahre engagierte er sich bei der Gründung von zwei russlanddeutschen Organisationen in Nordamerika. Er wurde zum Ehrenpräsidenten beider ethnischer Organisationen ernannt. In einer kleinen Stadt in North Dakota wurde sogar das Ortsmuseum für Russland-Deutsche nach seinem

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Namen benannt. Beiderseits des Atlantiks erweist ihm die ethnische Diaspora-Gemeinschaft bis heute grosse Ehren. Stumpps Beziehung mit den ethnischen Kulturorganisationen in den USA und Kanada datierten aus der Vorkriegszeit. Bereits in den frühen 1930er Jahren korrespondierte er mit dem Wolga-Deutschen Immigranten Jacob Volz aus York in Nebraska (geboren in Frank/Russland), der dort ein prominenter Journalist war.9 Stumpp sandte Volz rassenideologische und genealogische Veröffentlichungen zu, welche dieser mit grenzenlosem Enthusiasmus aufnahm, wie das folgende Exzerpt eines Briefes von Volz an Stumpp vom 18. August 1939 zeigt: „Vorgestern bekam ich die Deutsche Post aus dem Osten Nr. 6–7 […] Der Inhalt der Zeitschrift ist mir so wichtig, neben meiner Bibel, die wichtigste Lektüre […] Die Ecke in der DPO ‚Russlanddeutsche Sippenkunde‘ ist mir immer besonders wichtig […].“10 Tatsächlich geht das Interesse der Russlanddeutschen in den USA an genealogischen Forschungen auf die Zeit zurück (1939–1940), als unter Stumpps Einfluss die Erforschung von Familien- oder Dorfgeschichten im Trend lag. Viele dieser frühen „Reportagen“ wurden erst seit 1978 übersetzt und – wohlweislich inhaltlich gesäubert – durch die American Historical Society of Germans from Russia veröffentlicht.11 Dadurch erhielten sie den Status eines vollkommen harmlosen und unterhaltsamen Forschungsabrisses aus der Siedlungsforschung und Genealogie der Russlanddeutschen. Angesichts dieses Erfolgs konnte er jegliche Kontroverse um seine Person und seine Spezialeinheit im Dritten Reich bis heute in den Hintergrund drängen. Die Mehrheit der Nachrufe versichern seine Seriosität und seine Hingabe für die ethnischen Deutschen, ohne seine NS-Vergangenheit auch nur zu erwähnen. Während des Krieges beschlagnahmte Stumpp das Archiv in Dnjepropetrovsk, welches die russische Volkszählung des frühen 19. Jahrhunderts über die deutschen Siedler enthielt. Stumpps sehr geschätztes Erbe in Nordamerika ist in der Tat sein unvergleichliches ethnographisches und genealogisches Wissen und die Dorfforschungen. Über lange Zeit hinweg war er ein Katalysator und Organisator der Russlanddeutschen in Nord-Amerika, die der Faszination ihrer Herkunft auch nach der Ära des Kalten Kriegs erlagen. Die Öffnung der russischen Archive brachte indes eine neue Welle dieses Forschungsantriebs mit sich. Das gestiegene Interesse über die persönliche Herkunft und Familienchroniken und seine eigenen Wurzeln neu zu entdecken, ist dabei eine kulturelle Antriebsfeder in einer sich schnell wandelnden modernen Gesellschaft. Als Intellektueller war er sich über die persönliche Erfahrung des Wandels vom ländlichen zum urbanen Leben bewusst. Möglicherweise glaubte er mit seinen Forschungen, die ethnischen Wurzeln weiterhin zu erhalten. Die Kriegserinnerungen verblassten und die Informationen, die Stumpp und seine Handlanger sammelten, wurden nun ethnographische, unpolitische, gar wissenschaftliche Daten für die nordamerikanischen russlanddeutschen Erbgemeinschaften, die sich nicht über den NS-Ursprung dieser Quellen bewusst waren. Stumpps NS-Aktivitäten und seine „Rückkehr zur Normalität“ sind eine junge Erkenntnis für die nordamerikanische

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russlanddeutsche Gemeinschaft, welche bisher nur an Familien- und Dorfgeschichten interessiert war. Studien freilich, die teilweise auf der NS-Bevölkerungsforschung und dem Rassismus der 1930er und 1940er Jahre basierten.12 Es setzt sich jedoch langsam die Erkenntnis durch, in welchem wissenschaftspolitischen Kontext er die soziodemographischen Daten der Russlanddeutschen aufbereitete. In Nordamerika und Deutschland blieb Stumpp jedoch bis heute populär und gilt in russlanddeutschen Kreisen nach wie vor als Vaterfigur. Für manche Mitglieder der russlanddeutschen Gemeinschaft in Nordamerika setzt ebenfalls ein schmerzhafter, aber fruchtbarer Diskussionsprozess um ihre gewünschte Vergangenheit und die NS-Komplizenschaft Stumpps ein.

Eric J. Schmaltz/Samuel Sinner

1 Michael Fahlbusch, Die verlorene Ehre der deutschen Geographie. Bis heute wird die Mittäterschaft der akademischen Väter am Völkermord der Nationalsozialisten verdrängt, in: Frankfurter Rundschau vom Oktober 1999 (online: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/beitrag/essays/geograph.htm). 2 Eric J. Schmaltz/Samuel Sinner, The Nazi Ethnographic Research of Georg Leibbrandt and Karl Stumpp in Ukraine, and Its North American Legacy, in: Ingo Haar (Hg. u.a.), German Scholars and Ethnic Cleansing 1919–1945, New York 2006, S. 51–85. 3 Ingeborg Fleischhauer, Das Dritte Reich und die Deutschen in der Sowjetunion, Stuttgart 1983, S. 33. 4 Schmaltz/Sinner, The Nazi Ethnographic Research, S. 51–85. 5 Ebd., S. 60–66, 82. Das Interview über diese ehemaligen Waffen-SS Männer fand mit Ronald Vossler im März 2002 in Fargo, North Dakota, statt, der über das Thema jüngst publiziert: Ronald Vossler, Hitler’s Basement: My Search for Truth, Light, and the Forgotten Executioners of Ukraine’s Kingdom Of Death, Oakbrook Terrace 2016. 6 Schmaltz/Sinner, The Nazi Ethnographic Research, S. 68–73; NA Washington, German Records Alexandria/ Virginia, GR T-81, R 608, F 5399053–56 (1940), Karl Stumpp, Zur Volksbiologie des Russlanddeutschtums, und ebd., GR T-81, R 606, F 5396990; Stumpp, Gesundheitsübersicht vom Gebiet Emiltschino. 7 Fleischhauer, Das Dritte Reich und die Deutschen, S. 100f. 8 Schmaltz/Sinner, The Nazi Ethnographic Research, S. 73–74, 84. 9 Zum Beispiel: Jacob Volz, Aus Nebraska. York, in: Die Welt-Post (Lincoln/Omaha, Nebraska) vom 16.11.1939, S. 7. 10 NA Washington, German Records, Alexandria/Virginia, T-81 Roll 606, Bl. Frame 5396351. 11 Vgl. Volga Village Lists. Submitted by Gerda S. Walker, in: JAHSGR (1978), S. 58–77, und Names of Families Residing in the Volga Villages. Submitted by G. S. Walker with Additions by Arthur E. Flegel, in: JAHSGR (1979), S. 70–77. Diese basieren auf den folgenden Artikeln, die 1939/40 in „Die Welt-Post“ von Jacob Volz am 19.10.1939, S. 7; von Bangert am 2.5.1940, S. 8; von Bauer am 28.9.1939, S. 7, und von Brunnental am 22.2.1940, S. 8 unter anderem veröffentlicht worden waren. 12 Schmaltz/Sinner, The Nazi Ethnographic Research, S. 73–78.; Sinner, New Archival Discoveries on Wannsee Conference Participant Georg Leibbrandt and “SS-Mann” Karl Stumpp, 8 September 2015, S. 1–31.

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Fritz Textor Der am 11. Juni 1911 in Radevormwald geborene Fritz Textor wuchs in einem evangelischen Elternhaus auf, das man mit dem Attribut „bescheidene Verhältnisse“ versehen kann.1 Er legte seine Reifeprüfung im Februar 1929 am Städtischen Realgymnasium in Gevelsberg ab und nahm anschließend ein Universitätsstudium in den Fächern Geschichte, Französisch und Evangelische Religionslehre auf, das ihn über Köln und Marburg schließlich nach Bonn führte. Nach dem 1934 „mit Auszeichnung“ bestandenen Ersten Staatsexamen galt es, den Schritt in die Berufswelt erfolgreich zu tätigen, was zur damaligen Zeit politisches Wohlverhalten voraussetzte. Dass auch er am 10. Juli 1933 in die SA eintrat und in ihr die Funktion des Sturmmannes ausfüllte, war sicherlich ein Zeichen dafür, dass er den Zug der neuen Zeit nicht verpassen wollte. Dazu passte es auch, dass Textor während seiner Referendarzeit, die er von 1934 bis 1937 am Pädagogium Godesberg und am BeethovenGymnasium in Bonn absolvierte und im Februar 1937 mit der Note „Genügend“ abschloss, Mitglied des NS-Lehrerbundes (NSLB) (1. Mai 1935, Mitgliedsnr. 322.348) wurde. Die Mitgliedschaft in der NSDAP war für ihn zu dieser Zeit nicht möglich, denn die Partei hatte am 1. Mai 1933 eine allgemeine Mitgliedersperre verhängt, um dem Bewerberansturm Herr zu werden. Als die Sperre nach dem 20. April 1937 gelockert wurde, trat Textor dann am 1. Mai 1937 in die Partei (Mitgliedsnr. 5.310.174) ein. Die reibungslose Aufnahme spricht dafür, dass er sich bis dahin in den anderen Gliederungen der Partei bewährt hatte. Nach Referendariat und Staatsexamen drängte es Textor aus dem Schuldienst heraus, so dass er das Angebot seines akademischen Lehrers an der Universität Bonn →Franz Steinbach für eine Doktorarbeit zur politischen Bedeutung der französischen Pfalzzerstörungen gerne annahm. An der Seite von Steinbach wuchs Textor nun nicht alleine in die Strukturen und Aktivitäten des Instituts für Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande (IGL) hinein, sondern er entwickelte sich auch zu einem Vertreter der historischen Kulturraumforschung, die raum-, geschichts-, gesellschafts- und bevölkerungswissenschaftliche Disziplinen verband. Textor verschrieb sich ganz diesem Forschungsansatz, betonte in seinen wissenschaftlichen Arbeiten stets den ethnischen Antagonismus zwischen dem deutschen und dem französischen „Volk“ und begab sich damit in den vom IGL proklamierten „Volkstumskampf“. Dieses Vorgehen prägte auch seine Dissertation „Entfestigungen und Zerstörungen im Rheingebiet während des 17. Jahrhunderts als Mittel der französischen Rheinpolitik“, die er am 30. März 1937 an der Universität Bonn mit der Note „Sehr gut“ abschloss. Nach seiner Promotion wurde Textor am 1. April 1937 zum Studienassessor ernannt, am gleichen Tag aber noch vom Schuldienst freigestellt, um als außerplanmäßiger Assistent von Franz Steinbach am IGL in Bonn seine Forschungen zu Grenzlandfragen fortzusetzen. Von Nachteil für die zukünftige Karriere war es dabei sicherlich nicht, dass er – als er die Assistentenstelle bei Steinbach am 1. April 1937

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übernahm – am gleichen Tag in die NS-Dozentenschaft eintrat, ab dem 5. August 1937 (Mitgliedsnr. 8.641.179) der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und ab dem 1. Juni 1938 dem NS-Altherrenbund (Mitgliedsnr. 38.559) angehörte. Im November 1939 wurde Fritz Textor „auf Befehl des Oberkommandos der Wehrmacht zur Durchführung einer Sonderaufgabe einberufen“,2 bei der es um Vorbereitungen zur deutschen Besatzung Belgiens ging. Am 12. Mai 1940 wurde er als Sonderführer (K) im Range eines Hauptmanns der Militärverwaltung Frankreich überstellt und in Paris als Dolmetscher und Sachbearbeiter eingesetzt. Mit Wirkung vom 12. September 1941 erhielt er seine Versetzung als Kriegsverwaltungsrat mit der Kriegsstelle eines Militärverwaltungsbeamten zum Militärverwaltungsstab nach Brüssel. Textor wurde der Gruppe VI „Kultur“ unter der Leitung von Kriegsverwaltungsabteilungschef Eugen Löffler, Vorsitzender des Verwaltungsausschusses der deutschen Schulen in Belgien, zugeteilt. Diese Gruppe hatte u.a. die Aufgabe, „die Bevölkerung auf ein Leben unter dauerhafter deutscher Hegemonie vorzubereiten“3 und den kulturellen Einfluss Frankreichs in Belgien zu brechen. Textor arbeitete in Brüssel an der Seite von →Franz Petri, den er bereits von den gemeinsamen Jahren am Bonner IGL kannte. Dieser unterstützte ihn bei der Fortführung seiner wissenschaftlichen Karriere und führte ihn in den „→Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“ ein, der zur geistigen Mobilisierung beitragen sollte. Dass es auch bei Textors geplanter Studie über die geistig-politische Stellung der Wallonie im 19. Jahrhundert nicht alleine um geschichtswissenschaftliche Fragen ging, zeigt sich an seinen eigenen Äußerungen, bekannte er sich doch – mit Perspektive „Endsieg“ – zu dem höchst politischen Ziel, „Wallonien das Eingewöhnen in das deutschgeführte Europa der Zukunft zu erleichtern“. Arbeiten wie die von Textor legten die wissenschaftliche Grundlage für die Rechtfertigung territorialer Ansprüche an Belgien und für eine Bevölkerungspolitik, die „auf eine Germanisierung frankophoner Gebiete im Osten Frankreichs und möglicherweise auch im wallonischen Teil Belgiens zielte“.4 Sie gingen zwar nicht so weit, Wallonien als einen germanischen Raum zu bezeichnen, wollten aber die zu lange vernachlässigte germanische Komponente stärker betonen. Textors Tätigkeit in Brüssel endete im April 1943, als er aus dem Militärverwaltungsdienst entlassen wurde, um im Truppendienst Verwendung zu finden. Da er am 12. Mai 1943 auch aus dem Wehrdienst ausschied, konnte Textor vorläufig nach Bonn zurückkehren und wieder am Institut arbeiten. Diese Stelle lief jedoch am 31. März 1944 aus, so dass er zunächst offiziell ans Beethoven-Gymnasium zurückkehrte, dann aber für ein Jahr zur Flak eingezogen wurde. Seine in Brüssel vorbereitete Habilitation zur „wallonischen Bewegung“ verteidigte Textor Anfang 1944 an der Universität Bonn, doch kamen die Gutachter einstimmig zu der Überzeugung, dass „der Kandidat sich noch im Zustand des Reifens befindet und eine Venia docendi stark verfrüht wäre“.5 So wurde ihm nur der Dr. habil. verliehen, und eine Professur war für den Moment nicht mehr zu erreichen. Nach dem Krieg unternahm er nicht mehr den Versuch, die Schwächen in seiner

Fritz Textor  823

Arbeit auszugleichen, so dass die wissenschaftliche Karriere damit für ihn beendet war. Im April 1945 geriet Fritz Textor in britische Kriegsgefangenschaft, doch bereits am 12. August wurde er entlassen. Nachdem die britische Militärregierung im Oktober seine „Belassung im Amte“6 genehmigt und Textor eine „Zulassung zum Unterricht […] unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs“7 erhalten hatte, stand einer Lehrerkarriere vorerst nichts im Wege. Nachdem er ab dem 10. November 1945 am Wuppertaler Gymnasium für Jungen in Vohwinkel und von 1946 bis 1956 am Wuppertaler Carl-Duisberg-Gymnasium unterrichtet hatte, wechselte er 1956 als neuer Oberstudiendirektor an das Progymnasium in Ennepetal (ab 1960 Reichenbach-Gymnasium), dessen Schulleiter er bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1973 blieb. Wenn Fritz Textor auch seine wissenschaftliche Karriere nicht wieder aufnahm, so konnte er sich doch in den 1950er und 1960er Jahren mit dem Schulgeschichtsbuch „Geschichte der neuesten Zeit. Von 1850 bis zur Gegenwart“ (Klett, Stuttgart 1951) einen Namen machen. In vielerlei Hinsicht liest sich sein Schulgeschichtsbuch wie eine Rechtfertigung seiner eigenen Biographie vor dem Hintergrund der Entnazifizierung. Auffällig ist dabei Textors Versuch, die Verantwortung der Deutschen – und damit auch die eigene – für den Aufstieg der NSDAP zu minimieren. Hitler scheint den Deutschen aufgezwungen und nicht als Produkt der politischen und ideologischen Triebkräfte der deutschen Gesellschaft und ihrer Verwerfungen. Darüber hinaus spiegelt sich in Textors Darstellung der Versuch der Schuldeinebnung, der für diese Generation der Funktionseliten nach 1945 so charakteristisch war. Auch bei Textor stellt sich mit Blick auf seine berufliche Karriere während des Dritten Reiches die Frage, ob sich Menschen wie er in der Funktion eines Besatzungsbeamten ihrer Verstrickung in die „Neuordnungspolitik“ des NS-Regimes bewusst gewesen sind oder wirklich der Überzeugung waren, im Umgang mit den besetzten Gesellschaften habe es einen herrschaftsfreien und symmetrischen Umgang gegeben. Wenn Textor im Rahmen seiner Entnazifizierung die Meinung vertrat, „keine Veröffentlichungen von Schriftwerken politischen Charakters vorgenommen“8 zu haben, dann blendet er den höchst politischen Ansatz seiner historischen Schriften aus, den die Vertreter der Bonner Schule vor 1945 ja auch immer für sich reklamiert hatten. Gleichzeitig bekam und ergriff Fritz Textor in nachgeordneter Position die Gelegenheit, seine historischen Arbeiten „in politische Vorschläge und Maßnahmen umzusetzen“. Dabei war sein Duktus zwar nicht „rassisch“ untermalt, sein Volksbegriff war wie bei seinem Mentor Petri jedoch „so angelegt, dass eine rassistische Konnotation jederzeit möglich“ war.9 Die Rückschau auf die Vita Textors deutet darauf hin, dass sich bei ihm nach 1945 keine Bewusstwerdung über sein Handeln während des Krieges vollzog. Die vor 1933/39 im Rahmen der →Westforschung erworbenen Deutungsmuster wurden nun auch für seine Aktivitäten im besetzten Belgien handlungsleitend. Was vor 1939 aber noch theoretisch-historische Überlegungen waren, entwickelte sich in ei-

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nem neuen Referenzrahmen nach dem siegreichen Westfeldzug zu europäischen Neuordnungsplänen. Die Subordination unter das Hakenkreuz war somit ein Standard und eine Normalität, was Männer wie Textor bewogen haben mag, die in diesem Denken zum Ausdruck kommende Ungleichheit nicht mehr als Form von Gewalt zu verstehen, der die Belgier zwischen 1940 und 1944/45 ausgesetzt waren. Er starb am 5. April 1988 in Ennepetal.

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1 Vgl. ausführlicher und mit weiteren Belegen: Ulrich Pfeil, Fritz Textor (1911–1988). Von einem „Westforscher“ der zweiten Generation, in: Geschichte im Westen 30 (2015), S. 167–200. 2 Stadtarchiv (StA) Ennepetal, PA Fritz Textor, Ausweis des Wehrbezirkskommandos II, Köln, 21.11.1939. 3 Andreas Nielen, Die Besetzung Belgiens und Frankreichs (1940–1944) und die Archive der deutschen Militärverwaltung, einzusehen unter (30.4.2016). 4 Thomas Müller, Der „deutsche Westraum“ als grenzlandpolitisches Konzept, in: Gertrude CeplKaufmann (Hg. u.a.), Wissenschaftsgeschichte im Rheinland unter besonderer Berücksichtigung von Raumkonzepten, Kassel 2008, S. 65–74, 65. 5 UA Bonn, Personalakte Fritz Textor, PF-PA 539, Fritz Kern an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn, Ernst Bickel, o.D. [wohl 1.2.1944]. 6 Landesarchiv NRW (LANRW), NW 1022-T Nr. 7268, Headquarters military gouvernment SK Wuppertal vom 27.10.1945. 7 StA Ennepetal, PA Fritz Textor, Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal an Fritz Textor vom 31.10.1945. 8 LANRW, NW 1022-T Nr. 7268, Anlage zum Fragebogen No. 7268 vom 27.10.1945. 9 Peter Schöttler, Von der rheinischen Landesgeschichte zur nazistischen Volksgeschichte oder Die „unhörbare Stimme des Blutes“, in: Winfried Schulze (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1999, S. 89–113, 98, 103.

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Alfred C. Toepfer Der völkische Nationalismus wies zahlreiche eigenwillige, risikobereite und einflussreiche Exponenten auf. Sie wurden jedoch alle durch einen geheimnisumwitterten hanseatischen Großkaufmann überragt, der große Teile seines Kapitalvermögens in die Volkstumspolitik investierte und ein Stiftungsunternehmen aufbaute, dessen Netzwerke erhebliche Bedeutung erlangten. Dabei war Alfred Toepfer, der autokratische Eigentümer und Vordenker der Alfred C. Toepfer KG und der mit dieser verflochtenen →Stiftung FVS, kein Intellektueller oder Wissenschaftler. Von ihm sind keine Traktate überliefert, in denen die völkischen Konzepte den Charakter heuristisch oder geschichtswissenschaftlich begründeter Sprechakte annahmen. Aber er war in der Lage, die oftmals nur vage fassbaren Konzeptualisierungen der von ihm geförderten Wissenschaftler und Kulturschaffenden auf den Punkt zu bringen, zur Entwicklung seiner eigenen Visionen zu nutzen und gleichzeitig in einen institutionellen Rahmen einzubinden, der sie für die subversiven Anliegen der grenzüberschreitenden Deutschtumspolitik nutzbar machte. Auf diese Weise profilierte sich Toepfer als überragender Organisator, Finanzier und Netzwerker des völkischen Nationalismus. Da er dabei vor rufschädigenden Methoden der Mittelbeschaffung nicht zurückschreckte und gleichzeitig auch die Geschäftsinteressen seines Unternehmens bediente, musste er sich persönlich zurückhalten. Die strategische Stellung des Stiftungsunternehmens A. C. Toepfer-Stiftung FVS wurde deshalb erst in den letzten Jahrzehnten aufgedeckt, und zwar im Gefolge heftiger Konflikte und Meinungskämpfe. Inzwischen hat sich jedoch unser Wissen über die wichtigsten Zusammenhänge über dessen Förderung der völkischen Wissenschaften konsolidiert. Der vorliegende Artikel versteht sich deshalb als Zwischenbilanz. Er soll das gesamte Handlungsspektrum Toepfers umreißen, um die Rahmenbedingungen des völkischen Nationalismus an einer ihrer aufschlussreichsten Schnittstellen sichtbar zu machen. I. Alfred Carl Toepfer war als Sohn eines Arbeiters, der später zum leitenden Angestellten aufstieg, kleinbürgerlicher Herkunft.1 Er wurde am 13. Juli 1894 in Altona geboren. Nach dem Besuch der Volksschule absolvierte er eine kaufmännische Lehre in einer Speditions- und Handelsfirma. Anschließend wechselte er zu einem Import- und Schiffsausrüstungsunternehmen und holte in Sonderkursen des Hamburger Infanterieregiments die Mittlere Reife nach. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs meldete er sich freiwillig zum Heeresdienst und wurde als Leutnant einer Maschinengewehreinheit eingesetzt. Dabei wurde er mehrfach verwundet. Im Januar 1919 quittierte er den Militärdienst im Rang eines Leutnants. Kurze Zeit später schloss er sich einem Freikorps an, das sich vor allem bei der Unterdrückung der sozialen Massenkämpfe in Mitteldeutschland hervortat. Dabei kam er mit zahlreichen Großagrariern in Kontakt, deren Grundbesitz er mit seiner Einheit sicherte oder wiederherstellte, und begann mit nicht bewirtschafteten Agrarprodukten zu handeln. Als

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er sich des Siegs der Konterrevolution sicher war, kehrte er im Herbst 1919 nach Hamburg zurück und gründete zusammen mit Kameraden seines Regiments sowie seiner Freikorpseinheit das Agrarhandelsunternehmen Alfred C. Toepfer (ACT) mit einem Startkapital von 50.000 RM.2 Ein Fünftel davon kam aus eigenen Ersparnissen. Die Hauptmasse stellte der als Gesellschafter und einige Monate später als Mitinhaber firmierende Carl Trautwein zur Verfügung; Trautwein war Dozent für Betriebswirtschaftslehre am Hamburger Kolonialinstitut und Adjutant des Hamburger Infanterieregiments gewesen. Als erste Starthilfe erhielt die neue „Soldatenfirma“ von einer Einkaufsstelle des Heeres einen Auftrag zur Versorgung der französischen Besatzungstruppen im Rheinland, sie war also in die durch den Versailler Vertrag festgelegten Reparationslieferungen eingeschaltet. Hinzu kam ein Betriebsmittelkredit im Umfang von 300.000 RM, den ein befreundeter Viehhändler zur Verfügung stellte. Im Gegensatz zu vielen anderen geschäftlichen Neugründungen dieser Jahre verlief die Entwicklung der Offenen Handelsgesellschaft Alfred C. Toepfer sehr erfolgreich. Die jährlichen Umsätze näherten sich rasch der 10-Millionengrenze, das Grundkapital konnte innerhalb von zwei Jahren auf über 500.000 RM aufgestockt werden. Dafür war vor allem maßgeblich, dass sich das Unternehmen auf profitable Auslandsgeschäfte, insbesondere den Transithandel nach Dänemark und in die Tschechoslowakei, konzentrierte. Noch wichtiger aber war die im Jahr 1922 getroffene Entscheidung, der immer rascher auf eine Hochinflation zusteuernden Markwährung den Rücken zu kehren und ausschließlich – wie damals im internationalen Agrarhandel üblich – in niederländischen Gulden zu fakturieren. Darüber hinaus erwarb das Unternehmen die ersten Immobilien und stieg in das Devisengeschäft ein. Infolgedessen war es gegen die bis zum Herbst 1923 kulminierende Hyperinflation bestens gewappnet. Es zog aus ihr sogar hohe Extragewinne und stieg 1924/25 als zweitgrößter Exponent des Standorts Hamburg in die Spitzengruppe des deutschen Agrarhandels auf. Das Geschäftsmodell verfolgte im Binnenhandel vorrangig die lukrativen Sparten, insbesondere den Futtermittelhandel. Den Schwerpunkt bildete jedoch der internationale Transithandel, wobei die umfangreichen Getreideüberschüsse der USA und Kanadas an die kontinentaleuropäischen Zuschussgebiete sowie Skandinavien und die übrigen Anrainerstaaten der Ostseeregion geliefert wurden. Diese Spezialisierung machte eine entsprechende geographische Diversifizierung erforderlich. Mit ACT-Geldern gründete Ernst W. Toepfer, der jüngere Bruder Alfred Toepfers, 1928 in New York eine erste Auslandsniederlassung, die Firma E.W. C. Toepfer. Hinzu kamen personelle Veränderungen: Der Prokurist Wilhelm Hochgraßl und der neu in das Unternehmen eingetretene Günther Martin stiegen zu den wichtigsten Vertrauten Alfred Toepfers auf. Carl Trautwein zog sich hingegen aus der Firmenleitung zurück, und zwar vor allem aus finanzpolitischen Gründen. Auf mehreren ausländischen Banken hatten sich enorme nicht transferierte Guthaben angesammelt, die zu Beginn der 1930er Jahre an das in Reichsmark ausgewiesene Kapital von ACT Hamburg heranreichten. Zur besseren Verflechtung dieser beiden

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Kapitalkonten gründete Trautwein in Freiburg im Breisgau eine Privatbank, die vor allem die Funktionen einer ACT-Hausbank wahrnahm.3 Das bislang erfolgreiche Geschäftsmodell geriet durch die Weltwirtschaftskrise 1931 und die daran anschließende Große Depression in eine schwere Belastungsprobe. Die Preise für Agrarrohstoffe halbierten sich. Die Weltwirtschaft – und mit ihr der Agrarhandel – zerfiel in Wirtschafts- und Währungsblöcke, die sich im Gefolge von Devisenbeschränkungen und protektionistischen Maßnahmen immer rigoroser abschotteten. Dadurch kam das Kerngeschäft Toepfers, der internationale Transithandel, fast völlig zum Erliegen. In den ACT-Bilanzen schlugen sich diese Entwicklungen deutlich nieder: Mit Ausnahme der Jahre 1934/35 wurden zwischen 1930 und 1936 nur Verluste gemacht. Profitabel blieb nur der – entsprechend verstärkte – Handel mit Futtermitteln und Ölsaaten. Auch die 1932/33 bewerkstelligte Flucht in eine eigenständige großlandwirtschaftliche Produktionsbasis konnte den Zusammenbruch des Transitgeschäfts nicht ausgleichen; indessen hatte der Erwerb landwirtschaftlich nutzbaren Großgrundbesitzes noch andere Funktionen, wie wir gleich sehen werden. Da alle diese Kompensationsversuche nicht ausreichten, mussten neue Geschäftsmodelle durchgespielt werden. Dabei blieben letztlich nur zwei alternative Handlungsmöglichkeiten übrig: Der komplette Transfer von ACT ins Ausland oder die Rückumstellung der Gulden-Fakturierung auf Reichsmarkbasis. Toepfer zögerte lange mit einer Entscheidung. Als aber im Gefolge einer unerwarteten Guldenabwertung erhebliche Verluste auftraten, waren die Würfel gefallen. Zudem war sich Toepfer seit 1931 sicher, dass sein Unternehmen nur noch im Rahmen eines kontinentaleuropäisch aufgezogenen Agrarhandels prosperieren konnte. Vor allem im europäischen Osten und in Südosteuropa sollten neue Märkte erschlossen werden. In Istanbul wurde eine neue Filiale getestet (Hellmuth Janssen) und später zur Tochtergesellschaft Janssen & Francke ausgebaut. Ein Problem stellten die bei der New Yorker Niederlassung und auf niederländischen Bankkonten geparkten Auslandswerte dar, die zumindest teilweise repatriiert werden sollten. Aufgrund der inzwischen in Kraft getretenen restriktiven Devisenbestimmungen wären sie bei einem gesetzeskonformen Vorgehen weitgehend weggesteuert worden. Deshalb starteten Alfred und Ernst Toepfer 1931 eine Reihe verdeckter Operationen, die sich bis ins Jahr 1934 hinzogen.4 Dabei gingen sie ein hohes Risiko ein, denn ihr Vorgehen war seit 1933 mit drakonischen Strafen belegt. Die beiden Brüder fühlten sich jedoch dagegen gefeit, weil Ernst Toepfer inzwischen die US-amerikanische Staatsbürgerschaft besaß und damit zum „Devisenausländer“ geworden war. In einem ersten Schritt verdreifachte Ernst Toepfer die in New York lagernden Vermögenswerte durch Termingeschäfte und Devisenspekulationen. Danach transferierte er sie teilweise über einen Vertrauensmann auf schweizerische Bankkonten und deponierte sie dort. Für einen Teil der Beträge ließ er deutsche Wertpapiere aufkaufen, die in der Schweiz wegen der Abwertung der AuslandsReichsmark zu niedrigen Kursen gehandelt wurden. Anschließend eröffnete er bei

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der Freiburger Trautwein-Bank ein Sperrmark-Depot, ließ seine Aktien- und Anleihepakete dort hinterlegen und nach und nach mit hohen Extragewinnen veräußern. Auf diese Weise wurde bis 1934 ein Gesamterlös von 3,6 Mio. RM erzielt, das war knapp das Dreifache des Kapitalkontos von ACT Hamburg. Damit war die Geldwäsche aber noch nicht beendet, und nun kamen zwei Stiftungskonstruktionen ins Spiel.5 Alfred Toepfer gründete im Namen und Auftrag seines Bruders im Dezember 1931 in Vaduz/Liechtenstein unter dem Kürzel JWG eine Stiftung, die er mit einem Startkapital von 5.000 Schweizerfranken ausstattete. In den folgenden Jahren überwies Ernst Toepfer zu ihren Gunsten erhebliche Steuerfluchtgelder aus den USA, während Alfred Toepfer seinerseits Überweisungen von seinen Amsterdamer Konten tätigte. Aus Tarnungsgründen wurden dabei nur geringe Beträge bei der Liechtensteiner Landesbank deponiert, die Hauptmasse floss auf Konten der Schweizerischen Bankgesellschaft in Basel. Parallel zu diesen Transaktionen überwies die Freiburger Trautwein-Bank die bei ihr angesammelten RM-Beträge nach und nach auf die Konten einer ebenfalls im Dezember 1931 in Hamburg unter der Chiffre FVS ins Leben gerufenen Stiftung; hinzu kamen Bürgschaften, die durch die Sperrmark-Konten Ernst Toepfers abgedeckt waren. Nach der Anerkennung ihrer Gemeinnützigkeit kaufte die Stiftung FVS vier Landgüter auf, um ihr Kapital langfristig abzusichern, und begann ihren Wert durch Sanierungs- und Umbauarbeiten zu steigern. Für ACT Hamburg waren diese Transaktionen nur von zweitrangiger Bedeutung, weil sie kaum zum Ausgleich der Verluste beitrugen. Im Vordergrund stand zu diesem Zeitpunkt das Bestreben der Gebrüder Toepfer, ihre Familien langfristig abzusichern und ihre den US-amerikanischen und deutschen Steuerbehörden hinterzogenen Vermögenswerte für die von ihnen selbst bestimmten völkisch-politischen Optionen einzusetzen, auf die sie sich bei der gemeinsamen Planung ihrer Transaktionen verständigt hatten. Um dabei die „völkische“ Uneigennützigkeit ihres Vorgehens unter Beweis zu stellen, gründeten sie 1936 zusätzlich in Freiburg eine gemeinnützige und mildtätige Familienstiftung (Carl Toepfer-Stiftung), die zunächst ausschließlich für die langfristige Versorgung ihrer Familien zuständig war. Gleichzeitig betätigte Alfred Toepfer sich in dieser Zeit als großzügiger Mäzen. Bis zur Mitte der 1920er Jahre hatte er im In- und Ausland ein so ansehnliches Vermögen angesammelt, dass er sich über seine Weiterverwendung Gedanken zu machen begann. Dies lag umso näher, als er den Sozialstaat und die ihn alimentierenden Besteuerungssysteme für Teufelswerk hielt und es infolgedessen für höchst legitim erachtete, sich ihnen so weit wie irgend möglich zu entziehen. Dabei erwies sich die steuerabzugsfähige Spende als die am leichtesten zu bewerkstelligende Handhabe, während die in den ACT-Bilanzen als Langemarck-LMK)-Vermögen – getarnten Auslandsguthaben erhebliche Probleme bereiteten, die erst in der ersten Hälfte der 1930er Jahre gelöst wurden. Neben den Wohlfahrtseinrichtungen seines engeren Berufsfelds insbesondere der Hamburger Handelsbörse, bedachte Alfred Toepfer die ihm nahestehenden In-

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stitutionen und Verbände der völkischen Irredenta – Hamburger Nationalklub, Bund Oberland, Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) →Deutsches Ausland-Institut (DAI) und einige ihm nahe stehende Aktivisten wie August Winnig, Ernst Niekisch und dessen Zeitschrift Widerstand sowie den bildenden Künstler A. Paul Weber – Fall zu Fall mit teilweise erheblichen Beträgen. 1927/28 ging er einen Schritt weiter und verteilte an lokale Träger sowie an den Deutschen Jugendherbergsverband projektgebundene Mittel im Umfang von etwa 200.000 RM zur Organisation von „Grenzlandfahrten“ und zur Errichtung von vier Jugendherbergen in Thüringen sowie den „Grenzlanden“ Nord-Schleswig, Burgenland und Elsass.6 Inwieweit er für diese Huldigung an seine Wandervogelzeit und ihre Heroen →Julius Langbehn und Hans Breuer erstmalig auch Teile seines LMK-Vermögens heranzog, ist unklar. Mit diesen Dotationen wies sich Toepfer als systematischen Förderer des Auslandsdeutschtums aus. Zugleich inspirierten sie ihn, das auf Amsterdamer Bankkonten und seit 1928 in der New Yorker Filiale geparkte „LMK-Vermögen“ zum Aufbau einer LMK-Stiftung zu nutzen. Zu Beginn des Jahres 1937 hielt Alfred Toepfer die Zeit für gekommen, sich aus der Alltagsroutine von ACT Hamburg zurückzuziehen und die Stiftung FVS direkt mit dem Unternehmen zu verknüpfen.7 Er wandelte das Unternehmen in eine Kommanditgesellschaft um und setzte den bisherigen Prokuristen Hochgraßl als Geschäftsführer ein. Dabei behielt er sich für alle strategischen wichtigen Entscheidungen die alleinige Entscheidungskompetenz vor und sicherte diese Position dadurch ab, dass er die von ihm geleitete Stiftung FVS mit 750.000 RM als Hauptkommanditistin einbrachte; künftig sollte ein Fünftel der Gewinne an sie ausgeschüttet werden. Auch das Handelsgeschäft stabilisierte sich in den Vorkriegsjahren. Es gelang ACT Hamburg, zu einem der wichtigsten Importeure des staatlich gelenkten Getreideaußenhandels aufzusteigen. Auf diese Weise konnte das seit 1931 darniederliegende USA- und Kanada-Geschäft reaktiviert und an die veränderten handelspolitischen Rahmenbedingungen angepasst werden. Zusätzlich erlangte ACT Hamburg eine dominierende Position im Türkeigeschäft und wickelte drei Viertel der deutschen Getreideimporte über seine Niederlassung in Istanbul ab. Dank dieses Umstiegs vom internationalen Transithandel zu einem der führenden Getreide-, Futtermittel- und Ölsaatenimporteure der sich zum Krieg rüstenden NS-Diktatur kehrte ACT Hamburg in die Gewinnzone zurück. Gleichwohl hatte das zu Beginn des Jahrs 1937 gestartete Stiftungsunternehmen schon nach wenigen Monaten mit unerwarteten Schwierigkeiten zu kämpfen.8 Im Juni 1937 wurde Alfred Toepfer verhaftet, weil die südwestdeutschen Ermittlungsbehörden aufgrund einer Denunziation auf die nicht deklarierten Auslandsvermögen und die damit durchgeführten Devisen- und Wertpapiertransaktionen der Jahre 1932 bis 1934 aufmerksam geworden waren. Er saß fast ein Jahr lang in Untersuchungshaft. Ende Mai 1938 wurde er unter der Auflage wieder auf freien Fuß gesetzt, die Auslandsvermögen korrekt zu deklarieren und seine Gründer- und Eigen-

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tumsrechte an der Stiftung FVS an einen öffentlichen Treuhänder abzutreten. Parallel hierzu führte die Schweizer Bundesanwaltschaft 1938 ein Verfahren gegen Alfred C. Toepfer und seinen in der Schweiz lebenden Bruder Ernst wegen konspirativer Tätigkeit und Kontakten zu den Schweizer Frontisten durch und verhörte sie bis zur Einstellung des Verfahrens im Herbst 1939 mehrmals. Damit steckte das Toepfersche Stiftungs- und Handelsimperium in einer kritischen innen- wie außenpolitischen Phase, die sich noch verschärfte, als die amerikanischen Behörden gegen Ernst Toepfer in New York wegen dessen Kontakten zu amerikanischen NS-Größen zu ermitteln begannen, nachdem die Schweizer Behörden die USA diesbezüglich informiert hatten.9 Im Juli 1938 übernahm der SS-Obergruppenführer und Leiter der Volksdeutschen Mittelstelle Werner Lorenz die Schirmherrschaft, während der von Toepfer nach seiner Verhaftung als geschäftsführender Vorstand eingesetzte Günther Martin seinen Posten behielt. Das Ermittlungsverfahren wurde dagegen trotz der Intervention hochrangiger Fürsprecher fortgesetzt, weil die Hamburger Generalstaatsanwaltschaft eine Verurteilung Toepfers wegen Devisenvergehens und Steuerhinterziehung für dringend geboten erachtete. Auch Ressortverhandlungen im Reichsjustizministerium führten zu keiner Klärung. Der Fall wurde schließlich der Reichskanzlei zur Entscheidung vorgelegt, die dann im Oktober 1939 die Niederschlagung des Verfahrens verfügte. Daraufhin löste Alfred Toepfer auch sein zweites Versprechen ein und betrieb in Basel ein Schlichtungsverfahren, bei dem er sich 1941 in allen Punkten gegen seinen Bruder Ernst durchsetzen konnte. Von jetzt an war klargestellt, dass die US-Firma E.W.C. Toepfer der in Vaduz ansässigen Stiftung JWG gehörte, und dass Alfred Toepfer für beide Einrichtungen die Eigentümerrechte besaß. Die Stiftungskonstruktion FVS/JWG spielte 1937/38 eine herausragende Rolle bei der europäischen Subversionspolitik des NS-Regimes und kam mit einem blauen Auge davon. Die Eigentumskonstruktion von ACT Hamburg war unangefochten geblieben, und Lorenz erstattete 1942 seine Gründer- und Eigentumsrechte an der Stiftung FVS zurück. Nun hatte auch niemand etwas dagegen, dass die Devisen für die Stiftungspreisträger, bei denen es sich zu drei Vierteln um ausländische Staatsbürger deutscher Nationalität handelte, über die schweizerischen Konten des Stiftungskomplexes bereitgestellt wurden. Das Vermögen der Stiftung JWG erreichte bis Kriegsbeginn ein Volumen von 5 Mio. Schweizerfranken, und gegen Kriegsende waren in Vaduz / Liechtenstein noch 400.000 US-Dollar geparkt.10 Im September 1939 unterbrach der deutsche Überfall auf Polen den neuerlichen Expansionskurs, den ACT Hamburg dank seiner renditeträchtigen Mitarbeit am Aufbau der nationalen Getreidereserve eingeschlagen hatte. Aufgrund der britischen Blockade kamen die Überseeimporte schlagartig zum Erliegen. Da Toepfer das Unternehmen jedoch schon seit der Weltwirtschaftskrise auf den „kontinentaleuropäischen Großraum“ eingeschworen und im Gegensatz zum Mainstream der hanseatischen Kaufmannschaft allen anderen Optionen – etwa in die Richtung einer Restauration des deutschen Kolonialimperiums – eine Absage erteilt hatte, bereitete ihm

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die Umstellung der langfristigen Unternehmensstrategie auf die Expansionsrichtung Osteuropa keine Schwierigkeiten.11 Im Januar 1940 errichtete ACT Hamburg eine erste Niederlassung in der Kornkammer der annektierten polnischen Westprovinzen, dem „Reichsgau Wartheland“ (ACT Posen). Ein Jahr später folgte die Eröffnung einer weiteren Filiale in Krakau, der Hauptstadt des Generalgouvernements; zusätzlich erwarb die ACT Krakau im September 1942 eine bis dahin treuhänderisch verwaltete Metallhandelsgesellschaft und gab ihr die Firmenbezeichnung „Berg- und Hüttenprodukte Johannes Wardenphul“. Im selben Monat eröffnete der ACT-Geschäftsführer Wilhelm Hochgraßl eine ACT-„Einsatzfirma“ in Krasnodar im westlichen Vorkaukasus und übernahm die Leitung der „Hauptstelle Krasnodar der Zentralhandelsgesellschaft Ost für landwirtschaftlichen Absatz und Bedarf“ (ZO). Mit dieser strategischen Schwerpunktverlagerung war eine Diversifikation der Handelssparten verbunden, durch die die an exponierter Stelle betriebene Ausbeutung der polnischen und sowjetischen Landwirtschaft zugunsten der Reichs- und Wehrmachtsernährung mit den Programmen der NS-Diktatur zur bevölkerungs- und wirtschaftspolitischen Umgestaltung des „Ostraums“ verbunden war; dabei leistete ACT Posen auch einen indirekten Beitrag zu der damit verbundenen Vernichtungspolitik, so etwa durch die Lieferung von 10 Tonnen Löschkalk an die Gettoverwaltung von Litzmannstadt (Lódz) zur Zeit des Massensterbens der jüdischen Internierten. Die ACT-Niederlassung in Posen handelte nicht nur mit Getreide und anderen landwirtschaftlichen Produkten, sondern auch mit Baustoffen aller Art. Die Krakauer Filiale war ausschließlich im Baustoffhandel tätig, der durch die Blech- und Baueisenlieferungen ihrer Metallhandelstochter ergänzt wurde. Alle diese Unternehmungen waren – mit Ausnahme einer rasch wieder aufgegebenen weiteren Niederlassung in Lemberg (Lwów) – von Anfang an profitabel. Im Rekordjahr 1943 hatte das Gesamtunternehmen ACT 169 Beschäftigte. Es erzielte einen Umsatz von 129,9 Mio. RM und verbuchte einen Gewinn von 4,37 Mio. RM.12 Dabei operierten die polnischen Filialen besonders profitabel, was auf die niedrigen Aufkaufpreise und die überproportional hohen Handelsspannen wegen der niedrigen Löhne zurückzuführen war. Hinzu kamen im Jahr 1943 umfangreiche Getreideaufkäufe von Janssen & Francke in Istanbul, die den beginnenden Rückgang der Lieferungen aus den besetzten osteuropäischen Gebieten überkompensierten und entscheidend zur Stabilisierung der innerdeutschen Ernährungsbilanz beitrugen. Dagegen stellte das Engagement Hochgraßls im Süden der Sowjetunion im Wesentlichen nur einen „Hoffnungswert“ dar, denn hier ging es darum, die Konkurrenz im Zentrum der sowjetischen Agrarproduktion vorbeugend auszuschalten und diese Schlüsselposition für den Aufstieg von ACT zum führenden kontinentaleuropäischen Agrarhandelskonzern abzusichern.13 An diesem Kurs hielten Toepfer und das ACT-Management bis zum Kriegsende unbeirrt fest. 1943/44 leitete Toepfer eine im Reichsauftrag gegründete Tarnfirma (Stahlberg & Co.), die requirierte Kraftfahrzeuge, Maschinen und Schwarzmarktgüter ins neutrale Ausland verschob, um Devisen zum Aufkauf strategischer Rüstungs-

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rohstoffe zu erwerben.14 Seit dem Herbst 1944 beschaffte eine ACT-„Einsatzfirma“ für die Prager Niederlassung der Organisation Todt Baumaterialien zur Errichtung militärischer Befestigungsanlagen. Und noch in den letzten Kriegsmonaten steuerte Alfred Toepfer den Abtransport von „Räumungsgütern“ aus der Slowakei. Nach der deutschen Kapitulation musste ACT Hamburg seine Ostniederlassungen abschreiben und sich dem Import-Export-Kontrollsystem der britischen Besatzungsmacht unterordnen. Alfred Toepfer absolvierte eine zweijährige Internierungshaft. Als er aus ihr zurückkehrte und im November 1947 vor den Kadern seines Unternehmens Rechenschaft ablegte,15 hatten diese nicht nur die Überlebensperspektive aufrecht erhalten, sondern ihm auch schon die ersten renditeträchtigen Nischen im Agrarhandel der britischen Zone gesichert. Auch die ersten Auslandskontakte wurden wieder geknüpft, was sich jedoch aufgrund des nur allmählich in Gang kommenden Abbaus der alliierten Außenhandelskontrollen und der bis in die 1950er Jahre reichenden Zwischenschaltung der westzonalen bzw. Bonner Behörden als recht mühselig erwies. Hinzu kam ein Zerwürfnis zwischen Toepfer und Hochgraßl, welcher 1949 das Unternehmen verließ. Weichenstellende Bedeutung hatte die Reaktivierung der New Yorker Niederlassung, die seit 1950 als ACT New York firmierte, sich als Inhaberin der Stiftung J.W.G Vaduz bekannte und für die Freigabe der in New York und Liechtenstein blockierten Vermögenswerte einsetzte. Trotz dieser erneuten Rückwende zur transatlantischen Region war sich Toepfer jedoch darüber im Klaren, dass er nicht wieder an den Optionen der 1920er Jahre anknüpfen konnte. Seine Unternehmensstrategie blieb zweigeteilt: Er setzte zum einen auf den europäischen Binnenhandel, zum andern vertraute er auf die zunehmende Reorganisation und Liberalisierung des internationalen Agrarhandels. Unter diesen Voraussetzungen übernahm er Ende der 1940er Jahre auch wieder formell die Leitung seines Stiftungsunternehmens und setzte für beide Komponenten einen Stellvertreter ein, der sich in der NS-Diktatur als Technokrat der Ernährungspolitik und des Hungergenozids an der sowjetischen Bevölkerung einen Namen gemacht hatte: Hans-Joachim Riecke.16 Bis in die 1970er Jahre blieb Riecke Toepfers engster Vertrauter. Er fungierte zugleich als öffentliches Sprachrohr der Unternehmensstrategie, wobei er nicht nur die Präsidenten der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) umwarb,17 sondern sich auch vehement auf die Übertragung der während der NS-Diktatur entwickelten „Marktordnung“ auf die Agrarpolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einsetzte. Im Verlauf der 1950er Jahre gelang der ACT Hamburg der Aufstieg zum führenden bundesdeutschen und europäischen Agrarhandelskonzern sowie zum Global Player des Agrobusiness.18 Dabei brachte sie nicht nur die besonders rentablen Verarbeitungsbereiche (Mühlenwerke usw.) unter ihre Kontrolle, sondern entwickelte auch neue Futtermittelsorten, die als mit Tiermehl versetztes „Kraftfutter“ die Voraussetzungen für den Siegeszug der Massentierhaltung schufen. Auch in die Reedereibranche drang der ACT-Konzern vor (Alfred C. Toepfer Schifffahrtsgesellschaft), um Transportkosten zu sparen, und gründete Niederlassungen in den wich-

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tigsten Seehafen- und Hauptstädten der drei Kontinente. Den Schwerpunkt des binneneuropäischen Agrarhandels bildete hingegen das im Jahr 1956 gemeinsam mit der Rothschild-Gruppe gegründete Groß- und Außenhandelsunternehmen Compagnie Européenne de Céréales (CEC),19 was eine Diversifikation des europäischen Schwerpunkts des ACT-Konzerns auf die Standorte Hamburg, Straßburg und die französische Kanalküste zur Folge hatte. 1961 krönte Toepfer sein Lebenswerk, indem er das in der Alfred C. Toepfer Verwaltungsgesellschaft gebündelte Kapital des ACT-Konzerns auf die Stiftung FVS übertrug. Durch diesen letzten Schritt zu dem von ihm in Personalunion geleiteten Stiftungsunternehmen sollten nicht nur Steuern gespart, sondern auch eine der Unternehmensexpansion parallel laufende Ausdehnung seiner Stiftungsaktivitäten abgesichert werden. Zu Beginn der 1970er Jahre erreichte der ACT-Konzern einen Jahresumsatz von 10 Milliarden DM. Wenige Jahre später drohte die zweite Weltwirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts einen Strich durch diese Rechnung zu machen.20 Die durch die Weltwährungskrise, den Erdölpreisschock und die globale Agrarkrise ausgelösten Turbulenzen setzten dem Unternehmen schwer zu. Immer mehr Sparten gerieten auf Dauer in die roten Zahlen, allen voran die auf den Transport von Massengütern spezialisierte Schifffahrtsgesellschaft. Um sein Lebenswerk zu retten, liquidierte Toepfer die unrentablen Sektoren und überführte sein Kerngeschäft – den Getreide-, Futtermittel- und Ölsaatenhandel – in eine internationale Beteiligungsgesellschaft, an der ACT Hamburg zunächst die Hälfte des Kapitals hielt. Doch die erhoffte Stabilisierung blieb aus. ACT Hamburg konnte im Hegemonialkampf des internationalen Agrobusiness nicht mehr mithalten und musste in den folgenden Jahrzehnten seine Beteiligung schrittweise an die Konkurrenz abtreten. Die Alfred C. Toepfer International GmbH wurde schließlich im Jahr 2014 von dem im US-Steuerparadies Delaware ansässigen Agrarkonzern Archer Daniels Midland übernommen und firmiert seither als ADM Germany GmbH mit Hauptsitz in Hamburg. Dagegen gelang es Toepfer, die Stiftung FVS nach und nach aus dem Unternehmenskomplex herauszulösen und mit einem großen Kapital- und Immobilienpolster auszustatten, sodass sie über seinen Tod hinaus funktionsfähig blieb. Alfred Toepfer starb am 8. Oktober 1993 im hundertsten Lebensjahr in Hamburg. II. Die Rekonstruktion der völkisch-politischen Auffassungen und Handlungsmaximen Alfred Toepfers ist nicht einfach: Auf den ersten Blick wirken sie inkongruent, eklektizistisch und widersprüchlich. Bei genauerem Hinsehen lässt sich jedoch ein roter Faden aufspüren, sobald diese Denkmuster den verschiedenen Lebensabschnitten des Stiftungsunternehmers zugeordnet werden. Dann werden typische Sedimentierungen sichtbar. Je länger und intensiver sich Toepfer mit den Agenden des völkischen Nationalismus identifizierte, desto stärker wurden die dabei entstandenen Perzeptionsschichten durch neue Varianten überlagert, verallgemeinert und radikalisiert, um sich dann in den letzten Lebensjahrzehnten an jene konservativen Denk-

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muster anzupassen, die wesentlich zur Kreation eines durch die deutsch-französische Achse getragenen „Europa der Nationen“ beitrugen. Die erste Etappe des völkisch-politischen Denkens reicht in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg zurück, in der sich der junge Kommis dem deutsch-nationalen Flügel der Wandervogelbewegung anschloss.21 Als Mitglied der Hamburger Ortsgruppe des Wandervogel – Deutscher Bund kultivierte der Heranwachsende den plattdeutschen Dialekt als identitätsstiftenden und ausgrenzenden Sprechakt des „Niederdeutschtums“. Er nahm an Wanderfahrten in das Elsass und die böhmisch-mährische Grenzregion des Kaiserreichs teil und verschlang die Bekenntnisse der jungkonservativen Wortführer der Jugendbewegung vom Schlag eines Hans Breuer zur Wiederherstellung eines authentischen deutschen Volkstums.22 Als besonders prägend erwies sich jedoch die Gemeinschaftslektüre des Hauptwerks des völkisch-antisemitischen Publizisten →Julius Langbehn über Rembrandt als Erzieher, der der aus der niederdeutschen „Stammesseele“ hervorzubringenden deutschen „Volksseele“ eine Schlüsselrolle bei der dauerhaften Niederringung des französischen „Erbfeinds“ und des „Weltjudentums“ zuwies.23 Diese fatalen Inspirationen wurden dann durch das Erlebnis der Schützengrabengemeinschaft zu einem männerbündischen Gewalthandeln verfestigt und schufen die Voraussetzungen für ihre Einbettung in jenes konterrevolutionäre Syndrom, das den autoritären, männerbündischen, sozial ausgrenzenden, demokratische Entscheidungsprozesse verachtenden und kritische Lernprozesse ausschließenden Habitus des aufstrebenden Jungunternehmers dauerhaft befestigte. Im Jahr 1921 wurde Alfred Toepfer Mitglied des Hamburger Nationalklubs von 1919 und wenig später des Bunds Oberland.24 In diesen Kontexten kam es zu einer signifikanten Ausgestaltung seiner völkisch-politischen Denk- und Verhaltensmuster. Er hörte und las dabei nicht nur die programmatischen Verlautbarungen der Exponenten der Jungkonservativen vom Schlag eines →Arthur Moeller van den Bruck oder Rudolf Böhmer, sondern machte auch persönliche Bekanntschaften mit den führenden Köpfen des „Widerstand“-Kreises (Ernst Niekisch, A. Paul Weber) und den Exponenten einer Mobilisierung des Auslandsdeutschtums für die Zwecke einer Revision der Versailler Nachkriegsordnung (→Hans Steinacher und →Karl Haushofer). Ihre Sichtweisen und Doktrinen sog er begierig in sich auf und amalgamierte sie zu einer Vision, durch deren Umsetzung die verhassten Träger und Strukturen des „Weimarer Systems“, allen voran die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften, ausgehebelt werden sollten. Er träumte seit den 1920er Jahren von der Wiederaufrichtung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, das sich unter der Regie einer großdeutschen geistig-politischen Führungselite die an Frankreich und die jungen Nationalstaaten verlorenen „West-“ und „Ostmarken“ zurückholte und unter Beachtung der jeweiligen völkischen Gegebenheiten föderativ ordnete. Dabei sollte dem „Niederdeutschtum“, das nach Toepfers Vorstellungen von Reval bis Dünkirchen reichte, eine besondere Rolle zukommen. Die Utopie des erneuerten Sacrum Imperium Romanum hat Toepfer nie mehr losgelassen; sie beherrschte sein

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Denken bis zuletzt, auch wenn er sie unter dem Eindruck der abrupten machtpolitischen Verschiebungen seines Jahrhunderts immer wieder umgestaltet und manchmal auch bis zur Unkenntlichkeit verschleiert hat. Der Ausbruch der Weltwirtschaftskrise veranlasste Toepfer, die schon bei der Adaption des jungkonservativen Syndroms vorgenommene Abgrenzung gegen die ihm teilweise inhärenten Tendenzen zur Etablierung eines etatistisch-gemeinwirtschaftlichen „Preußischen Sozialismus“ (Oswald Spengler)25 zu verschärfen. Dabei bezog er sich zwar vordergründig auf sozial- und wirtschaftspolitische Grundsatzfragen der Tagespolitik, passte aber auch sein völkisch-politisches Langzeitprogramm an seinen mittlerweile konsolidierten unternehmerischen Aufstieg an. In einer anonym veröffentlichten Broschüre schrieb er, die durch die gewerkschaftliche Tariflohnpolitik und die hohe Steuerlast ausgelöste Rationalisierungswelle seien für die Massenarbeitslosigkeit verantwortlich.26 Dieser Zustand könne kurzfristig nur durch die Beseitigung des Tarifsystems und die Einführung einer niedrig entlohnten „nationalen Arbeitsarmee“ behoben werden. Dabei dürfe man jedoch nicht stehen bleiben. Es gehe darum, den durch Bismarck geschaffenen Sozialstaat zu zerschlagen, den Staat völlig aus der Sozialpolitik zu eliminieren und das Terrain ausschließlich der unternehmerischen Sozialfürsorge zu überlassen, wobei er die bei ACT Hamburg seit Beginn der 1920er Jahre existierende „Wohlfahrtskasse“ zum Vorbild stilisierte. Darüber hinaus sollten die urbanen Zusammenballungen durch ein groß angelegtes System der industriellen Dezentralisierung und der ländlichen Siedlung aufgelöst werden. Toepfer ergänzte diese Programmatik in den seit 1930 herausgegebenen und vor allem für die Auslandskundschaft gedachten „Marktberichten“ seines Unternehmens durch massive Angriffe auf die Präsidialkabinette, wobei er sich weit rechts von der Deutsch-Nationalen Volkspartei (DNVP) verortete.27 Sein marktradikales Elitedenken und die ungefährdete Situation von ACT Hamburg blockierten jedoch im Gegensatz zu zahlreichen anderen Exponenten der hanseatischen Kaufmannschaft einen Schulterschluss mit der Führung der NS-Massenbewegung. III. Toepfers Haltung gegenüber der sich 1933/34 konsolidierenden NS-Diktatur war grundsätzlich positiv, aber er unterwarf sich nicht den nun ausgreifenden Sprachhülsen und Begriffsmustern und betonte die Autonomie seines eigenen völkisch-faschistischen Denkens. Allerdings ließ er den ausländischen Lesern seiner „Marktberichte“ gegenüber keinen Zweifel daran, dass er die Gewaltexzesse gegen die Arbeiterbewegung und die Ausschaltung der bürgerlichen Trägerschichten der Weimarer Republik für unverzichtbar hielt, um das „Dritte Reich“ innerlich zu festigen und für die nun anstehende „Neuordnung“ des europäischen Kontinents fit zu machen.28 Das Reichserbhofgesetz begrüßte er enthusiastisch, seine Opposition gegen die die bäuerlichen Einkommen stabilisierenden Regulationsmechanismen des Reichsnährstands gab er dagegen erst im Sommer 1933 auf und ordnete sein Unternehmen willig in die neuen Lenkungssysteme der „Marktordnung“ und des Agrar-

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außenhandels ein. So absolvierte Toepfer einen wohl durchdachten Integrationskurs, wobei er vor begrenzten Konflikten nicht zurückschreckte, um seine Unternehmensinteressen zu wahren.29 Er sah jedoch keinen Anlass, sich mit der NS-Massenbewegung gemein zu machen und sich in ihren Organisationen hochzudienen, obwohl ihm dies sein jüngerer Bruder Ernst, ein entschiedener Anhänger der USamerikanischen Nazibewegung, immer wieder nahelegte. Alfred Toepfer hielt es für angemessener, mit ihrer Führungsschicht auf gleicher Augenhöhe zu verkehren. Seit der Mitte der 1930er Jahre drängte es Toepfer zusehends, seine völkische Reichsvision in die Tat umzusetzen. Hierin lag die entscheidende Triebfeder zur Aktivierung der 1931 gegründeten und in den folgenden Jahren konsolidierten Doppelstiftung, mit deren Hilfe er die europäische Subversionspolitik der NS-Diktatur auf eigene Faust zu beschleunigen gedachte. Dieser Kontext wird uns im nächsten Abschnitt noch näher beschäftigen. Hier geht es zunächst nur um die Skizzierung des konzeptionellen Rahmens.30 Toepfer drängte entschieden darauf, Frankreich im Ergebnis der Mobilisierung seiner auslandsdeutschen bzw. germanischen Minderheiten von den Rändern her – Elsass-Lothringen, Nordfrankreich und Pas-de-Calais – einzukreisen, von der Kanalküste abzutrennen und durch Umsiedlungsmaßnahmen derart zu schwächen, dass es die westliche Flanke die Wiederherstellung des großdeutsch-germanischen Großreichs nicht mehr gefährdete. Diese Radikalisierung seines Reichs-Denkens löste bei einigen alten Weggefährten seiner Volkstumspolitik, so beispielsweise bei dem Repräsentanten der deutsch-dänischen Minderheit, Johannes Schmidt-Wodder, Entsetzen aus, der zwar Toepfers Ideologie teilte, aber derart gewalttätige Handlungsanleitungen für zu gefährlich hielt.31 Zu Beginn des Jahrs 1940 hielt Toepfer die Zeit für gekommen, um die gerade in Schwung kommende Kriegszieldebatte an seinen eigenen völkischen Visionen zu messen. Er veröffentlichte eine anonyme Denkschrift, die zu diesem Zeitpunkt – der Angriff auf Skandinavien und Westeuropa stand ja erst noch bevor – in ihrer Radikalität und Kompromisslosigkeit einmalig dastand.32 Toepfer attestierte der NS-Diktatur einleitend, sie habe „eine völkische Geschlossenheit, einheitliche Lenkung und Willensbildung, Machtfülle und Durchsetzungskraft wie noch niemals in der deutschen Geschichte“ hervorgebracht, so dass sich jetzt endlich „die deutsche Volkwerdung gegen jeden Widerstand […] vollziehen“ werde. Im Osten sei dies inzwischen geschehen. Zu bewerkstelligen sei jetzt noch die Rückgewinnung der „Westmark“, welche das Heilige Römische Reich in den Perioden seines Niedergangs an Frankreich verloren hatte. Nach einer historischen Skizze der betroffenen Regionen von den Zeiten des Alten Reiches bis zur Gegenwart holte er dann zum Rundumschlag aus und forderte die Rückgewinnung der alemannischen Schweiz, des Elsass, Lothringens, Luxemburgs, Eupen-Malmedys, der Niederlande sowie der flämischen Teile Belgiens und Nordfrankreichs in den sich neu festigenden Reichsraum. Dabei werde man selbstverständlich allen Nationalitäten und den kleinen Nationen eine weit reichende völkische Autonomie zugestehen, so wie man im Osten die „kulturelle Entfaltung der Tschechen, die mitten im deutschen Rum leben, oder

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das Eigenleben der neuen Slowakei“ garantiert habe. Im Kontext dieser „deutschen Volkwerdung“ werde sich aber auch „das Bedürfnis der Völker und die Forderung der modernen Wirtschaft und Technik nach der Schaffung großer Wirtschaftsräume […] erfüllen.“33 Bis heute ist unklar, bei wem sich Toepfer mit dieser Kriegszieldenkschrift angedient hat. Jedenfalls erhielt er bald die Gelegenheit, ihre praktische Umsetzung zu testen. Im Januar 1940 wurde er zur Wehrmacht-Abwehr einberufen und nach einer kurzen Ausbildungszeit ihrer für „Subversion und Sabotage in Feindstaaten“ zuständigen Abteilung II zugewiesen. Im Mai-Juni 1940 war er in den Niederlanden und in Belgien eingesetzt, wo er mit der Betreuung der von Antoon Mussert geleiteten NS-Bewegung und der flämisch-belgischen Separatisten befasst war.34 Anschließend wurde er nach Paris beordert und übernahm ein Referat zur Mobilisierung der flämischen, bretonischen und baskischen Minderheiten sowie zur geheimdienstlichen Instrumentalisierung seiner bis in die frühen 1930er Jahre zurückreichenden Kontakte mit der elsässischen und lothringischen Autonomiebewegung.35 Das Ziel war mit Werner Best, dem Chef der deutschen Militärverwaltung, abgestimmt: Frankreich sollte von allen Seiten „volkstumspolitisch“ eingekreist und zerstückelt werden, sodass man den verbleibenden Zentralkern sich mehr oder weniger selbst überlassen konnte. In einem im August 1941 fertiggestellten Abschlussbericht musste das von Toepfer geleitete Abwehr-Referat jedoch eingestehen, dass die völkischseparatistischen Kräfte zu schwach waren, um den französischen Nationalstaat auszuhebeln.36 Nicht sie waren das Trumpfblatt der deutschen Okkupationspolitik. Um die französische Herrschaftselite zur Kollaboration zu bewegen, musste ihr in Gestalt des Etat français von Vichy eine beschränkte nationalstaatliche Identität zuerkannt und die Annexionspolitik auf das Elsass und auf Lothringen beschränkt werden. Nach seinen volkstumspolitischen Misserfolgen in der „Westmark“ wurde der inzwischen zum Hauptmann beförderte Toepfer in die für verdeckte Schwarzmarktgeschäfte und Devisenoperationen zuständige Abteilung I der Pariser Abwehrstelle übernommen und schließlich im Juli 1942 in die Führerreserve des Heeres entlassen. Einige Monate später reüssierte er als Leiter des Büros Westen des Vierjahresplan-Bevollmächtigten für Sonderaufgaben Joseph Veltjens und organisierte die verdeckten Schwarzmarkt- und Exportgeschäfte der reichseigenen Firma Stahlberg & Co.37 Dieser Umstieg auf das Terrain der verdeckten wirtschaftlichen Kriegführung vermochte aber nicht darüber hinwegzutäuschen, dass das Programm der „völkischen Neuordnung Europas“ in den bis jetzt entwickelten Strukturen gescheitert war. Diese Einsicht fiel Toepfer nicht leicht, aber sie wurde ihm durch seine Berufung in ein Spitzengremium zur Revision der bisherigen Kriegsziel- und Nachkriegsplanung in gewisser Weise aufgedrängt. Im Januar 1944 wurde Toepfer in einen Europa-Kreis kooptiert, den Hans Kehrl, der Leiter des Planungsamts im Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion, gegründet hatte.38 Dabei sollte eine neue Strategie entwickelt werden, um die verunsicherten kollaborierenden Machteliten

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zu stabilisieren und für einen „europäischen Einigungskrieg“ zu gewinnen, für den ihnen größere Mitspracherechte eingeräumt wurden. Besonders wichtig war dabei die Zusammenarbeit mit den Wirtschaftseliten der neutralen Länder. Toepfer übernahm dabei die Kontaktpflege mit den spanischen und portugiesischen Partnern, wuchs aber bald über diese Rolle hinaus und profilierte sich mit seinen Vorschlägen zur Verschärfung des Wirtschaftskriegs gegen die Alliierten als ausgesprochener Aktivist des „Europa-Kreises“.39 Er trennte seinen völkischen Nationalismus von seinen bisherigen annexionistischen Vorstellungen. Nun hatte eine kontinentaleuropäische Blockbildung Vorrang, die es gestattete, die „raumfremden Mächte“ so lange von der „Festung Europa“ fernzuhalten, bis ihre Koalition an ihren inneren Widersprüchen zerbrochen war. Zweifellos bedurfte es weiterer – und teilweise beträchtlicher – Modifikationen, ehe Toepfer zu Beginn der 1950er Jahre an dieser Variante seines völkisch-politischen Denkens wieder anknüpfen konnte. Vor allem das Stereotyp des französischen Erbfeinds war nicht mehr zu halten. Es wurde durch die Konstruktion einer deutsch-französischen Achse ersetzt, die Toepfer als elementare Grundbedingung eines konservativen, von oben verfügten und weitgehend außerhalb des demokratischen Diskurses ablaufenden europäischen Einigungsprozesses erkannte. Fortan musste das siegreiche Frankreich wirtschaftlich, politisch und kulturell umarmt werden, wobei Toepfer mit seiner Kampagne für ein zweisprachiges Elsass und durch den Aufkauf historischer Denkmäler in diesem deutsch-französischen „Grenzland“ die Möglichkeiten einer verhandelbaren Teilrevision der Nachkriegsgrenzen auslotete.40 Dies brachte ihm bald Ärger ein und erwies sich als kontraproduktiv. Gleichwohl verlief Toepfers Wendung zum neo-konservativen Europäer der ersten Stunde weitgehend erfolgreich, und er avancierte schließlich zu einem gefeierten Förderer der „europäischen Staatskunst“. Während er den Untergang seines Firmenimperiums noch voll miterlebte, blieben ihm die Turbulenzen, die die kritische Rekonstruktion seines völkischen Radikalismus auslöste, weitgehend erspart. IV. Alfred Toepfer hat das kurze 20. Jahrhundert (1914–1990) in allen Etappen aktiv und bewusst mitgestaltet. Dabei bildeten die Aktivitäten zur Entfaltung und Effektivierung der völkischen Netzwerke jenen zentralen Bezugspunkt, der seinen Habitus bestimmte und auf alle Handlungsebenen – auch und gerade die unternehmerische – ausstrahlte. Sein Ziel war die Errichtung eines völkisch gegliederten kontinentaleuropäischen Großraums, in dem sich unter der Führung der deutschen Hegemonialmacht die vor-nationalstaatlichen Strukturen des Alten Reiches mit den supra-nationalstaatlichen Erfordernissen des modernen Kapitalismus kombinierten. Dieses Lebensprojekt war mit extremen wirtschaftlichen Krisen, Weltkriegen und folgenreichen politischen Umbrüchen konfrontiert. Auf ihre Auslösung und Zuspitzung hatte Toepfer keinen maßgeblichen Einfluss, denn er war nur ein Mann der „zweiten Linie“, und dies selbst dann, als er 1944 die letzte strategisch-politische Initiative der NS-Diktatur mitgestaltete, in den 1950er Jahren den konservati-

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ven europäischen Einigungsprozess beförderte und in den 1960er Jahre zu einem Global Player des Agrobusiness aufstieg. Gleichwohl muss festgehalten werden, dass Toepfer zu jenen Funktionseliten gehörte, die im mitteleuropäischen Brennpunkt des Katastrophenjahrhunderts agierten und sich dabei als Brandbeschleuniger profilierten, was auf ihre aggressiven, gewaltorientierten, antidemokratischen und hypertrophen völkisch-rassistischen Handlungsmaximen zurückzuführen war. Diese Befunde sind eindeutig, und deshalb waren die seit den 1990er Jahren gestarteten Versuche zur Neutralisierung der immer vehementer gewordenen Kritik an der anmaßenden und überheblichen (Selbst-)Stilisierung Toepfers zum selbstlosen Mäzen und visionären Europäer auf Sand gebaut. Das dafür mobilisierte Aufgebot war erheblich, man denke nur an die Rede des Ex-Bundeskanzlers und stellvertretenden FVS-Stiftungsvorsitzenden Helmut Schmidt anlässlich des Staatsakts für den Verstorbenen. Auch die Beschwichtigungsversuche einer Historikerkommission scheiterten, nicht zuletzt an den offen zutage getretenen Widersprüchen zwischen den Ausführungen der Prominenz und einigen Nachwuchsforschern; es war jedoch auch ein hoffnungsvolles Zeichen, dass diese kritischen Befunde im Schlussbericht nicht unterdrückt wurden.41 Zweifellos waren diese und andere Beschwichtigungsversuche nicht nur auf opportunistische Überlegungen oder eine gewisse mentale Nähe zum Untersuchungsobjekt zurückzuführen. Es waren auch Methodenfragen der historischen Analyse im Spiel, die seit Jahrzehnten durch den Mainstream des geschichtswissenschaftlichen Diskurses blockiert sind. Sie beziehen sich vor allem auf die extreme Engführung des Begriffs „Nationalsozialismus“.42 Noch immer wird der deutsche Faschismus als eine monolithische Struktur gefasst, als ob es einen einzigen nationalsozialistischen Rassenantisemitismus, eine einzige nationalsozialistische Wirtschaftsdoktrin, eine einzige nationalsozialistische Expansions- und Weltherrschaftskonzeption und eine einzige nationalsozialistische Arbeits- und Sozialpolitik gegeben hätte. An diesem monolithischen Bild haben auch einige in den 1970er Jahren gestartete Modifikationsversuche wie etwa das Polykratie-Modell nichts zu ändern vermocht, weil sie zu sehr der Täterperspektive verhaftet blieben. Dabei drängt sich seit Jahrzehnten die historische Evidenz auf, dass sich die abgründige und zerstörerische Dynamik des deutschen Faschismus vor allem aus dem Synergieeffekten seiner verschiedenen mentalen Strömungen und Machtgruppen herleitet. Die „nationalsozialistische“ Unternehmens- und Wirtschaftspolitik wurde im Zusammenwirken extremistischer Marktradikaler, ordoliberaler Doktrinäre und entschiedener Rüstungskeynesianer gestaltet. Unter dem Dach der →Volksgemeinschaft wirkten die unterschiedlichsten Modelle zur Bändigung und Einfriedung der arbeitenden Klassen zusammen. Die nazistische Expansionspolitik gewann ihre Stärke durch die Kombination heterogener Modelle, die bis in die Wilhelminische Ära zurückreichten; selbst hinter dem vermeintlichen Chaos der Okkupationspraxis waren pluralistische Machtgruppen am Werk, die die Plünderungs-, Hunger- und Vernichtungspolitik mit erstaunlich erfolgreichen Konzepten der Kollaborationspflege abstimmten. Auf diese Weise

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konnten alle Strömungen zusammenwirken, soweit sie den Grundkonstanten des faschistischen Syndroms in unterschiedlicher Gewichtung verpflichtet waren und zur Mobilisierung aller Ressourcen zur Durchsetzung eines deutsch beherrschten Europa beitrugen. Wenn wir von diesen methodischen Kontexten ausgehen, dann verliert die Frage, ob Alfred Toepfer ein Nationalsozialist war oder nicht, die ihr zugrunde gelegte kausal-logische Engführung. Alfred Toepfer war ein elitärer Faschist. Er hatte es nicht nötig, der NSDAP, SA oder SS beizutreten, weil er über Doktrinen und Machtpositionen verfügte, die es ihm gestatteten, mit der Funktionselite der NS-Diktatur auf gleicher Augenhöhe zu interagieren. Genauso abwegig erscheinen alle Bemühungen, dem neokonservativ gewendeten Europäer der 1950er und 1960er Jahre einen mehr oder weniger weit in die NSZeit zurückreichenden „europäischen“ Läuterungsprozess zu unterstellen. Als Toepfer ab 1943/44 auf die strategischen Optionen des Rüstungsministeriums und der Waffen-SS einschwenkte, verschrieb er sich einer Konzeption, die der Defensivsituation der NS-Diktatur Rechnung trug und sich genauso zerstörerisch auswirkte wie die vorausgegangenen Visionen eines völkisch gegliederten Großreichs unter deutscher Führung. Sie blieb im Übrigen genauso wirkungsmächtig wie ihre Vorläufer. In den Umbrüchen der 1990er Jahre erlebte der Kult der „fremdvölkischen“ Divisionen der Waffen-SS eine makabre Renaissance. Inzwischen ist aber auch der autoritär-konservative Integrationsprozess Europas in die Krise geraten und wird von rechtsextremistischen Netzwerken herausgefordert, die sich für ein ethnopolitisch gereinigtes „Europa der Nationen“ stark machen. Darüber hinaus sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Toepfer aus dem Purgatorium der Nachkriegsjahre erstaunlich selbstbewusst hervorgegangen ist. Er hat sich den dramatisch veränderten ökonomisch-politischen Rahmenbedingungen der Nachkriegsjahrzehnte angepasst und auf einen neuerlichen völkisch-hypernationalistischen Feldzug gegen die Folgen des verlorenen Kriegs verzichtet, zumal die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens noch während seiner Internierung durch den heraufziehenden Kalten Krieg zu Makulatur gemacht wurden. Aber er hat es nicht für nötig erachtet, seiner Vergangenheit bei der Einordnung in die Kontexte des „freien Westens“ und des europäischen Integrationsprozesses abzuschwören. Wie nach dem Ende des ersten Weltkriegs hat er das Stiftungsunternehmen seinen Kameraden – diesmal vom Wehrmachts-Geheimdienst – geöffnet und vielen exponierten NS-Tätern Zuflucht gewährt, so etwa neben dem schon erwähnten Hans-Joachim Riecke auch dem für den Massenmord an den ungarischen Juden mitverantwortlichen Diplomaten Edmund Veesenmayer.43 Eine derart weitgehende Bereitschaft zur stillschweigenden Renazifizierung verriet ein ungebrochenes Selbstbewusstsein, aber es lag zu Beginn der 1950er Jahre durchaus im Trend. Auch andere

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hanseatische Großunternehmer haben in diesen Jahren exponierte Schreibtischtäter der Shoah beschützt.44

Karl Heinz Roth

1 Ausführlich vgl. Jan Zimmermann, Alfred Toepfer, Hamburg 2008. 2 Arnold Sywottek, Das Handelshaus Alfred C. Toepfer, in: Georg Kreis (Hg. u.a.), Alfred Toepfer – Stifter und Kaufmann, Hamburg 2000, S. 323; zum Folgenden ebd., S. 324ff.; ergänzend Karl Heinz Roth, Alfred Toepfer: Großkaufmann, Kulturimperialist und Kriegstreiber: Ein Dokument aus dem Jahr 1937, in: 1999, 14 (1999 2, S. 110–129, 110ff. 3 Roth, Alfred Toepfer: Großkaufmann, Kulturimperialist und Kriegstreiber, S. 115; ders., Unternehmermacht am Beispiel des Unternehmers Alfred Toepfer (MS), S. 3. 4 Vgl. Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hamburg, Strafsache Alfred Toepfer, Handakten. STAHH, Bestand 213–11, Nr. 811/1837, 8236/41; ergänzend Hans Mommsen u.a., Alfred Toepfer in der deutschen Politik von 1913 bis 1945, in: Kreis (Hg. u.a.), Alfred Toepfer – Stifter und Kaufmann, S. 45ff.; Roth, Alfred Toepfer: Großkaufmann, Kulturimperialist und Kriegstreiber, S. 116ff. 5 STAHH, Bestand 213–11, Nr. 811/1937; Michael Fahlbusch, Ein fragwürdiger Philanthrop: Die subversiven Aktivitäten des deutsch-völkischen Stiftungsgründers Toepfer in der Schweiz, in: Sozial. Geschichte Online 12 (2013), S. 52ff.; Roth, Alfred Toepfer: Großkaufmann, Kulturimperialist und Kriegstreiber, S. 117f. 6 Zimmermann, Von deutschen Jugendherbergen zu europäischen Kulturpreisen, in: Kreis (Hg. u. a.), Alfred Toepfer, Stifter und Kaufmann, S. 196ff. 7 Sywottek, Das Handelshaus Alfred C. Toepfer, S. 332ff. 8 STAHH, Bestand 213–11, Nr. 811/1937, 8236/41; Mommsen u.a., Alfred Toepfer in der deutschen Politik 1913–1945, S. 45ff.; Roth, Alfred Toepfer: Großkaufmann, Kulturimperialist und Kriegstreiber, S. 120ff. 9 Fahlbusch, Ein fragwürdiger Philanthrop: Die subversiven Aktivitäten des deutsch-völkischen Stiftungsgründers Toepfer in der Schweiz, S. 39–68. 10 Hanspeter Lussy u.a., Finanzbeziehungen Liechtensteins zur Zeit des Nationalsozialismus. Studie im Auftrag der Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg, Vaduz 2005, S. 92f., 512, 558, 745; Peter Geiger (Hg. u.a.), Fragen zu Liechtenstein in der NS-Zeit und im Zweiten Weltkrieg, S. 147f., 165; Fahlbusch, Ein fragwürdiger Philanthrop, S. 52ff. 11 Christian Gerlach, Die Ostexpansion des Handelsunternehmens Alfred C. Toepfer 1940–1945, in: Kreis (Hg. u.a.), Alfred Toepfer – Stifter und Kaufmann, S. 363ff. 12 Ebd., S. 373 und Tabellen S. 368f. 13 Dieselbe Strategie verfolgte auch der Reemtsma-Konzern im Süden der besetzten Sowjetunion mit seinen „Einsatzfirmen“ auf der Krim und in der Kuban-Region. Rostov am Don sollte nach Kriegsende sogar zum neuen Produktionszentrum seiner Zigarettensparte werden. Vgl. Karl Heinz Roth u.a., Reemtsma auf der Krim, Hamburg 2011, S. 263ff. 14 Arne Radtke-Delacor, Die wirtschaftlichen Aktivitäten Alfred Toepfers in Frankreich 1943/44: Die Firma Stahlberg & Co., in: Kreis (Hg. u.a.), Alfred Toepfer – Stifter und Kaufmann, S. 389ff. 15 Vgl. Sywottek, Das Handelshaus Alfred C. Toepfer, S. 341f. 16 BArch, BDC, Personalunterlagen Hans-Joachim Riecke; Hans-Joachim Riecke, Erinnerungen; BArch, Nl 1741, Nr. 1; Wigbert Benz, Hans-Joachim Riecke, NS-Staatssekretär, Berlin 2014, S. 105ff. 17 Hans-Joachim Riecke, Vorwort zu John Boyd Orr, Werden die Reichen satt?, Düsseldorf 1954, S. 7f.

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18 Hamburgisches Weltwirtschaft-Archiv (HWWA, jetzt IfW Kiel), Bestand ACT; Zimmermann, Alfred Toepfer, S. 129ff. 19 Sywottek, Das Handelshaus Alfred C. Toepfer, S. 347f. 20 HWWA, Bestand ACT: Archiv der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Zeitgeschichtliche Sammlungen, Dossiers ACT / ACTI; Hans-Jürgen Heinrich, Alfred Toepfer – Chronik, in: Kreis (Hg. u.a.), Alfred Toepfer, Stifter und Kaufmann, S. 452. 21 Mommsen u.a., Alfred Toepfer in der deutschen Politik 1919 bis 1945, S. 29ff.; Alfred Toepfer, Erinnerungen aus meinem Leben 1894 bis 1981. Privatdruck, Hamburg 1991, S. 8ff.; Roth, Alfred Toepfer – Großkaufmann, Kulturimperialist und Kriegstreiber, S. 110ff. 22 Hans Breuer, Herbstschau 1913. Nachdruck in: Alfred Toepfer, Erinnerungen aus meinem Leben 1904 bis 1981, S. 159–161. 23 Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher, Leipzig 1890. 24 Mommsen u.a., Alfred Toepfer in der deutschen Politik 1913 bis 1945, S. 33ff.; Manfred Asendorf, Hamburger Nationalclub, Keppler-Kries, Arbeitsstelle Schacht und der Aufstieg Hitlers, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 2 (1987) 3, S. 106–150, 106ff.; Erwin Könnemann, Freikorps Oberland, in: Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien in Deutschland (1879–1945), Hg. Dieter Fricke, Bd. 2, Köln 1984, S. 677–181. 25 Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, München 1920. 26 NN [Alfred Toepfer], Zur sozialen Frage, Hamburg 1932. 27 Firma Alfred C. Toepfer Hamburg, Marktberichte (1931, 1932). 28 Vgl. Toepfers Editorials und Kommentare in: Firma Alfred C. Toepfer Hamburg, Marktberichte (1933). 29 Beispielsweise sprach er sich im Frühjahr 1933 gegen die Entlassung jüdischer Makler aus dem Vorstand der Hamburger Getreidebörse, weil dies seine internationalen Geschäftsinteressen schädigte. Danach hat er nie mehr öffentlich oder privat gegen die antisemitische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der NS-Diktatur Stellung genommen. 30 Vgl. zum Folgenden Roth, Alfred Toepfer: Großkaufmann, Kulturimperialist und Kriegstreiber, S. 121ff. 31 Johannes Schmidt-Wodder, [Gutachtliche Stellungnahme über Alfred C. Toepfer], o.D. (1937); LA SH, Rep. 399.71, Nachlass Schmidt-Wodder. Nr. 76; abgedruckt in: Karl Heinz Roth, Alfred Toepfer: Großkaufmann, Kulturimperialist und Kriegstreiber, S. 125ff. Schmidt-Wodder war Mitglied des Stiftungsrats der Stiftung FVS und ein enger Vertrauter Toepfers. 32 NN [Alfred Toepfer], Westschau. Berlin 1940; Zimmermann, Alfred Toepfers „Westschau“, in: Dietz (Hg. u.a.). Griff nach dem Westen, Teilband II, S. 1061ff. 33 Alle Zitate Toepfer, Westschau, S. 29f.; 28, 30f. 34 Zimmermann, Alfred Toepfers „Westschau“, S. 1069ff. 35 Lothar Kettenacker, Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsaß, Stuttgart 1973, S. 32ff., 99; Karl-Heinz Rothenberger, Die elsaß-lothringische Heimat- und Autonomiebewegung zwischen den beiden Weltkriegen, Frankfurt a.M. u.a., S. 140ff. 36 Alfred Toepfer-Archiv, VIII, 14 h, Frankreich-Bericht des Referats II/I W.; Mommsen u.a., Alfred Toepfer in der deutschen Politik 1913 bis 1945, S. 56f. 37 Lionel Boissou, Les activités du „Bureau d’achat du capitaine Toepfer et Stahlberg & Cie.“, in: Stefan Martens (Hg. u.a.), Frankreich und Deutschland im Krieg, (November 1942–Herbst 1944). Okkupation, Kollaboration, Résistance, Bonn 2000, S. 277–295; Radtke-Delacor, Die wirtschaftlichen Aktivitäten Alfred Toepfers in Frankreich 1943/44, in: Kreis (Hg. u.a.), Alfred Toepfer – Stifter und Kaufmann, S. 392ff. 38 Roth, Wirtschaftliche Vorbereitungen auf das Kriegsende und Nachkriegsplanungen, in: Dietrich Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939–1945, Bd. III, S. 522ff. 39 Radtke-Delacor, Die wirtschaftlichen Aktivitäten Alfred Toepfers in Frankreich 1943/44, S. 419ff.

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40 Lionel Boissou, Alfred Toepfer: Un Ami de l´Alsace; in: Ombres et lumières sur les fondations Toepfer, Strasbourg 1996, S. 99–108; Georg Kreis, Alfred Toepfer und das Elsaß, in: ders. (Hg. u.a.), Alfred Toepfer, Stifter und Kaufmann, S. 105ff. 41 Kreis (Hg. u.a.), Alfred Toepfer – Stifter und Kaufmann. 42 Zur Problematik dieser Engführung am Beispiel eines anderen „unkonventionellen“ Akteurs der NS-Diktatur vgl. Karl Heinz Roth, Franz von Papen und der Faschismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 51 (2003) 7, S. 589–625. 43 Christian Gerlach, Die Ostexpansion des Handesshauses Alfred C. Toepfer 1940–1945, in: Kreis (Hg. u.a.), Alfred Toepfer – Stifter und Kaufmann, S. 378. 44 Beispielsweise befand sich Franz Rademacher, bis 1945 Judenreferent im Auswärtigen Amt, zu Beginn der 1950er Jahre auf den Gehaltslisten des Reemtsma-Konzerns, für den er in Bonn als Zigaretten-Lobbyist tätig war. Als die Ermittlungen gegen ihn begannen, verhalfen ihm ReemtsmaAngestellte zur Flucht nach Syrien.

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Karl Tornow Zu Karl Tornow (1900–1985), dem bedeutendsten Sonderpädagogen im Nationalsozialismus, gibt es in der →Sonderpädagogik bis heute keine nennenswerte Forschung. Das ist kein Zufall, stellen die Ergebnisse der historischen Quellenforschung zu Tornow1 doch die apologetischen Geschichtskonstruktionen infrage, die von der sonderpädagogischen Historiographie nach 1945 entwickelt worden sind und die in den Standardwerken der Sonderpädagogik bis heute im Wesentlichen unverändert fortgeschrieben werden. Diese Geschichtskonstruktionen besagen, dass die Sonderschule als Institution vom Nazi-Regime in ihrer Existenz bedroht und die Sonderpädagogik niedergehalten wurde.2 Die NS-Zeit wird von der sonderpädagogischen Historiographie als Stillstand in der Entwicklung der Sonderpädagogik und als Zeit eines zwischenzeitlichen Niedergangs gewertet, die zur Entwicklung der Sonderpädagogik vor und nach der NS-Zeit keine Verbindung aufweist.3 Die Rezeption Tornows ist in der Sonderpädagogik höchst unterschiedlich erfolgt. Tornow ist Ende der 1960er-Jahre als reformpädagogisch orientierter Hilfsschulmethodiker rezipiert worden, der im Nationalsozialismus zwar für die Durchdringung der Hilfsschule und ihrer Pädagogik mit nationalsozialistischer Ideologie eingetreten war, sich aber andererseits gegen Abschaffungstendenzen der Hilfsschule gewandt hatte und insofern als Retter der Hilfsschule gelten kann. Dementsprechend wurden in dem Artikel zu Tornow, der 1969 im Enzyklopädischen Handbuch der Sonderpädagogik erschien, nur Publikationen Tornows aufgeführt, die vor oder nach der NS-Zeit erschienen sind.4 Inzwischen wird Tornow in der Sonderpädagogik als NS-Funktionär rezipiert und der Blick auf sein Wirken im Nationalsozialismus beschränkt.5 Behauptet wird fälschlich, Tornow sei vor 1933 nicht publizistisch tätig gewesen und habe in der Sonderpädagogik nach 1945, von Episoden abgesehen, keine Rolle mehr gespielt. Durch die Behauptung, Tornow sei in den Schuldienst nicht wiedereingetreten, weil ihm das offenbar aufgrund seiner NS-Vergangenheit verwehrt worden sei, wird seine Darstellung als NS-Funktionär erhärtet.6 Tatsächlich sind alle Schriften Tornows aus der NS-Zeit, die nach 1945 neu aufgelegt wurden, aus den Bibliotheken verschwunden und Quellen aus Tornows Nachlass von Sonderpädagogen nicht öffentlich gemacht worden.7 Tornow wird als NS-Funktionär in Gegensatz zu den rettenden Hilfsschullehrkräften in der Hilfsschulpraxis gestellt, die zu retten versuchten, was zu retten war, und die damit die Hilfsschule und Hilfsschulkinder vor ihrer Bedrohung durch das Nazi-Regime zu bewahren suchten.8 Ebenso wenig wie Tornows Wertung als Retter der Hilfsschule im Nationalsozialismus lässt sich seine Wertung als NS-Funktionär, der mit Beginn der NS-Zeit auf der Bühne der Sonderpädagogik auftauchte und nach deren Ende von ihr wieder verschwand, auf der Grundlage historischer Quellenforschung aufrechterhalten. Zudem sind die wenigen biographischen Angaben zu Tornow, die sich in sonderpädagogischen Veröffentlichungen finden lassen, teilweise falsch. Bemerkenswert ist,

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dass die falschen biographischen Angaben zu Tornow aus dem Enzyklopädischen Handbuch der Sonderpädagogik rund dreißig Jahre später unverändert übernommen wurden.9 Tornow wurde am 11. Dezember 1900 in Wasserleben im Kreis Wernigerode geboren. Er gehört damit zu der Kriegsjugendgeneration, die im Nationalsozialismus Karriere machte und nach der NS-Zeit noch jung genug für die Fortsetzung ihrer Karriere war. Nach dem Besuch der Volks- und Mittelschule und seiner Ausbildung zum Volksschullehrer war Tornow mehrere Jahre als Erzieher und Lehrer in Fürsorgeanstalten tätig. 1928 wechselte er, nachdem er nebenberuflich zwei wenige Wochen dauernde Kurse absolviert hatte, als Hilfsschullehrer an die Hilfsschule in Halle an der Saale, die zu den größten und bedeutendsten Hilfsschulen ihrer Zeit gehörte. Tornow promovierte wie andere Lehrer dieser Schule an der Universität HalleWittenberg neben seiner Hilfsschullehrertätigkeit zum Doktor der Philosophie. Seine Dissertation zum Hilfsschullehrplan wurde 1932 und damit noch im Jahr seiner Promotion in einem renommierten pädagogischen Verlag (Carl Marhold) veröffentlicht und rasch zu einem Standardwerk der Hilfsschulpädagogik, das bis in die 1970er-Jahre zustimmend zitiert und in der Hilfsschullehrerausbildung verwendet wurde.10 Von 1937 bis 1942 war Tornow als Hilfsschulrektor in Magdeburg tätig. Als promovierter Hilfsschullehrer hatte Tornow in nationalsozialistischen Organisationen wichtige Funktionen inne. Er war der führende Kopf der Reichsfachschaft V Sonderschulen im Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) und Hauptschriftleiter seines Organs Die deutsche Sonderschule, das aus dem Verbandsorgan des Hilfsschulverbands hervorgegangen war, wirkte im Rassenpolitischen Amt der NSDAP nebenamtlich mit und arbeitete als Fachgruppenleiter für das Hilfsschulwesen im NSLB mit dem Reichs- und Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) eng zusammen. Auf dessen Betreiben wurde Tornow 1942 als Provinzialschulrat nach Berlin berufen. Tornow drückte einer Reihe von Erlassen des REM seinen Stempel auf. Dazu gehörten der reichsweite Personalbogenerlass für Hilfsschüler von 1940 und der reichsweite Hilfsschullehrplan von 1942, der auf Tornows Dissertation basierte. Tornow wirkte zudem als führender Kopf an einer gemeinsamen Fachgesellschaft von Kinderpsychiatern und Sonderpädagogen, der Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik (DGKH), mit, die 1940 in Wien gegründet wurde. Mit Hans Heinze und Werner Villinger waren an dieser Fachgesellschaft wichtige Vertreter der „Euthanasie“ führend beteiligt.11 Tornow war durch zahllose Vorträge und durch weit verbreitete praxisnahe Schriften, die methodisch exzellent gestaltet und zum Teil rasch vergriffen waren, in der Hilfsschullehrerschaft nicht nur im Nationalsozialismus breit bekannt und sehr geschätzt. Zu seinen wichtigsten Schriften, die im Nationalsozialismus erschienen und zum Teil nach 1945 neu aufgelegt wurden, gehörten eine Reihe von Informationsbroschüren zu verschiedenen Sonderschulformen, das „Magdeburger Ver-

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fahren“, das eine Praxishandreichung für die Hilfsschulauslese darstellte, die Neuherausgabe der Fibel für Hilfsschulen, welche Tornow maßgeblich gestaltete, und „Erbe und Schicksal“, das als Schulbuch für den rassenhygienischen Unterricht in der Sonderschule gedacht und ein verkapptes Propagandabuch für die Sonderschule war.12 In seinem Entnazifizierungsverfahren, in dem sich Tornow als Retter der Hilfsschule und der Hilfsschulkinder und als Opfer des Nationalsozialismus darstellte, wurde er als Unbelasteter eingestuft. Nachdem Tornow seit 1943 im Luftwaffenlazarett Berlin und dessen Nachfolgeeinrichtungen als Sonderpädagoge in der Rehabilitation von Hirnverletzten tätig gewesen war, wechselte er 1951 in die Erziehungsberatungsstelle des Landes Niedersachsen in Hannover, in der er in leitender beamteter Position als sonderpädagogischer Berater und Psychotherapeut wirkte. Auch in seiner neuen beruflichen Position setzte sich Tornow für die Interessen der Sonderschule, speziell der Hilfsschule, und der Sonderpädagogik ein. Tornow beschäftigte sich in der Beratung und Therapie mit Fällen potenzieller Hilfsschulkinder, wirkte an der Pädagogischen Hochschule Hannover bis 1965 als Dozent an der Hilfsschullehrerausbildung mit, hielt Vorträge vor Hilfsschullehrkräften, war in der Internationalen Gesellschaft für Heilpädagogik als Delegierter Deutschlands vertreten und als einziger Deutscher mit einem Plenarvortrag an deren internationalen Kongress 1954 beteiligt, versuchte mit der Psychagogenausbildung eine Aufbauausbildung für Hilfsschullehrkräfte zum Berater zu etablieren und Hilfsschullehrkräften durch Neuherausgabe seiner Schriften sowie durch Vordrucke praxisnahe Hilfen zu geben. Der Vordruck für die Hilfsschulauslese, der in der Hilfsschulpraxis bis in die 1970erJahre verwendet wurde, war mit dem Vordruck im Personalbogenerlass von 1940 praktisch identisch. Tornows Traum einer Berufung auf eine Professur für Heilpädagogik, die in den 1950er-Jahren in Deutschland erstmals eingerichtet wurden, erfüllte sich zwar nicht, aber er wurde für seine Verdienste um die Heilpädagogik 1980 vom Land Niedersachsen mit einem Orden geehrt. Am 12. Januar 1985 starb Tornow in Heusenstamm bei Frankfurt am Main. Tornows Bedeutung für die Sonderpädagogik liegt in drei Bereichen: in seinem Beitrag zur Entwicklung eines übergreifenden Sonderschulsystems, in der Neubegründung der Sonderpädagogik als übergreifende Disziplin und in der Entwicklung einer alle Sonderschullehrergruppen übergreifenden gemeinsamen Sonderschullehrerausbildung. Tornow hat damit für die Entwicklung der Sonderpädagogik als Disziplin, Institution und Profession eine wichtige Rolle gespielt und neue Impulse gegeben, die weit über die NS-Zeit hinausreichten. Die Entwicklung eines übergreifenden Sonderschulsystems, für das der Hilfsschulverband seit seiner Gründung im Jahr 1898 eingetreten war, erhielt im Nationalsozialismus neue Impulse. Von besonderer Bedeutung war dabei das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN). In diesem Gesetz wurden durch die Bestimmung des „angeborenen Schwachsinns“, der „erblichen Blindheit“, der „erb-

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lichen Taubheit“ und der „schweren erblichen körperlichen Missbildung“ als „Erbkrankheiten“ alle Schülerinnen und Schüler der im Nationalsozialismus bestehenden Sonderschulen als potenziell Erbkranke bestimmt und dadurch eine neue Gemeinsamkeit zwischen den Sonderschulen und neue gemeinsame praktische Aufgaben für Sonderschullehrkräfte geschaffen. Vor allem (ehemalige) Schülerinnen und Schüler der Hilfsschule, die die Hilfsschul- und Heilpädagogik seit dem 19. Jahrhundert als „angeboren Schwachsinnige“ und damit als unheilbar Gehirnkranke und vorwiegend Erbkranke bestimmt hatte, fielen der Zwangssterilisation im Rahmen des GzVeN und im Einzelfall auch der „Euthanasie“ zum Opfer. Sonderschulen wurden von Tornow zu „Sammelbecken für erbbiologisch unerwünschten Nachwuchs“ erklärt und damit in den Dienst der rassenhygienischen Ziele des Nationalsozialismus gestellt, galten sie Sonderpädagogen doch für die negative Selektion und die rassische Gesundung des deutschen Volkes als unentbehrlich. Tornow trat im Nationalsozialismus nicht nur für die Durchsetzung des Begriffs „Sonderschule“ und damit eines die Taubstummen-, Blinden- und Hilfsschule übergreifenden Begriffs, sondern auch für eine neue übergreifende Bezeichnung der Disziplin und für die Ablösung des Begriffs „Heilpädagogik“ durch den Begriff „Sonderpädagogik“ ein. Tornow führte im Rahmen des ersten reichsweiten Schulungslagers der Reichsfachschaft Sonderschulen 1934 erstmals das Konzept einer „völkischen“ Sonderpädagogik ein und präzisierte es auf der Gründungstagung der DGKH 1940.13 Die „völkische“ Sonderpädagogik beanspruchte, die „völkisch“, das heißt für die Fortpflanzung unbrauchbaren „erbkranken“ Sonderschulkinder, durch Sondererziehung in der Sonderschule zur Akzeptanz ihrer Sterilisation zu führen und sie als Sterilisierte „volklich“ brauchbar zu machen. Mit dem Konzept der „völkischen“ Sonderpädagogik wurden die getrennten Pädagogiken für Taubstummen-, Blinden- und Hilfsschulen zu einer übergreifenden Pädagogik vereint, in den Dienst der rassenhygienischen Ziele des Nationalsozialismus gestellt und eine zukunftsweisende Neubestimmung der Disziplin vorgenommen. Die Defekte der Kinder, für die die Sonderpädagogik Zuständigkeit beanspruchte, wurden nicht mehr wie zuvor von der Heilpädagogik als Krankheit und als angeboren, also nach dem Kausalitätsprinzip, betrachtet. Vielmehr galten die Kinder jetzt final als behindert, sich unter Benutzung der üblichen Bildungseinrichtungen zu einem vollwertigen Glied der deutschen →Volksgemeinschaft zu entwickeln. Damit waren die Grundlagen für die Pädagogik der Behinderten gelegt, die nach 1945 entstand, und die Neubezeichnung der Sonderschulkinder als Behinderte im Nationalsozialismus eingeführt, die bis heute gültig ist. Tornow hat zudem im Nationalsozialismus die Kinderpsychiatrie für die Grundlegung einer Pädagogik für „Schwererziehbare“ genutzt und dadurch auch eine neue spezielle Sonderpädagogik begründet und die Ausdifferenzierung der Sonderpädagogik als Disziplin, Profession und Institution weiter vorangebracht.14 Eine Sonderschule für „Schwererziehbare“ gab es im Nationalsozialismus noch nicht. Sie

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entstand erst in den 1950er-Jahren und stellt inzwischen eine der Hauptsäulen des vielgliedrigen deutschen Sonderschulsystems dar. Auch die Entwicklung einer alle Sonderschullehrergruppen übergreifenden gemeinsamen Sonderschullehrerausbildung wurde von Tornow im Nationalsozialismus entscheidend vorangebracht. Die gemeinsame Sonderschullehrerausbildung stellte die zentrale Voraussetzung für die Überwindung der Trennung dar, die hinsichtlich Status und Besoldung zwischen den als Oberlehrern eingestuften Taubstummen- und Blindenlehrern und Hilfsschullehrern bestand. Durch die gemeinsame Sonderschullehrausbildung konnte eine übergreifende sonderpädagogische Profession begründet und die status- und besoldungsmäßige Gleichstellung der Hilfsschullehrer mit Taubstummen- und Blindenlehrern erreicht werden. Das REM legte 1941 den Entwurf einer Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Hilfsschullehrer vor, der auch für Anstaltslehrer gelten sollte und der damit ein verkappter Entwurf für die gemeinsame Sonderschullehrerausbildung war. Dieser Entwurf trug die Handschrift Tornows und knüpfte an das Ausbildungskonzept für die heilpädagogische Lehrerausbildung an, das in den 1920er-Jahren an der Hilfsschule in Halle entwickelt worden war.15 Tornow war wie andere Lehrkräfte dieser Schule an dieser Ausbildung, die in enger Verbindung mit der Psychiatrie erfolgte, als Dozent beteiligt. Der Entwurf des REM konnte im Nationalsozialismus angesichts des fortgeschrittenen Kriegsgeschehens zwar nicht mehr verwirklicht werden, gab aber wichtige Impulse für die Durchsetzung der gemeinsamen Sonderschullehrerausbildung, die Ende der 1960er-Jahre gelang. Die Forschung zu Tornow macht deutlich, dass die Vorstellung der Sonderpädagogik, im Nationalsozialsozialismus habe eine Niederhaltung der Sonderpädagogik und ein Entwicklungsstillstand stattgefunden, nicht haltbar ist. Im Nationalsozialismus sind vielmehr wichtige Grundlagen für die Entwicklung der Sonderpädagogik als übergreifender Disziplin, Profession und Institution gelegt worden und zukunftsweisende Begriffe und Konzepte eingeführt worden, für die Tornow ein wichtige Rolle gespielt hat.

Dagmar Hänsel

1 Vgl. Dagmar Hänsel, Karl Tornow als Wegbereiter der sonderpädagogischen Profession. Die Grundlegung des Bestehenden im Nationalsozialismus, Bad Heilbrunn 2008; dies., Sonderschullehrerausbildung im Nationalsozialismus, Bad Heilbrunn 2014. 2 Vgl. Sieglind Ellger-Rüttgardt, Geschichte der Sonderpädagogik. München, Basel 2008; Andreas Möckel, Geschichte der Heilpädagogik oder Macht und Ohnmacht der Erziehung, Stuttgart 20072. 3 Vgl. Andreas Möckel (Hg.), Erfolg Niedergang Neuanfang. 100 Jahre Verband Deutscher Sonderschulen – Fachverband für Behindertenpädagogik. Im Auftrage des Verbandes hg., München u.a. 1998. 4 Vgl. Enzyklopädisches Handbuch der Sonderpädagogik und ihrer Grenzgebiete Gerhard Heese (Hg. u.a.), Bd. 3, Berlin 19693, Stichwortartikel: Karl Tornow, Sp. 3540–3541.

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5 vgl. Sieglind Ellger-Rüttgardt, Der Verband der Hilfsschulen Deutschlands auf dem Weg von der Weimarer Republik in das „Dritte Reich“, in: Andreas Möckel (Hg.), Erfolg Niedergang Neuanfang. 100 Jahre Verband Deutscher Sonderschulen – Fachverband für Behindertenpädagogik, München u.a. 1998, S. 50–95; dies., Lernbehindertenpädagogik. Bd. 5 der Studientexte zur Geschichte der Behindertenpädagogik, Weinheim u.a. 2003; dies., Geschichte der Sonderpädagogik, München 2008. 6 Ellger-Rüttgardt, Der Verband der Hilfsschulen Deutschlands, S. 77–78. 7 Dagmar Hänsel, Quellen zur NS-Zeit in der Geschichte der Sonderpädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik 58 (2012) 2, S. 242–261. 8 Ulrich Bleidick, Die Entwicklung und Differenzierung des Sonderschulwesens von 1898 bis 1973 im Spiegel des Verbandes Deutscher Sonderschulen, in: Bericht über den Bundeskongreß für Sonderpädagogik und den 26. Verbandstag Deutscher Sonderschulen in Hannover vom 12. bis 15. Juni 1973, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 24 (1973) 10, S. 824–845; Sieglind Ellger-Rüttgardt, (Hg.) Lernbehindertenpädagogik, Studientexte zur Geschichte der Behindertenpädagogik, Bd. 5, Weinheim u. a. 2003, dies., Geschichte der Sonderpädagogik. 9 Vgl. Enzyklopädisches Handbuch; Ellger-Rüttgardt, Der Verband der Hilfsschulen Deutschlands. 10 vgl. Karl Tornow, Der Lehr- und Bildungsplan der Hilfsschule. Theoretische Grundlegung und praktische Gestaltung des heilpädagogischen Bildungsgeschehens, Leipzig 19322. 11 vgl. Heiner Fangerau (Hg. u.a.), Kinder- und Jugendpsychiatrie: zur Geschichte ihrer Konsolidierung im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit, Berlin u.a. 2017. 12 vgl. Karl Tornow, Denken Sie nur: Unser Fritz soll in die Hilfsschule! München 1940/19553; Lenz/ Tornow, 1942/1955; Karl Tornow, Erbe und Schicksal. Von geschädigten Menschen, Erbkrankheiten und deren Bekämpfung, Berlin 1942; Willibald Zausch (Hg. u.a.), Fibel für Hilfsschulen. 1. Teil: Der Weg zum Schreiben und Lesen. 2. Teil: Lesebuch der Kleinen. Breslau 19427. 13 Vgl. Karl Tornow Völkische Heil- oder Sonderschulpädagogik? Zugleich eine Begründung der Einheit der Reichsfachschaft V (Sonderschulen) im NSLB, Halle a.S.; ders.;Völkische Sonderpädagogik und Kinderpsychiatrie, in: Bericht über die 1. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik in Wien am 5. September 1940, in: Zeitschrift für Kinderforschung 49 (1941) 1, erschienen 1943, S. 76–86. 14 Vgl. Dagmar Hänsel, Die Deutsche Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik als verkappte Fachgesellschaft für Sonderpädagogik, in: Heiner Fangerau (Hg. u.a.), Kinder- und Jugendpsychiatrie: zur Geschichte ihrer Konsolidierung im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit, Berlin u.a. 2017, S. 253–275. 15 Vgl. Hänsel, Sonderschullehrerausbildung im Nationalsozialismus.

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Wilhelm Unverzagt Wilhelm Unverzagt, geboren am 21. Mai 1892 in Wiesbaden, interessierte sich früh für Archäologie und nahm bereits in jugendlichem Alter an Ausgrabungen am nahe gelegenen Limes-Kastell Alzey teil. An den Universitäten Bonn, München, Berlin und Frankfurt am Main studierte er ab 1911 Klassische Philologie, Klassische Archäologie, Alte Geschichte und Geologie und gehörte der überkonfessionellen Studentenverbindung Wingolf an (Bonn und München). Um sich als Kriegsfreiwilliger zu melden, unterbrach Unverzagt sein Studium und sah bis 1916 verschiedene Kriegsschauplätze. Nach Verwundung und langem Lazarettaufenthalt arbeitete er am Museum für Nassauische Altertümer seiner Heimatstadt (1916, 1918–1920), zwischenzeitlich auch für die Römisch-Germanische Kommission des Archäologischen Instituts des Deutschen Reiches in Frankfurt am Main.1 Nach seiner Genesung war Unverzagt Hilfsreferent beim Verwaltungschef für Flandern in Brüssel und in der Bodendenkmalpflege tätig, in dieser Zeit führte er Ausgrabungen durch, etwa 1917 in Nordfrankreich am römischen Kastell von Famars bei Valenciennes (zusammen mit Gerhard Bersu, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband).2 Die Tätigkeit in der Besatzungsverwaltung prädestinierte Unverzagt, an der verwaltungsmäßigen Bewältigung der Kriegsfolgen und der Umsetzung der Bestimmungen des Versailler Vertrags mitzuwirken: Zunächst war er in Spa an Verhandlungen der Waffenstillstandskommission beteiligt, 1920 ging er nach Berlin, wo er erneut eine fachfremde Anstellung in der Reichsverwaltung hatte (Kommission für die Rückgabe von Werten). Nach der Auflösung des Reichsministeriums für Wiederaufbau 1924, schloss Unverzagt sein Studium ab. Promoviert wurde er 1925 von dem klassischen Archäologen Carl Watzinger in Tübingen mit einer Dissertation über die Industrien von Terra sigillata mit Rädchenverzierung im deutschfranzösischen Grenzgebiet Lothringens (Argonnensigillata).3 Der Wechsel in die Hauptstadt hatte tiefgreifende Auswirkungen nicht nur auf die Karriere Unverzagts, sondern auch auf seine spätere berufspolitische Positionierung. Prägend blieb seine Nähe zu Carl Schuchhardt, dem ebenso einflussreichen wie populären Direktor der vorgeschichtlichen Sammlung der königlichen und ab 1919 staatlichen Museen. Schuchhardt holte Unverzagt 1925 zunächst als wissenschaftlichen Hilfsarbeiter, dann als Kustos an die Sammlung; schon 1926 trat er die Nachfolge Schuchhardts als Abteilungsdirektor an, wodurch der Grundstein für seine Karriere in Museum und Denkmalpflege gelegt war. Der rasche Aufstieg rief Widerspruch bei Fachkollegen hervor: Vordergründig wurde kritisiert, dass die Museumsleitung einem klassisch-provinzialrömischen Archäologen und nicht einem ausgewiesenen Prähistoriker übertragen worden war. Hintergrund des Angriffs auf Unverzagt war jedoch der jahrzehntelange Gegensatz zwischen Schuchhardt und →Gustaf Kossinna, dem Hauptvertreter einer völkisch argumentierenden Vorgeschichtswissenschaft.4 Kossinnas Prämisse von typologisch und formengeschichtlich scharf umrissenen „Kulturprovinzen“, die sich eindeutig historischen Völker-

Wilhelm Unverzagt  851

schaften zuordnen lassen sollten, hatte nach dem Weltkrieg viele Anhänger im völkischen Lager. Unverzagt näherte sich solchen Positionen schnell an, und es gelang ihm, gegen ihn gehegte Vorbehalte wegen möglicher gesinnungsmäßiger Unzuverlässigkeit zu zerstreuen. Anschaulich wurde dies in der Dissertation: Im Gegensatz zur rein deskriptiven Fundzusammenstellung in früheren kleinen Veröffentlichungen unterwarf Unverzagt sein Material nun einer völkisch argumentierenden ethnischen Interpretation. Ausgehend allein von dem untersuchten Tafelgeschirr formulierte er eine weitreichende These zur angeblichen Kontinuität der bronzezeitlichen Bevölkerung der Argonnen, die sich in den „Grundzügen ihres Wesens behauptet“ habe und aus dem „tausendjährigen Ringen“ mit anderen Kulturen „siegreich“ hervorgegangen sei und so ein „eindrucksvolles Beispiel für die zähe Erhaltung eines geschlossenen, bodenständigen Kulturkreises“ liefere.5 In den dreißiger Jahren war Unverzagt in Personalunion Direktor der vorgeschichtlichen Abteilung der Berliner Museen (ab 1931 Museum für Vor- und Frühgeschichte), Bodendenkmalpfleger für die Provinz Brandenburg und Mitglied des Archäologischen Instituts des Deutschen Reichs, wodurch er an wissenschaftspolitisch wichtigen Schaltstellen saß. Hinzu kam die Mitarbeit in Verbänden zur aufkommenden Mittelalterarchäologie; 1927 gründeten Unverzagt und Schuchhardt gemeinsam die Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der nord- und ostdeutschen vor- und frühgeschichtlichen Wall- und Wehranlagen. Ausgrabungen, die Unverzagt leitete oder an denen er mitwirkte, etablierten eine grabungstechnisch und in ihren Fragestellungen innovative Siedlungsarchäologie: In interdisziplinärer Zusammenarbeit gewannen Archäologen, Historiker und Naturwissenschaftler Ergebnisse zur Abgrenzung germanisch/deutscher und slawischer Siedlungszonen, die auf einer ethnischen Interpretation des Fundmaterials beruhten und eine Verwertung der Forschungsergebnisse im völkischen Zusammenhang ermöglichten.6 Die Siedlungsarchäologie fand Anwendung in staatlich geförderten Forschungsvorhaben; neben dem preußischen Ministerium für Kunst, Wissenschaft und Volksbildung, dem Archäologischen Institut des Deutschen Reiches und der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft finanzierten auch volkstumspolitische Einrichtungen Ausgrabungen.7 Die →Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft unter →Albert Brackmann förderte Arbeiten zur Geschichte und Archäologie der Burg Zantoch bei Lebus im Oderbruch.8 In Lebus entstand eine Forschungsstelle der Staatlichen Museen zu Berlin, für die auch das →SS-Ahnenerbe Mittel bereitstellte; ab 1937 fungierte Heinrich Himmler als Schirmherr der dortigen Ausgrabungen.9 Auf Anraten seines ehemaligen Mitarbeiters Alexander Langsdorff, der in Himmlers Persönlichem Stab Karriere machte, trat Unverzagt noch 1938 der NSDAP bei. Der Parteieintritt war karrieretaktisch und erfolgte angeblich, um fachinternen Widersachern (Amt Rosenberg) weniger Angriffspunkte zu bieten und unter dem „Schutz“ des Ahnenerbe weiter arbeiten zu können.10 Gute Verbindungen zum Ahnenerbe hatte Unverzagt jedoch schon zuvor gehabt, 1942 und 1943 ermöglichte es ihm Sondierungen auf der Festung Belgrad im besetzten Serbien. Die Grabungskampagnen

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sollten deutsche Interessen in Südosteuropa historisch stützen. Unverzagts Expertise sollte ebenfalls dazu dienen, eine Bodendenkmalpflege nach deutschem Vorbild aufzubauen.11 Die zahlreichen Aktivitäten belegen Unverzagts geschickte berufspolitische Positionierung in den 1930er Jahren. Teilweise qua Amt stand er staatlichen und halbstaatlichen Institutionen nahe, die Gelder für wissenschaftliche Forschungen bereitstellten, die auf völkischen Prämissen beruhten, sich zumindest aber mit völkischen Argumentationsweisen in Deckung bringen ließen. Unverzagt nutzte Ressourcen, die in der Weimarer Republik durch die „→Ostforschung“ Preußens und des Reiches bereitgestellt und dann von der NS-Wissenschaftspolitik weiterfinanziert worden waren. 1945 verlor Unverzagt sein Museumsamt. Als Beamter war er formal von den Alliierten entlassen worden, da er der NSDAP angehört hatte; Versuche, seine Wiedereinstellung zu erreichen, scheiterten. Ab 1947 führte er seine Forschungen zur Archäologie der Slawen an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften fort, die erneut in einem politischen, diesmal sozialistischen Kontext standen. Bis Ende der sechziger Jahre hatte Unverzagt – weiterhin Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts und Herausgeber der Prähistorischen Zeitschrift – eine Scharnierstelle in der (deutsch-)deutschen und europäischen Vorgeschichtsforschung inne. Im Zuge der Reform der Akademie der Wissenschaften wurde er 1969 pensioniert.12 Er starb am 17. März 1971. Insbesondere Unverzagts Karriere nach 1945 verdeutlicht sein vom politischen System unabhängiges berufspolitisches Vermögen, sich wichtige Einfluss- und Schaltstellen zu sichern. Behauptungen, Unverzagt habe im Nationalsozialismus gezwungenermaßen mit dem Ahnenerbe kooperiert, um seine Arbeit fortsetzten zu können, da er einflussreiche Widersacher in der Wissenschaftspolitik gehabt habe, verkennen die grundsätzlich offenen Konkurrenzsituationen im Nationalsozialismus. Es handelt sich bei diesen Interpretationen in erster Linien um Schutzbehauptungen, die auf Unverzagts biographische Erzählung der Nachkriegszeit zurückgehen13 und die ein Rechtfertigungsbedürfnis von Weggefährten und Schülern spiegeln.14

Timo Saalmann

1 Zu biographischen Daten vgl. Horst Junker u.a., Zur Personellen Ausstattung des Museums für Vor- und Frühgeschichte seit 1829. Personalverzeichnis – Kurzbiographien – Stellenübersicht, in: Das Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte. Festschrift zum 175-jährigen Bestehen, Berlin 2005, S. 513–589, 533ff. 2 Gerhard Bersu/Wilhelm Unverzagt, Le Castellum de Fanum Martis (Famars, Nord), in: Gallia 19 (1961) 1, S. 159–190. 3 Wilhelm Unverzagt, Studien zur Terra sigillata mit Rädchenverzierung, in: Prähistorische Zeitschrift 16 (1925), S. 123–165. Zur Dissertationsschrift zugehörig ist auch: Wilhelm Unverzagt, Studien zur Terra sigillata mit Rädchenverzierung, Frankfurt a.M. 1919.

Wilhelm Unverzagt  853

4 Heinz Grünert, Gustaf Kossinna (1858–1931). Vom Germanisten zum Prähistoriker. Ein Wissenschaftler im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Rahden/Westf. 2002. 5 Unverzagt, Studien zur Terra sigillata, S. 165. Zustimmend besprochen in Jahresberichte für deutsche Geschichte 1 (1925), S. 217f. 6 Sebastian Brather, Wilhelm Unverzagt und das Bild der Slawen, in: Heiko Steuer (Hg.), Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995, Berlin 2001, S. 173–198. 7 Hubert Fehr, Prehistoric Archaeology and German Ostforschung: The Case of the Excavations at Zantoch, in: Archaeologia Polona 42 (2004), S. 197–228; Sebastian Heber, Wilhelm Unverzagt und die archäologische Untersuchung in Zantoch (1932–1934), in: Ethnographisch-archäologische Zeitschrift 49 (2008), S. 309–333; Susanne Grunwald, „Die Aufteilung der Burgen auf die Geschichte wird eine Änderung erfahren müssen“. Zur Geschichte der Zantoch-Idee, in: Praehistorica et Archaeologica 41 (2009), S. 231–262. 8 Albert Brackmann/Wilhelm Unverzagt, Zantoch. Eine Burg im deutschen Osten. Teil 1. Zantoch in der schriftlichen Überlieferung und den Ausgrabungen 1932/33, Berlin 1936. 9 BArch, R 153/2604, Unverzagt an Publikationsstelle Dahlem vom 9. Juni 1937. 10 SMB-PK/MVF, Nl Unverzagt, Unverzagt an Entnazifizierungskommission des Magistrats von Berlin (undatierter Entwurf). 11 Ebd., BDC, NS 21/2567, (Unverzagt, Wilhelm), Unverzagt an Sievers vom 27. August 1943 und der „Bericht über die im Sommer 1943 in der Festung Belgrad durchgeführten Ausgrabungen“ (undatiert). – Wilhelm Unverzagt, Neue Ausgrabungen in der Festung Belgrad, in: Forschungen und Fortschritte 21 (1945), S. 41–45. 12 Sebastian Heber, Wilhelm Unverzagt – Neuanfang nach 1945!?, in: Regina Smolnik (Hg.), Umbruch 1945? Die prähistorische Archäologie in ihrem politischen und wissenschaftlichen Kontext, Dresden 2012, S. 50–58. 13 SMB-PK/MVF, NL Unverzagt, Magistrat der Stadt Berlin, Personalfragebogen (undatiert); ebd., Nl Unverzagt, Unverzagt an Entnazifizierungskommission des Magistrats von Berlin (undatierter Entwurf). 14 Herbert Jankuhn, Wilhelm Unverzagt. 21. März 1892–17. März 1971, in: Prähistorische Zeitschrift 46 (1970), Vorsatzblatt; Mechthilde Unverzagt, Wilhelm Unverzagt und die Pläne zur Gründung eines Instituts für die Vorgeschichte Ostdeutschlands, Mainz 1985, S. 18–28; Bodo Anke, Als Archäologe im Wechsel von Generationen und politischen Welten. Zum 100. Geburtstag von Wilhelm Unverzagt, in: Das Altertum 38 (1993), S. 275–296. Vgl. Timo Saalmann, Wilhelm Unverzagt und das Staatliche Museum für Vor- und Frühgeschichte Berlin in der NS-Zeit, in: Das Altertum 55 (2010) 2, S. 89–104, 94–102.

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Fritz Valjavec Fritz Valjavec wurde am 26. Mai 1909 in Wien als Sohn eines in Agram (Zagreb) tätigen Beamten geboren. Mit seiner Mutter lebte er als Angehöriger der jugoslawischen Nationalität seit 1919 in Budapest. Sein Studium der Geschichte und Germanistik schloss er 1934 in München mit Auszeichnung ab.1 Während des Studiums an der Münchner Universität festigte Valjavec seine völkisch-nationalsozialistische Orientierung, die zunächst in seinem Beitritt zur NSDAP 1933 mündete. Er promovierte 1934 über „Karl Gottlieb von Windisch. Lebensbild eines südostdeutschen Bürgers in der Aufklärungszeit“ bei →Karl Alexander von Müller. Anschließend war er im Südostausschuss der Deutschen Akademie in München tätig. Valjavec erhielt 1935 ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft für eine Geschichte der Deutschen im Südosten von 1780–1918, worauf er als Mitarbeiter ins Institut zur Erforschung des deutschen Volkstums im Süden und Südosten (später Südost-Institut) eintrat, dessen Geschäftsführer er wurde.2 Ab 1936 erschien unter seiner Ägide die Zeitschrift Südostdeutsche Forschungen (SODF). Bedeutsam war Valjevecs programmatischer Beitrag „Wege und Wandlungen deutscher Südostforschung“, in welchem – dem volkgeschichtlichen Paradigma folgend – vom ungenügenden „wissenschaftliche[n] Einsatz Deutschlands“ im europäischen Südosten die Rede war. Außerdem sprach er von der „deutschen Sendung“, vom erwachenden „Selbstbewußtsein“ des „Südostdeutschtums“ und von der „gesinnungsmäßige(n) Unterbauung“ der wissenschaftlichen Bestrebungen dieser Deutschen. Dies leistete für ihn das Modell des „deutschen Volksbodens im Südosten“. Gemäß des Paradigmas der →Leipziger Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung proklamierte er die geistige und wirtschaftliche „Überlegenheit der deutschen Siedler“ gegenüber allen anderen Bewohnern Südosteuropas.3 Indessen betonte Valjavec wiederholt die Notwendigkeit „planmäßige(r) Südostarbeit“ und „verstärkte(r) Zusammenarbeit mit der fremdvolklichen Wissenschaft“, was durchaus kein Widerspruch war, wenn man sich die hegemoniale Komponente des deutschen Engagements im Südosten vor Augen hält. Valjavec trat auf der Tagung der Arbeitsgemeinschaft Sathmar und Buchenland des →Deutschen Ausland-Instituts vom 9. bis zum 12. Februar 1939 auch als Vertreter der NS-Reichsstudentenschaft und des Südost-Instituts in München gleichermaßen auf. Er forderte die Durchführung einer rassenhygienischen Bestandsaufnahme der Deutschen aus dem Siebenbürgischen, der Karpatho-Ukraine und der Slowakei in Form einer „medizinische(n) Topographie“.4 Solche wissenschaftlichen und inhaltlichen Vorgaben für den Südosten stießen innerhalb der parteiamtlichen Bürokratie auf offene Ohren. So war er Mitarbeiter der parteiamtlichen Prüfungskommission der NSDAP. Überdies betätigte er sich „in seiner Ortsgruppe“ in München „mit grossem Pflichtbewusstsein als Blockleiter“. Dieser Tätigkeit konnte er durch dienstliche Beanspruchungen und Auslandsreisen aber nicht mehr vollständig nachkommen. Seinen vollen Einsatz für Staat und Par-

Fritz Valjavec  855

tei, bewies er zudem, wie die Gauleitung München urteilte, als er „vom Juli bis Dezember (1941) in einem Kommando der Sicherheitspolizei und des SD in Südrussland eingesetzt“ worden war.5 Die Parteikanzlei nahm 1940 aufgrund seiner soliden politischen Ausrichtung positiv Stellung zu den Besetzungsvorschlägen für die →Deutsche Auslandswissenschaftliche Fakultät zu Berlin.6 Für diese hatte er eine Zeit lang von München aus als Lehrbeauftragter gewirkt. Dort war er 1941 als außerordentlicher Professor und ab 1942 als Lehrstuhlinhaber tätig. Valjavec erhielt am 10. Juni 1941 die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkannt, was ausschlaggebend für seinen unmittelbar darauf erfolgten Einsatz im Sonderkommando 10b gewesen sein dürfte. Valjavec stellte am 12. Juni 1941 sein Urlaubsgesuch von der wissenschaftlichen Tätigkeit, dem das Reichserziehungsministerium am 3. Juli zustimmte. Bereits am 31. Mai 1941 hatte er in einem Privatbrief geäußert, in nächster Zeit sein als Zivilist gefristetes Dasein beenden zu können. Knapp zwei Monate später schrieb er seinem Freund →Harold Steinacker: „Seit Ausbruch des Krieges mit Rußland befinde ich mich als Angehöriger eines Einsatzkommandos der deutschen Sicherheitspolizei und des SD im Felde.“7 Bereits im Juni 1941 wurde Valjavec zum Sonderkommando 10b der Einsatzgruppe D einberufen, das unter der Leitung Alois Persterers stand. Als Datum seiner Abkommandierung, welches nach wie vor ungesichert ist, gab Valjavec in seiner eidesstattlichen Aussage vor der Münchner Staatsanwaltschaft 1957 jedoch den 15. Juli 1941 an, während in seiner Personalakte, die sich im Bundesarchiv befindet, ein früheres Datum für die Beurlaubung angegeben ist. Das Datum ist insofern relevant, als Valjavec, wie aus einem Vernehmungsprotokoll eines Zeugen der Münchner Staatsanwaltschaft aus dem Jahre 1961 ersichtlich ist, am 8. Juli 1941 in Czernowitz an Massenexekutionen beteiligt war. Hier gab Valjavec am Tötungsplatz der insgesamt 100 Czernowitzer Juden samt Würdenträgern „Genickschüsse“ ab.8 Andrej Angrick dokumentiert in diesem Zusammenhang die Vernehmung der im Liftschacht des Hotels Schwarzer Adler gefangen gehaltenen jüdischen Intelligenz und deren wenig später erfolgte Erschießung. Nach den Morden vom 8. und 9. Juli 1941 kam es in Czernowitz vorerst zu keinen weiteren Massakern durch deutsche oder rumänische Einheiten, doch die „normale sicherheitspolizeiliche Arbeit“ der Einsatzgruppen, die auch die Ermordung einzelner Juden und Nichtjuden beinhaltete, betraf dies nicht. Andrej Angrick hält fest, dass laut Meldung des Einsatzkommandos 10b bis zum 1. August 1941 in Czernowitz von „etwa 1.200 festgenommenen Juden 682 im Zusammenwirken mit der rumänischen Polizei erschossen“ worden sind, wobei diese Opferzahl die Toten des 8. und 9. Juli mitberücksichtigt. Bei den festgenommenen „kommunistischen Funktionären“ lag die Mordrate anders: von 50 Gefangenen waren bis Anfang August erst „16 liquidiert worden“, während man den Rest noch für Vernehmungen benötigte, in der Erwartung, auf bisher verstecktes „Material der sowjetischen Dienststellen“ zu stoßen.9 Nach dem Weitermarsch des Sonderkommandos 10b in die Ukraine verblieb Fritz Valjavec bis Ende November 1941 als politischer Agent des SD in Czernowitz. In dessen Auftrag versuchte er die ukrai-

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nische Minderheit der Nordbukowina zu nachrichtendienstlichen Zwecken gegen die rumänische Besatzungsmacht zu mobilisieren; eine zu dem Zeitpunkt noch im Sicherheitsdispositiv der SS naheliegende Option.10 Zwischen Kriegsende und dem Zeitpunkt seiner Vernehmung konnte Valjavec in der Bundesrepublik eine zweite Karriere aufbauen und eine höhere Beamtenlaufbahn einschlagen. Alois Persterers Dolmetscher war vollkommen gesellschaftsfähig, ja bildete an der Universität München junge Historiker nach nunmehr demokratischen Denkmustern aus. 1951 veröffentlichte er sein Standardwerk über „Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland“ und stellte sein während der Kriegszeit gesammeltes Material dem Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte zwecks Herausgabe der umstrittenen Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa zur Verfügung, deren Dokumente nachweislich teilweise unter Valjavecs Leitung gefälscht worden sind.11 Valjavec leitete ab 1955 bis zu seinem Tod das Münchner Südost-Institut und unterhielt engen Kontakt zu →Hans Koch, dem ehemaligen Direktor des OsteuropaInstituts in Breslau, sowie zu →Wilfried Krallert. Er gehörte 1951 zu den Gründern des Südostdeutschen Kulturwerks, 1952 zu denen der →Südosteuropa-Gesellschaft, der er von 1952 bis 1955 präsidierte. Danach wurde er deren Geschäftsführer. Valjavec war Mitherausgeber des Südostdeutschen Archivs und Herausgeber der Reihe Südosteuropäische Arbeiten. Von 1952 bis 1960 gab er das dem Volks- und Kulturbodendoktrin verhaftete 10-bändige Sammelwerk Historia Mundi und 1956 den ersten Band der retrospektiven Südosteuropa-Bibliographie heraus. Ab 1958 wirkte er als Ordinarius für Kultur und Wirtschaft Südosteuropas an der Universität München. Valjavec starb mit 51 Jahren am 10. Februar 1960 in München.12

Klaus Popa

1 Stadtarchiv Budapest, VI 502d, 78 (Reichsdeutsche Schule zu Budapest), Reifeprüfung 1929/30, 20, Fritz Valjavec, Nation: „jugosl.“; Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Frankfurt a.M. 1983, S. 613; Harold Steinacker, Fritz Valjavec. Der Forscher und Gelehrte, in: Südostdeutsches. Archiv 3 (1960), S. 3–13 (Nachdruck in: Gedenkschrift für Fritz Valjavec, hg. Südostdeutsches Kulturwerk, München 1963, S. 19–33). 2 BArch, BDC, PK Pa Fritz Valjavec, 119.000, 2565, Gaupersonalamt München, Hauptstelle politische Beurteilungen, München vom 22.12.1942; BArch, NS 21, 297 (GIFT-Kopienarchiv: Pa Valjavec), Bruno Schweizer an Wolfram Sievers vom 16.12.1941; BArch, R73, 15320F; IfZ, MA 1190/1 (GIFT-Kopienarchiv: Pa Valjavec), Haushofer an SS-Brigadeführer Wolff, Charakterbild von Friedrich Valjavec vom 28.4.1938. 3 Südostdeutsche Forschungen (SODF) 1 (1937), S. 1–14. 4 BArch, R 57neu, 1972, S. 12. 5 BArch, BDC, Fritz Valjavec, Gutachten des Obergemeinschaftsleiters der NSDAP in der Gauleitung München-Oberbayern vom 22.8.1942, und Anfrage zu Valjavec in der Akte Taras von Borodajkewycz, dort das Gutachten über Valjavec durch Hofmann. 6 Helmut Heiber, Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP. Teil I, Bd. 2, München 1983, Nr.24387, S. 560.

Fritz Valjavec  857

7 BayHSTA, NL Valjavec, Valjavec an Ulrich Eichstädt vom 22.8.1941, an H. Steinacker vom 27.8.1941 und an Amtsleiter PG Dr. Zilcher vom 31.5.1941, und BArch, BDC, REM, Personalakte Fritz Valjavec. 8 Vgl. Ingo Haar, Friedrich Valjavec: Ein Historikerleben zwischen den Wiener Schiedssprüchen und der Dokumentation der Vertreibung, in: Lucia Scherzberg (Hg.), Theologie und Vergangenheitsbewältigung, Paderborn 2005, S. 103–119, 111f. 9 Vgl. Andrej Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941–1943, Hamburg 2003, S. 158f., und BArch, R 58, 215, EM 40 vom 1.8.1941. Siehe auch 22 Js 201/61 der Staatsanwaltschaft München, Bd. 1, Aussage Professor Fritz Valjavec, Bl. 318– 321. 10 PA, Inland I, Partei 86/4, AA an Chef SiPo u. SD vom 17.11.1941; Chef u. SiPo an das AA vom 4. Februar 1942, und Angrick, Besatzungspolitik, S. 157f. 11 Vgl. Ingo Haar, Die deutschen „Vertreibungsverbrechen“. Zur Entstehungsgeschichte der „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 35 (2007), S. 251–272. 12 22 Js 203/61 der Staatsanwaltschaft München, Bd. 4, Todesurkunde Valjavec, Bl. 871. Valjavec verstarb, bevor er eingehender zur Sache vernommen werden konnte, ob er direkt in Verbrechen verwickelt war.

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Theodor Veiter Den biografischen und intellektuellen Ausgangspunkt von Theodor Veiter bildete seine feste Verankerung im politischen Katholizismus. Veiter wurde am 22. September 1907 in München geboren. Er absolvierte das Jesuitengymnasium Stella Matutina in Feldkirch und war während seines Hochschulstudiums in München, Budapest und Wien nicht nur politisch im katholisch-konservativen Spektrum aktiv (bei der Christlichsozialen Partei in Kärnten und der Christlichsozialen Bundesratsfraktion in Wien, aber auch in der Wiener CV-Verbindung Rudolfina, in der Katholisch-Deutschen Hochschülerschaft Austria/Österreich und der Internationalen Organisation der katholischen Studentenverbände „Pax Romana“), sondern er gelangte auch schnell in den Dunstkreis von →Karl Gottfried Hugelmann und →Othmar Spann. Bei Hugelmann wurde Veiter Assistent und arbeitete redaktionell an dessen Hauptwerk Das Nationalitätenrecht des alten Österreich (1934) mit, von Spanns „ganzheitlicher Gesellschaftslehre“ ging wiederum eine starke Prägung für das Fundament von Veiters späteren nationalitätenrechtlichen und ethnopolitischen Arbeiten aus. Auch wenn der Katholizismus nicht zu Veiters Hauptforschungsfeldern gehörte, so bildete er dennoch die Grundlage seiner volksgruppentheoretischen Überlegungen, weil die christlich-katholische Naturrechtskonzeption den legitimatorischen Hintergrund in Veiters ethnopolitischen und volksgruppenrechtlichen Schriften darstellte. Den systematischen Ausgangspunkt für Veiters volksgruppenrechtliche Arbeit bildete seine als Habilitationsschrift vorgesehene Arbeit Nationale Autonomie, in der er wesentliche konzeptionelle und empirische Elemente einer →Volkgruppenrechtstheorie zusammenfasste. Besonders bemerkenswert an der Schrift war ihr zeithistorischer Kontext, da dieser aufschlussreich bezüglich des politischen Standortes von Veiter ist, insbesondere mit Blick auf den Nationalsozialismus: Während im Erstdruck der Nationalen Autonomie noch ein positiver Bezug auf den „Anschluß Deutschösterreichs“ und eine Datierung der Veröffentlichung auf den „Tag des Großdeutschen Reiches 1938“ enthalten war,1 wurde dieser später geschwärzt bzw. überklebt, und Veiter bagatellisierte seine Ausführungen in seiner Autobiografie später salopp als „einige freundliche Worte über den Nationalsozialismus“, die in der Arbeit enthalten gewesen seien.2 Da Veiter sich selbst immer wieder in das Umfeld des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus rückte und seiner Autobiografie ein faksimiliertes Dokument beifügte, das von der Landesleitung Vorarlberg der Österreichischen demokratischen Widerstandsbewegung ausgestellt war und sich wie ein langer Persilschein liest,3 zeigt dieser Umgang mit seinem Hauptwerk die Ambivalenzen innerhalb seines völkischen Denkens: Veiter legte zeitlebens aus strategischen Gründen Wert darauf, als Österreicher apostrophiert zu werden, auch wenn er sich selbst als „dem Volke nach“ als Deutscher klassifizierte (und nur die österreichische Staatsangehörigkeit besitze);4 und überdies betonte er, dass er das „Modeschlagwort von der ös-

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terreichischen Nation“ ablehne und „gesamtdeutsch“ orientiert sei.5 Aufgrund seines mit Spanns organisch-hierarchischem Denkansatz amalgamierten politischen Katholizismus stand Veiter in einem machtstrategischen Konflikt zum Nationalsozialismus, der sich mit Anton Staudinger als Ausdruck einer „vielfältigen Konkurrenz auf vergleichbaren inhaltlichen Ebenen“ innerhalb der völkischen Bewegung6 beschreiben lässt, oder, angelehnt an Dirk Gerdes, als lediglich unterschiedlich hinsichtlich des Ausmaßes des in den jeweiligen politischen Konzepten „angelegten Inhumanitätspotentials“.7 Veiters Bemühungen, in die NSDAP aufgenommen zu werden, scheiterten nämlich nicht an seiner Ablehnung oder irgendeinem Widerstand, sondern genau umgekehrt an der Ablehnung seines NSDAP-Beitritts durch das NS-Regime. Denn Veiter war am 9. Juni 1934 in die NSDAP eingetreten und unter der Mitgliedsnummer 14.391 registriert worden. Veiters Mitgliedskarte nennt entgegen dieses auf eine handschriftliche Korrektur in seinem Antrag auf Feststellung der NSDAP-Mitgliedschaft zurückgehenden Datums den 19. Juni 1933 – den Tag des NSDAP-Verbots in Österreich – als Datum des Parteieintritts, wobei diese Angaben jedoch laut Veiter „um einige Monate vordatiert“ gewesen seien. Sein persönliches Ersuchen auf Feststellung der NSDAP-Mitgliedschaft im Lande Österreich vom 19. Mai 1938 wurde – trotz der Beteuerungen Veiters, sich für die „nationalsozialistische Idee“ betätigt zu haben, Parteigenossen geholfen, sich „seit je sehr aktiv für die Propagierung des Anschlussgedankens“ eingesetzt zu haben, in „laufender Verbindung mit Nationalsozialisten außerhalb Österreichs“ gestanden zu haben, die NSDAP-Parteizwecke „unter den verschiedensten Formen finanziell“ unterstützt zu haben und „sehr wesentlich zur Schwächung des früheren Systems von innen heraus“ beigetragen zu haben – jedoch vom NSDAP-Gaugericht Wien am 21. Mai 1940 letztendlich mit dem Verweis auf seinen „politischen Katholizismus“ abgelehnt. Nichtsdestotrotz unterzeichnete Veiter seine Briefe noch 1942 mit „Heil Hitler“.8 Hintergrund des Konflikts zwischen der rassistischen NS-Ideologie und dem völkisch-konservativen Milieu, dem auch Veiter angehörte, war einerseits ein politischer Machtkampf um die organisatorische Vorherrschaft und andererseits Ausdruck einer konzeptionellen Differenz über die konkrete Ausformulierung einer rassistischen bzw. völkischen Weltanschauung – und beide Momente ließen sich wohl nur mit einer zynischen Selbstexkulpierung als Widerstand klassifizieren. Veiters Gedankengebäude stand dabei in der Tradition der Konservativen Revolution und wollte – im Geiste Max Hildebert Boehms, mit dem Veiter auch persönlich bekannt war – die „Eigenständigkeit“ des Volkes als historische und soziale Kategorie erweitern um ein völkisches Konzept der Minderheitenpolitik, deren Objekt nicht mehr im demokratischen Sinne Minderheiten, sondern im völkischen Sinne Volksgruppen sein sollten. Veiters Werk „Nationale Autonomie“ hatte in diesem völkischen Bestreben eines maßgeblichen Teils der österreichisch-deutschen Völkerrechtslehre eine Schlüsselfunktion, da es die erste systematische Arbeit zur rechtstheoretischen Legitima-

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tion eines Autonomieanspruchs für völkische Kollektive war. Denn den rechtlichen Ordnungsrahmen für das Konzept der Nationalen Autonomie bildete nicht eine aus dem völkerrechtlichen Kontext herrührende Norm – die völkerrechtliche Ordnung war durch das liberale Minderheitenrecht des Völkerbundes geprägt – sondern ausschließlich das innerstaatliche Recht der jeweiligen Staaten, denn es gab „keine völkerrechtliche Bestimmung, durch welche kollektive (Persönlichkeits-)Rechte einer Volksgruppe, die sich als ein Anspruch internationalen Rechtes darstellen, unmittelbar begründet würden“, wie auch Veiter zutreffend betonte.9 Das Konzept der Autonomie wurde dabei gleichermaßen als eigenständige Rechtsquelle innerhalb des innerstaatlichen Kontextes verstanden, wie es auch durch den Verweis auf seine naturrechtliche Geltung im Sinne von Boehms auf das „Volk“ gemünzter Formulierung als „zeitewig“10 gelten sollte. Das Konzept der Nationalen Autonomie stellte theoretisch für die Volksgruppenrechtstheorie den Höhepunkt dar, ja galt als die „dem Wesen des Volkstums gemäßeste Regelung des Volksgruppenrechts“, da es die „Anerkennung der Volksgruppe als Persönlichkeit“ verwirkliche, wie Veiter in seinem ohne Zweifel für die 1930er und 1940er Jahre wichtigsten Werk zum Thema Volksgruppenrecht schrieb.11 In einer Rangfolge der „Formen des Volksgruppenrechtes“ unterschied er sieben Stufen: an der Spitze stand als gewünschter Idealfall die „Territoriale Autonomie“, gefolgt von Regelungen mit Anerkennung der „Rechtspersönlichkeit der Volksgruppe mit Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung auf bestimmten Gebieten“. In der Hierarchie der Regelungen schloss die „Selbstverwaltung auf Teilgebieten ohne Rechtspersönlichkeit der Gesamtvolksgruppe“ an. Desweiteren folgte das „Mitbestimmungsrecht (Nationale Kurie)“, bei der die Volksgruppe im öffentlichen Vertretungskörper das Recht erhalten sollte, eine eigene Kurie zu bilden, die in nationalen Angelegenheiten befragt werden oder die ein Vetorecht bzw. ein Mitbestimmungsrecht bei Wahlen und Ernennungen bekommen sollte. Eine weitere Stufe unter dieser Regelung fand sich der Volksgruppentheorie zufolge die „Staatsfürsorge“, bei der „zwischen dem staatstragenden Volk und der Volksgruppe“ materielle Gleichheit herrschen sollte, bei der der Staat aus eigener Initiative die Minderheit „befürsorgt“ und „ihre nationale Eigenart“ schützten müsste. Die vor dieser stehende Stufe sei die der „Staatsherrschaft“, bei der eine formelle Gleichberechtigung existieren würde, bei der die Volksgruppenangehörigen als Individuen die „gleichen Rechte wie irgendeine nicht national bestimmte Minderheit im Staate“ hätten und zwar unter der „formal gleichen, im Grunde anationalen Herrschaft des Staates“. Allein die Benachteiligung bzw. Diskriminierung durch „Ausnahmegesetzgebung“ galt Veiter als noch weniger erstrebenswert. Das politische Ziel, die Nationale Autonomie, beginne zwar bereits rudimentär bei der Staatsfürsorge und dem Mitbestimmungsrecht, sei jedoch erst bei Anerkennung der Rechtspersönlichkeit der Volksgruppe mit eigener Gesetzgebung und Selbstverwaltung sowie der territorialen Autonomie in vollem Umfang erreicht.12

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Veiters während der Ersten Republik und des Nationalsozialismus entwickelten konzeptionellen Ausführungen fanden in der Nachkriegszeit Widerhall. Veiter selbst knüpfte an seine Überlegungen an und war darum bemüht, ihnen nun rechtlich Gehör zu verschaffen und den politischen Rahmen mit zu generieren, in dem völkische Forderungen (wieder) umgesetzt werden konnten. In akademischer Hinsicht spielte dabei die Publikation eines (von Veiter editierten) dreibändigen Werkes unter dem Titel „System eines internationalen Volksgruppenrechts“ eine Schlüsselrolle, in dem die theoretischen Grundlagen für ein zu schaffendes europäisches Volksgruppenrecht formuliert wurden.13 Veiter passte mit dieser Arbeit – zusammen mit einer Reihe anderer Kollegen aus dem völkischen Spektrum – seine Positionen terminologisch und systematisch an und integrierte die eigenen völkischen Forderungen nun unmittelbar in den völkerrechtlichen Kontext. Die Erarbeitung dieser Publikation wurde Veiter durch seine enge Kooperation mit den deutschen Vertriebenenverbänden ermöglicht. Zusammen mit →Hermann Raschhofer initiierte Veiter 1965 eine Arbeitsgruppe „Volksgruppenrecht“ beim Bund der Vertriebenen (BdV),14 die in den 1970er Jahren eine Schlüsselrolle bei der Vernetzung völkischer Staatsund Völkerrechtler bekommen sollte.15

Samuel Salzborn

1 Vgl. Theodor Veiter, Nationale Autonomie. Rechtstheorie und Verwirklichung im positiven Recht, Wien u.a. 1938, S. 6. 2 Vgl. ders., Politik – Gesellschaft – Wissenschaft. Memoiren aus Politik und Zeitgeschichte, Thaur 1993, S. 138. 3 In dem Dokument heißt es unter anderem nebulös, Veiter habe „in Vorarlberg gegen den Nationalsozialismus gekämpft“ (was auch deshalb bemerkenswert ist, weil Veiter den Großteil der Zeit seit dem „Anschluss“ in Wien gelebt und gearbeitet hatte) oder ebenso kryptisch und – mit Blick auf Veiter selbst – substanzlos: „Seine Frau stammt aus einer bekannten Feldkircher kath. und antinazistischen Familie.“ Die in dem Dokument formulierte „Bestätigung“, Veiter sei „nie Mitglied der NSDAP noch sonst einer Parteigliederung“ gewesen, ist unwahr. Dies stärkt die Vermutung, dass Veiter das von Max Riccabona für die Österreichische demokratische Widerstandsbewegung unterzeichnete Dokument mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst (vor-)formuliert hatte, auch weil einige Passagen in dem Dokument stark an Formulierungen in seiner Autobiografie angelehnt sind. Vgl. zum Kontext: Gerhard Wanner, Die österreichische demokratische Widerstandsbewegung, Land Vorarlberg, in: ders. (Hg.), 1945. Ende und Anfang in Vorarlberg, Nord- und Südtirol, Lochau 1986, S. 69ff. 4 Vgl. Vorarlberger Landesbibliothek NL Veiter AS 23, Theodor Veiter an Rudolf Hilf vom 1.2.1978, S. 2. 5 Vgl. ebd., Nl Veiter AS 21, Theodor Veiter an Rudolf Benl vom 17.5.1984. Mit dem in Bezug auf Österreich verwendeten Adjektiv „national“ verknüpfte Veiter nach Eigenangaben auch eine „deutsch-völkische“ Positionierung. Vgl. Österreichisches Institut für Zeitgeschichte Nl. 10 Do. 183 Mappe 1, S. 19, Theodor Veiter an Ludwig Jedlicka vom 26.4.1976. 6 Anton Staudinger, Völkische Konkurrenz zum Nationalsozialismus – am Beispiel des „Österreichischen Verbandes für Volksdeutsche Auslandsarbeit“, in: Felix Kreissler (Hg.), Fünfzig Jahre danach – Der „Anschluss“ von Innen und Aussen gesehen, Wien u.a. 1989, S. 52.

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7 Dirk Gerdes, Frankreich – „Vielvölkerstaat“ vor dem Zerfall?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 12/80 vom 22.3.1980, S. 7, Herv. i. Orig. 8 Vgl. BArch, BDC, PK Veiter, Theodor Veiter, Antrag an die NSDAP auf Ausstellung einer vorläufigen Mitgliedskarte und zur Feststellung der Mitgliedschaft im Lande Österreich vom 19.5.1938; ebd., NSDAP-Gaugericht Wien: A.V. Nr. 77/40 vom 21.5.1940; Österreichisches Institut für Zeitgeschichte, Nl. 10 Do. 184 Mappe 5 fol. 575, Theodor Veiter an Fritz Nölle vom 25.8.1942. 9 Vgl. Veiter, Nationale Autonomie, S. 73. 10 Vgl. Max Hildebert Boehm Das eigenständige Volk. Volkstheoretischen Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaften, Göttingen 1932, S. 222. 11 Vgl. Veiter, Nationale Autonomie, S. 81. 12 Vgl. ebd., S. 80f. 13 Vgl. Theodor Veiter (Hg.): System eines internationalen Volksgruppenrechts, 1. Teil: Grundlagen und Begriffe, Wien u.a. 1970; 2. Teil: Innerstaatliche, regionale und universelle Struktur eines Volksgruppenrechts, Wien u.a. 1972; 3. Teil: Sonderprobleme des Schutzes von Volksgruppen und Sprachminderheiten, Wien 1978. Ursprünglich war noch ein 4. Teil des „Systems“ geplant gewesen, der aber nicht realisiert wurde. Vgl. BArch, B 234 Nr. 5, Hans-Günther Parplies (BdV) an Werner That (BMGdF) vom 6.11.1968. 14 Vgl. BArch, B 234 Nr. 82 (5310), Hermann Raschhofer/Theodor Veiter: Einladung zur ersten Arbeitstagung der Arbeitsgruppe „Volksgruppenrecht“ vom 7.10.1965. Vgl. ausführlich Samuel Salzborn: Heimatrecht und Volkstumskampf. Außenpolitische Konzepte der Vertriebenenverbände und ihre praktische Umsetzung, Hannover 2001, S. 30ff. 15 Siehe zu den Entwicklungen seit den 1970er Jahren: ders., Ethnisierung der Politik. Theorie und Geschichte des Volksgruppenrechts in Europa, Frankfurt u.a. 2005, S. 218ff.

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Wilhelm Volz Der am 11. August 1870 in Halle an der Saale geborene Wilhelm Volz wuchs in Potsdam als Sohn des Gymnasialdirektors und Schulgeographen Berthold Volz auf. Zwischen 1890 und 1895 studierte Volz Geographie, Geologie und Ethnologie an den Universitäten Leipzig, Berlin und Breslau. Zu seinen akademischen Lehrern gehörten Friedrich Ratzel, Joseph Partsch und Ferdinand von Richthofen. 1895 erfolgte die Promotion im Fach Geologie über „Die Korallenfauna der Schichten von St. Cassian in Süd-Tirol“ bei Fritz Frech an der Universität Breslau. Im Jahr 1899 habilitierte er sich, ebenfalls an der Universität Breslau, im Fach Geologie mit der Arbeit „Beiträge zur geologischen Kenntnis“ von Nord-Sumatra. Zwischen 1899 und 1904 war Volz als Privatdozent und zwischen 1904 und 1908 als Titularprofessor für Geologie an der Universität Breslau tätig. In den Jahren 1897 bis 1906 unternahm er mehrere Forschungsreisen nach Indonesien. Im Jahr 1908 erfolgte die Umhabilitation in Geographie, im selben Jahr wurde er außerplanmäßiger Professor für Geographie an der Universität Erlangen, wo er im Jahr 1912 zum ordentlichen Professor ernannt wurde. Die Kriegszeit verbachte Volz als Reserveoffizier.1 1918 erfolgte der Ruf als Professor für Geographie an die Universität Breslau in der Nachfolge Alexander Supans, im Jahr 1922 folgte Volz dem Ruf an die Universität Leipzig, wo er als Nachfolger von Joseph Partsch bis 1935 ordentlicher Professor für Geographie war. Seit 1925 (bis zu seinem Tod im Jahr 1958) war Volz ordentliches Mitglied der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, seit 1908 war er Mitglied der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin und seit 1924 Ehrenmitglied der Schlesischen Gesellschaft für Erdkunde.2 1921 wurde Volz aufgrund der positiven internationalen Rezeption seiner kartographischen Arbeiten zu Oberschlesien zum Mitglied der Oxford Geographical Society ernannt.3 Von 1927 bis 1936 war er zusammen mit Rudolf Kötzschke im zweijährigen Turnus Direktor des Instituts für Heimatforschung. Von 1926 bis 1931 war Volz außerdem Geschäftsführer der am 30. Oktober 1926 gegründeten →Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig. Ihm wurde 1931 der Ehrendoktor der Technischen Hochschule Danzig verliehen, außerdem führte er den Titel des Geheimen Regierungsrats.4 Er war Mitglied der nationalkonservativen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), des Stahlhelms und von 1923 bis 1928 des Vereins für das Deutschtum im Ausland. Während seiner Zeit als Lehrstuhlinhaber in Leipzig betreute Volz rund 500 Studierende und 70 Doktoranden. Nach dem Tod Kurt Hasserts im Jahr 1947 sollte Volz auf Wunsch der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig kommissarisch den Lehrstuhl für Geographie vertreten, was aus nicht zu klärenden Gründen nicht zustande kam.5 Volz verstarb am 14. Januar 1958 in Markkleeberg.6 Volz’ wissenschaftliche Schaffensphase bis zum Ersten Weltkrieg war durch ein Nebeneinander von Fragestellungen der Geologie, Anthropologie und Geographie, vor allem im Hinblick auf den südostasiatischen Raum, geprägt. Nach dem Ersten

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Weltkrieg ließ er seine Arbeiten zu Südostasien ruhen und widmete sich volkstumspolitischen Fragestellungen des Deutschtums und der Geographie des deutschen Raumes. Dieses Interesse wurde bereits während der Zeit der deutsch-polnischen Grenzstreitigkeiten und -kämpfe in der unmittelbaren Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges geweckt. Zusammen mit →Albrecht Penck arbeitete Volz im Kontext des preußischen Grenzmarkenausschusses, für den sie im Jahr 1919 die Nationalitätenverhältnisses in den umstrittenen deutsch-polnischen Grenzregionen analysierten. Ihre Studien basierten auf statistisch-kartographischen Methoden und sollten dazu beitragen, die Bevölkerungsverteilung der deutschen und polnischen Bevölkerungsgruppen zu analysieren, um Grundlagen für die deutschen Abwehrmaßnahmen gegenüber polnischen Gebietsansprüchen zu schaffen. In der Zeit nach 1919 konzentrierte Volz sich dabei vor allem auf wirtschafts- und bevölkerungsgeographische Fragestellungen zu Oberschlesien, zu denen er die grundlegenden Arbeiten der Zwischenkriegszeit veröffentlichte.7 Mit seinen Theorien und Methoden trug er so zur Sonderstellung Oberschlesiens innerhalb des deutschen Revisionismus gegenüber der deutschen Ostgrenze bei. Volz’ Argumentation kreiste dabei um folgende zwei Theoreme: zum einen um den Nachweis der wirtschaftlichen Bedeutung Oberschlesiens als zweitgrößtes Kohlen- und Industriezentrum für die gesamte Wirtschaft und Versorgung Deutschlands, dessen Abtretung nach der Teilung Oberschlesiens im Oktober 1921 laut Volz zu weitreichenden wirtschaftlichen Folgen geführt hatte; zum anderen um die Tatsache, dass das oberschlesische Abstimmungsgebiet im Oktober 1921 trotz einer Abstimmung von 59,6% der Abstimmungsberechtigten für den Verbleib bei Deutschland von der Pariser Botschafterkonferenz geteilt wurde. Beide Aspekte verdichteten sich in Volz’ Arbeiten zur Beweisführung der vermeintlichen Ungerechtigkeit der neuen Grenzziehung im Osten, aus denen er seine wirtschaftsund bevölkerungsgeographischen Argumentationszusammenhänge zu Oberschlesien entwickelte. Seine wirtschaftsgeographischen Ausführungen begründete Volz mit der geographischen Lage, die er jedoch in Erweiterung der raumdeterministischen Lehre Friedrich Ratzels um eine anthropogeographische Komponente ergänzte: Erst die Ausnutzung der Lage durch den „kulturhohen“ Menschen bedinge den wirtschaftlichen Aufschwung eines Gebietes, wie auch das „deutsche Ringen“ mit Natur und Lage Oberschlesien zu seiner wirtschaftlichen Blüte gebracht habe.8 Damit entwickelte Volz in seinen Arbeiten die Geschichte Oberschlesiens als „altes deutsches Kulturland“, das nur kurzfristig in polnische Hände gefallen sei, jedoch erst durch die deutsche Rückeroberung Ende des 18. Jahrhunderts zu seiner wirtschaftlichen Blüte gelangt sei. Aus dieser Nutzbarmachung Oberschlesiens leitete Volz ein deutsches, kulturell bedingtes Anrecht auf Oberschlesien ab. Hieraus kam er zu dem Urteil, dass die Teilung Oberschlesiens durch den Botschafterrat im Oktober 1921 vermeintlich ungerecht gewesen sei. Dass die so erfolgte Abtretung des oberschlesischen Kohle- und Industriebezirkes an Polen ebenfalls unrechtmäßig und vielmehr sogar schädlich für den deutschen Staat sei, untermauerte Volz durch zahlreiche

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thematische Karten. Während er den deutschen Staat vor der Teilung Oberschlesiens in diesen Karten als einen funktionsfähigen ‚Wirtschaftsorganismus‘ darstellte, wurden die Folgen der Teilung Oberschlesiens und der damit einhergehenden Abtretung des Kohle- und Industriebezirkes als Schäden an diesem Organismus beschrieben, indem Volz die durch die neue Grenzziehung zahlreich abgeschnittenen Infrastrukturen und Absatzgebiete und die daraus resultierenden wirtschaftlichen Folgen kartierte. Das deutsche Staatsterritorium vor den Abtretungen wurde dabei als eine organische Einheit entworfen, deren Verwobenheit sich in den Verkehrsanbindungen und anderen Infrastrukturelementen, aber auch den Absatz- und Defizitzahlen Oberschlesiens im Vergleich zum restlichen Reichsgebiet zeige, die durch die Teilung des Abstimmungsgebietes unterbrochen worden waren, womit der Organismus schwer geschädigt worden sei. Im Jahr 1929 veröffentlichte Volz zusammen mit Hans Schwalm die Studie „Die deutsche Ostgrenze. Unterlagen zur Erfassung der Grenzzerreißungsschäden“.9 Die Initiative für die Studie kam von Seiten des Reichsministeriums des Innern während der Amtszeit von Reichsinnenminister Walter von Keudell (DNVP). Ziel war es, eine wissenschaftliche Bearbeitung der Auswirkungen der neuen Grenzziehung im Osten durchzuführen, die von Volz geleitet werden sollte. Dafür wurde ihm eine finanzielle Förderung einschließlich der Druckkosten von 50.000 RM seitens der Ministerien zugesichert. Das Ergebnis der Studie war ein Textband mit einem Anhang von 20 Tabellen, dem außerdem ein umfassender Kartenanhang in Form einer eigenständigen Mappe im Umfang von 14 Karten und einer Infographik beigegeben war, beides wurde noch im Jahr 1929 veröffentlicht. Diese Denkschrift zu den „Grenzzerreißungsschäden“ wurde im Februar 1929 dem Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht als Arbeitsgrundlage für die Pariser Verhandlungen über den Young Plan überstellt.10 Volz’ und Schwalms Studie wurde nicht nur innerhalb der Fachwissenschaft und der Politik rege rezipiert, sondern auch in der Presse der Weimarer Republik wohlwollend aufgenommen. Insbesondere die Karten, die Volz zu Oberschlesien veröffentlichte, wurden auch von internationalen Fachkollegen positiv rezipiert, wie Volz’ Aufnahme in die Oxford Geographical Society zeigt.11 Dass Volz neben einem deutschen Publikum stets auch eine internationale Leserschaft anvisierte, daraufhin verweist die Veröffentlichung zahlreicher seiner Arbeiten in unterschiedlichen Sprachen.12 Dass vor allem Volz’ Karten eine herausragende Bedeutung für die wissenschaftliche Untermauerung von Deutschlands Revisionsansprüchen besaßen, wurde auch auf polnischer Seite erkannt, wie die Tatsache erklärt, dass Volz’ Kartenproduktion in den 1920er und 1930er Jahren von dem polnischen Geographen Eugeniusz Romer beobachtet und detailliert analysiert wurde, wobei Romer diese unter dem pejorativ gemeinten Namen „Volziana“ als unwissenschaftlich und falsch zu entkräften suchte.13 Analog zur Ausrichtung seiner wissenschaftlichen Forschungsinteressen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges im Sinne der Deutschtumsforschung und des deutschen Revisionismus müssen auch Volz’ wissenschaftspolitische Initiativen zur

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Förderung und Institutionalisierung der Forschung gesehen werden, die er in Zusammenarbeit mit →Karl Christian von Loesch und Albrecht Penck voranbrachte. Durch seine eigene Forschung, vor allem jedoch durch sein wissenschaftspolitisches Engagement im Hinblick auf Forschungsförderung und -zentralisierung gehörte Volz neben →Max Hildebert Boehm, Karl Christian von Loesch und Albrecht Penck zu den führenden Köpfen der Deutschtumsforschung der Weimarer Republik, die sich als Reaktion auf die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg und auf die Bestimmungen des Versailler Friedensvertrags als ein interdisziplinäres Forschungsfeld neu formierte. Landes- und volksgeschichtliche Fragestellungen standen hierbei ebenso im Mittelpunkt des Forschungsinteresses wie eine deutsche Volks- und Kulturbodenforschung mit besonderem Blickwinkel auf das Grenz- und Auslandsdeutschtum. Volz machte dabei auf die bis zum Kriegsende vorherrschenden Nachlässigkeiten und Versäumnisse der deutschen Wissenschaft, insbesondere der Kartographie, bei diesen Fragestellungen und den Vorsprung, den die Wissenschaften in den Ländern errungen hatten, die er als Gegner Deutschlands deklarierte, allen voran Polen, aufmerksam. Folglich setzte er sich für eine verstärkte nationalpolitische Ausrichtung der deutschen Wissenschaft im Allgemeinen und der Geographie und Kartographie im Besonderen ein. Trotz dieser Betonung der nationalpolitischen Verpflichtung der Wissenschaft sah Volz letztere einer ‚wissenschaftlichen Objektivität‘ verpflichtet. Die Diskrepanz zwischen Politik und wissenschaftlicher Objektivität löste er dahingehend auf, dass er Vertretern der Wissenschaft zwar eine nationalpolitische Verantwortung zuschrieb, diese sich jedoch lediglich auf die Forschungsleistung zu beschränken hätte, während der Politik die Aufgabe überlassen bliebe, aus den Forschungsergebnissen die notwendigen politischen Schritte zu entwickeln.14 Wissenschaft wurde dieser Logik zufolge zu einer Art Unterbau für politische Entscheidungsfindungsprozesse und somit in letzter Konsequenz zu einer politikberatenden Instanz deklariert. Volz’ wissenschaftspolitisches Engagement spiegelt sich auch in den von ihm beförderten Institutsgründungen wider: Auf seine Initiative hin wurde im Jahr 1921 die Schlesische Gesellschaft für Erdkunde gegründet, die sich der Verbreitung geographischer Kenntnisse, insbesondere über Oberschlesien und die angrenzenden Gebiete, sowie der Auswertung der gegnerischen geographischen Propaganda verschrieben hatte. Aus diesen Initiativen entstand auch die Mittelstelle für zwischeneuropäische Fragen, eine Vorläuferorganisation der im Jahr 1926 gegründeten Leipziger Stiftung, deren Geschäftsführer Volz zwischen 1926 und 1931 war.15 Als geschickter Wissenschaftsmanager nutzte Volz seine Stellung als Geschäftsführer der Leipziger Stiftung nicht nur, um die zu den zentralen Themenkomplexen der Deutschtumsforschung arbeitenden Wissenschaftler und Institutionen zu vernetzen und damit die Forschung zu zentralisieren, sondern auch, um durch die Vermittlung von Fördermitteln an als förderwürdig erachtete Projekte, Publikationen oder Karten Einfluss auf die Wissenschaftsproduktion auszuüben. Volz empfahl dabei den amtlichen Stellen förderwürdige Projekte zur finanziellen Unterstützung. Im

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Genehmigungsfall wurde das Geld auf das Konto der Stiftung überwiesen, die dieses dann weitertransferierte.16 Gleichzeitig zeichnete sich Volz’ Tätigkeit in der Stiftung durch Beratungs- und Gutachtertätigkeiten für amtliche Stellen durch eine Politiknähe aus. Sowohl über die Leipziger Stiftung als auch über zahlreiche andere Organisationen stand Volz außerdem Vertretern des jungkonservativen Kreises wie Max Hildebert Boehm und Karl Christian von Loesch nahe.

Agnes Laba

1 Michael Fahlbusch, „Wo der deutsche…ist, ist Deutschland!“. Die Stiftung für deutsche Volksund Kulturbodenforschung in Leipzig 1920–1933, Bochum 1994, S. 49. 2 Findbuch zum Nachlass von Wilhelm Volz im Archiv für Geographie des Leibniz-Instituts für Länderkunde (LIfL). http://www.ifl-leipzig.de/fileadmin/user_upload/Bibliothek_Archiv/Archiv_Findb%C3%BCcher_PDF/Volz.pdf [15.2.2016]. 3 Guntram Herb, Under the map of Germany. Nationalism and propaganda 1918–1945, London, New York 1997, S. 53. 4 Rudolf Käubler, Wilhelm Volz, in: PGM (1958), 1, S. 5–6, 5. 5 Fahlbusch, „Wo der deutsche…ist, ist Deutschland!“., S. 50–51. 6 Wilhelm Volz, in: Professorenkatalog der Universität Leipzig/Catalogus Professorum Lipsiensium, Herausgegeben vom Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Historisches Seminar der Universität Leipzig. http://www.uni-leipzig.de/unigeschichte/professorenkatalog/leipzig/Volz_170 [12.2.2016]. 7 In Auswahl: Wilhelm Volz, Die völkische Struktur Oberschlesiens. In drei Karten, Breslau 1921; ders., Die wirtschaftsgeographischen Grundlagen der oberschlesischen Frage, Berlin 1921; ders., Schlesien im Rahmen der wirtschaftsgeographischen Lage Deutschlands, [Breslau] 1924. 8 Wilhelm Volz, Oberschlesien. Das Land und seine wirtschaftlichen Kräfte in ihrer geographischen Entwicklung, Leipzig 1921, S. 6. Volz stand dabei mit dieser Argumentationslinie nicht alleine. Beispielhaft der Geograph Max Friederichsen, vgl. Max Friederichsen, Oberschlesiens Zerreißung, Breslau 1927. 9 Wilhelm Volz/Hans Schwalm, Die deutsche Ostgrenze. Unterlagen zur Erfassung der Grenzzereißungsschäden, Langensalza, Berlin, Leipzig 1929. 10 Fahlbusch, „Wo der deutsche…ist, ist Deutschland!“, S. 100–103. 11 Herb, Under the map of Germany, S. 53. 12 Vgl. Wilhelm Volz, The economic-geographical foundations of the Upper Silesian question, Berlin 1921. 13 Vgl. Eugeniusz Romer, Volziana, in: Polski Przegląd Kartograficzny (1923), 1, S. 97–110, 97. 14 Vgl. das Schlusswort von Wilhelm Volz der in Marienburg veranstalteten VI. Tagung der Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung vom 10.–12.10.1925, in: Stiftung für deutsche Volksund Kulturbodenforschung Leipzig. Die Tagungen der Jahre 1923–1929, hg. von Verwaltungsrat der Stiftung für Deutsche Volks- und Kulturbodenforschung, Leipzig 1930, S. 170. 15 Fahlbusch, „Wo der deutsche…ist, ist Deutschland!“, S. 58, 64. 16 Vgl. PA, R 60.385, Brief der Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung an das Auswärtige Amt, Abteilung VI A vom 20. April 1927; PA, R 60.385, Abschrift des Briefes des Auswärtigen Amtes, Abteilung VI A an die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung vom 30. Juni 1927.

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Ernst Wahle Ernst Wahle (1889–1981) war ein deutscher Prähistoriker, der von 1920 bis 1957, mit einer kurzen Unterbrechung vom November 1945 bis November 1946, an der Universität Heidelberg Vorgeschichte und Frühgeschichte lehrte, ohne jedoch wegen seiner geringen Mobilität eine große Karriere zu machen. Interessant ist auch seine Autobiografie „Und es ging mit ihm seinen Weg“1, die zeigt, wie unangepasst der inzwischen 90jährige sich sah und in der er ungewöhnlich offen seine Verstrickung in die völkische Wissenschaft thematisierte. Wahle vertrat in der Nachfolge →Gustaf Kossinnas das Paradigma, dass archäologische Formenkreise immer auf ethnische Einheiten verweisen würden, eine aus dem nationalistischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts abgeleitete ethnische Deutung archäologischer Funde, die die deutsche Nationalgeschichte als „Volksgeschichte“ bis in die Prähistorie zurück verlängern sollte und aus heutiger Sicht wissenschaftlich nicht haltbar ist. Er beteiligte sich nach 1933 an der Universität Heidelberg an der Etablierung eines „Deutschen Hauses“, das „deutsche Vorgeschichte“, „→Volkskunde“ und Germanistik integrierte. Wahle und andere Prähistoriker des frühen 20. Jahrhunderts wollten das deutsche „Volkstum“ untersuchen und näher bestimmen. „Volkstum“ verstanden sie als eine Kategorie der „longue durée“ und grenzten sie von der „Volkwerdung“ ab, die erst in historischer Zeit stattgefunden habe.2 Dieser Hintergrund erklärt den nationalistischen Grundton so vieler ur- und frühgeschichtlicher Forschungen aus dem 19. und 20. Jahrhundert und war politisch zunächst keineswegs rechts angesiedelt. Vielmehr hatte die „vaterländische Archäologie“ (wie der Nationalismus) ihre Wurzeln in Aufklärung und Liberalismus. Mit der völkischen Überformung von Teilen des Nationalismus seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entstand erst im späten Kaiserreich eine „nationale Opposition“ von rechts, die dann eine der Hauptquellen für die völkische Bewegung wurde. Wahle und viele andere Prähistoriker seiner Generation befanden sich in ihren Bemühungen um die Etablierung des eigenen Fachs an den Universitäten, womit sie dank des nationalistischen und völkischen Zeitgeistes sehr erfolgreich waren, in scharfer Frontstellung zur Klassischen Archäologie. Besonders deutlich wurde dies (wie auch Wahles Nationalismus) in seiner Hetze gegen das Deutsche Archäologische Institut (DAI) und besonders gegen Ludwig Curtius, den Direktor des DAI in Rom, mit dem Wahle in dessen Heidelberger Jahren (1920–27) im selben Haus gewohnt hatte. Dem „völkerverbindenden Charakter“ des DArI, dem die „Fühlung“ mit der Volks- und Kulturbodenforschung fehle, stellte er seine eigenen, völkisch inspirierten Forschungen zur Ethnogenese der „Germanen“ gegenüber.3 Allerdings würde man die falschen (heutigen) Maßstäbe anlegen, wenn man diesen Gegensatz als einen von Liberalen gegen Nationalisten auffassen würde. Denn Wahle wie Curtius waren Mitglieder der DNVP. Es war also eine Kontroverse innerhalb der „nationalen Opposition“ (also innerhalb der extremen Rechten), in der eher universalistisch bzw. faschistisch ausgerichtete Männer wie Curtius, der ein Verehrer Mussoli-

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nis war, den Deutsch-Völkischen gegenüberstanden. Aufgrund seiner Forschungen löste sich Wahle zunehmend aus der völkischen Romantik der Kossinna-Schule, hielt aber am nationalpolitischen Auftrag, den er der Vorgeschichte zuschrieb, fest und geriet in Konflikte mit NS-Rassefanatikern, so dass er, obwohl er seit Mai 1937 NSDAP-Mitglied war, sich nach 1945 als Opfer der Nationalsozialisten ausgeben konnte.4 Wahle wuchs in Magdeburg und Delitzsch in einer Lehrerfamilie auf. Sein Vater war promovierter Mathematiker und Naturwissenschaftler und am Ende seiner Karriere Direktor einer evangelischen Realschule. Ernst Wahle studierte 1908 ein Semester in Halle und anschließend in Berlin Archäologie, Geschichte, Anthropologie und Geographie, wo ihn besonders Gustaf Kossinna beeindruckte. 1911 wechselte er nach Heidelberg, wo ihn 1913 der Geograph Alfred Hettner und der Archäologe Friedrich von Duhn mit einer Dissertation über Ostdeutschland in jungneolithischer Zeit promovierten. Politisch engagierte sich Wahle im →Alldeutschen Verband und anderen völkischen und militaristischen Gruppen. Unmittelbar nach der Promotion beauftragte ihn die Stadt Heidelberg, für das heutige Kurpfälzische Museum eine prähistorische Sammlung anzulegen, um das modische Interesse an den „Germanen“ zu befriedigen. Gegen den Rat seines Arztes meldete sich Wahle trotz einer Nierenkrankheit als Kriegsfreiwilliger. Eine englische Handgranate verwundete ihn im August 1917 schwer und beendete dieses Abenteuer. Nach seiner Genesung ging er zurück ans Heidelberger Museum und konnte die neue Abteilung 1921 fertig stellen. Parallel dazu bereitete er seine Habilitation – erneut bei Hettner – mit einer Untersuchung zur Besiedlung Südwestdeutschlands in vorrömischer Zeit vor5 und erhielt am 29. April 1920 die Lehrbefähigung für Vorgeschichte. Bereits im Wintersemester 1920/21 erhielt er eines der ersten drei Privatdozentenstipendien, mit denen die sozialliberale badische Landesregierung mittellose Privatdozenten in der Inflationszeit unterstützte. Wahle lebte von diesem Stipendium, das ihn auch zur Mitarbeit in der Bodendenkmalpflege verpflichtete, bis 1934, aber diese Fürsorge der Weimarer Republik – im von Wahle glorifizierten Kaiserreich erhielten Privatdozenten keinerlei Unterstützung – änderte nichts daran, dass er immer ihr entschiedener Gegner blieb. Eine Verbeamtung als Bodendenkmalpfleger im liberalen Baden scheiterte an Wahles ebenso rabiater wie selbstbewusster politischer Opposition.6 Zu den drei ersten Stipendiaten an der Ruperto-Carola gehörte auch der (ebenso deutschnationale) Mediävist Friedrich Baethgen, dessen Schwester Frieda Agnes (1897–1967) Wahle 1921 heiratete. Als Wahle 1924 einen Ruf an die Deutsche Universität in Prag erhielt, ernannte ihn der badische Kultusminister Hellpach vorzeitig zum außerordentlichen Professor, was normalerweise erst nach 5 bis 6 Jahren möglich war, aber nur eine Rangerhöhung ohne Festanstellung war – Wahle lebte nach der Ablehnung des Rufs (1927)7 weiter von seinem schmalen Stipendium, aus seiner eigenen Perspektive ein Märtyrer für seine deutschnationalen Überzeugungen. Die wissenschaftliche Etablierung der Prähistorie gelang im liberalen Baden erst nach der nationalsozialisti-

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schen Machtübernahme. Erst mit 45 Jahren wurde Wahle 1935 erstmals fest angestellt (auf 1934 vordatiert) mit der eigentümlichen Rangbezeichnung „planmäßiger Professor (wissenschaftlicher Hilfsarbeiter)“. 1944 wurde er Beamter auf Lebenszeit.8 Ernst Wahles Werkverzeichnis listet 644 Publikationen auf, darunter 289 zum Teil kurze Rezensionen.9 Seit 1925 war er mit einem Aufsatz zur „rassenkundlichen Auswertung vorgeschichtlicher Forschungsergebnisse“ in der von Walter Scheidt herausgegebenen „Allgemeinen Rassenkunde“ vertreten, einem Standardwerk, das in J. F. Lehmanns Verlag erschien – einem der wichtigsten Verlage für völkische und nationalsozialistische Autoren. Ausgehend von Kossinnas Paradigma „Der Träger eines jeden Kulturkreises ist ein Volk“ wollte Wahle – dem Zeitgeist entsprechend – den Rassebegriff auch in der Prähistorie etablieren und den Beitrag bestimmen, den „einzelne Rassen an der Ausbildung der einzelnen Kulturgüter und an dem Gang der Entwicklung überhaupt“ hatten.10 Zugleich wies Wahle aber auch auf die Untauglichkeit aller bisherigen rassistischen Erklärungsansätze in der Prähistorie und auf ihre methodischen Unzulänglichkeiten hin. Trotz dieser wissenschaftlichen Skrupel schwamm Wahle auf der modischen Welle rassistischer Paradigmen in den Geisteswissenschaften mit. Er war Mitherausgeber der Reihe „Rassenkunde“ im Lehmanns-Verlag, der Zeitschriften „Volk und Rasse“ (1926–1933) (im selben Verlag) und seit 1935 der „Zeitschrift für Rassenkunde“. Dadurch war er mitverantwortlich für die Verbreitung kruder und wissenschaftlich unhaltbarer Inhalte, die das politische Klima in der Weimarer Republik weiter vergifteten, und verschaffte Scharlatanen Reputation, obwohl er selbst wissenschaftliche Mindeststandards einhielt. So kritisierte er in zwei insgesamt lobenden Rezensionen die wissenschaftlich unhaltbaren Schlussfolgerungen, die der berühmteste „Rassenkundler“ seiner Zeit, →Hans F. K. Günther, in seinen Hauptwerken zog.11 Wahles wissenschaftliches Hauptwerk „Deutsche Vorzeit“ erschien 1932. Es war eine erweiterte und überarbeitete Neufassung seines Buchs „Vorgeschichte des deutschen Volkes“ von 1924. Beide Bücher versuchen mit geographischen, archäologischen und wirtschaftsgeschichtlichen Methoden die angebliche Ethnogenese der Deutschen im Neolithikum nachzuzeichnen, die Wahle als „Durchdringung einer ansässigen Bevölkerung mit einem fremden Eroberervolke“ erklärte. Mit dem Verweis auf die Mischung eines indogermanischen „Herrenvolks“ mit einem ansässigen „nordischen“ Bauernvolk verletzte Wahle das völkische Tabu der „Rassereinheit“ der Germanen und somit auch der Deutschen. Diese Bücher verkauften sich für wissenschaftliche Werke recht gut und erlebten mehrere Auflagen.12 Die Neuausgabe „Deutsche Vorzeit“ war reich illustriert und qualitativ hochwertig produziert, eine zweite Auflage erschien jedoch erst 1950. Denn im Dritten Reich galt dieses Buch als „nicht förderungswürdig“. Wahle löste sich mehr und mehr von der Kossinna-Schule und betonte nun, dass die hinter den gefundenen Keramiken stehenden Menschen nicht als Völker oder gar Rassen begriffen werden könnten.13 Wahles

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Aufsätze wurden mehrfach zensiert und rassistische Parteifunktionäre verhinderten die Mitarbeit Wahles an Standardwerken der NS-Zeit.14 Wahle geriet also wie viele völkische Wissenschaftler zwischen die Mühlsteine der Institutionen des Dritten Reichs, die in vielen ideologischen Fragen gegensätzliche Positionen verfolgten. Er hatte aber immer genug Fürsprecher, um ernsthafter politischer Verfolgung zu entgehen (immerhin wurde er noch 1944 zum Beamten ernannt). Nach 1945 konnte er relativ bruchlos weiterarbeiten, in den 1950er und 1960er-Jahren maßgeblich zu einer Renaissance völkischer Paradigmen beitragen und Klischees über die „Indogermanen“ (Pferd und Wagen, aggressive Reiterkrieger, passionierte Viehzüchter) weiter verbreiten, die bis in die Gegenwart wirksam sind.15

Christian Jansen

1 Ernst Wahle, Und es ging mit ihm seinen Weg, Heidelberg (im Selbstverlag) 1980. 2 Der wichtigste Aufsatz zu Ernst Wahle stammt von Dietrich Hakelberg, Ernst Wahle im Kontext seiner Zeit, in: Heiko Steuer (Hg. u.a.), Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995, Berlin 2001, S. 199–310; 201ff. Auf ihn stützt sich dieser Artikel; zum Hintergrund siehe Christian Jansen, Professoren und Politik. Politisches Denken und Handeln der Heidelberger Hochschullehrer 1914–1935, Göttingen 1992. 3 Ernst Wahle, Deutsche Vorgeschichtsforschung und klassische Altertumswissenschaft, in: Deutsches Bildungswesen, 2 (1934), S. 10. Vgl. Hakelberg, Wahle, S. 224–227; Wahle, Weg, S. 90–96; zu Curtius: Sylvia Diebner/Christian Jansen, Ludwig Curtius (1874–1954), in: Gunnar Brands (Hg. u.a.), Lebensbilder. Klassische Archäologen und der Nationalsozialismus, Bd. 2. Rahden/Westf. 2016, S. 79–111. 4 Hakelberg, Wahle, S. 219. 5 Erschienen in: Berichte der Römisch-Germanischen Kommission 12 (1920), S. 1–75. 6 Hakelberg, Wahle, S. 208–215. Nierenkrankheit: Wahle, Weg, S. 17 und 26. 7 Die Gründe hierfür sind unklar. In seiner Autobiografie ist von nicht bestätigten Zusagen die Rede (ebd., S. 89f.), sein Biograf meint, dass „in Heidelberg in Anbetracht der bereits investierten Vorarbeit für seine Karriere doch bessere Voraussetzungen bestanden“ (Hakelberg, Wahle, S. 216f.). 8 Hakelberg, Wahle, S. 217–219. 9 Erich Gropengießer, Bibliographie Ernst Wahle, in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums 11 (1964), S. 217–254, fortgesetzt in: Wahle, Weg, S. 123ff.; Hakelberg, Wahle, S. 205. 10 Ernst Wahle, Die rassenkundliche Auswertung vorgeschichtlicher Forschungsergebnisse, in: Walter Scheidt (Hg.), Allgemeine Rassenkunde als Einführung in das Studium der Menschenrassen, München 1925, S. 563 und 570f. 11 Hakelberg, Wahle, S. 230–232, mit weiteren Beispielen und Nachweisen. 12 Ernst Wahle, Deutsche Vorgeschichte, Leipzig 1932, S. 66–70, zit. nach Hakelberg, Wahle, S. 244; ebd. 257f. über den Erfolg der Bücher, allerdings ohne präzise Angaben über die Höhe der Auflagen etc. 13 Insb. in Ernst Wahle: Zur ethnischen Deutung frühgeschichtlicher Kulturprovinzen. Grenzen der frühgeschichtlichen Erkenntnis, in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse (1940/41) 2.

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14 Dies kann hier nicht näher ausgeführt werden, ist aber bei Hakelberg, Wahle, S. 219–279, minutiös nachgewiesen. Hakelberg belegt auch anhand von Textstellen aus verschiedenen Auflagen des Hauptwerkes Wahles dessen Anpassung an den sich wandelnden Zeitgeist. 15 Vgl. Hakelberg, Wahle, S. 284.

_____________________________________________________________________Andreas Walther  873

Andreas Walther Andreas Walther (1879–1960), geboren in Cuxhaven, nahm 1899 das Studium der Theologie in Erlangen, Rostock und Tübingen auf. 1903 und 1905 absolvierte er die theologischen Staatsprüfungen in Hamburg. Danach studierte er in Göttingen und promovierte 1908 über Die burgundischen Zentralbehörden unter Maximilian I. und Karl V. Er setzte seine historischen Studien beim Berliner Historiker Otto Hintze fort und habilitierte 1911 im Fach Geschichte über Die Anfänge Karls V. Seit 1911 war er bis zu seiner Einberufung 1915 als Privatdozent in Berlin tätig und unternahm Studienreisen nach Asien und in die USA, welche sein Interesse für empirische Soziologie weckten. 1920 berief ihn sein Doktorvater Karl Brandi an den Lehrstuhl für Soziologie im Sinne vergleichender Geschichtswissenschaft nach Göttingen. Die verstehende Soziologie Max Webers und Forschungen zur vergleichenden Völker-Soziologie bildeten hier Schwerpunkte seiner Arbeit. Ein Aufenthalt in den USA 1925 brachte ihm die professionelle Soziologie näher. 1927 erschien sein Bericht über die US-amerikanische Soziologie, der einen Versuch zur Etablierung empirischer Sozialforschung darstellte und insbesondere die Feldforschung im deutschsprachigen Raum bekannt machen wollte. Im gleichen Jahr erhielt Walther durch maßgebliche Unterstützung von Ferdinand Tönnies den 1926 neu eingerichteten Lehrstuhl für Soziologie in der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät in Hamburg. Die Stadtsoziologie stellte den Schwerpunkt im Hamburger Seminar dar. Mittels kartographischen Darstellungen veranschaulichte er die sozialen Strukturen der Stadtregionen. Mit der Wirtschaftsrezession von 1929 fehlten alsbald die nötigen finanziellen Mittel, weswegen er sich daraufhin auf kleinere wahlsoziologische Erhebungen beschränkte. Die ersten Zuschüsse der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft unter →Friedrich Schmidt-Ott erhielt er 1931 für die „Soziologie der Großstadt und vergleichende Völkersoziologie“, mit denen eine Untersuchung der regionalen Wählerpotentiale der großen Massenparteien SPD, KPD und NSDAP finanziert wurde.1 1929 rückte Walther in den Rat der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) auf, in der er 1931 zusammen mit Tönnies und anderen die Untergruppe „Soziographie“ gründete. Im Wintersemester 1932/33 wurde Walther Dekan an der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät. Die Soziologie bildete auch vor 1933 den Kern für ihn, weil sie allein über einen umfassenden Zugriff auf die „gesellschaftlichen Funktionszusammenhänge“ verfüge.2 Somit unterschied er sich von den Auffassungen Tönnies und Webers, die er wegen der Beschränkung der Soziologie auf subjektiven Sinn beziehungsweise auf die Affirmation individuellen Zusammenlebens kritisierte. Die Kategorie „Volk“ floss früh in seine Forschungen ein. Im Mittelpunkt seiner vor 1933 formulierten Ansätze einer Völker-Soziologie stehen dabei nicht unbedingt die Differenzen zwischen den Kulturen, sondern ihre „auch immer vorhandenen identischen Züge. Die Völker, die Menschheit und nicht ‚das Deutsche‘ waren sein Thema […]“.3 So überrascht der nach 1933 von Walther vollzogene „Paradigmenwechsel zur individuier-

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enden Betrachtungsweise der völkischen Soziologie, der nun die ‚Deutsche →Volksgemeinschaft‘ als unproblematische, vorausgesetzte Wahrheit, die die Soziologie zu illustrieren und zu verifizieren hatte“ einbezog.4 Walthers Theorie von Oben verabschiedete sich von dem Anspruch jeder inhaltlichen Klärung des Begriffes „Volk“. Gab es bei Tönnies noch den Versuch einer streng inhaltlichen Definition des Begriffes „Volk“, so wurde es nun als eine konfliktlose Einheit begriffen, die sich politisch aggressiv über die Differenz zu allem „Nicht-Arischen“ und politisch Unkonformen definierte. Walther schwenkte damit auf die Linie Hans Freyers ein, der in der intendierten neuen Volksgemeinschaft die Möglichkeit zur Überwindung des gebrochenen Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft sah.5 In Freyers Konzeption wurde seine Kritik an traditionellen Soziologien bestätigt, die hauptsächlich das Individuum oder die Kultur, nicht aber die ‚Sozialstruktur‘ behandelten. Im Zentrum aller Forschung und Lehre stand nun „Volk und Gemeinschaft“, die Soziologie sollte als Grundlagenwissenschaft des Nationalsozialismus fungieren. Am 1. Mai 1933 trat Walther in die NSDAP ein. Im Dezember 1933 wurde die Soziologie in Hamburg auf Veranlassung Walthers an die Philosophische Fakultät verlegt, womit nun seine schon länger bestehende Forderung möglich wurde: die Gelegenheit zur Promotion und Habilitation. Im August 1933 trug er die Beschlüsse mit, die den bisherigen Vorstand der DGS, Ferdinand Tönnies, entmachteten. Ein Jahr später unterzeichnete Walther einen offensiven Aufruf zu einem Treffen deutscher Soziologen in Jena, auf dem die Soziologie sich Partei und Staat andiente und Hans Freyer als „Führer“ der DGS inthronisiert wurde.6 Mit der Machtübernahme durch die NSDAP vollzog sich Walthers Arbeit partiell, indem sich nun die Soziologie zur „Völkischen Wissenschaft“ wandelte, jedoch kam als methodisches Vorgehen seine empirische Sozialwissenschaft weiterhin zur Anwendung. Seine Soziologie im Nationalsozialismus war einerseits von Kontinuität in Bezug auf die empirischen Forschungsmethoden geprägt, andererseits von einer Übernahme der „völkischen Soziologie“, wie sie Hans Freyer konzipierte. In „Die neuen Aufgaben der Sozialwissenschaften“ (1939) legte er dar, Soziologie als Grundlagenwissenschaft und neu auch als wissenschaftliches Fundament des Nationalsozialismus zu deuten. Nur die Soziologie habe die Kompetenz, „das Volk als funktionales Ganzes in seinen Gliederungen, Lagerungen, Gruppierungen […]“ zu begreifen.7 In die „Neuen Wege der Großstadtsanierung“ fasste er die Ergebnisse seines Projektes „Die Untersuchung gemeinschädlicher Regionen im niederelbischen Städtegebiet“ zusammen.8 Die Analyse der als „gemeinschädlich“ eingestuften Stadtgebiete verband er mit städtebaulichen und sozialhygienischen Maßnahmen. Soziologische Begleitarbeiten mit Hilfe der „Notarbeit 51“ dienten zur Vorbereitung der Sanierung Hamburger Wohngebiete, wobei sozialgeographische Methoden zur Untersuchung der Hamburger Stadtteile angewandt wurden. Unterstützung fand Walther von den einzelnen Hamburger Stadtverwaltungen, vom Hamburgisch-Preußischen Landesplanungsausschuss und vom Heimstättenamt der NSDAP. Ziel der Untersuchung

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war die Erstellung eines „Sozialkatasters“ zur Identifizierung „gemeinschädlicher Regionen“, eine Art Sozialatlas der „Gemeinschädlichkeit“. Hierfür wurden Bevölkerungsgruppen nach Kriterien kartographiert, die unter den Begriff der „Gemeinschädlichkeit“ zusammengefasst wurden. Darunter seien all jene zu verstehen, die ein hierarchisch gegliedertes Volk gefährden, deren Ordnung ablehnen, sich nichtzulässiger Mittel bedienen, oder als „lebensuntüchtig“ ausgegrenzt werden müssten, „leistungsunfähig“ und „chronisch erfolglos“ seien.9 Walthers Konzeption versuchte in Anlehnung an sozial-ökologische Forschungen aus den USA und Großbritannien Regionen voneinander abzugrenzen und durch die Homogenität verschiedener Merkmale wie Wahlverhalten, Kriminalität oder Gesundheitszustand zu kennzeichnen. Die Sozialanalyse umfasse als ersten Schritt die Erfassung „möglichst viele[r] Erscheinungen der Asozialität, Kriminalität und Minderwertigkeit nach den Wohnungen […]“.10 Mit seinem Instrumentarium von Erfassung, Gliederung und Sortierung von Bevölkerungsgruppen im Zusammenhang von baulichen-regionalen Strukturen und Wahlverhalten wurden erste „gemeinschädliche Regionen“ ausgemacht. Bildeten anfangs die Wahlergebnisse von 1930 bis 1934 die Grundlage für den ersten Arbeitsschritt, so wurden im Lauf der Untersuchung Sozialdaten über Fürsorgezöglinge, Akten der Alkoholikerfürsorge und jugendlicher Straftäter ausgewertet. Weiterhin wurden die bei der Wohlfahrtsbehörde gemeldeten 14.000 Personen unter der Gruppe „chronische Wohlfahrtsempfänger“ erfasst, deren „biologische Minderwertigkeit“ den Indikator für „Gemeinschädlichkeit“ bildete. Im zweiten Arbeitsschritt wurden diejenigen Stadtteile nach lokaler Lage, architektonischen Besonderheiten und sozialer Schichtung und Gruppierung untersucht, die durch die Vorstrukturierung nach den genannten Indikatoren der „Gemeinschädlichkeit“ besonders hervorstachen. Vom dritten Arbeitsschritt erwartete Walther durch die personenbezogene Analyse eine individuelle Charakteristik. Am Ende sollte dann das „Sozialkataster“ stehen, welches über jede Familie, Einzelperson des „sanierungsbedürftigen Gebietes“ Auskunft geben würde. Die Ergebnisse der Arbeiten Walthers flossen in das Hamburger Gesundheitspassarchiv ein, das eine Institution der Erfassung darstellte, die schon 1925 mit der Volkszählung begann und als Pilotprojekt für die seit 1938 einsetzende Sozialverdatung fungierte. Ziel des Archivs war die Erfassung der Gesamtbevölkerung nach Kriterien. Die Stadt Hamburg diente hier als Modell. Andreas Walther und sein Seminar für Soziologie waren Zuarbeiter zur Schaffung der „Volkskarteikarte“, lieferte seine Soziologie doch mit ihren empirischen Methoden eine intensive Hilfestellung. Seine Sozialanalyse schlägt in zwei Richtungen, einerseits sollte sie der Erfassung von „Asozialen und Kriminellen“ dienen und anderseits dem Einfügen der noch „gesunden“ Personen in die „neuen lebendigen Sozialzellen“: darunter verstand Walther auf der Grundlage sozialtechnischer Verfahren geschaffene „Nachbarschaftsgemeinschaften“.11 Obwohl für die Praxis der Stadtsanierung in Hamburg Walthers Arbeiten keine unmittelbaren Folgen hatten, flossen seine Ergebnisse in die Generalbebauungsplanung von 1941 und 1944 ein. Anknüpfend an Walthers Konzept der „Ortsgruppe als

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Siedlungszelle“ führte die Landesplanungsgemeinschaft eine Untersuchung zur Sanierung der Gesamtstadt durch. Gutberger verweist auf den Charakter einer „quasipolizeilichen Rasterfahndung“ der Waltherschen Sozialanalyse.12 So ließ der Zugriff unterhalb der Ebene von administrativ-politischem Handeln eine einfache Handhabung sozialer Auseinandersetzungen möglich erscheinen. 1940 übernimmt Walther für 12 Monate die Leitung der „Politischen Fachgemeinschaft“, die die Ausrichtung aller Lehrkräfte auf nationalsozialistische Ziele als Aufgabe hatte und von der er sich die Zusammenführung aller Einzeldisziplinen im Sinne der alten humanistischen Universität erhoffte.13 Im Frühjahr 1944 reichte er seine Emeritierung ein. Bis zu seinem Tode am 16. Juni 1960 in Hamburg widmete er sich der Ethik. Die ersten Züge einer „Soziologie der Ethik“ legt er in einem seiner wenigen Aufsätze nach dem Krieg in der Zeitschrift für Politik dar.

Torsten Junge

1 Vgl. Elke Pahl-Weber (Hg. u.a.), Großstadtsanierung im Nationalsozialismus, Andreas Walthers Sozialkartographie von Hamburg, in: Sozialwissenschaftliche Informationen 16 (1987), S. 116. 2 Andreas Walther, Zur Verwirklichung einer vollständigen Soziologie, in: Sociologus 5 (1929), S. 131–143, 137. 3 Rainer Waßner, Andreas Walther und die Soziologie in Hamburg. Dokumente, Materialien, Reflexionen, Hamburg 1985, S. 42. 4 Ebd., S. 43. 5 Erhard Stölting, Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Soziologie 1933/34, in: Soziale Welt 35 (1984), S. 48–59, 50. 6 Vgl. Waßner, Andreas Walther und die Soziologie in Hamburg, S. 39ff. 7 Andreas Walther, Die neuen Aufgaben der Sozialwissenschaften, Hamburg 1939, S. 47. 8 Andreas Walther, Neue Wege zur Großstadtsanierung, Stuttgart 1936. 9 Rainer Waßner, Andreas Walther und das Seminar für Soziologie in Hamburg zwischen 1926 und 1945: Ein wissenschaftsbiographischer Umriß, in: Sven Papcke (Hg.), Ordnung und Theorie: Beiträge zur Geschichte der Soziologie in Deutschland, Darmstadt 1986, S. 405. 10 Walther, Neue Wege zur Großstadtsanierung, S. 15. 11 Ebd., S. 78. 12 Jörg Gutberger, Volk, Raum und Sozialstruktur: Sozialstruktur- und Sozialraumforschung im „Dritten Reich“, Münster 1996, S. 262. 13 Waßner, Andreas Walther und das Seminar für Soziologie, S. 403.

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Wilhelm Weizsäcker Als einer der führenden Wissenschaftler beteiligte sich Wilhelm Weizsäcker am sogenannten „sudetendeutschen Volkstumskampf“ der Zwischenkriegszeit. Durch seine umfangreichen Forschungen zur böhmischen Stadt- und Bergrechtsgeschichte, zur Nationalitätenproblematik, zu den mittelalterlichen Rechtsvorstellungen und zur Ausbreitung des deutschen Rechts im östlichen Mitteleuropa trug er entscheidend dazu bei, ein gesamtsudetendeutsches Geschichtsbild zu formieren und dieses in die allgemeine deutsche Reichs-, Kultur- und Rechtsgeschichte zu integrieren. Die starke Konzentration auf deutsche Geschichtsfaktoren und gesamtdeutsche Verbindungslinien, die grundsätzliche Nähe zur Politik und der Anspruch einer auf die Rechtsgeschichte bezogenen methodologischen Modernisierung kennzeichnen Weizsäcker als einen typischen Vertreter der volksgeschichtlichen →Ostforschung, die ihren thematischen und methodischen Antrieb maßgeblich aus den politischen Problemen der Gegenwart bezog und sich erheblich an deren Erfordernissen ausrichtete. „Durch das Interesse des gesamten Volkes ist der ganzen deutschen Ostforschung äußerlich ein gewaltiger Auftrieb gegeben worden. Es ist aber nicht so, als ob sie dadurch erst hervorgerufen oder gestützt worden wäre. Sie erntete vielmehr in der allgemeinen Beachtung nur den Dank für jahrelange stille und anspruchslose Gelehrtenarbeit.“1 Am 2. November 1886 als Sohn des Kaufmanns Rudolf Weizsäcker und seiner Frau Pauline, geborene Kretschmer, in Prag geboren, war Weizsäcker nach dem mit Promotion abgeschlossenen Studium der Rechtswissenschaft an der Prager Deutschen Universität 1909 in die Gerichtspraxis eingetreten. Wenig später in den richterlichen Vorbereitungsdienst übernommen, legte er am 3. April 1912 beim Prager Oberlandesgericht die Richteramtsprüfung ab und wurde zum Richter beim k.k. Bezirksgericht Bilin (Bílina) ernannt. Vom Militärdienst wurde er, obwohl zum Landsturm gemustert, befreit. Als Schüler von Adolf Zycha habilitierte sich Weizsäcker, der unterdessen zum Bezirksrichter ernannt worden war, 1922 mit 36 Jahren an der Prager Deutschen Universität. Aufgrund seiner Lehrverpflichtung wurde er drei Jahre später an das Handelsbezirksgericht in seine Heimatstadt versetzt. Am 17. September 1926 zum außerordentlichen Professor ernannt, schied er im folgenden Jahr als Landesgerichtsrat aus dem Justizdienst aus. Am 16. Mai 1930 übernahm er das „Ordinariat für Rechtsgeschichte im Gebiete der Tschechoslowakischen Republik“ an der Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Deutschen Universität, der er, abgesehen von einer vorübergehenden Berufung nach Wien, bis Kriegsende verbunden blieb.2 Neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit nahm Weizsäcker zahlreiche Verwaltungs- und organisatorische Aufgaben wahr. Seit der Auseinandersetzung um das umstrittene Universitätsgesetz vom 19. Februar 1920, das unter der deutschen Bevölkerung der Tschechoslowakei eine breite Diskussion über eine Verlegung der Deutschen Universität von Prag nach Reichenberg (Liberec) zur Folge hatte und bis

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zur Übergabe der Insignien an eine tschechische Ministerialkommission im November 1934 unter den deutschen Akademikern für Zündstoff sorgte, erhielt seine Stimme von Jahr zu Jahr mehr Gewicht.3 Auf nationaler wie auf internationaler Bühne versuchte der in zahlreichen wissenschaftlichen und heimatkundlichen Institutionen tätige Jurist und Rechtshistoriker, den politisch-gesellschaftlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Anliegen der Deutschen in der Tschechoslowakei Gehör zu verschaffen. Zusammen mit den Historikern →Josef Pfitzner und →Kurt Oberdorffer trat er seit 1933 dafür ein, die Arbeit der einzelnen sudetendeutschen Forschungseinrichtungen stärker als bisher zu koordinieren.4 Eine solche Dachorganisation entstand wenige Jahre später mit der →Sudetendeutschen Forschungsgemeinschaft in Reichenberg. Im Juni 1938 nahm Weizsäcker ein Angebot der Sudetendeutschen Partei an, die ihn zum Leiter der Rechtsabteilung der von Oberdorffer geleiteten Forschungsgemeinschaft bestellte. Ebenso wie andere sudetendeutsche Volkstumstheoretiker und -publizisten hatte auch Weizsäcker das Ohnmachtsgefühl gegenüber der tschechischen Mehrheitsnation seit 1918, die Befürchtung nationaler Existenzgefährdung, nachhaltig geprägt. Exemplarisch lässt sich bei ihm die in der Tschechoslowakei der zwanziger und dreißiger Jahre charakteristische politische Radikalisierung beobachten von der Betonung eines deutschen „Leistungsanteils“ an der gesamtböhmischen Geschichte hin zur Ausformung einer volkspolitischen Geschichtsbetrachtung.5 Weizsäckers reservierte Haltung gegenüber dem demokratischen Parteienstaat erklärt sich allerdings wohl weniger aus einer weltanschaulich-ideologischen Ablehnung parlamentarischer Grundsätze als vielmehr aus der konkret als Benachteiligung und Ausgrenzung empfundenen Stellung des deutschen Bevölkerungsteils nach dem Ersten Weltkrieg. Mit Blick auf die Erste Tschechoslowakische Republik sprach Weizsäcker 1940 von der „Labilität einer solchen Kompromißgemeinschaft“, an der die Deutschen nicht hätten teilnehmen können, da ihnen das „nationale Gemeinschaftselement“ unzugänglich geblieben sei; unter dem Eindruck der gesamtdeutschen Entwicklung habe sich dann „auf deutscher Seite die Überwindung der Parteien und der Zusammenschluß zur nationalsozialistischen →Volksgemeinschaft“ vollzogen.6 Zwischen Dezember 1938 und Frühjahr 1939 kam auf die Prager Rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät der Deutschen Universität, die zwar de iure den tschechischen Schulorganen unterstellt blieb, sich de facto aber in Anspruch und Selbstdarstellung zu einer nationalsozialistischen Hochschule wandelte, eine Vielzahl von gegenwartsbezogenen Aufgaben zu. Dazu zählten die Klärung der rechtlichen Zulassungsbedingungen für Universitätsprüfungen und die Regelung der Staatsbürgerschaftsfrage. Als Vorsitzender der rechtshistorischen Staatsprüfungskommission war Weizsäcker, der sich mehreren Auszeichnungen zufolge bei diesen Arbeiten aus Sicht der NS-Führung bewährte, von diesen Fragen unmittelbar berührt. Seit März 1939 wirkte er an der erstrebten Neuausrichtung der einzelnen Fakultäten auf den Südosten Europas mit. 1940 erarbeitete er zusammen mit Franz

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Laufke ein Forschungsprogramm zum südosteuropäischen Recht, das durch einschlägige Lehrveranstaltungen abgerundet wurde. Als Mitglied des Editionsrates für geschichtliche Quellenveröffentlichungen in den böhmischen Ländern, der vom →Reichsminister für die besetzten Ostgebiete gegründeten „Deutschen Ostforschungszentrale“ sowie anderer neugegründeter Institutionen fielen Weizsäcker in den folgenden Jahren innerhalb wie außerhalb Prags vielfältige neue Aufgaben zu. Von Anfang 1941 bis Frühjahr 1943 vertrat Weizsäcker den Lehrstuhl für Deutsches Recht an der Universität Wien, der durch die Wegberufung von Heinrich Mitteis freigeworden war. Spätestens im April 1942 war ihm allerdings durch Vermittlung des Sonderbeauftragten des Reichsprotektors für die slawischen wissenschaftlichen Einrichtungen in Prag eine Rückkehr an die Moldau nahegelegt worden, um hier für die Aufbauarbeit einer neuen Reichsstiftung zur Verfügung zu stehen, der →Reinhard-Heydrich-Stiftung. Das seit langem geplante volkstumspolitische Forschungszentrum stand unter der Ägide des wohl profiliertesten Generalisten der SSgesteuerten Volkstumsgeschichtsschreibung, →Hans Joachim Beyer.7 Weizsäcker wurde die Leitung des neu errichteten Instituts für Deutsches Recht im Osten (zunächst auch als „Institut für Deutsches Recht in Ostmitteleuropa“ beziehungsweise „im östlichen Mitteleuropa“ bezeichnet) übertragen. Im Mai 1943 legte er, der zeitweilig auch die Geschäfte als Verwaltungsdirektor der Heydrich-Stiftung wahrnahm, einen ersten Arbeitsplan für die künftige Ausrichtung seines Instituts vor. Die tatsächlichen Forschungen, die hier beziehungsweise in der Heydrich-Stiftung allgemein seit 1943 begonnen oder fortgeführt wurden, blieben angesichts der sich zuspitzenden Kriegslage allerdings ebenso Fragment wie der seit 1938 von der Historischen Kommission bei der Deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und Künste vorbereitete Sammelband zur 600-Jahr-Feier der Prager Universität im Jahr 1948, in dessen Herausgeberausschuss Weizsäcker gewählt worden war. Zusammen mit der abziehenden Wehrmacht verließ Weizsäcker, zuletzt Dekan der Juristischen Fakultät, Prag erst am 8. Mai 1945 und begab sich in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Am 9. Juni floh er aus dem Internierungslager Pilsen (Plzeň) nach München. Hier war er bis Ende 1949 als Rechtshelfer für den „Hauptausschuß der Flüchtlinge und Ausgewiesenen in Bayern“ und für die „Sudetendeutsche Wirtschaftshilfe“ tätig. Auch publizistisch setzte er sich für die Interessen der sudetendeutschen Heimatvertriebenen ein. Mehrere Anläufe, an eine deutsche Hochschule zurückzukehren, blieben ohne Erfolg. Als Mitarbeiter des Deutschen Rechtswörterbuches fand er schließlich in Heidelberg, dessen Universität ihn am 4. Oktober 1950 zum Honorarprofessor ernannte, einen neuen Wirkungskreis. Neben seiner Tätigkeit in der Johannes-Mathesius-Gesellschaft wirkte er in verschiedenen Institutionen unterstützend und beratend mit: im Adalbert-Stifter-Verein, im Ostdeutschen Kulturrat, in der Historischen Kommission der Sudetenländer, in der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, im Collegium Carolinum sowie im →Johann Gottfried Herder-Forschungsrat. Als Festschrift wurde Weizsäcker 1957 zum 70. Geburtstag „von seinen Freunden und Mitarbeitern in der sudetendeutschen

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Heimat- und ostdeutschen Landesforschung“8 das zweite Heft der Zeitschrift für Ostforschung gewidmet. Eine innerhalb der Schriftenreihe des Münchener Collegium Carolinum vorgesehene und bereits zum Druck fertiggestellte Aufsatzsammlung, die den Titel „Zur Geschichte der deutschen Stadtrechte und Bergrechte in den Sudetenländern und der Slowakei“ tragen sollte, ist dagegen nie erschienen. Am 29. Juli 1958 erhielt Weizsäcker die Rechtsstellung eines emeritierten ordentlichen Professors in Heidelberg. Dort starb er auch, am 19. Juli 1961, im 75. Lebensjahr.

Joachim Bahlcke

1 Wilhelm Weizsäcker, Der Stand der rechtsgeschichtlichen Forschung im deutschen Osten, in: Hermann Aubin (Hg. u.a.), Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg, Bd. 1, Leipzig 1942, S. 391–419, 391. 2 Vgl. Joachim Bahlcke, „Mit den Waffen der Wissenschaft“. Der sudetendeutsche Jurist und Rechtshistoriker Wilhelm Weizsäcker (1886–1961), in: Berichte und Forschungen 6 (1998), S. 175– 210. Zum Nl vgl. Archiv Akademie věd České republiky. Osobní fond Wilhelm Weizsäcker. Inventář. Bearbeitet u.a. von Jindřich Schwippel, Praha 1994. 3 Vgl. Wilhelm Weizsäcker, Gutachten, in: Das historische Recht der deutschen Universität in Prag. Ein Schlußwort ihres akademischen Senats. Hg. v. akademischen Senat der deutschen Universität in Prag, Prag 1930, S. 17–25. 4 Wilhelm Weizsäcker, Zur Organisierung der heimischen Geschichtsforschung, in: Mitteilungen des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen 71 (1933), S. 158f. 5 Ferdinand Seibt, Geschichtswissenschaft in der Tschechoslowakei 1918–1938, in: Karl Bosl (Hg. u. a.), Kultur und Gesellschaft in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, Wien 1982, S. 269–287, und Rudolf Jaworski, Historische Argumente im sudetendeutschen Volkstumskampf 1918–1938, in: Bohemia 28 (1987), S. 331–343. 6 Wilhelm Weizsäcker, Zeiträume der heimischen Rechtsgeschichte vom Standpunkte des modernen Gemeinschaftsdenkens, in: Václav Vaněček (Hg.), Miscellanea historico-iuridica. Sborník prací o dějinách práva napsaných k oslavě šedesátin JUDra Jana Kaprasa, řádného profesora Karlovy university, jeho přátel a žáky, Praha 1940, S. 319–327, 326. 7 Stanislav Šisler, Vznik a formování nacistického „slovanského bádání“ v Praze v letech 1940– 1943, in: Český lid 78 (1991), S. 261–271; ideologisch eingefärbt, aber mit zentralen Quellen im Wortlaut bei Karel Fremund, Heydrichova nadace – důležitý nástroj nacistické vyhlazovací politiky (Výběr dokumentů), in: Sborník archivních prací 14 (1964), S. 3–38. 8 Wilhelm Weizsäcker zum 70. Geburtstag, in: ZfO 6 (1957); Joachim Bahlcke, Wilhelm Weizsäcker (1886–1961), Jurist. Rechtsgeschichte und Volksgemeinschaft, in: Monika Glettler (Hg. u.a.), Prager Professoren 1938–1945. Zwischen Wissenschaft und Politik, Essen 2001, S. 391–411; Alena Míšková, Německá univerzita v Praze za druhé světové války, in: Jan Havránek (Hg. u.a.), Dějiny Univerzity Karlovy, Bd. IV: 1918–1990, Praha 1998, S. 213–231.

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Paul Wentzcke Paul Wentzcke1 wurde am 4. September 1879 als Sohn eines protestantischen preußischen Beamten in Koblenz geboren. 1904 schloss er sein Geschichtsstudium in Straßburg und Berlin mit der Promotion bei Friedrich Meinecke zur Diplomatiegeschichte der Frühen Neuzeit ab. In der Folgezeit beteiligte er sich unter der Anleitung des Mediävisten Harry Bresslau an der Edition elsässischer Geschichtsquellen. 1906 in den „reichsländischen“ Archivdienst berufen, trat er 1912 die Stelle des ersten hauptamtlichen Stadtarchivars von Düsseldorf an. Im Ersten Weltkrieg nahm er an mehreren Schlachten an der Westfront teil, bevor er 1916 krankheitsbedingt als dekorierter Offizier kriegsuntauglich gestellt wurde. Er wurde nun mit Propagandaaufgaben betraut und quittierte Ende 1918 den Heeresdienst als Major der Reserve. In Düsseldorf wurde Wentzcke Zeitzeuge der Nachkriegsereignisse im besetzten Rheinland. Anfang 1923 wurde er vermutlich wegen des Verdachts der Agitation gegen die Besatzungsbehörden kurzzeitig inhaftiert. Früh der DVP beigetreten, kandidierte er 1924 erfolglos für den Reichstag, blieb trotz verschiedener Angebote aus Wissenschaft und Politik jedoch bis 1935 Archivar in Düsseldorf. Nach eigenem Bekunden im Rahmen seines Entnazifizierungsverfahren hatte er sich zum Eintritt in die NSDAP auch dann nicht bewegen lassen, als ihm die Partei 1933 eine ordentliche Professur für Geschichte in Köln anbot, nachdem sich Hoffnungen auf ein Ordinariat dort Mitte der 1920er zerschlagen hatten.2 Ein Grund für seine Ablehnung der Parteimitgliedschaft ist womöglich darin zu sehen, dass er in der nationalsozialistischen Wissenschafts- und Kulturpolitik ein klares Bekenntnis zur Westpolitik – und nicht zuletzt Wertschätzung seiner eigenen Arbeit – vermisste.3 Schließlich war Wentzcke einer der Initiatoren der Schlageter-Inszenierung in Düsseldorf gewesen und hatte 1934 als „Führer“ des Düsseldorfer Geschichtsvereins Widerstand bei dessen Gleichschaltung unterdrückt.4 Begleitet von persönlichen Divergenzen in der Düsseldorfer Kulturverwaltung geriet Wentzcke schon zu Beginn der NS-Zeit auf dem ihm verbleibenden Archivposten unter Druck, nachdem ihm 1933 die Leitung des damit in Personalunion stehenden Stadtmuseums entzogen worden war. Vor diesem Hintergrund wechselte Wentzcke 1935 als Leiter an das Frankfurter Wissenschaftliche →Institut der Elsaß-Lothringer im Reich (ELI), wobei er von der Protektion seines Vorgängers Georg Wolfram und seines Freundes →Karl Haushofer profitierte. Gleichzeitig wurde er Honorarprofessor an der dortigen Universität. 1944 wurde ihm vermutlich auf Betreiben des Rektors Platzhoff die Lehrtätigkeit untersagt. Nach 1945 wurde Wentzcke inhaftiert, als Nichtparteimitglied jedoch ohne größere Probleme rehabilitiert. Dem ELI stand er bis zu dessen Auflösung 1959 vor. Wenig später, am 25. November 1960, starb er in Frankfurt am Main. Sein Meinungsbild als Historiker hatte Wentzcke bereits 1919 umfassend ausgebildet. Anfangs noch sachlich und moderat, verfiel er unmittelbar nach Kriegsende in eine durch „anti-sozialistische und nationalistische sowie insbesondere anti-französische Untertöne“ geprägte Diktion.5 Als am Krieg beteiligter Historiker behielt er

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sich vor, autoritative Urteile über die neueste Geschichte zu formulieren. Wentzcke stand geistig in der Traditionslinie der maßgeblich durch Dietrich Schäfer begründeten deutschnationalen Schule, die nach dem Ersten Weltkrieg das „Grenz- und Auslandsdeutschtum“ als vorrangigen Forschungsgegenstand etablierte. Die Ruhrbesetzung 1923 empfand Wentzcke als Vorboten eines fortgesetzten französischen Imperialismus im Westen Deutschlands, was ihn zur gezielten Mobilisierung der öffentlichen Meinung veranlasste.6 Seine obsessiv zu nennende Deutschtums- und Staatsfixierung bezeugen seine seit 1923 in dichter Folge unter Pseudonym (Hermann Coblenz) verfassten Hefte historisch-politischen Inhalts in der Reihe „Frankreichs Ringen um Rhein und Ruhr“, die in allen erdenklichen Variationen die Konfrontation zwischen Deutschen und Franzosen im Sinne einer kulturhistorischen Konstante behauptete.7 Wentzcke war auch der maßgebliche Vordenker der rheinischen Tausendjahrfeiern von 1925.8 Bereits 1922 hatte er in einem Vortrag vor dem Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine die Bedeutung der Eingliederung des „Schicksalslandes“ Lothringens in das Deutsche Reich 925 beschworen.9 Die nationalistische Deutung dieses Ereignisses implizierte das in der Frühzeit der Weimarer Republik politisch wie rechtlich prekäre Bekenntnis zur deutschen Vorherrschaft im deutsch-französischen Grenzgebiet. Ab Mitte der 1920er Jahre sprach Wentzcke daher bevorzugt allgemein von der „geopolitischen“ Bedeutung des Raums, was auf seine intellektuelle Nähe zu Haushofer verweist. In seinem populärwissenschaftlichen Buch „Rheinkampf“ wie auch im Pendant „Ruhrkampf“ verbreitete Wentzcke abermals seine Auffassung vom „weltgeschichtlichen Kampf zwischen Germanen und Romanen“. Während diese und andere Publikationen inhaltlich wie intentional auf derselben Linie lagen, erschloss Wentzcke in den späteren 1920er Jahren mit dem deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert sein zweites Thema. Seine Sympathie für liberales Gedankengut rührte indes von seiner Burschenschaftszugehörigkeit (Alemannia/Straßburg) her und war nationalistisch grundiert. Wentzckes Nimbus als nationaler Historiker wurde besonders sinnfällig bei der Verleihung der Leibniz-Medaille durch die Berliner Akademie der Wissenschaften 1929, die mit seinen Verdiensten bei der geistigen Anführung des „Widerstandes gegen die Fremdherrschaft“ begründet wurde. Während an der Übersteigerung von Wentzckes Nationalismus kein Zweifel bestehen kann, ist zumindest seine publizistisch zum Ausdruck gebrachte Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus ambivalent. In seiner Schrift „Der Freiheit entgegen! Deutscher Abwehrkampf an Rhein, Ruhr und Saar“ von 1934 lobte er die Durchsetzung des Nationalsozialismus zwar als die historische Konsequenz aus der angeblichen Dauerbedrohung Deutschlands durch fremde Mächte, leistete aber kein Bekenntnis im Sinne des nationalsozialistischen Führerstaats. Räumlich blieb er weiterhin der Grenzfrage im Westen, methodisch der weit ausladenden Historisierung von Gegenwartskonflikten verpflichtet.10 Wentzcke war seit dem Ende des Ersten Weltkriegs in das dichte Geflecht volkstumswissenschaftlicher Institutionen integriert. Er war Leiter der finanzstarken und

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einflussreichen Düsseldorfer Ortsgruppe der Deutschen Akademie, sah sich jedoch nach dem Rücktritt Haushofers vom Kleinen Rat in den Senat der Akademie abgeschoben. Ab spätestens 1932 saß er auch im Vorstand der Rheinischen Arbeitsgemeinschaft für Grenzlandforschung und Heimatkunde, lehnte 1933 die ihm angetragene Gauleitung für Düsseldorf und Umgebung jedoch ab. Eine herausragende Rolle kam Wentzcke ab 1935 in der →Westdeutschen Forschungsgemeinschaft zu. 1937 wurde er Mitglied im Volksbund für das Deutschtum im Ausland. Nach der Eroberung des Elsasses und Lothringens ließ er sich zu diversen nationalpolitischen Vorträgen verwenden, wobei er sich in gewohnt nationalistisch-chauvinistischer Weise gerierte, offenbar aber nicht wie von ihm erwartet für nationalsozialistische Ideale eintrat. Bedingt durch die Umwandlung des ELI in die →Publikationsstelle Frankfurt hatte er enge Kontakte zur NSDAP und SS, deren Aufarbeitung noch aussteht.11 Substanzielle Aussagen über seine institutionelle Involvierung in den Nationalsozialismus lassen sich noch nicht treffen. So war Wentzcke zwar organisatorisch wie konzeptionell in das „Westprogramm“ der Archivverwaltung im besetzten Frankreich eingebunden. Seine möglicherweise in Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Stadtarchivar Harry Gerber abgestimmten Initiativen bei Ernst Zipfel, dem „Kommissar für den Archivschutz“, sind aber bislang noch undurchsichtig.12 Vorbehaltlich der Forschungsdesiderate ist Wentzcke nur bedingt, nämlich in einem deutschnationalen Sinne, als ein völkischer Historiker zu bezeichnen. Die dezidierte Frontstellung gegen Versailles motivierte ihn nicht zwangsläufig zu einem nationalsozialistischen Bekenntnis. Ideell in den neoromantischen Vorstellungskreisen des stark auf ihn abfärbenden, in Frankfurt konzentrierten Burschenschaftsmilieus befangen, vertrat er ab 1933 einen „bürgerlich-nationalistischen Revanchismus jungkonservativer Provenienz“13, der von ideologischen Konformisten als rückschrittlich beargwöhnt wurde. Seine Zurückhaltung gegenüber der nationalsozialistischen Geschichtsauffassung resultierte jedoch zu einem Gutteil nicht aus ethischer oder intellektueller Beharrung, sondern aus seiner konventionellen, ereignisgeschichtlich orientierten Perspektive auf die Geschichte, die von der Kulturraumforschung der Zwischenkriegszeit methodisch nicht merklich berührt wurde. Gleichwohl zählte Wentzcke zu den aggressivsten und meist gehörten Propagandisten des germanisch-romanischen Volkstumskampfes. Seine zahllosen Schriften boten somit viele Anknüpfungspunkte für die spezifisch völkische Umdeutung des von ihm vertretenen Nationalismus.

Sven Woelke / Stephan Laux

1 Vgl. Wolfgang Klötzer, Historiker der deutschen Einheit: Paul Wentzcke, in: Burschenschaftliche Blätter 74 (1959), S. 192–194; ders., Paul Wentzcke †, in: Historische Zeitschrift 192 (1961), S. 791f.; ders., Paul Wentzcke. Drei Stufen deutschen Bewußtseins: Straßburg – Düsseldorf – Frankfurt a.M., in: ders. (Hg. u.a.), Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 4, Heidelberg 1963, S. 9–64 (Schriftenverzeichnis, S. 31–60); Hugo

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Weidenhaupt, In memoriam Paul Wentzcke, in: Düsseldorfer Jahrbuch 50 (1960), S. 226f.; ders., Paul Wentzcke †, in: Der Archivar 14 (1961), Sp. 171f.; Klaus Oldenhage, Vorwort, in: Paul Wentzcke, Erlanger Burschenschafter in den entscheidenden Monaten der Paulskirche (September 1848 bis Mai 1849). Beiträge zur Parteigeschichte des ersten deutschen Parlaments, bearb. und hg. von Harald Lönnecker, Koblenz 2006, S. 3–5; Sven Woelke, „Der Freiheit entgegen.“ Paul Wentzcke und der Westen des Deutschen Reiches in Zeiten der französischen Besatzung (1918–1930/35), Magisterarbeit Bonn 2006; Harald Lönnecker, „Das Thema war und blieb ohne Parallel-Erscheinung in der deutschen Geschichtsforschung.“ Die Burschenschaftliche Historische Kommission (BHK) und die Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsforschung e.V. (GfbG) (1898/1909–2009). Eine Personen-, Institutions- und Wissenschaftsgeschichte, Heidelberg 2009, S. 21ff.; Guido Müller, Geschichtspolitik im Westen und Rheinische Jahrtausendfeierlichkeiten 1925, in: Gertrude Cepl-Kaufmann (Hg.), Jahrtausendfeiern und Befreiungsfeiern im Rheinland. Zur politischen Festkultur 1925 und 1930, Essen 2009, S. 35–57; Biographisch relevante Archivalien: Stadtarchiv Düsseldorf, 0–1–5– 69758 (Personalakte); UAF, Akten der Phil. Fak., PA Paul Wentzcke, Abt. 134, Nr. 627; ebd., Akten des Rektors, PA Paul Wentzcke, Abt. 4, Nr. 1829; HHStAW, Abt. 520 IF Nr. 13225 (Entnazifizierungsakte). 2 Vgl. Woelke, „Der Freiheit entgegen“. 3 So Müller, Geschichtspolitik im Westen, S. 45f. 4 Vgl. Stephan Laux, Zwischen Traditionalismus und „Konjunkturwissenschaft“. Der Düsseldorfer Geschichtsverein und die rheinischen Geschichtsvereine im Nationalsozialismus, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 141/142 (2005/2006), S. 107–157, 121ff. 5 Vgl. Woelke, „Der Freiheit entgegen“. 6 Christoph Cornelißen, Vom „Ruhrkampf“ zur Ruhrkrise: Die Historiographie der Ruhrbesetzung, in: Gerd Krumeich (Hg. u.a.), Der Schatten des Weltkriegs: Die Ruhrbesetzung 1923, Essen 2004, S. 25–46, 27ff. 7 Vgl. Titelnachweise bei Klötzer, Wentzcke Stufen, S. 39ff.; vgl. dazu Woelke. 8 Vgl. Müller, Geschichtspolitik im Westen; auch Kerstin Theis, Die Historiker und die Rheinische Jahrtausendfeier von 1925, in: Geschichte im Westen 20 (2005), S. 23–48, S. 24. 9 Vgl. Paul Wentzcke, Die tausendjährige Jubelfeier des deutschen Reiches, in: Preußische Jahrbücher (Jan.-März 1923), S. 69–87. 10 Vgl. Woelke, „Der Freiheit entgegen“. Siehe auch P. Wentzcke, Rheinkampf, 2 Bde., Berlin 1925; ders., Ruhrkampf, 2 Bde., Berlin 1930/1932, und ders., Der Freiheit entgegen. Deutscher Abwehrkampf an Rhein, Ruhr und Saar, Berlin 1934. 11 Vgl. Woelke, „Der Freiheit entgegen“; vgl. Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?, Baden-Baden 1999, S. 696f. 12 Anja Heuss, Kunst- und Kulturraub. Eine vergleichende Studie zur Besatzungspolitik der Nationalsozialisten in Frankreich und der Sowjetunion, Heidelberg 2000, S. 341–342. Sie wies den Einsatz Wentzckes bei der 1944 erfolgten Beschlagnahmung einer Bibliothek beim Militärbefehlshaber in Frankreich durch eine Unterabteilung beim Reichssicherheitshauptamt nach. Im Zuge dessen wurden dem ELI 2.000 Bände zugewiesen. Vgl. auch Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst, S. 507. 13 Zit. Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst, S. 367.

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Eugen Wildi Eugen Wildi, 1881 geboren im aargauischen Reinach, erlangte nach dem Studium der Jurisprudenz an der Universität Zürich 1904 das Anwaltspatent und wurde schließlich Fürsprecher und Notar. Mit seiner Frau, Alice Hupeden, einer gebürtigen deutschen Staatsbürgerin, zog er zurück in den Aargau nach Zofingen. Von 1916 bis 1925 präsidierte Wildi als Freisinniger den Rechnungsprüfungsausschuss der Einwohnergemeinde Zofingen. Eine weitere politische Karriere in der Partei blieb Wildi allerdings verwehrt. In der Folge richtete sich seine Aufmerksamkeit vermehrt ins nahe Ausland, wo er sich für die elsass-lothringische Autonomiebewegung zu engagieren begann. 1928 musste er sich deswegen am Colmarer Prozess verantworten. In der gleichen Zeit wurden auch die Schweizer Behörden auf seine Person aufmerksam. 1938 wurden Wildi und weitere Personen wegen Verdachts auf Zuwiderhandlung gegen die Interessen der Landessicherheit am Badischen Bahnhof in Basel verhaftet. In den folgenden Jahren war Wildi teils als Angeklagter, teils als Kläger, aber meistens als Verteidiger an diversen Gerichtsverfahren, unter anderem auch in Verteidigungsprozessen von Schweizer Frontisten, beteiligt.1 Das weitverzweigte Beziehungsnetz von Wildi, welches namhafte Personen im nationalsozialistischen Dunstkreis des In- und Auslands sowie diverse Stiftungen, Verwaltungsratsmandate, Vereine und andere Organisationen umfasste, konnte zwar aufgedeckt werden, deren Zusammenhänge waren der damaligen eidgenössischen Bundesanwaltschaft jedoch unbekannt. Wildis Kontakte erstreckten sich von New York über Antwerpen, Hamburg, Straßburg und Basel bis ins Sudetenland. Der Zusammenhalt jener Personen war vor allem durch die →J.W.G.-Stiftung (Johann Wolfgang von Goethe-Stiftung) gewährleistet, bei der Wildi ein Verwaltungsratsmandat innehatte und als deren Mitglied er die deutschsprachige Schweiz vertrat. Die J.W.G.-Stiftung wurde durch →Alfred C. Toepfer als Generalbevollmächtigten seines in Amerika lebenden Bruders Ernst Toepfer nach dem Recht des Fürstentums Liechtenstein mit Domizil bei der Liechtensteinischen Landesbank in Vaduz am 18. Dezember 1931 gegründet und setzte sich die Förderung des deutschen Kulturkreises in Europa zum Ziel.2 Wildi wurde 1935 angefragt, ehrenamtlich als Treuhänder und Geschäftsführer mitzuwirken. Neben den Gebrüdern Toepfer und Wildi befanden sich Konrad Henlein, Reichskommissar im Sudetengau, Franz Hueber, Justizminister in der Ostmark (Österreich) und Schwager von Reichskommissar Göring, Pastor Johannes SchmidtWodder, dänischer Abgeordneter, und Professor Antoon Jacob der Universitäten Hamburg und Antwerpen, Vertreter für Holland und Belgien (flämische Bewegung), im Stiftungsrat.3 Mit diesen Personen war der geografische Raum abgedeckt, auf den die Goethe-Stiftung gemäß des großdeutschen Bestrebens des Deutschen Reiches Einfluss nehmen wollte. Es ist davon auszugehen, dass Wildi die Bekanntschaft der meisten dieser Personen bereits Mitte der Zwanzigerjahre gemacht hatte. Der Beweis dafür ist ein Ver-

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trag vom 23. Oktober 1926, der von Eugen Wildi, Robert Ernst und →Hektor Ammann unterzeichnet worden war und für den sich Wildi am Colmarer Prozess verantworten musste.4 Darin bestätigt Robert Ernst im Namen des elsässischen Autonomisten-Verlags „Erwinia“, 100.000 Schweizer Franken von Wildi erhalten zu haben.5 Um das Darlehen notariell beglaubigen zu lassen, wurde Hektor Ammann beigezogen. Die französischen Medien waren sich einig, dass der „französischfeindliche“ Wildi für die Finanzierung der Autonomisten verantwortlich war. Die Zeitung Volonté aus Paris war davon überzeugt, dass die „Erwinia“ mit deutschen Geldern gegründet worden sei. Wildi habe dazu gedient, die Herkunft des Geldes zu verwischen.6 Die unterzeichnenden Personen waren bekannte Nationalsozialisten und setzten sich insbesondere für das vermeintlich bedrohte Grenz- und Auslandsdeutschtum ein. Hektor Ammann, ebenfalls Aargauer, war Gründer des Volksbunds für die Unabhängigkeit der Schweiz und verfügte über enge Kontakte zu deutschen Volkstumspolitikern. Robert Ernst aus Berlin, zu dem Wildi seit der Kollaboration im Elsass ein freundschaftliches Verhältnis pflegte, war Bundesleiter der Elsass-Lothringer im Reich, Chef des deutschen Schutzbundes in Berlin, führende Person im Volksbund für das Deutschtum im Ausland (VDA), führendes Mitglied des alldeutschen Verbandes, zwischen 1940 und 1944 Oberbürgermeister des besetzten Straßburg und „[…] Chauffeur bei rund 40 mit Dr. Wildi getätigten Autofahrten von jeweils einem bis drei Tagen in der Schweiz.“7 Als Person mit diesen Funktionen standen Dr. Ernst für die Propaganda im Elsass Millionen zur Verfügung, wobei das Geld vermutlich über Basel an seinen Bestimmungsort gelangte.8 In einem französischen Dossier über Ernst steht, „[…] dass Dr. Ernst für die autonomistische Propaganda im Elsass seinen Freunden in Basel grosse Geldbeträge übermittelte, damit die elsässischen Freunde Dr. Roos und der Abgeordnete der französischen Kammer Mourer und andere mehr es dort abholen und für ihre politischen Zwecke verwenden konnten.“9 Wildis wie auch Ernsts Mitgliedschaft bei diversen Stiftungen, darunter besagter J.W.G.-Stiftung, oder dem schweizerischen und dem deutschen Schulverein, sowie Wildis Verwaltungsratsmandat bei der Bodenkreditbank in Basel, waren beim Verschieben der Geldsummen über die Grenzen womöglich von Nutzen.10 Andere Personen, zu denen Wildi seit dem Autonomisten-Prozess Kontakt pflegte und die allesamt bei der Verhaftung rund zehn Jahre später eine Rolle spielen sollten, waren die bereits erwähnten Karl Roos, der wenige Jahre später wegen Hochverrats in Frankreich zum Tode verurteilt wurde, Jean-Pierre Mourer, elsässischer Autonomist, Abgeordneter und später Kollaborateur, Albert Bongartz, vermeintlicher Gestapo-Agent und Agitator für den Anschluss Elsass-Lothringens ans Deutsche Reich, Emil Clemens Scherer, kirchlicher Vertreter im Werk der katholischen Auslanddeutschen-Mission und ehemaliger Pfarrer im Elsass, und →Hans Steinacher, der Leiter des Volksbunds für das Deutschtum im Ausland und verantwortlich für den Bombenschmuggel über den Bodensee zwischen Deutschland und

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Österreich sowie die Terroraktionen im Saargebiet vor dessen Rückgliederung an Deutschland.11 Obwohl die Schweizer Behörden bereits Mitte der Zwanzigerjahre auf Wildi aufmerksam wurden, verfügte die Bundesanwaltschaft erst ab 1935 über die nötigen rechtlichen Grundlagen zur Überwachung. Diese führte am 27. Oktober 1938 zur Verhaftung von Wildi, seiner Frau und Albert Bongartz am Badischen Bahnhof in Basel. Die drei verstrickten sich in der folgenden Untersuchung des Bundesrichters Franz Rickenbacher in widersprüchliche Aussagen. Sie konnten jedoch keiner Straftat überführt werden. In den Gesprächen während der Untersuchungshaft erwähnten die Wildis sämtliche bereits aufgeführten Namen ihrer Bekannten aus Elsässer Tagen. Sicher ist zudem, dass sie auf Robert Ernst warteten, der sich im gleichen Zug wie Bongartz aufhielt, jedoch nicht in Gewahrsam genommen werden konnte.12 Die Hausdurchsuchung, die anschließend angeordnet wurde, förderte nur spärliches Beweismaterial zu Tage, so dass es für eine Verurteilung nicht ausreichte. Immerhin wurde in der Wohnung des Ehepaars Wildi Korrespondenz von und für führende Vertreter der schweizerischen Fronten, aber auch an deutsche Staatsbürger, sechs Goldbarren mit einem Gesamtgewicht von 5.2 kg und mehreren Tausend Schweizer Franken Bargeld und zwei Hakenkreuzfahnen gefunden.13 Auch weitere Zeugenaussagen blieben ergebnislos. Die Untersuchung der schweizerischen Bundesanwaltschaft wegen Verstoßes gegen das Spitzelgesetz (Schutz der Sicherheit der Eidgenossenschaft) vom 21. Juni 1935 und gegen das Bundesgesetz betreffend Angriffe auf die Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft vom 8. Oktober 1936, die nach der Verhaftung gegen Wildi geführt wurde, musste 1939 aus Mangel an Beweisen eingestellt werden. Dass Eugen Wildi in der angespannten außenpolitischen Situation 1939 nie verurteilt werden konnte, lag auch daran, dass er als Fürsprecher und Notar sämtliche rechtlichen Kniffe kannte, um eine Strafe abzuwenden. Seine Anwälte Wolfgang Boerlin aus Basel und Hugo Heberlein aus Zürich überhäuften Untersuchungsrichter Rickenbacher, die Bundesanwaltschaft und sogar den Bundesrat mit Beschwerdeschriften und erschwerten so die Untersuchung.14 Die Bundesanwaltschaft sah in einer Festnahme von Robert Ernst zudem eine potentielle Gefährdung der äußeren Sicherheit der Schweiz, vor allem wegen seiner Stellung im VDA, bei der Ernst eine Tätigkeit ausübte.15 Durch die bei Wildi gefundene Korrespondenz wurde klar, dass Wildis Interessen keineswegs nur im Ausland lagen, sondern dass er sich auch in der Schweiz ein weit verzweigtes Netzwerk aufgebaut hatte, welches bis weit vor die Zeit seines Engagements im Elsass zurückreichte und ihn womöglich gar mit den dortigen Kontaktpersonen in Verbindung setzte. Was Wildis politische Gesinnung anbelangt, blieb vieles unklar. Auf die konkrete Frage des Bundesrichters, ob Wildi Nationalsozialist sei, antwortete dieser: „Meine Gesinnung ist national und sozial, aber nicht im Sinne der Auffassung der schweizerischen Sozialdemokratie.“16 Die Bundesanwaltschaft konstatierte, dass er die Ansichten des dem Nationalsozialismus nahestehenden BTE (Bund treuer Eidgenossen) teile, nachdem die Front zu wenig national-

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sozialistisch war.17 Alfred Zander, der Gründer des BTE und Herausgeber der Zeitschrift Schweizerdegen, zu dessen Abonnenten auch Wildi zählte, war regelmäßig Gast bei Wildi. Des Weiteren gab Wildi an, bei der Gründung des Volksbundes für die Unabhängigkeit der Schweiz und der Schweizer Monatshefte für Kultur und Politik beteiligt gewesen zu sein. Die Zeitschrift und der Volksbund wurden 1921 als Reaktion auf den Beitritt der Schweiz zum Völkerbund lanciert. Bereits 1923 kam es zu einem Treffen zwischen Hans Oehler, Mitbegründer und Chefredakteur der Zeitschrift, und Adolf Hitler, der vor rund 40 Mitgliedern des Volksbunds seine Pläne vorstellte. Als Folge erhielt Hitler großzügige Spenden von den Anwesenden. Wildi kannte Hans Oehler seit der Gymnasialzeit in Aarau.18 Auch Hektor Ammann, Geschäftsführer des Volksbundes, lernte Wildi vermutlich in diesem Umfeld kennen. Zu den Bekannten Ammanns gehörten zudem sowohl Hans Steinacher als auch Konrad Henlein, die beide im Zuge der Untersuchungen gegen Wildi eine Rolle spielten.19 Unzählige weitere Bekannte Wildis lassen sich den Schweizer Fronten zuordnen. Sicher ist außerdem, dass er 1937 den Parteitag der Nationalsozialisten in Nürnberg besuchte, weil er ein „allgemeines Interesse daran hatte, wie ein solcher Parteitag abläuft“. Wildi war zudem bewusst, dass in Zofingen jedermann wusste, dass er „mit dem deutschen Volk und dem deutschen Regime sympathisiere.“20 Seine Kontakte rissen erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ab, wobei er den Schweizer Freunden nachher noch immer beistand, teilweise auch als Strafverteidiger vor Gericht. Eugen Wildi starb am 15. September 1955 in Zofingen, vier Jahre nach dem Tod seiner Frau.

Miles Kleeb

1 Vgl. Archiv für Zeitgeschichte ETH Zürich (AETH), Nl Dr. jur. Eugen Wildi (1881–1955). Bestandssignatur: Nl Eugen Wildi, Bände I-VI, 1926–1944 und Lüthi, Christian, Kriege, Krisen und Konflikte 1914–1945, in: Annemarie Roth u.a., Zofingen im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Kleinstadt sucht ihre Rolle, Baden 1999, S. 343. 2 Bundearchiv Bern (BAR), 119, Polizeikommando Kanton St. Gallen an schweiz. Bundesanwaltschaft, St. Gallen, 12.11.1938. 3 Ebd., 118, Schweiz. BA, Polizeistelle, Bericht, Bern vom 6.12.1938. 4 AETH, Nl Wildi, Bd. I, Elsässisch-lothringische Autonomistenbewegung Eugen Wildi, Darlehensüberweisung, Aarau vom 23.10.1926. 5 Erwinias Publikation „Heimatstimmen“ war das politische Organ des elsässischen „Heimatbunds“, oder auch „Landespartei“ genannt, welche für die Unruhen und gewalttätigen Ausschreitungen der Autonomisten in jenen Jahren verantwortlich zeichnete. 6 Vgl. Strassburger Neue Zeitung, „Komplott-Prozess von Comar“, Strassburg vom 15.6.1929; AETH, Nl Wildi Bd. I, Elsässisch-lothringische Autonomistenbewegung, Le Volonté, „L`Argent allemand en Alsace“, Paris, 18.6.1929. 7 BAR, 118, Schweiz. BA, Polizeistelle, Kurzbericht, Bern, 6.12.1938. 8 Ebd., 118, L`Echo de Paris, „La Suisse s`alarme des menées nazies“, Paris vom 16.11.1938.

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9 Ebd., Schweiz. BA, Polizeistelle, Kurzbericht, Bern vom 6.12.1938. 10 BAR, 118, Achtundzwanzigster Geschäftsbericht des Verwaltungsrates der Bodenkreditbank in Basel für das Jahr 1937 an die ordentliche Generalversammlung der Aktionäre, Basel vom 4.3.1938. 11 Bei der Verhaftung trug Bongartz ein Schriftstück der Gestapo, das ihn dazu ermächtigte, „verbotene elsass-lothringische Zeitungen mit nach Deutschland einzuführen“. Vgl. BAR, Bd. 118, Brief des Leiters des geheimen Staatspolizeiamtes in Karlsruhe, Berckmüller an Albert Bongartz, Karlsruhe vom 31.10.1935 und ebd., 119, Eidg. Untersuchungsrichter Rickenbacher, Einvernahme des Oskar Zumbrunn vom 27.4.1939. 12 BAR, 119, Eidg. Untersuchungsrichter Rickenbacher, Einvernahme der Alice Wildi, Schwyz vom 16.1.1939. 13 Vgl. AETH, II, Strafuntersuchung der schweiz. Bundesanwaltschaft gegen Dr. Eugen Wildi Schweiz. BA, Verzeichnis der bei W. am 27.10.1938 beschlagnahmten Schriftstücke und Gegenstände; BAR, 119, Eidg. Untersuchungsrichter Rickenbacher, Einvernahme des Dr. Eugen Wildi, Schwyz vom 17.1.1939. 14 Ebd., 119, Eidg. Untersuchungsrichter Rickenbacher, Einvernahme des Dr. Eugen Wildi, Schwyz vom 16.1.1939. 15 Ebd., 118, Schweiz. BA, Polizeistelle, Kurzbericht, Bern vom 6.12.1938. 16 Ebd., 119, Eidg. Untersuchungsrichter Rickenbacher, Einvernahme des Dr. Eugen Wildi, Schwyz vom 18.1.1939. 17 Ebd., 118, Polizeidienst schweiz. BA, Bemerkungen zu den Einvernahmen des Wildi, Bern vom 19.1.1939. 18 Ebd., 119, Polizeidienst schweiz. BA, Einvernahme des Eugen Wildi, Zofingen vom 28.10.1938. 19 Beat Glaus, Die Nationale Front, Zürich 1969, S. 28. 20 BAR, 119, Eidg. Untersuchungsrichter Rickenbacher, Einvernahme des Dr. Eugen Wildi, Schwyz vom 17.1.1939.

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Kurt Willvonseder Kurt Willvonseder wurde am 10. März 1903 in Salzburg geboren. Ab 1922 studierte er zunächst Pharmazie, dann germanische Philologie, Altertumskunde und Urgeschichte an den Universitäten Wien und Stockholm. Er promovierte im Dezember 1929 in Wien über das Thema „Der Untersberg und seine Sagen“.1 Im Oktober des Folgejahres begann er als unbesoldeter Assistent am Wiener Institut für Ur- und Frühgeschichte zu arbeiten.2 Willvonseder verblieb auch in den folgenden Jahren an der Universität Wien und trat im April 1934 der Vaterländischen Front bei.3 Im selben Jahr wurde er Mitarbeiter am Prähistorischen Referat in der Zentralstelle für Denkmalschutz. 1937 habilitierte er sich mit einer Arbeit über die mittlere Bronzezeit und wurde als Privatdozent für Urgeschichte an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien zugelassen. Im Juli desselben Jahres wurde er zum wissenschaftlichen Assistenten in der Zentralstelle für Denkmalschutz ernannt.4 Im Jahr 1938 kam Willvonseder erstmals näher mit der Forschungs- und Lehrgemeinschaft Das →Ahnenerbe der SS in Kontakt.5 Mit Unterstützung von →Wolfram Sievers wurde er am 30. Januar 1939 mit dem Dienstgrad eines Untersturmführers in die SS aufgenommen.6 Kurze Zeit später wurde ihm auch der sogenannte „Ehrenwinkel der Alten Kämpfer“ verliehen.7 Willvonseder verblieb weiterhin in Wien und war ab 1939 zunächst kommissarischer, ab 1940 ordentlicher Leiter der Abteilung für Vor- und Frühgeschichte (bzw. Abteilung für Bodenaltertümer) in der Zentralstelle für Denkmalschutz (später umbenannt in Institut für Denkmalpflege). Darüber hinaus war er Gaupfleger der Bodenaltertümer in den Reichsgauen Niederdonau und Wien.8 Im Rahmen seiner diesbezüglichen Tätigkeiten war er in die unter Ausbeutung von KZ-Häftlingen durchgeführten archäologischen Ausgrabungen rund um das Konzentrationslager Gusen involviert. Willvonseder selbst war – beginnend mit einem Besuch im Mai 1942 – immer wieder vor Ort anwesend.9 1941 wurde er zum SS-Obersturmführer befördert und nach einer fast dreijährigen Wartezeit auch Mitglied der NSDAP (daneben war er Mitglied der NSV und des RDB).10 Für das Ahnenerbe war er nun auch offizieller Beauftragter der Forschungsund Lehrgemeinschaft Das Ahnenerbe des Reichführers SS auf vor- und frühgeschichtlichem Gebiet für die „Ostmark“.11 Gemeinsam mit seinen Wiener Kollegen →Oswald Menghin und Eduard Beninger attackierte Willvonseder in mehreren Publikationen den Urhistoriker Richard Pittioni, der 1938 seine venia legendi zurücklegen hatte müssen, und versuchte ihn an Forschungsvorhaben zu hindern.12 So intervenierte Willvonseder zum Beispiel 1942 gegen Pittionis Plan, die Reihe „Niederdonau. Natur und Kultur“ zu einem rein wissenschaftlichen Organ auszubauen.13 Pittionis frühere Funktion als Schriftleiter der Wiener Prähistorischen Zeitschrift (bis 1937) wurde von Willvonseder übernommen.14 Auch die Schriftleitung der Fundberichte aus Österreich und der Materialien zur Urgeschichte Österreichs (bzw. der „Ostmark“) übernahm Willvonseder während der NS-Zeit.15

Kurt Willvonseder  891

1940 wurde Willvonseder zum Dozenten neuer Ordnung für Urgeschichte an der Universität Wien ernannt.16 Ein dauerhafter Ortswechsel an die Universitäten in Innsbruck und Graz scheiterte unter anderem daran, dass das Ahnenerbe Willvonseder in Wien benötigte, da er „[…] eine Schlüsselstellung für die Vorgeschichtsforschung in der Ostmark und darüberhinaus für den südosteuropäischen Raum [besaß]. Eine Schlüsselstellung, auf die wir weitgehend in der Verfolgung unserer Pläne angewiesen sind.“17, wie Sievers es ausdrückte. In diesem Zusammenhang ist auch Willvonseders Mitgliedschaft in der im Herbst 1938 gegründeten „Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung in Wien“ nicht zu unterschätzen.18 Im Juni 1943 wurde Willvonseder nach längeren Bemühungen seitens des Ahnenerbes schlussendlich zum außerplanmäßigen Professor an der Universität Wien ernannt.19 1941 war Willvonseder erstmals in Südtirol für das Ahnenerbe und zwar in erster Linie für die →Kulturkommission der Amtlichen Deutschen Ein- und Rückwandererstelle tätig.20 Hatte ihn das Ahnenerbe zuvor noch vor einer Einberufung geschützt21, änderten sich nun die Pläne der Organisation und Willvonseder wurde am 13. Juli 1942 zur Waffen-SS einberufen.22 Nach Beendigung seiner Ausbildung bei der SS-Gebirgsnachrichten-Ersatzabteilung in Goslar wurde er zur Stabsabteilung der Waffen-SS im Persönlichen Stab des Reichsführers-SS versetzt.23 In der Folge war er hauptsächlich in Serbien eingesetzt, um dort bis 1944 die Aufnahme vor- und frühgeschichtlicher Bodenaltertümer zu leiten.24 Daran anschließend war er vor allem wieder in Südtirol tätig, wo er sich bis in die letzten Kriegsmonate aufhielt.25 In Italien geriet er 1945 in Kriegsgefangenschaft. Über mehrere Gefangenenlager gelangte er schließlich nach Linz, wo er im August 1947 aus der Untersuchungshaft beim dortigen Volksgericht entlassen wurde.26 Zwar wurde das dort gegen ihn angestrengte Verfahren am 12. Februar 1948 eingestellt,27 seine Lehrbefugnis wurde allerdings für erloschen erklärt, da er gemäß dem Nationalsozialistengesetz von 1947 als belastet galt.28 In den folgenden Jahren war daher an eine wissenschaftliche Karriere nicht zu denken. Erst mit Unterstützung von Kollegen aus der Wissenschaft und hier bemerkenswerterweise besonders Pittioni und der Salzburger Landespolitik gelang es ihm Anfang der 1950er Jahre wissenschaftlich wieder Fuß zu fassen. Zwar waren Bemühungen um eine Rückkehr in die Bodendenkmalpflege nicht von Erfolg gekrönt, dafür hatte man Willvonseder in der Gruppe von Wissenschaftlern um →Egon Lendl untergebracht, die mit der Erstellung des Salzburg Atlas befasst war.29 1954 wurde er schließlich in Salzburg – nicht zuletzt weil das politische Klima hier die Integration ehemaliger Nationalsozialisten seit den frühen 1950er-Jahren auf politischer Ebene ermöglicht hatte – Direktor des Salzburger Museum Carolino Augusteum.30 Zehn Jahre später, im Sommersemester 1964, gelang Willvonseder als Lehrbeauftragter für Urgeschichte an der wiedergegründeten Universität Salzburg, wie anderen ehemaligen Nationalsozialisten, die hier wieder wissenschaftlich Fuß fassen konnten, auch seine Rückkehr in die universitäre Lehre.31 Nachdem seine Bemühungen, seine venia legendi wiederzuerlangen, gescheitert waren, habilitierte

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sich Willvonseder mit einer Arbeit über Pfahlbaufunde aus dem Attersee erneut. 1966 wurde ihm die Lehrbefugnis für Ur- und Frühgeschichte an der Universität Salzburg erteilt.32 1967 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt.33 Ein Jahr später, am 3. November 1968, verstarb Willvonseder in Salzburg.

Robert Obermair

1 R. Obermair, Kurt Willvonseder. Vom SS-Ahnenerbe zum Salzburger Museum Carolino Augusteum, Salzburg 2016, S. 13. 2 Archiv der Stadt Salzburg (AStS), Abschrift des Lebenslaufs von Willvonseder für das Bundesministerium für Unterricht (BmU), Wien vom 22.5.1953; O.H. Urban, „…und der deutschnationale Antisemit Dr. Matthäus Much – der Nestor der Urgeschichte Österreichs?“, in: Archaeologia Austriaca 86 (2002), S. 7–43, 28. 3 ÖStA, AdR/BMU, PA Kurt Willvonseder, ZL 21590/35, Dienststellenleiter der Vaterländischen Front, „Dienststelle Universität, philosophische Fakultät“, Bestätigung, Wien vom 19.6.1935; ebd., Gauakt Willvonseder, ZL Z.b.V.18429 Fi/We, Gauhauptstellenleiter Kamba, Wien vom 23.2.1940. 4 AStS, Abschrift des Lebenslaufs von Willvonseder für das BmU, Wien vom 22.5.1953; O.H. Urban, „Er war der Mann zwischen den Fronten“. Oswald Menghin und das Urgeschichtliche Institut der Universität Wien während der Nazizeit, in: Archaeologia Austriaca 80 (1996), S. 1–20, 3. 5 Vgl. BArch NS 21/562, Sievers an Willvonseder, Berlin vom 9.11.1938. 6 AStS, Meldeblatt zur Verzeichnung der Nationalsozialisten gemäß Paragraph 4 des Verbotsgesetzes 1947–6/667, o.O. vom 8.8.1947. 7 BArch NS 21/811, Sievers an den Stabsführer des Persönlichen Stabes Reichsführer-SS Ullmann, o. O. vom 27.3.1939. 8 AStS, Abschrift des Lebenslaufs von Willvonseder für das BmU, Wien vom 22.5.1953. 9 G. Trnka, H. Ladenbauer-Orel, Das urnenzeitliche Gräberfeld von Gusen in Oberösterreich, in: Archaeologia Austriaca 76 (1992), S. 47–112, 49f. 10 AStS, Meldeblatt zur Verzeichnung der Nationalsozialisten gemäß Paragraph 4 des Verbotsgesetzes 1947 – 6/667, o.O. vom 8.8.1947, S. 1ff. 11 Urban, „…und der deutschnationale Antisemit“, S. 30. 12 Vgl. K. Willvonseder, Buchbesprechung Richard Pittioni, Beiträge zur Urgeschichte der Landschaft Burgenland im Reichsgau Niederdonau, in: Wiener Prähistorische Zeitschrift 28 (1941), S. 174–179; vgl. BArch NS 21/811, Willvonseder an Sievers, Bozen vom 20.10.1940. 13 Obermair, Kurt Willvonseder, S. 60. Mehr zu dieser Thematik S. 57–63 in ebendieser Publikation. 14 I. Friedmann, Der Prähistoriker Richard Pittioni (1906–1985) zwischen 1938 und 1945 unter Einbeziehung der Jahre des Austrofaschismus und der beginnenden Zweiten Republik, in: Archaeologia Austriaca 95/2011 (2013), S. 7–99, 29. 15 AStS, Abschrift des Lebenslaufs von Willvonseder für das BmU, Wien vom 22.5.1953; vgl. BArch NS 21/621, Ahnenerbe-Stiftung Verlag an Willvonseder, o.O. 5.6.1939. 16 AStS, Abschrift des Lebenslaufs von Willvonseder für das BmU, Wien vom 22.5.1953, S. 2f. 17 BArch, NS 21/811, Sievers an Harmjanz, Berlin-Dahlem vom 29.7.1942. 18 Petra Svatek, „Wien als Tor nach dem Südosten“. Der Beitrag Wiener Geisteswissenschaftler zur Erforschung Südosteuropas während des Nationalsozialismus, in: Mitchell G. Ash (Hg. u.a.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen 2010, S. 111–140, 120ff. 19 AStS, Abschrift des Lebenslaufs von Willvonseder für das BmU, Wien, vom 22.5.1953, S. 2f. 20 BArch NS 21/75, Bericht über die 1941 im Auftrag der Forschungs- und Lehrgemeinschaft „Das Ahnenerbe“ durchgeführten Untersuchungen und Ausgrabungen in der Slowakei.

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21 Ebd., NS 21/811, Sievers (i.A.) an den Reichsführer-SS, Persönlicher Stab, o.O. vom 3.9.1940. 22 Ebd., Das Ahnenerbe an den Reichsführer-SS, Persönlicher Stab, Berlin-Dahlem vom 9.5.1942; BDA-Archiv, Personalakt Ladenbauer-Orel, GZ II d-8–6, Willvonseder an den Reichsstatthalter in Niederdonau, Wien vom 13.7.1942. 23 Obermair, Kurt Willvonseder, S. 118f. 24 BArch NS 21/75, Bericht Willvonseders über die im Jahre 1943 durchgeführten vorgeschichtlichen Forschungen in der Slowakei; ebd., NS 21/251, Willvonseder an Sievers, o.O. vom 31.3.1944. 25 Ebd., NS 21/180, Hertha Innerebner an die Verwaltung des Ahnenerbe, Seis vom 23.5.1944; ebd., 251, Sievers an Willvonseder, Waischenfeld vom 26.3.1945. 26 BDA-Archiv, Personalakt Willvonseder, GZ 1756/47, Staatsdenkmalamt an Willvonseder, Wien vom 10.4.1947; Obermair, Kurt Willvonseder, S. 133ff. 27 AStS, Ansuchen des Landesgericht Linz, Volksgericht, o.O. vom 20.11.1947. 28 UAW, PH PA 3736, 106, Dekan der Philosophischen Fakultät Universität Wien (Duda) an Kurt Willvonseder, Wien vom 19.11.1948. 29 UAW, Nl Richard Pittioni, 131.30.2.8, Korrespondenz V-Z, Willvonseder an Pittioni, Salzburg vom 29.5.1951; Salzburger Landesarchiv (SBLA), PRÄ 1950/31.4, Landeshauptmann Klaus an den BmU, Dr. Felix Hurdes, Salzburg vom 6.12.1950; ebd., PRÄ 1951/05.2, Landeshauptmann Klaus (i.A.) an Kurt Willvonseder, Salzburg vom 9.3.1951. Nähere Informationen zur Rolle Pittionis finden sich bei Friedmann, Der Prähistoriker Richard Pittioni und Obermair, Kurt Willvonseder. 30 AStS, Personalakt Willvonseder, Willvonseder wird vom Gemeinderat als Leiter des SMCA bestellt, Salzburg vom 5.7.1954. 31 Archiv der Personalabteilung der Universität Salzburg, Amt der Salzburger Landesregierung an Willvonseder, Salzburg vom 22.4.1964. 32 AStS, Personalakt Willvonseder, Dekan der Phil.Fak. Marcic an Willvonseder, Salzburg vom 7.6.1966. 33 Friedmann, Der Prähistoriker Richard Pittioni, S. 80.

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Wilhelm Winkler Wilhelm Winkler (1884–1984) wurde am 29. Juni 1884 in Prag als viertes von acht Kindern einer Musiklehrerfamilie geboren. Nach dem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an der Prager Deutschen Universität promovierte er zum Dr. jur. Seit 1909 arbeitete er als einziger deutscher Konzipist, später als Vizesekretär im tschechisch dominierten Statistischen Landesamt des Königreiches Böhmen. Während der vierten Isonzoschlacht im November 1915 schwer verwundet, trat der zum Oberleutnant der Reserve beförderte Winkler nach einem halbjährigen Spitalaufenthalt 1916 ins neu eingerichtete Wissenschaftliche Komitee für Kriegswirtschaft im Wiener Kriegsministerium ein, in dem er gemeinsam mit dem Nationalökonomen Othmar Spann die Heeresstatistische Abteilung leitete. Im letzten Kriegsjahr heiratete er Klara Deutsch, mit der er fünf Kinder haben sollte.1 Nach dem Weltkrieg war Winkler statistischer Fachberater der deutschösterreichischen Delegation beim Friedenskongress von St. Germain. Zurück in Wien, begann er zwei berufliche Laufbahnen, einerseits als Ministerialsekretär im Staatsamt für Heereswesen, aus dem er 1920 in das österreichische Bundesamt für Statistik überwechselte, und andererseits als Privatdozent für Statistik an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, an der er sich 1921 bei Friedrich Wieser und Othmar Spann mit einer Arbeit über Die statistischen Verhältniszahlen habilitierte. Im Bundesamt stand Winkler seit 1925 nebenamtlich der Abteilung für Bevölkerungsstatistik vor. In dieser Funktion organisierte er 1934 die einzige umfassende österreichische Volkszählung nach dem Krieg. Dabei ließ er eine „Familienstatistik“ ausarbeiten, die der Sozialpolitik Daten zur Verfügung stellen sollte, um die von ihm angestrebte steuerliche Entlastung der kinderreichen Familien voranzutreiben. Als Universitätsprofessor (seit 1931) beschäftigte sich Winkler in gleicher Weise mit Problemen der angewandten und der theoretischen Statistik. Institutioneller Rahmen für die von ihm betriebene „gesamtdeutsche“ Nationalitätenstatistik war das von ihm begründete und geleitete Institut für Statistik der Minderheitsvölker. Die beiden statistischen Handbücher des gesamten Deutschtums und der europäischen Nationalitäten waren die wichtigsten in dem Institut entstandenen Arbeiten. In den zwanziger Jahren war Winkler ferner einer der wenigen deutschsprachigen Statistiker, die für eine Synthese zwischen sozialwissenschaftlicher Statistik und mathematischer Statistik angelsächsischer Spielart eintraten. Mit diesem Programm wurde er ein international anerkannter Wissenschaftler. Im Jahr 1938 schien sein Aufstieg jedoch jäh zu Ende zu sein: Winkler wurde nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich wegen der jüdischen Herkunft seiner Ehefrau und aufgrund seiner weltanschaulichen Nähe zum autoritären „Ständestaat“ aus seinen amtlichen Stellungen entfernt. Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft wurde Winkler wieder in seine frühere Stellung an der Universität Wien eingesetzt. Seit 1947 bekleidete er

Wilhelm Winkler  895

das Amt eines Ordinarius für Statistik, Demographie und Ökonometrie, bis er im Jahr 1955 emeritierte. Winkler, der am 3. September 1984 im Alter von hundert Jahren in Wien starb, gilt als Begründer der österreichischen Universitätsstatistik nach dem Zweiten Weltkrieg. Als Statistiker, der lebensgeschichtlich von den politischen Konflikten zwischen Tschechen und Deutschen in Böhmen geprägt worden war, hielt Winkler während seines ganzen Lebens an einem spezifischen Denkparadigma fest: der Überzeugung, dass die Statistik Sprachminderheiten mittels vergleichender Methoden klar voneinander abzugrenzen und mit demographischen Kategorien zu beschreiben habe. Je nach zeittypischen Umständen wurde das von ihm in der Statistik vertretene deutschnationale Gedankengut einmal mehr, einmal weniger von biologistisch-sozialdarwinistischen oder katholischen Ideologemen begleitet und überlagert. Es bildete jedoch stets das Substrat seiner Weltanschauung. Winklers politischer Pessimismus entsprach seiner spezifischen Sicht der Bevölkerungslage: Nach seiner Meinung hatten die Friedensverträge den „Nahrungsspielraum“ in Deutschland und Österreich beängstigend verengt und damit eine künstliche „Übervölkerung“ hervorgerufen. Der Geburtenrückgang ließ ihn hingegen vor einer künftigen „Untervölkerung“ warnen. Diese könnte das ethnische Gefüge in Mitteleuropa zu Ungunsten der Deutschsprachigen verändern. Besonders dem „Grenz- und Auslanddeutschtum“ erwachse durch die größere slawische Vermehrungsfähigkeit eine große Gefahr. Kulturpessimismus und Überfremdungsängste waren der gemeinsame weltanschauliche Nenner jener jungkonservativen Kreise, in denen Winkler verkehrte. Kontakte pflegte er unter anderem mit dem Herausgeber der Deutschen Arbeit Hermann Ullmann und mit dem völkischen Publizisten →Karl Christian von Loesch. Letzterer beriet ihn bei der Planung des „Statistischen Handbuchs des gesamten Deutschtums“, das 1927 im Auftrag der →Leipziger Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Verbindung mit der Deutschen Statistischen Gesellschaft erschien. Das Handbuch brachte in methodischer Hinsicht eine Neuerung mit sich, indem es das – sprachlich-kulturell determinierte – „Volk“ als Untersuchungseinheit vor den „Staat“ stellte. Winklers in diesem Werk kulminierende „Volkstums“-Terminologie basierte wesentlich auf dem Gedankengut, das im Deutschen Schutzbund, im Deutschen Schulverein Südmark und in anderen Organisationen, die vorrangig der tagespolitischen nationalen „Schutzarbeit“ verpflichtet waren, entwickelt worden war. Nationalsozialistischen Volkstumsforschern galt die Arbeit als ein Vorläufer des →Handwörterbuchs des Grenz- und Auslanddeutschtums. Sie kritisierten jedoch – so etwa der Soziologe und Historiker →Hans Joachim Beyer mit Blick auf die Winklersche Minderheitenstatistik – die „sprachlich-kulturelle“ und „statisch-ungeschichtliche“ Betrachtungsweise des Auslanddeutschtums, die die „biologische“ Dynamik des „Volkslebens“ vernachlässigt habe. Von rassistischen und eugenischen Ideologemen, die in den dreißiger Jahren in den Sozialwissenschaften überhandnahmen, grenzte Winkler sich nie eindeutig ab.

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Da diese sich mit seinem auf Spracherhebungen fußenden minderheitenstatistischen Konzept nicht vereinbaren ließen, spielten sie in seinem Werk gleichwohl kaum eine Rolle. Die Ansicht seines Berliner Kollegen →Friedrich Burgdörfer, dass die Bevölkerungsstatistik und -politik untrennbar miteinander verbunden seien, lehnte Winkler eindeutig ab. Der Wiener Statistiker war auch weder als (Bevölkerungs-)Politiker aktiv, noch engagierte er sich während der NS-Zeit in irgendeiner Form in der Politikberatung.

Alexander Pinwinkler

1 Vgl. Alexander Pinwinkler, Wilhelm Winkler (1884–1984) – eine Biographie. Zur Geschichte der Statistik und Demographie in Österreich und Deutschland, Berlin 2003; ders., Wilhelm Winkler und die Deutschtumsstatistik, in: Rainer Mackensen (Hg.), Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik vor 1933, Opladen 2002; Statistisches Handbuch des gesamten Deutschtums. Hg. v. Wilhelm Winkler im Auftrag der Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig, in Verbindung mit der Deutschen Statistischen Gesellschaft, Berlin 1927; Wilhelm Winkler, Die Bedeutung der Statistik für den Schutz der nationalen Minderheiten, Leipzig u.a. 19262.

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Eduard Winter Eduard Winter, geboren am 16. September 1896 in Grottau (Hrádek nad Nisou) in Böhmen, legte 1915 das Abitur in Böhmisch Leipa (Česká Lípa) ab und studierte, nachdem er aus Gesundheitsgründen für den Kriegsdienst abgelehnt wurde, an der Universität Innsbruck Theologie.1 Nach seiner Weihe zum katholischen Priester im Juli 1919 setzte er das theologische Studium an der Deutschen Universität in Prag fort. Als Universitätsadjunkt an der theologischen Fakultät tätig, promovierte er 1921 über den Eigentumsbegriff im Pentateuch und habilitierte sich 1922 für christliche Soziologie mit der Schrift Die Bedeutung der Landkrankenpflege für die Seelsorge. Zugleich studierte er Geschichte, Staatswissenschaft und Recht. Wegen des Todes seines Doktorvaters Ottokar Weber blieb das Geschichtsstudium ohne Abschluss, obwohl seine Doktorarbeit über den Leitmeritzer Bischof Kindermann 1926 veröffentlicht wurde. 1929 wechselte Winter zur christlichen Philosophie als unbesoldeter und außerordentlicher Professor an der theologischen Fakultät, an der er zur philosophisch-theologischen Propädeutik bereits als Privatdozent Vorlesungen hielt und wofür er nach einem Kurs in scholastischer Philosophie an der Gregoriana in Rom seine fachliche Eignung bestätigt erhielt. Obwohl er 1931 zum besoldeten außerordentlichen Professor für christliche Philosophie ernannt wurde, schwenkte er in wissenschaftlichen Arbeiten über die altösterreichischen Philosophen Anton Günter und Bernard Bolzano von der spekulativ-philosophischen Arbeitsweise zur geistesgeschichtlichen Methode über und wechselte nach dem Tod des Prager Kirchenhistorikers August Naegle zur Kirchengeschichte, die er 1934 als ordentlicher Professor vertrat. Seit seinem Gymnasialstudium war Winter in verschiedenen deutsch-katholischen Jugendbünden (zuletzt Vandalia) Mitglied. Ab 1920 wirkte er als Organisator in der katholischen Jugendbewegung, insbesondere im Bildungs- und Wanderbund Staffelstein für deutsche Studenten der tschechoslowakischen Mittelschulen (später mit einem Hochschulring), wo er von Anfang an als eine prägende und führende Persönlichkeit auftrat.2 Staffelstein verfolgte das Ziel, eine in der katholischen Religiosität wurzelnde „völkische Wiedergeburt“ der „Sudetendeutschen“ zu bewirken.3 Um das zu erreichen, forcierte Winter im Bund vor allem das identitätsstiftende Studium der Kultur- und Geistesgeschichte der Deutschen in den böhmischen Ländern, obwohl innerhalb Staffelsteins aus denselben Motiven auch moderne religiösen Strömungen verfolgt wurden (die liturgische Bewegung). Mit finanzieller Unterstützung des deutschen Auswärtigen Amtes und der →Deutschen Stiftung Erich Krahmer-Möllenbergs unternahmen Winter und die Staffelsteiner im Sommer 1926, 1927 und 1928 Studienreisen zu den deutschen Sprachinseln in der Slowakei, Karpatorussland und Ostgalizien, damit die Erfordernisse für eine Unterstützung der dortigen deutschen Bevölkerung in der Siedlungsfrage und der deutschen kulturellen Propaganda bei den slawischen Völkern besser erkannt werden konnten. Eines der wichtigsten Ziele war auch die Pflege des systematischen Nachrichtendienstes. Win-

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ter arbeitete mit Georg Schreiber und dem Deutschen Institut für Auslandskunde in Münster zusammen, wo die Ergebnisse der ersten Studienreise publiziert wurden, und kurz auch mit dem Bielitzer Kreis um →Walter Kuhn.4 Im Rahmen der Volksbildungsinteressen nahm er auf Tagungen der deutschen Volksbildungsbewegung der Weimarer Republik (Hohenrodter Bund) teil. Ende der 1920er Jahre richtete Winter in Prag eine Forschungsstelle für Ostdeutschtum und slawische Kultur ein, die „keinen Wert auf irgend eine organisatorische Erfassung des Sudetendeutschtums oder der Sprachinseln oder einzelner Gruppen in denselben“ legte, sondern „echte wissenschaftliche Arbeit zu leisten“ habe. Dieser „praktischen Betätigung“ ging es um „Musterversuche“ des „Volksaufbaus“.5 Neben der Sprachinselforschung widmete sich Winter der böhmischen und österreichischen Geistesgeschichte, insbesondere dem Frühhumanismus, dem Barock und der Aufklärung. Eine volksgeschichtliche Tendenz in deutscher „kulturträgerischer“ Diktion findet sich vor allem in kleineren Aufsätzen, die während der 1930er Jahre unter Einfluss des Denkens Bolzanos durch Betonung der gegenseitigen kulturellen Einflussnahme der Deutschen und Tschechen etwas gemildert wurde. Gemäß Winter bildet jedes Volk eine „Volkspersönlichkeit“ mit spezifischen „nationalen Eigenarten“, die sich in einem Wettbewerb zum Wohl des Landes frei entwickeln sollen. Die „Sudetendeutschen“ hätten ihre „geschichtliche Sendung“ in einer Brückenfunktion zwischen dem „gesamtdeutschen Volk“ und den slawischen Völkern zu erfüllen. Winter bewegte sich stets in einem „völkischen“ Denkschema, indem er den Begriff des „Volkes“ als Hauptkategorie nutzte. Winters Volksidee enthielt zwar auch irrationale und organische Elemente sowie Hinweise auf biologischrassische Fundamente. Die „Rasse“ stand bei ihm jedoch als Determinante weit hinter den sprachlich-kulturellen Merkmalen. Winter glaubte weiter an die Entstehungsmöglichkeit einer „sudetendeutschen →Volksgemeinschaft“, in der die Katholiken eine führende „volksaufbauende“ Rolle spielen sollten. So vertrat er das Konzept eines „christlichen Nationalismus“, das er in der katholischen Kirche durchsetzen wollte. Seine Reformvorschläge zielten auf eine Dezentralisation der kirchlichen Organisation nach nationalem Prinzip ab.6 Hierbei stieß er bei der kirchlichen Hierarchie in Prag aber auf heftige Ablehnung. Winter war die führende Persönlichkeit innerhalb der „Katholischen Aktion“ in der Tschechoslowakei, Mitglied verschiedener katholischer Verbände und wissenschaftlicher Gesellschaften. Er engagierte sich zum Beispiel im Verein für die Geschichte der Deutschen in Böhmen und in der Deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und Künste für die tschechoslowakische Republik, in der Königlich Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften und in traditionellen deutschen Schutzvereinen. Er arbeitete auch mit der Tschechoslowakischen Gesellschaft für das Studium der Minderheitenfragen und mit dem Österreichischen Verband für Volksdeutsche Auslandsarbeit zusammen. Bis April 1938 war er in keiner politischen Partei organisiert. 1934 begrüßte er jedoch vorsichtig die Sudetendeutsche Heimatbewegung Konrad Henleins. Später stand er der Sudetendeutschen Partei nahe und wurde

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nach dem Anschluss Österreichs ihr Mitglied. Seit Mai 1939 war er NSDAP-Anwärter und seit Februar 1940 Mitglied. Nach dem Münchner Abkommen stellte sich Winter „ganz“ dem „Aufbau“ des Großdeutschen Reiches zur Verfügung,7 unterstützte den Versuch, die Prager Deutsche Universität nach Reichenberg zu verlegen und arbeitete an der Neuorganisation der Kirche im Sudetengau. Im Frühjahr 1939 wurden jedoch seine Vorlesungen an der Philosophischen Fakultät, wo er als Privatdozent für religiöse Philosophie seit 1934 wirkte, von der NS-Studentenschaft wegen ihrer „dogmatischen Gebundenheit“ abgelehnt. Im Dezember 1939 wurde Winter auf Druck des NS-Dozentenbundes aus dem Stand der Philosophischen Fakultät gestrichen und wirkte nur an der Theologischen Fakultät, wo er auch Vorlesungen aus der ukrainischen Kirchengeschichte las. Nach dem Scheitern seiner völkisch-reformkatholischen Pläne hielt er sein Wirken in der katholischen Kirche für aussichtslos und bemühte sich weiter um einen Lehrauftrag auf der Philosophischen Fakultät. Eine Angelegenheit persönlicher Art wirkte als Katalysator. Seine spätere Frau bekam im November 1940 ein Kind von ihm. Er heiratete sie im Februar 1941. Im Einvernehmen mit dem Unterstaatssekretär im Amt des Reichsprotektors Kurt von Burgsdorff verließ er im September 1940 die Theologische Fakultät und begann wieder mit Vorlesungen an der Philosophischen Fakultät. Nach verzögernden Schwierigkeiten wurde er im Juli 1941 zum ordentlichen Professor für europäische Geistesgeschichte ernannt. Zwischenzeitlich weigerte sich Winter, sich laisieren zu lassen, so dass ihm seine Priesterberechtigung entzogen und er nach seiner Hochzeit exkommuniziert wurde. Seit 1940 begann er mit dem →Volk und Reich Verlag an einem Böhmen-undMähren-Buch zusammenzuarbeiten und schrieb geschichtliche Aufsätze für das Blatt des Reichsprotektors. Seine Texte behaupteten eine Priorität der deutschen Kultur in der böhmischen Kulturgeschichte und propagierten den „Reichsgedanken“, also die ewige Zugehörigkeit der böhmischen Länder zum Deutschen Reich. Nach der Aufforderung des Leiters der Abteilung IV. des RSHA, SS-Sturmbannführer Albert Hartl, stellte Winter im Juni 1941 einen Antrag auf Errichtung eines Universitätsinstitutes für osteuropäische Geistesgeschichte.8 Das Institut sollte sich mit der „Erforschung der weltanschaulichen Grundlagen der russisch-orthodoxen Kirche befassen“.9 Es wurde in Juni 1942 an der Prager Universität errichtet und in die →Reinhard-Heydrich-Stiftung eingegliedert, wo es im März 1943 um ein Archiv für osteuropäische Geistesgeschichte erweitert wurde, das die mit Hilfe des RSHA gesammelten Archivalien aus den okkupierten Ländern (Protektorat Böhmen und Mähren, Serbien, Ukraine) aufnahm. Für das RSHA ließ Winter Schriften zur orthodoxen Kirche aus den slawischen Sprachen übersetzen; als Sachexperte begleitete er Albert Hartl auf Reisen in die Ukraine und bereitete wahrscheinlich auch „kriegswichtige“ Analysen zur Geschichte und Organisation der slawischen orthodoxen Kirchen in Osteuropa und zur kirchlichen Union vor, ähnlich denen, die er im Sommer und Herbst 1944 für die Berliner PuSte der →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft schrieb.10 Im Rahmen der Heydrich-Stiftung widmete sich

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Winter außerdem der Ostpolitik des Vatikans, Themen der russischen Geschichte seit dem 18. Jahrhundert, der Problematik der Prager Universitätsgeschichte und der tschechischen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert. Er beteiligte sich auch an einem geplanten zweibändigen Gemeinschaftswerk der Heydrich-Stiftung über Panslawismus, das auf Anregung des Auswärtigen Amtes und Hans-Joachim Beyers herausgegeben wurde.11 Seine Hauptarbeit dieser Jahre war aber eine originelle Interpretation des Josephinismus, in der die österreichische Aufklärung und die kirchlichen Reformen Kaiser Josefs II. als Ausdruck des Reformkatholizismus interpretiert wurden. Von 1943 bis 1945 war Winter zusammen mit Hans-Joachim Beyer Herausgeber der Südostforschungen, der Internationalen Zeitschrift für Geschichte, Kultur und Landeskunde Südosteuropas und Mitbegründer der Schriftenreihe Prager Studien zur Geistes- und Gesinnungsgeschichte Ostmitteleuropas. 1944 wurde er – als „der literarisch produktivste Hochschullehrer der Philosophischen Fakultät“ – zweimal für das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse ohne Schwerter (einmal vom SD-Leitabschnitt Prag) vorgeschlagen. An der Universität zählte er zu den „aktivistischen Professoren“ der „volkspolitischen Richtung“ um Beyer.12 Im April 1945 begleitete Winter seine Familie nach Tirol, kehrte aber in sein Haus im böhmischen Liboch (Liběchov) an der Elbe zurück. Nach dem Prager Aufstand im Mai befreundete er sich mit sowjetischen Soldaten, die einen Lokalstab in seinem Haus errichtet hatten. Mit ihnen reiste er an die österreichische Grenze. Seit August 1945 weilte er für mehr als zwei Jahre in Wien, wo er – lange Monate als unbesoldete wissenschaftliche Hilfskraft – eine Lehrstelle im Seminar für osteuropäische Geschichte der Wiener Universität anstrebte. In November 1946 erhielt er die österreichische Staatsbürgerschaft. Mit linksorientierten Wissenschaftlern begründete er in Januar 1946 das Wiener Institut für Wissenschaft und Kunst und leitete die Abteilung Kultur- und Geisteswissenschaften. In der Abteilung wurden auch Recherchen zur russischen Geschichte in Wiener Archiven im Einvernehmen und mit finanzieller Unterstützung der sowjetischen Besatzungsorgane und der Moskauer Akademie der Wissenschaften der UdSSR organisiert.13 Als sich eine Berufung an die Wiener Universität verzögerte, folgte er einem Ruf an die Universität HalleWittenberg in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Seit März 1947 wurde er dort mit dem Aufbau des Seminars für osteuropäische Geschichte beauftragt. Von Mai 1948 bis Februar 1951 amtierte er als Rektor der Universität in Halle, erhielt zwischenzeitlich aber einen Ruf auf den Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte an der Humboldt Universität in Berlin, wo er von 1951 bis 1965 das Institut für Geschichte der Völker der UdSSR leitete. 1955 wurde er Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Berlin und leitete dort zwei Abteilungen. Aus diesen wurde 1960 eine selbständige Arbeitsstelle zur Geschichte der deutsch-slawischen Wissenschaftsbeziehungen. 1965 wurde er sowohl an der Universität als auch in der Akademie emeritiert. Seit Ende der 1960er Jahre betätigte er sich als Hauptherausgeber der Gesamtwerke von Bernard Bolzano.

Eduard Winter  901

Winter war Mitbegründer und erster Vorsitzender der Gesellschaft für deutschsowjetische Freundschaft im Land Sachsen-Anhalt und gehörte später dem Zentralvorstand dieser Gesellschaft an. Er stand stets loyal zum kommunistischen Regime der SED, obwohl er nie Parteimitglied wurde. Für seine wissenschaftlichen Leistungen erhielt er von den staatlichen Organen der DDR verschiedene Auszeichnungen: den Nationalpreis II. Klasse 1956, den Vaterländischen Verdienstorden in Silber 1961, den Vaterländischen Verdienstorden in Gold 1981. Er starb am 3. März 1982 in Ostberlin.

Jiří Němec

1 Jiří Němec, Eduard Winter (1896–1982). „Eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der österreichischen Geistesgeschichte unseres Jahrhunderts ist in Österreich nahezu unbekannt“, in: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und Tschechoslowakei in wissenschaftlichen Porträts, Wien, Köln, Weimar 2008, S. 619–676. 2 Hans Schmid-Egger u.a., Staffelstein. Jugendbewegung und katholische Erneuerung bei den Sudetendeutschen zwischen den Großen Kriegen, München 1983. 3 Eduard Winter, Großstaffelstein? In: Staffelstein, Blätter sudetendeutscher katholischer Jugendbewegung 2 (1921), S. 70f. 4 Eduard Winter (Hg.), Die Deutschen in der Slowakei und Karpathorußland, Münster 1926; ders., Vorwort, in: Walter Kuhn, Die Jungen Deutschen Sprachinseln in Galizien, Münster 1930; vgl. Ingo Haar, „Sudetendeutsche“ Bevölkerungsfragen zwischen Minderheitenkampf und Münchener Abkommen. Zur Nationalisierung und Radikalisierung deutscher Wissenschaftsmilieus in der Tschechoslowakischen Republik 1918–1938, in: Historical Social Research 31 (2006), Sonderheft, S. 236– 262. 5 BBAW, Nl Eduard Winter, W 167, Leitsätze der Forschungsstelle für Ostdeutsche und slawische Kultur vom 10.6.1929 (Photokopien aus dem Bestand der Deutschen Stiftung). 6 Eduard Winter, Volk und Glaube, in: Volk und Glaube 1 (1936), S. 1–3; ders., Christlicher Nationalismus, in: ebd. 2 (1937), S. 15ff. 7 UAW, Rektoratsakten 1310 1917/30, Akademischer Senat, Evidenzhaltung der aus der Tschechoslowakei geflüchteten deutschen Hochschullehrer, Winter an Rektor Knoll vom 4.10.1938. 8 Vgl. Ota Konrad, Geisteswissenschaften an der Deutschen Universität in Prag 1938–1945, in: Karen Bayer (Hg. u.a.), Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus und in der frühen Nachkriegszeit, Stuttgart 2004, S. 233–234. 9 NAP, ÚŘP, 109–4–542, Winter an Rektor Saure vom 3.7.1941. 10 BArch, R 153, 1007, Die orthodoxe Kirche in Ost- und Südosteuropa, in: Mitteilungen der PuSte Nr. 32 vom August 1944; und Die Orthodoxe Kirche und der Panslawismus mit besonderer Berücksichtigung Osteuropas. 11 NAP, ÚŘP, 110–4–244. 12 NAP, ÚŘP, 110–4–529. 13 Michael Hochedlinger u.a., „Diese Diebstähle sind einzig in der Geschichte aller Archive der Welt“ Die Affäre Grill 1951–1953. Ein Beitrag zur Personalgeschichte des Haus-, Hof- und Staatsarchivs zwischen 1. und 2. Republik, in: MIÖG 113 (2005), S. 362–388.

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Herman Wirth Herman Felix Wirth wurde am 6. Mai 1885 in Utrecht als Sohn des aus RheinlandPfalz stammenden Gymnasiallehrers Ludwig Wirth und der Niederländerin Sophie Gijsberta Roeper Bosch geboren.1 Nach Kindheit und Schulbesuch begann Wirth in seiner Heimatstadt das Studium der niederländischen Philologie, Germanistik, →Volkskunde und Geschichte, das er dort 1908 mit dem Staatsexamen abschloss. Seit 1909 war er Lektor für niederländische Sprache und Literatur an der Universität Berlin. 1910 wurde Wirth mit seiner Dissertation Der Untergang des niederländischen Volksliedes beim Basler Volkskundler und Volksliedforscher John Meier (1864–1953) promoviert.2 Wirths Blick auf die Moderne war entschieden kulturpessimistisch. Schon 1910 setzte er sich für die Wiederbelebung einer vergangenen, vermeintlich volksnahen Musiktradition ein. Dieser Idee der kulturellen Renaissance folgte Wirth sein ganzes Leben. Am Ersten Weltkrieg nahm Wirth an der Seite Deutschlands freiwillig teil. Aufgrund seiner Ambitionen für den großniederländischen Gedanken fungierte er für die deutschen Behörden in Belgien als Schnittstelle zum flämischen Separatismus.3 Sein Einsatz für Kriegsziele des Deutschen Reiches trug ihm die Auszeichnung Titularprofessor ein, mit der keine Lehrbefugnis verbunden war. Seine späteren Bemühungen um eine Habilitation blieben erfolglos. Nach dem Ersten Weltkrieg engagierte er sich im „Landsbond der Dietsche Trekvogels“, einer Singspielgruppe nach dem Vorbild des deutschen Wandelvogel, die mit historischer Instrumentierung alte niederländische Volkslieder aufführte und ein Bewusstsein für vergangene Kultur zu erwecken hoffte.4 Zu der Gruppe gehörte auch seine spätere Frau Margarethe Schmitt (1890–1978), die Tochter des Kunstmalers E. Vital Schmitt (1858–1935), die sein wissenschaftliches, publizistisches und politisches Engagement seitdem mit größter Anteilnahme begleitete. Das Paar heiratete 1916 und zog vier Kinder groß. In den frühen 1920er Jahren begann Wirth mit Forschungen über Symbole und schriftähnliche Zeichen, die er auf volkskundlichem, prähistorischem und ethnographischem Kulturgut zu erkennen meinte. Er wähnte sich als Begründer einer neuen Wissenschaft, der „Paläo-Epigraphik“, die jene von ihm als „Urschrift“ angesprochene Symbolik zu interpretieren vermochte. Die weltweit vorkommenden und in formelhaften Kombinationen auftretenden Symbole und Zeichen verstand Wirth als geistige Spur einer einst im polaren Norden beheimateten atlantisch-nordischen Rasse, die als maßgeblicher Kulturträger die Menschheitsentwicklung über Jahrtausende dominiert habe. Mit dieser Annahme einer hochnördlichen Urheimat und Kulturausstrahlung gehört Wirth zu den extremen Opponenten gegen die als Herabsetzung des nationalen Selbstwerts empfundene Ex-oriente-lux-These.5 Die von Wirth erschlossene Kultsymbolik, insbesondere Variationen und Ableitungen von Kreis und Kreuz, repräsentierten ein heiliges

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Wissen vom Vergehen und Wiederaufsteigen der Sonne und des Lebens. Den von der Kultsymbolik abstrahierten „Urglauben“ verstand Wirth als eine Art kosmisches Urchristentum, das lange vor Christus bereits monotheistisch war. Wirth rezipierte hier die ebenfalls einen idealen Urzustand der Menschheit voraussetzende Urmonotheismustheorie des Theologen und Ethnologen Wilhelm Schmidt (1868–1954).6 In Anlehnung an die seit dem späten 19. Jahrhundert diskutierte Matriarchatstheorie Johann Jakob Bachofens (1815–1887) schrieb Wirth der atlantisch-nordischen Urkultur eine mutterrechtliche Ordnung zu, der er eine heiligende Friedfertigkeit unterstellte. Einen Umbruch vom Matriarchat zu einem mit Kriegertum und Hybris assoziierten Patriarchat verortete Wirth in einem von der Jungsteinzeit bis in die Gegenwart reichenden Zeitalter. Durch Rückbesinnung auf die Werte des über die Kultsymbolik vermittelten Urglaubens warb Wirth für neues Zeitalter der „Volksmütter“ in Verbindung mit einer Lebensweise nach Idealen der Lebensreform, die er bereits persönlich durch strengen Vegetarismus, Tabak- und Alkoholabstinenz und materielle Enthaltsamkeit zelebrierte. 1928 publizierte Wirth seine Ergebnisse und Anschauungen im Großformat unter dem Titel Der Aufgang der Menschheit im Verlag von Eugen Diederichs (1867– 1930), der ihn über mehrere Jahre finanziell unterstützt hatte.7 1931/36 ließ er sein zweites, noch umfassender angelegtes Riesenwerk „Die Heilige Urschrift der Menschheit“ folgen.8 Wirth war ferner in einschlägig dem völkischen Vorgeschichtsbild verpflichteten archäologischen Zeitschriften wie Germanien und Nordische Welt präsent. Wirths methodisch unwissenschaftliches Kompilieren der Symbolik jenseits ihres zeitlichen, räumlichen und historischen Kontextes wie auch sein gesellschaftsreformerischer Sendungsdrang erfuhren entschiedenen Widerspruch. Dennoch ließen ihn Dutzende von Rezensionen, Gutachten, Stellungnahmen und Debatten zu einem der bekanntesten Laienforscher im Umfeld der prähistorischen Archäologie seiner Zeit aufsteigen. Schon seit 1928 hatte sich eine überzeugte Anhängergemeinde in einer Herman-Wirth-Gesellschaft zusammengeschlossen, die ihn organisatorisch unterstützte. Zulauf erhielt er nicht nur über die breite Resonanz in Presse und Fachpublizistik, sondern er bewarb seine Überzeugungen und Erkenntnisse in zahlreichen öffentlichen Vorträgen.9 Sein charismatisches Auftreten sowie der Pathos seiner Rede trug ihm bei seinen Kritikern den Ruf ein, er sei mehr ein Religionsstifter, denn ein Wissenschaftler.10 Bereits 1925/26 war Wirth kurzzeitig Mitglied der Marburger Ortsgruppe der NSDAP11, doch erst seit Anfang der 1930er Jahre suchte er im erstarkenden Nationalsozialismus nach Anknüpfungspunkten, um seine Vorstellungen zur Reform von Gesellschaft und Religion geistig beheimaten zu können, ja er meinte gar, ein Erfolg des Nationalsozialismus hänge von der Anerkennung seiner Anschauungen ab.12 Kontakte zu Vertretern der nationalsozialistischen Landesregierung von Mecklenburg ließen ihn 1932 auf eine weitreichende Unterstützung hoffen. An der Universität Rostock sollte für ihn ein „Lehrstuhl für Deutsche Vorgeschichte“ eingerich-

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tet werden, was am Protest der Fakultät scheiterte. Allerdings gelang es, in Bad Doberan ein →Forschungsinstitut für Geistesurgeschichte zu gründen, dem ein „vorgeschichtliches Riesenmuseum“ angeschlossen werden sollte.13 Dieses als „Freilichtschau“ angekündigte Ausstellungsprojekt, eine Idee, die stark an einen von dem völkischen Vorgeschichtspublizisten Willy Pastor (1867–1933) schon um 1905 auf Rügen ins Auge gefassten „Nordischen Park“ erinnert14, sollte der Veranschaulichung seiner mit wissenschaftlichem Anspruch vorgetragenen Erkenntnisse dienen. Vor allem aber sollte ein auratischer Erlebnisraum für seine Deutung prähistorischer Geistes- und Religionsgeschichte geschaffen werden. Von der Konfrontation mit der vermeintlichen Gedankenwelt der atlantisch-nordischen Rasse und ihrer „Heiligen Urschrift“ hoffte Wirth bei den Besuchern eine identitätsstiftende völkisch-religiöse „Selbstbesinnung und Selbstbestimmung“ zu bewirken. Die Instituts- und Museumspläne in Bad Doberan zerschlugen sich, nachdem – wie später noch öfters – die Diskrepanz zwischen den überbordenden Erwartungen Wirths und den tatsächlichen Möglichkeiten für eine Unterstützung offenbar wurden. Aufgrund seiner Religionskritik und seines Rückbezugs auf eine durch symbolgeschichtliche Interpretationen erschlossene urmonotheistische Glaubensform der Vorzeit zählt Wirth zum Kreis jener Vertreter einer völkischen Religionswissenschaft, die der Indologe →Jakob Wilhelm Hauer 1933 in der Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Glaubensbewegung (ADG) zusammenzufassen hoffte, ein Projekt, das aufgrund der Interessengegensätze ihrer führenden Vertreter scheiterte.15 Über sein eifrig gepflegtes Kontaktnetzwerk, in diesem Fall über Verbindungen zum preußischen Unterrichtsminister Bernhard Rust (1883–1945), gelang es ihm, ab Oktober 1933 als außerordentlicher Professor an der Berliner Universität zu firmieren. Allerdings bezog er lediglich ein geringes Gehalt und konnte auch hier die in Aussicht genommene Stelle nie wirklich antreten. Wirth nahm seine Mitgliedschaft in der NSDAP wieder auf, zog nach Michendorf bei Potsdam und gründete die „Freilichtschau und Sammlung für Geistesurgeschichte und Volkstumskunde“, die er nun in einem nahegelegenen Waldgebiet hoffte aufbauen zu können.16 Die Unterstützung durch Rust erfuhr jedoch einen Rückschlag, nachdem Alfred Rosenberg (1893–1946), der als NS-Chefideologe schon 1930 in seinem „Mythus des 20. Jahrhunderts“ gegen Wirth polemisiert hatte17, sich 1934 bei dem Minister gegen eine weitere staatliche Förderung einsetzte. Auf keinen Fall sollte der Eindruck entstehen, der Nationalsozialismus definierte sich über Wirths Interpretationen.18 Wirth erfuhr insbesondere nach Herausgabe einer kommentierten Übersetzung der „Ura Linda-Chronik“, einer schon im 19. Jahrhundert als Fälschung erkannten vermeintlich altfriesischen Handschrift, eine verschärfte Kritik. Er setzte sich vehement für die Quellenechtheit der von einem mutterrechtlich verfassten nordischen Atlantis handelnden Schrift ein, die er seit Beginn seiner Symbolforschungen Anfang der 1920er Jahre kannte und die ihn vermutlich maßgeblich zu seinen eigenen Anschauungen inspiriert hat.19

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Neue aussichtsreiche Chancen eröffneten sich Wirth, als er im Spätherbst 1934 über den Publizisten →Johann von Leers (1902–1965) den Kreis um Richard Walther Darré (1895–1953) und Heinrich Himmler (1900–1945) kennen lernte und erneut für seine Museumsplanungen begeistern konnte.20 Zum Kernbestand des geplanten Freilichtmuseums sollten Zeugnisse einer archaischen Symbolschriftlichkeit gehören, zu denen er insbesondere die skandinavischen Felsbilder zählte.21 Es kam im Juli 1935 zur Gründung des →Ahnenerbe als Stiftung der SS sowie zur Einrichtung der Wirth unterstellten „Pflegstätte für Schrift- und Sinnbildkunde“. Bereits im August 1935 brach Wirth zu einer ersten Reise zu den skandinavischen Felsbildern auf und führte ein Jahr später eine zweite Exkursion in den Norden durch. Ziel beider Reisen war die Abformung ausgewählter Felsbilder als Gipsnegativ, um aus diesen Abgüssen Replikate in Originalgröße herstellen zu können. Wirths selbstbezogene Arbeits- und Denkweise stieß im Ahnenerbe alsbald an ihre Grenzen. Sein geldintensiver und unsystematischer Aktionismus kollidierte mit den Plänen Himmlers, das Ahnenerbe sukzessive zu einer elitären und seinen eigenen Vorstellungen folgenden Wissenschaftsorganisation auszubauen. Wirth rückte zunächst in die einflusslose Rolle des Ehrenpräsidenten, bis er 1938 das Ahnenerbe verließ. Wirth stellte seinen Rückzug später als Widerstand gegen eine „staatliche Kriegermännerbund-Ideologie“ dar, eine Version, die zwar seinen Argumentationsmustern entspricht, für die jedoch keine gesicherte Primärquelle nachgewiesen ist.22 Die Jahre bis Kriegsende fristete Wirth ein zurückgezogenes, aber auskömmliches Privatgelehrtendasein ohne Möglichkeiten zur Publikation. Er lebte von einer Forschungsbeihilfe des Reichserziehungsministeriums und Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 1944 erhielt er das Gehalt einer Kustodenstelle des Göttinger Instituts für Volkskunde als „Altersversorgung“ zugesprochen. Die Stelle durfte er aufgrund der Proteste der Göttinger Philosophischen Fakultät wiederum nicht antreten.23 Nach dem Zweiten Weltkrieg unternahm Wirth mehrere Anläufe, um aus seinem Privatgelehrtendasein herauszutreten und warb für Unterstützung in den Niederlanden, seiner Heimat mütterlicherseits, sowie in Schweden, wo er Anfang der 1950er Jahre einige Jahre lebte und arbeitete. 1954 kehrte er in sein Marburger Haus namens „Eresburg“ zurück und versuchte, sein altes Sympathisantennetz wieder zu etablieren. Er gründete die Herman-Wirth-Gesellschaft von 1928 unter dem Namen Europäische Sammlung für Urgemeinschaftskunde neu, nahm seine Planungen zum Aufbau eines urreligionsgeschichtlichen Museums wieder auf und war hierfür auf einer unentwegten Suche nach Geldmitteln. Er organisierte in einem bescheidenen privaten Rahmen kleinere Ausstellungen in Marburg sowie unweit der Externsteine, die von einer ihm treu ergebenen Anhängerschaft wahrgenommen wurden, jedoch kein Heraustreten aus dem Umfeld seines subkulturellen Milieus ermöglichten. Er wurde aufgrund seiner Matriarchatsthesen und seiner lebensreformerischen Anschauungen von Teilen der in den 1970er Jahren aufkommenden grün-alternativen Bewegung rezipiert.24

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Nach dem Tod seiner Frau (1978) siedelte Wirth nach Thallichtenberg in Rheinland-Pfalz über. Dort durfte er kurzzeitig darauf hoffen, öffentliche Fördergelder für sein Museumsprojekt zu erhalten. Diese Pläne zerschlugen sich nach aufgeregtem Schlagabtausch in Presse und Lokalpolitik.25 Wirth starb 96-jährig am 16. Februar 1981 in Kusel. Noch heute existiert sein Anhängerkreis unter dem Namen Ur-Europa e. V., der seit 1999 Tagungen veranstaltet und die gehaltenen Vorträge in Jahrbüchern publiziert.26 Teile seines Nachlasses, darunter einige Felsbildreplikate der Ahnenerbe-Unternehmungen nach Skandinavien, waren jahrelang im Österreichischen Felsbildermuseum in Spital am Pyrhn ausgestellt, zu dem der Verein bis vor kurzem Kontakte unterhielt.27

Ingo Wiwjorra

1 Ingo Wiwjorra, Herman Wirth – Ein gescheiterter Ideologe zwischen „Ahnenerbe“ und Atlantis, in: Barbara Danckwortt (Hg. u.a.), Historische Rassismusforschung. Ideologen – Täter – Opfer, Hamburg 1995, S. 91–112. Vgl. ferner zur Biographie: Eduard Gugenberger, Herman Wirth. Der Ahnerinnerer in der SS, in: Eduard Gugenberger, Boten der Apokalypse. Visionäre und Vollstrecker des Dritten Reiches, Wien 2002, S. 79–94 und Aat van Gilst, Herman Wirth, Soesterberg 2006. 2 Herman Wirth, Der Untergang des Niederländischen Volksliedes, Den Haag 1911. 3 Vgl. Lammert Buning, Notities betreffende Hermann Felix Wirth, in: Wetenschappelijke Tijdingen 33 (1974) 3, Sp.141–166. Zum großniederländischen Gedanken zuletzt Lode Wils, Die Großniederländische Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Johannes Koll (Hg.), Nationale Bewegungen in Belgien, Münster 2005, S. 135–153. 4 Herman Wirth, Wat is en wat wil de Dietsche Trekvogel?, Leiden 1920. 5 Vgl. Ingo Wiwjorra, „Ex oriente lux“ – „Ex septentrione lux“. Über den Widerstreit zweier Identitätsmythen, in: Achim Leube (Hg.), Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933–1945, Heidelberg 2002, S. 73–106. 6 Vgl. Franz Winter, Die Urmonotheismustheorie im Dienst der nationalsozialistischen Rassenkunde. Herman Wirth im Kontext der religionswissenschaftlichen und ethnologischen Diskussion seiner Zeit. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 62 (2010) 2, S. 157–174. 7 Herman Wirth, Der Aufgang der Menschheit. Untersuchungen zur Geschichte der Religion, Symbolik und Schrift der atlantisch-nordischen Rasse, Textband I: Die Grundzüge, Jena 1928. Zur Förderung Wirths durch Diederichs vgl. Christina Niem, Eugen Diederichs und die Volkskunde. Ein Verleger und seine Bedeutung für die Wissenschaftsentwicklung, Münster 2015, S. 165–167. 8 Herman Wirth, Die heilige Urschrift der Menschheit. Symbolgeschichtliche Untersuchungen diesseits und jenseits des Nordatlantik, Leipzig 1931–1936. 9 Allein für die Jahre 1930–1934 hatte er mindestens 80 Vortragstermine. Jährlich hielt Wirth etwa 15 Vorträge, allein 1933 jedoch über 30. Vgl. Eberhard Baumann, Herman Wirth. Schriften, Vorträge, Manuskripte und Sekundärliteratur, Toppenstedt 1995, S. 48–67. 10 Paul Hambruch, Die Irrtümer und Phantasien des Herrn Prof. Dr. Herman Wirth, Marburg, Verfasser von „Der Aufgang der Menschheit“ und „Was heisst deutsch?“, Lübeck 1931, S. 4f.; Walter Hansen, Herman Wirth als „Wissenschaftler“ und „Religionsstifter“. Wirths unmögliche Wissenschaft – Wirths unmögliches Urchristentum, in: Auf neuem Pfad 13 (1934) 1/2, S. 1–20. 11 Vgl. Michael Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, München 20062, S. 13; Gugenberger, Wirth, S. 82.

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12 Herman Wirth, Was heißt deutsch? Ein urgeistesgeschichtlicher Rückblick zur Selbstbesinnung und Selbstbestimmung, Jena 1931, S. 55f. Vgl. Ingo Wiwjorra, In Erwartung der „Heiligen Wende“ – Herman Wirth im Kontext der völkisch-religiösen Bewegung, in: Clemens Vollnhals (Hg. u.a.), Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 2012, S. 399–416. 13 Vgl. Hermann Langer, Der Mann, der mit den Medien tanzte. Zum Wirken Herman Wirths in Mecklenburg 1932/33, in: Zeitgeschichte regional. Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern 7 (2003) 2, S. 30–42; Daniel Nösler, Forschungsinstitut für Geistesurgeschichte Bad Doberan (siehe Beitrag in diesem Handbuch). 14 Ingo Wiwjorra, Willy Pastor (1867–1933) – Ein völkischer Vorgeschichtspublizist, in: Michael Meyer (Hg.), „… Trans Albim Fluvium“. Forschungen zur vorrömischen, kaiserzeitlichen und mittelalterlichen Archäologie. Festschrift für Achim Leube, Rahden/Westf. 2001, S. 11–24. 15 Ulrich Nanko, Die deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung, Marburg 1993, zu Wirth S. 125–127 passim. 16 Vgl. Kater, Ahnenerbe, S. 11–16; Wirths Tätigkeit. In: Wort und Tat 10 (1934) 2, S. 48f. 17 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1930. Hier zitiert nach der 13.–16. Aufl., München 1933, S. 27, 135f. 18 IfZ, MA 596, S. 317, Rosenberg an Rust vom 7.3.1934. 19 Sibylle Mulot, Wodin, Tunis und Inka. Die Ura-Linda-Chronik, in: Karl Corino (Hg.), Gefälscht. Betrug in Politik, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik, Frankfurt a. M. 1990, S. 263–275; Peter Davies, ‚Männerbund‘ and ‚Mutterrecht‘: Herman Wirth, Sophie Rogge-Börner and the Ura-LindaChronik, in: German Life and Letters 60 (2007), S. 98–115. 20 Johann von Leers war mit Wirths Anschauungen bestens vertraut und leitete die 1933 gegründete Gesellschaft für Germanische Ur- und Vorgeschichte mit ihrer Zeitschrift Nordische Welt. Die Gesellschaft, die sich anfangs ganz den Wirth’schen Ansichten verschrieben hatte, stand faktisch in der Nachfolge der nach 1933 nicht mehr in Erscheinung tretenden Herman-Wirth-Gesellschaft. 21 Luitgard Löw, Völkische Deutungen prähistorischer Sinnbilder. Herman Wirth und sein Umfeld, in: Uwe Puschner (Hg. u.a.), Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 214–232. 22 IfZ, ZS/A-25/5, S. 89–91, Der Brief Wirths an Himmler vom 5.12.1938 mit besagter Formulierung ist nicht authentifiziert. Vgl. die parteinehmende Dokumentation von Roland Häke, Der Fall Herman Wirth – 1978–1981 im Landkreis Kusel – oder: Das verschüttete Demokratiebewußtsein, Frauenberg b. Marburg 1981, S. 33–36, 304. 23 Kater, Ahnenerbe, S. 41, 63f. 24 Eduard Gugenberger u.a., Mutter Erde, Magie und Politik. Zwischen Faschismus und neuer Gesellschaft, Wien 19872, S. 117–128. 25 Vgl. Häke, Der Fall Herman Wirth. 26 Siehe http://www.ur-europa.de (letzter Zugriff: 31.1.2016). 27 Luitgard Löw, Völkische Deutungen prähistorischer, S. 224–226.

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Reinhard Wittram Reinhard Wittram war der einflussreichste deutschbaltische Historiker von den 1930er Jahren bis weit in Nachkriegszeit. Er wurde am 27. Juli (jul. Kalender) / 9. August 1902 in Bilderlingshof, Livland, Russländisches Reich (heute: Bulduri, Lettland) geboren. Er stammte aus einer bürgerlichen deutschbaltischen Familie in Riga, sein Vater war Rechtsanwalt und einer der Initiatoren der in der Revolution von 1905 gegründeten „Deutschen Vereine“, die eine nationale Vergemeinschaftung der deutschen Bevölkerung in den russländischen Ostseeprovinzen anstrebten. Als Abiturient schloss sich Wittram kurzfristig der im November 1918 gebildeten Baltischen Landeswehr an,1 die gegen bolschewistische Truppen und lettische Verbände kämpfte und im Juni 1919 von den vereinigten estnischen und lettischen Einheiten bei Wenden (Cēsis) geschlagen wurde. Wittram rekurrierte später wiederholt auf die nationalen Lehren für die deutschbaltische Bevölkerung aus diesen Erfahrungen. Von 1920 bis 1925 studierte er in Jena und Tübingen Geschichte und wurde bei dem deutschbaltischen Historiker Johannes Haller, der 1932 zur Wahl der NSDAP aufrief,2 in Tübingen mit einem mediävistischen Thema promoviert. Wittram kehrte dann nach Riga zurück und wandte sich dort der neueren Geschichte zu. 1928 habilitierte er sich am Herder-Institut in Riga, einer deutschen, privaten Hochschule, mit einer Arbeit über deutschbaltische Politik im 19. Jahrhundert. Wittram lehrte dann am Herder-Institut bis zur Umsiedlung der deutsch-baltischen Bevölkerung Ende 1939, zunächst als Privatdozent und ab 1935 als Professor. Von 1935 bis 1938 war er in den Sommersemestern auf Vermittlung durch →Albert Brackmann Gastprofessor an der Universität Göttingen. Seit 1934 agierte Wittram auch als Mittelsmann zur NOFG und machte sich für die Auseinandersetzung mit lettischen Historikern in der Ulmanis-Ära stark.3 Aus diesem „wissenschaftspolitischen“ Impuls ging die Publikation Baltische Lande hervor.4 Zugleich war Wittram in Riga als Herausgeber deutschbaltischer Zeitschriften publizistisch tätig. Namentlich in den Baltischen Monatsheften,5 die er von 1928 bis 1934 redigierte, setzte sich Wittram am deutlichsten unter den deutschbaltischen Historikern für eine volksgeschichtliche Reinterpretation der baltischen Geschichte ein und unterstützte die von Erhard Kroeger angestrebte nationalsozialistische Neuorientierung der deutschen Minderheit. Programmatisch formulierte Wittram den Anspruch in seinem Aufsatz „Die Wendung zur Volksgeschichte“. Die Entität „Volk“ erklärte er dort zur zentralen historischen Kategorie und führte aus, es seien „die rassisch-biologischen, die geistig-seelischen Vorgänge als Hauptstück der Volksgeschichte zu sehn, und niemals werden wir die Mutterschichten des Volkes, insbesondere die bäuerliche, ausser Betracht lassen können“.6 Die historiographische Materialisierung dieser Konzeption versuchte Wittram 1934 in den „Meinungskämpfe[n] im baltischen Deutschtum“. Dort forderte er nach einer der „Zeitenwende unserer Tage“ entsprechenden „völkischen Orientierung auch der Geschichtsschreibung“, die sich vor allem in einer heftigen Kritik an der vornationalen baltischen

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Landespolitik des 19. Jahrhunderts äußerte, denn sie habe die nationale Gefährdung der Deutschbalten nicht wahrgenommen.7 Historiographisch umgesetzt hat Wittram dieses Konzept wiederholt mit einer unübersehbaren „selbstverständliche[n] nationalsozialistische[n] Grundhaltung“.8 Im →Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums schrieb er etwa von „Deutsche[n] aus bestem Blut“, die „vor mehr als 700 Jahren an der livländ. Pforte Europas die Grenzwacht bezogen“ hätten. Die Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus sei die geschichtliche Berufung der baltischen Deutschen.9 In der ersten von drei Fassungen von Wittrams „Baltischer Geschichte“10, die 1939 unter dem Titel Geschichte der baltischen Deutschen erschien, kritisierte er zunächst, dass „alle bisherigen baltischen Geschichtsdarstellungen aus deutscher Feder […] vom Lande aus[gingen]“, und setzte dagegen die volksgeschichtlichen Perspektive, denn es sei „an der Zeit, daß wir Deutschen uns von der Vergangenheit auch unseres baltischen Volksteils ein in sich zusammenhängendes Bild machen – eines Volksteils, der wie jeder andere Teil nur vom Ganzen her seinen Sinn erhält.“11 Allerdings wurde schon in den zeitgenössischen Rezensionen kritisch angemerkt, dass dieser volksgeschichtliche Anspruch nicht konsequent umgesetzt wurde, sondern es sich vielmehr um eine Landesgeschichte handelte, die sich auf das Deutschtum in der Region konzentrierte.12 Letztlich war es die Nationalisierung der deutschen Bevölkerung, die Wittram als historische wie politische Aufgabe sah. Im Zuge der nationalsozialistischen Umsiedlung der Deutschbalten, deren Urheberschaft Erhard Kroeger für sich reklamierte, war Wittram bereits Ende November 1939 nach Posen in der von Kroeger geleiteten „Einwandererberatungsstelle“ der Volksdeutschen Mittelstelle tätig und betrieb den „Wiedereinsatz“ deutschbaltischer Wissenschaftler.13 1940/41 lehrte Wittram in Innsbruck in Vertretung von →Kleo Pleyer, lehnte einen Ruf dorthin nach Pleyers Tod 1942 aber ab. Stattdessen übernahm er mit der Eröffnung der →Reichsuniversität Posen, an deren Vorbereitung er von Beginn an mitgewirkt hatte, im April 1941 den Lehrstuhl für neuere Geschichte und wurde zugleich Dekan der Philosophischen Fakultät mit weitreichendem Einfluss auf die wissenschaftliche und ideologische Ausrichtung der Reichsuniversität.14 Zudem war Wittram an zahlreichen weiteren Bestrebungen zur Institutionalisierung der →Ostforschung wie etwa der von Alfred Rosenberg 1943 initiierten Zentralstelle für Ostforschung in Posen beteiligt.15 Im Zentrum seiner Schriften seit 1940 stand zunächst die Legitimierung der „diktierten Option“ der Umsiedlung. Nur „der Führer“ könne die deutsche Volksgruppe im Baltikum „von der Verantwortung für das Land“ entbinden, schrieb er 1940.16 1942 erschien eine Reihe von Aufsätzen und Vorträgen unter dem Titel Rückkehr ins Reich.17 Zugleich war Wittram auch als Berater für Kulturpolitik im Reichskommissariat Ostland tätig und forderte etwa die Entlassung lettischer Historiker der Universität in Riga.18 Zudem hatte er engen Kontakt zum SS-Hauptamt, wo Erhard Kroeger 1944 eine „Leitstelle Russland“ leitete, und unterstützte in öffentlichen Auftritten wie in Propagandaschriften die deutsche Okkupationspolitik im östlichen Europa.19

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Im Rahmen seiner Beiträge für Publikationen der NOFG vertiefte Wittram seinen deutschtumsgeschichtlichen Blick auf die baltische Geschichte.20 Auf dem Höhepunkt nationalsozialistischer Durchdringung vollzog Wittram allerdings eine Abkehr von der zuvor propagierten Volksgeschichte und postulierte eine erneute Zuwendung zur baltischen Landesgeschichte, die freilich völkisch geprägt blieb. Deutlich zu erkennen ist das in der zweiten Ausgabe der baltischen Geschichte als „Geschichte der Ostseelande Livland, Estland, Kurland“,21 die Ende 1944 gedruckt wurde und noch vor Kriegsende erschien. Dort pries er etwa – ähnlich wie →Theodor Schieder – die ständische Ordnung als Ergebnis deutscher „Volkskräfte“ und als „eine der eindrucksvollsten geschichtlichen Bestätigungen deutscher Eigenständigkeit und deutschen Eigenrechts im Osten“.22 Insofern kann man auch von einer „baltozentrischen Variante der Volksgeschichte“ (Białkowski) sprechen. Die Existenz dieser zweiten Ausgabe erwähnten weder Wittram noch die deutschbaltischen Kollegen nach 1945. Die erneute Zuwendung zur Landesgeschichte hatte Wittram auch schon 1943 auf einer Tagung der →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft in Posen theoretisch formuliert: „Der volksgeschichtliche Standpunkt muß durch den landesgeschichtlichen ersetzt werden.“23 Für diese Kehrtwende sprach nicht nur Umsiedlung der Deutschbalten, die nun eine volksgeschichtliche Darstellung viel gegenwartsferner erschienen ließ als eine Landesgeschichte, sondern auch die Rekrutierung der baltischen Nationen im Kampf gegen die Sowjetunion. Zu diesem Zeitpunkt war eine deutsche Volksgeschichte im Baltikum als geschichtspolitisches Konzept bereits dysfunktional geworden. Nach der Evakuierung aus Posen im Januar 1945, wo er bis zum letzten Moment noch den Universitätsbetrieb aufrechterhielt,24 lehrte Wittram zunächst als Dozent an der Universität Göttingen, bis er von 1955 als bis 1970 die Professur für osteuropäische Geschichte innehatte. In Göttingen begründete Wittram zudem die Baltischen Historikertreffen, aus denen 1951 die Baltische Historische Kommission hervorging, die er bis zu seinem Tode 1973 leitete.25 Nach 1945 vertrat Wittram nachdrücklich eine landesgeschichtliche Auffassung deutschbaltischer Geschichte und unterschied sich so von vielen Historikern im Umfeld der erneuerten Ostforschung, die Genese der Rückkehr zur Landesgeschichte aus der nationalsozialistischen Osteuropapolitik nach 1941 überging er jedoch stillschweigend. Zwar thematisierte Wittram deutlicher als alle anderen Historiker aus dem Umfeld der Ostforschung seine Mitwirkung im Nationalsozialismus, allerdings mit einer „protestantischen Bußfertigkeit“26, die ein religiös-moralisches Schuldbekenntnis über die Thematisierung konkreter politischer Verantwortung stellte. Auch in der von ihrem volksgeschichtlichen Kontext entkleideten baltischen Geschichte blieb für Wittram weiterhin die deutsche Bevölkerung der Region im Mittelpunkt, was deutlich an der dritten Fassung der „baltischen Geschichte“ von 1954 zu sehen ist. Dort räumte er nun den in den „Ostseelanden beheimateten Völker[n] und volklichen Genossenschaften“27 breiteren Raum ein, betonte aber zugleich di-

Reinhard Wittram  911

vergierende Sichtweisen. Insofern kehrte Wittrams Betrachtungsweise von einer baltozentrischen Volksgeschichte zu einer deutschtumszentrierten Landesgeschichte zurück, neben die nun aber auch die Beschäftigung mit Arbeiten zur russischen Geschichte und mit methodologischen Fragen der Geschichtswissenschaft trat. Kritisch beleuchtet wurden Wittrams Positionen im Kontext der Ostforschung und seine Rolle an der Reichsuniversität Posen erst seit den 1990er Jahren.

Jörg Hackmann

1 Gert von Pistohlkors, Ethnos und Geschichtsschreibung der dreißiger und vierziger Jahre in Deutschland und Ostmitteleuropa, in: Michael Garleff (Hg.), Zwischen Konfrontation und Kompromiß. Oldenburger Symposium: „Interethnische Beziehungen in Ostmitteleuropa als historiographisches Problem der 1930er/1940er Jahre“, München 1995, S. 11–24, 17. Eine wissenschaftliche Biographie Wittrams liegt bislang nicht vor. Als biographische Skizze vgl. Błażej Białkowski, Reinhard Wittram an der „Reichsuniversität Posen“. Die Illusion einer baltischen Variante des Nationalsozialismus, in: Michael Garleff (Hg.), Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich, Bd. 2, Köln 2008, S. 353–384; sowie http://www.bbl-digital.de/eintrag/Wittram-Reinhard-Alfred-Theodor-1902– 1973/ (22.2.2017); und Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 25 (2005), Sp. 1529–1543. 2 Hans-Erich Volkmann, Von Johannes Haller zu Reinhard Wittram. Deutsch-baltische Historiker und der Nationalsozialismus, in: ZfG 45 (1997), S. 21–46, 23. 3 Eduard Mühle, Deutschbaltische Geschichtsschreibung zum livländischen Mittelalter im Kontext der politischen Entwicklungen der 1920er bis 1950er Jahre. Zwei werkorientierte Fallstudien, in: Journal of Baltic Studies 30 (1999), S. 352–390, 362f. 4 Albert Brackmann (Hg. u.a.), Baltische Lande, Leipzig 1939–1941. 5 David Feest, Abgrenzung oder Assimilation. Überlegungen zum Wandel der deutschbaltischen Ideologien 1918–1939 anhand der „Baltischen Monatsschrift“, in: ZfO 45 (1996), S. 506–543. 6 Reinhard Wittram, Die Wendung zur Volksgeschichte, in: Baltische Monatshefte 1936, S. 566–571, 570. 7 Ders., Meinungskämpfe im baltischen Deutschtum während der Reformepoche des 19. Jahrhunderts. Festschrift der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde zu Riga zu ihrer Hundertjahrfeier am 6. Dezember 1934, Riga 1934, S. VIIf. 8 Ders., Die deutsche Geschichtsforschung in den baltischen Landen. Wandlungen, Ergebnisse, Aufgaben, in: Hermann Aubin (Hg. u.a.), Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg, Bd. 20, Leipzig 1942, S. 447–460, 451; vgl. Jörg Hackmann, Contemporary Baltic History and German Ostforschung 1918–1945. Concepts, Images and Notions, in: Journal of Baltic Studies 30 (1999), S. 322–337. 9 Carl Petersen (Hg. u.a.), Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums, Breslau 1933– 1938, Bd. 2 (1936), S. 200. 10 Zu einem Vergleich der drei Versionen von 1938, 1945 und 1954 vgl. Mühle, Deutschbaltische Geschichtsschreibung; Hackmann, Contemporary Baltic History S. 322–337. 11 Reinhard Wittram, Geschichte der baltischen Deutschen. Grundzüge und Durchblicke, Stuttgart 1939, S. III. 12 In diesem Sinne Arved Baron Taube, Baltendeutsche Geschichte, in: Baltische Monatshefte (1939), S. 252–256, 253. 13 Błażej Białkowski, Utopie einer besseren Tyrannis. Deutsche Historiker an der Reichsuniversität Posen (1941–1945), Paderborn 2011, S. 103f., 180f.

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14 Roland Gehrke, Deutschbalten an der Reichsuniversität Posen, in: Michael Garleff (Hg.), Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich. Bd. 1, Köln u.a. 2001, S. 389–426, 397–399; zur Charakterisierung Wittrams in Posen vgl. auch Jan M. Piskorski, Die Reichsuniversität Posen 1941–1945, in: Hartmut Lehmann (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 1: Fächer – Milieus – Karrieren, Göttingen 2004, S. 241–272, 262–264. 15 Details bei Białkowski, Reinhard Wittram S. 370f. 16 Reinhard Wittram, Livland. Schicksal und Erbe der baltischen Deutschen, Berlin 1940, S. 90. 17 Ders., Rückkehr ins Reich. Vorträge und Aufsätze aus den Jahren 1939/1940, Posen 1942. 18 Białkowski, Reinhard Wittram S. 365f. 19 Reinhard Wittram, Der Deutsche als Soldat Europas, Posen 1943; vgl. Białkowski, Reinhard Wittram an der „Reichsuniversität Posen“, S. 368. 20 Wittram, Die deutsche Geschichtsforschung 21 Reinhard Wittram, Geschichte der Ostseelande Livland, Estland, Kurland 1180–1918. Umrisse und Querschnitte, München 1945. 22 Ebd., S. 122. 23 Zitiert nach der Mitschrift bei Rudi Goguel, Über die Mitwirkung deutscher Wissenschaftler am Okkupationsregime in Polen im zweiten Weltkrieg. Untersucht an drei Institutionen der deutschen Ostforschung, Berlin (Ost) 1964, Anhang 1, Dok. 8, S. 27. 24 Białkowski, Reinhard Wittram S. 372. 25 Klaus Neitmann, Reinhard Wittram und der Wiederbeginn der baltischen historischen Studien in Göttingen nach 1945, in: Nordost-Archiv N.F. 7 (1998), S. 11–32; Białkowski, Utopie S. 315–325. 26 Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker: Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003, S. 234 27 Reinhard Wittram, Baltische Geschichte. Die Ostseelande Livland, Estland, Kurland 1180–1918. Grundzüge und Durchblicke, München 1954, S. 8.

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Hermann Wopfner Hermann Wopfner wurde am 21. Mai 1876 als Sohn eines Kaufmannes in Innsbruck geboren.1 Als Student der Geschichte war er unter anderem Schüler Emil von Ottenthals und Josef Hirns, die ihrerseits Schüler des bekannten, in Innsbruck lehrenden Julius von Ficker waren. Sein einflussreichster Lehrer in Tirol war aber wohl der Papsthistoriker Ludwig von Pastor. Wopfner verfeinerte seine Ausbildung bei Karl Lamprecht und Gerhard Seeliger in Leipzig sowie bei Oswald Redlich und Alfons Dopsch in Wien. Schon die Dissertation Wopfners befasste sich mit jener Thematik, der er Zeit seines Lebens verhaftet bleiben sollte: Pastor hatte ihn auf Michael Gaismair aufmerksam gemacht und Wopfner somit zum Thema der Bauernerhebungen von 1525 gebracht. Im Jahr 1900 promovierte Wopfner mit einer Arbeit zum Bauernkrieg in Deutschland zum Doktor der Philosophie.2 Die Beschäftigung mit der Wirtschaftsgeschichte der Bauern leitete ihn schließlich zur Rechtsgeschichte des Bauernstandes und auch zum Studium der Rechtswissenschaften, das er neben seiner im Jahr 1900 begonnenen Tätigkeit als Archivbeamter im Innsbrucker Statthaltereiarchiv betrieb und im Jahr 1909 in Tübingen mit dem Doktortitel abschloss. Dafür hatte er bei Siegfried Rietschel eine 1903 erschienene Publikation zur Geschichte der freien bäuerlichen Erbleihe eingereicht.3 Mit dieser Arbeit sowie einer ergänzenden Untersuchung über das Freistiftrecht hatte sich Wopfner 1904 an der Innsbrucker Universität im Fach Wirtschaftsgeschichte habilitiert und erhielt nach dem Erscheinen seiner Studie zum Almenderegal der Tiroler Landesfürsten im Jahr 1906 auch eine Venia für Österreichische Geschichte.4 Am 2. Januar 1909 wurde er von der Innsbrucker Philosophischen Fakultät nach dem Abgang von Hans von Voltelini nach Wien zum außerordentlichen Professor für Österreichische Geschichte ernannt und mit 1. Juli 1914 zum ordentlichen Professor für Österreichische Geschichte und Wirtschaftsgeschichte berufen.5 Bereits 1904 war Wopfner dem Akademischen alpinen Verein beigetreten, der sich neben dem Alpinismus auch der Heimatpflege verpflichtet sah.6 Hier knüpfte Wopfner Freundschaften fürs Leben, etwa mit dem Historiker Karl Dörrer, dem Mediziner Wilhelm Berger oder dem Philosophen Richard Strohal. Im Ersten Weltkrieg diente er als Offizier in der k. k. Armee. Die Abtrennung Südtirols aufgrund der Niederlage Österreich-Ungarns empfand Wopfner als schmerzhaft. Ausgehend von der Ansicht, dass die erzwungene Teilung Tirols 1918/ 19 als „Unrecht“ anzusehen sei, trat er in seinen Arbeiten für die Überwindung des „Friedensdiktats von 1919“ ein.7 Zusammen mit weiteren Innsbrucker Historikern versuchte er daher, die Annexion Südtirols durch Italien mit wissenschaftlichen Mitteln zu bekämpfen, indem er das „Deutschtum“ in diesem Teil Tirols erforschte.8 Zur Verbreitung der Erforschung der tirolischen Geschichts-, Volks- und Heimatkunde gab er ab 1920 im Innsbrucker Verlag Tyrolia die Zeitschrift „Tiroler Heimat. Beiträge zu ihrer Kenntnis und Wertung“ heraus, die ab Heft 7 des Jahrganges 1928 mit dem Untertitel „Zeitschrift für Geschichte und Volkskunde Tirols“ unter Mitarbeit der Ko-Herausgeber Karl Klaar, Karl Moeser sowie Otto Stolz erschien. Wie fast alle

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seine Fachkollegen im Land trat auch Wopfner nach 1918 für den Anschluss Österreichs an Deutschland ein.9 Der Gründung der Ersten Republik ohne Mitwirkung der Länder stand Wopfner als vehementer Verfechter des Föderalismus und der „alten“ Länderrechte skeptisch gegenüber. Im Zentralismus der Kelsenschen Verfassung sah er eine Entrechtung der Länder und eine Bedrohung nicht nur ihrer politischen, sondern auch ihrer kulturellen Eigenständigkeit. Der Reichtum österreichischen Kulturlebens beruhte für Wopfner aber gerade in der kulturellen Mannigfaltigkeit der Länder und deren historischer Genese.10 1923 betrieb er beim Unterrichtsministerium in Wien die Errichtung eines Landeskundlichen Instituts mit der Begründung, dass der Unterricht der Lehramtskandidaten mehr an die „Heimat“ und deren Geschichte angeknüpft werden solle. Im November dieses Jahres wurde die Errichtung des Instituts für geschichtliche Siedlungs- und Heimatkunde der Alpenländer als „Annex der Lehrkanzel Professor Wopfners und in organischer Verbindung mit derselben“ genehmigt. Wopfner wurde zum Vorstand und →Adolf Helbok zur wissenschaftlichen Hilfskraft bestellt.11 Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte Wopfner damit begonnen, Tirol zu durchwandern und volkskundliche Aufzeichnungen anzufertigen.12 Sein Vorbild dabei war der konservative deutsche Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl und dessen „Wanderbuch“.13 Wopfner ging bei diesen Wanderungen zwar systematisch vor, indem er einen ausgedehnten Fragebogen abarbeitete, den er auch Geistliche und Lehrer ausfüllen ließ.14 Eine erste Zusammenfassung seiner bisherigen heimat- und volkskundlichen Arbeiten veröffentlichte Wopfner 1927 unter dem Titel Tirolische Volkskunde in dem von Michael Haberlandt herausgegebenen Sammelwerk Österreich, sein Land und seine Kultur.15 Eine umfassendere Studie zur selben Thematik verfasste Wopfner für das vom Deutschen und Österreichischen Alpenverein herausgegebene zweibändige Werk Tirol, Land und Natur, Volk und Geschichte.16 Beide Darstellungen sind, ebenso wie das später entstandene „Bergbauernbuch“, mit Fotografien ausgestattet, die Wopfner auf seinen Wanderungen angefertigt hatte. In Referaten und Schriften trat Wopfner ab 1933 offen gegen den „autoritären Kurs“ der österreichischen Regierung auf, der er Demokratiefeindlichkeit vorwarf. Dem stellte er in volksbildnerisch gehaltenen Schriften und Referaten die Eigenständigkeit und Freiheit des Tiroler Bauerntums entgegen.17 Als Resultat dieser Oppositionshaltung entwickelte Wopfner den Plan, Vergangenheit und Gegenwart des Tiroler Bauerntums in einem größeren Werk unter dem Titel Von der Ehre und Freiheit des Tiroler Bauerntums zusammenzufassen. Als erster Teil dieses Vorhabens erschien 1934 das Bändchen Von der Freiheit des Landes Tirol.18 Wopfners wissenschaftlicher Ansatz stand der Volkstumsforschung nahe. Dieser war es in Deutschland und Österreich ab den 1920er Jahren gelungen, der traditionellen Historiographie mit ihrer auf Staat und einzelne Persönlichkeiten gerichteten Ereignisgeschichte, Ansätze einer „ethnozentristischen Identitätsstiftung“ entgegenzusetzen. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stand das Volk als Träger

Hermann Wopfner  915

der Geschichte. Die Volksgeschichte versuchte, ‚das Wesensmäßige‘ und ‚das Wahrhafte‘ im Volk aufzudecken.19 Wopfners Interesse am Volk galt vor allem den Bergbauern. Bei ihnen vermeinte er die „tirolische Eigenart“ am ausgeprägtesten erkennen zu können. Das „Wesen der Tiroler Bauern“ sah er vorwiegend durch die Umwelt und weniger durch seine „Rassenelemente“ bestimmt. In der Abgeschiedenheit und der Autarkie der Bergbauern glaubte er die Gründe für deren ausgeprägteres wirtschaftliches und geistiges Selbstbewusstsein zu erkennen. Wopfner hob das „Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit“ hervor, das den Bergbauern auf seinem „geschlossenen Hof“ vom Talbauern unterschied.20 Eine Zusammenfassung dieser Gedanken publizierte Wopfner 1937 unter dem Titel Der Tiroler in dem von Martin Wähler herausgegebenen Sammelband Der deutsche Volkscharakter, der auch Beiträge von Josef Dünninger, Will Erich Peuckert, Adolf Spamer oder Leopold Schmidt enthielt.21 Mit seinen volksgeschichtlichen Ansätzen war Wopfner für den aufkommenden Nationalsozialismus durchaus kompatibel. Seit den 1920er Jahren stand er als Wissenschaftler in ständigem Kontakt mit Volkstumsforschern in Deutschland und einschlägigen Einrichtungen wie etwa der in Leipzig nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gegründeten →Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung.22 Im Juni 1938 begleitete Wopfner den Heidelberger Volkskundler Eugen Fehrle auf einer Lehrwanderung durch Westtirol. Hierbei gab es offenbar keine größeren wissenschaftlichen Auffassungsunterschiede. Ganz im Einklang mit den Vorstellungen des Gauleiters Franz Hofer gutachtete Wopfner für die Beibehaltung des Tiroler Höfegesetzes von 1900, das vom Reichserbhofgesetz abgelöst werden sollte.23 In seiner außeruniversitären Vortragstätigkeit war Wopfner durch die Nationalsozialisten eingeschränkt worden. Seiner Professur wurde er aber nicht enthoben. 1941 suchte er fünf Jahre vor Erreichen der Altersgrenze aus Krankheitsgründen sowie mit der Begründung, sich in Hinkunft nur mehr der wissenschaftlichen Forschung zuzuwenden und eine größere Arbeit zur Tiroler Volkskunde abschließen zu wollen, um Entpflichtung von der Lehrtätigkeit und Versetzung in den Ruhestand an.24 Nach der Entpflichtung Wopfners wurde dessen Lehrkanzel geteilt. Auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Volkskunde wurde mit 1. Oktober 1941 sein ehemaliger Schüler Adolf Helbok bestellt, der seit 1935 in Leipzig auf dem ehemaligen Lehrstuhl von Karl Lamprecht gewirkt hatte.25 Die bisherige Lehrkanzel für Österreichische Geschichte und Allgemeine Wirtschaftsgeschichte wurde auf Wunsch des Rektors →Harold Steinacker in „Geschichte und Wirtschaft des Alpenraumes“ umbenannt und im Februar 1942 mit Wirkung vom 1. Dezember 1941 mit Franz Huter als außerordentlichen Professor besetzt. Zugleich fungierte Huter als Direktor des Instituts für Geschichte und Landeskunde des Alpenraumes.26 Nach 1945 hatte Wopfner betont, dass er aus politischen und persönlichen Gründen den Nationalsozialismus abgelehnt habe. Verstärkt wurde seine Abnei-

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gung durch die Art des Vorgehens der Nationalsozialisten gegen seinen Neffen Kurt Schuschnigg, dem letzten österreichischen Bundeskanzler vor dem „Anschluss“. Wopfner emeritierte 1946 nach österreichischem Recht, wurde aber, da politisch unbelastet im Sinne des Verbotsgesetzes, bis 1949/50 mit der Supplierung des nach der Absetzung von Adolf Helbok vakanten Lehrstuhles für Volkskunde betraut.27 Diese Stellung gab Wopfner Gelegenheit, seine wissenschaftliche Nachfolge zu regeln. Als Fakultätsreferent verfasste er eine umfangreiche Stellungnahme zum Besetzungsvorschlag der Lehrkanzel für Volkskunde, auf den Karl Ilg unico loco gesetzt wurde.28 Die letzte und zugleich umfangreichste wissenschaftliche Arbeit Wopfners nach dem Zweiten Weltkrieg war das „Bergbauernbuch“.29 In dieses hatte Wopfner so viel Inhalt hineingepackt, dass er zu Lebzeiten nicht mehr in der Lage war, die bereits als Manuskript vorliegenden Werkteile zu veröffentlichen. Beinahe alle seine publizierten Werke flossen inhaltlich in das „Bergbauernbuch“ ein, und darüber hinaus noch all seine Erfahrungen, die er bei seinen Wanderungen während knapp vier Jahrzehnten machen konnte. Wopfner hatte noch vor seinem Tod über 700 Seiten in drei Bänden veröffentlicht, das in den Jahren 1995 bis 1997 erschienene Gesamtwerk ist fast dreimal so umfangreich. Auf Anraten des Agrarhistorikers →Günther Franz hatte der Herausgeber Nikolaus Grass das „Bergbauernbuch“ in seiner vorliegenden Form als Quelle der Agrargeschichtsschreibung belassen.30 Mit dem ständigen Wohnsitz auf dem „Unteren Plumeshof“ in der Nähe von Innsbruck ab 1930 verstärkte sich seine innige Verbundenheit mit dem Bergbauerntum. Auf dem einige Jahre zuvor erworbenen Hof lebte und arbeitete der Junggeselle bis zu seinem Tod im Jahr 1963, teilweise unter Verrichtung schwerer körperlicher Arbeiten, die er als Selbsterfahrung bäuerlicher Tätigkeiten ansah.31 Am 10. Mai 1963 verstarb Hermann Wopfner im 87. Lebensjahr an den Folgen eines Unfalles, den er sich bei der Holzarbeit zugezogen hatte. In den Nachrufen wurde er als „eine der markantesten Tiroler Gelehrtenpersönlichkeiten“, als „großer Historiker und Volksforscher“ sowie als „Altmeister der bäuerlichen Wirtschaftsund Rechtsgeschichte sowie der historischen Volkskunde“ gewürdigt.32

Wolfgang Meixner/Gerhard Siegl

1 Vgl. Franz Huter, Nachruf Hermann Wopfner mit Schriftenverzeichnis, in: Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 113 (1963), S. 449–464; Nikolaus Grass, Hermann Wopfner und das „Bergbauernbuch“, in: Hermann Wopfner, Bergbauernbuch. Von Arbeit und Leben der Tiroler Bergbauern, 1. Band: Siedlungs- und Bevölkerungsgeschichte. I.-III. Hauptstück (hg. v. Nikolaus Grass), Innsbruck 1995, S. VII-XXIV; Hermann Wopfner, Selbstdarstellung, in: Nikolaus Grass (Hg.), Österreichische Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, I. Bd., Innsbruck 1950, S. 157–201. 2 Vgl. Universitätsarchiv Innsbruck (UAI), Akten der Philosophischen Fakultät, Reihe „Dissertationsgutachten 1873–1965“, Dissertationsgutachten Hermann Wopfner. Der Teil seiner Dissertation,

Hermann Wopfner  917

der sich mit der Geschichte des Innsbrucker Landtages von 1525 befasste, erschien gedruckt in der Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg 3 (1900) 44, S. 85–153. 3 Vgl. Universitätsarchiv Tübingen (UAT) 189/411. Vgl. Hermann Wopfner, Beiträge zur Geschichte der freien bäuerlichen Erbleihe Deutschtirols im Mittelalter, Breslau 1903. 4 Vgl. Hermann Wopfner, Das Almenderegal der Tiroler Landesfürsten, Forschungen zur inneren Geschichte Österreichs 3, Innsbruck 1906; ders., Das Tiroler Freistiftrecht. Ein Beitrag zur Geschichte des bäuerlichen Besitzrechtes, Innsbruck 1905 und 1906, S. 245–299, 1–60. Vgl. UAI, Akten der Philosophischen Fakultät, Reihe „Habilitationsakten 1849–1945“, Habilitationsakt Hermann Wopfner. 5 Vgl. Gerhard Oberkofler, Die geschichtlichen Fächer an der Philosophischen Fakultät der Universität Innsbruck 1850–1945, Innsbruck 1969, S. 117–122, 128, 135–136. 6 Vgl. Walter Klier (Bearb.), Berg und Tal. Akademischer Alpiner Verein Innsbruck 1900–2000. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen, Innsbruck 2000. 7 Vgl. Wopfner, Vorwort, in: ders., Bergbauernbuch, S. 8. 8 Kritisch dazu Reinhard Johler, Geschichte und Landeskunde: Innsbruck, in: Wolfgang Jacobeit (Hg. u.a.), Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien u.a. 1994, S. 451f.; Michael Wedekind, „Völkische Grenzlandwissenschaft“ in Tirol (1918–1945). Vom wissenschaftlichen „Abwehrkampf“ zur Flankierung der NS-Expansionspolitik, in: Geschichte und Region / Storia e regione 5 (1996), S. 227–265. 9 Vgl. Hermann Wopfner, Bemerkungen zum Problem der Wiedervereinigung Österreichs mit Deutschland, in: Bayrischer Kurier (1929), Nr. 348 und 553. Vgl. dazu auch Michael Gehler, Der Hitler-Mythos in den „nationalen“ Eliten Tirols, dargestellt an Hand ausgewählter Biographien am Beispiel der Südtirolfrage und Umsiedlung, in: Geschichte und Gegenwart 9 (1990), S. 279–315. 10 Vgl. Wopfner, Selbstdarstellung, S. 194. 11 Vgl. Oberkofler, Fächer, S. 149–150. Ein eigenes „Institut für Volkskunde“ wurde erst 1942 eingerichtet, nachdem 1941 aus Leipzig Adolf Helbok auf den neu geschaffenen „Lehrstuhl für Volkskunde (und Volkstumsgeschichte)“ berufen worden war. 12 Vgl. Hermann Wopfner, Anleitung zu volkskundlichen Beobachtungen auf Bergfahrten, Beiträge zur Jugend- und Heimatkunde 4, Innsbruck 1927. 13 Wilhelm Heinrich Riehl, Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik, Bd. 4: Wanderbuch, Stuttgart 1869. 14 Vgl. Hermann Wopfner, Merkblatt zu heimatkundlichen Beobachtungen, in: Tiroler Heimat. Jahrbuch für Geschichte und Volkskunde 3/4 (1923), S. 84–94. 15 Vgl. Hermann Wopfner, Tirolische Volkskunde, in: Michael Haberlandt (Hg.), Österreich, sein Land und seine Kultur, Wien u.a. 1927, S. 332–354. 16 Vgl. Hermann Wopfner, Entstehung und Wesen des tirolischen Volkstums, in: Hauptausschuss des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins (Hg.), Tirol, Land und Natur, Volk und Geschichte, 1. Bd., München 1933, S. 139–206; Neuauflage mit einem Vorwort von Adolf Leidlmair als Band 46 der Tiroler Wirtschaftsstudien, Innsbruck 1994, S. 1–172. 17 Vgl. Liselotte Schneider/Anton Dörrer, Verzeichnis der Veröffentlichungen Hermann Wopfners aus der Zeit von 1900 bis Ende 1946, in: Anton Dörrer (Hg. u.a.), Volkskundliches aus Österreich und Südtirol. Hermann Wopfner zum 70. Geburtstag dargebracht, Österreichische Volkskultur, Wien 1947, S. 326–327. 18 Vgl. Hermann Wopfner, Von der Ehre und Freiheit des Tiroler Bauernstandes. I. Teil: Von der Freiheit des Landes Tirol, Innsbruck 1934. 19 Kritisch dazu vgl. Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993; Herbert Fürst, Von der Deutschtümelei zum Deutschnationalismus, von der Volksgeschichte zum Volkstums-

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kampf. Kämpfende Wissenschaft im Dienst nationalsozialistischer Politik für den deutschnationalen Kultur- und Volkstumskampf in Südosteuropa, phil. Diss. Universität Wien, Wien 2012; vgl. zu Wopfners bevölkerungs- und volkshistorischen Ansätzen zuletzt Alexander Pinwinkler, Historische Bevölkerungsforschungen. Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 2014, S. 186– 193, S. 200–203. 20 Vgl. Wopfner, Entstehung, S. 16–22. 21 Vgl. Wopfner, Der Tiroler, in: Martin Wähler (Hg.), Der deutsche Volkscharakter. Eine Wesenskunde der deutschen Volksstämme und Volksschläge, Jena 1937, S. 356–375. Kritisch dazu vgl. Hans Trümpy, „Volkscharakter“ und „Rasse“. Zwei fatale Schlagworte der NS-Volkskunde, in: Helge Gerndt (Hg.), Volkskunde und Nationalsozialismus. Referate und Diskussionsbeiträge einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde München, 23. bis 25. Oktober 1986, München 1987, S. 169–177. 22 Vgl. Oberkrome, Volksgeschichte, S. 29–30 und S. 37–38. 23 Vgl. Wolfgang Meixner/Gerhard Siegl, Bergbauern im Tourismusland. Agrargeschichte Tirols im 20. Jahrhundert, in: Ernst Bruckmüller (Hg. u.a.), Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft im 20. Jahrhundert. Bd. 2: Regionen – Betriebe – Menschen, Wien 2003, S. 159–160. 24 Vgl. Peter Goller, „… natürlich immer auf wissenschaftlicher Ebene!“. Mystifikationen. Die geisteswissenschaftlichen Fächer an der Universität Innsbruck im Übergang von Nazifaschismus zu demokratischer Republik nach 1945, Innsbruck 1999, S. 187–188. 25 Vgl. Johler, Volksgeschichte: Adolf Helboks Rückkehr nach Innsbruck, in: Jacobeit (Hg. u.a.), Völkische Wissenschaft, S. 541–547; Martina Pesditschek, Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein ‚Stürmer und Dränger‘“, in: Karel Hruza (Hg.) Österreichische Historiker. Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Bd. 3 [im Erscheinen]. 26 Vgl. Oberkofler, Fächer, S. 156; Goller, Ebene, S. 82–88. 27 Wopfner hatte sich in einem Gutachten im Dezember 1945 vergeblich für die Entlastung seines einstigen Mitarbeiters eingesetzt. Vgl. Plumeshof/Natters, 4. Dezember 1945, Gutachten über Adolf Helbok, in: Goller, Ebene, S. 179–181. 28 Ilg wurde vorerst nur zum außerordentlichen Professor ernannt und erst 1961 zum ordentlichen Professor berufen. Vgl. Goller, Ebene, S. 190–194. 29 Vgl. Wolfgang Meixner/Gerhard Siegl, Erwanderte Heimat. Hermann Wopfner und die Tiroler Bergbauern, in: Ernst Bruckmüller (Hg. u.a.), Agrargeschichte schreiben. Traditionen und Innovationen im internationalen Vergleich, Innsbruck 2004, S. 228–239. 30 Diesen Quellenwert betonen auch einige Rezensenten so etwa Michael Pammer, Bergbauern, in: Historicum. Zeitschrift für Geschichte Frühling (1997), S. 35–38; Roman Sandgruber, Hermann Wopfner. Bergbauernbuch, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 84 (1997) 4, S. 597–598; sowie ebd., 86 (1999), S. 428–430, Erich Landsteiner, Hermann Wopfner, in: Unsere Heimat. Zeitschrift des Vereines für Landeskunde von Niederösterreich 69 (1998), S. 58–60; Hugo Penz, Hermann Wopfner und sein Bergbauernbuch, in: Tiroler Heimat. Jahrbuch für Geschichte und Volkskunde 62 (1998), S. 187–200; Olaf Bockhorn, Wopfner Hermann: Bergbauernbuch, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde N.S. 54 (2000) 3, S. 395–397. 31 In den Sommermonaten waren seine Schwester Anna und deren Gatte Art(h)ur von Schuschnigg langjährig zu Gast. 32 Vgl. Amtsblatt der Landeshauptstadt Innsbruck 26 (1963) 5, S. 2; Dolomiten vom 14.5.1963, S. 5; Österreichische Hochschulzeitung 15 (1963) 12, S. 3.

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Wilhelm Wostry Wilhelm Wostry wurde am 14. September 1877 im nordböhmischen Saaz (Žatec) als Sohn eines Beamten geboren.1 Dort besuchte er die Volksschule und das Gymnasium und studierte anschließend Geschichte und Geographie an der Deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag. Zeitlebens der Musik zugetan, trat Wostry der Prager deutschen Universitätssängerschaft Barden bei. Seine prägenden akademischen Lehrer waren Emil Werunsky und Adolf Bachmann, bei dem er 1904 promovierte.2 1905 heiratete er Friedricke Lanzer. Zur Weiterbildung nahm er von 1907 bis 1909 am 27. Ausbildungskurs des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung in Wien teil, den er als außerordentliches Mitglied abschloss. Anschließend kehrte er nach Prag zurück, wo er sich 1913 in Österreichischer Geschichte habilitierte. Nach Ausbruch des Weltkrieges kämpfte er an der Ostfront und geriet im August 1914 in russische Gefangenschaft (Sibirien), aus der er 1920 entlassen wurde. Seitdem litt er unter einer angegriffenen Gesundheit, begann aber noch im selben Jahr mit der Lehrtätigkeit an der Deutschen Universität Prag. 1922 zum außerordentlichen Professor für Tschechoslowakische Geschichte befördert, stieg er 1927 zum ordentlichen Professor und 1928 zum Ordinarius auf. Dem damaligen deutschböhmisch-akademischen Milieu gemäß, vertrat er einen deutschtumszentrierten Nationalismus, so in einer Rede 1924: „[…] einmal kommt der Tag, wo alle Deutschen in einem einigen, großen Deutschen Reiche zusammenstehen werden und wo der Ruf ‚Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt‘ endlich, endlich Wahrheit wird!“3 Von 1933 bis 1935 amtierte er als Dekan und Prodekan seiner Fakultät. Allerdings blieb ihm eine turnusmäßig zustehende Rektoratszeit 1938/39 wegen seiner politischen Mäßigung verwehrt. 1922 hatte Wostry die Redaktion der Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen (VGDB) übernommen und wurde 1927 in dessen Vorstand gewählt. Damit wirkte er in führender Position im wichtigsten außeruniversitären deutschen Geschichtsverein der ČSR und nahm in Kombination mit seiner Professur die führende Stelle unter den deutschböhmischen Historikern ein. 1937 wurde ihm die Festschrift Heimat und Volk dargebracht.4 Wostry wurde in folgende Ämter gewählt: ordentliches Mitglied und später Obmann der philosophisch-historischen Klasse der Deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und Künste für die Tschechoslowakische Republik (ab 1941: Deutsche Akademie der Wissenschaften in Prag), außerordentliches Mitglied der Königlich böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften und korrespondierendes Mitglied der Akademien der Wissenschaften in Göttingen und in München. 1932 nahm Wostry an einer im oberösterreichischen Linz veranstalteten Tagung der Teilredakteure (für die Alpenländer) des →Handwörterbuchs des Grenz- und Auslanddeutschtums teil. Er war für das Kapitel „Deutscher Volks- und Kulturboden in der Tschechoslowakei“ beziehungsweise „Sudetenlande“ vorgesehen, das jedoch nie erschien, da das Handwörterbuch nicht vollständig verwirklicht wurde. Er för-

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derte die „Volksgeschichte“, die sich im benachbarten NS-Deutschland als zentrales Wissenschaftsparadigma durchgesetzt hatte, wobei eine Institutionalisierung der (sudetendeutschen) „Volksgeschichte“ in der ČSR vorläufig nicht gelang. Wostry konnte mit Unterstützung der →NOFG seit 1937 die Zeitschrift für sudetendeutsche Geschichte (ZSG) als ein neues Organ gründen, das der Konstruktion eines integrativen einheitlichen „sudetendeutschen“ Geschichtsbildes diente. Obwohl Wostry bis 1944 zum letzten Heft der (zwischenzeitlich umbenannten) Zeitschrift Herausgeber blieb, entwickelte sich diese schnell zum Sprachrohr der jüngeren und radikaleren sudetendeutschen Historikergeneration, zu der →Kurt Oberdorffer, Rudolf Schreiber und →Heinz Zatschek gehörten. In seiner universitären Tätigkeit wurde Wostry seit Mitte der 1930er Jahre laufend mit „volksgeschichtlichen“ Tendenzen konfrontiert, wenn ihn etwa jüngere Kollegen wie →Josef Pfitzner und Heinz Zatschek als Zweitgutachter für „volksgeschichtliche“ Dissertationen hinzuzogen. Er selbst betreute nur wenige Dissertationen, die „historisch-anthropologische“ oder „rassische“ Fragestellungen enthielten. 1938 übernahm Wostry die Leitung des Ausschusses zur Herausgabe der Geschichte der Prager Universität, die für das Jubiläumsjahr 1948 geplant wurde. Im April 1938 trat er Konrad Henleins Sudetendeutscher Partei bei, ein Jahr später wurde er als Parteianwärter in die NSDAP aufgenommen. Für sein ns-konformes Verhalten während der „Sudetenkrise“ erhielt er die Erinnerungsmedaille vom 1. Oktober 1938. Als Reaktion auf den „Anschluß“ Österreichs lobte er in einem Beitrag der ZSG die „Erfüllung eines alten deutschen Wunsches: Österreich ist heimgekehrt ins Reich“.5 Das Vorgehen Deutschlands gegenüber seinen östlichen Nachbarn hielt er für gerechtfertigt, forderte aber eine nationale Toleranz ein. Am selben Ort erschien eine möglicherweise von ihm verfasste Lobrede auf die Gebietsabtretung der ČSR an Deutschland im Herbst 1938, in der aber erneut die Hoffnung auf Frieden und Verständnis zwischen Deutschen und Tschechen ausgedrückt wurde.6 Die Umwälzungen von 1938 zogen unter den sudetendeutschen Eliten eine breite Akzeptanz Hitlers nach sich. Sie wollten nämlich an der Gründung des „Großdeutschen Reiches“ unter allen Umständen teilhaben, und nicht wie 1870/71 beiseite stehen. Diesem Grundkonsens folgte auch Wostry. Er, der bis 1938 die Auffassung einer weitgehenden Akzeptanz von Tschechen (und Slowaken) und ihres Staatswesens ČSR verfolgte und für eine friedliche, auf gegenseitiger Achtung der Volksgruppen beruhende Konfliktbereinigung eintrat, sollte sich ab 1938/39 binnen kürzester Zeit mit dem NS-Regime arrangieren. Er publizierte nicht nur in offiziellen NS-Organen, sondern war in auffälliger Weise bemüht, die vor 1938 entstandenen Arbeiten deutschböhmischer Historiker in die „Volksgeschichte“ NS-Deutschlands zu integrieren, um der „sudetendeutschen“ Geschichtsforschung einen führenden Platz in der deutschen Geschichtswissenschaft zu sichern. Auch wenn bei weitem nicht die gesamte, so vor allem nicht die ältere deutschböhmische Geschichtsforschung als „Volksgeschichte“ aufzufassen ist, erzeugten deren Vertreter nach 1918 ein nationalistisches Geschichtsbild unter den Sudetendeutschen, das sich schließlich mühelos

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mit der Politik des NS-Regimes in Einklang bringen ließ. Wostry war einer der „Verantwortlichen“ für diesen Revisionismus. Er wurde zum Ansprechpartner für die Machthaber im „Protektorat“. Dass er sich als weit geachtete Integrationsfigur den Nationalsozialisten anschloss, konnten diese nur als großen politischen Gewinn verbuchen, auch wenn Wostry seit 1942 krankheitshalber größere politische und organisatorische Aktivitäten vermied und Phasen der Resignation durchlebte. Problemlos von der gleichgeschalteten Prager Deutschen Karls-Universität 1939 im Dienst belassen, leitete Wostry von 1940 bis 1944 deren Historisches Seminar und gehörte dem Vorstand des Universitätsbundes an, der die „kulturellen Aufgaben“ der Universität fördern sollte. Im Protektorat „Böhmen und Mähren“ wurde der VGDB „gleichgeschaltet“ und umbenannt; seine Selbständigkeit wurde ihm aber belassen. Der Verein für Geschichte der Deutschen in den Sudetenländern mit dem Sitz in Prag änderte seine Satzungen nach dem „Führerprinzip“ und führte den „Arierparagraphen“ ein, wobei Wostry vom „Gauleiter des Gaues Sudetenland der NSDAP unter Zustimmung des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren“ und weiterer Gauleiter zum „Vereinsführer“ ernannt wurde. Im Dezember 1941 veranstaltete der VGDB eine „festliche Tagung“ und seine „Jahreshauptversammlung“ in Prag. Zu den Teilnehmern zählte Karl Hermann Frank, der „Grüße des Stellvertretenden Reichsprotektors General der Polizei SS-Obergruppenführer Heydrich“ übermittelte und „den schon in der Zeit der Republik bewährten Vereinsführer Prof. Wostry“ lobte. Dieser hielt einen entsprechenden Vortrag.7 Im selben Monat führte Wostry eine Delegation, der Baldur von Schirach angehörte, durch die Burg Karlstein (Karlštejn). 1941 war Wostry zum Ordinarius für Geschichte der Sudetenländer und zum ordentlichen Professor im Reichsdienst sowie Beamten auf Lebenszeit ernannt und auf Hitler vereidigt worden. Zudem wurde er als Direktor der Historischen Kommission der →Sudetendeutschen Anstalt für Landes- und Volksforschung des Reichsgaues Sudetenland in Reichenberg (Liberec) eingesetzt und 1942 mit deren Ackermannmedaille für kämpfende Wissenschaft ausgezeichnet. Er stand dem Kuratorium des JosephFreiherr-von-Eichendoff-Preises der Johann Wolfgang Goethe-Stiftung, der →Stiftung FVS des Hamburger Kaufmanns →Alfred C. Toepfer vor und war Mitglied im NS-Dozentenbund, im NSV-Reichskolonialbund und im NS-Reichskriegerbund. →Hans Joachim Beyer rechnete Wostry 1944 gegenüber dem SD den verlässlichen Nationalsozialisten im Umkreis der →Reinhard-Heydrich-Stiftung und unter den Prager Wissenschaftlern zu. Am 20. April 1945 floh Wostry aus Prag nach Saaz, wurde später ausgesiedelt und fand in Helfta bei Eisleben ein neues Zuhause. Eine größere wissenschaftliche Tätigkeit hat er bis zu seinem Tod am 8. April 1951 nicht mehr entfaltet. In der Mehrzahl seiner meist qualitätsvollen Arbeiten griff Wostry Themen auf, welche die politischen und kulturellen Beziehungen zwischen Böhmen und Mähren und vor allem ihrer deutschen Bewohner mit den deutschen Nachbarländern problematisierten. Er erforschte einen Zeitraum von ungefähr 1000 Jahren, was sich auch in den von ihm entweder betreuten oder begutachteten 145 Dissertationen wi-

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derspiegelte. Wostry selbst kann nicht als überzeugter Vertreter der „Volksgeschichte“ charakterisiert werden. Er blieb durch seine Geschichtsauffassung zu sehr in der Zeit vor 1918 verhaftet. Auch seine radikalsten Schriften aus der Zeit zwischen 1940 bis 1942 gehören methodologisch nicht zur „Volksgeschichte“, auch wenn sie viele politische und stellenweise rassistische Elemente enthalten. In „Das Kolonisationsproblem“8 versuchte Wostry 1922, die vom (deutschjüdischen) Historiker Bertold Bretholz aufgestellte „Urgermanentheorie“ zuvorderst anhand schriftlicher Quellen zu widerlegen. Bei der zentralen Frage: „[…] ob das Deutschtum dieser Lande [Böhmen und Mähren] überhaupt durch den Zusammenhang mit der großen Bewegung der sogenannten nord-ostdeutschen Kolonisation, die namentlich vom Ende des 12. Jahrhunderts her so viel deutschen Bodens gewann, zu erklären ist oder ob es auf weit ältere Ursprünge, auf alte Ansässigkeit aus der Zeit vor dem 9. Jahrhundert zurückzuführen ist“, wie Bretholz behauptete, kam er zu dem Ergebnis, daß „[…] nach schwächeren Ansätzen in früheren Jahrhunderten vom Ende des 12. Jahrhunderts her deutsches Volkstum in Böhmen“ entstanden sei. Wostry entzog damit einer in deutsch-völkischen und später nationalsozialistischen Kreisen beliebten Ansicht die wissenschaftliche Grundlage. Ein drastischer Perspektivenwechsel Wostrys hin zu einer politisierten Geschichte kam in dem 1940 gehaltenen Vortrag über Volksdeutsche Geschichtsbetrachtung9 zum Vorschein, der Zitate aus Hitlers Mein Kampf und eine anerkennende Diskussion der Auslassungen „des Führers“ über Geschichte und den Geschichtsunterricht enthielt. Sie endete so: „In diesen grundsätzlichen Darlegungen über den Geschichtsunterricht findet auch die Wichtigkeit der Rassenfrage ihre nachdrückliche Betonung durch den Führer.“ Dazu zitierte er Alfred Rosenberg und hob die „Volkgeschichte“ hervor, der die sudetendeutschen Forschungen und der VGDB bereits in früheren Jahren sehr nahe gestanden hätten. Die neue, auch biologistische Qualität seiner Ansichten unterstrich er in der angeblichen „Bedeutung der Rasse“ für die Geschichtsforschung und insbesondere für die „Volksgeschichte“. Wostry gehörte 1941 zu den Mitherausgebern der Festschrift Wissenschaft im Volkstumskampf10 für den überzeugten Nationalsozialisten →Erich Gierach. Die Idee, sich als Wissenschaftler in einem fast schon militärischen Kampfeinsatz zu befinden, kam im Herausgebervorwort deutlich zum Ausdruck. Wostrys politische Radikalisierung reflektiert auch seine Rechtfertigungsschrift für die Okkupation der ČSR und die Existenz des Protektorats „Germania, Teutonia, Alemannia – Bohemia“ von 1942.11 Wostry wollte beweisen, dass Böhmen ein Teil „Germaniens“ oder des Deutschen Reiches war: „Aber wie vor tausend Jahren und wie während dieser tausend Jahre lag und liegt Böhmen weiterhin im deutschen Lebensraum. […] [I]n unseren Tagen ist das uralte geschichtliche Band den Gegenwartsverhältnissen entsprechend neu geknüpft worden; wieder gilt wie einst das alte Wort: Bohemia Germaniae portio est.“ 1944 postulierte Wostry zum permanenten historischen Platz Böhmens: „Seit Karl d. Gr. reichszugehörig.“ In Die Ursprünge der Primisliden12 versuchte Wostry aufzuzeigen, dass die Přemysliden nicht als altes, aus dem Lande Böhmen stammendes Fürstengeschlecht anzusehen sei, sondern vielmehr als Land-

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fremde von außen in ihre Herrschaft eingesetzt wurden und wegen ihrer Heiraten immer mehr zu „Deutschen“ geworden waren. Das mag in gewisser Hinsicht zutreffen, hatte aber 1944/45 eine besondere Konnotation: Das ureigene tschechische Herrschergeschlecht, das die ersten böhmischen Könige hervorbrachte sowie Böhmen und Mähren zu einem politischen Gebilde einte, wuchs nicht aus der Mitte seines tschechischen Volkes hervor, sondern wurde sogar zu einem „deutschen“ Geschlecht. Diese Geschichtsauffassung sollte einen elementaren, in der tschechischen Bevölkerung bestens bekannten Baustein ihrer historischen Identität aus ihrem Fundament reißen. Eine große, traditionell konzipierte Geschichte BöhmenMährens bis 1848 konnte Wostry nicht mehr beenden, obwohl diese von offiziellen NS-Stellen als modernes deutsches Gegenstück zu František Palackýs „Geschichte der tschechischen Nation“, deren Verkauf 1941 verboten wurde, erwartet wurde.

Karel Hruza

1 Vgl. Karel Hruza, Wilhelm Wostry a Wilhelm Weizsäcker: vzorní mužové, řádní učenci a věrní vlasti synové?, in: Pavel Soukup (Hg. u.a.), Německá medievistika v českých zemích do roku 1945, Praha 2004, S. 305–352; ders., „Wissenschaftliches Rüstzeug für aktuelle politische Fragen“. Kritische Anmerkungen zu Werk und Wirken der Historiker Wilhelm Weizsäcker und Wilhelm Wostry, in: ZfO 54 (2005), S. 475–526; Nina Lohmann, Wilhelm Wostry und die „sudetendeutsche“ Geschichtsschreibung bis 1938, in: Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 44 (2004/6) S. 45–145; dies., „Eingedenk der Väter, unerschütterlich treu unserem Volke!“: Der Verein für Geschichte der Deutschen in den Sudetenländern im Protektorat Böhmen und Mähren, in: Dietmar Neutatz (Hg.), Die Deutschen und das östliche Europa. Aspekte einer vielfältigen Beziehungsgeschichte. Festschrift für Detlef Brandes zum 65. Geburtstag, Essen 2006, S. 25–46. 2 Vgl. Wilhelm Wostry, König Albrecht II. (1437–1439), Prag 1906/07. 3 Zitiert nach Harald Lönnecker, Von „Ghibellinia geht, Germania kommt!“ bis „Volk will zu Volk!“ Mentalitäten, Strukturen und Organisationen in der Prager deutschen Studentenschaft 1866–1914, in: Jahrbuch für sudetendeutsche Museen und Archive 1995–2001, München 2001, S. 34–77, 34. 4 Anton Ernstberger (Hg.), Heimat und Volk – Forschungsbeiträge zur sudetendeutschen Geschichte. Festschrift für Universitätsprofessor Dr. Wilhelm Wostry zum 60. Geburtstage, dargebracht von seinen Schülern, Brünn 1937. 5 Wilhelm Wostry, Mitteleuropa und die deutsche Frage, in: ZSG 2 (1938), S. 77–90. 6 ZSG 2 (1938), S. 292f., Mitteilung der Redaktion unter dem Titel „1938“. 7 Wilhelm Wostry, Die Entwicklung des Sudetendeutschtums zur nationalen Kampfgemeinschaft 1848–1862, Teilabdruck in: Böhmen und Mähren. Blatt des Reichsprotektors 3 (1942), S. 22–25. 8 Wilhelm Wostry, Das Kolonisationsproblem. Eine Überprüfung der Theorien über die Herkunft der Deutschen in Böhmen, Prag 1922. 9 Wilhelm Wostry, Volksdeutsche Geschichtsbetrachtung. Vortrag, gehalten in Prag, 22. Juni 1940, beim Lehrgange für Geschichtslehrer, veranstaltet vom Deutschen Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin, Zweigstelle Prag, im Auftrage des Herrn Reichsprotektors in Böhmen und Mähren, in: ZSG 4 (1940), S. 1–24. 10 Wilhelm Wostry (Hg. u.a.), Wissenschaft im Volkstumskampf. Festschrift Erich Gierach zu seinem 60. Geburtstage, Reichenberg 1941. 11 Ders., Germania, Teutonia, Alemannia – Bohemia, Prag 1943.

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12 Ders., Die Ursprünge der Primisliden, in: Zeitschrift für Geschichte der Sudetenländer 7 (1944) (Neudruck als: Prager Festgabe für Theodor Mayer, Freilassing 1953), S. 156–253.

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Walther Wüst Als enger Vertrauter Heinrich Himmlers bei der Konzeption und Durchführung der wissenschaftspolitischen Bestrebungen der SS, als stellvertretender Präsident der Deutschen Akademie, als Rektor der Universität München und in Ausübung noch einiger anderer einflussreicher Funktionen war Walther Wüst (1901–1993) zweifellos einer der tonangebenden Wissenschaftler des Dritten Reiches. Seine herausragende Rolle im nationalsozialistischen Hochschulwesen wurde unter anderem darauf zurückgeführt, dass er nicht nur ein verbohrter NS-Funktionär, sondern zugleich ein Gelehrter alter Schule gewesen sei. Wüst habe sich einer traditionellen Wissenschaftsauffassung verpflichtet gefühlt und sich, wenn auch zum Teil widerwillig, für die Belange der Universität und gegen ihre Ideologisierung eingesetzt.1 Eine solche Sicht kann beim heutigen Forschungsstand nicht aufrecht erhalten werden. Gerade Wüst ist ein schlechtes Beispiel für den Versuch einer polarisierenden Entgegensetzung von Universitätsautonomie und nationalsozialistischer Ideologie. Der Münchener Indoiranist war ein ausserordentlich anpassungsbereiter Wissenschaftler neuen, völkischen Typs. Er gelangte tatsächlich mit einer Mischung aus Bluff und Akribie ins Zentrum der Macht.2 Als Sohn eines Oberlehrers und preussischen Staatsbeamten „rein arischer Abkunft“ sei er, wie es in späteren Lebensläufen heisst, schon während seiner Schulzeit in Kaiserslautern politisch aktiv gewesen und habe am Ende des Ersten Weltkriegs bei der Abwehr separatistischer Tendenzen zur Abspaltung der Pfalz vom Deutschen Reich mitgearbeitet. Nach der Reifeprüfung im Jahr 1920 studierte Wüst an der Universität München Indische, Germanische und Englische Philologie sowie Allgemeine und Vergleichende Religionsgeschichte. 1923 promovierte er mit einer Arbeit über den Schaltsatz im Rigveda. Auch seine Münchener Habilitationsschrift über die Geschichte des altindischen Dichtstils von 1925 war eine philologische Spezialarbeit, in der er dem Problem der relativen Chronologie bei den zehn Büchern der rigvedischen Liedersammlung nachging. Das Fakultätsgutachten betonte einerseits Wüsts grossen Fleiss, um andererseits den Wunsch auszusprechen, der Habilitand solle künftig auch kulturgeschichtliche Themen aufgreifen.3 In der Tat dehnte Wüst seinen Interessenkreis in der Folgezeit auf das Gebiet der arischen Kultur- und Rassengeschichte aus, wobei er allerdings den Boden gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse mehr und mehr hinter sich liess. Das Votum der Fakultät und die Förderung, die der 25-jährige Wüst nach der Habilitation erfuhr, muss auch auf dem Hintergrund einer in der →Indologie schon seit langem geführten Diskussion über das Verhältnis von philologischer und kulturwissenschaftlicher Forschung gesehen werden. In den Kultusverwaltungen wurde nach dem Ersten Weltkrieg verstärkt darüber nachgedacht, ob angesichts der schlechten Finanzlage die Zahl reiner Sanskritprofessuren nicht reduziert werden sollte, zumal die Indologie an Überalterung litt und grosse Nachwuchssorgen hatte. Der Notwendigkeit eines stärkeren Eingehens auf die Kulturgeschichte konnte sich schliesslich niemand mehr entziehen.

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Bei einigen Wissenschaftlern verselbständigte sich dieser Gesichtspunkt dann aber dahingehend, dass sie weltanschaulichen und sogar rassenkundlichen Aspekten eine innovative Funktion bei der Modernisierung des Indologiestudiums zuschrieben. Wüst wirkte von 1926 bis 1932 als Privatdozent für Indische Philologie an der Universität München. Bei seiner Ernennung zum nichtplanmässigen und nichtbeamteten Professor im Jahr 1932 arbeitete er bereits seit acht Jahren an einem etymologischen Wörterbuch des Alt-Indoarischen, das bei der Fachwissenschaft grosse Erwartungen auslöste. Wüst selbst nährte die Hoffnung darauf, indem er immer wieder auf das angeblich kurz vor dem Abschluss stehende Werk hinwies. 1935 erschien endlich der so lange angekündigte erste Band.4 Er bestand aus 11 Seiten Text, an den sich auf 197 Seiten das Abkürzungsverzeichnis, die Bibliographie und eine überlange „Vorrede“ anschlossen, die eine Fülle unwichtiger oder gänzlich überflüssiger Information enthielt. Das Wüstsche Wörterbuch des Alt-Indoarischen charakterisiert seinen Verfasser als jemand, der Probleme mit der systematischen Verarbeitung unübersichtlicher Themenkomplexe hatte und der stattdessen seine Arbeitskraft auf das mechanische Anhäufen von Einzelinformationen konzentrierte. Ein politisches Gutachten des Dozentenbundes zählte später einige negative Charaktereigenschaften Wüsts auf, darunter einen brennenden Ehrgeiz, den Hang zu Einbildung und Hochmut sowie eine ausgeprägte Neigung zum Formalismus.5 Das trifft auch auf den Wissenschaftler Wüst zu. Seit dem Ende der zwanziger Jahre beschäftigte sich Wüst mit der ursymbolischen Forschung →Herman Wirths. Wirth glaubte an die Existenz einer früher einmal um den Atlantik herum angesiedelten arisch-nordischen Urkultur, deren Artefakte und Sinnbilder sich bis in die Gegenwart erhalten hätten. In einer umfangreichen Besprechung von Wirths Buch „Der Aufgang der Menschheit. Untersuchungen zur Geschichte und Religion, Symbolik und Schrift der atlantisch-nordischen Rasse“ setzte sich Wüst ausführlich mit der Ideenwelt Wirths auseinander.6 Wüst stimmte sowohl in der Diagnose wie in dem Willen zur weltanschaulichen Erneuerung mit Wirth überein, auch wenn ihm 1929 noch unklar war, was Wirths Begriff einer „geistigen Erbmasse“ konkret beinhaltete und ob die christliche Religion dazugehörte. Ausdrücklich wies er darauf hin, dass er seine Kritik als Beitrag zur Vervollkommnung der Wirthschen Theorie verstanden wissen wollte. 1932 wurde Wüst Mitglied im Ausschuss zur Förderung der musealen Bestrebungen Herman Wirths und im Mai 1934 verteidigte er Wirth bei einer öffentlichen Aussprache über die Authentizität der angeblich altfriesischen Ura-Linda-Chronik. Wüst wandte sich in dem Moment von Wirth ab, als er zu einer Belastung für sein weiteres Fortkommen wurde. Mehr noch, Wüst beteiligte sich massgeblich daran, dass Wirth im →Ahnenerbe der SS seinen Einfluss verlor und von Himmler schliesslich fallen gelassen wurde. Der Reichsführer SS fand wesentlich mehr Gefallen an Wüst, der ausser der Eigenschaft unbedingter Willfährigkeit auch die angestrebte wissenschaftliche Reputation einbringen konnte. Wüst schloss sich im Frühjahr 1936 dem Ahnenerbe an und wurde bereits im Oktober 1936 mit der Leitung der Ahnenerbe-Abteilung für Wortkunde be-

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traut. Die gegenseitige Wertschätzung hatte sich in Kürze so weit vertieft, dass Himmler Wüst am 1. Februar 1937 zum Präsidenten des Ahnenerbes ernannte. Im Gegenzug wurde Herman Wirth in die Stellung eines Ehrenpräsidenten verwiesen und schied im Dezember des darauffolgenden Jahres ganz aus dem Ahnenerbe aus. In der „Systemzeit“ noch ohne parteipolitische Betätigung, trat Wüst im Mai 1933 der NSDAP bei. Vermutlich wurde er von der Zentralkartei erst ab 1. Dezember 1933 geführt, als er sich auch dem nationalsozialistischen Lehrerbund anschloss. Zu Wüsts politischen Aktivposten gehörte eine ausgedehnte Vortragstätigkeit vor Parteigliederungen. Ab 1936 sprach er vermehrt vor SS-Formationen. Nichtöffentlich arbeitete er seit 1935 als Vertrauensmann für den SD und den NS-Dozentenbund. Zum 26. Januar 1937 trat er in die SS ein, um vier Tage später bei gleichzeitiger Ernennung zum Hauptsturmführer in den Persönlichen Stab Himmlers aufgenommen zu werden. Seine weitere Laufbahn in der SS führte über die Ränge eines Sturmbannführers (1937), Obersturmbannführers (1938), Standartenführers (1940) bis zum Oberführer der SS (1942), der einem zwischen Oberst und Generalmajor angesiedelten Wehrmachtsrang entsprach. Noch am 29. Juni 1944 erhielt er das Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse mit Schwertern zugesprochen. Wüsts Umorientierung auf Heinrich Himmler und die SS verlief parallel zu seinem gestiegenen Interesse am nordischen Gedanken. Mindestens genau so sehr beruhte sie aber auf einer Haltung des bedenkenlosen Opportunismus. Wüst wollte Karriere machen und sah in der SS die grössten Chancen für sich. Dafür opferte er auch seinen christlichen Glauben, denn ursprünglich war Wüst alles andere als ein „Neuheide“. Aufgewachsen in einem betont christlichen Elternhaus, gehörte Wüst seinem ganzen Denken nach dem protestantischen Milieu an.7 Seine religiösen Ansichten hatten sich aber immer mehr vom traditionellen Christentum entfernt, um sich nach 1933 in eine Art völkischen Pantheismus aufzulösen. Ausser der Bezugnahme auf den Rassegedanken und einigen mehr oder weniger willkürlich der indogermanischen Tradition entnommenen Elementen blieb Wüsts persönliche Religiosität merkwürdig konturlos. Um das religiöse Wollen der Arier zu belegen, zitierte er mindestens so oft aus den Werken Goethes wie aus dem vedischen Schrifttum. Wüst sah im „Ahnenerbe“ sicher keine Institution, deren Aufgabe etwa darin bestanden hätte, eine neue Religion zu lehren oder gar einen heidnischen Kult oder Klerikerstand herauszubilden. Ihm ging es in erster Linie um eine wissenschaftliche Begründung der arischen Weltanschauung. Wie er dabei die Religion der Arier interpretierte und welche Funktion er ihr im völkischen Staat beimass, bedürfte einer eigenen Untersuchung. Ohne Wüsts philologische Kenntnisse auf dem Gebiet des Altiranischen schmälern oder seinen Arbeitseifer herabsetzen zu wollen, ist doch festzustellen, dass seine wissenschaftliche Laufbahn im Dritten Reich entscheidend von der Bereitschaft profitierte, sich an die neuen politischen Gegebenheiten anzupassen. Als der Münchener Ordinarius für Völkerkunde Ostasiens Lucian Schermann auf Grund seiner jüdischen Abstammung im August 1933 in den Ruhestand versetzt wurde, schrieb

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Wüst sogleich am 18. Oktober an das bayerische Kultusministerium, ihn bei der Wiederbesetzung „geneigtest berücksichtigen zu wollen“, wobei er „mit Stolz“ auf seine Mitgliedschaft in der NSDAP, „der großen Erziehungs- und Gesinnungsgemeinschaft des deutschen Volkes“, hinwies.8 Dass Schermann 1926 seine Habilitation unterstützt und als Dekan das Fakultätsgutachten unterzeichnet hatte, störte Wüst wenig. Die Angelegenheit verzögerte sich aber und nahm nach der altersbedingten Emeritierung des Professors für Arische Philologie Hanns Oertel eine neue Wendung. Oertel hatte schon 1927 versucht, seinen Schüler unterzubringen und sich damals auch an den Tübinger Indologen →Jakob Wilhelm Hauer gewandt. Hauer war es nun, der sich Anfang 1935 für Wüst einsetzte und dem Wüst es hauptsächlich verdankte, dass er am 1. April 1935 mit der Vertretung der Oertelschen Lehrkanzel betraut und im Oktober 1935 zum ordentlichen Professur für Arische Kultur- und Sprachwissenschaft sowie zum Direktor eines gleichnamigen Seminars ernannt wurde. Hauer empfahl Wüst in einer Eingabe an das Reichserziehungsministerium nicht nur als einen für ein indologisches Ordinariat unbedingt qualifizierten Gelehrten. Von der philosophischen Fakultät der Universität München um eine gutachterliche Stellungnahme gebeten, lobte er ihn ausserdem als eine ausserordentlich fähige Kraft der jungen Generation, der in der Lage sei der arischen Philologie neue Wege zu weisen. Wüst bleibe nicht in der philologischen Kleinarbeit stecken, sondern betreibe eine lebendige Wesensschau des Indoarischen.9 Wüst erklärte sich seinerseits am 5. Mai 1935 dazu bereit, die von Hauer geforderte „Gleichschaltung“ der Universitätsindologie mit allen seinen Möglichkeiten zu unterstützen. Noch immer seien Gegenkräfte am Werk, Wüst sprach von nicht näher benannten Reaktionären und einer „demokratischen Clique“, so dass die nationalsozialistisch gesinnten Hochschullehrer allen Grund für eine vorausschauende Hochschulpolitik hätten. Beide kamen daher überein, ein Netzwerk gleichgesinnter NS-Indologen aufzubauen. Hauer hatte im Januar vorgefühlt, ob Wüst eventuell die Schriftleitung der Orientalischen Literaturzeitung (OLZ) übernehmen würde. Es sei nicht hinnehmbar, dass dort im Jahr 1935 noch Juden mitarbeiteten. Wüst antwortete, dass Hauer ihm aus der Seele gesprochen habe und dass er „selbstverständlich“ gerne bereit wäre, die OLZ herauszugeben: „In diesen Fragen müssten wir engste Fühlung halten wie auch in Sachen der vakant werdenden Indologie-Ordinariate. Machen Sie doch vor allem Ihren Einfluss dahingehend geltend, dass die Ordinariate wenigstens erhalten bleiben und dass sie nicht in die Hände der Juden – noch der Lüders-Clique –, fallen. Ich bin ganz bereit, mit Ihnen und meinen ganzen Verbindungen für dieses wichtige Ziel zu kämpfen.“10 Im November 1935 versandte Hauer ein Rundschreiben an alle nationalsozialistischen Indologen, in dem es programmatisch heisst: „Es muss aufhören, dass in Deutschland, wie das bisher der Fall war, Juden die Indologie betreuen.“11 Trotz der vereinbarten Zusammenarbeit kühlte die Arbeitsgemeinschaft zwischen Wüst und Hauer relativ schnell wieder ab. Nach Abschluss der Gleichschaltung und nachdem Juden, Demokraten und „Reaktionäre“ ausgeschaltet waren,

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blieben zu wenig positive Programmpunkte übrig, um ein engmaschiges und dauerhaftes Beziehungsgeflecht entstehen zu lassen. Jeder hatte seine eigene Ansicht über den Inhalt der arischen Weltanschauung und noch mehr darüber, wie sie in der Gegenwart praktisch umgesetzt werden sollte. Insbesondere stiess Hauers religiöse Propaganda bei den Indologen auf allgemeine Ablehnung. Auch Wüst empfand es als sehr unangenehm, dass Hauer mehrfach versuchte, ihn auf die Seite der Deutschen Glaubensbewegung zu ziehen. Er erblickte in Hauer nun vor allem einen Konkurrenten, der seine Machtstellung im Wissenschaftsbetrieb des Dritten Reiches beeinträchtigen könnte. So wusste es Wüst erfolgreich zu verhindern, dass Hauer im Ahnenerbe einen grösseren Einfluss erlangte. Lediglich in dem von Wüst geleiteten „→Wald und Baum Projekt“ konnte Hauer ein kleineres Forschungsvorhaben übernehmen. Umgekehrt nahm es Hauer dem 20 Jahre jüngeren Wüst übel, dass er bei der Umgestaltung des →Archiv für Religionswissenschaft Anfang 1939 nicht beteiligt wurde. Erst nach Kriegsausbruch kam es wieder zu einer Annäherung zwischen den beiden. Wüst, der sowohl dem Kriegseinsatz der Orientalistik wie dem der Indogermanistik vorstand, betraute Hauer mit einer der acht Unterabteilungen, die im Bereich der „Indogermanischen Kultur- und Geistesgeschichte“ eingerichtet wurden.12 Ein ideologischer Einfluss auf die wissenschaftliche Arbeit Wüsts zeigt sich naturgemäss weniger bei den philologischen Spezialstudien als bei den Aufsätzen und Ansprachen zu allgemeinen Themen. Von besonderem Interesse sind hier zwei Vorträge, in denen Wüst über die Geschichte und die Aufgaben der Indologie und Religionswissenschaft referierte.13 Von beiden Disziplinen verlangte er die unbedingte Unterstellung unter den völkischen Gedanken. Sie hätten ihr gesamtes Forschungsprogramm auf die Idee der Rasse abzustellen und den Belangen des nationalsozialistischen Staates unterzuordnen. Wüst drohte indirekt damit, dass jede Wissenschaft, die nicht zur Erfüllung dieser Voraussetzungen bereit wäre, ihre Existenzberechtigung aufs Spiel setzte. Ein besonders extremes Beispiel für die Politisierung von Wüsts Wissenschaftsbegriffs bot der Vortrag über „Des Führers Buch ‚Mein Kampf‘ als Spiegel arischer Weltanschauung“, den er 1936 wiederholt vor SS-Angehörigen hielt. Wüst zog in ihm eine direkte Linie von der 2.500-jährigen Vergangenheit des Ariertums zur politischen Gegenwart des Dritten Reiches. Buddha und Adolf Hitler hätten im Grunde genommen die gleichen Erfahrungen gemacht und aus ihnen die gleichen Lehren gezogen.14 Bewegten sich die vor einem akademischen Publikum gehaltenen Vorträge Wüsts über die Indologie und Religionswissenschaft noch ansatzweise im Rahmen einer wissenschaftlichen Argumentation, so hatte seine Münchener Rektoratsrede vom 5. Mai 1941 mit einem herkömmlichen Wissenschaftsverständnis nichts mehr gemein. Seine Ansprache war in der Tat ein weltanschauliches „Bekenntnis“ zum Ariertum. Die deutsche Wissenschaft nannte er eine „Zweckwissenschaft“ im „höchsten Sinn“, deren sehr irdische Aufgaben durch ihre Funktion als legitimatorische Instanz vorgegeben wurden. Fast buchstäblich folgerte Wüst die Rechtmässigkeit

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der deutschen Kriegspolitik aus der Geschichte der Indogermanen. In der Phase deutscher Siege an allen Fronten dozierte der angehende Rektor Wüst, dass der „Ausgriff“ des Dritten Reiches im Vollzug einer lebensgesetzlichen Ordnung geschehe, wie sie nur die nordische Rasse kenne. Anderen Rassen, besonders Negern und Juden, sei ein solcher Gedanke grundsätzlich fremd. „Indogermanischer Ausgriff ist weder schmarotzerhafte Ausbeute durch einen Einzelnen, wie wir es von Juden kennen, noch regellos zerflatternder Reiterausfall von Nomaden.“ Die Raubkriege der Wehrmacht erschienen in Wüsts Darlegung somit als Erfüllung eines „ewigen Lebensgesetzes letzter göttlicher Wirklichkeit“. Seine Rektoratsrede, gehalten zur Amtseinführung an einer der führenden Universitäten Deutschlands, degradierte die Wissenschaft vollständig zur Erfüllungsgehilfin des Nationalsozialismus. Sie stellt einen moralisch und intellektuell kaum zu unterbietenden Tiefpunkt der Wissenschaftsgeschichte des Dritten Reiches dar. Eine fast schon kriminelle Implikation enthielt Wüsts Behauptung, dass es von je her ein indogermanisches Lebensgesetz gewesen sei, alles Kranke, Untüchtige und Lebensfeindliche auszumerzen. Schon immer habe bei den Indogermanen ein tödlicher Hass gegen den Andersartigen geherrscht.15 Die anderthalb Jahre später erfolgte „Ausmerzung“ der Münchener Widerstandsgruppe Weisse Rose belegt zum einen, dass der Kampf gegen lebensfeindliche Mächte auch innerhalb der →Volksgemeinschaft mit letzter Konsequenz geführt wurde und zum zweiten, wie eng Theorie und Praxis miteinander zusammenhängen konnten. Das von Kurt Huber am 14. Februar 1943 verfasste letzte Flugblatt der Weissen Rose rief die Münchener Studenten unter anderem dazu auf, sich gegen die Politisierung der Wissenschaft zur Wehr zu setzen. Mit der Parole „Heraus aus den Hörsälen der SS-Unter- oder Oberführer und Parteikriecher!“ werde eindeutig „auf den Rektor der Universität SS-Oberführer Wüst gezielt“, wie der Althistoriker Richard Harder in einer für die Gestapo oder den SD bereits am 17. Februar 1943 angefertigten Expertise erklärte. Harder erstellte in diesem und in einem weiteren Gutachten eine Art Täterprofil, denn noch suchte man fieberhaft nach den Urhebern der Flugblattaktion, von der sich die NS-Führung über alle Massen provoziert fühlte.16 Dass Wüst dann am 18. Februar die beiden Studenten Sophie und Hans Scholl, die durch den Hausdiener ertappt und ihm übergeben worden waren, an die Gestapo auslieferte, hatte deshalb auch eine persönliche Note. Der nationalsozialistische Staat reagierte prompt. Das am 22. Februar ergangene Todesurteil wurde noch am gleichen Tag an den Scholl-Geschwistern vollstreckt. Kurt Huber starb am 13. Juli 1942 durch das Fallbeil, weil er den Führer „aufs gemeinste beschimpft“, die Wehrkraft zersetzt und zum „Sturz der nationalsozialistischen Lebensform“ aufgerufen habe. In seiner Eigenschaft als Rektor der Universität München hatte ihm Wüst vier Monate zuvor den Doktortitel entzogen. Kurt Huber habe sich staatsfeindlich betätigt und sich als „unwürdig erwiesen, weiter eine akademische Würde zu tragen“.17 Wie steht es nun aber umgekehrt um die sittliche Eignung und das wissenschaftliche Ethos von Walther Wüst für die Ausübung hoher und höchster Universi-

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tätsämter? Welches wäre eine angemessene Reaktion auf sein Verhalten? Als wissenschaftlicher Leiter des Ahnenerbes der SS trug Wüst auch die Verantwortung für die dort betriebene Forschung. Dazu gehörte das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung, dessen Direktor August Hirt Giftgasversuche an Lagerhäftlingen durchführte und der sich aus eigens zu diesem Zweck getöteten Insassen des KZ Auschwitz eine anthropologische Schädelsammlung anlegte. Dass Wüst als Kurator des Ahnenerbes und enger Vertrauter Heinrich Himmlers nicht eingeweiht war, ist so gut wie ausgeschlossen. Wüst wurde von Himmler auch zu einer Besprechung beigezogen, in der Sigmund Rascher am 14. Juli 1942 über seine Unterkühlungsversuche im KZ Dachau berichtete. Ausserdem sah man sich die Verfilmung der von Rascher gleichfalls mit letalem Ausgang durchgeführten Druckkammerexperimente an.18 Es kann deshalb kein Zweifel daran bestehen, dass Wüst den Begriff einer wehrwissenschaftlichen Zweckforschung in seiner ganzen Bandbreite kannte. Angesichts seiner Verstrickung in die ruchlose Politik des Nationalsozialismus war es nicht verwunderlich, dass Wüst nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches mit einer langjährigen Gefängnisstrafe rechnete. Nach der am 31. Juli 1945 in München erfolgten Entlassung wurde er in erster Instanz als Belasteter eingestuft und zu drei Jahren Arbeitslager verurteilt. In dem von ihm angestrengten Revisionsverfahren konnte er aber eine Vielzahl eidesstattlicher Erklärungen beibringen, die ihm bescheinigten, von nichts etwas gewusst zu haben und für verfolgte Kollegen eingetreten zu sein. Im Juli 1950 wurde er daher zum Minderbelasteten erklärt. Das Urteil wurde zu sechs Monaten Internierung und einer Geldstrafe von 500 DM reduziert.19 Danach arbeitete Wüst als Privatgelehrter und publizierte vor allem in der von ihm selbst gegründeten Zeitschrift Rhema. Eine alle Fakten einbeziehende Beurteilung Wüsts lässt kaum einen Spielraum, um ihn in eine irgendwie „normale“ Tradition deutscher Wissenschaft einzuordnen. Wüst muss als einer der Hauptexponenten der völkischen Wissenschaftsideologie des Dritten Reiches gelten. Dass er als führender Repräsentant der SS konkurrierenden Ansprüchen aus dem Lager Alfred Rosenbergs entgegentrat, macht aus ihm keinen Verteidiger der Hochschulautonomie oder gar einen Gegner des Nationalsozialismus, wie es die relativierende Einschätzung von Michael Kater nahe legt. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der kanadische Historiker bei den Arbeiten für seine nach wie vor unentbehrliche Studie über das Ahnenerbe der SS einem enormen Druck von Seiten seiner Informanten ausgesetzt war. Er musste damit rechnen, juristisch belangt zu werden, falls er in seinen Formulierungen auch nur ein klein wenig zu weit ging. Intern fand Kater dagegen wesentlich deutlichere Worte. In einem Schreiben an den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer bezeichnete er es als unerlässlich, Wüst vor ein ordentliches Gericht zu stellen. Seine Verantwortung bei den medizinischen Experimenten des Ahnenerbes sei unstrittig.20 Auch wenn der dann folgende Satz, dass Wüst mit genau demselben Recht hätte hingerichtet werden können, wie sein Untergebener →Wolfram Sievers, „der nur Reichsgeschäftsführer, nicht aber Kurator des ‚Ahnenerbes‘ war“, zu weit geht,

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stellt sich der Wissenschaftsgeschichte des Dritten Reiches nach wie vor die sicher nicht leichte Aufgabe, auch der kriminellen Dimension ihres Forschungsgegenstandes gerecht zu werden. Benennt man Schulen und öffentliche Plätze nach den Geschwistern Scholl, muss auch ein deutliches Wort über diejenigen gesprochen werden, die, in welcher Eigenschaft auch immer, auf der Seite der Täter standen.

Horst Junginger

1 Michael H. Kater, Das ‚Ahnenerbe‘ der SS, Stuttgart 1974, S. 56, 275, 280. Zu Wüsts Vita, ebd., S. 43ff.; davon etwas abweichend Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, Teil II, Bd. 2, München 1994, S. 216–233. 2 So Gerd Simon, Mit Akribie und Bluff ins Zentrum der Macht. Walther Wüst und das ‚Etymologische und vergleichende Wörterbuch des Altindoarischen‘, Tübingen (GIFT) 1998 (Manuskript). 3 UALMU, Personalakte Wüst O-N-7, Gutachten der Fakultät vom 10.5.1926. 4 Walther Wüst, Vergleichendes und etymologisches Wörterbuch des Alt-Indoarischen (Altindischen), Bd. 1, Heidelberg 1935. Die im Klappentext gemachte Ankündigung des Verlags, dass die Auslieferung der übrigen Bände kurz bevorstünde, erwies sich als falsch. 5 BArch, ZM 1582, A. 4, Bl. 9, undatierter Personalbericht über Wüst circa 1937/38. 6 Vgl. Ingo Wiwjorra, Herman Wirth. Ein gescheiterter Ideologe zwischen ‚Ahnenerbe‘ und Atlantis, in: Barbara Danckwortt (Hg. u.a.), Historische Rassismusforschung. Ideologen, Täter Opfer, Hamburg 1996, S. 91–112, 103; Gerd Simon, Buchfieber. Zur Geschichte des Buches im 3. Reich, Tübingen 2006, S. 13–32. 7 IfZ, ZS/A-25, Bd. 1, Gedächtnisprotokoll vom 9.7.1962; das Urteil des von Michael H. Kater befragten Franz Dirlmeier lautete: „Wüst war Pfälzer, protestantisch, das heisst er war in grossem Ausmasse vom Protestantismus geprägt, und lehnte im Grunde die ‚gottgläubige Religion‘ der SS ab.“ 8 Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, S. 224f. 9 BArch, Nl Hauer, 141, Bl. 607f. und fol. 461f., Eingabe Hauers vom 4.3.1935 und Brief Hauers an den Dekan der Sektion I der Philosophischen Fakultät München Robert Spindler vom 14.5.1935. 10 BArch, Nl Hauer, 141, Bl. 616f., 619, 603, Antwort Wüsts vom 26.1.1935 und Anfrage Hauers vom 18.1.1935 sowie Wüst an Hauer am 5.5.1935. 11 Vgl. Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, Stuttgart 1999, S. 187. Zu den Bemühungen Wüsts und Hauers, die deutsche Indologie zu „entjuden“ auch ders., Das ‚Arische Seminar‘ der Universität Tübingen 1940–1945, in: Heidrun Brückner (Hg. u.a.), Indienforschung im Zeitenwandel, Tübingen 2002, S. 174–205. 12 Zu Wüsts Leitungsfunktion bei den Orientalisten siehe sein Nachwort in Hans Heinrich Schaeder (Hg.), Der Orient in deutscher Forschung. Vorträge der Berliner Orientalistentagung, Herbst 1942, Leipzig 1944, S. 260. Vgl. auch Frank-Rutger Hausmann, ‚Deutsche Geisteswissenschaft‘ im Zweiten Weltkrieg. Die ‚Aktion Ritterbusch‘ (1940–1945), Dresden 1998 und speziell zur Indogermanistik Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, S. 235ff. 13 Walther Wüst, Die deutsche Aufgabe der Indologie, in: Deutsche Kultur im Leben der Völker. Mitteilungen der Deutschen Akademie 3 (1939) Dezember, S. 339–348, und ders., Von indogermanischer Religiosität: Sinn und Sendung, in: ARW 36 (1939), S. 64–108. 14 Die Zitate nach Gerd Simon, Walther Wüst: Des Führers Buch ‚Mein Kampf‘ als Spiegel arischer Weltanschauung (unveröffentlichtes Manuskript). Der im BArch liegende Vortrag Wüsts wurde in geringer Auflage gedruckt und an ausgewählte Persönlichkeiten verteilt.

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15 Walther Wüst, Indogermanisches Bekenntnis. Rede, gehalten zur feierlichen Übernahme des Rektorates der Ludwig-Maximilians-Universität München in der Aula am 5. Juli 1941, in: ders. (Hg.) Indogermanisches Bekenntnis, Berlin 1942, S. 93–118, 101, 105f., 108, 116f. 16 Zitate nach Rudolf Lill (Hg.), Hochverrat? Neue Forschungen zur ‚Weißen Rose‘, Konstanz 19932, S. 207–215. 17 Christian Petry, Studenten aufs Schafott. Die Weiße Rose und ihr Scheitern, München 1968, S. 111, 122 (Verhaftung der Geschwister Scholl), 196 (Urteil gegen Kurt Huber), S. 219f. (Entziehung des Doktorgrades). 18 Der Dienstkalender Heinrich Himmlers, hg. i.A. der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, bearbeitet von Peter Witte u.a., Hamburg 1999, S. 489. 19 UA München, Personalakte Wüst E-II-N. 20 IfZ, ZS/A-25, C-351, Bl. 16f., Kater an Bauer vom 5.1.1968 (im Rahmen der Befragung Bruno Begers).

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Heinz Zatschek Heinz (Eugen Arthur) Zatschek wurde am 27. Juni 1901 in Wien geboren und katholisch getauft.1 Sein Vater Arthur stammte aus Ungarisch Hradisch (Uherské Hradiště) in Mähren. Väter- und mütterlicherseits waren die Großeltern tschechischer Herkunft, eine Tatsache, über die Zatschek spätestens 1938 Bescheid wusste. Zatschek, der sich der Kriegsjugendgeneration zuordnen lässt, nahm als Mitglied des „Österreichischen Wandervogels“ an der Jugendbewegung teil und ging „auf Fahrt“. Hierbei erlebte er Rituale eines Männerbundes und dürfte zudem mit völkischem Gedankengut konfrontiert worden sein. Er entwickelte, vermutlich bedingt durch das Erlebnis des Ersten Weltkriegs, einen Hang zum Militärischen und zum Deutschnationalismus, der sich mit dem in Wien besonders ausgeprägten →Antisemitismus verband. Als gläubiger Katholik trat er nicht auf. 1919 legte Zatschek die Reifeprüfung mit Auszeichnung ab und studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Geographie in Wien, dazu besuchte er den Ausbildungskurs des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (IÖG), den er 1923 als Mediävist beendete. Im selben Jahr wurde er mit einer allerdings neuzeitlichen militärgeschichtlichen Arbeit promoviert, arbeitete seit 1924 bei den Monumenta Germaniae Historica und kam in Kontakt zum in Prag lehrenden Mediävisten →Hans Hirsch, der ihm 1926 den Weg zu einem Lehrauftrag in Prag ebnete. Zugleich publizierte er seinen ersten mediävistischen Aufsatz. Während seiner Schul-, Studien- und ersten Arbeitsjahre hat Zatschek seinen Erfahrungshorizont kaum ausgedehnt: Weder wechselte er die Universität, noch unternahm er einen Auslandsaufenthalt zu Studienzwecken. Diese, auch durch seine Zuckerkrankheit bedingte „Seßhaftigkeit“ behielt er zeitlebens bei. 1927 kehrte er nach Wien zurück und habilitierte sich 1928 in Historischen Hilfswissenschaften. 1929 wurde er als außerordentlicher Professor an die Deutsche Universität in Prag berufen und heiratete Hildegard (geborene Wlček), die ein Geschichtsstudium in Prag absolviert und 1927/28 bei →Theodor Mayer promoviert hatte. Bereits in dieser Zeit dürfte Zatschek Kontakte zu österreichischen Nationalsozialisten unterhalten haben. Bis in die 1930er Jahre widmete sich Zatschek einer mediävistischen Urkundenforschung und Editionstätigkeit. Er legte Arbeiten von hohem Niveau vor, in denen aber stellenweise eine deutschnationalistische Determinante erkennbar ist, etwa bei der Beurteilung des hochmittelalterlichen Kaiser-Papst-Konflikts.2 Anschließend kamen auch essayistisch gebotene Themen einer deutschzentrierten politischen Geschichte hinzu, in die Elemente der Kulturträgerthese und der Volksgeschichte integriert wurden und die auf simplen geopolitischen Argumenten beruhend auch propagandistischen Charakter tragen konnten. 1935 schrieb er etwa: „Wir haben hier allen Grund, uns daran zu erinnern, daß Karl der erste Germane gewesen ist, der die Möglichkeiten erkannte, die der Osten für Deutschland barg […].“3 Gleichzeitig unternahm er Versuche, volksgeschichtliche Aspekte in der Quellenforschung fruchtbar zu machen.4 Seit 1935/36 bearbeitete Zatschek, der die Möglichkeiten des

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interdisziplinären Ansatzes der „Volksgeschichte“ erkannte, auch rein volksgeschichtliche Themen und verfasste zu deren Förderung programmatische Aufsätze.5 Den extremsten Fall seiner Volksforschung stellt der mit Karl Valentin Müller verfasste Aufsatz „Das biologische Schicksal der Přemysliden“ dar, mit Postulaten wie: „Auch dieses [tschechische Volkstum] ist schon im Mittelalter und erst recht in der Zeit seit dem Dreißigjährigen Kriege mit deutschem Sippengut immer wieder aufgestockt worden, so daß in dieser aufartenden Wirkung ständig neuer Einkreuzung von Sippengut aus dem benachbarten, ursprünglich deutlich höherwertigen völkischen Blutszuchtkreis des deutschen Volkes die weitgehende nicht nur rassische, sondern auch leistungsmäßige Angleichung verständlich wird, die das heutige Verhältnis beider Völker bestimmt.“6 Seine „nationalpolitische“ Tätigkeit als Historiker vereinnahmte Zatschek derart, so dass er sich fast völlig von mediävistischen Editionsarbeiten zurückzog und schließlich als einer der exponiertesten nationalsozialistischen Historiker wirkte. 1930 nahm Zatschek die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft an; 1934 wurde er zum ordentlichen Professor für Historische Hilfswissenschaften und Geschichte des Mittelalters ernannt und amtierte 1937/38 als Dekan seiner Fakultät. Zatschek war Mitglied im Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen, in der Deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und Künste für die Tschechoslowakische Republik (1941: Deutsche Akademie der Wissenschaften in Prag), der Deutschen Hochschullehrervereinigung, des Deutschen Schulverbandes und des Deutschen Kulturverbandes. Seit Mitte der 1930er Jahre nahm er an Tagungen der Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft teil. Damals vollzog er, der sich dem „arischen Flügel“ unter den Professoren zurechnete und bereits früher Sympathien für deutsch-völkische Politik hegte, eine Radikalisierung. Im April 1938 trat er Konrad Henleins SdP bei (Nr. 1.329.947) und ließ sich ein Jahr später in die NSDAP überführen (Nr. 7.077.889). Während der „Sudetenkrise“ im September 1938 verließ Zatschek die ČSR und „flüchtete“ nach Wien, wo er als führender Parteigänger Hitlers und als Organisator anderer „Flüchtlinge“ hervortrat, bis er im November nach Prag zurückkehrte. Nach der deutschen Okkupation der ČSR im März 1939 exponierte sich Zatschek als überzeugter Nationalsozialist in Forschung, Lehre und Verwaltung. Er engagierte sich bei der „Gleichschaltung“ der Prager Deutschen Universität und bei der kommissarischen Verwaltung tschechischer Bibliotheken und Institute der geschlossenen (tschechischen) Karlsuniversität. Von 1939 bis 1941 wirkte er als Hauptstellenleiter des Amtes für Wissenschaft im NS-Dozentenbund in Prag. Der Prager Universität wies er völkische Aufgaben zu: „Wie keine zweite ist sie dazu berufen, die unermeßlichen Leistungen der Deutschen im Osten in der Vergangenheit zu erforschen und darzustellen und in Gegenwart und Zukunft daran mitzuarbeiten, daß in diesem Raum deutscher Geist und deutsches Wesen, deutsches Können und Wissen führend bleiben.“7 Da sich seine Hoffnungen, dass ihm und anderen sudetendeutschen Professoren an der „Reichsuniversität“ Prag erheblicher Freiraum zur Verwirklichung ihrer

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Interessen eingeräumt würde, nur bedingt erfüllten, zog er 1941 als Nachfolger seines Lehrers Hirsch wieder nach Wien. Dort durchtränkte er seine erste große Vorlesung mit NS-Gedankengut und Antisemitismus.8 Dieser Einstellung entsprechend unternahm Zatschek Vortragsreisen für die Wehrmacht und NS-Stellen. Später gehörte er zum exklusiven Teilnehmerkreis der von Theodor Mayer organisierten Tagungen innerhalb des →Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften. Der vom Militärdienst freigestellte Zatschek wurde 1941 von Hitler zum ordentlichen Professor im Reichsdienst und Beamten auf Lebenszeit ernannt. Aufgrund von Angeboten der SS und der Universität kehrte Zatschek zum WS 1942/43 nach Prag zurück, wo er „große“ Aufgaben und durchaus einzigartige Karrierechancen an der Karls-Universität und innerhalb der →Reinhard-Heydrich-Stiftung (RHS) der SS verwirklichen wollte. Am Ende sollte eine Amtsperiode als Rektor der Universität im Jubiläumsjahr der 600-Jahrfeier 1948 stehen. 1942 bestellte man ihn zum geschäftsführenden Direktor des Historischen Seminars, 1943 zum Verwalter des Universitätsarchivs und 1944 zum ständigen Stellvertreter des Rektors in der Leitung des Ausschusses für Angelegenheiten der Landes- und Universitätsbibliothek. Seit 1943 war er zudem Mitglied des akademischen Senats. Innerhalb der RHS leitete er das Landesgeschichtliche Institut für Böhmen und Mähren. Dazu wurde er zum Beauftragten des Reichsprotektors für die Herausgabe der historischen Quellen in Böhmen und Mähren ernannt. 1944 erhielt Zatschek das Kriegsverdienstkreuz II Kl. ohne Schwerter und war vermutlich für den SD-Leitabschnitt Prag tätig. Noch Ende 1944 hielt er vor jungen Soldaten den rassistischen Vortrag „Die Judenfrage“. Zatschek gehörte zweifellos zu den einflussreichsten Historikern im Protektorat Böhmen und Mähren und widmete sich bis in die letzten Tage der deutschen Okkupation Prags mit Eifer seiner Arbeit. Zatscheks „nationalpolitische“ Tätigkeit als Historiker hatte das Ziel, mittels einer historischen Beweisführung aufzuzeigen, dass eine Vorherrschaft der Deutschen wie des Deutschen Reiches in Mitteleuropa wegen deren politischer Ordnungsfunktion und kultureller wie auch „rassischer“ Führungsrolle gerechtfertigt sei und die historische Entwicklung der Deutschen in der Herrschaft Hitlers über eine von ihm herbeigeführte →Volksgemeinschaft zu kulminieren habe.9 Als ein Vorbild diente ihm das mittelalterliche römisch-deutsche Reich. Seinen ausgeprägten Antisemitismus ließ er auch in seine Schriften einfließen. Während des Prager Aufstands im Mai 1945 wurde Zatschek festgenommen und bis Juni interniert, dann aber als „Österreicher“ entlassen. Er flüchtete nach Wien. Dort musste er nun erfahren, dass seine Einbindung in Historiker-Netzwerke nicht so gut ausgebildet war, um ihm den erwünschten beruflichen Wiedereinstieg zu ermöglichen. Er konnte aber bereits 1945 im Wiener Stadt- und Landesarchiv arbeiten und wurde 1949 als Wissenschaftler in der Kammer der gewerblichen Wirtschaft für Wien angestellt. 1950 erlangte er die österreichische Staatsbürgerschaft wieder. Schließlich zahlte sich die Zugehörigkeit zum Netzwerk der IÖG-Mitglieder aus: Auf Antrag des Direktors und IÖG-Absolventen Rudolf Pühringer wurde Zatschek 1955

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zum Kustos I. Klasse im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien bestellt; 1957 ging die Direktion an ihn über. Er organisierte Ausstellungen, begründete die Schriften des Heeresgeschichtlichen Museums und konnte den Wiederaufbau des Museums abschließen. Nach 1945 verfasste er vornehmlich Beiträge zur Handwerks- und Gewerbegeschichte und Kurzbiografien.10 1955 hatte er an der Universität Wien seine venia legendi und deren Erweiterung auf Wirtschaftsgeschichte wieder verliehen erhalten und lehrte bis 1962/63. 1954 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Historischen Kommission der Sudetenländer und war von 1959 bis 1964 Mitglied des Collegium Carolinum in München. 1964 erhielt er das Große Ehrenzeichen für die Verdienste um die Republik Österreich, womit er am Zenit seiner Nachkriegskarriere angekommen war. Eine kritische Reflexion über sein Wirken als politisierter Historiker hat er nicht vorgelegt. Zatschek starb am 23. Mai 1965 in Tettnang in Baden-Württemberg und wurde in Wien bestattet.

Karel Hruza

1 Vgl. grundlegend Karel Hruza, Heinz Zatschek (1901–1965) – „Radikales Ordnungsdenken“ und „gründliche, zielgesteuerte Forschungsarbeit“, in: ders. (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, Wien 2008, 677–792. 2 Heinz Zatschek, Zu Petrus Diaconus. Beiträge zur Entstehungsgeschichte des Registers, der Fortsetzung der Chronik und der Besitzbestätigung Lothars III. für Monte Cassino, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichte 47 (1927), S. 174–224; ders., Die Benutzung der Formulae Marculfi und anderer Formularsammlungen in den Privaturkunden des 8. bis 10. Jahrhunderts, in: MÖIG 42 (1927), S. 165–267; ders., Wibald von Stablo. Studien zur Geschichte der Reichskanzlei und Reichspolitik unter den älteren Staufern, in: MÖIG 10 (1928), 237–495; ders., Studien zur mittelalterlichen Urkundenlehre. Konzept, Register und Briefsammlung, Brünn 1929; ders., Beiträge zur Geschichte des Konstanzer Vertrages vom Jahre 1153, Wien 1930. 3 Heinz Zatschek, Karl der Große in neuer Beleuchtung, in: Stimmen der Jugend 3 (1935), S. 108– 110, 108ff. 4 Heinz Zatschek, Die Bedeutung der Deutschen in der Kanzlei der Přemysliden, in: Germanoslavica 2 (1934), S. 196–221; ders., Zur Erforschung der Volkszugehörigkeit nach Stadtbüchern und Urbaren des Spätmittelalters, in: ZSG 1 (1937), S. 249–255; ders., Die Namengebung der Brünner Bürger nach den Losungsbüchern 1343–1365, in: ebd., S. 256–268; ders., Die völkische Zusammensetzung der böhmischen Hofkapelle, in: ebd. 4 (1940), S. 25–81, 113–168. 5 Heinz Zatschek, Das Volksbewusstsein. Sein Werden im Spiegel der Geschichtsschreibung, Brünn 1936; ders., Die Witigonen und die Besiedlung Südböhmens, in: DALV 1 1937, S. 110–130; ders., Volksgeschichtliche Aufgaben für die ältere sudetendeutsche Geschichte, in: ZSG 1 (1937), S. 42– 55; ders., Volksforschung und Volksgeschichte in den Sudetenländern, in: Deutsche Volksforschung in Böhmen und Mähren 1 (1939), S. 17–29; ders., Urkundenforschung und Volksforschung, in: DALV 5 (1941), S. 570–579. 6 Heinz Zatschek/Karl Valentin Müller, Das biologische Schicksal der Přemysliden. Ein Beispiel für die aufartende Wirkung deutscher Erblinien in fremdvölkischen Blutskreisen, in: Archiv für Rassenund Gesellschaftsbiologie 35 (1941), S. 136–152. 7 Heinz Zatschek, Die Geschichte der Prager Universität, in: Ostland. Halbmonatsschrift für Ostpolitik 21 (1940), S. 70–72.

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8 Das Thema floss in das Buch ein: Heinz Zatschek, England und das Reich, Brünn u.a. 1942. 9 Heinz Zatschek, Wie das erste Reich der Deutschen entstand. Staatsführung, Reichsgut und Ostsiedlung im Zeitalter der Karolinger, Prag 1940; ders., Das europäische Gleichgewicht, Prag 1943; ders., Deutsche Geschichte. Nach Vorträgen an der Verwaltungs-Akademie Wien im Wintersemester 1941/42, Wien 1943/44. 10 Heinz Zatschek, Handwerk und Gewerbe in Wien. Von den Anfängen bis zur Erteilung der Gewerbefreiheit im Jahre 1859, Wien 1949; ders., 550 Jahre jung sein. Geschichte eines Handwerks, Wien 1958.

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Theodor Zöckler Theodor Zöckler wurde am 5. März 1867 in Greifswald geboren. Sein Vater Otto Zöckler, Theologie-Professor und Vertreter der pietistisch-positiven Theologie, und seine Mutter Charlotte, geborene Geist, stammten beide aus Hessen.1 1937/1938 erhielt er den Nicolaus Kopernicus-Preis der →Johann Wolfgang Goethe-Stiftung für das „Deutschtum in Polen“, später „im ehemaligen Polen“, durch die Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau verliehen. Das Abitur legte er 1885 in Greifswald ab. Seine theologischen Studienjahre (1885–1888) verbrachte er an der Universitäten Greifswald, Leipzig und Erlangen. 1888 legte er das erste Theologische Examen ab. 1888 bis 1891 folgte das Studium im Institut Judaicum in Leipzig. Er studierte bei Franz Delitzsch, der ihn für die Judenmission begeisterte. 1891 kam Zöckler nach Stanislau (Ivano-Frankivsk Ukraine) und hielt sich bis auf kurzfristige Pausen dort bis 1939 auf. 1892 legte er sein zweites theologisches Examen ab. Er heiratete ein Jahr später Lillie Brodenkamp und kehrte mit seiner jungen Frau nach Stanislau zurück. Er zog mit ihr fünf Kinder auf.2 Stanislau verließ er während des Ersten Weltkrieges zum ersten Mal im Herbst 1914 nach der Besetzung der Stadt durch russische Truppen. Er flüchtete mit seiner Familie nach Oberösterreich (Gallneukirchen). 1915 nach der Befreiung von Stanislau durch deutschösterreichische Truppen kehrte Zöckler in die Stadt zurück. Die zweite Flucht folgte 1916 wieder nach Oberösterreich. Nach Stanislau kehrte Zöckler nochmals 1917 zurück. In der kurzen ukrainischen Ära in der Geschichte der Stadt begann er den Wiederaufbau seiner Anstalten und der lokalen evangelischen Kirche.3 Ursprünglich entschloss sich Zöckler Judenmissionar zu werden und sein Leben der Judenmission zu weihen. Nach seiner Studienreise, die ihn über Budapest nach Kischinev in Bessarabien führte, trat Zöckler in den Dienst der dänischen Judenmission. Zöcklers Arbeit als Judenmissionar blieb allerdings ohne Erfolg. Zöckler wurde bald mit der Not der deutschsprachigen Bevölkerung in jener Gegend konfrontiert. Er wurde deshalb Pfarrer der 1899 wiedergegründeten evangelischen Kirchengemeinde in Stanislau (Stanislawów). Die Kirchengemeinde gehörte zur Superintendentur A. B. Galizien, die seinerzeit Teil der evangelischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in Österreich war, umfasste 24, fast ausschließlich deutschsprachige lutherische und reformierte Gemeinden, welche früher einen Teil der zur Evangelischen Kirche A. B. in Österreich gehörenden Kirchengemeinden in Polen bildeten. 1924 nach dem Tod des Superintendenten Georg Fritsche wurde Zöckler Nachfolger der galizischen Superintendentur der Evangelischen Kirche Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses in Kleinpolen mit insgesamt 33.000 Mitgliedern. Nach Spannungen zwischen deutschsprachigen und polnischsprachigen Kirchenmitgliedern traten 1922 die meist polnischsprachigen Lutheraner des Krakauer Gebiets und des polnischen Teils des Teschener Landes zur Evangelischen Kirche A.B. in Polen mit Konsistorium in Warschau über. Zöckler engagierte sich nicht nur für die Ent-

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wicklung der lokalen Kirche, sondern gehörte 1923 auch zu den Gründern des Landesverbandes Polen des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen. 1926 gründete Zöckler den Rat der evangelischen Kirchen in Polen. Mitte 1920er Jahre weckte er unter der ukrainischen Bevölkerung das Interesse für die evangelische Konfession. Unter seinem Patronat gründete sich eine ukrainisch-evangelische Kirche.4 Das Lebenswerk seiner kirchlichen, aber auch seiner weltlichen Tätigkeit für das Deutschtum bildeten jedoch die Zöckler’sche Anstalten, eine diakonische Wohneinrichtung für Waisen, die 1896 gegründet und 1906 um eine deutsche Schule mit Volksschul- und Gymnasialzweig sowie 1921 eine Fabrik für Landwirtschaftsmaschinen „Vis“ ergänzt wurde. In der Folge vergrößerten sich die Zöckler’sche Anstalten über Häuser für Knaben und Mädchen, 1908 folgten ein Zinshaus mit einem Warenhaus, eine Raiffeisenkasse, ein Heim für auswärtige Kinder und ein Kandidatenkonvikt für junge Theologen. 1913 entstand eine Pflegeanstalt „Sarepta“, die seinen Ruf als „Bethel des Ostens“ und Zöckler als „Bodelschwingh des Ostens“ hervorbrachte. In der ukrainischen Zeit ab 1919 baute Zöckler das deutsche Gymnasium auf. Da die Stanislauer Anstalten nie irgendwelche Subventionen erhielten, waren sie auf Spenden angewiesen. Ihre bedeutendsten Geldgeber waren der GustavAdolf-Verein und der Hilfsverein der Inneren Mission in der Diaspora. Gelder kamen auch aus der Schweiz, Österreich, aus den USA und aus privater Hand. 1939 brachen schwere Zeiten für die Zöckler’sche Anstalten an. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hoben die polnischen Behörden die Steuerfreiheit für Anstalten auf, verhängten eine Devisensperre und führten eine Untersuchung der Anstalten durch eine Wojwodschaftskommission durch. Die Gebäude der Zöckler’schen Anstalten existieren noch heute im Zentrum von Iwano-Frankiwsk. Seit dem Anfang seines Aufenthaltes in Stanislau führte Zöckler umfangreiche Aktivitäten im bildungspolitischen und kulturellen Feld durch. 1904 gründete er das monatlich erscheinende Evangelische Gemeindeblatt für Galizien und Bukowina, das erste galiziendeutsche Publikationsorgan, das bis 1939 bestand. Zöckler und eine Gruppe der evangelischen Lehrer in Galizien gründeten die überkonfessionelle deutsche Vereinigung unter den Namen Bund der christlichen Deutschen in Galizien, eine Vereinigung, die die Interessen der evangelischen und katholischen Deutschen bis zum Weltkriege vertrat und unter anderem das deutsche Schulwesen reorganisierte. Dieser Bund setzte sich für die Erhaltung des Deutschtums in Galizien mittels kultureller Versammlungen, Vorträge, Volksbüchereien, Gastwirtschaften sowie auch der Förderung der deutschen Landwirtschaft und Pflege verarmter Bauern ein. Bis zum Ersten Weltkrieg entstanden 108 Ortsgruppen, 25 neue Schulen, 44 deutsche Spar- und Darlehenskassen. Nach 8-jähriger Unterbrechung reaktivierte sich der Bund im polnischen Staat neu. Dessen Tätigkeit wurde bald von Polen verboten und aufgelöst, wegen angeblicher Überschreitung seiner satzungsmäßigen Tätigkeit.

Theodor Zöckler  941

Im Herbst 1907 bildeten sich auf Initiative Zöcklers zwei weitere Vereinigungen: der Deutsche Volksrat für Galizien und der Verein deutscher Lehrer. Die Funktionen des Volksrates waren einerseits die Vertretung der politischen Belange der galiziendeutschen Bevölkerung nach außen, das heißt gegenüber anderen Staaten und andererseits die Koordinierung der Volkstumsarbeit nach innen.5 Zöcklers publizistische als auch literarische Werke waren geprägt von einer starken Religiosität. Das ist von einem Theologen wohl nicht anders zu erwarten. Seine Gedichte, Novellen und Erzählungen gehören zur typisch christlichen Erbauungsliteratur. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit lag jedoch in Religion und Kirche. Er widmete dieser Thematik zahlreiche Broschüren, in denen er überwiegend laufende Fragen des kirchlichen Lebens in Stanislau und Galizien beschrieb.6 Am 1. September 1939 wurde Zöckler gemeinsam mit anderen Vertretern der deutschen Minderheit aus Ostgalizien kurze Zeit interniert und bereits am 17. September 1939 befreit. Er hielt sich in Stanislau bis Ende1939 auf. Aufgrund des HitlerStalin-Pakts und dem deutsch-sowjetischen Abkommen wurde er von dort ins Wartheland umgesiedelt. Im Unterschied zu den übrigen Volksdeutschen blieb ihm und seiner Familie jedoch der Aufenthalt im Durchgangslager erspart. Er wurde zur Volksdeutschen Mittelstelle nach Berlin eingeladen zwecks Beratung für die Umsiedlung der Deutschen (1939). 1940 zog er mit seiner Familie nach Leszno (Lissa) zu einem Schwiegersohn, Pfarrer Wolfgang Bickerich und seine Tochter Lotti. Theodor und Lillie Zöckler erhielten 1943 die Erlaubnis nochmals Stanislau zu besuchen, wo nur noch wenige Deutsche wohnten. Am Ende des Zweiten Weltkrieges floh Zöckler zuerst nach Berlin, dann nach Dessau, und schließlich nach Stade bei Hamburg, zur Tochter. In Stade verbrachte er die letzten Jahren seines Lebens und leitete trotz Krankheiten bis 1948 das Hilfskomitee für Galiziendeutsche.7 Zöckler verstarb am 18. September 1949 in Stade. Großen Einfluss auf Zöcklers Leben nahm der Nationalsozialismus, der im Widerspruch zu seinem Glauben stand. Zöckler hatte als ehemaliger Judenmissionar viele Freunde unter Juden, zumal in den Zöckler’schen Anstalten in Stanislau evangelische Lehrkräfte jüdischer Abstammung beschäftigt wurden. Während der Zwischenkriegszeit beurteilte er die Tätigkeit der NSDAP nahen Jungdeutschen Partei in Kleinpolen kritisch, weil sie zu einem Parteienzwist der ohnehin winzigen Gruppe der Galiziendeutschen führe. In seinem Hirtenbrief zum Jahresende 1936 warnte er die Deutschen vor einem Weltkrieg und bedauerte die Religionsfeindschaft in Deutschland unter Hitler. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges deprimierte ihn die misstrauische Einstellung der Deutschen gegenüber den Galiziendeutschen und ihre rassistischen Untersuchungen in den Zwischenlagern in Pirna und Oberfrohna. Die Sorge um die Religionsfeindschaft des Dritten Reichs und die antikirchliche Einstellung der neuen Herrscher brachte Zöckler in seinen zwei an Hitler gerichteten Denkschriften 1941 und 1942 zum Ausdruck. Zöckler protestierte gegen die Beseitigung der kirchlichen Freiheiten im Wartheland (keine Gottesdienste in Privathäusern, Einstellung der Herausgabe religiöser Zeitschriften). Wie er nüchtern

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bemerkte, wurde ihnen vom Deutschen Reich verboten, was in Polen in der Zwischenkriegszeit erlaubt war. Es ist nicht bekannt, ob er gegen die Vernichtung der Juden in den Kriegszeiten protestierte. Zöckler erhob Widerspruch auch im besetzten Deutschland gegen die harte Politik der Alliierten, aber gleichzeitig betonte er die Mitschuld der Deutschen.

Zdzisław Gębołyś

1 Erasmus Zöckler: Ihr sollt Leben! Theodor Zöckler: Gründer des einst größten Hilfswerks im Osten Europas. Leipzig 2011. 2 D. Theodor Zöckler: zum 100. Geburtstag von Vater Zöckler zusammengestellt u. bearb. von Hans Strohal. Stuttgart-Bad Cannstatt 1967, S. 322, 12; Maria Klanska, Theodor Zöckler und die Galiziendeutschen, in: Studia Germanica Posnaniensia 24 (1999), S. 103–120; Erich Müller, Zöckler, Theodor, in: Kulturportal West – Ost. http://kulturportal-west-ost.eu/biographien/zockler-theodro-2; Erich Müller, Zöckler, Theodor. in: Ostdeutsche Gedenktage. Persönlichkeiten und historische Ereignisse, Bonn 2008, S. 224–230; Theodor Zöckler, in: wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Z% C3%Bckler; Oskar Wagner, Zwischen Völkern und Zeiten – Theodor Zöckler 1867–1967, in: Galizien erzählt. Heimatbuch der Galiziendeutschen. Teil IV. Red. von R. Mohr, Stuttgart-Bad Cannstatt, S. 715–734. 3 Christian Erasmus Zöckler, Wie kam es zur Gründung der Zöckler’schen Anstalten in Stanislau? in: Zeitweiser der Galiziendeutschen 35 (1997), S. 38–44. 4 Wilfried Lempp, Theodor Zöckler und die Zeugenaufgabe der evangelischen Diaspora, Stuttgart 1961. 5 Erich Müller: Zöckler und der Bund der christlichen Deutschen in Galizien. in: Jahrbuch WeichselWarthe 45 (1999), S. 88–94; Roland Walloschke, Zöcklers Wirken gegen die Auswanderung und die Geschichte des Bundes. in: Zeitweiser der Galiziendeutschen 37 (1999), S. 52–58; Isabel Röskau-Rydel, Niemiecko austriackie rodziny urzędnicze w Galicji 1772–1918, Kraków 2011. 6 Erich Müller, Zöckler, Theodor. in: Kulturportal West – Ost. http://kulturportal-west-ost.eu/biographien/zockler-theodro-2; Erich Müller, Zöckler, Theodor, in: Ostdeeutsche Gedenktage. Persönlichkeiten und historische Ereignisse, Bonn 2008, S. 224–230. 7 Theodor Zöckler, Zum 100. Geburtstag von Vater Zöckler Emil Ladenberger (Hg. u.a.) zusammengestellt u. bearb. von Hans Strohal, Stuttgart-Bad Cannstatt 1967, S. 322, Oskar Wagner: Zwischen Völkern und Zeiten, S. 715ff.; Lieske Reinhard, Aus der Geschichte des Diakonissen-Mutterhauses ARIEL (Zöckler’sche Anstalten) in Göttingen-Weende, in: Zeitweiser der Galiziendeutschen 39 (2001), S. 46–76.

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Antisemitismus Die „Judenfrage“ war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein feststehender Begriff, der (ursprünglich nur als sozialer Terminus gebraucht) zur Chiffre wurde, die einerseits politisches, kulturelles, ökonomisches Unbehagen zusammenfasste und andererseits Existenz- und Überfremdungsängste artikulierte. Durch die neue Lehre vom Rassenantisemitismus erhielt die „Judenfrage“ eine Richtung gewiesen.1 Zum Gegenstand öffentlicher Erörterung gemacht drängte die „Judenfrage“ nach einer „Lösung“. Das scheinbare Problem basierte auf der Überzeugung von der konstitutionellen Andersartigkeit der Juden als Rasse. Das unterschied die neudefinierte Feindschaft gegen Juden von den älteren Ressentiments gegen die Minderheit, dem religiös motivierten Antijudaismus, dessen Ziel die Bekehrung, die Taufe und damit die „sittliche Verbesserung“ der Juden war. Alle älteren Judenverfolgungen im christlichen Europa waren religiös begründet und endeten mit der Bereitschaft der Juden, Christen zu werden. Seit dem Mittelalter waren bei der Abneigung gegen die Juden aber auch immer andere Gründe mit im Spiel, wenn Juden das Ziel von Pogromen, Vertreibungen, Plünderung, Beraubung waren, und zwar Sozialneid und wirtschaftliche Faktoren, die in traditionellen Stereotypen Ausdruck fanden wie dem aus der Geldleihe gegen Zinsen resultierenden Vorwurf des Wuchers. Ein neues Moment unterschied im „modernen Antisemitismus“ die alte, religiös motivierte Judenfeindschaft vom rassisch begründeten Judenhass: Der religiöse Vorbehalt war mit der Taufe beendet gewesen, der „rassisch“ begründete Makel war nicht kurierbar. Lösung der „Judenfrage“ im völkischen Sinne bedeutete deshalb nur noch Vertreibung oder Vernichtung. Der Nationalsozialismus hat folgerichtig Jahrzehnte später daraus die „Endlösung“ gemacht. Im 19. Jahrhundert war zu den traditionellen Motiven der Judenfeindschaft ein weiterer Anlass gekommen: Die Forderung nach Emanzipation. Als bürgerliche Gleichberechtigung, unter dem Druck der Französischen Revolution propagiert, war sie 1870/71 in Deutschland spät erreicht. Die Forderung nach Rücknahme der Gleichstellung der Juden folgte, von vielen Interessenten vorgetragen, der spät errungenen Emanzipation unmittelbar.2 Judenfeindschaft erhielt im 19. Jahrhundert also eine neue Dimension in Gestalt des rassistisch und sozialdarwinistisch argumentierenden „modernen Antisemitismus“, der sich als Resultat angeblicher wissenschaftlicher Erkenntnis produzierte. Zu den Vätern gehörten Joseph Arthur Graf Gobineau (1816–1882) mit seinem voluminösen Essay „Die Ungleichheit der Menschenrassen“ (erschienen 1853 und 1855 in vier Bänden), der zwar nicht gegen die Juden gerichtet war, aber instrumentalisiert wurde als Eckpfeiler einer Rassentheorie, die den modernen Antisemitismus scheinbar wissenschaftlich unterfütterte. Gobineau, französischer Diplomat und Dilettant in Wissenschaft und Künsten, war in seiner Heimat wenig geschätzt. Sein Werk machte jedoch in Deutschland Furore. Gobineaus Theorie über starke und schwache Rassen, über den Wert des Authentischen und das Problem der Dekahttps://doi.org/10.1515/9783110429893-004

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denz, über den Einfluss von Rassenmischungen und die Verachtung des Mittelmäßigen hat indirekt, nicht zuletzt über →Houston Stewart Chamberlain und den Bayreuther Kreis, befruchtend auf völkisches Denken gewirkt. Die anti-emanzipatorische Judenfeindschaft war auch und vor allem eine Bewegung gegen die Modernisierung der Gesellschaft und gegen den politischen Liberalismus. Der „Übergang vom religiösen Hass zur rassischen Ablehnung“ war indessen nicht abrupt, die Traditionen des religiösen Antijudaismus blieben wirkungsmächtig und verstärkten die neuen pseudo-rationalen Argumente des völkischen Antisemitismus. Zur Überzeugung, es gebe minderwertige und höherwertige Rassen, es existiere eine ethnische Hierarchie der Menschheit, gekrönt vom modernen germanischen Helden, gehörte die Vorstellung des Kampfes Minderwertiger gegen Höherwertige. Sozialdarwinismus3 bedeutete im ausgehenden 19. Jahrhundert die Übertragung der von Charles Darwin beobachteten Entwicklungsgesetze des tierischen und pflanzlichen Lebens auf die menschliche Gesellschaft. In Deutschland wurden die Mode gewordenen Rassetheorien fast ausschließlich als Auseinandersetzung mit der jüdischen Minderheit begriffen und agiert. Dabei spielten soziale und wirtschaftliche Motive eine beträchtliche Rolle. „Überfremdung“ und „Verjudung“ sind Stichworte des einschlägigen Diskurses. Intellektueller Höhepunkt der Auseinandersetzung war der Berliner Antisemitismusstreit4, ausgelöst durch einen Artikel Heinrich von Treitschkes in den „Preußischen Jahrbüchern“ im November 1879. Der angesehene Historiker hatte sich gegen die von ihm befürchtete Masseneinwanderung osteuropäischer Juden ausgesprochen; den deutschen Juden warf er mangelnden Assimilationswillen vor. Obwohl er nicht für die Rücknahme der Emanzipation plädierte, war Treitschke in der Argumentation und durch die Verwendung ausgrenzender judenfeindlicher Stereotypen ins Lager der Antisemiten geraten. Ein Topos der Judenfeindschaft, nämlich die Überzeugung, die Juden seien durch ihr Verhalten, durch ihre Art die Ursache der Ressentiments der Mehrheitsgesellschaft, durchzog Treitschkes Argumentation und blieb symptomatisch für die Diskussion in völkischen Kreisen. Wilhelm Marr (1819–1904), bei dem sich der Begriff „Antisemitismus“ wahrscheinlich zum ersten Mal findet, war als Propagandist der neuen Judenfeindschaft eine zeittypische Erscheinung. Mehr von Karrieretrieb und Geltungsdrang als von Überzeugungen geleitet, hatte der gelernte Kaufmann mehrere ideologische Wandlungen durchgemacht, als Berufsagitator gründete er 1879 eine Antisemiten-Liga, deren Organ die „Deutsche Wacht“ er redigierte. Im Februar 1879 war Wilhelm Marrs politisches Pamphlet „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“ erschienen, im Herbst 1879 wurde es schon in der 12. Auflage verkauft. Mit der Metapher der goldenen Ratten und roten Mäuse verunglimpfte Marr in einem Pamphlet die Arbeiterbewegung im gleichen Atemzug wie die Juden. Die Verbindung von „Kommunismus“ und Judentum erwies sich als ebenso langlebig wie die Ratten-Assoziation.

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Protagonisten der neuen, völkisch argumentierenden Judenfeindschaft waren Autoren wie Otto Glagau (1834–1892), der im auflagenstarken Wochenblatt „Die Gartenlaube“ die Juden als Verursacher der Wirtschaftskrise des Gründerkrachs von 1873 denunzierte. In der Attitüde des zu Unrecht Angegriffenen rechnete Glagau mit den vermeintlichen Hauptfeinden des deutschen Volkes ab: „Seit vielen Jahrhunderten ist es wieder zum ersten Mal, dass ein fremder, an Zahl so kleiner Stamm die große eigentliche Nation beherrscht. Die ganze Weltgeschichte kennt kein zweites Beispiel, dass ein heimatloses Volk, eine physisch wie psychisch entschieden degenerierte Rasse, bloß durch List und Schlauheit, durch Wucher und Schacher über den Erdkreis gebietet.“5 Marrs Schrift „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“ verfocht einerseits den Anspruch, kulturkritischer Essay zu sein, behauptete den Gestus wissenschaftlicher Beweisführung, vor allem aber die Attitüde, als „Bülletin einer verlorenen Schlacht den Sieg des Feindes ohne irgend welche Beschönigung der geschlagenen Armee zu verkünden.“6 Als Grundelement judenfeindlicher Propaganda ist – neben der charakteristischen Mischung von Aggression und Larmoyanz – die Technik von Unterstellung und Zurückweisung bei Marr zu finden, die schulbildend im völkischen Lager war. Zur Feststellung, Judenfeindschaft habe rationale Ursachen, sie sei Reflex auf Eigenschaften und Verhaltensweisen „der Juden“ (Marr bringt es auf die Formeln „Scheu der Juden vor wirklicher Arbeit“ und „gesetzlich vorgeschriebene Feindschaft gegen alle Nichtjuden“) gehörte Marrs „Beweisführung“, dass Juden Machtpositionen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft erobert hätten, um Einfluss geltend zu machen, womit er ein Stereotyp begründete. Das Ziel der Juden, „die Zersetzung des germanischen Staates zu Gunsten der jüdischen Interessen“, werde überall konsequent verfolgt. Mit der Emanzipation sei „das Judentum“ in wesentliche Bereiche des öffentlichen Lebens – Vereine, Presse, Theater, Kunst – wie eine Sturmflut hineingeströmt und diktiere die öffentliche Meinung. Vermutlich ebenso von Wilhelm Marr in die Debatte eingeführt wie der Begriff „Antisemitismus“ wurde der Topos, Juden seien sakrosankt: „Von dem Augenblicke der Emanzipation an ward für uns Germanen das Judenthum als ein zu berühren verbotenes Objekt erklärt.“ Erheblichen Anteil an der Gestaltung des nationalistisch und völkisch begründeten neuen Feindbilds vom Juden hatte der Orientalist Paul de Lagarde (1827– 1891), der im Gegensatz zu den sonstigen Theoretikern des modernen Antisemitismus tatsächliche akademische Kompetenz vorweisen konnte. Er amalgamierte die gängigen politischen und religiösen Ressentiments der Judenfeindschaft und stilisierte das „Deutschtum“ zum fundamentalen Gegensatz des Judentums. Der streitbare Gelehrte hatte lange über seinen Tod hinaus Einfluss und galt als Vordenker der Jugendbewegung; seine Schriften dienten im Ersten Weltkrieg der Durchhaltepropaganda, danach als Wegweiser zur Wiedergeburt Deutschlands. Alfred Rosenberg nannte Lagarde einen Propheten des Nationalsozialismus, und auch Adolf Hitler berief sich auf ihn.7

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Mit dem Anspruch, sich verteidigen zu müssen, wurde in Schriften wie dem anonymen Traktat „Der Mauscheljude“ Antisemitismus popularisiert. Mit der Versicherung, es gehe nicht gegen die Juden generell, sondern lediglich gegen eine besondere Spezies, vor der die christlich-deutsche Bevölkerung geschützt werden müsse, wurden angebliche Rasse-Eigenarten wie Wucher oder Abneigung gegen körperliche Arbeit angeprangert und mit Zitaten deutscher Geistesgrößen belegt. Im allgemeinen Volksbewusstsein, so wird argumentiert, sei „sonnenklar, daß überhaupt alle in Deutschland lebenden Semiten dennoch keine Deutsche, sondern eben nur Semiten resp. Juden sind. Sollten sie Deutsche sein, wie wir deutschen Christen Deutsche sind, so müßten sie zuvor in dem deutschen Volksstamme aufgehen. Das wollen sie aber nicht, dagegen wehren sie sich von jeher mit Händen und Füßen. Daß sie zum neuen deutschen Reiche gehören, macht sie eben so wenig zu Deutschen, wie etwa die Polen dadurch Deutsche geworden sind, daß sie an die deutsche Reichskasse steuern.“8 Der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker (1835–1909), der sich seit 1878 als Gründer einer „Christlich-Sozialen Arbeiterpartei“ um die Heranführung von Arbeitern und Handwerkern an die bestehende Staatsordnung bemühte9 und hoffte, sie der Sozialdemokratie zu entfremden, instrumentalisierte „die Judenfrage“ und hielt unter dem Druck seiner mittelständischen Anhänger am 19. September 1879 die erste von mehreren judenfeindlichen Reden, in denen er die antisemitischen Erwartungen seiner Zuhörer bediente, die ökonomischen und sozialen Wünsche und Ängste der von existentiellen Sorgen geplagten Kleinbürger aufgriff und mit Schuldzuweisungen an „die Juden“ Erklärungen und Lösungen für aktuelle Probleme anbot. Der Theologe Stoecker vermischte in seinen Reden und Predigten völkische, soziale und religiöse Argumente gegen die Juden. Im September 1879 hielt er einen Vortrag unter dem Motto „Unsere Forderungen an das moderne Judentum“, in dem er den Juden aufgab, von ihrem angeblichen Dominanzstreben abzulassen und Toleranz gegenüber der Mehrheit zu üben. Stoecker predigte gegen den „jüdischen“ Kapitalismus, forderte Quoten für die Partizipation der Juden im öffentlichen Leben, „um dem Ueberwuchern des Judentums im germanischen Leben, diesem schlimmsten Wucher, entgegenzutreten. Entweder dies gelingt uns, dann mag der Segen wieder über Deutschland kommen, oder der Krebsschaden, an dem wir leiden, frißt weiter; dann ist unsre Zukunft bedroht, und der deutsche Geist verjudet, das deutsche Wirtschaftsleben verarmt. Rückkehr zu mehr germanischem Rechts- und Wirtschaftsleben, Umkehr zu christlichem Glauben: so wird unsre Losung lauten. Dann thue jeder seine Pflicht, und Gott wird helfen.“ Zwei Jahre später, im Mai 1881, behauptete der polemisch hochbegabte Berliner Hof- und Domprediger, kein Volk der Erde halte so sehr an seinen Rasseneigentümlichkeiten fest. Die Juden bildeten eine Nation für sich. „Und dies Volk, das seine Eigentümlichkeiten am zähesten festhält, sollen wir nicht als ein fremdes Volkstum ansehen, nur weil die Juden unter uns deutsch sprechen?“10

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Im Gefolge des Berliner Antisemitismusstreits, der 1879 zum Schlüsseljahr der Judenfeindschaft machte, erschienen auf bescheidenerem intellektuellen Niveau Schriften wie 1887 „Die Judenfrage als Frage der Racenschädlichkeit für Existenz, Sitte und Cultur der Völker“ aus der Feder des Privatgelehrten Karl Eugen Dühring (1833–1921), der als Nationalökonom und Philosoph dilettierte.11 Dühring war, wie andere führende Antisemiten, ein paranoider Einzelgänger, dessen Abneigungen gegen Sozialdemokratie, Juden und Liberale zu Wahnideen gesteigert waren. Als Theoretiker des modernen Antisemitismus erlangte er Bedeutung, er propagierte die verschwörungstheoretische Vorstellung einer jüdischen Weltmacht („Weltjudentum“) und plädierte für die rigorose Ausgrenzung der Juden durch Nichtzulassung zum öffentlichen Dienst, für ihre Entfernung aus Justiz, Presse und öffentlichem Leben, und er wollte „Mischehen“ verbieten. Auch Dühring erklärte „die Judenfrage“ zur sozialen Frage und als Problem „von erster Ordnung, denn sie ist nicht blos eine Lebensfrage des aufstrebenden Arbeiterthums, sondern eine Existenzfrage der modernen Völker.“12 Glagau (Die soziale Frage ist einfach die Judenfrage13) oder Stoecker hinter sich lassend, formulierte Dühring radikale Vorschläge zur „Lösung der Judenfrage“ nach dem Motto, die „Verjudung der Völker und aller Verhältnisse ist die Tatsache, Entjudung die Aufgabe.“ Die Idee der Toleranz tat er als banalen und kurzsichtigen Einwand ab, wenn er unter Verweis auf die angeblich nicht änderbare Nomadennatur der Juden erklärte, es gebe „gegen sie auch nur eine einzige Politik, nämlich die der äußerlichen Einschränkung, Einpferchung und Abschließung.“14 Sein Haß steigerte sich schließlich zur Tirade, die zur Tötung und Ausrottung der Juden aufrief. Theodor Fritsch (1852–1933), Ingenieur und Inhaber eines mühlentechnischen Fachverlags, war ein anderer Vorkämpfer des rassistisch und pseudowissenschaftlich argumentierenden völkischen Antisemitismus.15 1887 veröffentlichte er unter dem Pseudonym Thomas Frey einen „Catechismus für Antisemiten“, der später unter seinem richtigen Namen mit dem Titel „Handbuch der Judenfrage“ erschien und 1944 die 49. Auflage erreichte. Der Antisemiten-Katechismus fasste die landläufigen Vorurteile, Stereotypen und Klischees zusammen, mit denen Stimmung gegen Juden gemacht wurde. In der „Zusammenstellung des wichtigsten Materials zum Verständnis der Judenfrage“, die durch die gedruckte Form scheinbare Beweiskraft erhielt, ist das „jüdische Sünden-Register“ in Kurzform und damit zur Wirkung gebracht: „Die Juden bilden unter dem Deckmantel der ‚Religion‘ in Wahrheit eine politische, sociale und geschäftliche Genossenschaft, die, im heimlichen Einverständnis unter sich, auf die Ausbeutung und Unterjochung der nichtjüdischen Völker hinarbeitet […] Die Juden aller Länder und aller Sprachen sind in diesem Ziele einig und arbeiten einander zu diesem Zwecke in die Hände. Deshalb ist es dem Juden auch unmöglich, in dem Lande, wo er sich zufällig aufhält, irgendeinen ehrlichen Antheil an dem Schicksal seiner nichtjüdischen Landes-Genossen zu nehmen. Kurz: er kann niemals ehrlichen Patriotismus hegen; er fühlt sich immer und überall nur als Mitglied der ‚auserwählten‘ Nation Juda, und wenn er den Deutschen, Franzosen

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oder Engländer zu spielen sucht, so ist das meist nur wolberechnete Heuchelei.“16 Unter seinem Pseudonym Thomas Frey erschien um 1892 „Das ABC der sozialen Frage“, in dem die „Judenfrage“ leicht fasslich erklärt wurde: Die Juden stünden durch Religion, Nationalität und Rasse im Gegensatz zu allen Völkern der Welt.17 Ab 1902 veröffentlichte Fritsch die „Hammerblätter für deutschen Sinn“ als Organ des „wissenschaftlichen“ Antisemitismus und als Sprachrohr der judenfeindlichen Sekte Deutscher Hammerbund, die nach dem Ersten Weltkrieg in die Deutschvölkische Freiheitspartei mündete. Theodor Fritsch war damit einer der wirkungsmächtigsten Protagonisten des völkischen Antisemitismus. Houston Stewart Chamberlain (1855–1927), auch er ein schriftstellernder Privatgelehrter mit umfassenden naturwissenschaftlichen Interessen18, gebürtiger Engländer und naturalisierter Deutscher, durch psychosoziale Auffälligkeiten an einer akademischen oder militärischen Karriere gehindert, wurde durch seine 1899 veröffentlichte kulturhistorische Schrift „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ berühmt. Das Buch, ein umfangreiches Konvolut rassistischer germanozentrischer Ideen, wurde von der Wissenschaft abgelehnt, faszinierte aber das gebildete Bürgertum. In neurotischer Fixierung auf den Gegensatz zwischen der „jüdischen“ und der „arischen“ Rasse arbeitete Chamberlain mit griffigen und gern aufgenommenen Stereotypen, wenn er etwa den Juden verinnerlichte Religiosität absprach und einen übergroßen Einfluss der Juden in der modernen Welt phantasierte. Galionsfigur des völkischen Antisemitismus in Österreich war Georg Heinrich Ritter von Schönerer (1842–1921) der im Reichsrat die „Deutschnationale Bewegung“ vertrat, als Gegner der katholischen Kirche die „Los-von-Rom-Bewegung“ gründete und als alldeutscher Politiker gegen die österreich-ungarische Doppelmonarchie agierte. Neben der von Karl Freiherr von Vogelsang vertretenen sozialkonservativen Richtung des Antisemitismus und dem Prager katholischen Theologieprofessor August Rohling, der mit seiner Schrift „Der Talmudjude“ mit religiösen Argumenten gegen die Emanzipation kämpfte, war die Handwerkerbewegung („österreichischer Reformverein“) ein wichtiger Zufluss der Massenbewegung, die die Judenfeindschaft ab Ende der 1870er Jahre in Österreich repräsentierte. Schönerer als Vertreter der Völkischen war am radikalsten, blieb aber stets im Schatten Karl Luegers, der mit seiner christlich-sozialen Bewegung am erfolgreichsten war und 1897–1910 in Wien das Bürgermeisteramt bekleidete. Schönerer hatte als Demagoge weniger Massenerfolg, aber nachhaltige Wirkung. Sein Einfluss war enorm auf akademische Korporationen wie auf provinzielles Bürgertum und Beamtenschaft, die einen „Arierparagraphen“ im gesellschaftlichen Leben einführten, so zum Beispiel im Deutsch-Österreichischen Alpenverein. 1896 wurde den Juden die Satisfaktion in den „Waidhofener Beschlüssen“ des Waidhofener Verbands der wehrhaften Vereine deutscher Studenten in der Ostmark, nachmals Kyffhäuserverband der wehrhaften Vereine deutscher Studenten in der Ostmark (nicht zu verwechseln mit dem reichsdeutschen Kyffhäuserverband der Vereine deutscher Studenten) verwehrt. Nicht zuletzt Adolf Hitler war vom völkischen Antisemitismus Schönerers geprägt.19

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Mit seiner „Geschichte der deutschen Literatur“ erlangte Adolf Bartels (1862– 1945) großen Einfluss in der völkischen Szene. Der Schriftsteller gehörte mehreren Organisationen, wie der Deutschvölkischen Partei und nach dem Ersten Weltkrieg dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund sowie dem Reichshammerbund an, schrieb für antisemitische Periodika und war ab 1925 Ehrenmitglied der NSDAP. Eine zentrale Position in der völkischen Bewegung und Publizistik hatte Georg Philipp Stauff (1876–1923). Der ehemalige Volksschullehrer stand Theodor Fritsch und Eugen Dühring nahe. Er sah seine Mission in der Denunziation der Juden als „schlimmste Feinde des deutschen Volkes“ und forderte die Beseitigung des jüdischen Einflusses auf die deutsche Kultur, um deren weiteren Niedergang aufzuhalten. 1910 gründete er mit Adolf Bartels den Deutschvölkischen Schriftstellerverband. Stauff war 1913 Gründer und Mitherausgeber des „Semi – Kürschner“, eines Personenlexikons, das (ähnlich wie der „Semi – Gotha“ für den Adel) Juden in Kunst, Literatur, Politik und politischen Eliten verzeichnete, um den Einfluss des Judentums in Deutschland diskriminierend vor Augen zu führen. In der Zeitschrift „Kunstwart“ schrieb Stauff in einer Debatte jüdischen Organisationen die Absicht der Unterwanderung Deutschlands mit dem Ziel jüdischer Dominanz zu. Stauff propagierte den Ausschluss von Juden aus allen völkischen und nationalbewussten Organisationen und wurde Vorkämpfer eines Nachweises „arischer Abstammung“. Stauff verehrte den Wiener Ariosophen Guido von List und war führend in dem von List begründeten antisemitischen „Germanenorden“ engagiert. Nach dem Ersten Weltkrieg schwand der Einfluss Stauffs in der völkischen Bewegung parallel zur zunehmenden Kritik an List. Das Bekenntnis „deutschen Blutes“, den Nachweis der Abstammung drei Generationen zurück, verlangten völkische Organisationen bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Die Propaganda zur „rassischen Erneuerung“ und zur „Weckung des Rassentriebes“ verbunden mit dem Aufruf zur planmäßigen Rassenveredlung, der Forderung, die deutschen Juden unter Fremdenrecht zu stellen, Einwanderung „Rassefremder“ und Ehen mit Partnern „fremder Rasse“ zu verbieten, führte dazu, dass in den meisten Organisationen der völkischen Bewegung der Arierparagraph (als eidesstattliche Versicherung, frei von „jüdischem Blut“ zu sein) eingeführt wurde wie etwa im „Deutschbund“, im „Deutschvölkischen Studentenverband“, im „Deutschvölkischen Schriftstellerverband“, in der „Deutschvölkischen Vereinigung“, im „Reichshammerbund“, im „Deutschen Turnerbund“, im „Deutschen Kulturbund“, im „Deutschen Orden“. Organisierter Antisemitismus auf konservativer und protestantischer Basis in der Form politischer Bewegungen zeigte sich ab 1879 und beteiligte sich ab 1881 an Wahlen. Schwerpunkte sind zunächst Berlin und Sachsen, später auch Hessen. Der völkische Antisemitismus, der ab Mitte der 1890er Jahre in mehreren alldeutschen und chauvinistischen Strömungen auftrat (und nach dem Ersten Weltkrieg wichtiger Quellfluss der Hitlerpartei war) hielt zum politischen Antisemitismus Distanz, da dessen Querelen und Zersplitterung als kontraproduktiv empfunden wurden.

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Als außerparlamentarische Avantgarde verfochten die Völkischen eine ganzheitliche Weltanschauung, die durch und durch rassistisch war, in der Judenfeindschaft folgerichtig ein wesentliches Element bildete, aber „völkischem Denken, Fühlen und Handeln“ eingeordnet war. Die „rassische Erneuerung“ der deutschen Gesellschaft war oberstes Ziel. Zur Lösung „der Judenfrage“ wurden von den Organisationen der völkischen Bewegung wie dem „Deutschbund“ teilweise äußerst radikale Postulate erhoben wie Fremdenrecht, Entzug des Wahlrechts, keine Partizipation von Juden an öffentlichen Ämtern, Verbot von Grundbesitz, Einwanderungsverbot, besonderes Eherecht, Abstammungsnachweis. Die Geschichte des politisch organisierten Antisemitismus, die 1879 beginnt mit Wilhelm Marrs Antisemiten-Liga, die 600 Mitglieder gehabt haben soll (nachweisbar waren es höchstens 35), und Stoeckers Christlich-Sozialer Partei, ist die Geschichte von Sekten und Spaltungen und besteht aus einem programmatischen Durcheinander konservativer, antikapitalistischer, sozialdemagogischer Ideologiefragmente, propagiert von antiliberalen und antidemokratischen untereinander konkurrierenden Demagogen. Im September 1882 waren bei einem „Ersten Antijüdischen Kongress“ in Dresden 300–400 Antisemiten versammelt, die sich freilich auf kein gemeinsames Programm verständigen konnten. An weiteren AntisemitenKongressen im folgenden Jahr und 1886 nahmen Delegierte aus Deutschland, Österreich-Ungarn, Russland, Frankreich und Serbien teil. Organisatorische Zusammenschlüsse von Judenfeinden wie die Allgemeine Vereinigung zur Bekämpfung des Judentums von 1883 und der „Deutsche Antisemitenbund“ 1884 hatten eher marginale Bedeutung, die Mitgliederzahl des Antisemitenbunds ging von 975 im Jahre 1885 auf 221 fünf Jahre später zurück.20 Nicht nur wegen der Zwietracht in den eigenen Reihen waren auch Parteien mit den Programmen der Judenfeindschaft – politisches Ziel war jeweils die Rücknahme der Emanzipation – wenig erfolgreich. Die 1880 gegründete „Soziale Reichspartei“ von Ernst Henrici konkurrierte mit dem auf Max Liebermann von Sonnenberg und Bernhard Förster zurückgehenden extrem konservativen „Deutschen Volksverein“. Dr. Ernst Henrici (1854–1915), von Beruf Lehrer, kam aus dem linksliberalen Lager. Er vertrat eine sozialreformerische Richtung des Antisemitismus und fand als Agitator Beifall bei öffentlichen Reden, die als Traktate gedruckt wurden, in denen er „die Judenfrage“ thematisierte, um Ausnahmegesetze zu propagieren. In einer Rede am 13. Januar 1880 sagte er: „Die Juden stehen in der Kultur so tief unter uns, daß wir unsere eigene Kultur vernichteten, wenn wir ihnen gleiche politische Rechte zugeständen. Was ich fordere, ist nichts als Nothwehr; ist doch die Nothwehr dem bedrängten Individuum gestattet, warum soll sich nicht auch ein ganzes Volk wehren dürfen.“21 In Dresden existierte seit 1881 die „Deutsche Reformpartei“. In Kassel wurde 1886 die „Deutsche Antisemitische Vereinigung“ ins Leben gerufen, Protagonist war der Bibliothekar Otto Böckel (1859–1923). Er hatte Jura und Nationalökonomie studiert, sich mit Philologie beschäftigt und trieb vor allem volkskundliche Studien,

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sammelte Volkslieder und Beschreibungen bäuerlichen Lebens. Von 1887 bis 1903 saß Böckel für die Deutsche Reformpartei im Reichstag, er war Herausgeber der völkischen Zeitschriften: Reichsherold, Volksrecht, Volkskämpfer, und betätigte sich maßgeblich im „Deutschen Volks-Bund“, der ab 1900 versuchte, „national gesinnte Männer“ gegen die angeblich erdrückende Übermacht des Judentums zusammen zu schließen. In seinen „Ansprachen an das deutsche Volk“, die als Druckschriften hohe Auflagen erreichten, suchte Böckel mit reichlich gebotenem Zitatenschatz die internationale Macht des Judentums, die „Unterwerfung der nichtjüdischen Wirtsvölker“ zu beweisen.22 Auf dem Antisemitentag in Bochum einigten sich Anfang Juni 1889 die verschiedenen judenfeindlichen Strömungen (mit Ausnahme Adolf Stoeckers) auf gemeinsame Grundsätze und Forderungen, aber schon über der Bezeichnung des Zusammenschlusses entzweiten sich die Antisemiten wieder. Es gab nun eine „Antisemitische Deutschsoziale Partei“ und eine „Deutschsoziale Partei“ und ab Juli 1890 die von Böckel in Erfurt gegründete „Antisemitische Volkspartei“, die ab 1893 „Deutsche Reformpartei“ hieß. Im Reichstag errangen Vertreter antisemitischer Gruppierungen 1890 fünf und 1893 sechzehn Mandate. Ernst Henrici war zusammen mit dem Reichstagsabgeordneten Wilhelm Pickenbach 1894 Gründer des „Deutschen Antisemitenbund“. Am meisten Aufsehen im Parlament erregte der Demagoge Hermann Ahlwardt (1846–1914), der seit 1892 als Parteiloser im Reichstag saß und sich als Radau-Antisemit besonders hervortat. Durch hemmungslosen Populismus war Ahlwardt, den man „den stärksten Demagogen vor Hitler in Deutschland“ genannt hatte, vorübergehend erfolgreich. Wegen Verleumdung und Erpressung gerichtsnotorisch und vielfach bestraft, als Volksschulrektor nach Unterschlagungen entlassen, verbreitete Ahlwardt als Verfasser zahlreicher Pamphlete in den 1880er Jahren rastlos und wirkungsvoll antisemitische Propaganda. Der organisierte Antisemitismus war nach den Erfolgen in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts in Stagnation und Krise geraten. Im Kaiserreich hatte er zwar keinen politischen Einfluss erringen können, zum kulturellen Klima der Zeit hatte die neue Form der Judenfeindschaft aber einen kaum zu unterschätzenden Beitrag geleistet, und seine Agitation und Publizistik, die in die öffentliche Diskussion eingeführten Schlagworte und Postulate bildeten Keime, die schlummernd in der Erde lagen und nur auf günstige Bedingungen zu ihrer Entfaltung warteten. Im Ersten Weltkrieg wurden die antijüdischen Vorbehalte in Deutschland neu aufgeladen. Im Frühjahr 1914 hatten sich im Zusammenschluss von Deutschsozialer Partei und Deutscher Reformpartei radikale Antisemiten in der Deutschvölkischen Partei zusammengeschlossen, die im Reichstag eine „Deutsche Fraktion“ bildete. Sie propagierte einen rabiaten Antisemitismus und bis zum Zusammenbruch 1918 einen aggressiven Siegfrieden. 1919 fanden sich die Mitglieder in der Deutschnationalen Volkspartei und im Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund wieder, sowie in der Deutschvölkischen Freiheitspartei, die 1922 gegründet, eine Seitenlinie der

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NSDAP bildete. Ungeachtet der Tatsache, dass das deutsche Judentum die Kriegsbegeisterung des Sommers 1914 ungeteilt mitmachte und dass die Zahl der jüdischen Freiwilligen überdimensional – gemessen am jüdischen Bevölkerungsanteil – groß war, machte das Gerücht von der „jüdischen Drückebergerei“ die Runde und als zweites antisemitisches Stereotyp war die Überzeugung landläufig, dass Juden als die „geborenen Wucherer und Spekulanten“ sich als Kriegsgewinnler an der Not des Vaterlandes bereicherten. Nachdem sich seit Ende 1915 die antijüdischen Eingaben und Denunziationen häuften, in denen behauptet wurde, jüdische Wehrpflichtige seien in großer Zahl vom Kriegsdienst befreit und die Juden im Militärdienst seien vor allem in der Etappe zu finden, befahl der preußische Kriegsminister am 11. Oktober 1916 eine statistische Erhebung über die Dienstverhältnisse der deutschen Juden im Kriege. War diese Anordnung zur „Judenzählung“ an sich schon ein antisemitischer Affront, so macht die Tatsache, dass die Ergebnisse nicht veröffentlicht wurden, die Angelegenheit zum Skandal.23 Wenn die „Judenzählung“, wie behauptet wurde, amtlich die Unhaltbarkeit der Beschwerden beweisen sollte, so sanktionierte sie, weil das Resultat trotz jüdischer Forderungen geheim blieb, die antisemitischen Ressentiments mit lang anhaltender Wirkung, von der die NSDAP und andere Rechtsparteien die ganze Weimarer Republik hindurch profitieren konnten. Entgegen den Aufklärungskampagnen des „Reichsbunds jüdischer Frontkämpfer“, der bis 1933 die Öffentlichkeit auf den tatsächlichen Einsatz der deutschen Juden im Weltkrieg aufmerksam machte, blieb eine große und zunehmend einflussreiche Zahl von Deutschen davon überzeugt, „die Juden“ seien Drückeberger und hätten den Krieg vor allem zu unsauberen Geschäften benutzt. Auch wegen dieser Folgewirkungen konnte die Judenzählung im Heer als „die größte Ungeheuerlichkeit“ bezeichnet werden, „deren sich eine Behörde je schuldig gemacht hat.“24 Zu den Initiatoren der Judenzählung gehörte Ferdinand Werner (1876–1961), ein hessischer Lehrer, der vor dem Ersten Weltkrieg als Agitator bekannt wurde. Im →Alldeutschen Verband gehörte er dem „Judenausschuss“ an, 1915 bis 1918 war er Vorsitzender des Deutschvölkischen Bundes, er wurde Mitbegründer des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes, und der Deutschnationalen Volkspartei in deren Hauptvorstand er saß. Er war ab 1918 Mitglied des hessischen Landtags und 1924–1928 des Reichstags. 1930 schloss er sich der NSDAP an. Von März bis September 1933 war Ferdinand Staatspräsident von Hessen. Er verkörperte die rassistische Blut- und Boden-Ideologie lange vor dem Nationalsozialismus, vertrat integrale völkisch-antisemitische Anschauungen und propagierte ein aggressives Deutschtum.25 Nach dem Ersten Weltkrieg kamen völkischer Rassismus und antisemitische Propaganda im Verein mit antidemokratischem Denken und antirepublikanischer Gesinnung zu neuer Blüte. Die Ängste deklassierter Kleinbürger und verletzter deutscher Nationalstolz machten „den Juden“ zum Schuldigen. Im Programm der völkischen und nationalistischen Parteien der Nachkriegszeit, vor allem der NSDAP ab 1920 und in der Deutschnationalen Volkspartei, bildete Antisemitismus das ideologische Bindemittel, mit dem Existenzängste und Erklärungsversuche für wirtschaft-

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liche und soziale Probleme konkretisiert wurden, um republik- und demokratiefeindliche Anhänger zu gewinnen. Ein früher Weggefährte Hitlers (der freilich schon vor 1933 in Ungnade fiel, als Gauleiter von Thüringen abgesetzt und als Sektierer aus der NSDAP ausgeschlossen wurde), der völkisch-radikale Schriftsteller Artur Dinter (1876–1948), hatte mit seinen populären antisemitischen Romanen, die das Verbot der „Rassenmischung“ und den Ausschluß der Juden aus dem öffentlichen Leben propagierten, beträchtlichen Erfolg, der den Weg zu den „Nürnberger Gesetzen“ von 1935 ebnen half. Von Dinters Buch „Die Sünde wider das Blut“ (Leipzig 1918), dem ersten Band einer antisemitischen Trilogie, sind bis 1934 260.000 Exemplare verkauft worden.26 Politisch erfolgreicher war Julius Streicher (1885– 1946), der über den „Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund“ zur Hitlerbewegung stieß und 1922 die Nürnberger Ortsgruppe der NSDAP gründete. Als Gauleiter Frankens spielte der Volksschullehrer bis zu seiner Entmachtung wegen Korruption 1940 als Paladin Hitlers eine wichtige Rolle. Seine Wochenzeitung „Der Stürmer“ (1923–1945) war das Sprachrohr eines obszönen Antisemitismus, der völkische Klischees mit antikatholischen und antijudaistischen Stereotypen mischte. Die pathologischen Vorstellungen im Weltbild Hitlers, die in der bösartigen Karikatur des Juden, in Phantasien von der jüdischen Weltverschwörung gipfelten (und sie mit der von vielen als existenzbedrohend empfundenen Gefahr des Bolschewismus verknüpften), trafen, nachdem die vor dem Ersten Weltkrieg ausgebrachte Saat des Rassenantisemitismus zu sprießen begann, auf verbreitete Ängste im Publikum, die durch Propaganda geschürt wurden. Im Programm der NSDAP waren seit 1920 die Lehr- und Grundsätze des völkischen Antisemitismus fixiert, nach dem Machterhalt der NSDAP 1933 wurden zentrale Postulate des völkischen Antisemitismus wie der „Arierparagraph“ und die Ausgrenzung der Juden aus dem sozialen, politischen und ökonomischen Leben rasch verwirklicht.

Wolfgang Benz

1 Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700–1933, München 1989; Massimo Ferrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus: Von der Bismarckzeit zu Hitler, Frankfurt a.M. 2003. 2 Rainer Erb und Werner Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780–1860, Berlin 1989. 3 Hans-Günter Zmarzlik, Der Sozialdarwinismus in Deutschland als geschichtliches Problem, in: VfZ 11 (1963), S. 246–273. 4 Der „Berliner Antisemitismusstreit“. Die Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation 1879–1881. Eine Quellenedition im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung, bearbeitet von Karsten Krieger, München 2003. 5 Otto Glagau, Der Börsen- und Gründungs-Schwindel in Berlin. Gesammelte und stark vermehrte Artikel der „Gartenlaube“, Leipzig 1876, S. XXX; Daniela Weiland, Otto Glagau und der „Kulturkämpfer“. Zur Entstehung des modernen Antisemitismus im frühen Kaiserreich, Berlin 2004.

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6 Wilhelm Marr, Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet, Bern 18793, Vorwort; Moshe Zimmermann, Wilhelm Marr. The Patriarch of Anti-Semitism, New York u.a. 1986. 7 Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007. 8 Der Mauscheljude. Von einem deutschen Advokaten. Ein Volksbüchlein für deutsche Christen aller Bekenntnisse, Paderborn 1879, S. 5. 9 Günter Brakelmann, Martin Greschat, Werner Jochmann, Protestantismus und Politik. Werk und Wirkung Adolf Stoeckers, Hamburg 1982; Grit Koch, Adolf Stoecker 1835–1909. Ein Leben zwischen Politik und Kirche, Erlangen u.a. 1993. 10 Adolf Stoecker, Christlich-sozial. Reden und Aufsätze, Berlin 18902, S. 368f. 11 Jeanette Jakubowski, Eugen Dühring. Antisemit, Antifeminist und Rassist, in: Barbara Danckwortt (Hg.), Historische Rassismusforschung. Ideologien, Täter, Opfer, Hamburg 1995, S. 70–90. 12 Eugen Dühring, Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage. Mit einer weltgeschichtlichen Antwort, Karlsruhe u.a. 18812, S. 153. 13 Otto Glagau, Des Reiches Noth und der neue Culturkampf, Osnabrück 1879, S. 282. 14 Dühring, Die Judenfrage, S. 113–114. 15 Elisabeth Albanis, Anleitung zum Hass: Theodor Fritschs antisemitisches Geschichtsbild. Vorbilder, Zusammensetzung und Verbreitung, in: Werner Bergmann (Hg. u.a.), Antisemitische Geschichtsbilder, Essen 2009, S. 167–192; Andreas Herzog, Theodor Fritschs Zeitschrift „Hammer“ und der Aufbau des „Reichs-Hammerbundes“ als Instrumente der antisemitischen völkischen Reformbewegung (1902–1914), in: Mark Lehmstedt (Hg. u.a.), Das bewegte Buch. Buchwesen und soziale, nationale und kulturelle Bewegungen um 1900, Wiesbaden 1999, S. 153–182; Alexander Volland, Theodor Fritsch und „Der Hammer“, Mainz 1994. 16 Thomas Frey (d.i. Theodor Fritsch), Antisemiten-Katechismus. Eine Zusammenstellung des wichtigsten Materials zum Verständniß der Judenfrage, Leipzig 18872, S. 14. 17 Thomas Frey, Das ABC der Sozialen Frage, Leipzig o.J. [1892] (Kleine Aufklärungs-Schriften Nr. 1), S. 9f. 18 Geoffrey G. Field, Evangelist of race. The Germanic vision of Houston Stewart Chamberlain, New York 1981; David Clay Large, Ein Spiegelbild des Meisters? Die Rassenlehre von Houston Stewart Chamberlain, in: Dieter Borchmeyer (Hg. u.a.), Richard Wagner und die Juden, Stuttgart 2000, S. 144–159. 19 Peter Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914, Göttingen 2004; Michael Wladika, Hitlers Vätergeneration. Die Ursprünge des Nationalsozialismus in der k.u.k. Monarchie, Wien 2005. Ich danke Harald Lönnecker für den Hinweis zu den Waidhofener Beschlüssen. 20 Werner Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, München 2002, S. 44. 21 Ernst Henrici, Was ist der Kern der Juden-Frage? Vortrag, gehalten am 13. Januar 1880, Berlin 1881, S. 13. 22 Otto Böckel, Nochmals: Die Juden – die Könige unserer Zeit. Eine neue Ansprache an das deutsche Volk, Berlin 1901 (zweites Zehntausend), S. 1. 23 Werner T. Angress, Das deutsche Militär und die Juden im Ersten Weltkrieg, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 19 (1976) 1, S. 77–146. 24 Jürgen Matthäus, Deutschtum and Judentum under Fire. The Impact of the First World War on the Strategies of the Centralverein and the Zionistische Vereinigung, in: Leo Baeck Institute Year Book 33 (1988), S. 129–176. 25 Jörg-Peter Jatho, Dr. Ferdinand Werner. Der hessische Antisemitismus und die NSDAP, Gießen 2009.

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26 Josef Schmidt, Artur Dinter´s ‚Radical Novel‘ The Sin Against the Blood (1917): Trivial Stereotypes and Apocalyptic Prelude, in: Friedrich Gaede (Hg. u.a.), Hinter dem schwarzen Vorhang. Die Katastrophe und die epische Tradition, Tübingen, Basel 1994, S. 129–138; Claudia Witte, Artur Dinter. Die Karriere eines professionellen Antisemiten, in: Barbara Danckwortt (Hg.), Historische Rassismusforschung. Ideologien, Täter, Opfer, Hamburg 1995, S. 113–151.

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Burgenforschung von 1918–1950 Seit dem 19. Jahrhundert wurden Objekte materieller Kultur des Mittelalters im deutschsprachigen Raum intensiver erforscht. Dieses neu erwachte Interesse am Mittelalter stand in engem Zusammenhang mit der Verwendung mittelalterlicher Motive für nationalistische Politik. Nebst der nationalistischen Überhöhung des gotischen Baustils deutscher Dome1 symbolisierten Burgen ein als genuin deutsch-germanisch imaginiertes Mittelalter, das als Erbe des Römischen Reiches die kulturelle Führung Europas seit der Völkerwanderungszeit angetreten habe. Die Restaurierung der Marienburg bei Danzig, dem Hauptsitz des Deutschen Ordens, wurde unter Friedrich Wilhelm III. ab 1817 vorangetrieben, um ein Symbol kultureller Überlegenheit in den deutschen Ostgebieten zu schaffen.2 Nach der Reichsgründung 1871 intensivierte Wilhelm I. diese Burgenpolitik, die dann von Wilhelm II. weitergeführt wurde. Von 1900 bis 1908 ließ Wilhelm II. die Hohkönigsburg bei Sélestat im Elsass durch den Architekten Bodo Ebhardt wiederaufbauen. Anlässlich der Einweihung der rekonstruierten Burg meinte Wilhelm, dass diese Wehranlage Symbol des Deutschtums in der „Westmark“ sei und zusammen mit der Marienburg in Ostpreußen eine Ost-West-Achse deutscher Kulturhoheit bilde.3 Im Zuge dieser politischen Inanspruchnahme des Mittelalters bildete sich die Burgenforschung als wissenschaftliches Feld heraus. Erste burgenkundliche Werke datieren ins späte 18. und frühe 19. Jahrhundert. Verfasst wurden sie vornehmlich von Militärs im Ruhestand, Laienhistorikern und kunsthistorisch interessierten Antiquaren.4 Im späten 19. Jahrhundert erfolgte in der Burgenforschung des deutschsprachigen Raums eine Standardisierung von Methoden und Darstellungsweisen, die mit zwei Namen, Otto Piper und Bodo Ebhardt, verbunden war.5 Der nationalistische und pangermanische Einschlag der Burgenforschung nahm vor allem mit Ebhardt seinen Lauf, der mit der Gründung der Vereinigung zur Erhaltung deutscher Burgen e. V. (heute: Deutsche Burgenvereinigung) 1899 und der gleichzeitig ins Leben gerufenen Zeitschrift Der Burgwart die Professionalisierung der deutschsprachigen Burgenforschung vorantrieb.6 Ebhardt ging von der Annahme aus, dass Volk und Rasse sich in den Burgen innerhalb einer Region oder eines Landes zeigten. Volk, Rasse und Boden waren für Ebhardt sich wechselseitig durchdringende Entitäten;7 je tiefer ein Volk mit seinem Boden verwurzelt und je ethnisch homogener dieses Volk war, desto schärfer bildete sich für Ebhardt der Baustil dieses Volkes heraus. Diese völkische Epistemologie war germanozentrisch unterlegt, denn die Verbreitung des Burgenbaus in Europa ging laut Ebhardt vor allem auf die Germanen zurück. Germanisch-deutsche Elemente waren somit an den Burgen ganz Europas zu finden. Als Kernland der Germanen sah Ebhardt Deutschland an, weshalb die „reinste Form“ des Burgenbaus dort entwickelt worden sei.8 Die Burgenforschung war nie eine festgefügte Disziplin, die einem einheitlichen Methodenkanon folgte. Nebst Laienwissenschaftlern wie Ebhardt erforschten auch Kunsthistoriker und Denkmalpfleger, Archäologen der Vor- und Frühgeschichte

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und des Frühmittelalters sowie Landeshistoriker und Kulturgeographen die mittelalterlichen Wehrbauten. Burgenforschung war ein inter- und multidisziplinäres Forschungsfeld. Burgen waren fester Bestandteil der kunsttopographischen Werke von Konservatoren wie Georg Dehio oder Georg Hager und galten als schützenswerte Denkmäler.9 Der Archäologe Carl Schuchhardt behandelte die Burg als universales Phänomen, das bereits in der Eisenzeit existiert hatte,10 und für den Vorreiter einer völkisch ausgerichteten →Volkskunde und Kulturgeographie, Wilhelm Heinrich Riehl, gehörten Burgen ebenso zur „organisch“ gewachsenen deutschen Kulturlandschaft wie Bauernhäuser, Dorfkirchen oder Klöster.11 Diesen Wissenschaftlern schwebte ein jeweils eigener Begriff dessen vor, was als Burg aufzufassen und wie dieses Objekt am besten zu erforschen sei. Es darf auch nicht der Eindruck erweckt werden, dass diese unterschiedlichen Akteure in der Burgenforschung zusammengearbeitet hätten; manche Akteure kooperierten und nahmen Ansätze anderer Herangehensweisen auf, andere ignorierten ihre Mitstreiter. Gerade diese Inter- und Multidisziplinarität machte die Burgenforschung aber zu einem attraktiven Forschungsfeld für völkisch orientierte Wissenschaftsorganisationen, die nach 1918 im deutschsprachigen Raum entstanden.12 Der nationalistische Mediävalismus deutscher Geistes- und Kulturwissenschaftler radikalisierte sich im Ersten Weltkrieg. 1914 galt deutschen Kunsthistorikern die Gotik als „Ausdruck deutschen Weltmachtstrebens“, 1917/18 erhoben sie das Mittelalter „zum Idealbild einer religiös motivierten Volkskultur.“13 Auch Ebhardt spitzte während des Kriegs seine rassisch-völkischen Ansichten zu. Die Meinung, dass nur in Deutschland Volk und Adel aufgrund der Zugehörigkeit zur selben Ethnie miteinander einen Bund eingegangen waren, war für ihn Grund zur Annahme, dass die Deutschen anderen europäischen Völkern nicht nur kulturell, sondern auch biologisch überlegen waren. Nur die Deutschen konnten eine dauerhafte Sozialordnung in Europa gewährleisten, da sie Werkzeuge einer höheren, rassischen Ordnung waren.14 Laut Ebhardt fand im Krieg die Gemeinschaftswerdung der Deutschen mit ihrem „Volkskaiser“ Wilhelm II. an der Spitze ihre Erfüllung.15 In der Nachkriegszeit hielt die Begeisterung für das Mittelalter in Deutschland an. Nationalistische Feiern, bei denen mittelalterliche Symboliken im Zentrum standen, waren in den 1920er Jahren populär. Die „Tausendjahrfeier“ des Rheinlands in Koblenz am 20. Juni 1925 steht exemplarisch für eine Sehnsucht breiter Bevölkerungsschichten nach einer neuen „organischen Ordnung“ und der Erwartung eines anbrechenden Reichs nach mittelalterlichem Vorbild.16 Auch für deutsche Geistesund Kulturwissenschaftler stellte das Mittelalter eine idealisierte, bessere Gesellschaftsordnung dar. Maßgebend hierfür waren die Kriegsniederlage Deutschlands, der Territorialverlust infolge des Versailler Vertrags, aber auch eine tiefe intellektuelle Krise, die um 1900 eingesetzt hatte und mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ihren Höhepunkt erreichte. 1922 schrieb Paul Ludwig Landsberg, das Mittelalter stelle eine „menschliche Grund- und Wesensmöglichkeit“ dar. Diese lebensphilosophische Interpretation einer historischen Epoche war Ausdruck einer sehnsüchtig

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erwarteten besseren Welt, die sich aus den „positiven Kräften“ des Mittelalters konstituieren sollte. Angehörige der konservativen Revolution vertraten solche Denkfiguren besonders prominent. In diesem Milieu wurden nach 1918 der „Hunger nach Ganzheit“, Schwärmereien von einem kommenden Reich und der territorial- und bevölkerungspolitische Revisionismus zu einem explosiven Gemisch.17 Zahlreiche jüngere Burgenforscher, insbesondere Angehörige der „Kriegsjugendgeneration“ (1900–1910) und der „Nachkriegsgeneration“ (1910–1920), neigten in den 1920er Jahren der völkischen Ost- und →Westforschung zu und kooperierten mit den 1931 als informelles Netzwerk gegründeten →Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften (VFG), die sich der Erforschung des angeblich deutschen Westens, Ostens und Südostens Europas widmeten.18 Seit 1920 hatte Paul Clemen, Provinzialkonservator der Rheinprovinz, das ehemalige Kabinett für mittelalterliche und neuere Kunst in Bonn zur wichtigsten „Einrichtung zur Dokumentation und Erforschung der westeuropäischen Kunst im Kontext nationalkonservativer Fragestellungen der Kulturraumforschung“ ausgebaut. An diesem Institut war auch Clemens Gemeinschaft zur Erforschung der Pfalzen im Westen angesiedelt.19 Das Institut und die Pfalzen-Forschungsgemeinschaft waren mit dem ebenfalls 1920 gegründeten Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande an der Universität Bonn eng verbunden. Beide Institute waren Zentren der deutschen Westforschung.20 Die Pfalzen-Forschungsgemeinschaft wurde nach 1933 von der DFG unterstützt.21 Eine ähnliche Organisation hatte sich im Osten für Thüringen, Sachsen und Brandenburg gebildet.22 1927 gründeten die Archäologen Schuchhardt und der jüngere →Wilhelm Unverzagt die Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der nord- und ostdeutschen vor- und frühgeschichtlichen Wall- und Wehranlagen (Burgwall-Arbeitsgemeinschaft), die zur →Ostforschung zu zählen ist und an die Römisch-Germanische Kommission im Archäologischen Institut des Deutschen Reiches angebunden war. Auch die Burgwall-Arbeitsgemeinschaft wurde von der DFG finanziell unterstützt. Zudem arbeitete Unverzagt mit →Albert Brackmanns →Publikationsstelle Berlin-Dahlem zusammen, also mit der späteren →Nordund Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG).23 Solche Arbeitsgemeinschaften und Vereine agierten oft über die Landesgrenzen hinweg. Ein Beispiel sind die Burgenfreunde beider Basel, die 1934 aus dem 1927 gegründeten Schweizerischen Burgenverein (SBV) hervorgegangen sind. Einige Mitglieder dieses Vereins nahmen in den 1930er Jahren an den Tagungen der →Westdeutschen Forschungsgemeinschaft (WFG) teil.24 Eine weitere Institution war das Niederösterreichische Burgenarchiv Felix Halmers, das im Rahmen der Bibliothek des Reichsgaus Niederdonau unter Mitwirkung des dortigen Reichsstatthalters Hugo Jury ab Ende 1941 entstand.25 Die trinationalen Strukturen dieser völkisch orientierten Organisationen für Burgenforschung gingen auf ein schon vor dem Ersten Weltkrieg weitgehend etabliertes Netzwerk von Denkmal- und Heimatschutzinstitutionen zurück, die zwischen Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz kooperierten.26

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Da es sich bei der Burgenforschung um ein ausgesprochen heterogenes Forschungsfeld handelte, existierten auch viele einzelne Wissenschaftler, die völkische Forschung betrieben. Ein Beispiel hierfür ist der Kunsthistoriker und Burgenforscher Walter Hotz. Für Hotz bildete der Reichsgedanke ein konstitutives Element der Sozialordnung des mittelalterlichen Abendlands. Die Reichsidee sah er als „Resultat des Bündnisses von germanischem und hellenisch-römischem Machtkreis“, zwischen Karl dem Großen und der spätantiken Kultur. Die Germanen fungierten in dieser Gedankenwelt als schöpferische, die antiken Kulturen erneuernde Kraft, die „auf den Resten des überalterten Römerreiches ein neues Europa“ geschaffen hatten.27 Dieses Europa war für Hotz ein „Kunstraum“ und die karolingische Kunst betrachtete er als „die erste ausgesprochen repräsentative Germanenkunst großen Stils im christlichen Abendlande“ mit nordischem Schönheitsideal. Die Germanen waren für ihn eine völkische Entität, die aus biologisch-‚rassischen‘ und künstlerisch-geistigen Charakteristiken bestand. Den germanisch-abendländischen Kunstraum differenzierte Hotz in weitere, völkisch-tribalistisch determinierte räumliche Untereinheiten, die er „germanisch-deutsche, germanisch-skandinavische, germanisch-langobardische, germanisch-westfränkische, germanisch-normannische, germanisch-burgundische und germanisch-provencalische [sic] Kunst“ nannte.28 Der germanisch-deutsche Raum war für Hotz der „gesamtdeutsche Volks- und Kulturboden“, der den anderen „Volksräumen“ überlegen war.29 Im NS-Regime wurden Burgenforschung und Burgendenkmalpflege zunächst gefördert. Burgen, Burgruinen und Schlösser erlangten für NS-Politiker und NSIdeologen große Bedeutung. Die Bauwerke wurden für die NS-Jugend- und Führernachwuchserziehung und die NS-Fest- und Feierkultur genutzt und gehörten zum nationalsozialistischen Totenkult. Sie konnten als Abwehr- und Kriegsmetaphern in den Schriften und Reden von NS-Ideologen sowie in den Bildern der NS-Propaganda fungieren, dienten aber auch im Kontext der Autarkie- und Siedlungspolitik der SS als Stützpunkte. Weiter gehörten Burgen und Schlösser zum Lebensstil einzelner Vertreter der NS-Führungselite, wie Hermann Göring, womit auch das Bedürfnis verbunden war, durch die Bauwerke den NS-Staat zu repräsentieren.30 Angehörige der NS-Elite förderten daher Burgenforschung und Burgendenkmalpflege, wobei mehrheitlich Wiederaufbauten oder Restaurierungen bezuschusst wurden. Adolf Hitler unterstützte mehrere Restaurierungsprojekte von mittelalterlichen Burgruinen. Auf Anfrage von verschiedener Seite und bestärkt durch die Expertise des bayerischen Denkmalpflegers Georg Lill widmete Hitler eine einmalige Spende von 15.000 RM für die Konservierung der Ruine Wildenberg im Odenwald.31 Für die Restaurierung der Burg Lauenstein erklärte sich Hitler bereit, jährlich 10–12.000 RM zu spenden.32 Als weitere Beispiele lassen sich eine Schenkung von 200.000 RM für den Wiederaufbau des niedergebrannten Stuttgarter Schlosses und eine Donation von 800.000 RM für die Renovierung der Burgen des Deutschen Ordens in den Ostgebieten auf Anregung Albert Speers nennen.33 Für ein vom NS-Ministerpräsidenten Bayerns entwickeltes Wiederaufbau- und Konservierungsprogramm bayerischer

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und pfälzischer Burgen und Schlösser spendete Hitler insgesamt 400.000 RM.34 Göring ließ der Vereinigung zur Erhaltung deutscher Burgen e. V. eine einmalige finanzielle Unterstützung von insgesamt RM 23.750 in Raten zukommen.35 Darüber hinaus spendete er zusammen mit Wilhelm Frick und Bernhard Rust auf Empfehlung des Leiters des Amts Denkmalpflege im REM Robert Hiecke Gelder für Ebhardts zweibändiges Monumentalwerk Der „Wehrbau Europas im Mittelalter“ und für andere Unternehmen der Burgenvereinigung.36 Diese Zahlungen endeten spätestens 1939, wobei nur zu vermuten ist, dass dafür das Kriterium „kriegswichtig“ ausschlaggebend war. Frick beteiligte sich 1936 auch an den Ausgrabungen und dem teilweisen Wiederaufbau der Pfalz in Kaiserslautern, nachdem er schon die Restaurierung des Speyerer Doms initiiert hatte.37 Burgenforschung wurde im NS-Regime auch von der DFG gefördert. Der Kunsthistoriker Karl-Heinz Clasen erhielt 1924–1935 regelmäßig Zuschüsse in der Höhe von durchschnittlich etwa 600 RM für seine Untersuchungen der Ordensburgen im Osten.38 Clasens These war, dass die Ordensburg nicht auf die Bauten der Staufer in Italien und Sizilien zurückging, sondern einen eigenständigen Bautypus darstellte, der sich autochthon aus dem „östlichen Kulturboden“ heraus über Jahrhunderte hinweg entwickelt hatte.39 Seine Annahme entsprach den Ansichten der Ostforschung und unterhöhlte damit den slawischen Anspruch auf diese Regionen. Diejenigen Wissenschaftler, deren Anträge durch die DFG ab Frühjahr 1935 bewilligt wurden, gehörten mehrheitlich den Jahrgängen zwischen 1900–1912 an. Es handelte sich dabei mehrheitlich um gut ausgebildete, gleichzeitig rechtsextrem radikalisierte Nachwuchswissenschaftler. Die Mehrzahl der Anträge fokussierte geographisch auf solche Burgen, die außerhalb Deutschlands oder in den „deutschstämmigen“ Gebieten lagen und daher im Zusammenhang mit Forschungsfragen der Volks- und Kulturbodenforschung standen.40 Nahezu alle geförderten Vorhaben gehörten entweder zur Ostforschung oder zur Westforschung, wobei die Ostforschung prominenter vertreten war. So finden sich Forschungsunternehmen wie das von Hermann Phleps, Professor an der Technischen Hochschule in Danzig, zu Kirchenburgen in Siebenbürgen, das vom Außenpolitischen Amt der NSDAP positiv beurteilt wurde.41 Zur Ostforschung gehörten mehrere Vorhaben zur Untersuchung der Burgen des Deutschen Ordens42 und Unternehmen im Rahmen der ÖsterreichischDeutschen Wissenschaftshilfe, die mit den VFG verbunden waren. Zu nennen ist der Geschichtlich-statistische Atlas des Burgenlandes unter der Leitung der Professoren →Hans Hirsch und Fritz Bodo aus Wien. SS-Schütze Werner Knapp, der nach der Ausbildung zum Ingenieur seinen Interessen an den Burgen gefolgt war, indem er Handbuch- und Atlas-Arbeiten für die SOFG und die AFG übernommen hatte, sollte für das Atlaswerk eine Karte zu den mittelalterlichen Wehrbauten erstellen.43 Bei diesem Unternehmen ging es um die Abwehr der „ungarischen Revisionspropaganda“, die den wissenschaftlichen „Tatbestand zu vernebeln“ wisse, demzufolge das Burgenland deutsch-österreichischer und nicht, wie das „chauvinistische Madjarentum“ behaupte, „ungarischer Kulturboden“ sei.44

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Walter Hotz erhielt 1936 eine Sachbeihilfe für sein Forschungsvorhaben über stauferzeitliche Reichsburgen.45 Nebst dem Projekt von Hotz liegt zur Westforschung nur ein Vorhaben vor. Kurt Wefelscheid, der beim Vorsteher des Kölner Instituts für Raumpolitik Martin Spahn arbeitete, untersuchte den „Burgenbau und den Adel in Westfalen und am Niederrhein“.46 Mit seinen Aufnahmen von verschiedenen Burgstellen in diesem „Kulturraum“ beabsichtigte er, Verkehrswege und Landesausbau im Mittelalter zu erforschen. Erfolgreiche Territorialbildung machte Wefelscheid am Vorhandensein eines größeren „Burgbau[s] im ritterlichen Sinne“ fest. Im Gegensatz zu den westlichen Teilen Belgiens und Hollands war der Burgenbau am Niederrhein und in Westfalen seiner Ansicht nach wenig ausgeprägt. Den Grund dafür sah Wefelscheid in der Dominanz der traditionellen Sozialstruktur der Edelfreien und Ministerialen, die auf ihren „Hofanlagen als grundbesitzender Landadel sitzen geblieben“ seien. Dadurch war laut Wefelscheid die Ausbildung einer ritterlichen Kultur, die für den Burgenbau ausschlaggebend war, im deutschen Gebiet nicht erfolgt. Wefelscheid bediente sich hier einer eigenwilligen völkischen Denkfigur, denn er interpretierte den Burgenbau und die Ritterkultur als „volksfremde Elemente“: „Es zeigt sich dabei, dass die alten gaugräflichen Mächte ihre Stellung nicht auf den Ausbau burglicher Anlagen abstützten, sondern diese in der volkhaft verbundenen Gauverfassung begründet sahen.“47 Mit der 1936 (Vierjahresplan) erfolgten Verschiebung der Prioritäten in der NSWissenschaftspolitik auf die Kriegsvorbereitung fielen die finanziellen Unterstützungen für Burgenforscher größtenteils weg.48 Forschungsgelder mit der Begründung „kriegswichtig“ erhielten nur noch Wissenschaftler und Denkmalpfleger, die in Inventarisationsarbeiten des SS-Ahnenerbes und in Forschungen mit imperialistischen Zielen, wie etwa dem Archiv- und Kulturschutz, eingebunden waren. Zu nennen ist hier die Pfalzen-Forschungsgemeinschaft Clemens, die im Rahmen des Kriegseinsatzes der deutschen Geisteswissenschaften („Aktion Ritterbusch“) „Kaiserpfalzen und Reichsburgen im Burgund und der Franche comté kunsthistorisch erforschen“ sollte, was im Zusammenhang mit der angestrebten Beweisführung der Existenz eines frühmittelalterlichen „germanischen Reiches“ im „Westraum“ stand.49 Heinrich Himmler, im Oktober 1939 zum →Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums ernannt, plante ab 1940 in Tirol die „Heimkehr“ der „Volks- und Reichsdeutschen“ ins Reich bei gleichzeitiger Aussiedlung von „Volksfremden“ aus dem Reich. Vertreter des RSHA, der regionalen Gauleitung, des SSAhnenerbes, der VFG sowie einzelne Denkmalpfleger und Museumsleute arbeiteten bei dieser Aufgabe zusammen.50 Neben kartographischen Darstellungen von Bevölkerungsbewegungen und Statistiken zu Geburtenziffern ging die vom →SS-Ahnenerbe geleitete Kulturkommission in enger Zusammenarbeit mit dem Kunsthistoriker und Gaukonservator Kärntens in Innsbruck Walter Frodl daran, die Kunstdenkmäler Südtirols zu inventarisieren. Frodls Mitarbeiter zeichneten und fotografierten Wandund Deckenmalereien, gotische Säle in Burgen und Schlössern und vermaßen Bauernhäuser oder Kirchen.51 Es ging darum, die „Bearbeitung und Aufnahme des

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dinglichen und geistigen Kulturguts der umzusiedelnden Volksdeutschen aus Südtirol“ durchzuführen.52 Als ethnisch „deutsch“ beurteilte Kunstgegenstände holten Frodls Mitarbeiter „heim ins Reich“, indem sie Plastiken oder Bilder abtransportieren ließen und Bauwerke „deutschen Charakters“ zeichneten und fotografierten.53 Die völkische Burgenforschung erfuhr in den 1930er Jahren einen Anstieg. →Hermann Aubin zufolge sollte sich die Burgenforschung als ein „Sondergebiet der Siedlungskunde“ entwickeln, in der ganze Burgensysteme und die Zusammenhänge mit dem „vom Burgengürtel umhegten Siedlungsland“ untersucht würden.54 In der Zeitschrift Deutsches Archiv für Landes- und Volksforschung (DALV), die von Mitgliedern der VFG 1937 gegründet wurde, finden sich zahlreiche Beiträge, in denen sich die Autoren mit Burgen befassten. In den meisten Artikeln ging es darum, „Bauformenforschung und Siedlungsgeographie gemeinsam auf das mittelalterliche Burgenwesen eines bestimmten politischen Raums zu konzentrieren“. Zudem sollte bewiesen werden, dass zwischen der vorgeschichtlichen „Volksburg“ und der Mittelalterburg ein Entwicklungszusammenhang bestünde, was auf die Vorstellung einer ‚rassischen‘ Genealogie zwischen germanischer Vorzeit und der Gegenwart verwies. So lasse sich für die Burgen der Steiermark „eine allgemeine, in der Wandlung der sozialen Struktur begründete Wandlung der Anlagen von der Volksburg zum Herrensitz“ nachweisen.55 Auch die Rückbindung der Burg an bäuerliche Bauformen war ein beliebter Topos sowie die Vorstellung, dass die Burg „organisch“ mit dem „Landschaftsraum“ gewachsen sei.56 Diese Themen beschäftigten auch Burgengeograph Carl Storm, der meinte, dass die „Fälle, in denen auch bäuerliche, vielfach irgendwie freibäuerliche Gemeinschaften Burgen erbauen und bewohnen“, nicht selten waren, und so steckte laut Storm „im Burgwesen eine Ausbildung der freien Genossenschaft.“57 Allen Autoren ging es um den Zusammenhang von Siedlungsgeschichte, Landesausbau und Bauentwicklung der Burgen, Elemente, die jeweils völkisch-‚rassisch‘ verankert waren.58 Nach 1945 rutschte die Burgenforschung zunächst in die Bedeutungslosigkeit ab. Sie galt als Laienwissenschaft, die von randständigen Figuren oder Vereinen betrieben wurde. 1947 initiierte der Präsident des SBV Eugen Probst die Bildung eines Europäischen, später Internationalen Burgenforschungs-Instituts, das im Schloss Rapperswil in der Schweiz eingerichtet werden sollte. Burgenforscher aller europäischen Länder sollten in diesem Institut repräsentiert sein, so auch Akteure, die zuvor mit völkischen Wissenschaftsorganisationen kooperiert hatten.59 Obgleich das Institut in den nachfolgenden Jahren kaum bedeutende Forschung betrieb,60 erwies sich die Idee der Schaffung einer europäischen Wissenschaftlergemeinschaft als beständig. Der erste europäische Kongress für Burgenforschung und Mittelalterarchäologie wurde 1964 abgehalten, ein symbolischer Akt für die Etablierung des wissenschaftlichen Felds Mittelalterarchäologie auf europäischer Ebene.61 Die Europäisierung der Burgenforschung und der Mittelalterarchäologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedeutete nicht, dass völkische Denkmuster keine Kontinuität erfahren hätten. Walter Hotz publizierte ab den späten 1950er Jah-

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ren wieder vermehrt über Burgen, Pfalzen und Schlösser. In seinem Buch „Kleine Kunstgeschichte der deutschen Burg“ von 1965 führte er seine Grundannahmen aus den 1930er und 1940er Jahren fort: „Beherrschung eines Raumes und Behauptung eines Platzes sind die Aufgaben der Burg als Wehrbau.“62 Wie vor 1945 meinte er damit die Anlage von „geopolitisch und strategisch begründete[n] Systeme[n].“63 Raum als geografisch-ethnische Einheit und Reich als politische, nun europäische Idee blieben miteinander verbunden: die vielgestaltige landschaftliche Form Europas hatte „die politische Lebensform des Reiches erhalten.“64 Auf einer Karte in einem weiteren Buch über staufische Pfalzen und Burgen zeichnete Hotz das staufische Reich so, dass jene Grenzen und Grenzräume mit eingeschlossen waren, die er vormals als „deutschen Volks- und Kulturboden“ bezeichnet hatte. Der Unterschied zur NS-Zeit bestand darin, dass nun auch Italien und die Schweiz als Ganzes dazugehörten.65 Hotz warf nicht das alte Wissen um oder veränderte es, sondern europäisierte die Reichsidee. Das Zentrum des Reichs blieb für ihn weiterhin der südwestdeutsche, elsässische und lothringische Raum. Den abendländisch-europäischen Raum nannte Hotz nun nicht mehr „Volks- und Kulturboden“, sondern „Sprachund Volksgebiet“.66 Der Rekurs auf Sprache verweist auf Wissensfiguren, die vermeintlich frei von völkischen Bezügen waren. Auf privater Ebene hielt Hotz allerdings an seinen alten völkischen Raumordnungsbegriffen fest. Böhmen und Mähren gehörten für ihn ebenso zum deutschen Burgenbau, wie er das Südtirol als „halbverlorene[s] Stück deutschen Volks- und Kulturraums“ betrachtete.67

Fabian Link

1 Magdalena Bushart, Der Geist der Gotik und die expressionistische Kunst. Kunstgeschichte und Kunsttheorie 1911–1925, München 1990, S. 35. 2 Michael S. Falser, Zwischen Identität und Authentizität. Zur politischen Geschichte der Denkmalpflege in Deutschland, Dresden, S. 21–34, 39–42. 3 Elisabeth Castellani Zahir, Echt falsch und doch schön alt. Die Wiederherstellung der Hohkönigsburg im Elsass 1900 bis 1908, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 54 (1997), S. 141–152, 144–145. 4 Ulrich Klein, Die Erforschung der Burgen in Deutschland bis 1870, in: G. Ulrich Großmann (Hg. u. a.), Die Burg. Wissenschaftlicher Begleitband zu den Ausstellungen „Burg und Herrschaft“ und „Mythos Burg“, Dresden 2010, S. 274–291, 275–286. 5 Otto Piper, Burgenkunde. Bauwesen und Geschichte der Burgen zunächst innerhalb des Deutschen Sprachgebietes, München 19123 [1895]. 6 Der Burgwart 1 (1899/1900) 1. 7 Bodo Ebhardt, Die Burgen Italiens. Baugeschichtliche Untersuchungen über die Entwicklung des mittelalterlichen Wehrbaues und die Bedeutung der Burgenreste für die Kenntnis der Wohnbaukunst im Mittelalter, Bd. I, Berlin 1909, S. 5. 8 Bodo Ebhardt, Die zehn Bücher der Architektur des Vitruv und ihre Herausgeber seit 1484, BerlinGrunewald 1918; Ebhardt, Die Burgen Italiens, Bd. 1, S. 5–6, 7, 81. 9 Georg Dehio, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, 5 Bde., 1905–1912; Die Kunstdenkmäler von Bayern, 10 Bde., bearb. von Gustav von Bezold, Berthold Riehl, Georg Hager, München 1895– 1908.

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10 Carl Schuchhardt, Die Burg im Wandel der Weltgeschichte, Potsdam 1931. 11 Wilhelm Heinrich Riehl, Die Naturgeschichte des deutschen Volkes. In Auswahl herausgegeben und eingeleitet von Hans Naumann und Rolf Haller, Leipzig 1934 [1851–1855], S. 17, 23f., 63, 69–80, 90, 125–130. 12 Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993; Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?, Baden-Baden 1999. 13 Bushart, Der Geist der Gotik, S. 15. 14 Bodo Ebhardt, Krieg und Baukunst in Frankreich und Belgien, Berlin-Grunewald 1915, S. 5, 8, 39. 15 Ebd., S. 20, 21 34, 42, 44, 153. 16 LHK, Bestand 403, Nr. 15016: Veranstaltungen in den Rheinlanden anlässlich der JahrtausendFeiern, zusammengestellt durch den Rheinischen Verkehrsbund e.V., Sitz Bad Godesberg, datiert Juni 1925. 17 Otto Gerhard Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zur Problemgeschichte der Moderne, Göttingen 1996, S. 139,142ff. 18 Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?, S. 65–73. 19 Nikola Doll, „[…] das beste Kunsthistorische Institut Großdeutschlands.“ Das Kunsthistorische Institut der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn im Nationalsozialismus, in: dies. (Hg. u.a.), Kunstgeschichte im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte einer Wissenschaft zwischen 1930 und 1950, Weimar 2005, S. 49–60, 49; StaWo, Abt. 170/21 Nr. 109: Günter Bandmann an Walter Hotz, vom 14. Februar 1950. 20 Thomas Müller, Imaginierter Westen. Das Konzept des „deutschen Westraums“ im völkischen Diskurs zwischen Politischer Romantik und Nationalsozialismus, Bielefeld 2009, S. 27, 226. 21 BArch, R 73/16338, fol. 4–5: Paul Clemen, Kommission für die Denkmälerstatistik der Rheinprovinz, an die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, vom 8. August 1934. 22 Ebd., 16563, fol. 12: Der Vorsitzende des Kreisausschusses des Landkreises Goslar an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, vom 7. März 1935; ebd., fol. 44: Der Landrat des Landkreises Goslar an die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, vom 16. Mai 1934. Vgl. Karl Brandi, Die Ausgrabung der Pfalz Werla durch Regierungs-Baurat Dr. K. Becker, Berlin 1935. 23 Susanne Grunwald, Potentiale der Burgwallforschung. Sächsische Archäologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Judith Schachtmann (Hg. u.a.), Politik und Wissenschaft in der prähistorischen Archäologie. Perspektiven aus Sachsen, Böhmen und Schlesien, Göttingen 2009, S. 149–168, 153. 24 PA Kult VI A 2-FOG, 9, Nr. 5, Kult. A 1807 * 37: Niederschrift über die am 17.9.1936 abgehaltene Besprechung in Oberkirch; ebd., Nr. 5, Kult. A 1807 * 37, 10, Nr. 4: Protokoll der Tagung der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft am 12.–14. März 1937 in Worms; ebd., Bd. 10 (11): Tagung der Historischen Arbeitsgemeinschaft am Oberrhein am 26.9.1937 zu Basel. 25 Hermann Steininger, Die Burgenkundliche Sammlung (Niederösterreichisches Burgenarchiv), in: 175 Niederösterreichische Landesbibliothek. Sonderausstellung im Foyer der NÖ Landesbibliothek vom 21.6.–30.12.1988, Wien 1988, S. 57–62, 58. 26 Stellvertretend BayHSTA, Nl Esterer 261: Der Oesterreichische Heimatschutz-Verband Wien VIII (D. K. Giannoni) an Rudolf Esterer, vom 26.1.1931. 27 Walter Hotz, Die Einheit Europas in der bildenden Kunst, in: NS-Monatshefte 8 (1942) 146, S. 289–301, 289, 292, 295. 28 Walter Hotz, Der „katholische Mensch“ und die deutsche Kunst, in: Wartburg 35 (1936) 7, S. 230– 240, 231ff. 29 Ders., Melk und die Wachau. Mit Bildern von Karl Christian Raulfs, Berlin 1938, S. 13; ders., Die staufischen Reichsburgen, in: Deutsches Volkstum, Oktoberheft (1937), S. 713–718, 713.

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30 Fabian Link, Der Mythos Burg im Nationalsozialismus, in: Großmann (Hg. u.a.), Die Burg, S. 302–311. 31 BArch, BAR, R 43 II/1260, fol. 25–26: Georg Lill an das Staatsministerium des Innern z. Hd. des H. Ministerialrats Jacob, vom 16.9.1935; ebd., fol. 59: Hans Heinrich Lammers an das Staatsministerium des Innern [Bayerns], vom 14.3.1936. 32 Ebd., R 43 II/1029a, fol. 75: Schreiben zu Rk. 17430 B, vom 25.2.1938. 33 Ebd. 1235a, fol. 52: Der Kultusminister an den Chef der Präsidialkanzlei, Staatssekretär Meissner, vom 14.5.1935. 34 BayHStA, StK 7516; Klaus Backes, Hitler und die bildenden Künste. Kulturverständnis und Kunstpolitik im Dritten Reich, Köln 1988, S. 185. 35 A DBV, Nr. 3015: Bericht über die Vorstandssitzung der Vereinigung zur Erhaltung deutscher Burgen, vom 4.6.1940. 36 Bodo Ebhardt, Der Wehrbau Europas im Mittelalter. Versuch einer Gesamtdarstellung der europäischen Burgen, Bd. 1, Berlin 1939, Umschlagsseite, S. 3–6. 37 Jürgen Kaiser, Fassaden einer Diktatur. Bauwerke und Bauplanungen des Nationalsozialismus in der Pfalz, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 92 (1994), S. 362–418, 371–375. 38 BArch, R 73/16634, fol. 90–91: Karl-Heinz Clasen an die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, vom 21.2.1925; ebd., fol. 7: Der Präsident der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft an Karl-Heinz Clasen, vom 12.5.1927; ebd. 16866, fol. 17: Karl-Heinz Clasen an die Notgemeinschaft, vom 30.3.1933: Bericht über den dritten Teil meiner Reise in Italien und Frankreich zur Erforschung der mittelalterlichen Profanarchitektur; ebd., 16866, fol. 18: Totalrechnung für alle drei Reisen, undatiert; ebd., fol. 25: Notgemeinschaft an Karl-Heinz Clasen, vom 18.12.1931. 39 Karl Heinz Clasen, Die mittelalterliche Kunst im Gebiete des Deutschordensstaates Preußen, Bd. 1: Die Burgbauten, Königsberg 1927. 40 Vgl. etwa BArch, R 73/11814, fol. 13: Walter Hotz an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, vom 11.8.1937. 41 BArch, R 73/13627, fol. 42: NSDAP Reichsleitung, Aussenpolitisches Amt an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, vom 30.6.1937; ebd., fol. 12: Karl Griewank Oberfinanzpräsidenten Berlin, vom 2.8.1938; ebd., fol. 15: Rudolf Mentzel an Hermann Phleps, vom 20.7.1938; ebd., fol. 41: Der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft an Hermann Phleps, vom 10.7.1937. 42 BArch, R 73/15452, fol. 59–63: Karl Wagner an die Historische Kommission Ost- und Westpreußens, vom 15.1.1935; ebd., fol. 47: Johannes Stark an Karl Wagner, vom 17.5.1935; ebd., fol. 51: Historische Kommission für ost- und westpreussische Landesforschung an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, vom 8.2.1935; ebd., 10854, fol. 13: Johannes Stark an Ehrlich, vom 24.7.1936; ebd., fol. 14: Hans Reinerth an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, vom 29.6.1936. 43 Schriftwechsel für Anträge hierzu von Werner Knapp, Emil Meynen, Fritz Bodo, Hans Hirsch in BArch, R 73/12200 und 16267. Dort auch R 73/16267, fol. 39–40, Bl. 40: Fritz Bodo, vom 18. März 1935: Übersicht über die derzeit für die 41 Blätter des Burgenlandatlasses in Aussicht genommenen Haupt- und Nebenkarten; Vgl. Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?, S. 272, 279; BArch, NS 31/420, fol. 25: Werner Knapp an das SS-Hauptamt, Amt weltanschauliche Erziehung, vom 19.9.1944. 44 BArch, R 73/16267, fol. 44–46: Friedrich Metz, Reichsarbeitsgemeinschaft für deutsche Volksforschung, an die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, vom 28.12.1934. 45 Ebd., 11814, fol. 8: Deutsche Forschungsgemeinschaft an Walter Hotz, vom 19.2.1938. 46 Ebd., 15542, fol. 25: Karl Griewank an Martin Spahn, vom 17.9.1940. 47 BArch, R 73/15542, fol. 34–37, Bl. 34–36: Bericht Kurt Wefelscheid, vom 7.2.1939. 48 Ebd., 12200, fol. 3: Deutsche Forschungsgemeinschaft an Werner Knapp, vom 9.5.1940. 49 Ebd., 14308, fol. 11–12: Antrag Alfred Stange, Der Direktor des Kunsthistorischen Instituts der Universität Bonn, an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, vom 12.1.1941; ebd., fol. 10: Der Präsi-

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dent der Deutschen Forschungsgemeinschaft an Gottfried Schlag, vom 19.2.1941; ebd., fol. 7: Karl Griewank an Alfred Stange, vom 12.2.1942. 50 Vgl. den Artikel in diesem Handbuch Michael Wedekind, Alpenländische Forschungsgemeinschaft. 51 Stellvertretend BArch, NS 21/90: Der Reichsgeschäftsführer des Ahnenerbes, i. A., an Gaukonservator für Kärnten Walter Frodl, vom 2.9.1942; ebd., 212: Walter Frodl an Wolfram Sievers, vom 7.3.1941. 52 Ebd., 90: Walter Frodl an Wolfram Sievers, vom 28.5.1940. 53 Ebd., 211: Walter Frodl an das Institut für Denkmalpflege in Wien, vom 22.3.1941. 54 Hermann Aubin, Zur Erforschung der deutschen Ostbewegung, in: DALV 1 (1937), S. 37–70, 309– 331, 562–602, 571. 55 Werner Knapp, Der Burgentypus in der Steiermark. Weg und Ziel neuzeitlicher Burgenforschung, in: DALV 1 (1937), S. 867–879, 867, 879. 56 Ders., Die Schlossanlagen über Leibnitz. Typenentwicklung im südostdeutschen Burgenbau, in: DALV 2 (1938), S. 867–880, 867; ders., Burgen um Innsbruck. Ausschnitt aus dem Werden der Innsbrucker Kulturlandschaft, in: DALV 4 (1940), S. 110–129. 57 Carl Storm, Zur deutschen Burgenforschung. Bemerkungen von seiten der Burgengeographie, in: DALV 5 (1941), S. 118–142, 120. 58 Hans Tintelnot, Die Stellung der schlesischen Baukunst in der ostdeutschen Architektur des Mittelalters, in: DALV 5 (1941), S. 591–602; Herbert Weinelt, Der mittelalterliche Wehrbau einer ostmitteldeutschen Rodungslandschaft. Die Burgen des Kreises Freiwaldau im Ostsudetenland, in: DALV 6 (1942), S. 148–168; Bernhard Schmid, Die Burgen des Deutschen Ordens in Preusse, in: DALV 6 (1942) 1/2, S. 74–96. 59 StaWo, Abt. 170/21, Nr. 108: Alwin E. Jaeggli-Leppin an Walter Hotz, vom 9.9.1947; StaWo, Abt. 170/21, Nr. 108: Walter Hotz an Eugen Probst, vom 1.4.1947. Vgl. o. A.: Aufruf! An die Mitglieder und Gönner des Schweizerischen Burgenvereins, in: Nachrichten des Schweizerischen Burgenvereins 20 (1947) 6, S. 67–75; Bulletin des Internationalen Burgenforschungs-Instituts 1 (1953) 4, S. 7, 9, 13. 60 Archiv des Schweizerischen Burgenvereins, Ordner „E. Schwabe. Schweizerischer Burgenverein 1945–1962, sowie Protokolle 1963–1979“ und „IBI“; StAWo, Abt. 170/21, Nr. 108: Fritz Ebhardt an Walter Hotz, vom 3.6.1947. 61 Vgl. Château Gaillard. Etudes de castellologie médiévale 1 (1964); Heiko Steuer, Entstehung und Entwicklung der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit in Mitteleuropa – Auf dem Weg zu einer eigenständigen Mittelalterkunde, in: Zeitschrift für die Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 25/26 (1997/1998), S. 19–38. 62 Walter Hotz, Kleine Kunstgeschichte der deutschen Burg, Darmstadt 1965, S. 64. 63 Ders., Pfalzen und Burgen der Stauferzeit. Geschichte und Gestalt, Darmstadt 1981, S. 18. 64 Ebd., S. 1. 65 Vgl. Karte Abb. Z 1, in: Ebd., S. 2. 66 Walter Hotz, Kleine Kunstgeschichte der Deutschen Schlösser, Darmstadt 1970, S. 1. 67 StA Wo, Abt. 170/21, Nr. 110: Walter Hotz an Konrad Lemmer, vom 10. Januar 1952.

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Deutsche Auslandswissenschaften Die Deutschen Auslandswissenschaften waren eine spezifische Verbindung von Politikwissenschaft und Auslandskunde. →Karl-Heinz Pfeffer, der in programmatischer Hinsicht wichtigste Vertreter dieser Disziplin, definierte sie als „Anwendung der einheitlichen politischen Wissenschaft auf das ‚Ausland‘“.1 An anderer Stelle sprach Pfeffer von dem deutschen „Gegenstück zu den Wissenschaften, die man in den USA und in Großbritannien Political Science, International Relations, Contemporary History oder auch Political Geography, in Frankreich Géographie humaine oder Sciences politiques nennt“. Eigentümlich sei den Auslandswissenschaften die „Verbindung konkreter Auslandskunden einzelner Länder mit den politischen ‚Grundwissenschaften‘ Geographie, Anthropologie, Soziologie, Geschichte, Philosophie, Wirtschafts- und Rechtswissenschaft.“2 Der Gedanke, wissenschaftliche Auslandskunde mit dem Lehrgebiet der Politik zu verbinden, kam bereits vor Beginn des Ersten Weltkriegs auf. Im Jahr 1917 systematisierte der Orientalist, Bildungspolitiker und spätere preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker diese Konzepte in einer Denkschrift über die „Auslandstudien“, die er im Auftrag des Preußischen Kultusministeriums erstellte, und in der eine „gediegene staatswissenschaftliche Bildung in Bezug auf das Ausland“ gefordert wurde.3 Die seit 1918 im Deutschen Reich entstehenden auslandskundlichen Institute beschränkten sich in der Regel auf bestimmte Länder und Regionen oder betrachteten das Ausland unter einem fachspezifischen Gesichtspunkt (beispielsweise Philologie, Geschichte, Weltwirtschaft oder Völkerrecht). Modellcharakter für die systematische „auslandswissenschaftliche“ Darstellung eines konkreten Landes gewann ein Buch von Wilhelm Dibelius über England (1923), in dessen Vorwort sich auch zum ersten Mal das Wort „Auslandswissenschaften“ nachweisen lässt. Auf der Basis einer „Wissenschaft von der Politik“ wurde an der Deutschen Hochschule für Politik (DHP) über Fragen des Auslands gelehrt. Am Heidelberger Institut für Sozialund Staatswissenschaften wurde Arnold Bergsträßer 1932 auf eine Stiftungsprofessur berufen, die Staatswissenschaft und Auslandskunde miteinander verband.4 Erst seit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft wurde das Konzept des „Volkes“ zur allgemein verbindlichen Kategorie für die politische Auslandskunde. An der Heidelberger Universität entstand 1933 eine Abteilung für „Auslandswissenschaft, Austauschdienst und Ausländerbetreuung“, in deren Beirat als studentischer Vertreter →Franz Alfred Six aufgenommen wurde.5 Jüngere Soziologen wie Ernst Wilhelm Eschmann forderten wiederholt eine „politische Völkerkunde“, die unter „Heranziehung der Rassenkunde, Völkerpsychologie, Sprachlehre, vergleichenden Erziehungswissenschaft“ die Geschichte und den Aufbau der anderen Völker deutlich machen und die Struktur ihres Handelns erklären sollte.6 Funktionäre des NSDStB und anderer nationalsozialistischer Organisationen strebten eine intensive Beschäftigung insbesondere mit Ost- und Südosteuropa an.7 Der Inlands-SD richtete im Rahmen der „Lebensgebietsmäßigen Auswertung“ zeitweilig ein Sachgebiet

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„Länder- und Völkerkunde (Auslandswissenschaft, insbes. →Ostforschung)“ ein und weitete auch die „Gegnerforschung“ auf das Ausland aus.8 Das steigende Interesse an der wissenschaftlichen Erforschung anderer Staaten und der akademischen Ausbildung von Spezialisten für bestimmte Länder und Regionen stand im Zusammenhang mit der Vorbereitung einer gewaltsamen Expansion des Deutschen Reiches. Die verschiedenen Impulse zu einer politischen Auslandskunde wurden 1939/40 aufgenommen und im Deutschen Auslandswissenschaftlichen Institut (DAWI) beziehungsweise der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin unter Leitung von Franz A. Six zusammengefasst.9 Führende Auslandswissenschaftler wie Eschmann, Pfeffer und Six konstruierten eine Traditionslinie für die Disziplin, die von der Kameralistik, Policey-Wissenschaft und Staatslehre des 18. Jahrhunderts und von der „deutschen Volkslehre“ der Romantik ausging. An den Entwicklungen des 19. Jahrhunderts kritisierten sie einerseits eine „individualistische Zersplitterung“ der Gesamten Staatswissenschaft beziehungsweise der Soziologie und hoben zugleich andererseits die Beiträge der Politischen Geographie, Politischen Geschichte, Wirtschaftswissenschaft und Rassenkunde anerkennend hervor. Trotz des Bemühens, die Auslandswissenschaften auch im Hinblick auf ihre Traditionen und historischen Bezüge zur „Deutschen Wissenschaft“ zu erklären, räumte Pfeffer auch Einflüsse aus dem europäischen Ausland und den USA ein.10 Das Konzept der „Auslandswissenschaften“ wurde als einheitliches und übergreifendes Modell wissenschaftlicher politischer Auslandskunde propagiert.11 Six schrieb: „Unter Einheit der Auslandswissenschaft verstehen wir: Die Grundwissenschaften als erforderliche Grundlagen des Studiums im Sinne der gesamten Staatswissenschaft oder einer totalen →Volkskunde, andererseits die Volks- und Landeskunden als Auslandskunden im Sinne des speziellen Auslandsstudiums unter Einbeziehung der Spracherlernung (nicht Spracherforschung).“12 Dies entsprach der Einteilung von Studienfächern und Fachabteilungen in politische Grundwissenschaften und spezielle Auslandswissenschaften (Volks- und Landeskunden). Die politischen Grundwissenschaften waren: Außenpolitik und Auslandskunde, Politische Geistesgeschichte, Außenwirtschaft, Politische Geschichte, Überseegeschichte und Kolonialpolitik, Politische Geographie und Geopolitik, Volkstumskunde und Volksgruppenfragen, Staats- und Kulturphilosophie, Rechtsgrundlagen der Außenpolitik und Wehrpolitik des Auslands. Die ältere Bezeichnung „Gesamte Staatswissenschaft“ für die Verbindung dieser Fächer wurde kritisiert, weil dabei der Staat zu stark, das Volk dagegen zu wenig betont wurde. Werner Best forderte in der Zeitschrift für Politik einen Ausbildungsplan, der inhaltlich eine „Staats- und Staatenkunde“ und zugleich „Volks- und Völkerkunde“ umfassen solle.13 Auch Pfeffer hielt den Begriff „Völkerkunde“ inhaltlich für richtig. Ihm war allerdings bewusst, dass darunter gewöhnlich die „Ethnologie der Primitiven“ verstanden wurde. Er hielt es daher für nötig festzuhalten, dass „die ‚gesamte Staatswissenschaft‘ im Sinne einer politischen Wissenschaft […] natürlich

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nicht von Staatsformen, sondern von den Lebenskräften der Völker“ ausgehe.14 Auslandswissenschaft begriff sich also als „politische Wissenschaft“, „Wissenschaft von der Politik“ oder „Politikwissenschaft“.15 Der Politikbegriff erfuhr dabei eine „völkische“ Wendung. Politik war als „Wissenschaft von Volk und Staat“ die „Lehre von Wesen, Inhalt und Ordnung des Volkes, seiner Führung, Verwaltungsorgane und -mittel“.16 Im Sinne einer „Zusammenfassung bestimmter anderer Wissenschaften unter politikwissenschaftlichem Gesichtspunkt im Hinblick auf das Ausland“ verstanden sich die Auslandswissenschaften nicht als „Addition anderer Wissenschaften“, sondern als „Integration.“17 Forschungspraktisch bestanden indes erhebliche Probleme bei der Umsetzung des Konzepts. So hielt es beispielsweise der Leiter der Abteilung Südosteuropa des DAWI, der Historiker →Fritz Valjavec, im Bereich seiner Volksund Landeskunde nicht für möglich, durch Verschmelzung hergebrachter Wissenschaften ein neues, regional abgegrenztes Fach „Südosteuropakunde“ zu schaffen.18 Um gleichwohl die „Totalität einer Volksordnung überschauen und beherrschen“19 zu können, wurde der Forschungsansatz einer „totalen Volkskunde“ oder „totalen Volksforschung“ entwickelt. Dieses Konzept ging unter anderem auf Einflüsse der Volksforschung der 1930er Jahre und auf Erfahrungen aus der „Lebensgebietsmäßigen Auswertung“ des Inlands-SD zurück.20 Ausgehend vom „völkisch“ gewendeten Politik-Begriff standen im Mittelpunkt des Interesses der Auslandswissenschaften jeweils ein konkretes Volk und seine „Volksordnung“. „Totale Volksforschung“ sollte bestimmte Fragestellungen integrieren und damit eine „spezialistische Zerreißung“ verhindern. Insbesondere ging es darum, gleichermaßen „natürliche“ geographisch-klimatische und „rassisch“-anthropologische Voraussetzungen, historische und kulturelle Prozesse und Strukturen sowie politische „Willenstatsachen“ und „Führungsvorgänge“ zu berücksichtigen.21 Dadurch sollte die systematische Berücksichtigung einer Reihe politisch relevanter Gesichtspunkte gewährleistet werden. Die volks- und landeskundlichen Lehrgebiete der Auslandswissenschaftlichen Fakultät orientierten sich beispielsweise an einem sechssemestrigen Turnus: Land und Leute (beziehungsweise: Rasse, Volk und Raum), Geschichte, Wirtschaft, Staat, Kultur und Außenpolitik. Ähnlich organisierte Mustergliederungen, Auswertungsschlüssel und Sachsystematiken entwickelten die Forschungsabteilung, das Archiv und die Bibliothek des DAWI.22 Im Einzelnen behandelten Publikationen des DAWI und Abschlussarbeiten an der Fakultät unter anderem Probleme von Wirtschaft und Verkehr, von „Volksgruppen“ und „Umvolkungsvorgängen“, von Parteien und Presse, Völkerrecht und Handelsrecht, Politik- und Diplomatiegeschichte, Kulturpolitik und Geistesgeschichte. Dem im NS-Deutschland propagierten Führungsbegriff entsprechend wurde den „Führungsschichten“ der einzelnen Völker ein besonderes Interesse entgegengebracht. In Verbindung damit wuchs die Nachfrage nach „völkerpsychologischen“

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Untersuchungen, insbesondere für die vom Deutschen Reich beherrschten Territorien.23 Insgesamt bestand der Wille, einen außerordentlich politiknahen, an praktischen politischen Wünschen und Bedürfnissen orientierten Forschungsansatz zu entwickeln, der „politische Wettermeldungen und eine politische Geländekunde“24 ermöglichen sollte. So lieferten das Auslandswissenschaftliche Institut und verwandte Einrichtungen unmittelbar Auftragsarbeiten für die Wehrmacht, den SD, die SS, das AA und verschiedene Reichsministerien. Auslandswissenschaftliche Forschungen sollten die auswärtige Kulturpolitik des Deutschen Reiches wissenschaftlich fundieren; zugleich sollte die Präsentation von Forschungsergebnissen ein „deutsches Weltbild“ formen und damit selbst zur auswärtigen Kulturpolitik beitragen. Das besondere Interesse der Auslandswissenschaften galt auch hier den Führungsschichten der Völker. Deren Geschichte, „rassische“ und soziale Zusammensetzung, kulturelle und „psychologische“ Prägung sollte untersucht werden, um die Einstellung der ausländischen Eliten gegenüber Deutschland zu ermitteln. Derartige Forschungen dienten unmittelbar politischen Maßnahmen: der Ausschaltung „gegnerischer“ Eliten, der „Ausrichtung“ und „Deutschorientierung“ bestehender Eliten durch Propaganda, Ausländerbetreuung und Kulturpolitik sowie dem Aufbau neuer Führungsschichten. Einzelne Auslandswissenschaftler waren selbst an der Durchführung politischer Eingriffe beteiligt, beispielsweise als Beamte des →Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete (→Georg Leibbrandt, Gerhard von Mende) oder als Angehörige der Einsatzgruppen des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD (→Hans Joachim Beyer, F.A. Six und Fritz Valjavec).25 Als das DAWI und die Auslandswissenschaftliche Fakultät nach der Kapitulation des Deutschen Reiches 1945 ihre Arbeiten einstellen mussten, verloren die „Deutschen Auslandswissenschaften“ ihr organisatorisches Zentrum. In der frühen Bundesrepublik Deutschland versuchte die Auslandswissenschaftliche Gesellschaft e. V. erneut Einfluss auf die Politikwissenschaft zu gewinnen. Diese Absichten stießen aber bald auf den Widerstand von Politologen wie Ernst Fraenkel und Karl Dietrich Bracher, die ihre Disziplin als „Demokratiewissenschaft“ verstanden.26 Bei der Konstituierung der Internationalen Politik zu einem besonderen Zweig der Politischen Wissenschaft blieben die Erfahrungen der Auslandswissenschaften auch in den frühen 1960er Jahren präsent. So beklagte die wirkungsreiche Denkschrift der DFG zur Lage der Soziologie und Politischen Wissenschaft 1961 die „völlig unzureichende Entwicklung der auslandswissenschaftlichen Forschung“. Und als Franz Ronneberger im folgenden Jahr Vorschläge für die Einordnung der SüdosteuropaForschung in die Aufbaupläne der deutschen Hochschulen machte, erinnerte er explizit an das Beispiel des DAWI.27 Im weiteren Verlauf der 1960er und 1970er Jahre orientierte sich der Studien- und Forschungszweig „Internationale Politik“ stärker an angelsächsischen Vorbildern (International Relations, Area Studies, Regional Studies). Tradiert wurde das Konzept der „Auslandswissenschaften“ im Umfeld der Universitäten Münster und Erlangen-Nürnberg, an denen frühere Auslandswissen-

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schaftler in den 1960er Jahren tätig waren. Seit den 1990er Jahren lässt sich der Begriff vereinzelt wieder nachweisen.28

Gideon Botsch

1 Karl Heinz Pfeffer, Begriff und Methode der Auslandswissenschaften, in: Jahrbuch der Weltpolitik 1942, S. 884–896, 895. Vgl. Gideon Botsch, „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Deutschen Auslandswissenschaften“ im Einsatz 1940–1945, Paderborn 2006, S. 89 ff. 2 Karl Heinz Pfeffer, Handwörterbuch der Politik, Darmstadt 1956, S. 24 (Stichwort Auslandswissenschaft). 3 Carl Heinrich Becker, Die Denkschrift des preußischen Kultusministeriums über die Förderung der Auslandstudien (zuerst 1917), in: ders., Internationale Wissenschaft und nationale Bildung. Ausgewählte Schriften, Bonn 1997, S. 157–170, 162f.; vgl. Hans Plehn, Eine Hochschule für Politik (zuerst 1913), in: Antonio Missiroli, Die Deutsche Hochschule für Politik, Sankt Augustin 1988, S. 104–112; Ernst Jäckh, Zur Gründung und Entwicklung der Deutschen Hochschule für Politik, in: ders. (Hg.), Politik als Wissenschaft. Zehn Jahre Deutsche Hochschule für Politik, Ausgabe B, Berlin 1930, S. 3–30; Hans-Manfred Bock, Auslandswissenschaften als politischer Auftrag und als politische Notwendigkeit. Zur Geschichte der Institutionalisierung von Auslandsstudien in Deutschland, in: Joachim Schild (Hg.), Länderforschung, Ländervergleich und Europäische Integration, Ludwigsburg 1991, S. 34–49. 4 UAHei, Pa 260, Bergsträßer an Dekan der Staats- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät vom 31.1.1935; Anlage 1: Zur Geschichte und Verwendung der Eberhard-Gothein-Gedächtnis-Professur für Staatswissenschaften und Auslandskunde; NARA, RG 242, T-120, Reel 1989, Protokoll der Sitzung des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten an der Deutschen Hochschule für Politik am 5.12.1931 (insbes. Diskussionsbeitrag Arnold Wolfers); Wilhelm Dibelius, England, Stuttgart 19242 (Nachweis für „Auslandswissenschaften“: S. XIV); Rainer Eisfeld, Ausgebürgert und doch angebräunt. Deutsche Politikwissenschaft 1920–1945, Baden-Baden 1991. 5 UAHei, B-2740/2, Tätigkeitsbericht der Auslandsabteilung der Universität Heidelberg, Geschäftsjahr 1935/36; Alfred Zintgraff, Hochschule und Ausland, in: Süddeutsche Monatshefte 31 (1933/34), S. 30–33. 6 Ernst Wilhelm Eschmann, Die Stunde der Soziologie, in: Die Tat 25 (1933/34), S. 953–966, 965; vgl. Karl Heinz Pfeffer, Politische Wissenschaft im neuen Deutschland, in: Hochschule und Ausland. Monatsschrift für Kulturpolitik und zwischenstaatliche Zusammenarbeit 12 (1934), S. 38–47, 46; ders., Die deutsche Schule der Soziologie, Leipzig 1939, S. 133f; Otthein Rammstedt, Theorie und Empirie des Volksfeindes. Zur Entwicklung einer deutschen Soziologie, in: Peter Lundgreen (Hg.), Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1985, S. 253–313; Carsten Klingemann, Soziologie im Dritten Reich, Baden-Baden 1996. 7 Vgl. Hermann Greife, Sowjetforschung. Versuch einer nationalsozialistischen Grundlegung der Erforschung des Marxismus und der Sowjetunion, Berlin 1936; Stand und Aufgaben des deutschen wissenschaftlichen Südosteinsatzes, in: Süd-Ost-Pressebericht der Deutschen Studentenschaft, hg. vom Außenamt der Studentenschaften (in Verbindung mit der Dozentenschaft) der Münchner Hochschulen – Arbeitsgemeinschaft „Deutschland im Spiegel der Auslandspresse“, Nr. 20 vom 12.6.1937. 8 BArch, ZB I, 1240; AUSHMM, RG 11.001M, Reel 14, Geschäftsverteilungsplan des Sicherheitshauptamtes 1938; Gideon Botsch, „Geheime Ostforschung“ im SD, Zur Entstehung und Tätigkeit des „Wannsee-Instituts“ 1935–1945, in: ZfG 48 (2000), S. 509–524. 9 Vgl. Botsch, „Politische Wissenschaft“, mit weiterer Literatur, zu Six vgl. Lutz Hachmeister, Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998.

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10 BArch, R 4902, Nr.1a; R 4902, Nr. 16, Bl. 81, Eschmann, Disposition zu einem wissenschaftlichen Aufsatz über das Problem der Auslandswissenschaften, (1940), Bl. 82: Pfeffer, Das Ziel der Auslandswissenschaften (Disposition, 1940); Pfeffer, Begriff und Methode; ders., Politische Wissenschaft; Ernst Wilhelm Eschmann, Die Führungsschichten Frankreichs, Bd. 1: Von den Capetingern bis zum Ende des Grand Siècle, Berlin 1943, S. 6ff.; BArch, ZR, Nr. 550, Bl. 429ff. 11 Vgl. die Berichte über die „auslandswissenschaftliche Arbeit an den Universitäten des Reiches, mit Ausnahme der Universität Berlin“, die seit Dezember 1942 in den Nachrichten des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts erschienen; zum Verhältnis zur RSHA-Amtsgruppe VI G „Wissenschaftlich-methodischer Forschungsdienst“ vgl. Botsch, „Politische Wissenschaft“, S. 172ff. 12 BArch, R 4902, Nr. 11521, Bl. 12, Six an die Fachvertreter, Rundschreiben vom 12.2.1942; Nachrichten des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts, Folge 5, Dezember 1942, S. 343. 13 Werner Best, Großraumordnung und Großraumverwaltung, in: ZfP 32 (1942), S. 406–412, 139. 14 Pfeffer, Begriff und Methode, S. 894. 15 BArch, R 7, 2024, Bl. 94, Stenographische Mitschrift der Soziologentagung am 1.12.1944, Diskussionsbeitrag Pfeffer; BArch, R 4902, 1, Bl. 144, Scurla an Pfeffer, circa Mitte Juni 1944; Karl Heinz Pfeffer, Der französische Vorschlag in Weimar, in: Politische Wissenschaft 2 (1944), S. 199f. 16 Politik, in: Meyers Lexikon, Bd. 8, Leipzig 19408, Sp. 1294f; Wilhelm Glungler, Theorie der Politik. Grundlagen einer Wissenschaft von Volk und Staat, München 1939. 17 BArch, R 4902, 1a, Bl. 42, Wilhelm Gülich, Allgemeine Schrifttumskunde der Auslandswissenschaften, unveröffentlichtes Manuskript, circa 1944. 18 Vgl. Fritz Valjavec, Der Werdegang der deutschen Südostforschung und ihr gegenwärtiger Stand. Zur Geschichte und Methodik, in: Südostdeutsche Forschung 6 (1941), S. 2–37, 20ff. 19 Best, Großraumordnung und Großraumverwaltung, S. 139. 20 Vgl. AUSHMM, RG 15.007, Reel 23; Wolfgang Dierker, Himmlers Glaubenskrieger. Der Sicherheitsdienst der SS und seine Religionspolitik 1933–1941, Paderborn 2002, S. 243ff.; Rammstedt, Theorie und Empirie; Klingemann, Soziologie im Dritten Reich; Botsch, „Politische Wissenschaft“, S. 98ff. 21 Vgl. Karl Heinz Pfeffer, Die Notwendigkeit der totalen Volksforschung, in: DALV 5 (1941), S. 407– 420, 408 und 413; Hans Joachim Beyer, Das Schicksal der Polen. Rasse – Volkscharakter – Stammesart, Leipzig 1942, S. 9f. 22 BArch, R 4902, Nr. 11521, Bl. 14, Six, Rundschreiben vom 13.2.1942; BArch-ZDH, ZB I, Nr.1240, Ernst Turowski (SD), Denkschrift zur Errichtung einer Auslanduniversität, Dezember 1938, Bl. 502; Werner Frauendienst, Die politische Geschichte im Rahmen der Auslandswissenschaft, in: Nachrichten des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts 6 (1943), S. 348–351; Wilhelm Gülich, Politik und Forschung. Die dynamische Bibliothek als Quelle politischer Erkenntnis, in: ZfP 31 (1941), S. 1–32; Neue Arbeiten aus dem Deutschen Auslandswissenschaftlichen Institut, in: ZfP 34 (1944), S. 76. 23 AUSHMM, RG 15.007M, Reel 16, Bl. 2ff., Pfeffer, Bericht an den Herrn Präsidenten des DAWI über Voraussetzungen und Aufgaben der Volks- und Landeskunde Großbritanniens, circa 1942; Gerhard von Mende, Volkstumsfragen im Osten, in: Ostaufgaben der Wissenschaft. Vorträge der Osttagung deutscher Wissenschaftler, hg. vom Hauptamt Wissenschaft der Dienststelle Rosenberg, München 1943, S. 80–91; Botsch, „Politische Wissenschaft“, S. 109ff. 24 Pfeffer, Begriff und Methode, S. 896. 25 BArch, R 4902, Nr. 1; Botsch, „Politische Wissenschaft“. Vgl. Karl-Heinz Roth, Heydrichs Professor. Historiographie des „Volkstums“ und der Massenvernichtungen: Der Fall Hans Joachim Beyer, in: Peter Schöttler (Hg.), Geschichte als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 262–342, 289ff.; Hachmeister, Der Gegnerforscher. 26 Vgl. Auslandsforschung. Schriftenreihe der Auslandswissenschaftlichen Gesellschaft e.V., Darmstadt 1952–1954; Arnold Bergstraesser, Amerikastudien als Problem der Forschung und Lehre

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(zuerst 1953), in: ders., Politik in Wissenschaft und Bildung. Schriften und Reden, Freiburg i. Br. 1961, S. 166–174, 167 und 171; Pfeffer, Handwörterbuch der Politik; ders., Auslandskunde, in: Erwin von Beckerath (Hg. u.a.), Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, zugleich Neuauflage des Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 1, Stuttgart 1956, S. 452–455; Ernst Fraenkel (Hg. u.a.), Das Fischer Lexikon Staat und Politik, Frankfurt a.M. 1957, S. 12f; Botsch, „Politische Wissenschaft“, S. 238ff. 27 Rainer M. Lepsius, Denkschrift zur Lage der Soziologie und der Politischen Wissenschaft. Im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Wiesbaden 1961, S. 96; vgl. Arnold Bergstraesser, Internationale Politik als Zweig der politischen Wissenschaft, in: Politische Vierteljahresschrift 1 (1960), S. 106–119; Franz Ronneberger, Vorschläge zur Einordnung der Südosteuropa-Forschung in die Aufbaupläne der deutschen Hochschulen, München 1962, S. 16; vgl. ders., Wandlungen im Verständnis Südosteuropas (zuerst 1963), in: ders., Politische Systeme in Südosteuropa, München 1983, S. 26–50, 28. 28 Vgl. Bock, Auslandswissenschaften als politischer Auftrag; Hanns-Albert Steger, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Auslandswissenschaft? (Valedictoria), in: Günther Ammon (Hg. u. a.), Kultur – Identität – Kommunikation. 2. Versuch, München 1993, S. 15–29; an der Universität Erlangen-Nürnberg existieren gegenwärtig mehrere kulturwissenschaftlich orientierte Lehrstühle für „Auslandswissenschaft“.

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Deutsche Ostsiedlung Die Migration deutscher Siedler und der Transfer kultureller Phänomene, rechtlicher Normen und sozialer Strukturen in die östlichen Regionen Europas während des Mittelalters sind vielfältig und kontrovers diskutiert worden.1 Dieses Phänomen wurde in seinen Auswirkungen zwar in den Einwanderungsländern registriert und war in den dortigen zeitgenössischen Gesellschaften – am ausgeprägtesten in Polen und Böhmen – Gegenstand grundsätzlicher Reflexionen über das Verhältnis der Einheimischen zu den „Gästen“ und Fremden, in Deutschland wurde es dagegen zeitgenössisch offenbar weder wahrgenommen noch sprachlich durch einen spezifischen Begriff gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund haben sich unterschiedliche historiographische Begriffe entwickelt, von denen „deutsche Ostsiedlung“, „deutsche Ostbewegung“ oder „mittelalterliche Ostkolonisation“ die dominierenden sind. In der modernen Forschung wird dagegen vor allem von „(mittelalterlichem) Landesausbau“ und „Kolonisation zu deutschem Recht“ gesprochen.2 Da der volksgeschichtliche Diskurs der Ostsiedlung eng mit den Diskussionen seit Mitte des 19. Jahrhunderts verbunden ist und Kontinuitätslinien nach 1945 aufweist, werden hier auch seine Entstehung und Nachwirkungen skizziert. Die historiographische Betrachtung des Phänomens setzt Ende des 18. Jahrhunderts mit August Ludwig Schlözers Darstellung der mittelalterlichen Kolonisation in Siebenbürgen ein. Er hob die Wirkung des Kontaktes zwischen Völkern, die sich auf unterschiedlichen Kulturstufen befinden, hervor, ohne die kulturellen Differenzen zu bewerten, denn „daß ein Volk um einige Jahrhunderte früher, als das andere, zur Menschheit gelanget ist, gibt jenem keinen Vorrang, und demütigt dieses nicht.“3 Schlözers Analyse arbeitete bereits die wesentlichen Elemente der mittelalterlichen Kolonisation als eines umfassenden Phänomens heraus wie das Recht auf Grund und Boden durch königliche Verleihungen, die „Kolonisierung“ bis dahin ungenutzten Landes, rechtliche Garantie der Freiheit, den besonderen Rechtsstaus der Städte, rechtliche Unmittelbarkeit zum König und die räumliche und politische Trennung von den Nachbarn. Dabei war sich Schlözer auch möglicher Gefahren bewusst, „so lange sich nicht die Colonisten mit den Inländern amalgamiren.“4 Größere Publizität erhielt das Kolonisations-Thema durch →Johann Gottfried Herder, der in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von den Slaven das romantische Bild Ackerbau treibender und kulturell weit entwickelter „Kolonisten“ zeichnete, an denen sich „mehrere Nationen, am meisten aber die vom deutschen Stamme, […] hart versündigt“ haben.5 Aus dieser Perspektive gesehen, war das Schicksal der Einheimischen eine Schlüsselfrage für die Beurteilung der Ostkolonisation. So kritisierte Garlieb Herwig Merkel scharf die unmenschlichen Leibeigenschaftsverhältnisse in Livland. Auch für Merkel spielte die Kultur eine wichtige Rolle, allerdings als Bestandteil des Existenzrechts der kolonisierten Letten, deren Unterdrückung durch nichts zu rechtfertigen sei.6

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Diese aufklärerischen Positionen wichen in der nachnapoleonischen Ära einer deutschtumsgeschichtlichen Historiographie, die das Kulturgefälle negativ beurteilte und durch deutsche Herrschaftsansprüche in Ostmitteleuropa auf der Grundlage kultureller Überlegenheit politisierte. So fokussierte sich Johannes Voigt in seiner Geschichte Preußens auf das Deutschtum als Grundlage mit der Leitfrage, „welches Heil und welche großen Erfolge für freiere Entwickelung und menschliche Bildung daraus hervorgingen, daß die Deutschen sich der Küste des Baltikums bemächtigten“, denn diese Region sei „seit den ältesten Tagen seiner Geschichte für Deutsches Leben, Deutsche Gesinnung und Deutsche Sitte bestimmt gewesen“.7 Der Breslauer Historiker Gustav Harald Adolf Stenzel gab 1832 eine Sammlung von Urkunden heraus,8 die die Umgestaltung Schlesiens durch die deutsche Kolonisation behandelte. Im ersten Teil seiner Geschichte des preußischen Staates führte er zur gleichen Zeit aus, dass durch die Kolonisation die ohnehin schon existierenden „nationale“ Gegensätze zwischen Deutschen und Slawen zugenommen hätten, und behauptete: „Sobald sich nur die Deutschen festgesetzt hatten, mussten ihnen die Slaven weichen.“9 Seine Anschauungen gewannen vor dem Hintergrund der nationalen deutsch-polnischen Spannungen im Völkerfrühling 1848 noch an Schärfe. Als Vorsitzender des Völkerrechtsausschusses der Paulskirche wurde Stenzel mit der Aufgabe betraut, über die Zulassung der deutschen Abgeordneten aus der Provinz Posen zu entscheiden. Der Ausschuss befürwortete die Bestätigung ihrer Mandate mit dem Hinweis auf eine historisch begründete kulturelle Überlegenheit der Deutschen. Diese einfache wie eingängige Formel fand in der Nationalversammlung und ebenso in der Öffentlichkeit breite Zustimmung. Die Rede Wilhelm Jordans in der „Polen-Debatte“ der Paulskirche demonstrierte, dass die mittelalterliche Ostkolonisation Argumente für die vorgebliche kulturelle Überlegenheit der Deutschen gegenüber den Polen und damit auch für die Begründung deutscher Herrschaftsansprüche liefern konnte. Die eng verzahnten Schlagworte von den „Kulturträgern“ und dem „deutschen Drang nach Osten“ markiert denn auch ein lebensweltliches Erkenntnisinteresse, das die Kolonisationsforschung in Deutschland und in den Nationen Ostmitteleuropas bis zum Ersten Weltkrieg und darüber hinaus bestimmte. Hatte die Frage nach der „Germanisation“ bereits die Betrachtung der schlesischen und preußischen Geschichte bei Stenzel und Voigt geprägt, so trat in den 1860er Jahren die nationalistische Aktivierung der ostdeutschen Kolonisation in der Diskussion um den „deutschen Beruf“ Preußens hervor. 1863 veröffentlichte Wilhelm Wattenbach einen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel „Die Germanisirung der östlichen Grenzmarken des deutschen Reichs“. „Die Ausbreitung deutscher Herrschaft, deutscher Sitte und deutscher Bevölkerung über die östlichen Grenzländer des Reichs“ skizzierte er dort als eine „fast unscheinbare, stille, aber nachhaltige“ Entwicklung, die zu den „einzig bleibenden“ Eroberungen des deutschen Volkes geführt habe; diese seien „nicht allein dem Schwert, sondern mehr noch der friedlichen Arbeit zu danken“, an der „alle Stände des Volkes“ beteiligt gewesen seien. Wenn Wattenbach zu der Feststellung kam, „fast die Hälfte des jetzigen

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Deutschlands“ sei so erworben worden,10 dann war diese in doppelter Hinsicht auf die Gegenwart gemünzt: Sie bekräftigte den Anspruch der gesamten deutschen Nation auf einen Nationalstaat und betonte die Relevanz der mittelalterlichen Kolonisation für die nationalen Verhältnisse der Gegenwart. So liefen für ihn im Germanisierungsprozess die rechts- und sozialgeschichtlichen Vorgänge idealtypisch zusammen. Zugleich basierte seine Argumentation auf der Annahme einer klaren ethnischen Scheidung zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen. Heinrich von Treitschke dagegen glorifizierte in einem weithin bekannt gewordenen Essay von 1862 die Gewaltanwendung in der deutschen Ostkolonisation. So sah er im 12. Jahrhundert „die große Lehrzeit für die aggressiven Kräfte unseres Volkes“, und schrieb weiter: „Die massiven Gaben deutscher Gesittung, das Schwert, der schwere Pflug, der Steinbau“ und die „freie Luft der Städte, die strenge Zucht der Kirche verbreiten sich über die leichtlebigen Völker des Ostens“. Für die Eroberung und Germanisierung Preußens seien „die kraftvolle Einheit der Staatsgewalt und die Wucht der deutschen Einwanderung“ verantwortlich; Preußen sei so zu einer „Kolonie des gesamten Deutschlands“ geworden.11 Die borussisch-kleindeutsche Wahrnehmung der Ostsiedlung durch Wattenbach, Treitschke und ebenso Ranke prägte die weiteren Betrachtungen des Gegenstandes nachhaltig. Exemplarisch dafür ist der Blick des Breslauer Historikers Colmar Grünhagen auf die schlesische Geschichte. Seine Leitfrage „Wie ist Schlesien ‚deutsch geworden‘ und ‚deutsch geblieben‘?“ korrespondierte mit der Feststellung, „die Geschichte Schlesiens ist im wesentlichen die seiner Germanisation“, die nach 1163 als „mächtiger Strom deutscher Einwanderung […] das ganze Land“ erfüllt habe.12 Für Ost- und Westpreußen dagegen stellte Hans Plehn die These auf, „die übrigen Landschaften des nordostdeutschen Kolonialgebiets“ hätten „die Geschichte ihrer Besiedlung“, während man „in Preußen […] von der Kolonialpolitik der Landesherrschaft sprechen“ müsse.13 Einen deutlich abweichenden Zugang zeigte Raimund Friedrich Kaindl in seiner „Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern“, die sich ganz auf die deutsche Siedlung konzentrierte und die Leistungen des Deutschtums für die betreffenden Länder in den Vordergrund stellte.14 Es zeigt sich so, dass die Wahrnehmung der Ostsiedlung von der politischen und sozialen Stellung der Deutschen in den jeweiligen Regionen geprägt war. Dort, wo sie im politischen System keine dominierende Stellung innehatten, wurde die kulturelle Leistung der Deutschen zum zentralen Argument. Diese Deutschtumsperspektive veränderte sich auch dann kaum, als neue Quellengattungen erschlossen wurden. Wichtige Impulse für die Beschäftigung mit Siedlungs- und Flurformen, Hausformen, Orts- und Flurnamen und die Einbeziehung der Archäologie gingen von dem Berliner Agrarwissenschaftler und Statistiker August Meitzen aus.15 Auf die Initiative Karl Lamprechts entstand 1906 in Leipzig das Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde. Geprägt wurde es vor allem von Rudolf Kötzschke, der bei Friedrich Ratzel studiert und gearbeitet hatte und das Institut bis 1935 leitete. Kötzschke skizzierte 1909 ein Forschungsprogramm zur ver-

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gleichenden Siedlungsgeschichte, das Siedlungsverhältnisse, Haus-, Orts-, und Flurformen, geographische Bedingungen und psychologische Aspekte umfasste.16 Auch wenn sich in der Namenforschung und in der Typologie von Siedlungsformen Fragen nach den Beziehungen zu den slawischen und baltischen Bevölkerungen ergaben, stand die deutschen Siedlungsgeschichte doch im Mittelpunkt und es ging überwiegend um die Bilanz der Ostsiedlung für Deutschland. Der nationalistische Diskurs, dass die Deutschen allein die Träger des Kulturfortschritts in Ostmitteleuropa seien, verstärkte sich so. Im Kontext des Imperialismus erschien die Kolonisation als die größte Tat, die ein Volk vollbringen könne, schrieb der Berliner Nationalökonom Gustav Schmoller.17 Meitzen meinte sogar, durch die Kolonisation nähmen die Deutschen eine „Sonderstellung in der Geschichte der Menschheit“ ein.18 Dass die neue Siedlungsforschung und die Glorifizierung der deutschen kolonisatorischen Leistung miteinander einhergingen, zeigt sich bei Karl Lamprecht, der in der ostdeutschen Kolonisation die „Großthat unserer Nation, der fast Dreifünftel des heutigen deutschen Landes als deutscher Besitz erst verdankt werden“, sah.19 Der „Zug nach dem Osten“ nahm in Lamprechts Blick stärker als bei den anderen Autoren den Charakter eines gewaltigen Siedlerstroms an, der mit der niederdeutschen Moorkolonisation der Flamen und Holländer begann; das vielfach zitierte Lied „Naer Oostland willen wij rijden“20 wurde zur Metapher des Geschehens. Kaum eine Arbeit enthielt sich dieser Germanisationsperspektive und zugleich war vor dem Ersten Weltkrieg die Erforschung der slawischen oder baltischen Bevölkerung kaum von Interesse. Man nahm allgemein an, dass es keine germanische Restbesiedelung mehr gab und dass die slawische Bevölkerung dezimiert oder vertrieben worden beziehungsweise abgewandert sei.21 Allein Hans Wittes Studie über die wendischen Bevölkerungsreste in Mecklenburg von 1905 machte hier eine Ausnahme.22 Wurden bis dahin Urgermanen- wie Ausrottungstheorien wenig problematisiert, so sollte sich das jedoch nach 1918 ändern. Die historische Betrachtung der Ostsiedlung zwischen 1848 und 1914 war fast ausschließlich vom Aspekt der Germanisation geprägt. Wenn die mittelalterliche Kolonisation das deutsche Siedlungsgebiet erweitert habe, so konnte die nicht zuletzt von dem Berliner Agrarökonomen Max Sering propagierte „innere Kolonisation“23 im Deutschen Reich als Mittel zur Überwindung sozialer wie nationaler Probleme erscheinen. So wie die Archäologie nach der Reichsgründung als „hervorragend nationale Wissenschaft“ auftrat, bot sich die Kolonisationsgeschichte als Mittel zur Stärkung des Deutschtums im Osten des Reiches an. Die sozialpolitischen Aspekte der inneren Kolonisation und die Absicht, das Deutschtum in den preußischen Ostprovinzen zu stärken, waren durchaus gleichrangig, wie etwa Max Webers Freiburger Antrittsvorlesung 1895 zeigt, in der er unter anderem eine „systematische Kolonisation deutscher Bauern“ forderte.24 Zusätzliche nationalpolitische Bedeutung erhielten die Siedlungsfragen mit der 1886 eingerichteten preußischen Ansiedlungskommission für Westpreußen und Posen, die wie der Deutsche Ostmarkenver-

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ein das Ziel verfolgte, durch deutsche Siedler die Grenzgebiete zu germanisieren und der „polnischen Gefahr“ zu begegnen. In der Tätigkeit der Kommission selbst spielte der Bezug auf die mittelalterliche Kolonisation allerdings keine entscheidende Rolle; sofern historische Bezüge hergestellt wurden, war die Hohenzollernsche Kolonisation wichtiger, da sie der staatlichen Perspektive „von oben her“ entsprach. Gustav Schmoller maß der Verwaltungstätigkeit der Hohenzollern entscheidende Bedeutung für den Landesausbau als Basis der Großmachtstellung Preußens bei.25 Die Kolonisation außerhalb des Reichsgebietes lag vor 1914 jenseits des Horizonts der reichsdeutschen Historiker und wurde von habsburgischen und baltischen Historikern behandelt. In den russischen Ostseeprovinzen lässt sich nach der Revolution von 1905 ebenfalls ein aktueller Bezug zur Ostsiedlung erkennen, als zur Stärkung der deutschen Position eine Zusammenarbeit mit der preußischen Ansiedlungskommission erwogen und die Ansiedlung russlanddeutscher Bauern propagiert wurde,26 durch die die bäuerliche Einwanderung, zu der es in der mittelalterlichen Ostsiedlung in der baltischen Region nicht gekommen war, gleichsam nachgeholt werden sollte. Eine deutliche Zuspitzung erfuhr die politische Instrumentalisierung der Ostkolonisation mit der Kriegszieldiskussion im Ersten Weltkrieg. In der Professorendenkschrift, die im →Alldeutschen Verband unter Mitwirkung von Dietrich Schäfer verfasst und am 8. Juli 1915 dem Reichskanzler überreicht wurde, hieß es: „Grenzwall und Grundlage zur Wahrung unseres Volkswachstums aber bietet Land, das Rußland abtreten muß. Es muß landwirtschaftliches Siedelungsland sein. Land, das uns gesunde Bauern, diesen Jungbrunnen aller Volks- und Staatskraft, bringt. […] Land, das den Geburtenrückgang wehrt, die Auswanderung hemmt und die Wohnungsnot lindert […]. Solches Land für unsere leibliche, sittliche und geistige Gesundheit ist vor allem im Osten zu finden.“27 Die zahlreichen Pläne zur Annexion eines polnischen Grenzstreifens gingen stets davon aus, dass dieser Grenzwall durch deutsche Bauern zu germanisieren sei. Diese Pläne, an denen auch Max Sering beteiligt war, entsprangen eindeutig der Ostmarkenpolitik und den Ansätzen zur inneren Kolonisation, sie richteten sich nun aber auf die Besitznahme neuer Gebiete jenseits der Grenzen des Deutschen Reichs. Der Berliner Osteuropahistoriker Otto Hoetzsch forderte in einer Denkschrift im Dezember 1914 unter anderem die Annexion von Gebieten von Suwalki über Litauen bis nach Kurland und Livland als „nordöstliche Siedlungsgebiete“.28 Die unmittelbare Fortsetzung der skizzierten politischen Funktionalisierung der mittelalterlichen Ostsiedlung nach dem Ersten Weltkrieg ist evident. Doch wird man, wenn man nach der Qualität der Veränderungen von 1919 fragt, diese vor allem im Grad der Politisierung und der Bereitschaft der Historiker zur Instrumentalisierung ihrer Arbeiten festmachen können. Politische Fragen, und das heißt in diesem Fall vor allem der Kampf gegen den Versailler Vertrag und die Staaten „Zwischeneuropas“, bestimmten die Geschichtswissenschaft und ihre Rezeption nun in unvergleichlich stärkerem Maße. Zugleich wurden die Kontakte zwischen den Histo-

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rikern im Umfeld der „deutschen →Ostforschung“ und der Exekutive des Deutschen Reichs wesentlich intensiver. Die deutsche Ostsiedlung sollte nicht nur ein Thema der Historiographie sein, sondern ihre Erforschung sei, wie →Hermann Aubin in der Festschrift für →Albert Brackmann 1942 betonte, als wissenschaftliche Abwehr feindlicher Angriffe zu verstehen und damit ein Teil politischer Strategien.29 Deutlich wird der Umbruch von 1919 an dem Stellenwert, der Karl Hampes mehrfach aufgelegter, kleiner Schrift „Der Zug nach dem Osten“ beigemessen wurde. Für sich betrachtet, war diese Publikation weder in Inhalt noch Diktion umwälzend. Titel wie Untertitel „Die kolonisatorische Großtat des deutschen Volkes im Mittelalter“ leiteten sich von Karl Lamprecht her. Wenn Hampe in der Einleitung von Bestrebungen für „neues Siedlungsland für überschüssige germanische Kräfte“ und von der Gefahr einer „slawische[n] Flutwelle“ sprach, so knüpfte er an die bisherige Diskussion an.30 Auch Hampes politische Einschätzung der Kolonisation stand noch in der Traditionslinie des Kaiserreichs. Wenn Hampes Buch dennoch an der Schnittstelle zwischen alter und neuer Betrachtung steht, dann liegt das an der Wahrnehmung der Bedrohung an der „durch den Schmachfrieden von Versailles ohnehin zurückgenommene[n] und durchlöcherte[n] deutsche[n] Ostgrenze“.31 Dabei geriet die bislang dominierende staatliche Siedlungspolitik aus dem Blickfeld und an ihre Stelle trat die Betrachtung „von unten“. Die mittelalterliche Kolonisation wurde in stärkerem Maße herangezogen, um die deutsche Kulturausstrahlung in Osteuropa festzustellen und Argumente für die „Rückgewinnung uralten Bereiches germanischen Volkstums“ zu gewinnen.32 Der wissenschaftliche Begriff, in dem sich die revisionspolitische Orientierung nach Versailles kristallisierte, war der von dem Berliner Geographen →Albrecht Penck geprägte „deutsche Volks- und Kulturboden“. Diese Konzeption hatte eine eminent politische Bedeutung, da sie die deutsche Ostgrenze als Grenzlinie der deutschen Kulturausstrahlung im östlichen Europa im Gegensatz zur politischen Grenze nach 1918 zu definieren suchte. Deutscher Volksboden sei der Bereich geschlossener deutscher Bevölkerung, der deutsche Kulturboden, so heißt es bei Penck, greife dagegen „im Osten fast allenthalben über den deutschen Volksboden hinaus und bildet außerhalb desselben den Gürtel eines Landes, in dem die deutsche Bevölkerung gegenüber der anderssprachigen zurücktritt, wo sie aber dem Lande den Kulturcharakter aufdrückt oder aufgedrückt hat“.33 Die Ausdehnung des Deutschtums könne daher nicht allein anhand von Nationalitätenstatistiken festgestellt werden, da sie den deutschen Kulturboden als „die größte Leistung des deutschen Volkes“ nicht erfassten, der vor allem im Osten über die deutsche Sprachgrenze hinaus reichte. Wenn Penck Kriterien wie sorgfältige Bodenbearbeitung und deutsche Dorfformen zur Bestimmung des deutschen Volks- und Kulturbodens heranziehen wollte, so liegt es nahe, dass er der Ostsiedlung einen zentralen Stellenwert beimaß. Zudem nahm er noch einen „germanischen Kulturboden“ an, „dessen volle Wertung aber erst dann erfolgte, als deutsche Siedler […] ihn erneut in Kultur nahmen.“34 Die hier hervortretende These vom Vorangehen einer germanischen

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Siedlung in Ostdeutschland muss in Wechselwirkung mit polnischen und tschechischen Autochthoniethesen gesehen werden; diese Auseinandersetzung mit den Nachbarhistoriographien prägte nun die Darstellung der deutschen Ostsiedlung. Die Diskussion um die ursprüngliche respektive frühgeschichtliche Besiedlung entbrannte vor allem am Fall Böhmens. So bemühte sich der Leipziger Geograph →Wilhelm Volz in der ersten Ausgabe des Buchs „Der ostdeutsche Volksboden“,35 die These von Berthold Bretholz zu untermauern, dass die deutsche Bevölkerung auf eine germanische Besiedlung zurückgehe und nicht erst „aus der Fremde als Gäste ins Land gekommen“ sei.36 Die Trennung zwischen den politischen Ansprüchen der Gegenwart und der mittelalterlichen Siedlungsgeschichte, für die Robert Holtzmann in derselben Publikation noch plädierte, wurde nun von der Mehrheit der Historiker abgelehnt. Als willkommenes Argument dafür diente der Hinweis, dass bei polnischen und tschechischen Historikern eine ebensolche Verquickung anzutreffen sei. Wenn Rudolf Kötzschke nun für die Deutschen in Böhmen und Mähren „als die ersten Siedler auf jungfräulichem Boden ein geschichtlich tief begründetes und unverlierbares Heimatrecht“ ableiten wollte,37 dann lässt sich exemplarisch erkennen, welchen Einfluss die veränderte politische Situation auf die Betrachtung der ostdeutschen Kolonisation hatte. In der erweiterten Neuausgabe des „Ostdeutschen Volksbodens“ schrieb Kötzschke: „Als die mittelalterliche ostdeutsche Kolonisation vor einem halben Jahrhundert wissenschaftlich gleichsam neu entdeckt wurde, erschien sie als ein großer, auch politisch belangreicher Erfolg deutscher Siedlung. Nicht als eine Schöpfung nur der fahrenden Männer ward sie gewertet, nein als eine Großtat des gesamten deutschen Volkes, aller Stämme und Stände, ein Kulturwerk ersten Ranges, die bedeutendste Leistung des Volkes im Mittelalter; und welche ließe sich an ihr in raumpolitischer Wirkung selbst in der Neuzeit vergleichen? […] Ihre Wertschätzung als eine Bewegung, welcher im wesentlichen der heute nordostdeutsche Volksboden zu verdanken ist, wird auch nicht gemindert, ja nur erhöht, wenn dabei betont wird, daß sich im Grunde nur eine germanische Wiederbesiedlung einst verlorengegangenen Bodens vollzog: eine Wiederherstellung uralten Heimatrechts im Osten, das nur durch einige Jahrhunderte selbständigen, nicht einmal ungemischten Slawentums unterbrochen war.“ In Anknüpfung an Penck formulierte Kötzschke: „Volks- und Kulturbodenforschung sind untrennbar verbunden. Auf Ostdeutschland bezogen, wird also die genaueste Ermittlung über die Verbreitung deutschen und slawischen Siedlertums im Ablauf der Geschichte erstrebt, um den Bestand ostdeutscher Siedlung in der Gegenwart aus ihrem Werdegang zu ergründen und die geschichtlichen Wurzeln deutschen Heimatrechtes im Osten aufzudecken.“38 Für Kötzschke, der eng mit der →Leipziger Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung zusammenarbeitete, erhielt die Siedlungsgeschichte nun „größte nationale Bedeutung“.39 Insgesamt ging es Kötzschke um drei Aspekte: um die Herleitung von Heimatrecht aus der Kolonisation auf Neuland, um deutsche

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Siedlungskontinuitäten seit der germanischen Zeit und um die Frage nach dem zahlenmäßigen Verhältnis von Deutschen und Slawen. Das führt zu einem weiteren politischen Problemfeld der Zeit nach 1918. War die Frage nach dem Verbleib der slawischen Bevölkerung in Ostdeutschland bislang nur am Rande berührt worden, so wurde das Thema in volksgeschichtlicher Perspektive in doppelter Hinsicht brisant: zum einen durch die These, die Kolonisation gehe nicht auf einen Strom deutscher Siedler zurück, sondern beruhe in erster Linie auf slawischer Binnenkolonisation. Diese These von Dmitrij Egorov zu Mecklenburg rief nach der Übersetzung seines Buches ins Deutsche eine ausführliche Polemik von Hans Witte hervor.40 Er sah in der Frage, ob Mecklenburg im 12./13. Jahrhundert oder erst nach dem Dreißigjährigen Krieg deutsch geworden sei, eine Frage „von weittragender nationaler Bedeutung“ und bestand auf dem deutschen Charakter der Kolonisation durch Bauern und Adel. Zum anderen sah Witte eine noch gefährlichere These in der des autochthon slawischen Charakters der Bevölkerung Ostdeutschlands, wie sie nach 1918 etwa der Posener Sprachwissenschaftler Mikołaj Rudnicki vorbrachte.41 Eine abwägende Betrachtung zu den nationalen Implikationen der Urgermanen- und Ausrottungstheorien, wie beispielsweise von Clara Redlich 1934, stieß ausdrücklich auf die Ablehnung Hermann Aubins.42 Neben dem Leipziger Zentrum gingen wichtige Impulse für die methodische Entwicklung der Kolonisationsforschung von Hermann Aubin aus, der seit 1929 in Breslau lehrte.43 Analog zur rheinischen Landeskunde bzw. „→Westforschung“,44 in der Aubin zuvor tätig gewesen war, sollte sie sich zu einer interdisziplinären Siedlungsforschung entwickeln, die mittels Geographie, Archäologie, Sprachwissenschaft, Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte, Kunstgeschichte, Soziologie und →Volkskunde den Gang der Siedlungs-, Agrar- und Bevölkerungsgeschichte erforschen und „Kulturprovinzen“ feststellen sollte. Mit Bezug auf den „deutschen Osten“ wollte Aubin die „Kulturmischung“ und die „Völkermischung“ festhalten, wobei es ihm um die „saubere Auseinanderlegung des jeweiligen nationalen Besitzes“ ging.45 Einen weiteren Impuls gab die Volksinselforschung Walther Kuhns, der ab 1936 in Breslau „deutsche Volkskunde und ostdeutsches Volkstum“ lehrte. In seiner Konzeption einer „Naturgeschichte der deutschen Sprachinsel“46 dominierte eine biologistische Betrachtung der Ostkolonisation, in den Sprachinseln schienen ihm „die biologischen Wachstumskräfte ungebrochen“ und „das wurzelhaft Volksmäßige in seiner reinsten und einprägsamsten Art verkörpert“. Der Gegenwartsbezug wird unmittelbar deutlich, wenn er „die wissenschaftliche Formel für die volksbewahrenden Kräfte“ herausarbeiten wollte.47 Auch die weiteren Forschungen zur Ostkolonisation folgten fast ausnahmslos deutschtumsgeschichtlichen Deutungsmustern. Der Königsberger Historiker Karl Kasiske hob in der Besiedlungsgeschichte des Deutschordenslandes die Planmäßigkeit und die zentralisierte Durchführung hervor.48 „Es gelang dabei“, schrieb er über seine Forschungen, „die allgemeinen Grundsätze aufzudecken, von denen das Siedelwerk des Ordens getragen war, so daß die sorgsam durchdachte Plansiedlung

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künftig als Meisterleistung des Ordens betrachtet werden wird, dessen Staat schon bislang als der modernste und bestorganisierte des Mittelalters galt.“49 Auch →Erich Maschke sah in der Kolonisation im Ordensland eine besondere Qualität, denn der Deutsche Orden habe „der großen deutschen Ostbewegung […] staatlichen Rückhalt völkischer Art“ gegeben, „dessen sie in nichtdeutschen Ländern entbehren mußte.“50 Eine ähnliche Deutung der Kolonisation als spezifisch deutsche Leistung entfaltete →Fritz Rörig für den Ostseeraum. Vor der Gründung Lübecks sei „unfertig, noch höchst primitiv“ gewesen, „was sich bis dahin ‚Stadt‘ im Ostseebecken nannte; Lübeck war reif und im Prinzip, in der Idee ‚fertig‘ von der ersten Anlage an.“51 Erst diese Planmäßigkeit der deutschen Städtegründungen konstituiere den Ostseeraum nach 1250 als eine „wirtschaftlich durchorganisierte, lebenserfüllte Einheit.“52 Auch die Betrachtung der deutschen Siedlung in Polen wurde, wie →Kurt Lücks „Deutsche Aufbaukräfte in der Entwicklung Polens“ zeigen, nun volksgeschichtlich radikalisiert. Polen habe, so Lück, durch die deutschen Siedler „eine Kräftezufuhr in Gestalt deutscher Menschenmassen und Kulturformen“ erhalten, durch die es erst „machtpolitisch zur Verwirklichung seines Dranges nach Osten“ befähigt worden sei.53 Ähnlich argumentierte auch Kasiske 1941. Er erwähnte zwar „die Berufung aus dem Osten“, wies aber die aktive Rolle den deutschen Siedlern zu, die zur Modernisierung der primitiven östlichen Staaten beigetragen hätten. Dadurch sei jedoch „deutsche Volkskraft im Dienst fremder Interessen verbraucht worden“.54 Einen Überblick über die nach 1918 entstandene volksgeschichtliche Betrachtung der Ostkolonisation gaben 1937 Hermann Aubin sowie Rudolf Kötzschke und Wolfgang Ebert. Aubin skizzierte ein Konzept zur ganzheitlichen Erforschung der „deutschen Ostbewegung“ als „Dreiheit von Raum, Zeit und Inhalt“,55 das allein von der Orientierung auf das Deutschtum als epochenübergreifendes und überregionales Phänomen geprägt war. Sein Postulat richtete sich nicht nur auf die wissenschaftliche Forschung, sondern auch auf „den volksbildenden Wert der von ihr gewonnenen Erkenntnis“. Dabei wies er explizit auf „das Bewußtsein der blutenden Grenzen“ als auslösenden Faktor der großdeutschen Betrachtungsweise hin. „Die zentrale Aufgabe einer deutschen Volksgeschichte“, so schrieb Aubin, „wäre die Entwicklung und Ausgestaltung des deutschen Volkskörpers zu erforschen, der nirgends weniger mit den deutschen Staatsgrenzen zusammenfällt, nirgends daher mehr nach einer selbständigen Darstellung verlangt als hier im Osten.“ Als Konstante stand für ihn „der nach Abfluß verlangende Kräfteüberschuß“56 im Mittelpunkt, der die zeitliche und räumliche Einheit des Gegenstands konstituierte. Die Forderung nach inhaltlicher Ganzheit bezog sich nicht nur auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit, sondern auch auf die Zusammenfassung aller Phänomene von Deutschtum, wozu er etwa die Ausstrahlung deutschen Rechts zählte. Ausdrücklich nahm er dabei wie Kötzschke eine germanische Vorbesiedlung der „näheren Ostlande“ an.57 „Die deutsche Besiedlung der Ostlande ist eine der wichtigsten, grundlegenden Tatsachen gesamtdeutscher Volksgeschichte“, lautet der erste Satz von Kötzschkes

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und Eberts Geschichte der ostdeutschen Kolonisation.58 Sie folgte Aubins Ganzheitspostulat und spannte den Bogen von der „Wiederbesiedlung“ über die frühneuzeitliche Kolonisation bis zum Reichssiedlungsgesetz 1919 und dem Reichserbhofgesetz 1933 mit der Festschreibung des Anerbenprinzips und der Unveräußerlichkeit von „Erbhöfen“. Den „Erfolg“ der ostdeutschen mittelalterlichen Kolonisation sahen die Autoren begründet „in deutscher Volkskraft, in ihrer Eignung für den Aufbau einer neuen politisch-sozialen Ordnung, […] in einem Deutschbewußtsein, das selbstsicher war und doch nicht anderen Völkern feindlich sich verschloß“. 59 Zum Schluss des historischen Durchgangs schrieben die Autoren: „Mit aller Eindringlichkeit ist der nationalpolitische Wert ostdeutscher Siedlung erkannt, die allein der Ostnot wirklich abzuhelfen vermag. In sozialer Hinsicht ist die Losung: Nur der Bauernwall an den Ostgrenzen schützt sicher das Staats- und Volksgebiet, denn nur der erbgesessene deutsche Grenzlandbauer, der mit seiner Familie und für sein Geschlecht arbeitet, wurzelt rechtlich, wirtschaftlich und seelisch fest im Boden ein und wahrt ihn als echte Heimaterde“.60 Aus der Analyse der Siedlungsformen folgerte Kötzschke, dass die planmäßige Anlage dörflicher Siedlungen sich vom Mittelalter bis zur preußischen Ansiedlungskommission nicht geändert habe, dagegen drohe die Auflösung des Siedlungsgefüges durch kulturell niedere polnische Einwanderung.61 Auffallend häufig benutzten die Autoren hier Metaphern von Meer, Strömen und Inseln, etwa wenn von der „Brandungszone deutscher Volksinseln“ die Rede ist.62 Gegenpositionen zu diesen volksgeschichtlichen Ansichten lassen sich kaum feststellen, aber als eine gewichtige abweichende Stimme ist der Osteuropahistoriker und Slawist Heinrich Felix Schmid zu nennen, der 1924 feststellte: „Je tiefer die Erforschung der ostdeutschen Kolonisation schürfte, je mehr sich ihre Arbeitsmethoden verfeinerten, desto schärfer wurde die Aufmerksamkeit, die sie auf den Untergrund richtete, auf dem das koloniale Deutschland aufgebaut ist, auf die Slavenzeit im deutschen Nordosten und ihre Zustände.“ Schmid forderte zudem „eine scharfe begriffliche und zeitliche Trennung […] zwischen den Erscheinungen der Kolonisationszeit einerseits, der wirklichen Germanisation andrerseits“.63 Wenn in der historiographischen Darstellung der Ostkolonisation immer wieder Parallelen zur Gegenwart gezogen wurden, liegt die Frage auf der Hand, ob und inwieweit sich in der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik während des Zweiten Weltkriegs Bezüge zur mittelalterlichen Ostsiedlung erkennen lassen. Zum einen sind hier ideologische Funktionen zu nennen, bei denen die Berufung auf die Ostkolonisation der Legitimierung aktueller Um- und Ansiedlungsprojekte diente. Zum anderen ist intensiv diskutiert worden, ob nicht die Siedlungshistoriker selbst als Experten für Siedlungsprojekte aufgetreten sind.64 Während es für den ersten Punkt zahlreiche Indizien gibt, ist der zweite Sachverhalt komplizierter. Beiträge zur ideologischen Rechtfertigung der Umsiedlung der Deutschbalten in den Warthegau finden sich etwa bei →Reinhard Wittram.65 Der Danziger Historiker →Erich Keyser, der das Gebiet von der „Elbe bis zum Finnischen Meerbusen und von dem Inn bis zum Schwarzen Meer als einheitlichen Lebensraum des deutschen Volkes“ begriff, ver-

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suchte, historische Argumente für die Ansiedlung von Niederländern im Reichsgau Danzig-Westpreußen zu liefern.66 Kasiske sah in der Okkupation Polens 1939 die Erfüllung der geschichtlichen Aufgabe der ostdeutschen Kolonisation, da der von ihr erfasste Raum nun auch in das Deutsche Reich integriert sei. Aus diesen Einstellungen folgte nun nicht der Verzicht auf zukünftige politische Aktivitäten, sondern das Bekenntnis zur weiteren Politisierung.67 Eine ähnliche Rhetorik, die bewusst Festlegungen vermeidet, findet sich auch bei Aubin, der bereits 1930 in einem Vortrag formulierte, das deutsche Volk stehe nun zum dritten Mal vor der Aufgabe, den Osten zu besetzen.68 Ebenfalls nicht zu übersehen sind zahlreiche militärische Metaphern in den Darstellungen der Kolonisation.69 Die konzeptionelle Brücke zur praktischen Anwendung der Kolonisationsforschung im Nationalsozialismus lässt sich in der Agrarsoziologie →Gunther Ipsens festmachen, die auch das Werk von →Werner Conze beeinflusste. Die Besiedlung einer Region sah Ipsen, der von 1933 bis 1939 in Königsberg lehrte, nicht als ein statistisches Problem, sondern als ein Problem der „Erschließung durch Landnahme“ bis hin zur Bildung von Heimat; „den Erfolg dieser Einung nennen wir Lebensraum“, heißt es bei Ipsen.70 Mit dieser Konzeption ließen sich aus der historischen Siedlungsforschung Schlüsse auf die Gegenwart ziehen. An der sogenannten Polendenkschrift, die →Theodor Schieder für die →Publikationsstelle Dahlem Anfang Oktober 1939 entwarf, lässt sich exemplarisch der Versuch ablesen, historische Erkenntnisse der Ostforschung in aktuelle Politik umzusetzen. Für eine Grenzziehung zwischen dem Deutschen Reich und dem „polnischen Reststaat“ schlug Schieder neben der deutschen Ostgrenze von 1914 eine Linie vor, „die den geschlossenen deutschen Volksboden und seine Randzonen mit Mischbevölkerung“ dem Reich zuordne. Dazu kamen Forderungen nach der Aussiedlung der Polen aus Posen und Westpreußen und die „Umsiedlung der deutschen Volksgruppen im gesamten osteuropäischen Raum“. Ziel dieser Maßnahmen solle die „Sicherung des deutschen Volksbodens im Osten“ sein.71 Einen eng mit der Geschichtsforschung zur ostdeutschen Kolonisation verbundenen Versuch zur politischen Aktivierung gab es auf einer „bevölkerungsgeschichtlichen Besprechung“ der →Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft in Berlin am 22./23. November 1940, an der unter anderem Hermann Aubin, Walther Kuhn, Theodor Schieder, Erich Keyser und Rudolf Kötzschke teilnahmen.72 Ziel dieser Tagung sollte ein Erfahrungsaustausch über die „Bevölkerungsgeschichte“ und ihre nationalpolitische Bedeutung in Schlesien und den dem Deutschen Reich angegliederten Gebieten Polens und der Tschechoslowakei sein. Aubin befasste sich dort mit der „Bevölkerungsauffüllung des Ostens“ und argumentierte, deutsche Bauern könnten sich zukünftig dort halten, wo bereits früher welche ansässig gewesen waren. Damit erhielt die Frage nach dem „Anteil der Volkstümer an dem Siedlungsvorgange“ entscheidende Bedeutung.73 Explizit gegenwartspolitische Interessen zeigte Schieders Bericht über die Arbeit der Landesstelle Ostpreußen für Nachkriegsgeschichte im Regierungs-Bezirk Zichenau (Ciechanów). Die Arbeit verfolgte das Ziel, „volksgeschichtliche Tatsachen“ herauszuarbeiten, die für die neuen

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„Siedlungs- und Umsiedlungspläne“ richtungsweisend sein und das „Heimatbewußtsein der in dieses Gebiet kommende Menschen“ vertiefen könnten. Schieder hatte dabei in der Kontinuität der Ansiedlungspläne aus dem Ersten Weltkrieg die „Gewinnung der Narew-Linie“ im Blick. Ein zentrales Problem sei allerdings, dass deutsche Spuren dort kaum aufzufinden seien. Aus der Aufgabe der „historische[n] Deutung und Ableitung der von der deutschen Verwaltung bei Beginn ihrer Arbeiten vorgefundenen volkspolitischen Struktur“ ergebe sich daher auch die Betrachtung der „fremden Volksgruppen“.74 Keyser schilderte die Arbeit der Forschungsstelle für westpreußische Landesgeschichte und nannte als Aufgaben die Mitwirkung an der Eindeutschung von Ortsnamen und die Erstellung von Richtlinien für die Eindeutschung bzw. Aussiedlung von Polen und Kaschuben.75 Heinz Prokert wies für die sudetendeutsche Forschung auf die enge Zusammenarbeit mit dem →Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums im Osten hin.76 Wenn sich in diesem Fall die politische Wirkung nicht exakt feststellen lässt, so liegt das allerdings eher an der Widersprüchlichkeit nationalsozialistischer Umsiedlungspolitik und nicht an einer fehlenden Bereitschaft zur „Selbstmobilisierung“.77 Historische Bezugnahmen auf die mittelalterliche Ostkolonisation finden sich in politischen Dokumenten wiederholt, so etwa in einem Papier Himmlers, das auf einer Denkschrift des Soziologen Reinhard Höhn über „Erfahrungen der deutschen Ostsiedlung bis zur Machtergreifung“ beruht.78 Auch im →Generalplan Ost finden sich Bezüge zum Leitbild der mittelalterlichen Kolonisation, wenn dort von der Landvergabe als „Belehnung“ die Rede ist und die „Hufe“ als Maß für die Hofgröße übernommen wurde.79 Im Verlauf des Krieges kam es dann aber nicht zu einer erneuten Ansiedlung aus Deutschland, sondern von „volksdeutschen Rücksiedlern“.80 Auch in weiteren Ansätzen zur Siedlungspolitik des Dritten Reichs lassen sich die Vorstellungen der Historiker wiederholt erkennen, es überwogen jedoch publizistische Stellungnahmen.81 Wenn die Historiker, die sich mit der Ostkolonisation befassten, bei diesen Plänen nicht in der vordersten Reihe standen, so ermöglichte das vielen von ihnen, nach Kriegsende ohne größere Schwierigkeiten, von „neuem Ostforschung zu treiben“. Allerdings hatten sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Bedingungen für die Erforschung der mittelalterlichen Kolonisation in Deutschland grundlegend verändert. So beklagte Kuhn den fehlenden Bezug zu den „lebenden Organismen“82 deutscher Bevölkerung. „Ein dauerndes Schweigen der deutschen Ostforschung“, so schrieb er, bedeute „ein Zurücktreten von der wissenschaftlichen Verantwortung für die Ostgebiete und damit einen unausgesprochenen Verzicht auf unser Recht, ein inneres Aufgeben der geraubten Heimat“.83 Kuhn, der seit 1955 Professor für Siedlungsgeschichte und Volkstumsforschung namentlich Ostdeutschlands in Hamburg war, weitete nun sein wissenschaftliches Interesse auf die Siedlungsgeschichte ganz Schlesiens und Ostdeutschlands aus. Dabei blieben in seinen Arbeiten die älteren volkstumsorientierten Forschungsansätze aus der Vorkriegszeit sprachlich weiter fassbar: Die „Bildung eines geschlossenen Volksbodens“, der „praktische Erfolg

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für das eigene Volk“, die „Bewahrung von Volkstum und Glauben“84 waren seine Hauptkriterien für die Beurteilung der Ostkolonisation. Dort, wo es um die Gewinnund Verlustrechnung „deutschen Volksbodens“ geht, klingt – ähnlich wie bei Kuhn – die volksgeschichtliche Begrifflichkeit auch noch in Werner Conzes posthum publizierter zusammenfassender Darstellung der historischen Entwicklung von „Ostmitteleuropa“ an.85 Conze war in seiner Königsberger Dissertation 193486 dem methodischen Muster der Sprachinselforschung Kuhns gefolgt, ohne dessen Interesse an den „biologischen Vorgängen“ zu teilen. Vielmehr konzentrierte er sich auf die sozialgeschichtlichen Beziehungen im Völkerkontakt, und dieser Ansatz kennzeichnet auch das zentrale Kapitel über Verlauf und Auswirkung der Kolonisationsepoche in der Geschichtsregion „Ostmitteleuropa“, an deren strukturellen Gestaltung – durch „Verdichtung“ und „Ausweitung“ – in Conzes Verständnis auch die „nichtdeutschen Völker“ ihren Anteil hatten.87 Hermann Aubin als spiritus rector der um den →Johann Gottfried Herder-Forschungsrat und Herder-Institut in Marburg zentrierten erneuerten Ostforschung setzte im ersten Heft der Zeitschrift für Ostforschung 1952 neue Akzente, die gerade die mittelalterliche Kolonisation in einem weniger deutschtümlichen und stärker europäisch-abendländischen Licht erscheinen ließ. Von einem „ausschließlich romanisch-germanischen Kern des Abendlandes“ aus, so Aubin, habe im Laufe der Geschichte „eine Ausweitung des abendländischen Lebensbereiches“ stattgefunden, die „große Teile der Slawen, dann baltische Völker und eingesprengte Asiaten in die westliche Gemeinschaft hinein“ zog, so dass ein neuer „Grenzsaum des Abendlandes gegen Osten“, ein „abendländischer Ostraum“ entstand, wozu – mehr durch friedliche als kriegerische Eroberung – „wohl alle Teile des Abendlandes“ beigetragen hätten. Dabei seien jedoch gleichsam im Auftrage des Abendlandes die Deutschen „in der ganzen Breite […] zur Wirkung berufen“ worden.88 Im Zuge der allmählichen Verschärfung der ideologischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden deutschen Staaten prangerte die DDR-Forschung dieses „abendländische“ Ideengerüst als eine „klerikal-imperialistische Abendland-Ideologie“ an.89 Während es sich dabei überwiegend um den Nachweis ideeller und personeller Kontinuitäten handelte, die über das Ende des Nationalsozialismus hinaus in die Bundesrepublik reichten, entwickelte Ingrid Hagemann eine andere Sicht auf die „mittelalterliche deutsche Ostexpansion“, die sich auf Friedrich Engels sowie auf polnische und sowjetische Arbeiten bezog. Ihre grundsätzlich negative Haltung umfasste folgende Merkmale: Die Ostexpansion habe „in den ostelbischen Gebieten […] die freie Entwicklung der Slawen gewaltsam unterbrochen“ und „in Polen die staatliche Zentralisation“ und die „Herausbildung der Nation“ behindert. Außerdem habe sie „die Macht der deutschen Territorialfürsten und des Adels derart gestärkt, daß es der deutschen Zentralgewalt […] unmöglich war, im Innern des Landes Ordnung zu schaffen“, und schließlich habe die „Stärke der auf erobertem Land sitzenden deutschen Feudalherren […] dazu geführt, dass in den ostelbischen Gebieten durch die Herrschaft des reaktionären Brandenburg-Preußischen Staates und durch

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die ostelbische Gutswirtschaft die Durchsetzung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung gehemmt wurde“.90 In der bundesdeutschen Forschung begann Walter Schlesinger 1957 eine „vorsichtige Revision“91 der älteren Anschauungen der deutschen Forschung. Um zukünftigen Missverständnissen vorzubeugen, schlug er vor allem einen Begriffswechsel vor: Statt von „Ostkolonisation“ solle man lieber von „Ostbewegung“ sprechen, da „Kolonisation“ geeignet sei, Ressentiments bei den betroffenen slawischen Nachbarn zu wecken, und weil dieser Terminus deren eigene geschichtliche Leistung negiere. „Ostbewegung“ dagegen kommuniziere mit einer (älteren) slawischen „Westbewegung“. Das Ergebnis des historischen Prozesses der Ostbewegung sei die Bildung eines deutschen Ostens mit – so die begriffliche Neubildung Schlesingers – deutschen „Neustämmen“, die aus deutschen Zuwanderern und slawischen Bewohnern erwachsen seien. In europäischer Dimension habe sich der ostmitteleuropäische Raum gebildet. Schlesingers Aufsatz löste nicht nur eine innerdeutsche, sondern auch eine internationale Diskussion aus, die rasch den Bedarf an weiterer Klärung deutlich machte. Deshalb widmete der Herder-Forschungsrat seine Jahrestagung 1963 dem Thema „Deutsche und europäische Ostsiedlungsbewegung“, wobei die Erwartung an sein Mitglied Schlesinger gerichtet war, „eine kritische Selbstanalyse der Ostforschung vorzunehmen“.92 Dabei stellte Schlesinger auch „schockierende“ Zitate aus den Arbeiten seines Lehrers Rudolf Kötzschke heraus. Seine Analyse mündete in die Forderung nach dem allgemeinen Bekenntnis „zu einem rein wissenschaftlichen, also einem apolitischen Standort“.93 Der Vortragstext wurde allerdings erst mehr als 30 Jahre später veröffentlicht. In seinem einleitenden Referat zu den Reichenauer Tagungen des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte in den Jahren 1970–1972 rief Schlesinger nochmals zu „einer allein am Gegenstand orientierten, also ‚objektiven‘ Betrachtungsweise“ auf und damit zur Abkehr von der früheren Forschung, die „durch viele Jahrzehnte […] außerwissenschaftlichen Einflüssen nationalpolitischer Art unterworfen war“.94 Außerdem stellte er den von ihm selbst 1957 vorgeschlagenen Begriff „Ostbewegung“ in Frage und forderte die Konzentration auf die Erforschung der „Ostsiedlung“ des hohen Mittelalters als Teil des ganz Europa erfassenden hochmittelalterlichen Landesausbaus. Dieser Forderung kam Klaus Zernack in seiner Zusammenfassung der Konferenzbeiträge nach.95 Als ein quellennaher und daher den aktuellen außerwissenschaftlichen Prämissen entzogener Begriff fand von nun an „Landesausbau“ stärkeren Eingang in die wissenschaftliche Literatur. Im Unterschied zu dem „ostmitteleuropäischen“ Ansatz Schlesingers war es für die DDR ein mit hohem Personalaufwand betriebenes Anliegen, Geschichte und Kultur der slawischen Stämme auf ihrem Territorium zu erforschen und darzustellen: „westlich von Oder und Neiße“, wie es in dem repräsentativen Handbuch Die Slawen in Deutschland hieß.96 Dieses endete mit der „feudale[n] deutsche[n] Ostexpansion des 12./13. Jahrhunderts“, also bevor die „Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft von Deutschen und Slaven“ in Schlesingers Konzept erst entstand. In diesen

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Arbeitsbereichen prallten die Gegensätze zwischen den Forschern aus den beiden deutschen Staaten allerdings längst nicht mehr so scharf aufeinander, wie manche Äußerung es erwarten ließ. Denn was in „Die Slawen in Deutschland“ in der Zusammenschau verschiedener Wissenschaftsdisziplinen als weiterführender methodischer Zugang vorgestellt wurde, hatte sich auch im Westen schon als eine neue Forschungsrichtung unter dem Begriff „Germania Slavica“ zu etablieren begonnen. Ihre ersten Repräsentanten hatten, auch wenn sie in ihrer Biographie und Karriere zunächst der deutschen Ostforschung entstammten, nun einen von vornherein fachwissenschaftlichen Zugang zu den slawischen Vorbedingungen der hochmittelalterlichen Kolonisation gesucht und sich daher sowohl für die slawische Frühzeit interessiert als auch die Forschungsergebnisse aus den slawischen Nachbarländern ernsthaft rezipiert. Der Begriff „Germania Slavica“ geht auf Wolfgang H. Fritze zurück, der als Ziel formulierte, „Untersuchungen zu der wechselseitigen Durchdringung von slawischem und deutschem Ethnikum im Bereich der mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung“ durchzuführen.97 Aus den Diskussionen um Inhalte, Defizite und Methoden der Erforschung der Ostsiedlung formulierte Fritze als Konsequenz: Da man erkannt habe, dass in den älteren Forschungen die Berücksichtigung nur der „schriftlichen Quellen […] ein lückenhaftes und zudem verzerrtes Bild der historischen Wirklichkeit“ ergeben hätte, sei nun ein interdisziplinäres Vorgehen geboten.98 Es ging insgesamt um die alte Frage nach dem Fortleben der Slawen (bzw. Balten), die nun aus anderer Perspektive neu gestellt wurde und den slawischen (bzw. baltischen) Anteil an der hochmittelalterlichen Kolonisation ergründen wollte. →Herbert Ludat schließlich schrieb den Elbmarken samt ihren slawischen Traditionen die Rolle eines Kristallisationsherdes der europäischen Geschichte insgesamt zu, in deren Verlauf die Gebiete außerhalb der antiken Kulturgrenzen an Rhein und Donau gleichberechtigte „integrierende Bestandteile der gleichen Völkergemeinschaft Europas geworden sind“.99 Diese Einordnung sowohl der slawischen Geschichte als auch der Kolonisation in gesamteuropäische Zusammenhänge mündete schließlich bei Klaus Zernack in eine strukturgeschichtliche Analyse, die gleichermaßen die nationale Beschränkung überwand und ein größeres Forschungsprogramm projizierte.100 Dort wird „Ostkolonisation“ als ein von West nach Ost fortschreitender universalgeschichtlicher Prozess verstanden, der die Akkulturation und Verwestlichung der östlichen Hälfte Europas bewirkte. In dieser gesamteuropäischen Perspektive folgen nach Osten weitere Zonen von Ostkolonisation, die aber nicht mehr vom ius theutonicum geprägt waren. Die deutsche, nationale Komponente der mittelalterlichen Ostsiedlung hat in dieser auf die Analyse der Strukturen zielenden Forschungsperspektive ihren traditionellen Vorrang verloren.

Jörg Hackmann

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1 Der vorliegende Text beruht auf dem gemeinsam mit Christian Lübke verfassten Beitrag: Jörg Hackmann u.a., Die mittelalterliche Ostsiedlung in der deutschen Geschichtswissenschaft, in: Jan M. Piskorski (Hg.), Historiographical Approaches to Medieval Colonization of East Central Europe. A Comparative Analysis Against the Background of Other European Inter-ethnic Colonization Processes in the Middle Ages, Boulder, CO 2002, S. 179–217; vgl. Gerard Labuda, Historiograficzna analiza tzw. niemieckiego „naporu na wschód“, in: ders. (Hg.), Wschodnia ekspansja Niemiec w Europie środkowej: zbiór studiów nad tzw. niemieckim „Drang nach Osten“, Poznań 1963, S. 14–56; Zdzisław Kaczmarczyk, Kolonizacja niemiecka i kolonizacja na prawie niemieckim w średniowiecznej Polsce, in: Jerzy Krasuski (Hg. u.a.), Stosunki polsko-niemieckie w historiografii. Studia z dziejów historiografii polskiej i niemieckiej. Bd. 1, Poznań 1974, S. 218–326; Hartmut Boockmann, Die mittelalterliche deutsche Ostsiedlung. Zum Stand ihrer Erforschung und zu ihrem Platz im allgemeinen Geschichtsbewußtsein, in: ders. (Hg. u.a.), Geschichte und Gegenwart: Festschrift für Karl Dietrich Erdmann, Neumünster 1980, S. 131–147; Jan M. Piskorski, The Medieval Colonization of Central Europe as a Problem of World History and Historiography, in: German History 22 (2004), S. 323343; Fritz Backhaus, Das größte Siedelwerk des deutschen Volkes. Zur Erforschung der Germania Slavica in Deutschland, in: Christian Lübke (Hg.), Struktur und Wandel im Früh- und Hochmittelalter. Eine Bestandsaufnahme aktueller Forschungen zur Germania Slavica, Stuttgart 1998, S. 17–29; Jan M. Piskorski, After Occidentalism: The Third Europe Writes Its Own History. Instead of an Introduction, in: ders. (Hg.), Historiographical Approaches, S. 7–23. 2 Vgl. die Einträge von Winfried Irgang, Ostmitteleuropa und Ungarn zum Stichwort Landesausbau und Kolonisation, in: Lexikon des Mittelalters, München 1980–1999, Bd. 5, Sp. 1649–1653, und Ostsiedlung, deutsche, in: ebd., Bd. 6, Sp. 1545f. 3 August Ludwig von Schlözer, Kritische Sammlungen zur Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen, Köln 1979, S. 164–166 (zuerst: Göttingen 1795–1797). 4 Ebd., S. 240–264, 379f. 5 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Hildesheim 1967 (zuerst Riga, Leipzig 1792), 16. Buch, 4. Kapitel. 6 Garlieb Helwig Merkel, Die Letten vorzüglich in Liefland am Ende des philosophischen Jahrhunderts, Wedemark 1998, S. 17–20 (zuerst Leipzig 1796). 7 Johannes Voigt, Geschichte Preußens von den ältesten Zeiten bis zum Untergang der Herrschaft des Deutschen Ordens, Königsberg 1827–1839, Bd. 2, S. IXf. 8 Gustav Adolf Tzschoppe/Gustav Adolf Harald Stenzel (Hg.), Urkundensammlung zur Geschichte des Ursprungs der Städte und der Einführung und Verbreitung deutscher Kolonisten und Rechte in Schlesien und der Ober-Lausitz, Hamburg 1832. 9 Gustav Adolf Harald Stenzel, Geschichte des preußischen Staats. Theil 1: Vom Jahre 1191 bis 1640, Hamburg 1830, S. 79. 10 Wilhelm Wattenbach, Die Germanisirung der östlichen Grenzmarken des deutschen Reichs, in: Historische Zeitschrift 9 (1863), S. 386–417, 387, 389, 416. 11 Heinrich von Treitschke, Das Deutsche Ordensland Preußen, in: Preußische Jahrbücher 10 (1862), S. 95–151. Der Text ist mehrfach publiziert und dabei auch an veränderte politische Situationen angepasst worden; hier zitiert nach der von Walter Bußmann herausgegebenen Fassung, Göttingen 1958, S. 14–17, 25f. 12 Colmar Grünhagen, Geschichte Schlesiens, Gotha 1884, 1. Bd., S. IX, 389. 13 Hans Plehn, Zur Geschichte der Agrarverfassung von Ost- und Westpreussen, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 17–18 (1904/05), S. 383–466, 61–122, hier 1904, S. 44.

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14 Raimund Friedrich Kaindl, Geschichte der Deutschen in Galizien, Ungarn, der Bukowina und Rumänien seit etwa 1770 bis zur Gegenwart, Gotha 1911. 15 August Meitzen, Die Ausbreitung der Deutschen in Deutschland und ihre Besiedelung der Slawengebiete, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 32 (1879), S. 1–59. 16 Rudolf Kötzschke, Über Aufgaben vergleichender Siedelungsgeschichte der deutschen Volksstämme, in: Studium Lipsiense. Ehrengabe Karl Lamprecht, dargebracht aus Anlass der Eröffnung des Königlich Sächsischen Instituts für Kultur- und Universalgeschichte der Universität Leipzig (Hg.), Berlin 1909, S. 23–54; zu Kötzschke vgl. Wieland Held (Hg. u.a.), Rudolf Közschke und das Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde an der Universität Leipzig. Heimstatt sächsischer Landeskunde, Beucha 1999, darin: Esther Ludwig, Rudolf Kötzschke. Das schwere Bemühen um die Bewahrung der „unantastbaren Reinheit des geschichtlichen Sinnes“, S. 21–70. 17 Gustav von Schmoller, Die preußische Kolonisation des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Verein für Socialpolitik (Hg.), Zur inneren Kolonisation in Deutschland. Erfahrungen und Vorschläge, Leipzig 1886, S. 1–43, 2. 18 Meitzen, Die Ausbreitung, S. 1. 19 Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte, Berlin 1891–1909, Bd. 3, 1893, dort das 10. Buch, S. 295– 420, 300f. Ähnlich äußerte sich 1912 auch Kötzschke, vgl. Ludwig, Rudolf Kötzschke, S. 40. 20 Lamprecht, Deutsche Geschichte, Bd. 3, S. 328f. 21 Vgl. Meitzen, Die Ausbreitung, S. 25, 49; zur Systematisierung der Ansichten vgl. Jan M. Piskorski, Teorie wyjaśniające zanik Slowian w Brandenburgii i krajach sąsiednich. Próba klasyfikacji typologicznej dotychczasowych poglądów historiografii, in: Bogdan Wachowiak (Hg.), Dzieje Brandenburgii i Prus w historiografii, Warszawa 1989, S. 185–196. 22 Hans Witte, Wendische Bevölkerungsreste in Mecklenburg, Stuttgart 1905. 23 Max Sering, Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland, Leipzig 1893; zu Sering vgl. Robert L. Nelson, From Manitoba to the Memel: Max Sering, Inner Colonization and the German East, in: Social History 35 (2010), S. 439–457. 24 Max Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Akademische Antrittsrede, in: Max Weber Gesamtausgabe, Abt. 1: Schriften und Reden, Bd. 4, Tübingen 1993, S. 544–574, 556. 25 Schmoller, Die preußische Kolonisation, S. 6, 41. 26 Vgl. Silvio Broedrich-Kurmahlen, Das neue Ostland, Charlottenburg 1915. 27 Vgl. S[alomon] Grumbach (Hg.), Das annexionistische Deutschland. Eine Sammlung von Dokumenten, die seit dem 4. August 1914 in Deutschland öffentlich oder geheim verbreitet wurden, Lausanne 1917, S. 132–140, 135. Vgl. Imanuel Geiss, Der polnische Grenzstreifen, 1914–1918. Ein Beitrag zur deutschen Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg, Lübeck 1960, S. 53; Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Kronberg/Ts. 1977, S. 143f. 28 Fischer, Griff, S. 105. 29 Hermann Aubin, Das Gesamtbild der mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung, in: ders. (Hg. u. a.), Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg. Bd. 1, Leipzig 1942, S. 331–361, 332f. Zum Folgenden vgl. allgemein: Alexander Pinwinkler, Historische Bevölkerungsforschungen. Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 2014. 30 Karl Hampe, Der Zug nach dem Osten Die kolonisatorische Grosstat des deutschen Volkes im Mittelalter, Leipzig 1921, 19395; zur Einschätzung vgl. Walter Schlesinger, Die mittelalterliche deutsche Ostbewegung und die deutsche Ostforschung, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 46 (1997), S. 427–457, 433, 437f. Zur früheren Diskussion vgl. etwa Dietrich Schäfer, Geschichtliche Einleitung, in: Deutscher Ostmarkenverein (Hg.), Die Deutsche Ostmark, Lissa 1913, S. 1–62, 13, sowie Weber, Der Nationalstaat, S. 556: „slavische Flut“. 31 Hampe, Der Zug, S. 9f. 32 Etwa M. Stolt, Aufgaben und Ziele des ostdeutschen Siedlungswerkes, in: Karl C. von Loesch (Hg.), Staat und Volkstum, Berlin 1926, S. 383-410, 403

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33 Albrecht Penck, Deutscher Volks- und Kulturboden, in: Karl Christian von Loesch (Hg.), Volk unter Völkern, Breslau 1925, S. 62–73, 68. 34 Ebd., S. 69. 35 Wilhelm Volz (Hg.), Der ostdeutsche Volksboden. Aufsätze zu den Fragen des Ostens, Breslau 1924; darin der einleitende Aufsatz von Rudolf Kötzschke, Über den Ursprung und die geschichtliche Bedeutung der ostdeutschen Siedlung, S. 7–26, und zwei Beiträge zu Böhmen und Mähren von Alfons Dopsch, Die historische Stellung der Deutschen in Böhmen und Mähren, S. 27–39, und Robert Holtzmann, Die Herkunft der Deutschen in Böhmen und Mähren, S. 40–51; in der wesentlich erweiterten zweiten Auflage (Breslau 1926) traten auch die anderen ostdeutschen Regionen hinzu; vgl. Dorota Leśniewska, Zur Beurteilung der „deutschen Kolonisation“. Eine Skizze zur böhmischen Geschichtsschreibung, in: Christian Lübke (Hg.), Struktur und Wandel, S. 31–38. 36 Dopsch, Die historische Stellung, S. 39. 37 Kötzschke, Über den Ursprung, S. 26. 38 Rudolf Kötzschke, Die deutsche Wiederbesiedelung der ostelbischen Lande, in: Wilhelm Volz (Hg.), Der ostdeutsche Volksboden. Aufsätze zu den Fragen des Ostens, Breslau 19262, S. 152–179, 178f., 153; vgl. Schlesinger, Die mittelalterliche deutsche Ostbewegung, S. 430f., dort auch folgendes Zitat von Kötzschke: „Darum ist es nicht gleichgültig, ob das Germanentum ein halbes, ein ganzes Jahrtausend und länger vor den Slawen im Lande eingesessen war, ob die Deutschen als Einheimische, als Siedler auf selbsterrungenem Boden und Träger einer aufwärts führenden Kultur oder als Gäste und Fremdlinge angesehen werden“. Zum Verhältnis zwischen Kötzschke und Schlesinger vgl. Ludwig, Rudolf Kötzschke, S. 56. 39 Rudolf Kötzschke, Landesgeschichte und Heimatgedanke, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 48 (1927), S. 1–30, 6; ähnlich auch: Fritz Curschmann, Die Aufgaben der historischen Kommissionen bei der Erforschung der mittelalterlichen Kolonisation Ostdeutschlands, in: Altpreußische Forschungen 4 (1927), S. 15–40. 40 Dmitrij N. Egorov, Kolonizacija Meklenburga v XIII v. Slavjano-germanskija otnošenija v srednie veka, Moskva 1915. 1930 wurde vom Osteuropa-Institut Breslau eine deutsche Übersetzung publiziert: Dmitrij N. Jegorov, Die Kolonisation Mecklenburgs im 13. Jahrhundert, Breslau 1930; dazu erschien dann: Hans Witte, Jegorovs Kolonisation Mecklenburgs im 13. Jahrhundert. Ein kritisches Nachwort, Breslau 1932; zum Hintergrund vgl. Hans-Jürgen Bömelburg, Das Osteuropa-Institut in Breslau 1930–1940. Wissenschaft, Propaganda und nationale Feindbilder in der Arbeit eines interdisziplinären Zentrums der Osteuropaforschung in Deutschland, in: Michael Garleff (Hg.), Zwischen Konfrontation und Kompromiß. Oldenburger Symposium: „Interethnische Beziehungen in Ostmitteleuropa als historiographisches Problem der 1930er/1940er Jahre“, München 1995, S. 47–72, 52– 54. 41 Witte, Jegorovs Kolonisation, S. VI; bezeichnenderweise distanzierte sich Witte nun auch von seiner früheren Arbeit über die Bevölkerungsreste. Vgl. zum Kontext der polnischen DebatteJan M. Piskorski, Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters in der Entwicklung des östlichen Mitteleuropa. Zum Stand der Forschung aus polnischer Sicht, in: Jahrbuch für Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 40 (1991), S. 27–84, 27. 42 Clara Redlich, Nationale Frage und Ostkolonisation im Mittelalter, Berlin 1934; zu Aubins Kritik vgl. Aubin, Das Gesamtbild, S. 344. 43 Hermann Aubin, Aufgaben und Wege der geschichtlichen Landeskunde, in: ders., Geschichtliche Landeskunde. Anregungen in vier Vorträgen, Bonn 1925, S. 28–45, neu in: Pankraz Fried (Hg.), Probleme und Methoden der Landesgeschichte, Darmstadt 1978, S. 38–52; vgl. Peter Schöttler, Von der rheinischen Landesgeschichte zur nazistischen Volksgeschichte oder „Die unhörbare Stimme des Blutes“, in: Winfried Schulze (Hg. u.a.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1999, S. 89–113.

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44 Peter Schöttler, Die historische ‚Westforschung‘ zwischen ‚Abwehrkampf‘ und territorialer Offensive, in: ders. (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 204–261; Burkhard Dietz, Die interdisziplinäre „Westforschung“ der Weimarer Republik und NS-Zeit als Gegenstand der Wissenschafts- und Zeitgeschichte, in: Geschichte im Westen 14 (1999), S. 189–209; ders., (Hg. u.a.), Griff nach dem Westen. Die „Westforschung“ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919–1960), 2 Bde., Münster 2003. 45 Hermann Aubin, Wege kulturgeschichtlicher Erforschung des deutschen Ostens, in: Mitteilungen der schlesischen Gesellschaft für Volkskunde 31 (1930), S. 1–31, neu in: ders., Grundlagen und Perspektiven geschichtlicher Kulturraumforschung und Kulturmorphologie. Aufsätze zur vergleichenden Landes- und Volksgeschichte aus viereinhalb Jahrzehnten anlässlich der Vollendung des 80. Lebensjahres des Verfassers, Bonn 1965, S. 40–59. 46 Walter Kuhn, Deutsche Sprachinsel-Forschung. Geschichte, Aufgaben, Verfahren, Leipzig 1934, S. 147; vgl. ders., Zur Abgrenzung des Begriffs des deutschen Volks- und Kulturbodens, in: Deutsche Hefte für Volks- und Kulturbodenforschung 3 (1933), S. 65–71, auch in: ders., Deutsche SprachinselForschung, S. 38–46. Vgl. Alexander Pinwinkler, Walter Kuhn (1903–1983) und der „Bielitzer Wandervogel e.V.“ Historisch-volkskundliche „Sprachinselforschung“ zwischen völkischem Pathos und politischer Indienstnahme, in: Zeitschrift für Volkskunde 105 (2009), S. 29–51. 47 Kuhn, Deutsche Sprachinsel-Forschung, S. 400f. 48 Karl Kasiske, Beiträge zur Bevölkerungsgeschichte Pommerellens im Mittelalter, Königsberg 1942, S. VIII; zuvor: ders., Das deutsche Siedelwerk des Mittelalters in Pommerellen, Königsberg 1938; ders., Die Siedlungstätigkeit des Deutschen Ordens im östlichen Preussen bis zum Jahre 1410, Königsberg 1934. 49 Karl Kasiske, Neuere Forschungen zur Geschichte des Deutschen Ordens, in: Hermann Aubin (Hg. u.a.), Deutsche Ostforschung, Bd. 1, S. 446–462, 454. 50 Erich Maschke, Der deutsche Ordensstaat. Gestalten seiner großen Meister, Hamburg 1935, S. 18, 31f. 51 Fritz Rörig, Die Erschließung des Ostseeraumes durch das deutsche Bürgertum, in: Vorträge zur 700-Jahrfeier der Deutschordens- und Hansestadt Elbing, Elbing 1937, S. 5–24, 3f. 52 Fritz Rörig, Hanse, Ostseeraum und Skandinavien, in: Egmont Zechlin (Hg.), Völker und Meere. Aufsätze und Vorträge, Leipzig 1944, S. 134–152, 144. 53 Kurt Lück, Deutsche Aufbaukräfte in der Entwicklung Polens: Forschungen zur deutsch-polnischen Nachbarschaft im ostmitteleuropäischen Raum, Plauen 1934, S. 55. 54 Karl Kasiske, Das Wesen der ostdeutschen Kolonisation, in: HZ 164 (1941), S. 285–315, 286, 294. 55 Hermann Aubin, Zur Erforschung der deutschen Ostbewegung, Leipzig 1939, S. 10; zuerst erschienen in: Deutsches Archiv für Landes- und Volksforschung 1 (1937). 56 Ebd., S. 11, 6f. Vgl. auch Oskar Kossmann, Historisch-geographische Kräfte in der deutschen Ostbewegung des Mittelalters, in: Aubin (Hg. u.a.), Deutsche Ostforschung, Bd. 1, S. 31–57; Aubin, Das Gesamtbild. 57 Aubin, Zur Erforschung, S. 62f.; ders., Der deutsche Osten und das deutsche Volk (1930), in: ders., Von Raum und Grenzen des deutschen Volkes. Studien zur Volksgeschichte, Breslau 1938, S. 93–108, 95. 58 Rudolf Kötzschke u.a., Geschichte der ostdeutschen Kolonisation, Leipzig 1937, S. 7. 59 Ebd., S. 51. 60 Ebd., S. 165f. S. auch den Beitrag von Kötzschke zu dem Stichwort Agrarverfassung, in: Carl Petersen, et al. (Hg.), Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums, Breslau 1933–1938, Bd. 1, 1933, S. 23–37. 61 Rudolf Kötzschke, Die Siedelformen des deutschen Nordostens und Südostens in volks- und sozialgeschichtlicher Betrachtung, in: Aubin (Hg. u.a.), Deutsche Ostforschung, Bd. 1, S. 362–390. 62 Kötzschke u.a., Geschichte der ostdeutschen Kolonisation, S. 10.

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63 Heinrich Felix Schmid, Die slavische Altertumskunde und die Erforschung der Kolonisation des deutschen Nordostens, in: Zeitschrift für slavische Philologie 1, 1924, S. 396–415; 2, 1925, S. 134–180, Zitate 1924, S. 397, 400. 64 Ausführlich dazu Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1989, vor allem S. 155ff.; vgl. auch Götz Aly u.a., Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt a.M. 1993, S. 91ff., und die Einführung zur „Polendenkschrift“ Theodor Schieders: Angelika Ebbinghaus u.a., Vorläufer des „Generalplans Ost“. Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 7 (1992), S. 62–94, 62–77. 65 Reinhard Wittram, Livland. Schicksal und Erbe der baltischen Deutschen, Berlin 1940; ders., Rückkehr ins Reich. Vorträge und Aufsätze aus den Jahren 1939/1940, Posen 1942. 66 So Erich Keyser, Die Erforschung der Bevölkerungsgeschichte des deutschen Ostens, in: Hermann Aubin (Hg. u.a.), Deutsche Ostforschung, Bd. 1, Leipzig 1942, S. 90–104, 92; vgl. auch Erich Keyser, Die völkische Geschichtsauffassung, in: Preußische Jahrbücher 234 (1933), S. 1–20, 11; vgl. Koos Bosma, Verbindungen zwischen Ost- und Westkolonisation, in: Mechtild Rössler (Hg. u.a.), Der „Generalplan Ost“: Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993, S. 198–214; und Alexander Pinwinkler, Historische Bevölkerungsforschungen. Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 2014, S. 435f.. 67 Kasiske, Das Wesen, S. 314f.; so auch: Max Hein, Erich Keyser, Theodor Schieder, Zum Geleit, in: Altpreußische Forschungen 17 (1940), S. 1–3; und: [anonym], Der Untergang des Versailler Polenstaates, in: Jomsburg 3 (1939), S. 249–252. 68 Aubin, Der deutsche Osten, S. 108. 69 So sprach etwa Kossmann, Historisch-geographische Kräfte, S. 42, von der „Ostfront“. 70 Gunter Ipsen, Bevölkerungslehre, unter dem Stichwort Bevölkerung, in: Petersen (Hg. u.a.), Handwörterbuch, Bd. 1, S. 425–463, 426, 462. Conze führte den Gedanken weiter, dass Lebensraum und Bevölkerung in einem Spannungsverhältnis stehen, das entweder zur Erweiterung des Raums oder zur Überbevölkerung führt: Werner Conze, Agrarverfassung und Bevölkerung in Litauen und Weißrußland. 1. Teil: Die Hufenverfassung im ehemaligen Großfürstentum Litauen, Leipzig 1940, S. 1. Vgl. Marco Wauker, „Volksgeschichte“ als moderne Sozialgeschichte? Werner Conze und die deutsche Ostforschung, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 52/2003, S. 347–397. 71 Vorläufer des „Generalplans Ost“, Dokument 4, S. 84–91; vgl. dazu auch Eduard Mühle, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005, S. 362–381; eine ähnliche Denkschrift legte Walter Kuhn vor, vgl. Bömelburg, Das OsteuropaInstitut, S. 64. 72 BArch, R 153/1544: Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft, Berlin-Dahlem vom 10.6.1941, Protokoll der bevölkerungsgeschichtlichen Besprechung in Berlin vom 22./23.11.1940. 73 Ebd., S. 3, 7. 74 Ebd., S. 15–19. 75 Ebd., S. 19f. 76 Ebd., S. 23–25. 77 Isabel Heinemann u.a., Einleitung, in: dies. (Hg.), Wissenschaft – Planung – Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, S. 7–21, 9. 78 Carsten Klingemann, Ursachenanalyse und ethnopolitische Gegenstrategien zum Landarbeitermangel in den Ostgebieten: Max Weber, das Institut für Staatsforschung und der Reichsführer SS, in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1994, S. 191–203, 195–200. 79 Karl Heinz Roth, „Generalplan Ost“ – „Gesamtplan Ost“. Forschungsstand, Quellenprobleme, neue Ergebnisse, in: Rössler (Hg. u.a.), Der „Generalplan Ost“, S. 25–95, 44, 59, 88; Czesław Madajczyk, Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, München 1994, Dokument 23, S. 91–129.

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Vgl. auch Rössler (Hg. u.a.), Der „Generalplan Ost“, Dokument 6, S, 189–197; Isabel Heinemann, Wissenschaft und Homogenisierungsplanungen für Osteuropa. Konrad Meyer, der „Generalplan Ost“ und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, in: Heinemann (Hg. u.a.), Wissenschaft, S. 45–72. 80 Rolf-Dieter Müller, Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik: die Zusammenarbeit von Wehrmacht, Wirtschaft und SS, Frankfurt a.M. 1991. 81 Als Beispiel für die Rezeption im Bereich Stadtplanung vgl. Hans-Bernhard Reichow, Grundsätzliches zum Städtebau im Altreich und im neuen deutschen Osten, in: RuR 5 (1941) 3/4, S. 225–230. Ein Beispiel für die ideologische Nutzung ist: Arnold Hillen Ziegfeld, 1000 Jahre deutsche Kolonisation und Siedlung. Rückblick und Vorschau zu neuem Aufbruch, Berlin 1943. 82 Walter Kuhn, Geschichte der deutschen Ostsiedlung in der Neuzeit. 2 Bde., Köln 1955–1957, Bd. 1, S. VIII. 83 Ebd., Bd. 1, S. VIII. 84 Ebd., Bd. 1, S. IX. 85 Werner Conze, Ostmitteleuropa. Von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert, München 1992, S. 86. 86 Ders., Hirschenhof. Die Geschichte einer deutschen Sprachinsel in Livland, Berlin 1934. 87 Conze, Ostmitteleuropa, S. 58–104. Vgl. Klaus Zernack, Nachwort – Werner Conze als Osteuropahistoriker, in: ebd., S. 238–248. 88 Hermann Aubin, An einem neuen Anfang der Ostforschung, in: Zeitschrift für Ostforschung 1 (1952), S. 3–16, 3–6. 89 Felix-Heinrich Gentzen u.a., Die „Ostforschung“ – ein Stoßtrupp des deutschen Imperialismus, in: ZfG 6 (1958), S. 1181–1220. 90 Ingrid Hagemann, Die mittelalterliche deutsche Ostexpansion und die Adenauersche Außenpolitik, In: ZfG 6 (1958), S. 797–815, 812f. 91 Walter Schlesinger, Die Geschichte der mittelalterlichen deutschen Ostbewegung, in: HZ 183 (1957), S. 517–542; vgl. Backhaus, Das größte Siedelwerk, S. 24; Jörg Hackmann, Ostpreußen und Westpreußen in deutscher und polnischer Sicht. Landeshistorie als beziehungsgeschichtliches Problem, Wiesbaden 1996, S. 321–324. 92 Eugen Lemberg, Eröffnung der Tagung, in: Johann Gottfried Herder-Forschungsrat (Hg.), Deutsche und europäische Ostsiedlungsbewegung. Referate und Aussprachen der wissenschaftlichen Jahrestagung des Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrates vom 7. bis 9. März 1963, Marburg/Lahn 1964, S. 5. 93 Vor allem aus Kötzschke u.a., Geschichte; der Vortragstext in: Herder-Forschungsrat (Hg.), Deutsche und europäische Ostsiedlungsbewegung, S. 7–46; gedruckt: Schlesinger, Die mittelalterliche deutsche Ostbewegung und die deutsche Ostforschung, Zitat ebd., S. 445. 94 Walter Schlesinger, Zur Problematik der Erforschung der deutschen Ostsiedlung, in: ders. (Hg.), Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte. Reichenau-Vorträge 1970–1972, Sigmaringen 1975, S. 11–30, 11. 95 Klaus Zernack, Die hochmittelalterliche Kolonisation in Ostmitteleuropa und ihre Stellung in der europäischen Geschichte, in: ebd., S. 783–804. 96 Joachim Herrmann (Hg.), Die Slawen in Deutschland: Geschichte und Kultur der slawischen Stämme westlich von Oder und Neisse vom 6. bis 12. Jahrhundert: ein Handbuch, Berlin 19852 (1970). 97 Wolfgang H. Fritze, Germania Slavica. Zielsetzung und Arbeitsprogramm einer interdisziplinären Arbeitsgruppe, in: ders. (Hg.), Germania Slavica, Bd. 1, Berlin 1980, S. 11–40. Näheres zum Entstehen des Begriffs bei Christian Lübke, Germania-Slavica-Forschung im Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V.: Die Germania Slavica als Bestandteil Ostmitteleuropas, in: ders. (Hg.), Struktur und Wandel, S. 9–16.

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98 Wolfgang H. Fritze, Die Begegnung von deutschem und slavischem Ethnikum im Bereich der hochmittelalterlichen deutschen Ostsiedlung, in: Siedlungsforschung 2 (1984), S. 187–219, 189, 206. 99 Herbert Ludat, Die ältesten Grundlagen für das deutsch-slavische Verhältnis, in: Göttinger Arbeitskreis (Hg.), Das östliche Deutschland. Ein Handbuch, Würzburg 1959, S. 127–160, 131. Zu Ludat vgl. Klaus Zernack, „Europa ostwärts der Elbe“. Zum Lebenswerk Herbert Ludats (1910–1993), In: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 44/1996, S. 1–13; und Jan M. Piskorski, Herbert Ludat (1910–1993) – historyk Słowiańszczyzny zachodniej i stosunków polsko-niemieckich, in: Herbert Ludat (Hg.), Słowianie – Niemcy – Europa, Marburg, Poznań 2000, S. 325–354. 100 Klaus Zernack, „Ostkolonisation“ in universalgeschichtlicher Perspektive, in: Gangolf Hübinger (Hg.), Universalgeschichte und Nationalgeschichten. Ernst Schulin zum 65. Geburtstag, Freiburg 1994, S. 105–116.

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Deutsche Volksliste Bevor noch die letzten polnischen Verbände kapitulierten, kündigte Hitler am Mittag des 6. Oktober 1939 „eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse“ in Europa an.1 Einen Tag später beauftragte er Heinrich Himmler mit der „Festigung deutschen Volkstums“.2 Am 8. Oktober verabschiedete er den Erlass, der die Annexion Westpolens, sowie die Selektion der dortigen Bevölkerung vorsah.3 Zu diesem Zweck wurde die Deutsche Volksliste (DVL) eingerichtet, das bedeutendste Instrument der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik. Gegründet wurde die Deutsche Volksliste am 28. Oktober 1939 im Wartheland. Ihr Initiator war Karl Albert Coulon, der Volkstumsreferent des dortigen Reichsstatthalters Arthur Greiser und ein „Alter Kämpfer“, der bereits als Student 1926 in die NSDAP eingetreten war. Im Wartheland traf Coulon auf Egon Leuschner vom →Rassenpolitischen Amt der NSDAP (RPA) und SS-Untersturmführer Herbert Strickner,4 dem Volkstumsreferenten des SD-Leitabschnitts Posen, die zu seinen engsten Mitarbeitern der Aufbauphase wurden. Es war Aufgabe der DVL, die „ehemals polnischen Staatsbürger deutscher Volkszugehörigkeit“ zu erfassen; wer in ihr geführt wurde, galt als „Deutscher“.5 Die DVL gliederte sich in drei Instanzen: eine Zentralstelle, bei der Reichsstatthalterei angesiedelt, drei Bezirksstellen, die den Regierungspräsidenten in Posen, Hohensalza und Kalisch, und schließlich Zweigstellen, die den Landräten und Oberbürgermeistern unterstanden. Kaum jedoch nahm die Zweigstelle in Posen ihre Tätigkeit auf, erfuhren die Volkstumsspezialisten im Wartheland einen Rückschlag. Das Reichsinnenministerium (RMI) fürchtete, dass durch die Bestimmung der „Volkszugehörigkeit“ auch die staatsbürgerliche Stellung der Antragsteller präjudiziert, die Behörden des Reichsstatthalters also ihre Kompetenzen überschreiten würden. Mit dem am 25. November 1939 ergehenden Erlass führte das RMI nun seinerseits eine für alle annektierten westpolnischen Gebiete gültige Regelung ein, die die „Volkszugehörigkeit“ der einheimischen Bevölkerung klärte und diese mit der Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit verknüpfte.6 Hinsichtlich der Kriterien wurde dabei auf den Erlass vom 29. März 1939 verwiesen, der nach der Besetzung der Tschechischen Republik notwendig geworden war. Hier hieß es vage: „Deutscher Volkszugehörigkeit ist, wer sich selbst als Angehöriger des deutschen Volkes bekennt, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Tatsachen, wie Sprache, Erziehung, Kultur usw. bestätigt wird“. Bei Schwierigkeiten sei zu entscheiden, ob der Antragsteller „nach seinem gesamten Verhalten einen erwünschten Bevölkerungszuwachs darstellt.“ In solchen Fällen wurde eine großzügige Regelung angemahnt. Dem Bekenntnis kam also die Schlüsselbedeutung zu. Es bestimmte den Verlauf der Grenzziehung zwischen deutschen und nicht-deutschen „Volkszugehörigen“. Ausgenommen waren allein „voll Fremdblütige“, also Juden.7 Der Erlass ging auch an die anderen annektierten Gebiete Westpolens, also an die Provinzen Danzig-Westpreußen, Ostpreußen und Schlesien und sollte aus Sicht

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des RMI ein einheitliches Selektionsverfahren gewährleisten. Außerhalb des Warthelandes wurde jedoch nur allmählich mit der Selektion begonnen. So verließen sich etwa die Behörden in den schlesischen Regierungsbezirken auf die Ergebnisse der im Dezember 1939 durchgeführten Volkszählung, bei der die Befragten selbst hatten entscheiden konnten, welcher ethnischen Gruppe sie sich zugehörig fühlten. Da das Oberpräsidium in Schlesien an der „Assimilierung“ eines möglichst großen Teiles der einheimischen Bevölkerung interessiert war, fürchtete man, selbst durch den vagen Erlass des RMI eine nicht unerhebliche Zahl ehemaliger Bürger der Republik Polen die Anerkennung als „Deutsche“ verweigern zu müssen und bemühte sich deshalb um eine Lockerung dieser Bestimmungen. Im Wartheland hingegen stieß der Erlaß des Reichsinnenministriums genau deswegen auf scharfe Kritik. Unterstützung erhielten Coulon und seine Mitarbeiter dabei vom RPA, das am gleichen Tag eine Denkschrift zur „Frage der Behandlung der Bevölkerung der ehemaligen polnischen Gebiete nach rassenpolitischen Gesichtspunkten“ veröffentlichte. Sie war die erste ausführliche nationalsozialistische Stellungnahme zur Behandlung der Bevölkerung in den annektierten Gebieten.8 Verfasser waren Eberhard Wetzel und Gerhard Hecht, die dafür unter anderem ins Wartheland gereist waren, wo ihr Kollege Egon Leuschner mittlerweile den Aufbau der DVL im Regierungsbezirk Kalisch übernommen hatte. Die Empfehlungen von Wetzel und Hecht lehnten sich eng an die DVL-Praxis im Wartheland an. Coulon wiederum begründete seine Kritik an dem Erlass des RMI damit, dass völlig unklar blieb, was einen sogenannten „erwünschten“ oder „unerwünschten Bevölkerungszuwachs“ ausmache. Seine eigenen Vorstellungen waren konkreter: „Im völkischen Kampfraum dürfen keinerlei völkisch zweifelhafte Elemente verbleiben.“9 Mit der Aufgabe konfrontiert, eine Besatzungs- und Germanisierungspolitik in einer Provinz durchzusetzen, in der die deutschen Besatzer mitsamt den einheimischen Volksdeutschen eine kleine Minderheit darstellten, war also Deutscher in erster Linie derjenige, der durch sein bisheriges Verhalten bewiesen hatte, dass er im „Volkstumskampf“ auf der richtigen Seite stand. Politisches Wohlverhalten wurde dann auch zum entscheidenden Aufnahmekriterium. Nachdem Greiser für das Wartheland beim RMI einen Sonderweg durchsetzen konnte, war es der dortigen DVL wieder möglich, ihre Tätigkeit fortzusetzen. Dabei galt: „Grundsätzliche Voraussetzung für die deutsche Volkszugehörigkeit ist: Das Bekenntnis zum deutschen Volkstum“. Dabei handelte es sich vor allem um Personen, die Mitglieder „deutscher“ Vereine in Polen gewesen waren. Sie galten als „Bekenntnisdeutsche“ und wurden der Gruppe A der DVL zugeordnet. Den Verantwortlichen war jedoch klar, dass nicht alle einheimischen „Volksdeutschen“ diesen strengen Kriterien entsprechen würden. Deshalb war auch eine Gruppe B geschaffen worden, die diejenigen aufnahm, die deutscher Abstammung waren und sich ihr „Deutschtum […] bewahrt“ hätten, die sogenannten „Stammesdeutschen“. Ausgeschlossen blieben jene, die zwar deutscher Herkunft waren, sich in der Zeit vor dem Überfall aber „offen zum Polentum“ bekannt hatten. Während eine „deutsche“ Ab-

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stammung von „deutschen“ oder „eingedeutschten“ Namen abhängig gemacht wurde, war es das Verhalten, also die soziale Praxis des Antragstellers, das aus Sicht der DVL darüber entschied, ob er sich sein ‚Deutschtum bewahrt‘ hatte. Neben der Religion (evangelisch wurde dabei grosso modo mit „deutsch“ gleichgesetzt) waren es vor allem die Sprache und wiederum die Namen der Antragsteller, die den Ausschlag gaben. Entscheidend waren die Sprache, die zu Hause gesprochen wurde, sowie die Unterrichtssprache der Schule und der Name, die von den Eltern für ihre Kinder ausgesucht worden waren. Bemerkenswerterweise spielte das Kriterium „Rasse“ hingegen keine Rolle. Zwar erfuhren die Mitglieder der Prüfungskommissionen, dass „Rassemerkmale“ zwar „häufig der Beweis dafür [seien], dass sich unter den Voreltern des Antragstellers Deutsche befanden. Als sichere Beurteilungsgrundlage für die deutsche Volkszugehörigkeit können die Rassenmerkmale nach den Verhältnissen im Reichsgau aber nicht herangezogen werden“.10 Bekenntnis und Abstammung waren damit zu den beiden Grundpfeilern geworden, auf denen die Eintragung in die DVL beruhte. Wie wichtig dieses Primat des politischen Wohlverhaltens war, zeigt auch die Tatsache, dass die Betätigung in einer volksdeutschen politischen Organisation hinreichte, um in die Gruppe A eingetragen zu werden – und zwar unabhängig davon, ob eine deutsche Abstammung nachgewiesen werden konnte oder nicht.11 Im Laufe des ersten Halbjahres 1940 spitzte sich die Auseinandersetzung um die Selektion der Bevölkerung in den annektierten westpolnischen Gebieten weiter zu. Zum einen war dies auf die nach wie vor sehr unterschiedlichen Kriterien zurückzuführen, die in den verschiedenen Provinzen zur Anwendung kamen, obwohl das RMI doch eben dies zu verhindern versucht hatte. Wesentlicher noch war jedoch das Eingreifen Himmlers, der versuchte, über die Kontrolle dieses Selektionsprozesses seine eigenen bevölkerungspolitischen Planungen zu fördern. Um die nur mühsam vorankommenden Verhandlungen zu beschleunigen, veröffentlichte Himmler am 12. September 1940 den Erlass über die „Überprüfung und Aussonderung der Bevölkerung in den eingegliederten Ostgebieten“ und forcierte so einen Kompromiss bis zum Jahresende, der sich am 4. März 1941 in der „Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten“ niederschlug.12 Freilich kann nun keine Rede davon sein, dass diese neuen Bestimmungen für die DVL die „Himmlerschen Kategorien komplett übernahm“.13 Zwar stimmt es, dass es eine weitgehende Ähnlichkeit zwischen Himmlers Erlass vom 12. September 1940 und der endgültigen Ausgestaltung der DVL gab – aber nicht weil das RMI die Kriterien Himmlers, sondern weil die SS die Kriterien der DVL im Wartheland übernommen hatte. In Posen war man bis zur Jahresmitte 1940 zum Schluss gekommen, dass die Beschränkung auf zwei Gruppen zu viele Menschen ausschließen würde. Die DVL wurde also – analog der Praxis, die zunächst in Litzmannstadt eingeführt worden waren – um zwei weitere Gruppen C und D ergänzt.14 Während in Kategorie C diejenigen eingetragen wurden, die „deutscher“ Abstammung waren und infolge ih-

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res „Verhaltens die Voraussetzung in sich tragen, vollwertige Mitglieder der deutschen →Volksgemeinschaft zu werden“,15 wurden in D die sogenannten „Renegaten“ erfasst, also Personen „deutscher“ Abstammung, die jedoch polnische politische Organisationen unterstützt hatten. Die Angehörigen dieser beiden Gruppen galten ebenfalls als „Deutsche“, schienen jedoch zu unzuverlässig und sollten zur endgültigen „Assimilation“ ins Innere des Deutschen Reiches deportiert und durch Reichsbürger ersetzt werden. Entsprechend differenziert fiel auch die Verleihung der Staatsangehörigkeit aus: während die Angehörigen der Gruppen A und B Reichsbürger würden, sollten sich die Angehörigen der Gruppe C mit dem minderen Status von Staatsangehörigen bescheiden.16 Bei Himmler wurden nun aus den Gruppen A bis D die Gruppen 1 bis 4. Ansonsten übernahm er aber nicht allein die Gruppeneinteilung, sondern kopierte auch die dort angewandten Selektionskriterien und forderte ebenfalls die Verschleppung der Personen in den Gruppen 3 und 4 in das „Altreich“.17 Lediglich bei der Verleihung der Staatsbürgerschaft ging Himmler einen Schritt weiter und plädierte für eine noch weitere Differenzierung, indem er für die Angehörigen der Gruppe 4 den noch gar nicht existenten Status von Staatsangehörigen auf Widerruf vorsah. Coulon und seine Mitarbeiter konnten also zufrieden sein, wäre doch die „erfolgte Reichsregelung ohne die Vorarbeit und die Erfahrung im Wartheland“ nicht möglich gewesen.18 Auch wenn Himmler mit der Ausweitung der DVL die Erwartung verband, der SS eine bedeutendere Rolle bei der Behandlung der einheimischen Bevölkerung zuzusichern und das Reichsinnenministerium darauf gesetzt hatte, die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit zu vereinheitlichen, so mussten beide einsehen, dass diese Hoffnungen auf zum Teil erbitterten Widerstand der Gauleiter trafen. Bezeichnenderweise führte die Einführung der Deutschen Volksliste deshalb auch in keiner Provinz zu einem markanten Kurswechsel, die unterschiedlich blieben. In Danzig-Westpreußen hatte Gauleiter Albert Forster am 14. Dezember 1940 eine „Eindeutschungsaktion“ angeordnet und damit die Partei beauftragt.19 Mit der Einführung der DVL sollten diese Kompetenzen eigentlich an die staatlichen Dienststellen übergehen, was Forster jedoch faktisch dadurch zu umgehen wusste, dass er Vorerfassungskommissionen der Partei zusammenstellen ließ, die eine Vorauswahl trafen. In Danzig-Westpreußen sowie in Oberschlesien hatten die beiden Gauleiter Forster und Fritz Bracht verhältnismäßig früh eine relativ inklusive Selektionspolitik eingeschlagen. Das Vehikel, dessen sie sich bedienten, war das Konstrukt der sogenannten „Zwischenschicht“, für die die Gruppe 3 vorgesehen war. Himmler hatte dies zwar in seinem Erlass vom 12. September 1940 zu verhindern versucht, indem er die Höchstgrenze für die Eintragung von Personen dieser Bevölkerungsgruppe auf „1 Million Menschen“ festgesetzt hatte.20 Forster und Bracht kümmerten sich aber wenig darum. Am 1. April 1944 umfasste die Gruppe 3 in Danzig-Westpreußen 731.000 Menschen, immerhin 77% aller Menschen in der Deutsche Volksliste. In Oberschlesien waren es sogar 994.000 Menschen, also 72% der in die DVL aufgenommenen Bevölkerung.21

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Himmler war jedoch aus einem weiteren Grund mit der Entwicklung unzufrieden. Eine relevante Neuerung im Vergleich zu dem bis dahin praktizierten Verfahren im Wartheland fand sich in seinem Erlass vom 12. September 1940 insofern, als dass er hier die in dem Erlass des RMI enthaltene Bestimmung, wonach in Zweifelsfällen derjenige Deutscher sei, der einen „erwünschten Bevölkerungszuwachs“ darstelle, rassistisch verengte. Sein Erlass enthielt diese Passage: aufzunehmen seien im Zweifelsfall die Personen, die „rassisch einen wertvollen Bevölkerungszuwachs“ darstellten.22 Und auch wenn die Durchführungsbestimmung zur Verordnung vom 4. März 1941 diesen Passus nicht übernahm, räumte sie der „rassischen Eignung“ doch einen hohen Stellenwert ein. Personen, deren Abstammung nicht sicher nachweisbar sei, könnten „nur dann in die DVL aufgenommen werden, wenn keine Bedenken in rassischer Hinsicht bestehen.“23 Diese Änderung hatten für die Selektionspraxis zunächst keinerlei Auswirkungen, wurden von der SS jedoch als Einfallstor genutzt. Im Wartheland drängte SSSturmbannführer Fritz Schwalm, der Chef der Außenstelle des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes (RuSHA) in Litzmannstadt, alsbald auf eine rassische Überprüfung der Angehörigen der DVL. In den Provinzen war man wenig begeistert. So kritisierte der Regierungspräsident in Posen etwa, dass die SS „lediglich nach dem äußeren Erscheinungsbild“ gehe, während die DVL-Kommissionen die „Erziehung des Antragsstellers, […] Verhalten und […] Charaktereinstellung“ beurteile, hier also sich zwei „verschiedene Ansichten gegenüber“ stünden.24 Und auch Coulon brachte seinen Unmut deutlich zum Ausdruck: die „Einschaltung der rassischen Überprüfung in das Verfahren der Deutschen Volksliste widerspricht […] deren Grundgedanken. Die Volksliste ist eine summarische Erfassung der Deutschstämmigen unter Zugrundelegung des Bekenntnisgedankens für Abteilung 1 und 2 und der Abstammung für Abteilung 3 und 4“. Es müsse – so Coulon in seinem bemerkenswerten Fazit – „daher bei dem Grundsatz bleiben, Volkstumsfragen und Rassefragen zu trennen“.25 Zwar ließ sich Himmler nicht beirren und unterschrieb am 30. September 1941 einen Erlass, der die rassische Musterung aller Angehörigen der Gruppe 3 anordnete. In der Durchführung musste SS-Hauptsturmführer Walter Dongus, der Nachfolger Schwalms, jedoch weite Zugeständnisse machen, als das RuSHA die Musterungen Mitte Februar 1942 im Wartheland aufnahm und innerhalb von acht Wochen circa 80 Prozent der Angehörigen der Gruppen 3 und 4 – also rund 40.000 Menschen – selektierte, denen im März 1943 eine ähnliche Anzahl folgte.26 Von einem Durchbruch Himmlers oder gar von einer Durchsetzung des Primats „rassischer“ Selektionskriterien zu sprechen ist aber nicht allein deshalb verfehlt, weil im Gegensatz zu den anderen Provinzen im annektierten Westpolen die Gruppen 3 und 4 im Wartheland die kleinsten waren und zu diesem Zeitpunkt etwas weniger als 20% ausmachten. Wesentlich entscheidender sollte sich die Weigerung Greisers und der regulären DVL-Dienststellen auswirken, die „Ergebnisse“ dieser rassistischen Musterung ohne weiteres zur Kenntnis zu nehmen. So weigerten sich die DVL-Dienst-

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stellen nicht nur diejenigen Personen auszuschließen, die von dem RuSHA „negativ“ beurteilt wurden, aber entweder Angehörige in der Gruppe 1 oder 2 oder vier „deutsche“ Großeltern hatten. Gleiches galt auch für die in der Zwischenzeit von der Wehrmacht eingezogenen DVL-Angehörigen. Greiser verfügte kurzerhand, dass alle, die bereits an der Front seien, auch in der DVL blieben.27 Umgekehrt wurden Familien ohne ausreichende „deutsche“ Abstammung auch dann nicht aufgenommen, wenn sie vom RuSHA „positiv“ selektiert worden waren.28 Im Vergleich zu den Auseinandersetzungen in den übrigen Gebieten des annektierten Westpolens, musste das Kompromissverfahren im Wartheland aus der Sicht Himmlers jedoch geradezu als Erfolg erscheinen. In Oberschlesien betraute der dortige Höhere SS- und Polizeiführer Gruppenführer Ernst Heinrich Schmauser zwar bereits Anfang März SSStandartenführer Walter Scholtz, den Verantwortlichen des RuSHA, mit der Musterung von DVL-Angehörigen, beschränkte diesen Kreis aber auf die Gruppe 4.29 Eine Ausweitung etwa auf die Angehörigen der Gruppe 3 wäre in Oberschlesien auch gar nicht möglich gewesen – und zwar nicht nur, weil das RuSHA nicht einmal annähernd über ausreichend Eignungsprüfer verfügte, um die eine Million Menschen der Gruppe 3 zu selektieren. Die Ausweitung scheiterte vor allem an der Zivilverwaltung. Brachts Position war in dieser Hinsicht eindeutig: Das RuSHA habe „in Verbindung mit dem Volkslistenverfahren rassische Überprüfungen zu unterlassen“.30 Als das RuSHA im Februar 1943 begann, in einzelnen Landkreisen Musterungen nach rassistischen Kriterien durchzuführen, blieb dies für die Betroffenen ohne Folgen; Einsprüche der SS wurden ignoriert. Ähnliche Erfahrungen mussten Himmler und das RuSHA in Danzig-Westpreußen machen. So weigerte sich Forster schlichtweg, das RuSHA in das Volkslistenverfahren einzubinden – erschienen den DVL-Dienststellen rassistische Gutachten erforderlich, zogen sie statt dessen das RPA hinzu. Und wenn die SS dennoch einzelne Menschen einer rassistischen Musterung unterzog, so seien diese – so eine Anweisung Forsters an die DVL-Dienststellen – „nicht als bindend anzusehen“.31 Die Annahme, wonach es sicher nachweisbar sei, dass das RuSHA in diesen zwei Gauen ihre Tätigkeit aufnahm, ist mit den genannten Einschränkungen also nicht völlig falsch,32 wohl aber die Vermutung, dies sei der Beginn eines größeren, ambitionierteren Projekts der „rassischen“ Selektion von insgesamt 1,9 Mio. Menschen. Konsequenzen hatten die rassischen Musterungen, so viel scheint jedoch festzustehen, für keinen, zumindest keine negativen. Im Gegenteil wurden Wehrpflichtige mit einem negativen Bescheid aus der Stammrolle gestrichen, was angesichts der rapide eskalierenden Verluste der Wehrmacht in den letzten beiden Kriegsjahren vielen das Leben rettete. Aus der DVL ausgeschlossen wurden sie jedoch ebenso wenig wie all die anderen, die sich aus Sicht der Eignungsprüfer als rassisch ungeeignet erwiesen hatten. Greiser hatte nämlich seine Zustimmung an die Bedingung geknüpft, Personen erst dann auszuschließen, wenn sie auch aus der Provinz entfernt werden konnten. Die Deportationen waren jedoch seit Mitte März 1941 eingestellt und sollten bis zum Kriegsende nicht mehr aufgenommen werden.

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Die Machtstellung der SS wurde erst durch die Ernennung Himmlers zum Reichsinnenminister Mitte 1943 deutlich gestärkt. Einen erneuten Anlauf, die rassistische Musterung aller oder auch nur eines Teils der DVL-Angehörigen durchzusetzen, wurde aber nicht mehr erwogen. Angesichts einer sich dramatisch verschlechternden Kriegslage wurde die Rekrutierung neuer Soldaten entscheidend, was die zusätzliche Beunruhigung der einheimischen Bevölkerung verbat. Deshalb war auch den Angehörigen der Gruppe 3 am 31. Januar 1942 durch eine weitere Aufsplitterung des Staatsangehörigkeitsrechts die Staatsangehörigkeit auf Widerruf verliehen worden.33 Bei besonders vorbildlichen Verhalten – etwa in der Wehrmacht – wurde die uneingeschränkte Staatsangehörigkeit verliehen, befreite die Betroffenen also aus einem potentiell bedrohlichen staatsrechtlichen Zwischenstadium. Die Verwaltungschefs wurden offenbar erstmals im November 1943 aufgerufen,34 eine begrenzte Zahl von besonders verdienten Angehörigen der Gruppe 3 für diesen Zweck vorzuschlagen – die aber, und hier machte sich der neugewonnene Einfluss Himmlers bemerkbar, vorher einer rassischen Musterung zu unterziehen waren. Auch wenn keine genauen Angaben vorliegen, betraf das wohl nicht mehr als 5.000 Personen. Die brutale deutsche Besatzungspolitik, die 1939/40 mit dem Massenmord an der polnischen Elite begann, und die in eine radikale Diskriminierung aller als „Polen“ bezeichneter Menschen einmündete, veranlasste weite Teile der einheimischen Bevölkerung, sich um die Eintragung in die DVL zu bemühen, auch noch bevor Himmler am 16. Februar 1942 versuchte, einen Teil der potentiellen Bewerber mit Drohungen zu einer Antragstellung zu bewegen.35 Mitte 1944 waren so in DanzigWestpreußen und Oberschlesien über 60% der einheimischen Bevölkerung der annektierten Gebiete in die DVL eingetragen worden, nur im Wartheland lag der Anteil mit etwa zehn Prozent wesentlich niedriger. Trotz dieser Unterschiede waren es in allen Provinzen vor allem das politische Wohlverhalten, das über die Aufnahme in die DVL entschied – und nicht etwa biometrische beziehungsweise „rassische“ Kriterien. Die von Hitler eingesetzten Gauleiter und Verwaltungschefs versuchten vielmehr eine Balance zwischen dem ideologischen Ziel der „Germanisierung“ dieser Gebiete und den herrschaftsrationalen Erfordernissen eines Landes zu finden, das einen „totalen“ Krieg führte. Selbst dort, wo, wie im Wartheland, die Selektionspolitik deutlich restriktiver war, näherte sie sich in der Tendenz dem Vorgehen in den beiden anderen Provinzen an, deren Gauleiter sich von Anfang an einer pragmatischeren Politik verschrieben hatten. Am Ende des Krieges umfasste die DVL rund 3 Millionen Menschen und war damit das mit Abstand größte Inklusionsprojekt des Deutschen Reiches.

Gerhard Wolf

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1 Hitler in seiner rEde vor dem Reichstag am 6. Oktober 1939. Zum Wortlaut der Rede siehe Veröffentlichungen des Reichstages, Bd. 460, Berlin 1939, S. 51ff. Siehe auch Michael Wildt „Eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse“. Hitlers Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006) 1, S. 129–137. 2 BArch, R 43 II, 1412, Bl. 575ff., Erlass Hitlers vom 7. Oktober 1939. 3 Karol M. Pospieszalski (Hg.), Hitlerowskie `prawo´ okupacyjne w Polsce. Wybór documentów i próba syntezy: Ziemie `wcielone´, Documenta Occupationis, Bd. V, Poznan 1952, S. 84–88, 86. 4 Vgl. Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 943f. 5 Archiwum Państwowe w Poznaniu (APP), 406, 1105, Bl. 1, Verordnung des Reichstatthalters Greiser vom 28.10.1939; Durchführungsrichtlinien zum Erlass vom 28.10.1939; Reichsgesetzblatt, Bd. I, 1939, Sp. 2042ff.; APP, 406, 1106, Richtlinien für die Erfassung der deutschen Volkszugehörigen in der „Deutschen Volksliste“, circa Februar 1940. 6 Abgedruckt in Pospieszalski, Documenta Occupationis, Bd. V, S. 108ff. 7 Erlass des RMI vom 29.3.1939; Reichsministerialblatt für die Innere Verwaltung 1939, S. 783. 8 Abgedruckt in Pospieszalski, Documenta Occupationis, Bd. V, S. 2–28. 9 APP, 406, 1109, 320ff., Abschlußbericht Coulons vom 5.2.1941. 10 APP, 406, 1106, Richtlinien für die Erfassung der deutschen Volkszugehörigen in der DVL, circa Februar 1940. 11 Strickners Bericht über die Tätigkeit der Zweigstelle Posen, in: Karol M. Pospieszalski (Hg.), Niemiecka Lista Narodowa w `kraju warty´, Bd. IV, Documenta Occupationis, Poznan 1949, S. 19–130, 103. 12 RGBl. I, S. 25. 13 Isabel Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003, S. 264. 14 Zu dem zunächst leicht abweichenden Verfahren, das von Leuschner in Litzmannstadt eingeführt worden war siehe den vermutlich von ihm verfassten und undatierten Vermerk zu dem Litzmannstädter Volkslistensystem von Mitte 1940, APL 897, 53, Bl. 1ff. 15 APP, 406, 1109, Bl. 151f., Mehlhorn an die Bezirksstellen vom 7.6.1940. 16 APL, 897, 53, Bl. 1ff, Denkschrift „Erläuterungen zum Litzmannstädter Volkslistensystem“, wahrscheinlich von Leuschner zu Beginn des Frühlings 1940 verfasst. 17 APP, 406, 1109, Bl. 151f., Mehlhorn an Bezirksstellen vom 7.6.1940. 18 Ebd., Bl. 141f., Vermerk von Coulon vom 18.11.1940. 19 BArch, R 49, 76, Bl. 2ff., Anordnung Forsters vom 14.12.1940. 20 Ebd., R 19, 3979, Bl. 29ff., Erlass Himmlers vom 12.9.1940. 21 Ebd., R 49, 928, Übersicht des SS-Stabshauptamtes. 22 Ebd., R 19, 3979, Bl. 29ff., Erlass Himmlers vom 12.9.1940. 23 APP 406, 1105, 9ff., Erlaß des RMI vom 13.3.1941. 24 APP, 1131, Bl. 341ff., Lagebericht des Regierungspräsidenten in Posen vom 13.1.1942. 25 Ebd., Bl. 41, Vermerk Coulons vom 10.9.1941. 26 Die Zahl der 71.000 Fälle, die Isabel Heinemann angibt, stimmt nicht mit der tatsächlichen Zahl der Fälle überein. Vgl. Heinemann, Rasse, S. 268. Siehe dagegen APP, 406, 1131, Bl. 138ff., vertraulicher Bericht von Dongus vom 29.5.1942; APP, 406, 1131, Bl. 180f., Bericht der Zentralstelle an Greiser; APP 406, 1120, Bl. 64, Dongus an Zweigstellen vom 25.1.1943. 27 APP, 406, 1117, Bl. 94, Greiser an seinen Stellvertreter Jäger vom 24.7.1942. 28 APP, 1114, Bl. 1ff., Höppner an DVL-Zweigstellen vom 26.3.1943; ebd., 406, 1131, Bl. 138ff., vertraulicher Bericht von Dongus vom 29.5.1942.

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29 SMR, 1232, 34, Bl. 4f., Fritz Arlt an das Oberpräsidium vom 30.3.1942. 30 APKat, 117, 140, Bl. 116, Aktennotiz von Fritz Bracht von Anfang Januar 1943. 31 APB, 9, 380, Bl. 81f., Forster an die Bezirks- und Zweigstellen vom 9.2.1943. 32 Heinemann, Rasse, S. 268. 33 Abgedruckt in Pospieszalski, Documenta Occupationis, Bd. V, S. 119–139. 34 APK, 117, 140, Bl. 94ff., Vermerk Hohlfelds für Springorum vom 15.11.1943. 35 APB, 9, 5, Bl. 251f., Himmler an Greiser und Forster vom 16.2.1942.

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Deutscher Wald Seit Beginn des 19. Jahrhunderts erfolgten im deutschsprachigen Kulturraum ideengeschichtliche Entwicklungen, deren Protagonisten arborealen (baumbezogenen) und silvanen (waldbezogenen) Naturphänomenen zunehmend nationalpolitische Funktionen zuschrieben. Die vermeintlich naturgegebenen Prinzipien der Unveränderlichkeit und Ungleichheit fungierten als Gegenbild zur Gesellschaftsordnung der Französischen Revolution von 1789 mit ihren Werten von „liberté, égalité, fraternité“. Daran anknüpfend erklärten vielgelesene Dichter und Denker den „deutschen Wald“ als Definitions- und Exlusionskriterium zur identitätsstiftenden Nationalnatur, innerhalb derer namentlich die „deutsche Eiche“ eine distinkte Geschichte und Kultur verkörperte. In der Imaginationsgeschichte des Silvanen verbanden sich die Konzepte des Nationalen und des Naturalen schließlich zur Vorstellung eines verwurzelten deutschen „Waldvolkes“, die im Zeitverlauf mehr und mehr radikalnationalistische und völkische Konnotierungen erfuhr.1 Vergleichsweise früh auf waldanschaulichem Gebiet aktiv war →Ernst Moritz Arndt (1769–1860), der als Geschichtsprofessor an der Greifswalder und später an der Bonner Universität die Formulierung eines strikt nationalen Narrativs betrieb. Vornehmlich nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 verherrlichte er die eigene Geschichte, Kultur und Sprache – bei gleichzeitiger Abwertung von Franzosen, Juden und Slawen – unter wiederholten Rückgriffen auf naturale Symbole. Diese galten ihm im Sinne der Klimatheorie als Belege für eine verwurzelte nordische Kollektividentität seit der germanischen Frühzeit, während er für das südliche und östliche Gegenbild judenfeindliche sowie antinomadische Stereotype anführte. Nationalpolitische Implikationen des Walddenkens zeigten sich am deutlichsten in Arndts 1815/16 erschienener Artikelserie „Forsten und Bauern“, welche die beiden titelgebenden Entitäten zu gleichermaßen natürlichen und traditionellen Fundamenten des deutschen Volkes stilisierte.2 Mitte des 19. Jahrhunderts blieb der „deutsche Wald“ mit dem vorläufigen Scheitern der Einheitshoffnungen eines der wenigen verbindenden Elemente und sollte den Nationalstaat auf der Naturebene antizipieren. Dazu trug vor allem das judenfeindlich grundierte Werk des Arndt-Schülers Wilhelm Heinrich Riehl (1823– 1897) bei: Der Volkskundler und spätere Münchner Professor für Kulturgeschichte war führend an den gelehrten Bestrebungen beteiligt, in Abgrenzung zu den europäischen Konkurrenznationen der Engländer und Franzosen einen spezifisch deutschen Volkscharakter zu postulieren. Ein klimatheoretisch unterlegtes Silvadenken diente Riehl dabei primär in seinem vierbändigen, 1851 bis 1869 publizierten Werk „Naturgeschichte des Volkes“ zur Versinnbildlichung organischer Stabilität und kollektiven Zusammenhaltes. Zudem verstand er angesichts der von ihm abgelehnten 1848er-Revolution die Baumnatur verstärkt als Inbegriff von Hierarchie und Kontinuität sowie als Jungbrunnen und Kraftquelle des Volkes.3

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Selbst die Gründung eines preußisch dominierten Nationalstaates 1871 enthob →Wald und Baum nicht ihrer weltanschaulichen Funktionen. Schon seit Ende der 1850er-Jahre hatten Dichter das von ihnen ersehnte Deutschland im Rückgriff auf ältere Formen arborealen Kultes als knorrig-widerständige Eiche imaginiert. Während der folgenden „Einigungskriege“ konnten die Verfasser patriotischer Eichengedichte für ihre oft antifranzösische Stoßrichtung an Poetisierungen aus den „Befreiungskriegen“ um 1813 anknüpfen. Solche Beschwörungen eines mächtigen Identitätsbaumes setzten sich poetisch in Texten der Reichsgründungszeit fort und führten realiter zur Pflanzung von „Kaisereichen“ beziehungsweise „Sedaneichen“. Ferner nutzten nationalprotestantische Poeten die Baumnatur in Zeiten des beginnenden „Kulturkampfes“ für ihre antikatholische Agitation „gegen Rom“.4 Im Jahr 1899 stellte der antisemitische Reichstagsabgeordnete und promovierte Germanist Otto Böckel (1859–1923) eine anonym erscheinende Anthologie zusammen, welche der Untertitel als „nationales Erbauungsbuch von einem deutschen Waldfreund“ pries. Neben Texten etwa Arndts enthielt der Band unter anderem Gedichte des Königsberger und dann Breslauer Ordinarius für Rechtsgeschichte Felix Dahn (1834–1912), der durch seine Romane über die Völkerwanderungszeit zu einem erfolgreichen Schriftsteller geworden war. In dessen Werk finden sich Verknüpfungen der germanischen mit der arborealen Ebene unter militärischen Vorzeichen: So provozierte im Stück „Armin“ von 1878 die römische Besatzungsmacht durch ein Verbot der nächtlichen Hainversammlungen letztlich den Widerstand Hermanns als des „größten Helden, der je Germaniens Waldes-Kraft entsproß“.5 Einen festen Ort erhielt das Gedenken an den cheruskischen Heroen 1875 mit der Einweihung des Hermannsdenkmals im Teutoburger Wald in der Nähe von Detmold. Dabei bildete die Waldumgebung einen wesentlichen Wirkungsfaktor, etwa anlässlich der Feierlichkeiten zum tausendneunhundertsten Jubiläum der Schlacht 1909 sowie zum fünfzigsten Jahrestag der Eröffnung 1925. Das martialische Heldenmonument inmitten als widerständig imaginierter deutscher Nationalnatur entwickelte sich zum Pilgerort zahlreicher patriotischer Verbände und nationalistischer Gruppen. Nach 1918 versuchte das deutschnationale bis völkische Spektrum, seine Ablehnung des Versailler Vertrages und der alliierten Besatzung auch mit Argumenten aus der germanischen Vorgeschichte zu legitimieren. Unter Anspielung auf das historische Exemplum Hermanns sollte die angebliche Wiederkehr römischer Fremdherrschaft mit Appellen wie diesem gebrochen werden: „Deutsche Jugend erhebe die Waffen, Waldvolks Freiheit neu zu schaffen!“6 Radikale Teile der weltanschaulich heterogenen Wanderbewegung formulierten ähnlich explizite Positionen, in denen der Wald weit über individuellen Naturgenuss hinaus als Mittel kollektiver Wehrerziehung und Führerauslese sowie als Verkörperung germanisch-deutscher Identität fungierte. In letzterem Sinne forderten die radikalbündischen „Fahrenden Gesellen“, die Treffen unter anderem am Hermannsdenkmal veranstalteten, in ihrem Periodikum: „Laßt uns in unsere Wälder zurückfinden, ehe wir aus der Geschichte gewischt werden können!“ Vergleichbare

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Gedanken finden sich in der Zeitschrift des vom völkischen Multiplikator Wilhelm Kotzde-Kottenrodt (1878–1948) ins Leben gerufenen Wanderbundes „Adler und Falken“, wo ein Autor das deutsche „Waldvolk“ gleichermaßen bedroht sah durch „ostisches Blut und westliche Zivilisation“.7 Ethnisch motivierte Aneignungen der Baumnatur hatte schon der Lehrer Aurelius Polzer (1848–1924) unternommen, der ein führender Vertreter der alldeutschen Bewegung Österreichs war. Sein „Trutzgesang aus der bedrängten Ostmark“ erklärte 1878 die Eiche zum Nationalsymbol gegen die tschechisch konnotierte Linde, ein weiteres Gedicht Polzers verglich das Judentum mit einer parasitären Baummistel. Nach der Wende zum 20. Jahrhundert wollten andere Autoren die Landschaft eines imaginierten „deutschen Waldes“ nötigenfalls militärisch verteidigen und bedienten sich dafür naturbasierter Völkerstereotype, die einen unaufhebbaren Gegensatz des eigenen Kollektivs zu Slawen und Juden konstruierten. Zu diesem Zwecke postulierten sie in radikalisierender Anknüpfung an Riehlsche Positionen mittels eingängiger Verwurzelungsmetaphorik ein spezifisch deutsches Waldverhältnis.8 Prägend für das antisemitische Walddenken war der Soziologe und Volkswirt Werner Sombart (1863–1941), dessen Werke weit mehr als die anderer Professoren über die fachwissenschaftlichen Kreise hinaus Beachtung fanden. Ausgangspunkt seines Buches „Die Juden und das Wirtschaftsleben“ von 1911 war ein behaupteter Konflikt zwischen „Saharismus und Silvanismus“, womit er anhand klimatheoretischer und nomadenstereotypischer Denkmuster kulturelle und sozioökonomische Entwicklungen naturalisierte. Auf der Ebene nationaler Identifikation unterschied Sombart kategorial „zwischen einem blutsmäßigen Waldvolke und einem blutsmäßigen Wüstenvolke“. Die Asphaltweiten der Großstadt waren für den damals in Berlin lehrenden Wissenschaftler eine „unmittelbare Fortsetzung der Wüste“.9 Parallelisierungen von biologischer und sozialer Ordnung bestimmten das silvapädagogische Denkbild, welches sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu formieren begann. Richtungsweisend war dabei der preußische Forstbeamte Rudolf Düesberg (1856–1926) mit seinem 1910 publizierten Buch „Der Wald als Erzieher“: Darin warnte er „zum Wohle des deutschen Waldes und Volkes“ vor dem Erstarken von Arbeiterbewegung und Parlamentarismus sowie der Zunahme von Landflucht und Verstädterung, die für ihn Ergebnisse „nomadischer, jüdischer Weltanschauung“ waren. Gegen diese zeitgenössischen Tendenzen führte er als Heilmittel die „Gesellschaftsordnung des deutschen Waldes“ an, die noch den traditionellen ständischen Hierarchieprinzipien folge und in der Schädlinge oder Parasiten keinen Platz hätten.10 Das sozialdarwinistische Denken Düesbergs rezipierte nach Ende des Ersten Weltkrieges unter anderem der promovierte Forstwirt Eduard Zentgraf (1882–1973), der in der Veröffentlichung „Wald und Volk“ von 1923 die Baumsphäre zum „Erzieher des Volkes“ verklärte. Die naturnahe Arbeit am Kollektivcharakter habe über die Jahrtausende neben Heimatliebe und Kampfbereitschaft unter anderem Arbeitsethos, Idealismus und Tiefgründigkeit hervorgebracht. Einen deutlichen Einfluss

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Riehls zeigte der Versuch Zentgrafs, das Entstehen revolutionärer Stimmungen nach Ende des Ersten Weltkrieges auf waldarme Gebiete und deren naturentwöhnte Bevölkerungen zurückzuführen. Wie schon bei Sombart galten Juden hier als materialistisch orientierte „Kinder der waldlosen Steppe“, die in „schärfstem völkischen Gegensatz“ zu den idealistisch inspirierten Germanen stünden.11 Argumente mit vorgeschichtlichem Waldbezug wurden vor allem von der sich Ende des 19. Jahrhunderts herausbildenden völkischen Bewegung ins Feld geführt, um kulturelle, politische und spirituelle Probleme der eigenen Zeit zu verhandeln. Grundlegend war die Annahme einer weitgehenden Kulturkontinuität, wodurch die germanische Frühzeit bei der Identitätsstiftung konkurrierende Geschichtsideale wie das christliche Mittelalter zurückdrängte. Die These einer uralten Baumbeziehung der Deutschen verfochten verschiedene Autoren bereits in den späten Jahren des Kaiserreiches: So kontrastierte 1907 der sich selbst als Neuheide verstehende Maler und Schriftsteller Ludwig Fahrenkrog (1867–1952) das institutionelle Christentum als dogmatische Lehre der „Morgenländer“ mit einem freien germanischen Naturglauben. Für die Gegenwart erhoffte er sich ein Wiederaufleben der heiligen Haine als neuer „deutsche[r] Dom“.12 Auch auf der Basis arborealer Sakralnatur beabsichtigte der völkische Theaterreformer und promovierte Germanist Ernst Wachler (1871–1945), eine Alternative zum römisch-katholischen Christentum zu formulieren. Ferner erschien in seiner Publikation „Die Freilichtbühne“ von 1909, die der Heimatkunst zu ihrem Recht gegen die zeitgenössischen literarischen Tendenzen verhelfen sollte, ein idealisierter Germane als „der freie Sohn des Waldes, der Feind der Städte“. Der Cherusker Hermann spielte 1914 eine wichtige Rolle in Wachlers Thesenroman „Osning“, der im Titel die ursprüngliche Bezeichnung für den „Teutoburger Wald“ aufgriff. Lobende Erwähnung fand anlässlich eines darin geschilderten Besuches am dortigen Hermannsdenkmal dessen Lage „in der schweigenden Einsamkeit der grünen Waldwildnis“ mit sicherem Abstand vom „Moderdunst der Städte“.13 Vergleichbare weltanschauliche Positionen vertrat der promovierte Philosoph Heinrich Pudor (1865–1943), der als Publizist im völkischen Flügel der Lebensreform-Bewegung tätig war. Mit rassistischer Intention unterschied er zwischen einem verwurzelten deutschen „Landvolk“ und dem Gegenbild des „ewigen Nomadenvolkes“. Sein Buch „Heimbaukunst“ von 1913 wollte eine Herkunft der Germanen aus der Nordpolarregion rekonstruieren, da die dortige Seltenheit von Bäumen erst zu ihrer kultischen Wertschätzung geführt habe. Ein Jahr später verstand eine Publikation mit dem Titel „Waldpolitik“ arboreale Bezüge in der nordischen Mythologie als Belege für eine angeborene Baumliebe der Deutschen, deren Schutzbemühungen sich von der „Waldschlächterei“ anderer Völker unterschieden. Für eine neue Qualität des Eichenkultes stand Pudors symbolpolitische Forderung, die germanische Eiche einem arischen Hakenkreuz gleichberechtigt zur Seite zu stellen.14 Desgleichen einen vorgeschichtlichen Waldkult vertrat der germanengläubige Schriftsteller Willy Pastor (1867–1933), dessen völkische Weltanschauung vor allem

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in Schriften zur Früh- und Kunstgeschichte zum Ausdruck kam. So verherrlichte 1912 das reichbebilderte Buch „Die Kunst der Wälder“ eine „am Wald, mit dem Wald arbeitende Baukunst“ der Deutschen seit germanischen Tagen. Sein Aufsatz „Die Steppe“ von 1915 radikalisierte die landschaftsbasierten Nationalstereotype im Zeichen des Krieges, der als Weltkampf zwischen dem „Volk der Wälder“ und einem slawischen „Volk der Steppe“ erschien. Im selben Jahr erörterte Pastor in „Der heilige Hain“ das Gedenken an die deutschen Kriegstoten, das als „Andacht zum Walde“ unter Eichen zu erfolgen habe – derartige Ideen brachte er auch in die neugegründete „Arbeitsgemeinschaft für Deutschlands Heldenhaine“ ein.15 Ferner wurden nach 1918 politisierte Vorstellungen der Baumnatur als Inbegriff wiederzugewinnender Souveränität zur Bekämpfung von Versailler Vertrag und Weimarer Republik eingesetzt. Silvapropagandistisch führend war der 1923 gegründete „Deutscher Wald e.V. – Bund zur Wehr und Weihe des Waldes“, der unter der Schirmherrschaft Paul von Hindenburgs (1847–1934) stand. Neben Vorträgen und „Waldabenden“ betrieb der Bund im Eigenverlag eine vielseitige Publikationstätigkeit, die „Waldhefte“ und „Waldschriften“ sowie eine Tageszeitungsbeilage „Deutscher Wald“ umfasste. Als Gründer und Vorsitzender fungierte der Hamburger Deutsch- und Geschichtslehrer Willi Ludewig, der schon im kurzlebigen antisemitischen „Baldurbund“ aktiv gewesen war. Die Baumsphäre erschien ihm weltanschaulich ungemein ergiebig, da sie einen zumindest auf den ersten Blick „unpolitischen Boden“ über den einzelnen Parteien und Klassen darstelle.16 Strategisches Ziel des Waldbundes war die Vernetzung mit möglichst breiten Kreisen der politischen Rechten, etwa über Periodika wie den bündischen „Zwiespruch“ oder den kulturkonservativ-deutschprotestantischen „Türmer“. Zur Verfolgung dieser Waldfrontstrategie nahm der Bundesvorsitzende direkten Kontakt zu einflussreichen Persönlichkeiten aus dem nationalistischen bis völkischen Spektrum auf, beispielsweise zu dem Heimatschriftsteller und Publizisten Friedrich Lienhard (1865–1929) sowie dem promovierten Historiker und Privatgelehrten Ludwig Schemann (1851–1938). Im Ehrenbeirat des Bundes saßen neben Forstleuten wesentliche Vertreter des radikalnationalistischen Denkens der Zeit: unter anderem der Rassenkundler →Hans F. K. Günther (1891–1968), der Heimatschützer Paul Schultze-Naumburg (1869–1949) und der Bodenreformer Heinrich Sohnrey (1859– 1948).17 Während der Zeit des NS-Regimes spielte der mittlerweile etablierte Topos „deutscher Wald“ dann eine bedeutende Rolle in staatlicher Propaganda wie Weltanschauung und diente zur zusätzlichen Legitimierung der Herrschaftspraxis. Eine weitere rhetorische Zuspitzung erfolgte in Stilisierungen der Baumnatur zum „völkischen Kraftborn“, zum „Bürge[n] unserer völkischen Dauer“ oder zum „Wurzelwerk völkischen Wesens“. Ihren Niederschlag fand die behauptete Beziehung zwischen Volk und Wald in einer Vielzahl von Veröffentlichungen und politischen Projekten. Konkret äußerte sie sich zudem in Pflanzungen von „Hitlereichen“ und „Hakenkreuzwäldern“ sowie in Planungen für die „Reichsautobahn im Wald“. Statt einer

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kohärenten Waldanschauung ist dabei die Konstruktion verschiedener Idealwälder zu beobachten, die mit den grundlegenden polykratischen Machtrivalitäten korrespondierten.18 Eine prominente Stimme war der ab 1934 auch als „Reichsforstmeister“ sowie „Reichsjägermeister“ fungierende Vielfachfunktionär Hermann Göring (1893–1946), der ebenfalls einen rassenbasierten Kontrast zwischen deutsch-idealistischem und jüdisch-materialistischem Waldverständnis konstatierte. Das ihm verantwortliche „Reichsforstamt“ betrieb ab 1941 im Rahmen des →Generalplan Ost die „Wiederbewaldung des Ostens“, wofür in den annektierten und besetzten Gebieten Polens großflächige Aufforstungen stattfinden sollten. Die (Re-)Konstruktion einer bewaldeten heimatlichen Landschaft galt als Voraussetzung, um deutsche Bevölkerungsgruppen aus anderen Reichsteilen anzusiedeln – in Vorbereitung darauf begann die Deportation hunderttausender Polen ins „Generalgouvernement“ beziehungsweise in die Ghettos und Konzentrationslager.19 Als weitere zentrale Figur muss Heinrich Himmler (1900–1945) gelten, dem die rassenkundlich-vorgeschichtliche „Forschungs- und Lehrgemeinschaft Das →Ahnenerbe e. V.“ unterstand. In deren Wirken jenseits der etablierten Universitätswissenschaft erfolgten zahlreiche Rückgriffe auf arboreale wie silvane Symbole, der Reichsführer-SS persönlich eröffnete 1936 in Berlin eine Ahnenerbe-Ausstellung mit dem Titel „Der Lebensbaum im germanischen Brauchtum“. Besondere Bedeutung hatte der ein Jahr später begründete Forschungsverbund „Wald und Baum in der arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte“, dessen Stipendiaten primär aus Forstwissenschaft, Geschichte, (Indo-)Germanistik, →Volkskunde sowie Vorund Frühgeschichte kamen. Gemäß Himmlers religionspolitischen Interessen sollte übergreifendes Ziel des Projekts sein, eine epochenunabhängige deutsche Naturspiritualität als Alternative zu Christentum und Judentum zu etablieren.20 Dritter wichtiger Akteur war Alfred Rosenberg (1893–1946), der die gesamte Weltgeschichte durch einen Kampf waldgeprägter Germanen gegen jüdisches „Wüstenvolk“ und bolschewistisches „Steppenblut“ bestimmt sah. Die seinem Einflussbereich zugehörige „NS-Kulturgemeinde“ veranstaltete 1936 zum einen die Berliner Kunstschau „Der Wald“, zum anderen brachte sie den Propagandafilm „Ewiger Wald“ in die Lichtspielhäuser. Gedreht unter dem Arbeitstitel „Deutscher Wald – Deutsches Schicksal“, gingen hier Zeiten der nationalen Souveränität mit Waldliebe und Aufforstungen einher gegenüber Phasen der Fremdbestimmung mit Waldfeindschaft und Abholzungen. Der Film war eine silvapolitische Interpretation und Inszenierung der gesamten germanisch-deutschen Geschichte und unternahm eine Engführung von Wald und Volk durch die Jahrtausende, in den Begleitschriften wurde die Baumnatur zum Vorbild sozialer Ordnung erklärt.21 Bilanzierend betrachtet erscheinen die nationalsozialistischen Waldanschauungen wenig originär, da sie sich auf ältere Denkmuster hauptsächlich des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts berufen konnten. Überhaupt sind durch die gesamte Ideengeschichte des „deutschen Waldes“ vielfache selektive Rückgriffe auf Tradi-

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tionsbestände erkennbar, die in der Regel ungeachtet der ursprünglichen historischen Kontexte und für tagespolitische Zwecke unternommen wurden. Um die Jahrhundertwende erfolgte im Prozess der silvanen Identitätsarbeit eine zunehmende Homogenisierung und Radikalisierung, die entsprechende Entwicklungen des breiteren Nationaldenkens nachvollzog. Eine derartige Naturinstrumentalisierung kulminierte in der massiven Waldpropaganda des NS-Regimes, die vereinzelt nach 1945 noch ideelle Spuren am peripheren rechten Rand des politischen Spektrums hinterlassen sollte.22

Johannes Zechner

1 Vgl. dazu Johannes Zechner, Der deutsche Wald. Eine Ideengeschichte zwischen Poesie und Ideologie 1800–1945, Darmstadt 2016; Jeffrey K. Wilson, The German Forest. Nature, Identity, and the Contestation of a National Symbol 1871–1914, Toronto u.a. 2012; Ursula Breymayer (Hg. u.a.), Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald, Dresden 2011; Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hg.), Mythos Wald, Münster 2009; Michael Imort, Forestopia. The Use of the Forest Landscape in Naturalizing National Socialist Ideologies of ‘Volk’, Race, and ‘Lebensraum’ 1918–1945, PhD Kingston 2000; Albrecht Lehmann (Hg. u.a.), Der Wald – Ein deutscher Mythos? Perspektiven eines Kulturthemas, Berlin u.a. 2000. 2 Siehe Ernst Moritz Arndt, Ein Wort über die Pflegung und Erhaltung der Forsten und der Bauern im Sinne einer höheren, d. h. menschlichen Gesetzgebung [1815/16], Schleswig Neuausg. 1820; vgl. dazu Caroline Delph, Nature and Nationalism in the Writings of Ernst Moritz Arndt, in: Catrin Gersdorf (Hg. u.a.), Nature in Literary and Cultural Studies. Transatlantic Conversations on Ecocriticism, Amsterdam u.a. 2006, S. 331–354, sowie Zechner, Wald, S. 61–82. 3 Siehe Wilhelm Heinrich Riehl, Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen SocialPolitik, 4 Bde., Stuttgart u.a. 1851–1869; vgl. dazu Konrad Köstlin, Der ethnisierte Wald, in: Albrecht Lehmann (Hg. u.a.), Der Wald – Ein deutscher Mythos? Perspektiven eines Kulturthemas, Berlin u.a. 2000, S. 53–65, sowie Zechner, Wald, S. 105–126. 4 Siehe Emanuel Geibel, Heroldsrufe. Aeltere und neuere Zeitgedichte, Stuttgart 1871, S. 97, 146 und 168; Ernst Wachsmann (Hg.), Sammlung der Deutschen Kriegs- und Volkslieder, Berlin 1870, S. 13, 70, 87, 149, 154, 269, 297 und 310; Ernst Scherenberg (Hg.), Gegen Rom! Zeitstimmen Deutscher Dichter, Elberfeld 1874, S. 20, 84 und 101. 5 [Otto Böckel (Hg.)], Der deutsche Wald im deutschen Lied. Ein nationales Erbauungsbuch von einem deutschen Waldfreund, Berlin 1899; Felix Dahn, Armin. Heroische Oper in fünf Aufzügen, Berlin 1878, S. 14; vgl. zu Böckel Armin Pfahl-Traughber, Antisemitismus, Populismus und Sozialprotest. Eine Fallstudie zur Agitation von Otto Böckel, dem ersten Antisemiten im Deutschen Reichstag, in: Aschkenas 10 (2000) 2, S. 389–415, zu Dahn Kurt Frech, Felix Dahn. Die Verbreitung völkischen Gedankenguts durch den historischen Roman, in: Uwe Puschner (Hg. u.a.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München u.a. 1996, S. 685–698. 6 Nordung Sigwart Schubert, Wald, Seele und Götter, in: Neues Leben 20 (1926) 11S. 169–172, 172; vgl. zum nationalen Hermann-Kult Uwe Puschner, ‚Hermann, der erste Deutsche‘ oder: Germanenfürst mit politischem Auftrag. Der Arminius-Mythos im 19. und 20. Jahrhundert, in: Ernst Baltrusch (Hg. u.a.), 2000 Jahre Varusschlacht. Geschichte – Archäologie – Legenden, Berlin 2012, S. 257–285. 7 Hermann Breiter, Der Sänger des deutschen Waldes, in: Fahrender Gesell 16 (1928) 2, S. 26–27, 26; Hans Teichmann, Der heilige Frühling, in: Falke 6 (1925) 1, S. 1–7, 2; vgl. zur Wanderbewegung Winfried Mogge, Jugendbewegung und Wandervogel, in: Kai Buchholz (Hg. u.a.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900 Bd. 2, Darmstadt 2001, S. 307–310.

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8 Aurelius Polzer, Im Harnisch. Trutzgesang aus der bedrängten Ostmark, Hamburg 1887, S. 101; ders., Sprüche, in: Hugo Bonté (Hg.), Deutsche Lyrik. Ein Sammelbuch zeitgenössischer Dichtung, Wien 1895, S. 41; vgl. zur Person Karl-Heinz Burmeister, Aurelius Polzer, in: Österreichisches Biographisches Lexikon Bd. 8, Wien 1983, S. 189. 9 Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911, S. 425, 476 und 415; vgl. dazu Paul Mendes-Flohr, Werner Sombart’s ‚The Jews and Modern Capitalism‘. An Analysis of Its Ideological Premises, in: Yearbook of the Leo Baeck Institute 21 (1976) 1, S. 87–107. 10 Rudolf Düesberg, Der Wald als Erzieher. Nach den Verhältnissen des preußischen Ostens geschildert, Berlin 1910, S. V, 147 und IV; vgl. zur Person Imort, Forestopia, S. 161–180. 11 Eduard Zentgraf, Wald und Volk, Langensalza 1923, S. 15, 6 und 6; vgl. zur Person Imort, Forestopia, S. 180–200. 12 Ludwig Fahrenkrog, Germanentempel Teil 1, in: Volkserzieher 11 (1907) 6, S. 42–43, 42; vgl. zur Person Winfried Mogge, Ludwig Fahrenkrog und die Germanische Glaubens-Gemeinschaft, in: Kai Buchholz (Hg. u.a.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900 Bd. 1, Darmstadt 2001, S. 429–432. 13 Ernst Wachler, Über die Zukunft des deutschen Glaubens. Ein philosophischer Versuch Teil 2, in: Deutsche Zeitschrift 2 (1899/1900) 9, S. 549–557; ders., Die Freilichtbühne. Betrachtungen über das Problem des Volkstheaters unter freiem Himmel, Leipzig 1909, S. 14; ders., Osning, Leipzig 1914, S. 133, 231; vgl. zur Person Uwe Puschner, Deutsche Reformbühne und völkische Kultstätte. Ernst Wachler und das Harzer Bergtheater, in: ders. (Hg. u.a.), Handbuch zur ‚Völkischen Bewegung‘ 1871–1918, München u.a. 1996, S. 762–796. 14 Heinrich Pudor, Heimat-Politik, in: Hammer 248 (1912), S. 533–535, 534; ders., Sozialer Flugsand, in: Hammer 241 (1912), S. 348–350, 350; ders., Heimbaukunst, Wittenberg 1913; ders., Waldpolitik, Gautzsch 1914, S. 13, 22; vgl. zur Person Thomas Adam, Heinrich Pudor. Lebensreformer, Antisemit und Verleger, in: Maik Lehmstedt (Hg. u.a.), Das bewegte Buch. Buchwesen und soziale, nationale und kulturelle Bewegungen um 1900, Wiesbaden 1999, S. 183–196. 15 Willy Pastor, Die Kunst der Wälder, Wittenberg 1912, S. 35; ders., Die Steppe [1915], in: ders., Kriegszeit. Betrachtungen eines Deutschen, Leipzig 1916, S. 151–154, 152; ders., Der heilige Hain [1915], in: ders., Kriegszeit, S. 85–88, 88; siehe auch Willy Lange (Hg.), Deutsche Heldenhaine, Leipzig 1915; vgl. zur Person Ingo Wiwjorra, Willy Pastor. Ein völkischer Vorgeschichtspublizist, in: Michael Meyer (Hg.), ‚… Trans Albim Fluvium‘. Forschungen zur vorrömischen, kaiserzeitlichen und mittelalterlichen Archäologie, Rahden 2001, S. 11–24. 16 Siehe August Meier-Böke, Deutscher Wald und Deutscher Friedhof, Hamburg 1925; Georg Escherich, Der deutsche Wald und die feindlichen Mächte, Hamburg 1924; August Meier-Böke, Wald und Wehrwolf, Hamburg 1924; Julius Bode, Der deutsche Wald und die deutsche Seele, Hamburg 1923; GSA, Nl Friedrich Lienhard, 57/1329, Willi Ludewig an Friedrich Lienhard vom 14.3.1923, S. 2; vgl. zum Waldbund Zechner, Wald, S. 147–157. 17 Anonymus, Der deutsche Wald, in: Zwiespruch 5 (1923) 4, S. 4; Themenheft des Türmer 27 (1925) 9; Universitätsbibliothek Freiburg, Ludwig Schemann, Nl 12/2371, Ziele Wege Wünsche, S. 1; vgl. zu Lienhard Hildegard Châtellier, Friedrich Lienhard, in: Uwe Puschner (Hg. u.a.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München u.a. 1996, S. 114–130, zu Schemann Julian Köck, Ludwig Schemann und die Gobineau-Vereinigung, in: ZfG 59 (2011) 9, S. 723–740, zu Günther Hans-Jürgen Lutzhöft, Der Nordische Gedanke in Deutschland 1920–1940, Stuttgart 1971, S. 28–47, zu SchultzeNaumburg Steffen de Rudder, Landschaft als kulturelle Konstruktion. Burgenromantik und Deutschtum bei Paul Schultze-Naumburg, in: Max Guerra (Hg.), Kulturlandschaft Thüringen, Weimar 2010, S. 122–133, zu Sohnrey Georg Stöcker, Agrarideologie und Sozialreform im Deutschen Kaiserreich. Heinrich Sohnrey und der Deutsche Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege 1896–1914, Göttingen 2011.

Deutscher Wald  1015

18 Ferdinand Frauenknecht, Billige und gesunde Lebensmittel aus dem Wald. Ein Beitrag zur Nahrungsfreiheit des deutschen Volkes, Dresden/Planegg 1939, S. 16; Ausschuß zur Rettung des Laubwaldes im Deutschen Heimatbund (Hg.), Um die Seele des deutschen Waldes. Dichterstimmen zur Laubwaldfrage, Bielefeld 1944, S. 1; Anonymus, Du siehst dein Deutschland. Seine Wälder – Seine Bäume, in: Nordland 6 (1938) 19, S. 222–223, 222; siehe auch Alfred Detering, Die Bedeutung der Eiche seit der Vorzeit, Leipzig 1939; Hans Lorenz (Hg.), Die Reichsautobahn im Wald. Waldbiologische, technische und rechtliche Grundlagen für Planung, Bau und Unterhaltung, Berlin 1938; Julius Kober, Deutscher Wald – Deutsches Volk, Weimar 1935; Franz von Mammen, Der Wald als Erzieher. Eine volkswirtschaftlich-ethische Parallele zwischen Baum und Mensch und zwischen Wald und Volk, Dresden u.a. 1934; Walther Schoenichen, Urwaldwildnis in deutschen Landen. Bilder vom Kampf des deutschen Menschen mit der Urlandschaft, Neudamm 1934; vgl. generell Heinrich Rubner, Deutsche Forstgeschichte 1933–1945. Forstwirtschaft, Jagd und Umwelt im NS-Staat [1985], St. Katharinen 19972, sowie Zechner, Wald, S. 161–193. 19 Siehe Hermann Göring, Ewiger Wald – Ewiges Volk. Rede auf der Tagung des Deutschen Forstvereins 1936, in: Erich Gritzbach (Hg.), Hermann Göring. Reden und Aufsätze, München 1938, S. 245–255; ders., Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Rede zur Hubertusfeier der Deutschen Jägerschaft 1935, in: Erich Gritzbach (Hg.), Hermann Göring. Reden und Aufsätze, München 1938, S. 219–222; Reichsstiftung für deutsche Ostforschung (Hg.), Wiederbewaldung des Ostens, Berlin 1943; vgl. als zeitgenössische Biographie [Ulrich Scherping], Der Reichsforstmeister und der Reichsjägermeister, in: Erich Gritzbach, Hermann Göring. Werk und Mensch, München 1938, S. 76–119, zum Projekt Imort, Forestopia, S. 384–463. 20 BArch, Bestand Ahnenerbe, NS 21/674, Heinrich Himmler, Redemanuskript ‚Der Lebensbaum im germanischem Brauchtum‘ vom 8.2.1936; ebd., 336, Mitarbeiter- und Themenliste ‚Wald und Baum‘, s.a.; siehe auchOtto Huth, Die Fällung des Lebensbaumes. Die Bekehrung der Germanen aus völkischer Sicht, Berlin 1936; vgl. zum Projekt Bernd-A. Rusinek, ‚Wald und Baum in der arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte‘. Ein Forschungsprojekt des ‚Ahnenerbe‘ der SS 1937–1945, in: Albrecht Lehmann (Hg. u.a.), Der Wald – Ein deutscher Mythos? Perspektiven eines Kulturthemas, Berlin u.a. 2000, S. 267–363. 21 Alfred Rosenberg, Wesen, Grundsätze und Ziele der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei. Das Programm der Bewegung [1922], München Neuausg. 1923, S. 25; ders., Der Bolschewismus als Aktion einer fremden Rasse [1935], in: ders., Gestaltung der Idee. Reden und Aufsätze 1933– 1935, München 1936, S. 364–378, S. 371; siehe auch NS-Kulturgemeinde (Hg.), Kunst-Ausstellung ‚Der Wald‘, Berlin 1937; BArch, Filmarchiv, MAVIS 574014, Film ‚Ewiger Wald‘, 1936; Carl Maria Holzapfel, Wald und Volk. Leitgedanken der Filmdichtung ‚Ewiger Wald‘, in: Licht-Bild-Bühne vom 8.6.1936, S. 3; vgl. zum Projekt Johannes Zechner, Wald, Volksgemeinschaft und Geschichte. Die Parallelisierung natürlicher und sozialer Ordnungen im NSKG-Kulturfilm ‚Ewiger Wald‘, in: Ramón Reichert (Hg.), Kulturfilm im ‚Dritten Reich‘, Wien 2006, S. 109–118. 22 Siehe Henning Eichberg, ‚Baumzeit – ja danke‘. Grüner Protest und grünes Leben, in: wir selbst 17 (2000) 1/2, S. 7–18; Werner H. F. Kellermann-Tospel (Hg.), Baum und Wald. Die grünen Wurzeln unseres Volkes, Essen 1992; Lebrecht Sandner, Die Wiedergeburt des Lichtes – Vom Glauben unserer Ahnen, in: Reinhard Pozorny (Hg.), Deutscher Almanach 1990, Berg 1989, S. 234–237; Werner Georg Haverbeck, Ökologie und Nation. Die Grundlegung des ökologischen Bewußtseins in Deutschland, in: Bernard Willms (Hg.), Handbuch zur Deutschen Nation Bd. 2: Nationale Verantwortung und liberale Gesellschaft, Tübingen u.a. 1987, S. 397–431, 407; Günther Schwab, Rede an die Forstleute [1950], in: ders., Verspielt die Zukunft nicht, Salzburg 1984, S. 24–32, 27.

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Generalplan Ost Im Zuge der „Neuordnung Osteuropas“ nach dem erfolgreichen Feldzug gegen Polen legte →Konrad Meyer erste Vorschläge zum „Generalplan Ost“ (GPO; später „Generalsiedlungsplan“) Heinrich Himmler im Frühling 1940 vor. Diese gewannen in der zweiten Hälfte 1941 an klaren Konturen. An den Planungsarbeiten beteiligten sich verschiedene Institutionen, die führende Rolle hatte aber die SS.1 Der Generalplan Ost war ein Plan der radikalen Umstrukturierung der „Rassen“- und damit Nationalitätenverhältnisse in Osteuropa im Laufe von maximal 30 Jahren nach dem Krieg und umfasste die besetzten Gebiete Polens, die baltischen Republiken, Weißrussland, die ukrainischen Gebiete von Schitomir, Kamenz-Podolsk und teilweise Vinniza sowie zwei ausgesonderte Gebiete: die Region von Leningrad und die Krim mit der Dnjepr-Schleife. Von 45 Mio. Einwohnern sollten 31 Mio. ausgesiedelt werden. Die damaligen Einwohner sollten, mit der Ausnahme von über 14 Mio. zur Zwangsarbeit vorgesehenen vor allem Slawen, durch circa 10 Mio., vor allem in der Landwirtschaft arbeitende, „germanische“ (oder als solche anerkannte) Siedler ersetzt werden. Nach einer Version der Dienststelle des →Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) von Mai 1942 wurde die Frist auf 25 Jahre verkürzt. Sie umfasste nur noch die eingegliederten Gebiete Polens, das Gebiet von Leningrad und die Krim, Cherson und Białystok. Die dabei aufzubauenden „Reichsmarken“ sollten zu 50% kolonisiert werden. Dazwischen sollte es „Stützpunkte“ geben, durch die die Gebiete verbunden werden sollten. Himmler verringerte die Frist auf 20 Jahre, und fügte das Generalgouvernement, Lettland und Estland (dann noch weitere Gebiete) zur „totalen Eindeutschung“ hinzu. Ende 1943 wurde der Generalplan Ost in einen niemals endgültig formulierten Generalsiedlungsplan umgearbeitet, der nicht mehr auf Osteuropa begrenzt war, sondern auch einige besetzte Gebiete Westeuropas einschloss. Himmler versuchte nur ansatzweise diesen Plan zu verwirklichen: Erste Ausführungsplanungen erfolgten im Generalgouvernement bei Zamość, im südwestlichen Teil Litauens (die baltischen Länder als deutsches Siedlungsgebiet), in der Ukraine und Krim.2 Anfang 1943, nach der Schlacht um Stalingrad, verlor er jedoch die praktischen Möglichkeiten einer Umsetzung, obwohl Himmler noch plante, die Anmerkungen Hitlers zu berücksichtigen und diese Veränderungen diesem wiedervorzulegen. Verschiedene Planungsarbeiten liefen noch bis Mitte 1944, wurden dann aber eingestellt. In der Sachliteratur wurde der Generalplan Ost als Politikfeld lange nur gestreift. Entsprechend dem Urteil des Militärgerichtshofs in Nürnberg galt er als utopischer Plan ohne jede Verwirklichungschance. Zwar erschienen Ende der fünfziger Jahre zuerst amerikanische, dann einige deutsche und polnische Beiträge darüber, die auch die Koinzidenz zwischen Vernichtungsplanung und -praxis betonten (Czesław Madajczyk), aber eine breitere Diskussion blieb in der Folge aus. In Polen konzentrierte man sich auf die Ereignisse in der Region Zamość, ohne jedoch die auf

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ganz Osteuropa ausgreifenden breiteren Aspekte des Planes anzusprechen. Erst in den 1980er Jahren begann die Rezeption des Generalplanes Ost in der westdeutschen Historiographie. Gegen Ende dieser Dekade kamen die sozioökonomischen Aspekte und Vernichtungsabsichten zur Diskussion. Die erste Hälfte der neunziger Jahre, als wichtige Veröffentlichungen folgten, war für die Änderung des Urteils über den Generalplan Ost entscheidend. Götz Aly stellte – nicht unumstritten – fest: „Der Generalplan gehörte in den Kontext der Politik der ‚Endlösungen‘. […] Auch wenn der Generalplan Ost nur in Ansätzen verwirklicht wurde, so gibt es doch keinen Anlaß zu glauben, daß dieses scheinbar so wahnwitzige Projekt im Falle eines deutschen Siegen an seiner Gigantomanie gescheitert wäre.“3 Konrad Meyer gehörte einer Planungselite im Dritten Reich an, für die der Generalplan Ost nicht nur eine rein technische Angelegenheit war. In der neueren Forschung werden diese Technokraten als eine Elite vorgestellt, die die Grundlagen der nationalsozialistischen Politik („Lebensraum“) akzeptierte und die – sehr viel über die nationalsozialistischen Verbrechen wissend – in die Vernichtungspolitik mit wissenschaftlichen Mitteln eingriff und in noch größerem Umfang geplant hatte. Die Idee des Generalplans Ost knüpfte teilweise an die Tradition der deutschen →Ostforschung wie auch die der Landesplanung an. Viele der deutschen Ostforscher standen der Weimarer Republik ablehnend gegenüber. Sie vertraten antiliberale und antidemokratische Positionen, die mit den Anschauungen der nationalen Rechten kompatibel waren.4 In der polnischen Historiographie wurde die Entwicklung der Osteuropaforschung nach 1933 als eine äußerst feindliche, dem Expansionismus und der Großraumwirtschaft keine Grenzen setzende politische Wissenschaft bezeichnet.5 Zwar ordneten sich einige Ostforscher der neuen Politik nicht unter, viele passten sich aber an und schöpften aus den früheren Forschungen neue Ziele für die Revision der Pariser Vorortverträge. Als Wissenschaft wurde Ostforschung in die neue Politik integriert und unbequeme Vertreter entlassen. Die polnische Seite hob besonders die fachliche Unterstützung und Rechtfertigung bei der Aggression gegenüber Polen durch die Ostforschung hervor.6 Diese Vereinheitlichung der Ostforschung ging einher mit der „Gleichschaltung“ der Wissenschaft. So wurden beispielsweise junge Wissenschaftler, und nicht verdiente Ostforscher in das Institut für Deutsche Ostarbeit in Krakau geholt, das vor allem an Problemen des Generalgouvernements arbeitete.7 Die Kenntnisse der Ostforscher wurden in die NS-Planung einbezogen und instrumentalisiert. Das Resultat dieses Bündnisses aus alten und neuen Eliten war eine Synthese von Siedlungsplänen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges mit rassistischen Bevölkerungspolitikvorstellungen. Auch →Theodor Oberländer – Anhänger der traditionellen Ausspielung der Nationalitätengegensätze unter der deutschen Herrschaft in Osteuropa – dachte in anderen Modellen der deutschen Volkstumspolitik und nicht in dem des Generalplans Ost und war deswegen ein Gegner umfassender Ausrottungspläne.8 Obwohl eine Gefahr darin steckte, dass der Übergang von einer Volkstumspolitik, die auf eine

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kulturelle und wirtschaftliche Überlegenheit der Deutschen setzte, zu einer gewaltsamen Aussiedlung fließend war, gehörten die Ostforscher weniger zu Vorreitern der deutschen Bevölkerungspolitik im Osten, weil ihre Vorschläge weniger radikal als die Wirklichkeit waren. In Bezug darauf, dass die Historiker unter den Ostforschern keine führende Rolle spielten, aber oft und nachträglich die Rechtfertigungsgründe für Völkermord und Neubesiedlungspläne lieferten, wenn sie denn gefragt wurden, heißt es: Sie „arbeiteten weder die konzeptionellen Grundzüge beispielsweise des ‚Generalplans Ost‘ aus, noch gehörten in der Regel den Sondereinsatzkommandos der SS an. Die Expertisen der Historiker zu den unterschiedlichsten Fragen der ethnischen Zusammensetzung der polnischen Bevölkerung wurden von verschiedenen Planungszentren der nationalsozialistischen Siedlungs- und Bevölkerungspolitik erst eingeholt, nachdem die Grundentscheidungen zur ethnischen ‚Neuordnung Europas‘ bereits gefällt worden waren“.9 Das Fachwissen der Ostforscher wie auch ihre Vorstellung von der Aufteilung der geographischen Räume primär nach ethnischen Kriterien war indes für die NS-Politik sehr wichtig. Oberländers Institut für Osteuropäische Wirtschaft in Königsberg lieferte den NS-Behörden bereits vor 1939 wichtige Daten in Bezug auf die Siedlungs- und Bevölkerungspolitik in Polen. Die mit der Ostforschung verbundenen Volkstumshistoriker und -geographen (→Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft) gestalteten die Pläne der Aussiedlung aus den annektierten polnischen Gebieten, forschten für die →Deutsche Volksliste (DVL), die →Einwandererzentralstelle (EWZ) und gliederten deutsche und nicht deutsche Bevölkerungen für diese Institutionen nach ethnischen Kriterien aus. So arbeiteten sie entsprechende Expertisen aus, auch Kartenwerke und Nationalitätenstatistiken für die Änderung der bisherigen Bevölkerungsstruktur und den Aufbau der deutschen Ansiedlung. Sie kooperierten eng mit den Planern um Konrad Meyer und waren seit 1943 direkt dem RSHA unterstellt. Sie waren auch mit den neuen Zielen der NS-Politik vertraut.10 Der „Generalplan Ost“ entsprach den Vorstellungen von Heinrich Himmler – in Personalunion Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei und →Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (RKF). Diese Politik wurde von ihm im Herbst 1939 formuliert, als Zurückführung der Deutschen aus dem Ausland, Ausschalten jedes „gefährlichen“ Einflusses der „volksfremden“ Bevölkerung und die Gestaltung der neuen deutschen Siedlungsgebiete.11 Ihre Grundlage bildete die Bevölkerungspolitik, die in Südtirol, Elsaß-Lothringen und Nord-Slowenien, besonders aber schon seit 1939 in den besetzten polnischen Gebieten – wo auch Konrad Meyer aktiv war – ausprobiert wurde. Die dort gesammelten Erfahrungen, als der Generalplan Ost noch in der Vorbereitungsphase war und in der Umsiedlungs- und Deportationspolitik der Nah- und Fernpläne aufging, umfassten ebenso die Planung der Aus- und Ansiedlung, die Methoden der Eigentumsübernahme, der Verbesserung der landwirtschaftlichen Struktur, wie auch der immer wichtigeren Selektion der Ausgesiedelten nach Rassen- und Leistungskriterien (Germanisierung, Zwangsarbeit, Umsiedlung, Konzentrierung und schließlich Ausrottung) in Verbindung mit

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einer aktiven Geburtenkontrolle. Die Hauptentscheidungen lagen bei den oben erwähnten, von Himmler geleiteten Institutionen und damit bei Himmlers Beauftragten und den SD. In Wirklichkeit gab es aber eine Summe von konkurrierenden Zuständigkeiten und Befehlsgewalten. Manchmal gab es aber auch gar keine Zuständigkeitsabgrenzung. Für die Raumordnung und -planung waren sogar mehrere konkurrierende Behörden zuständig. GPO war keine konsequente Reihe der Handlungen, sondern wurde dynamisch gestaltet unter dem Einfluss verschiedener, manchmal widersprüchlicher Interessen. Welche Pläne man genau in Bezug auf das Generalgouvernement machte und wie sich die Relation dynamisch zwischen der Vertreibung der polnischen und der jüdischen Bevölkerung gestaltete, ist nicht klar, auch weil nicht alle Überlieferungen des GPO gefunden wurden. Die deutschen Behörden stellten Überlegungen über die Schaffung eines „Judenreservats“ südöstlich von Krakau an, um dann in Lublin ein „Reichs-Ghetto“ aufzubauen, in dem all die polnischen und jüdischen „Elemente“ untergebracht werden sollten, die aus den künftigen deutschen Gauen auszusiedeln waren. Diese bald ebenso von den deutschen Behörden im Generalgouvernement wie von denen in Berlin verworfene Idee zeigt, wie sich, zusammen mit den teilweise verwirklichten Plänen der Umsiedlung der unerwünschten Bevölkerung aus den polnischen annektierten Gebieten in das Generalgouvernement, der Plan der Ansiedlung und Germanisierung der Ostgebiete etappenweise entwickelte und radikalisierte. Der Distrikt Lublin spielte eine besondere Rolle. Das wurde zuerst von Czesław Madajczyk als „Sonderlaboratorium der SS“,12 und dann von Bruno Wasser im Kontext der Raumplanung erforscht. Nach den Plänen der SS sollten Tausende von Häftlingen zur Zwangsarbeit herangezogen, die unzählige Arbeitslager als Nebenlager der Konzentrationslager aufgebaut und die SS-Wirtschaftsbetriebe in diesem Gebiet massiert werden.13 Verständlicherweise erhoben Himmler und sein Apparat den Anspruch, die im Generalplan Ost geplanten Siedlungen ihm und nicht der Zivilverwaltung zu unterstellen. Auch den Stützpunkt Schitomir baute Himmler Ende 1942 als seine Hegewald-Musterkolonie unter SS-Kontrolle, und die Krim wurde einem regionalen SS-Führer unterstellt.14 Die geplante Kräfteverschiebung zugunsten der SS ist umso wichtiger, weil diese Formation und seine Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik dem deutschen Faschismus ihren besonders totalitären Charakter gab. So verlieh der Generalplan Ost der Entwicklung des NS-Systems eine besonders aggressive Dynamik. Dieser Generalplan verband sich nicht nur mit dem künftigen Modell des totalitären Staates, er entsprach auch verschiedenen laufenden innenpolitischen Interessen. Durch die Umsiedlung eines Teiles der Bauern hätten die landwirtschaftlichen Gebiete – wie auch gewerbliche und handwerkliche Bereiche – im Altreich restauriert und entlastet werden können, die deutsche Landwirtschaft wäre auf Kosten der liquidierten osteuropäischen Konkurrenz generell ausgebaut worden.15 Ferner wäre die soziale Basis des Systems gefestigt worden, um damit den Krisen im Landwirtschaftssektor

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für die Zukunft vorzubeugen. Es bleibt umstritten, inwieweit er von der Industrie als ihren Interessen entsprechend wahrgenommen wurde. Der Generalplan Ost war Teil umfangreicher Planungen, die in der Zusammenarbeit mit den Regionalforschern, Architekten, Bevölkerungswissenschaftlern und Ökonomen durchgeführt wurden. Er galt als eine neue Idee der Landesgestaltung, die nicht einzelne Objekte, sondern ganze Regionen mit Städten (auch Großstädte wie Warschau und Łódz) und Dörfer umfaßte. So wurde ein ganzes System von „zentralen Orten“ nach →Walter Christaller entwickelt, welches die historisch gewachsenen Strukturen vollkommen zerstören sollte. In den GPO spielten auch in anderen Bereichen geführte Forschungen hinein, so zum Beispiel die Forschungs- und Lehrgemeinschaft des →Ahnenerbe e.V., die sich an der Entwicklung von Plänen für den Osten beteiligte. Besonders ist hier die geographische Ostforschung zu erwähnen, eine Disziplin, die sich in der Weimarer Republik formierte und mit dem polnischen Korridor, Volkstumsverhältnissen und Grenzziehungsproblematiken beschäftigte. Nach 1933 setzte sie tradierte Forschungsansätze fort. Das NS-System brauchte technisch-instrumentelles Wissen. So bildeten Geographen zusammen mit Ökonomen und unter anderem Soziologen die →Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung – dieses Netzwerk gewann bei der Ostexpansion besonders an Bedeutung bei bevölkerungspolitischen Fragen, der Siedlungsplanung und in der Entwicklung ökonomische Konzepte. Die „neue Raumdimension“ beflügelte die Phantasie der Planer: „In der expansiven Phase des Nationalsozialismus waren Geographen in der Lage, empirische Forschungen und Planungen vorzulegen, die über das traditionelle ‚Land und Leute‘-Paradigma hinausgingen und gleichzeitig ‚regionalistisch‘ waren.“16 Die Planer waren mit beschränkten Ressourcen und realen Gegebenheiten konfrontiert, die erst mit dem Angriff auf die Sowjetunion wegzufallen schienen, als man diesen fast unbegrenzten Raum für die Aussiedlung von Millionen von Menschen ins Kalkül zog. Uwe Mai beschreibt auch die Wende mit der Ostexpansion der Perspektive, von einer deutschnationalen in eine germanisch-rassische, die ein pangermanisches Reich unter deutscher Führung anstrebte.17 Es stellt sich die Frage, wie modern der Generalplan Ost insgesamt war; eine Frage, die im Kontext des Streites um den Begriff der Modernität des NS nicht leicht zu beantworten ist. Wie verbanden sich im GPO die rassistische Ideologie, der Traum von einem Bauernvolk und die Modernität der zentralen Planung. Die Auffassung, dass die Modernität nicht immer als „eine Weiterentwicklung im Dienste der Menschen“ zu verstehen sei, weil sie auch das Entstehen der modernen Mechanismen der Kontrolle, der Herrschaft und der Vernichtung, also einer „nazistischen Form der Modernisierung Europas“ bedeuten kann, ruft starke Proteste hervor. Auch sind die Kontinuitäten der Städtebaupolitik während und nach dem Krieg nicht leicht zu beurteilen, sie orientierten sich – auch in Polen – teilweise an den Planungen aus der NS-Zeit. Interessant sind auch die Kontinuitäten der Siedlungskonzeptionen.18 Zweifelsohne lässt sich jedoch der Maßstab daran anlegen, inwie-

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fern der GPO zum Wohl der Menschen beitrug. Die bisherigen Ausführungen lassen dazu keine positive Antwort zu. Der Generalplan Ost war fest in der Gedankenwelt von Adolf Hitler verankert, wonach sich Albert Speer später im Gefängnis erinnerte: „Am Spätnachmittag in der Zelle fällt mir noch dies und das zu Hitlers Ostplänen ein: Vor allem wird mir deutlich, wie konkret und greifbar das alles für Hitler gewesen sein muss. Oft zeigte er uns Skizzen, auf denen er gezeichnet und berechnet hatte, wie lange beispielsweise ein deutscher Bauer, der auf einem Erbhof in der Südukraine sitze, für seine Fahrt in die Reichshauptstadt brauche.“19 Die Stützpunkte in der Ukraine sollten sich nach den Hauptverkehrswegen Krakau-Lemberg-Schitomir-Kiew, LeningradMogilew-Kiew und Schitomir-Vinniza-Odessa richten. Die Zeit der Vorbereitung für den Generalplan Ost (Generalsiedlungsplan) war gleichzeitig mit der Zeit der größten Massaker und Völkermorde in Ost- und Ostmitteleuropa verbunden, der die Juden und die sowjetischen Kriegsgefangenen zum Opfer fielen. Über eine Mio. Polen und zwei Mio. Ukrainer wurden zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich deportiert. Es konfrontiert uns mit der Tatsache, dass die Termine der Vorbereitung der ersten Version des Generalplan Ost und die Wannsee-Konferenz zeitlich zusammenfielen; einige Forscher sehen hier eine synchrone Entwicklung.20 Dabei wurden die Unterschiede zwischen dem verwirklichten Schicksal der Juden und dem vom Generalplan Ost geplanten Schicksal der slawischen Nationalitäten (offen bleibt die Frage der inneren Dynamik solcher Prozessen und der Gefahr der Radikalisierung einerseits, und der immer kleineren Rolle der „Rasse“ in der Planung andererseits) nicht verdrängt, sondern die „Endlösungsplanung“ im breiten Kontext der NS-Bevölkerungspolitik in Europa eingeordnet.21 Nach Czesław Madajczyk war die Judenvernichtung ein Teil der Neuordnung mit allen Mitteln: es war die Lösung eines Problems, das man „endlösen“ musste, um Mitteleuropa rassistisch gestalten zu können. Und Mitteleuropa war nicht das Endziel, sondern die Vorbereitung für den Kampf um die Weltmacht.

Piotr Madajczyk

1 Zu einer der SS-Organisationen vgl. Isabel Heinemann, „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003. 2 Vgl. Czesław Madajczyk, Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, München 1994; Karl Heinz Roth, „Generalplan Ost“ – „Gesamtplan Ost“. Forschungsstand, Quellenprobleme, neue Ergebnisse, in: Mechtild Rössler (Hg. u.a.), Der „Generalplan Ost“. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993, S. 25–117. Die Krim wurde in den Plänen im Herbst 1941 sichtbar. Zusammen mit einigen Festlandbezirken sollte Krim die Gotengau bilden und insgesamt ca. Hälfte der Siedler auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion sollte dort leben. Vgl. Norbert Kunz, Die Krim unter deutscher Herrschaft 1941–1944. Germanisierungsutopie und Besatzungsrealität, Darmstadt 2005, S. 54, 58.

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3 Götz Aly u.a., Vordenker der Vernichtung, Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt a.M. 2004, S. 440. 4 Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Vom „Volkstumskampf“ zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in Osteuropa. Zur Rolle der deutschen Historiker unter dem Nationalsozialismus, in: Winfried Schulze (Hg. u.a.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1999, S. 183–214. 5 Vgl. Fiedor Karol, „Ostforschung“ in der kritischen Beurteilung der polnischen Geschichtswissenschaft 1945–1989, in: Polska Środkowa w niemieckich badaniach wschodnich (Mittelpolen im Spiegel der deutschen Ostforschung. Geschichte und Gegenwart), Łódź 1999, S. 21–42. 6 Vgl. Wróblewski Tadeusz Seweryn, Ewolucja Ostforschung w Republice Federalnej Niemiec (Evolution der Ostforschung in der Bundesrepublik Deutschland), Poznań 1986. 7 Michael G. Esch, Das Krakauer „Institut für Deutsche Ostarbeit“. Aufgaben, Struktur, Arbeitsweise, Düsseldorf 1989. 8 Vgl. Philipp-Christian Wachs, Der Fall Theodor Oberländer (1905–1998). Ein Lehrstück deutscher Geschichte, Frankfurt a.M. 2000, S. 172–176. 9 Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000, S. 371–372. 10 Ebd., S. 310ff.; ders., Deutsche „Ostforschung“ und Antisemitismus, in: ZfG 48 (2000), 485–508. 11 Vgl. Gert Gröning, Die „Allgemeine Anordnung Nr. 20/VI/42“ – Über die Gestaltung der Landschaft in den eingegliederten Ostgebieten, in: Rössler (Hg. u.a.), Der „Generalplan Ost“, S. 131–135, 132. 12 Czesław Madajczyk (Hg.), Zamojszczyzna – Sonderlaboratorium SS. Zbiór dokumentów polskich i niemieckich z okresu okupacji hitlerowskiej, Warszawa 1979, Bd. 1–2. 13 Bruno Wasser, Himmlers Raumplanung im Osten. Der Generalplan Ost in Polen 1940–1944, Basel 1993, S. 72ff. 14 Wendy Lower, Nazi Empire-Building and the Holocaust in Ukraine, Chapel Hill, NC 2005, S. 163, 172–179; Kunz, Die Krim, S. 58. 15 Vgl. Uwe Mai, „Rasse und Raum“. Agrarpolitik, Sozial- und Raumplanung im NS-Staat, Paderborn 2002. 16 Mechtild Rössler, „Wissenschaft und Lebensraum“. Geographische Ostforschung im Nationalsozialismus, Berlin 1990, S. 228. 17 Vgl. Uwe Mai, „Rasse“, S. 301. 18 Joachim Nicolas Trezib, Die Theorie der zentralen Orte in Israel und Deutschland. Zur Rezeption Walter Christallers im Kontext von Sharonplan und „Generalplan Ost“, Berlin u.a. 2014. 19 Czesław Madajczyk, Vom Generalplan Ost, S. 321. 20 Ders., Besteht ein Synchronismus zwischen dem „Generalplan Ost“ und der Endlösung der Judenfrage?, in: Wolfgang Michalka (Hg.), Der Zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz, München 1989, S. 844–857. 21 Aly/Heim, Vordenker der Vernichtung, S. 394–440.

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Hanseforschung In den letzten 150 Jahren ihrer in etwa 350-jährigen Geschichte büßte die spätmittelalterliche Hanse ihre historische Bedeutung ein. Sie wurde im frühneuzeitlichen Europa der großen Territorialstaaten und globaler Handelsfahrt von niemandem mehr gebraucht oder vermisst. 1669 markierte ein letzter Hansetag das Ende und sie geriet bis zur napoleonischen Zeit weitgehend in Vergessenheit.1 Bald nach 1800 betrat der Göttinger Professor Georg Sartorius mit einem dreibändigen Werk zur „Geschichte des hanseatischen Bundes“ sowohl thematisch als auch methodisch Forschungsneuland. Er wählte sich kurz vor der napoleonischen Besatzungszeit aus politischen Gründen die Hanse als Studienobjekt – einer, wie er feststellte, „halbvergessene Antiquität“ und „harmlosester, politischer Gegenstand“, der zu finden war.2 Sartorius’ eigentliches Thema war die Emanzipation des Städtebürgertums im großen europäischen Rahmen. Er zeigte die Entwicklung der Städte als Teil der mittelalterlichen Ständegesellschaft – klein und abhängig unter Fürstenherrschaft am Anfang, groß und mächtig durch „Municipal-Freyheiten“ und Reichtum am Ende. Seine Betrachtung umfasste das gesamte Heilige Römische Reich von Italien bis Norddeutschland und Westeuropa. Sartorius erkannte ein deutliches Entwicklungsgefälle vom Süden über den Westen zum Norden Europas und innerhalb Deutschlands von Ober- nach Norddeutschland. Die Hanse war von daher eine Nachzüglerin europäischen bürgerlichen Unabhängigkeitsstrebens. Der Göttinger erkannte richtig, dass die Hanse kein Herrschaft abwehrender Städtebund, sondern ein zunächst kaum fassbarer, konturloser Zusammenschluss der niederdeutschen Städte gewesen war, erwachsen aus Fahrtengemeinschaften von Kaufleuten (Hansen) und deren Zusammenschlüsse an Endpunkten von Handelsrouten im Ausland (Kontore).3 Alle die Aspekte und Charakteristika, die der bürgerlichen Nation zugeschrieben wurden und die der Konstruktion eines nationalen Bewusstseins dienten,4 kamen bei Sartorius noch nicht zum Tragen. Für den Aufstieg des städtischen Bürgertums waren für ihn weder große Dynastien, noch Rassen und Ethnographisches, weder Sprachgrenzen, Boden oder Geographie von Belang. Sartorius war noch der Aufklärung verbunden. Romantische, deutschnationale Überhöhungen waren ihm weitgehend fremd. Sartorius’ unprätentiöse, sachliche Hansemonographie blieb zunächst über ein halbes Jahrhundert die einzige, existierende, hansische Gesamtdarstellung. Sie wurde im Laufe der Zeit selbst zu einer „halbvergessenen Antiquität“ – oft erwähnt, aber kaum rezipiert. Die Untersuchung fiel noch in eine Zeit liberalen, fortschrittlich-nationalen Bildungsbürgertums in den deutschen Ländern. Das Hansethema war geeignet, eine bis dahin wenig beachtete Seite der Entstehungsgeschichte des Bürgertums national zu wenden.5 Das Leitmotiv für die Hanseforschung in ihrer ersten historistischen Etappe wurde von Johann Martin Lappenberg 1859 in einem „Antrag auf Herausgabe der deutschen Hanserecesse“ bei der historischen Kommission der Königlich Bayerische

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Akademie der Wissenschaften formuliert. Lappenberg beantragte die Förderung des Projektes, die Rezesse der Hansetage systematisch zusammenzustellen, wissenschaftlich zu bearbeiten und kritisch zu edieren, um „die Heldenzeit und die Großthaten des deutschen Bürgerthums“ darstellen zu können, das heißt die Hanse als wichtigen Bestandteil der Erfolgsgeschichte eines nationalen Bürgertums zu würdigen.6 Der Liberalismus und die nationalen Bestrebungen mit allen ihren Strömungen verloren in den beiden Jahrzehnten nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 jeglichen fortschrittlichen und emanzipatorischen Charakter und schwenkten auf die Perspektive eines obrigkeitlichen, erbmonarchischen, preußisch-kleindeutschen Staates bismarckscher Prägung ein und begrüßten schließlich die aufstrebende europäische Großmacht, das Kaiserreich von 1871, als nationalen Einheitsstaat. Die nationale Idee in den deutschen Ländern bestand nicht mehr in der Emanzipation eines dritten Standes auf der Grundlage von bürgerlicher Freiheit, sondern wurde zu einem Schulterschluss des Bürgertums mit Adel, Fürsten, Obrigkeit und neuer industrieller Großbourgeoisie, begleitet von kaisertreuem Bildungsbürgertum. Zu den exponiertesten Vertretern dieser Ausrichtung zählten die Historiker Heinrich von Sybel, Johann Gustav Droysen und als Publikumsmagnet Heinrich von Treitschke. Sie wurden als borussische Schule der Geschichtswissenschaft zu einem politisch-ideologischen und historiographischen Sprachrohr der Hohenzollerndynastie und des Reichsnationalismus und bald zur beherrschenden Richtung an den deutschen Universitäten.7 Zeitgleich mit der Reichsgründung wurde 1870/71 ein Hansischer Geschichtsverein (HGV) als zeittypischer, bildungsbürgerlich-akademischer Verein anlässlich einer Veranstaltung zum 500. Jahrestag des Stralsunder Friedens von 1370 mit patriotischer und vaterländischer Gesinnung gegründet. Auf dennoch satzungsmäßig sachlicher und unverfänglicher Plattform, quasi in der Rolle einer historischen Hansekommission, widmete sich der HGV in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz im Sinne Lappenbergs vorrangig der Sammlung und Veröffentlichung der Quellen zur hansischen Geschichte. Die Publikation der Hanserezesse dauerte 43 Jahre (1870– 1913) und die des Hansischen Urkundenbuches 40 Jahre (1876–1916).8 Nach der Jahrhundertwende wurde diese der eigentlichen Historiographie vorgelagerte, fachhistorische Editionsarbeit abseits der Öffentlichkeit als auch eine spezielle, reine Hanseforschung in Frage gestellt. Der zum führenden Hansehistoriker avancierte Dietrich Schäfer lenkte den Blick der Hanseforschung und den Arbeitsbereich des Vereins auf allgemeine deutsche Seegeschichte, da die eigentliche Arbeit an hansischen Themen angeblich bald getan sei. Hansegeschichtsschreibung war für Schäfer nun Förderung deutscher Seegeschichte. Diese Neuausrichtung der Hanseforschung wird nur vor dem Hintergrund des wilhelminischen Flottenmilitarismus verständlich.9 Mit der Reichsgründung ging die Etappe deutscher Nationalstaatsformierung zu Ende. Die Ziele der borussischen Geschichtswissenschaft waren Realität geworden.

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Der konsolidierte starke Einheitsstaat ordnete sich zunehmend weltpolitisch als aufstrebende Großmacht ein. Obwohl im Reich die ostelbischen Großagrarier ihre junkerlichen Privilegien nachdrücklich verteidigten und trotz ausgeprägter Konjunkturschwankungen durchlief seit der Reichsgründung die Wirtschaft einen Prozess unaufhaltsamer Hochindustrialisierung. Sie wurde vor allem von den neuen boomenden Industriesektoren der Chemieindustrie, der Elektroindustrie und eines innovativen Maschinenbaus getragen, abgesichert von Universalgroßbanken und getragen von der Herausbildung eines vernetzten Finanzkapitals. In einer internationalen industriellen Aufholjagd schloss Deutschland zu den führenden Industriemächten England und USA auf. Auch der deutschen Wirtschaft stellten sich nun globale Nachschub-, Absatz- und Konkurrenzfragen auf weltweiten Märkten.10 Die politische und wirtschaftliche Führungselite setzte strategisch den Griff nach der Weltmacht, nach einem imperialen und kolonialen „Platz an der Sonne“ auf die Tagesordnung. Der globale Hauptkonkurrent auf diesem Weg war das britische Empire mit seiner die Weltmeere beherrschenden Royal Navy. Getrieben von Seegeltungsambitionen inszenierte Deutschland ein Wettrüsten, um England strategisch als Flottenmacht herauszufordern. Das Reichsmarineamt unter Großadmiral und Staatssekretär Alfred von Tirpitz setzte über mehrere Gesetzesvorlagen im Reichstag Planung und Bau einer alle Ressourcen verschlingenden Hochseeschlachtflotte in Gang, die der arbeitenden, durch prekäre Existenzsorgen geplagten Bevölkerung zusätzliche Opfer abverlangte.11 Mit der als Umsturzpartei gefürchteten und verhassten Sozialdemokratie an der Spitze einer gut organisierten proletarischen Massenbewegung stellte sich eine ernstzunehmende Flottenbaugegnerin in den Weg. Bei den Reichstagswahlen 1903 verbuchte sie trotz aller Repression und Anfeindung einen bedeutenden Wahlsieg, der die politische Reichselite und das durchweg reichsnationale Bildungsbürgertum alarmierte.12 Es setzte in diesen Jahren eine bisher nicht gekannte Propaganda- und Agitationstätigkeit entsprechender Verbände ein, zum einen gegen die Sozialdemokratie, zum anderen für strategische Ziele des Staates und die Verbreitung reichsnationalistischer Ideologie.13 Der seemilitaristische Flottenverein war der mitgliederstärkste dieser reichsnationalen Agitationsverbände.14 In das Arbeitermilieu konnte man nicht eindringen und dort kaum jemanden für den Verein rekrutieren. Es gelang vor allen, im bürgerlichen und kleinbürgerlichen Bevölkerungsanteil Flottenbegeisterung hervorzurufen.15 In diesem Sinne änderte sich das Arbeitsgebiet der Hanseforschung, die nun das Schwergewicht auf historische Flottenlegitimation durch Konstruktion von deutscher Seetradition und Erfindung von Seegeltungskontinuität legte, das heißt, die spätmittelalterliche Hanse sollte als erfolgreiche und lehrreiche Vorläuferin wilhelminischer Seegeltung Sinn stiften. Dazu wurden massive Geschichtsverzerrungen notwendig. Erstens waren für Schäfer in der Tradition der Staats- und Herrschaftsverklärung eines Ranke und Droysen und vor allem als Schüler und Anhänger Heinrich von Treitschkes die sittlichen Kräfte, die in der Geschichte regieren,

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und ein göttliches Erbteil, was Hingabe an das Reich und an den Staat einfordert, zentral. Tatsächlich gaben nicht „sittliche Kräfte“, sondern Hohenzollern, Adel und Industriebarone den Ton an, und es ging um Hingabe an eine imperialistisch konkurrierende Großmacht, der man sich in vaterländischer Verblendung selbst auslieferte.16 Zweitens gestaltete Schäfer aus dem von Sartorius quellenkonform beschriebenen, kaum fassbaren, konturlosen Städtezusammenschluss einen abendländischen Staat, einen reinen Handelsstaat, eine merkantile Staatsbildung, eben Deutschland zur See im Mittelalter. Die Hanse wurde zu einem eigenständigen Machtgebilde stilisiert.17 Drittens wurde die Hanse vor allem als See- und Seegeltungsmacht beschrieben und eine seebeherrschende hansische Schiffs- und Flottenmacht unterstellt. Die Hanse als lockere diplomatische und politische Städteverbindung zur Sicherung des Binnen- und Seehandels ihrer städtischen Fernkaufleute war indes nicht in der Lage und auch nie daran interessiert gewesen, eine eigene hansische Flotte zu unterhalten. Ebenso wenig gab es eine übergeordnete hansische Schifffahrt. Handelsschifffahrt war in jener Zeit noch ausschließlich eine Angelegenheit der einzelnen Seehandelsstadt.18 Viertens wurde aus der Hansegeschichte die Notwendigkeit wilhelminischer Flottenrüstung abgeleitet. Deutschland habe sich über ein umfassendes Flottenprogramm Seegeltung zu verschaffen, wolle man nicht – wie einstmals die Hanse – zu wenig gerüstet von anderen überflügelt werden und untergehen. Unter der Meinungsführerschaft Schäfers entwickelte sich der HGV deutlich ab 1904/05 in Richtung eines wilhelminischen historischen Seevereins, in dem auch spezielle Schiffs- und Schifftypenforschung angeregt wurde, die mit den Namen Walther Vogel und Bernhard Hagedorn eng verbunden ist.19 Im Gegensatz zu späterer nationalsozialistischer Blickverengung bewahrte sich im Rahmen weltweiter Seegeltungsambitionen diese wilhelminische Schifffahrtsforschung einen Blick für europäisches Schiffswesen und die Flotten der konkurrierenden Mächte. Dietrich Schäfer, bis zum Tode 1929 überzeugter Imperialist, ist auf dem äußersten reaktionären Rand des deutschnationalen Spektrums einzuordnen. Selbst bei den die Tirpitz-Pläne unterstützenden sogenannten Flottenprofessoren stach er als Mitglied aller nationalen Agitationsverbände durch besonderen politischen Aktivismus hervor.20 Seit 1903 Vorstandsmitglied des HGV, gab dieser alldeutsche Chauvinist dem Hansischen Geschichtsverein in dem Jahrzehnt vor dem ersten Weltkrieg sein geistiges und wissenschaftliches Gepräge.21 Bei der Neuaufteilung der Welt war Deutschland 1918 gescheitert. Gesinnungsmäßig verharrte das Lager der vormaligen vaterländischen Kriegstreiber auf alten Positionen. Man geriet in einem Gemisch aus depressivem Trotz, patriotischer Verbohrtheit sowie Hass und Existenzangst angesichts der bolschewistischen Revolution in Russland und der sozialistischen deutschen Räterepublik von November 1918 bis Februar 1919 noch tiefer in den von der alldeutschen Ideologie vorgegebenen chauvinistischen, völkisch-rassistischen Sumpf. Dolchstoßlegende als Verdächtigung der Linken, Revisionismus des Versailler Vertrags der Sieger und Revanchis-

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mus für eine erneute Runde im Kampf um Reich, Staat und deutscher Welthegemonie waren die Grundlage einer geänderten strategischen Ausrichtung der deutschen Führungselite in Wirtschaft und Politik, die letztendlich in nationalsozialistischer Version die brauchbarste Gestalt annahm. Das strategische Ziel des Dritten Reiches war eine kontinentaleuropäische Großraumwirtschaft mit dem sogenannten Germanischen Reich als Führungszentrum und südosteuropäischen, italienischen, französischen und schließlich englischen Unterräumen unter deutscher Herrschaft, um von dieser Basis aus die anderen globalen Machtblöcke niederzuringen und die Weltherrschaft anzutreten.22 Die Begehrlichkeiten NS-Deutschlands gingen zunächst landgestützt nach Osten. Die alldeutschen Fantasien von Lebensraum im Osten, slawenfeindlichem Ostlandritt und eines rassisch ererbten, germanischen Drangs nach Osten wurden von Hitler und seinen Ideologen präzisiert und in praktische Politik umgesetzt.23 Altes Seegeltungsstreben und Flottenmacht spielten nun keine Rolle mehr. Eine Deutschland zur See repräsentierende Hanse hatte ausgedient. Im Rahmen der neuen Oststrategie avancierte das europäische Rand- und Binnenmeer Ostsee zum europäischen Zentralmeer. Sollte die Hanse weiterhin als Vermittlerin deutscher Größe benutzbar bleiben, musste sie der neuen strategischen Ausrichtung angepasst und zu einem nach Osten gerichteten völkischen Kampfverbund umgeschrieben werden. Es war der Historiker →Fritz Rörig, der in den 1920er Jahren das überholte wilhelminische Hansebild entsprechend umarbeitete. 1928 präsentierte er mit einem Vortrag über „Die geistigen Grundlagen der hansischen Vormachtstellung“ eine völkische, mystisch verklärte Hanse, deren überlegene deutsche Kaufleute planmäßig in der Ostsee den deutschen Drang und Zug nach Osten umsetzten.24 Die neue völkische Sicht auf die Hanse beinhaltete die blutsmäßige geistige Einbindung des niederdeutschen Kaufmanns in die Gesamtheit des germanischen, vom Schicksal als Führungsmacht bestimmten deutschen Volkes. Die Hanse sei nicht mehr Staatsgebilde, sondern eine Wirtschaftsgemeinschaft, organisch vereint durch das gemeinsame Band des Blutes. Die Kaufleute seien erfüllt von hansischem Sein, das sich aus einer geistigen Einheit des Germanentums, aus ihren starken seelischen und geistigen Kräften, aus Gesinnung und geistigen Haltung, aus ihrem überlegenden, wagenden, allen anderen Akteuren weit überlegenen Unternehmergeist ergab. Der Hansekaufmann wurde apodiktisch zu einem starken, blutsreinen, germanischen Typen heroisiert. In diesem Sinne instrumentalisierte Rörig die Hanse für die →Ostforschung als Inkarnation einer reinen, verklärenden, mystischen Idee. Rörig hat das in einen griffigen Slogan gekleidet: Das Ganze sei früher da gewesen als die Teile. An dieser Mystik vom „Ganzen ohne Teile“ hielt Rörig bis zuletzt fest. Bevor überhaupt Seestädte im Ostseebereich vorhanden waren, hätten von der Hanseidee erfüllte, frühe niederdeutsche Ostseehändler den Ostseeraum planmäßig bearbeitet. Noch 1944 benennt Rörig sogar das verursachende, geheiligte Höchste hinter der transzendenten

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Hanseidee. Es waren Reich und Volk, von denen eine verehrungswürdige Ursubstanz hansischen Seins ausgegangen sei.25 Rörigs Lehrgebäude baute auf völkischgermanisch-nordischem Gedankengut auf. Er lieferte Volkstumsideologen und Nationalsozialisten allgemein nicht nur im Rahmen der Ostforschung zusätzliche Legitimation, sondern seine Hanseideologie war Grundlage für eine breite Popularisierung der Hanse in den Medien, in SS-Schulungen oder Soldatenrundbriefen. Rörig wird heute noch fachlich als jemand eingestuft, der im Gegensatz zur wilhelminischen Forschung die Hanse angeblich sozial- und wirtschaftshistorisch betrachtet habe. Aus den Kreisen seiner DDR-Schüler wurde von Rörigs fundamental wirkendem ökonomisch-sozialem Massiv und von der prägenden ökonomisch-sozialen Substanz seiner Lehren gesprochen.26 Tatsächlich hat Rörig grundlegende ökonomische Zusammenhänge völkisch verzerrt. Rörig wandte sich vehement gegen den von ihm so bezeichneten „Bücher-Sombartschen Komplex“, gegen die Lehren des Historiker Karl Bücher und des Nationalökonomen Werner Sombart, weil in ihren Lehren angeblich kein Platz für die grundsätzliche Bedeutung hansischen Geschehens sei. Rörig trug seine Polemik zunächst 1942 im Sammelband über die Erträge der „Ostforschung“ der Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft vor.27 Mit gleicher Vehemenz polemisierte er 1947 nach dem Krieg weiter.28 Tatsächlich aber negierte Rörig die entwicklungsgeschichtliche Herausbildung eines Kaufleutestandes aus kleinen Anfängen in der mittelalterlichen Welt der Stadtentstehung. Er bekämpfte, völkisch geprägt, das zur Grundausbildung eines Sozialhistorikers gehörende ökonomische Grundwissen, dass der Einsatz von Kaufmannskapital und die Geschäfte von Kaufleuten zur Profiterwirtschaftung und Kapitalmaximierung vorgenommen werden.29 Seine vom „Ganzen“, dem höheren Hanseplan innerlich geleiteten Fernhändler aus dem Westfälischen erscheinen von Beginn an als ein gegen die Bischöfe revoltierender, kapitalkräftiger, machtvoller, die Stadtbevölkerung anführender Stand, denen es nicht um persönlichen Profit, sondern um die systematische hansische Durchdringung der Ostsee ging, also um eine Variante des deutschen Drangs nach Osten. Die Hanse- und Kaufmannswelt war ein integraler Bestandteil mittelalterlicher, fürstlich-klerikaler, feudalstaatlicher Herrschaftsgebilde in einer weitgehend grundherrlich geprägten Agrargesellschaft, in der es Jahrhunderte dauerte, bis sich das Bürgertum einen Platz als Dritter Stand erkämpft hatte. Fritz Rörig beschrieb die Hanse und ihre Kaufleute in einer gesellschaftlich autonom existierenden Welt als ein metahistorisches Phänomen. Das daraus resultierende Gebilde passte in nordisch-völkische Vorstellungswelten und bediente deutsche Hybris.30 In der Nachkriegsordnung Europas war es dringend geboten, vor der Weltöffentlichkeit die Friedfertigkeit der Deutschen zu betonen. Die völkisch-germanischen und rassistischen Ideologieauswüchse der NS-Zeit fielen fort. Hegemonie über die Ostsee war nach neuer Lesart nicht mehr gewaltsam errichtet worden, sondern Ergebnis einer umfassenden friedlichen Ostkolonisation. Der sogenannte „Geist der Hanse“ und die Rörigsche „verehrungswürdige Ursubstanz hansischen

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Seins“ blieben weiterhin für den Städteverbund prägend.31 Die neu aufgestellte Hanseforschung kleidete den tiefsitzenden nationalistischen Überlegenheits- und Führungsanspruch der Deutschen neu ein. Die Hanse stand nun für überlegenes Deutschtum, das den unterentwickelten Völkern des Ostens die Segnungen des überlegenen christlichen Abendlandes brachte, indem ihnen gezeigt wurde, wie man Austausch und Handel, sowie Städte und Verwaltung organisiert, wie man Schriftlichkeit vollzieht und ein Rechtswesen schafft und wie man abendländischer Christ wird. Es agierte nun in dieser neuen Variante des deutschen Nationalismus der friedfertige, leistungsfähige, kaufmännisch und unternehmerisch überlegene Deutsche als historische Chance für den Osten.32 Diese neue, friedfertige, unternehmerisch und abendländisch-kulturell überlegene Hanse entsprach dem politischstaatlichen Selbstverständnis und der wirtschaftlichen Wiederaufstiegsperspektive Nachkriegsdeutschlands, weswegen man sie treffend als „Wirtschaftswunderhanse“ der nationalen Sinnstiftung bezeichnen kann. Die Umbruchsgeneration der noch in NS-Zeiten sozialisierten Hanseforscher auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges wurde der historischen Pflicht zur Aufarbeitung der ideologischen Verirrungen und Hilfestellung für das NS-Regime nicht gerecht. Kennzeichnend für die Ära ist, den Mantel des Schweigens und Vergessens über der eigenen Vergangenheit auszubreiten und keine „schlafenden Hunde zu wecken“.33 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in der frühen, von Sartorius begründete Etappe der Hanseforschung es darum ging, die Entwicklung unter mittelalterlicher fürstlicher Landes- und Stadtherrschaft entstehenden, sich Unabhängigkeit erkämpfenden selbstorganisierenden europäischen Stadtkommunen im allgemeinen und der hansischen im Besonderen nachzuvollziehen. Das 19. Jahrhundert erlebte eine fortschreitende idealistisch-nationale Verklärung auch des hansischen Bürgertums. Die Hanseforschung erarbeitete und edierte aber zugleich kritisch die Quellen zur Hansegeschichte, die bleibenden wissenschaftlichen Wert besitzen. Beginnend mit den Großmachtambitionen des Deutschen Kaiserreiches setzte eine bis in die Gegenwart andauernde Instrumentalisierung der Schiffs- und Hanseforschung für nationalstaatliche Interessen ein. Das gilt für den Seemilitarismus des wilhelminischen Reiches, die rassistische Herrenmenschenideologie und europäische Großraumpläne des NS-Regimes sowie friedlich und national gewendete Hansedeutungen in den deutschen Nachkriegsstaaten. Allen diesen scheinbar so unterschiedlichen Hansebildern ist gemeinsam, dass sie apologetische Variationen permanenter deutscher Überlegenheitsmentalität und deutschen Führungsanspruchs darstellen. Die heutige Hanseforschung hat viele der Geschichtsklitterungen früherer Forschung widerlegt und sich wieder den sachlichen Ursprüngen bei Sartorius angenähert, verliert dabei aber zugleich mit dem mystifizierenden „Geist der Hanse“ die Begründung für eine eigenständige Fachrichtung als Hanseforschung außerhalb europäischer Städteforschung.

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Deutschland spielt inzwischen wieder die Rolle einer ökonomischen und politischen Führungsmacht Europas. Demzufolge ist – vor allem von journalistischer und politischer Seite – der Trend zu konstatieren, die Hanse der heutigen Bedeutung Deutschlands anzupassen und als „Europahanse“ zu präsentieren. Nun sei sie schon im Spätmittelalter eine heimliche europäische Supermacht gewesen, die visionär und unerbittlich einen ganzen Kontinent geprägt habe.34

Reinhard Paulsen

1 Heinz Duchhardt, Die Hanse und das europäische Mächtesystem des frühen 17. Jahrhunderts, in: Antjekathrin Grassmann (Hg.), Niedergang oder Übergang? Zur Spätzeit der Hanse im 16. und 17. Jahrhundert, Köln u.a. 1998, S. 11–24; Georg Schmidt, Städtehanse und Reich im 16. und 17. Jahrhundert, in: ebd., S. 5–46; Rainer Postel, Der Niedergang der Hanse, in: Die Hanse. Lebenswirklichkeit und Mythos, hg. v. Jörgen Bracker u.a., Lübeck, 19993, S. 165–193. 2 Georg Sartorius, Geschichte des hanseatischen Bundes, Göttingen Bd. 1: 1802, Bd. 2: 1803, Bd. 3: 1808, hier Bd. 1, S. VI. 3 Sartorius nennt Kontore noch die „ersten kaufmännischen Vereine in dem Auslande“; vgl. Sartorius, Geschichte des hanseatischen Bundes, Bd. 1, S. 13–30. Mängel in seiner Beschreibung der Entstehung der Hanse von 1802 waren tatsächlich der noch dünnen Quellenlage geschuldet. Nachdem die Benutzung von städtischen Archiven möglich geworden war, arbeitete Sartorius deshalb auf besserer Quellenbasis an einer Neubearbeitung der Hanseentstehung, die nach seinem Tode 1828 von Johann Martin Lappenberg überarbeitet und 1830 herausgegeben wurde: Georg Friedrich Sartorius, Freyherr von Waltershausen, Urkundliche Geschichte des Ursprungs der Deutschen Hanse, hg. und mit einem Vorwort versehen von J. M. Lappenberg, Hamburg 1830; „erste kaufmännische Vereine“: S. 1. 4 1882 wurde die Frage der Nation von Ernest Renan mit einer, für seine Zeit beispiellosen Klarheit und Unvoreingenommenheit analysiert: Ernest Renan, Qu’est-ce qu’une nation? Conference faite en Sorbonne, le 11 mars 1882, Paris 1882. Deutsch: Ernest Renan, Was ist eine Nation? Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne, (aus d. Franz. übers. v. Henning Ritter), Hamburg 1996. 5 Ein früher Rezensent des Buches, Johannes von Müller, erhob schon 1804 die Hanse in den Rang eines „Nationalgegenstandes“: Johannes von Müller, Recension: Göttingen, b. Dietrich: Geschichte des Hanseatischen Bundes von Georg Sartorius, Professor zu Göttingen. Erster Theil, 1802, S. XVI u. 478 S. Zweyter Theil in zwey Abtheilungen. 832 S. 8. Mit einem (heraldischen) Kupfer, in: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung Num. 7, 9. Jan. 1804, Sp. 49–56 und Num. 8, 10. Jan. 1804, Sp.57–62, hier Num. 8, Sp. 61/62. 6 Johann Martin Lappenberg, Antrag auf Herausgabe der deutschen Hanserecesse, in: HZ 2 (1859), Beilage: Nachrichten von der historischen Kommission bei der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften, S. 47–53. Zu Lappenberg ausführlich: Rainer Postel, Johann Martin Lappenberg. Ein Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, Lübeck 1972. 7 Hans Schleier, Die kleindeutsche Schule (Droysen, Sybel, Treitschke), in: Joachim Streisand (Hg.), Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, Band 1: Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben, Berlin 1969, S. 271–310; Peter Borowsky, Deutsche Geschichtswissenschaft seit der Aufklärung (geschr. 1978/79), in: Peter Borowsky, Schlaglichter historischer Forschung. Studien zur deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, (aus dem Nachlass hg. von Rainer Hering und Rainer Nicolaysen), Hamburg 2005, S. 13– 61, 29.

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8 Zu den Aktivitäten des Vereins in dieser Zeit: Dietrich Schäfer, 50 Jahre Hansischer Geschichtsverein, in: HGbll. 26 (1920/21), S. 14–26. 9 Dietrich Schäfer, Die Aufgaben der deutschen Seegeschichte (1908), in: Schäfer, Aufsätze, Vorträge und Reden, Bd. II, Jena 1913, S. 281–284 auch in: HGbll. 36 (1909), S. 1–12. 10 Dieser Themenkomplex orientiert sich an Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995, Teil 6.II.1–3, S. 547–661. 11 Volker R. Berghahn, Der Tirpitz-Plan: Genesis und Verfall einer innenpolitischen Krisenstrategie unter Wilhelm II., Düsseldorf 1971; Michael Epkenhans, Die wilhelminische Flottenrüstung 1908– 1914. Weltmachtstreben, industrieller Fortschritt, soziale Integration, München 1991. 12 Klausa Saul, Staat, Industrie, Arbeiterbewegung im Kaiserreich. Zur Innen- und Sozialpolitik des Wilhelminischen Deutschland 1903–1914, Düsseldorf 1974, S. 13–50 (I. „Staatsstreich oder soziale Reform – die „Konsequenzen“ des Reichstagswahlrechts 1903/04“). 13 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, S. 1066–1080; Axel Grießner, Massenverbände und Massenparteien im wilhelminischen Reich. Zum Wandel der Wahlkultur, Düsseldorf 2000; vgl. auch Rainer Hering, Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890 bis 1939, Hamburg 2003. 14 Wilhelm Deist, Reichsmarineamt und Flottenverein 1903–1906, in: Herbert Schottelius und Wilhelm Deist (Hg.), Marine und Marinepolitik im kaiserlichen Deutschland 1871–1914, Düsseldorf 1972, S. 116–145; Dieter Fricke, Deutscher Flottenverein und die Regierung 1900–1906, ZfG 30 (1982), S. 141–157. 15 Der bürgerliche und kleinbürgerliche Bevölkerungsanteil ist auf etwa 25% der Reichsbevölkerung zu veranschlagen, während man zum proletarischen Milieu zwei Drittel der Bevölkerung zu rechnen hat, mit einem Kern von 13-14%, der Industriearbeiterschaft der Großbetriebe: nach Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3, S. 704ff. Das politisch-agitatorisch stark engagierte Bildungsbürgertum umfasste vor 1914 ganze 0,8–1% der Reichsbevölkerung (ebd., S. 732). 16 Dietrich Schäfer, Das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte (1888), in: Dietrich Schäfer, Aufsätze, Vorträge und Reden, Bd. 1, Jena 1913, S. 264–290. 17 Dietrich Schäfer, Deutschland zur See. Eine historisch-politische Betrachtung (1897), in: Schäfer, Aufsätze, Vorträge und Reden, Bd. I, Jena 1913, S. 24–101, 36f. 18 Reinhard Paulsen, Schifffahrt, Hanse und Europa im Mittelalter. Schiffe am Beispiel Hamburgs, europäische Entwicklungslinien und die Forschung in Deutschland, Köln u.a. 2016, S. 637–654. 19 1904 legte der Vorstand ein Preisausschreiben für eine Geschichte der deutschen Seeschifffahrt auf, in dessen Aufgabenstellung die Hanse nicht einmal erwähnt wurde. In seinem 34. Jahresbericht von 1905 führte der Vorstand der HGV aus, dass es das ultimative Vereinsziel sei, die Hansegeschichte zur allgemein deutschen Seegeschichte zu erweitern: HGbll. 32 (1904/05), S. 213. Der Preis ging an Walther Vogels „Geschichte der deutschen Seeschiffahrt“, Bd. 1, Berlin 1915 und wurde zu Recht zum Standardwerk für mittelalterliche Schifffahrt; Bernhard Hagedorn, Die Entwicklung der wichtigsten Schiffstypen bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1914. 20 Rüdiger vom Bruch, Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaft und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Björn Hofmeister u.a., Stuttgart 2006, S. 72f., 113. Tirpitz selbst lobte, dass er von den Historikern vor allem von Schäfer unterstützt wurde: Alfred von Tirpitz, Erinnerungen, Berlin u.a. 19275, S. 96, Fn. 1. 21 So Walther Vogel in seinem Nachruf auf Schäfer: Dietrich Schäfer (1845–1929). Worte des Gedächtnisses (21.Mai 1929), in: HGbll. 54 (1929), S. 3–18, 3. 22 Von Goebbels beschriebene Strategie 1943: Elke Fröhlich (Hg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente, Teil 2: Diktate 1941–1945, Bd. 8: April-Juni 1943 (bearb. v. Hartmut Mehringer), München, u.a. 1993, S. 238 (Eintrag vom 8.5.1943).

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23 Wei Li, Deutsche Pläne zur europäischen wirtschaftlichen Neuordnung 1939–1945. Weltwirtschaft, kontinentaleuropäische Autarkie und mitteleuropäische Wirtschaftsintegration, Hamburg 2007; Jürgen Elvert, Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918–1945), Stuttgart 1999. 24 Vortrag auf dem 6. Internationalen Historikerkongress in Oslo, August 1928: Fritz Rörig, Die geistigen Grundlagen der hansischen Vormachtstellung, in: HZ 139 (1929), S. 242–251. Die folgende Zusammenfassung beruht auf dieser Rede. Aus heutiger Sicht bewertet: Paulsen, Schifffahrt, Hanse und Europa, S. 511–526. 25 Fritz Rörig, Volk, Raum und politische Ordnung in der deutschen Hanse, Berlin 1944, S. 11. 26 Eckhard Müller-Mertens, Die Hanse in europäischer Sicht. Zu den konzeptionellen Neuansätzen der Nachkriegszeit und zu Rörigs Konzept, in: Eckhard Müller-Mertens (Hg. u.a.), Konzeptionelle Ansätze der Hanse-Historiographie, Trier 2003, S. 19–43. 27 Fritz Rörig, Wandlungen der Hansischen Geschichtsforschung seit der Jahrhundertwende, in: Hermann Aubin (Hg. u.a.), Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg, Bd. 1, Leipzig 1942, S. 421–445, 428. 28 Fritz Rörig, Stand und Aufgaben der hansischen Geschichtsforschung, in: HGbll. 69 (1950), S. 1– 13, 4. Rörigs 1950 gedruckter Vortrag von 1947 lieferte die Grundsatzorientierung der Hanseforschung nach dem zweiten Weltkrieg: Müller-Mertens, Die Hanse aus europäischer Sicht, S. 19–43. 29 So betonte er 1942 nachdrücklich: „Rein privatwirtschaftliches Gebaren ist in der Hanse grundsätzlich ausgeschlossen“ (Rörig, Wandlungen (wie Anm. 27), S. 430). 1935 heißt es: Die Hanse „ist, ganz bewußt, ein Wirtschaftsverband auf blutsmäßiger Grundlage“ (Fritz Rörig, Die deutsche Hanse. Wesen und Leistung, in: Vergangenheit und Gegenwart. Zeitschrift für Geschichtsunterricht und politische Erziehung 25.4, 1935, S. 198–216, 202). Es sei „eine echt hansische Tugend, die Privatwirtschaft dem Ganzen unterzuordnen“ (ebd., S. 211). „Der hansische Mensch“, heißt es weiter, sei „gebunden an sein Volkstum, untergeordnet einem überpersönlichen politischen Ziel und bereit, mit der Waffe für das Ganze einzutreten“ (ebd., S. 216). „Ich wüsste nicht,“ legt Rörig sich fest, „wo jemals in der Geschichte eines Volkes die Bindung der Wirtschaft an das Blut in so grandioser und erfolgreicher Weise lebenskräftige Wirklichkeit geworden wäre, wie in der unseres Volkes […]“ (Fritz Rörig, Die Hanse, unter Berücksichtigung der Wesensart mittelalterlicher Kaufmannschaft und mittelalterlichen Unternehmertums, in: Jahrbuch des Haus der Hanse zu Bremen, Bremen 1934, S. 46–65, 56). 30 Die Darstellung Rörigscher Lehrmeinung und ihrer gesellschaftlich-politischen Hintergründe stützt sich auf Paulsen, Schifffahrt, Hanse und Europa, S. 511–545, 610–630. 31 Brandt kennzeichnet 1970 diese Kontinuität für die dritte, von den 1930er bis in die 1960er Jahre tätige Vorstandsgeneration als die bevorzugte Arbeitsrichtung des HGV auf das Urhansische: Ahasver v. Brandt, Hundert Jahre Hansischer Geschichtsverein. Ein Stück Sozial- und Wissenschaftsgeschichte, in: HGbll. 88 (1970), S. 3–67, 27. 32 Ahasver von Brandt, Die Hanse als mittelalterliche Wirtschaftsorganisation – Entstehung, Daseinsformen, Aufgaben, in: Leo Brandt (Hg.), Die Deutsche Hanse als Mittler zwischen Ost und West, Köln u.a. 1963, S. 9–37. 33 Brandt, Die Hanse als mittelalterliche Wirtschaftsorganisation, Eingangssatz S. 8. 34 Gisela Graichen/Rolf Hammel-Kiesow, Die deutsche Hanse. Eine heimliche Supermacht, Reinbek 2011, Rückseiten- und Klappentext.

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Haus-Forschung In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als im deutschen Sprachraum im Geiste der Romantik die wissenschaftliche Beschäftigung mit der „heimischen Geschichte“ eine vorher nie gekannte Breite erreichte, beginnt auch die Geschichte der Hausforschung. Ausgangspunkt war dabei, dass nun auf der Basis einer breiten bildungsbürgerlichen Bewegung zahlreiche regional tätige Geschichts- und Altertumsvereine gegründet wurden, die sich die Erforschung der nationalen Geschichte mit allen ihren Facetten auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Hier fanden sich Fachwissenschaftler genauso wie Laien auf einer breiten, universellen Basis zusammen, wobei der zugrundeliegende Geschichtsbegriff sehr weit war und viele heute selbständige Fächer mitumfasste. In diesem Rahmen konnte der Kasseler Archivar, Mitgründer und langjährige Vorsitzende des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde, Georg Landau (1807–1865), bereits 1857 eine erste Darstellung zum historischen Hausbau veröffentlichen, der bis 1862 drei weitere Teile folgen sollten.1 Während die Zahl der Vereine im 1852 gegründeten Gesamtverein der deutschen Geschichtsund Altertumsvereine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ständig wuchs, kam es zu einer zunehmenden Spezialisierung. Für die Hausforschung ist hierfür das Jahr 1878 entscheidend gewesen. Bei der Marburger Generalversammlung des Gesamtvereins war der historische Hausbau ein umfänglich behandeltes Thema, und man beschloss eine Resolution, in der für Deutschland ein umfassendes Inventarwerk der historischen Bauten gefordert wurde, wozu man die Zusammenarbeit mit dem Verband der Architekten- und Ingenieurvereine suchte.2 Bis 1880 ging die Initiative ganz an die Architekten über, die als einen ersten Überblick zum Bestand der als besonders gefährdet angesehenen Holzbauten dann ab 1883, herausgegeben von den Architekten Hermann Cuno und Carl Schäfer, ein großformatiges Mappenwerk veröffentlichten. Um einen weiteren Überblick zu gewinnen, begann man 1892 die Sammlung von Material für eine umfassende Darstellung zur Geschichte und Entwicklung des deutschen Bauernhauses, aus der das ab 1906 veröffentlichte große Bauernhauswerk entstand.3 Inzwischen hatte Carl Schäfer (1844–1908) 1884 in Berlin die wichtige Professur für Baukunst des Mittelalters übernommen. Hier und dann ab 1894 in Karlsruhe entwickelte er ein neues Lehrmodell zum Profanbau, das als grundlegende Kategorie von einer stammesmäßigen Zuordnung der Hausformen ausging. Er folgte damit vereinfachend der Methode der damaligen akademischen Germanistik (Toponomastik), Landes- und →Volkskunde, anhand von siedlungsformalen Aspekten Dorf-, Flur- und Hausformen, bestimmte Siedlungsräume und -phasen und auch Sprachgrenzen zuzuordnen, an der sich bereits Landau orientiert hatte, und traf sich dabei mit Theorien des Statistikers August Meitzen.4 Hatte Meitzen nur wenige Jahre zuvor in seinen Untersuchungen zu den Siedlungs- und Haustypen den Feudalverhältnissen noch Rechnung getragen, so wandte er sich vor der Jahrhundertwende dem Common Sense der erstarkenden völkischen Bewegung zu. Dieses über mehr als

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fünfzig Jahre populäre, Gemeinschaft postulierende Modell wurde aufgegriffen und weiter zugespitzt, wie zum Beispiel 1907 von Bartel Hanftmann und dann 1913 von dem List-Schüler Philipp Stauff.5 Hier standen nun vermeintliche Sinnbilder und Runen im Vordergrund, die man in Fortschreibung der Stammestheorie als altgermanisches Erbe in den Fachwerkbauten zu sehen glaubte. Auf dieser Basis konnte dann das gesamte preußische Staatsgebiet mit einem einheitlichen Erklärungsraster überzogen werden, das alle tatsächlich vorhandenen Minderheiten effektiv ausgrenzte. Daneben entstanden allerdings auch zahlreiche regionale Untersuchungen vor allem zum ländlichen Hausbestand, die in ganz unterschiedlichem Maße und nicht selten überhaupt nicht auf die vermeintlichen Stammeszuordnungen Bezug nahmen. Bereits 1908 begann die Architektenschaft ein neues Projekt zum Thema Bürgerhaus, wobei im Rahmen eines Gesamtwerkes von circa 300 Tafeln für insgesamt etwa 1.000 Bauten größere Regionalbände in Verantwortung der jeweiligen Untergruppierungen des Vereins vorgesehen waren. Dieses Bürgerhauswerk konnte allerdings erst nach Kriegsende von den Architektenverbänden in weitaus bescheidenerem Rahmen und mit nur wenigen Bänden veröffentlicht werden. Gegenüber der bis dahin vor allem an ländlichen Bauten entwickelten Hausforschung bedeutete dies dennoch einen deutlichen Paradigmenwechsel. Es folgten nacheinander die Bände zu Schlesien, dem Elsaß und schließlich als letzter Band 1929 der über die Rheinprovinz.6 Innerhalb des Faches Volkskunde geriet gegen Ende der Weimarer Republik die weiter durchaus populäre Stammestheorie angesichts ihrer inhaltlichen Schwächen argumentativ unter Druck und konnte vor allem an Beispielen aus dem Rheinland als widerlegt gelten. So argumentierte der Landeshistoriker →Franz Steinbach7 aus der Aubin-Schule in mehreren Veröffentlichungen gegen diese unreflektierte Zuordnung, und Liesel Meixner8 hatte selbst noch 1934 in ihrem Forschungsüberblick zum rheinischen Bauernhaus eindeutig dagegen Stellung bezogen. Inzwischen war allerdings schon 1932 von →Bruno Schier ein grundlegendes Werk der Kulturraumforschung vorgelegt worden, der ein dynamisiertes Modell der früheren Stammestheorie zugrunde lag.9 Die von Schier beschriebenen Kulturbewegungen fanden nach 1933 Eingang in die nationalsozialistisch geprägte deutsche →Westforschung und →Ostforschung10 und wurden vielfach zur Leitlinie von NS-Siedlungsaktivitäten in den Ostgebieten.11 Die zweifellos wichtigste Kontinuitätslinie in der Hausforschung nach 1933 stellten die Arbeiten der Architekten dar, deren Verband deutscher Architekten- und Ingenieurvereine 1936 zur Deutschen Gesellschaft für Bauwesen gleichgeschaltet wurde, dabei aber mit seinem früheren weitgespannten Aufgabengebiet größtenteils erhalten blieb.12 Im Rahmen der neuen Organisationsform, die 1939 auf die Fachgruppe Bauwesen im NS-Bund Deutscher Technik überging, wurde eine Arbeitsgruppe eingerichtet, um eine Neubearbeitung des großen Bauernhofwerkes von 1906 vorzubereiten, wofür man die Unterstützung des Reichsernährungs- und Reichserzie-

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hungsministeriums gewinnen konnte.13 Für die praktische Arbeit richtete man das „Bauernhausbüro“ ein, dessen Leitung dem konservativen, aus der Heimatschutzbewegung kommenden Architekten Gustav Wolf (1887–1963) übertragen wurde.14 Gustav Wolf studierte vor dem 1. Weltkrieg an der TH München bei Theodor Fischer und trat damals schon mit der im Rahmen der Heimatschutzbewegung vielbeachteten Publikationsreihe Die schöne deutsche Stadt hervor.15 Er wurde dann Mitarbeiter im Büro von Paul Schmitthenner und arbeitete 1915 bis 1919 als Bezirksarchitekt beim Wiederaufbau Ostpreußens mit. 1919/20 war er Kreisbaumeister in Merseburg, bis 1922 Stadtarchitekt von Soest und danach bis 1927 Baudirektor der Westfälischen Heimstätte in Münster. Er wechselte dann aus der Praxis in die Lehre und wurde 1927 Direktor der Handwerker- und Kunstgewerbeschule in Breslau. 1934 musste Wolf nach Intrigen seines stramm regimekonformen Lehrkörpers das dortige Amt aufgeben und quasi strafversetzt eine Stelle als Studienrat an der Staatslehranstalt für Hoch- und Tiefbau in Berlin-Neukölln übernehmen. Hier fand er den Kontakt zu der Arbeitsgruppe für das Bauernhauswerk, einem Thema, das bislang nicht im Mittelpunkt seiner Arbeiten gestanden hatte, und übernahm die Leitung des Bauernhausbüros. 1936 setzte sich der Provinzialkonservator von Westfalen beim zuständigen Ministerium für die Verwendung Wolfs in Westfalen ein, angeblich, weil der dortige Landeshauptmann sich davon eine besondere Berücksichtigung seiner Provinz im Bauernhauswerk erhoffte. Dieser Landeshauptmann als Leiter der Provinzialverwaltung war Karl-Friedrich Kolbow (1899–1945), der ebenso wie der ihm vorgesetzte Oberpräsident der Provinz Westfalen, Ferdinand Freiherr von Lüninck, in konservativer Opposition zur vorherrschenden Parteilinie stand.16 Kolbow war zudem als Vorsitzender des Westfälischen Heimatbundes einer der führenden Vertreter dieser Bewegung, der ja auch Gustav Wolf prominent angehörte, und er versuchte nun offenbar, Wolf vor weiteren Nachstellungen in seinem unmittelbaren Einflussbereich in Sicherheit zu bringen. Dieser wurde dann tatsächlich zum 1. Januar 1938 nach Münster an die Staatliche Fachhochschule für Hoch- und Tiefbau versetzt, dort aber direkt für die Arbeit im Bauernhofbüro freigestellt. 1939 ist Wolf dann zusätzlich zum Leiter des Baupflegeamtes für Westfalen ernannt worden und siedelte auch das Bauernhofbüro dort an.17 Nun begann die praktische Arbeit an den neuen Bänden des Bauernhauswerkes, des „Reichswerks“ gegenüber dem „Altwerk“ von 1906, dessen erster Band über Schleswig-Holstein bereits 1940 erschien18, weitere Bände dann allerdings kriegsbedingt erst nach 1945. Das Bauernhofbüro arbeitete auch mit der „Mittelstelle deutscher Bauernhof“ des Amtes Rosenberg zusammen, wie sich am Auftreten Wolfs als Referent auf deren Tagungen zeigte, und bezog von diesem zwischen 1937 und 1942 auch Zahlungen für die Anfertigung und Überlassung von Bauernhofaufmaßen.19 1943 gab es eine intensive Auseinandersetzung zwischen Wolf und Kulke über die Erfassung von Bauten im Rahmen des Kulturgutschutzes, bei der Wolf sein Modell der intensiven Dokumentation ausgewählter Bauten zugunsten einer Massenerfassung noch erfolgreich verteidigen konnte.20 Der Schlag gegen die konservative Opposition in Westfalen im Sommer 1944 hatte

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die Folge, dass der Schutz durch den Landeshauptmann unwirksam wurde und das Amt Rosenberg endlich auch das Bauernhofbüro vereinnahmen konnte, das aber weiter in Münster blieb. Eine zum Bauernhofbüro in Münster durchaus parallele Entwicklung gab es in Bayern, wo 1935 beim Bayerischen Landesverein für Heimatschutz in München unter Leitung von Rudolf Hoferer die Landesstelle für Bauernhofforschung eingerichtet wurde. Auch ihr Schwerpunkt lag auf der Dokumentation von ländlicher Architektur, im Krieg dann zunehmend auch unter dem Gesichtspunkt des Kulturgutschutzes und ebenfalls in Zusammenarbeit mit der „Mittelstelle deutscher Bauernhof“ des Amtes Rosenberg. Das 1934 gegründete Amt des Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung der NSDAP oder kurz „Überwachungsamt“ unter Leitung von Alfred Rosenberg war während der gesamten NS-Herrschaft mit wechselndem Erfolg bemüht, möglichst weite Felder der Kulturpolitik von Staat und Partei zu bestimmen.21 Im Bereich der Vor- und Frühgeschichte war aber vor allem durch eigene taktische Fehler von Hans Reinerth bereits um 1937 ein Umschwung zu Gunsten des aufstrebenden SS-Ahnenerbes eingetreten.22 Daher versuchte man nun, neue Politikfelder völkischer Forschung zu besetzen, wozu im Rahmen der Volkskunde auch die Hausforschung gehörte, der etwa 30% der Beiträge in Rosenbergs seit 1936 erscheinendem populären Organ Germanen-Erbe teilweise oder ausschließlich gewidmet waren.23 Das Spektrum der hauskundlichen Beiträge war dabei weit gefasst, und einige wenige konnten durchaus sachlich an einer bauhistorischen Befunddarstellung orientiert sein. So beschrieb beispielsweise Menne Helmers in einem Beitrag aus dem Jahre 1939 rein deskriptiv und mit sachgemäßen Zeichnungen gut illustriert den damaligen Forschungsstand zum ostfriesischen Bauernhaus.24 Die Vielschichtigkeit wird aber deutlich, wenn sogar derselbe Autor in einem früheren Beitrag völlig spekulativ argumentierte, indem die sachlich begonnene Darstellung zur Erklärung der Ausformung einer Stützsäule plötzlich auf die „Irminsul“ verwies.25 Ähnlich zwiespältig waren auch viele andere Beiträge. So versuchte etwa der als Holzbauexperte durchaus renommierte Danziger Professor Hermann Phleps in einem Beitrag von 1936 das Theoderich-Grabmal in Ravenna von – so nicht einmal überlieferten und daher in dieser Form erst von ihm erfundenen – nordischen Holzspeichern abzuleiten, was weder im Detail noch im Gesamtergebnis überzeugen konnte, wie der Verfasser selbst zugab.26 Doch auch Carl Schäfer wurde unter den neuen nationalsozialistischen Vorzeichen heftig kritisiert: Das posthume Erscheinen seiner Vorlesungsmitschriften27 im Jahre 1937 nahm Erich Kulke zum Anlass, Schäfer auf der Grundlage neuer Forschungen Gustaf Kossinnas vorzuwerfen, er habe den Kelten zu Ungunsten der Germanen eine viel zu wichtige Rolle bei der Entwicklung verschiedener Holzbauformen zugestanden.28 Häufig wurden im „Germanen-Erbe“ „Sinnbild“-Themen am Haus behandelt.29 Im Fach Vorgeschichte bereits deutlich isoliert, konnte Reinerth 1936 mit dem Kongress „Haus und Hof im nordischen Raum“ in Lübeck noch einen Erfolg auf dem Gebiet

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der archäologischen Hausforschung verbuchen.30 Um hieran anzuknüpfen, schuf Rosenberg in der neuen Arbeitsgemeinschaft für deutsche Volkskunde unter Matthes Ziegler mit der Hauptstelle Volkskunde 1938 die „Mittelstelle deutscher Bauernhof“ (Forschungsstelle deutscher Bauernhof) unter Leitung von Erich Kulke (1907– 1996).31 Kulke hat im März 1938 im Rahmen der ersten von ihm ausgerichteten Bauernhofforschertagungen die Arbeitsgebiete der Mittelstelle umrissen: „1. Entwicklungsgeschichte des germanischen Bauernhofes vom Nordischen, nicht vom römisch-südländischen Standpunkt aus. 2. Herausbildung des Bauernhof-Begriffes im Gegensatz und zur Ergänzung der bisherigen einseitigen Hausforschung […]. 3. Erweiterung der bisher gewonnenen Ergebnisse der germanisch-deutschen Landnahme und der damit verbundenen deutschen Siedlungsgeschichte. 4. Pflege alter wertvoller Bauerngehöfte im Sinne des staatlichen Denkmalsschutzes, da das Bauerngehöft uns einen mindestens genauso bedeutsamen nationalen Gemeinbesitz darstellt, wie Klöster, Schlösser, Kirchen und Burgen. 5. Reinigung und Erneuerung der bäuerlichen Bauweisen. Kampf gegen die bauliche Verstädterung des Dorfes. Herausstellung einer neuen Bauüberlieferung.“32 Die aufgeführten Punkte drei bis fünf hätten auch die Arbeitsgebiete von Gustav Wolf beschreiben können, sodass hier bereits eine mögliche institutionelle Konkurrenz angelegt war. Die Erstellung von Hofdokumentationen durch die Mittelstelle nahm mit Kriegsbeginn deutlich zu, denn jetzt kam noch der Aspekt des Kulturgutschutzes in „luftkriegsbedrohten“ Regionen hinzu. In wechselnden Zusammensetzungen waren nun Aufnahmegruppen teilweise bis Ende 1944 damit beschäftigt, einzelne Häuser und Gebäude bis hin zu ganzen Hofanlagen, aber auch einzelne volkskundlich relevante Belegstücke auf teilweise sehr hohem Niveau zeichnerisch, fotografisch und textlich zu erfassen. Die Bestände der Mittelstelle sind nur bruchstückhaft überliefert; ein Teilbestand der Aufmaße befindet sich heute im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. Erst relativ spät, nämlich 1940, begann auch die Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe der SS, sich in der praktischen Hausforschung zu engagieren. Bereits vorher hatte es Überlegungen gegeben, neben der Archäologie auch die Volkskunde – einschließlich der Hausforschung – in besonderer Weise zu bearbeiten, war aber nicht über Initiativen wie die Unterstützung solcher Laienforscher wie Karl Theodor Weigel (1892–1953) mit seinem „Sinnbildarchiv“, das seit 1937 mit dem Ahnenerbe zusammenarbeitete und schließlich 1943 vollständig übernommen werden sollte, hinausgekommen.33 Nach dem Berliner Abkommen vom Juni 1939 bot sich die Chance, angesichts der geplanten Umsiedlung der deutschen „Optanten“ von Südtirol in das Reich und in die besetzten Ostgebiete deren materiell als genuin ‚deutsch‘ eingestuftes Kulturgut ausführlich zu dokumentieren und damit ein weiteres Feld der Forschung zu besetzen.34 Ursprünglich von der Arbeitsgemeinschaft der Optanten35 angeregt, usurpierte das →SS-Ahnenerbe schnell mit der Kulturkommission der Amtlichen Deutschen Ein- und Rückwandererstelle Bozen (ADERst) die Aufgabe.36 Innerhalb der

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Kommission, die alle Aspekte der kulturellen Überlieferung abzudecken suchte, war die Abteilung „Hausforschung und Bauwesen“ mit zeitweise bis zu 30 Mitarbeitern (Architekten, Zeichner, Fotografen und Schreibkräfte) für die zeichnerische, fotografische und textliche Dokumentation der vermeintlich deutschstämmigen baulichen Überlieferung zuständig.37 Die Arbeiten in den vier Arbeitsgruppen Bozen, Brixen, Bruneck und Meran leitete Martin Rudolph-Greiffenberg. Bearbeitet wurden in erster Linie die aufgegebenen Bauernhöfe und ländlichen Bauten selbst, aber nach einem festen Schema auch deren Ausstattung und Umgebung. Im Vordergrund standen dabei in erster Linie die Holzbauten mit allen nicht eindeutig christlichen Symbolzeichen, während Hofkapellen und Herrgottswinkel bestenfalls randständig behandelt wurden. Bis zum Ende der Dokumentationsarbeiten 1943 entstanden so in dreieinhalb Jahren akribische Aufnahmen von mehreren Tausend Höfen, die an erhaltenen Bauten heute noch nachprüfbar sind.38 Mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Italien nach dem 8. September 1943 wurde die Arbeit der ADERst mit ihren nachgeordneten Dienststellen in Tirol eingestellt.39 Allerdings bedeutete dies keineswegs das endgültige Ende von deutscher Hausforschung in Italien, denn die Mittelstelle „Deutscher Bauernhof“ schickte noch Ende März 1944 eine Forschungsgruppe mit Justinus Bendermacher zur Aufnahme vermeintlich germanisch beeinflusster Steildachhäuser nördlich von Verona und bei Padua, die dort bis Juli 1944 tätig war.40 Wie beim Ahnenerbe mischte sich auch hier wiederum die völkische Fragestellung mit technisch hervorragender Dokumentationsarbeit.41 Damit hatte es das konkurrierende Amt Rosenberg letztlich sogar erreicht, zusätzlich zum Ahnenerbe und vor allem länger als dieses in der Hausforschung in Italien tätig zu sein. An den Universitäten erlangte die Volkskunde im Dritten Reich als legitimatorische Forschung einen großen Stellenwert für das Regime, auch hier unterteilt in eine „braune“ (des Amtes Rosenberg) und „schwarze“ (des SS-Ahnenerbes) Volkskunde. Hausforschung hatte dabei über die beschriebenen Dokumentationsarbeiten hinaus allerdings keine große Bedeutung, existierten doch auch in der Volkskunde wesentlich besser nutzbar zu machende Arbeitsbereiche. Dennoch gab es Lehrstuhlinhaber, die sich auch dieses Themas regimekonform annahmen, wie Bruno Schier in Leipzig, und Bernhard Martin (1889–1983) in Marburg/Lahn. In Österreich verlor dagegen der nationalkonservative, in der →Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft aktive Hausforscher Viktor von Geramb (1884–1958) wegen seines Katholizismus 1938/39 auf Betreiben Rosenbergs die Grazer Professur.42 Nach 1945 blieb Gustav Wolf bis zu seiner Pensionierung 1952 Landesbaupfleger von Westfalen. Er wurde 1950 Vorsitzender des aus Volkskundlern und Architekten ein Jahr zuvor gegründeten Verbandes Deutscher Arbeitskreis für Hausforschung (AHF).43 Wie er selbst, waren nun die Personen tonangebend, die die vorgegebene völkisch bestimmte Forschungslinie der NS-Zeit nicht in erster Reihe mitgemacht hatten, wenngleich sich im Verband auch wieder Personen wie Kulke und Schier fanden; letzterer leitete von 1955 bis 1964 den Arbeitskreis auch als Vorsitzender.

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Bis in die 1970er Jahre lagen nun oft Vorstand und immer die Geschäftsführung des AHF beim Baupflegeamt für Westfalen, das bis 1961 für die Fortsetzung des Bauernhofwerkes mit unterschiedlichen Verlagsorten sorgte und dann die Herausgabe der Aufmaße aus dem Archiv des Bauernhofbüros in Form der „Aufmaßhefte“ initiierte.44 Neben der weitergeführten, nur noch bei näherem Hinsehen völkischen Stammes- und Kulturraumforschung trat nun aber inhaltlich für die nächsten Jahrzehnte vor allem auch eine eher technisch ausgerichtete Gefügeforschung, für die Josef Schepers und Gerhard Eitzen standen; das Scheitern eines jahrelang mit erheblichem Aufwand betriebenen Projektes eines Handbuches der Hausforschung war letztlich vor allem auf die weiterhin divergierenden Ansätze im Verband zurückzuführen. Die wieder aufgelebte Schwerpunktbildung Bauernhausforschung hatte allerdings zur Folge, dass die umfangreiche Reihe Das deutsche Bürgerhaus seit 1959 durch Architekten und Bauhistoriker ohne Beteiligung des AHF herausgegeben wurde.45 In den 1970er Jahren sorgte die damalige Neuorientierung der Volkskunde als Kulturwissenschaft auch für neue sozialwissenschaftlich fundierte Fragestellungen in der Hausforschung, die allerdings durch die nachfolgende Abwendung der akademischen Forschung von allen Aspekten der Sachvolkskunde dort nur begrenzt zum Tragen kommen konnte.46 Der AHF hat sich in den vergangenen zehn Jahren im Bewusstsein seiner Entstehungsgeschichte engagiert gegen jedes wieder zu beobachtende Wiederaufleben völkischer Interpretationen in der Hausforschung gewandt. Gleichzeitig wurde vor allem seit dem 50-jährigen Jubiläum des Verbandes im Jahre 2000 die Geschichte des Faches und seiner Institutionen umfassend aufgearbeitet.47 Hausforschung ist heute nach der Abwendung der Volkskunde von der Sachgüterforschung vor allem noch im Bereich der Freilichtmuseen zu finden, ansonsten aber weitgehend von der objektunabhängigeren Bauforschung abgelöst worden.

Ulrich Klein

1 Georg Landau, Der Hausbau, Beilagen zum Correspondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine 1857/58–1862. 2 Ulrich Klein, Ludwig Bickell und der Holzbau, in: Ludwig Bickell (1838–1901). Ein Denkmalpfleger der Ersten Stunde, Wiesbaden u.a. 2005, S. 313–340, 320ff.; Correspondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine 27 (1879) mit verschiedenen Berichten zu den Sitzungen 1878 in Marburg. 3 Hermann Cuno, Die Gefährdung der Denkmäler der Holzarchitektur des Mittelalters und der Renaissance-Periode, in: Zeitschrift für Baukunde 4 (1881), Sp. 3–8; Die Holzarchitektur Deutschlands vom XIV. bis XVIII. Jahrhundert, hg. vom Verband deutscher Architekten- und Ingenieurvereine und dem Gesamtvereine der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine unter Leitung von C. Schaefer, Berlin 1883–1888; Das Bauernhaus im deutschen Reich und seinen Grenzgebieten, Dresden 1906.

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4 Zur Biographie Carl Schäfers siehe Jutta Schuchard, Carl Schäfer 1844–1908. Leben und Werk des Architekten der Neugotik, München 1979; August Meitzen, Siedlung und Agrarwesen der West- und Ostgermanen, der Kelten, Römer, Finnen und Slawen, Berlin 1895. 5 Bartel Hanftmann, Hessische Holzbauten, Marburg 1907; Philipp Stauff, Runenhäuser, Berlin 1913. 6 Eine „Voranzeige“ von 1911 nennt dann konkret fünf regionale Bände mit insgesamt 390 Tafeln; Elsaß-Lothringen sollte zusammen mit Hessen und Baden im IV. Band (Süddeutschland II) mit 88 Tafeln behandelt werden. Vgl. Das Deutsche Bürgerhaus, seine Aufnahme und Veröffentlichung durch den Verband Deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine, in: Deutsche Bauzeitung XLV (1911) 74, S. 637–644; mit den Bänden: Ludwig Burgemeister, Das Bürgerhaus in Schlesien, Bd. 1 Berlin 1920; Karl Staatsmann, Das Bürgerhaus im Elsaß, Bd. 2 Berlin 1925; Hans Vogts, Das Bürgerhaus in der Rheinprovinz, Bd. 3 Düsseldorf 1929. 7 Franz Steinbach, Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte, Jena 1926; ders., Das Bauernhaus der westdeutschen Grenzlande, in: RhVbl 1931, S. 26–47. 8 Liesel Meixner, Das rheinische Bauernhaus nach dem heutigen Stand der Forschung, in: Festschrift für Otto Behagel, Heidelberg 1934, S. 511–530. 9 Bruno Schier, Hauslandschaften und Kulturbewegungen im östlichen Mitteleuropa, Reichenberg 1932. 10 Vgl. Siegfried Becker, Bernhard Martin und die deutsche Volkskunde in Marburg 1934–1945, in: Kai Köhler (Hg. u.a.), Germanistik und Kunstwissenschaften im „Dritten Reich“. Marburger Entwicklungen 1920–1950, München 2005, S. 99–141, 126–132. 11 Michael A. Hartenstein, Neue Dorflandschaften. Nationalsozialistische Siedlungsplanung in den ‚eingegliederten Ostgebieten‘ 1939 bis 1944, Berlin 1998. 12 Vgl. Klaus Freckmann, Hausforschung im Dritten Reich, in: Zeitschrift für Volkskunde (1992) 2, S. 169–186; Kurt Alexander Sommer, Bauernhof-Bibliographie, Leipzig 1944. 13 LWL-Archiv Münster 710/382. 14 Zu Gustav Wolf vgl. Martin Neitzke, Gustav Wolf. Bauen für das Leben. Neues Wohnen zwischen Tradition und Moderne, Berlin 1993. 15 Vgl. Die schöne deutsche Stadt: Gustav Wolf, Mitteldeutschland, München 1911; ders., Süddeutschland, München 1912; ders., Norddeutschland, München 1913. Seit 1918 folgten Bände zum deutschen Dorf. 16 Bernd Walter, Karl-Friedrich Kolbow (1899–1945), in: Westfälische Lebensbilder Band 17, Münster 2005; Ekkehard Klausa, Vom Bündnispartner zum „Hochverräter“. Der Weg des konservativen Widerstandskämpfers Ferdinand von Lüninck, in: Westfälische Forschungen 43 (1993), S. 530–571. Lüninck ist auf Betreiben Görings bereits 1938 als Oberpräsident abgesetzt und 1944 in Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli hingerichtet worden; Kolbow wurde im Sommer 1944 abgesetzt und konnte einem ähnlichen Schicksal nur knapp entgehen. 17 Zur Entwicklung des Bauernhofbüros siehe den Berichts Wolfs vom 23.8.1945 in LWL-Archiv Münster 710/396 mit Hinweis auf die Erhaltung der ausgelagerten Dokumentationsunterlagen angesichts der Zerstörung der Dienststelle. 18 Klaus Freckmann, Zur Foto- und Plandokumentation in der Hausforschung der 30er und 40er Jahre. Das Beispiel des ehemaligen „Bauernhofbüros“ Berlin/Münster, in: Zeitschrift für Volkskunde (1985) I; Gustav Wolf, Schleswig-Holstein, Berlin 1940. 19 Erich Kulke (Bearb.), Vom deutschen Bauernhof. Vorträge der ersten Arbeitstagung des „Mittelstelle deutscher Bauernhof“ in der Arbeitsgemeinschaft für Deutsche Volkskunde, München (1938), S. 58–77. Der Band erschien im Hoheneichen-Verlag, ein Verlagstitel des Eher-Verlages der NSDAP, den vor allem das Amt Rosenberg nutzte. Vgl. BArch, NS 21/281 und RFR. 20 Freckmann, Hausforschung im Dritten Reich, S. 180.

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21 Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 20062; die erhaltenen Akten, inzwischen durch verschiedene Zuläufe ein weitaus größerer Bestand als zu Zeiten der Bearbeitung durch Bollmus, finden sich in BArch, NS 15. 22 Michael H. Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945: Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, München 20013. Das zu seiner Zeit bahnbrechende Werk von Kater muss heute durch neuere Forschungen in weiten Teilen als überholt gelten; dabei hat sich herausgestellt, dass er ebenso wie Bollmus auch an vielen Stellen durch die interviewten Zeitzeugen aus dem ehemaligen Ahnenerbe bewusst falsch informiert wurde. 23 Vgl. die Tagungspublikation Helge Gerndt (Hg.), Volkskunde und Nationalsozialismus. München 1987; Ulrich Klein, Hausforschung und Archäologie in der Zeitschrift „Germanenerbe“, in: Uwe Puschner u.a., Völkisch und national: zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 65–82. 24 Menne Helmers, Das ostfriesische Bauernhaus, ein Hallen- und Ständerbau, in: Germanen-Erbe 4 (1939), S. 49ff. 25 Ders., Der Kreuzbaum im niedersächsischen Bauernhaus, ein heiliger Baum oder eine heilige Säule, in: Germanen-Erbe 3 (1938), S. 48ff. 26 Hermann Phleps, Das Theoderich-Grabmal in Ravenna vom Norden aus gesehen, in: GermanenErbe 1 (1936), S. 41ff. 27 Karl Schäfer, Deutsche Holzbaukunst. Die Grundlagen der deutschen Holzbauweisen in ihrer konstruktiven und formalen Folge, hg. v. Paul Kanold, Hannover 1937. 28 Erich Kulke, Der „keltische“ Holzbaustil am oberdeutschen Bauernhaus, in: Germanen-Erbe 3 (1938), S. 368ff. 29 Karl Theodor Weigel, Giebelzeichen und Sinnbilder, in: Germanen-Erbe 1 (1936), S. 122f.; zu Weigel siehe Ulrich Nußbeck, Karl Theodor Weigel und das Göttinger Sinnbildarchiv: Eine Karriere im Dritten Reich, Göttingen 1993. 30 Hans Reinerth (Hg.), Haus und Hof der Germanen in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, Leipzig 1937; Ernst-Otto Thiele (Hg.), Haus und Hof der Germanen in geschichtlicher Zeit, Leipzig 1937; Germanen-Erbe 1 (1936), S. 89ff. 31 Vgl. BArch, NS 8/245; ebd., 2501/22185. 32 Kulke (Bearb.), Vom deutschen Bauernhof, S. 18. 33 Nußbeck, Karl Theodor Weigel und das Göttinger Sinnbildarchiv. 34 Vgl. BArch, Sonderakte 0.8262, Anordnung 12/II Himmlers vom 2.1.1940, Bl. 171ff., nach der der Kulturkommission des Ahnenerbes „allein die Feststellung, Aufnahme und Bearbeitung des gesamten kulturellen und kulturhistorisch wichtigen Besitzes der Umsiedler und des sonstigen für die Umsiedlung in Betracht kommenden Kulturgutes dinglicher und geistiger Art“ zustand. 35 Nach grundlegenden Meinungsverschiedenheiten über die Vorgehensweise wurde die eigentlich geplante Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft schnell wieder eingestellt, sodass manche Objekte nun sogar konkurrierend dokumentiert wurden; tatsächlich erwies sich die Methodik des Ahnenerbes auch nach heutigen Kriterien als weitaus moderner und im Ergebnis deutlich überlegen. 36 Vgl. BArch, NS 21/216; die „Aderst“ war Himmler als Reichskommissar unterstellt; nach dem Organisationserlass Himmlers als Reichskommissar vom 1. Januar 1941 in: ebd., Sonderakte 0.8262, Bl. 171ff. war die Aderst gegenüber der Arbeitsgemeinschaft der Optanten bis auf deren innere Angelegenheiten weisungsbefugt. Die Kulturkommission sollte in ihrem definierten Aufgabenbereich alleine weisungsbefugt sein. 37 Helmut Stampfer, Bauernhausdokumentation in Südtirol, in: AHF (Hg.), Hausbau im Alpenraum. Bohlenstuben und Innenräume, Marburg 2002, S. 353–359.

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38 Die Archivalien dieser Abteilung sind weitgehend erhalten, die Organisationsakten im BArch, NS 21 und die eigentlichen Dokumentationsmaterialien im Landesdenkmalamt Bozen, wo sie Helmut Stampfer in den 1970er Jahren aus Privatbesitz und den Depots des Bozner Stadtmuseums und des (Nord-)Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum zusammengetragen hatte (vgl. zur Überlieferungsgeschichte des Bestandes Stampfer, Bauernhausdokumentation in Südtirol, S. 357f.) Auf dieser Grundlage entstand eine bislang achtbändige Veröffentlichungsreihe: Helmut Stampfer (Hg.), Bauernhöfe in Südtirol, Bestandsaufnahmen 1940–1943, Bozen 1990ff.; vgl. Klaus Freckmann, Rezension Bauernhöfe in Südtirol, in: Der Schlern 88 (2015) 7, S. 61f. 39 Margareth Lun, NS-Herrschaft in Südtirol. Die Operationszone Alpenvorland 1943–1945, Innsbruck 2004. 40 Freckmann, Hausforschung im Dritten Reich, S. 183ff. Das Aufmaßteam der TH Aachen sollte eigentlich in Transnistrien unmittelbar östlich des Dnjestr Bauernhöfe dorthin ausgewanderter deutscher Kolonisten aufnehmen, wurde aber dann wegen des Vorrückens der Front kurzfristig nach Italien umgeleitet. 41 Im privaten Nachlass von Justinus Bendermacher, der die Kopien unmittelbar nach Kriegsende in Aachen sicherstellen konnte. Die an Berlin abgelieferten Originale müssen dagegen „in einer Mühle an der unteren Oder“ als verschollen gelten. 42 Vgl. Hansjost Lixfeld, Rosenbergs „braune“ und Himmlers „schwarze“ Volkskunde im Kampf um die Vorherrschaft, in: Wolfgang Jacobeit (Hg. u.a.), Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien 1994, S. 255–269; Siegfried Becker, Bernhard Martin und die deutsche Volkskunde in Marburg 1934– 1945, in: Kai Köhler (Hg. u.a.), Germanistik und Kunstwissenschaften im „Dritten Reich“. Marburger Entwicklungen 1920–1950, München 2005, S. 99–141. 43 Klaus Freckmann, 50 Jahre Arbeitskreis für Hausforschung, Ms. 2000. 44 Das Baupflegeamt in Westfalen existierte unter verschiedenen Namen bis zum Jahre 2011 und wurde dann erst mit der Denkmalfachbehörde des LWL verschmolzen. Vgl. die Reihe Haus und Hof deutscher Bauern: Hermann Schilli, Das Schwarzwaldhaus, Stuttgart 1953; Josef Schepers, Westfalen-Lippe, Münster 1960; Heinrich Götzger u.a., Das Bauernhaus in Bayerisch Schwaben, München 1960; Johann Ulrich Folkers, Mecklenburg, Münster 1961; Otto Gruber, Bauernhäuser am Bodensee, Konstanz u.a. 1961. Zwischen 1959 und 1982 sind insgesamt 19 nach Landschaften gegliederte Hefte erschienen. Im Jahre 2015 erschien eine kritische Aufarbeitung zu den vier Heften „Sachsen“ der Bauernhofaufmaße mit Plänen aus den Jahren 1941–1943 unter dem Titel: Klaus Freckmann u.a., Ländlicher Hausbau in Sachsen. Eine wissenschaftshistorische Studie, Dresden 2015. 45 Adolf Bernt, Deutsche Bürgerhausforschung, in: Festschrift für Günther Wasmuth zum achtzigsten Geburtstag, Tübingen 1968, S. 101–112. 46 Konrad Bedal, Historische Hausforschung. Eine Einführung in Arbeitsweise, Begriffe und Literatur, Bad Windsheim 19932. 47 G. Ulrich Großmann, Völkisch und national – der „Beitrag“ der Hausforschung: zum Wiederaufleben der Runenkunde des SS-Ahnenerbes, in: Uwe Puschner u.a., Völkisch und national: zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 31–64; vgl. vor allem die zitierten Arbeiten von Klaus Freckmann, dem langjährigen Geschäftsführer des AHF.

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Judenforschung Als „Erforschung der Judenfrage“ oder „Judenforschung“ werden die geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Arbeiten bezeichnet, die während der nationalsozialistischen Herrschaft von nichtjüdischen Wissenschaftlern betrieben wurden und sich aus explizit antisemitischer Perspektive mit der Geschichte des Judentums und der sogenannten „Judenfrage“ beschäftigten. Die Bezeichnung als „Erforschung der Judenfrage“ war zwar üblicher, doch avancierte die Kurzform „Judenforschung“ bereits im NS-Staat zum Schlagwort und auch zum Begriff für die Benennung entsprechender Institutionen.1 „Judenforschung“ versuchte sich im Dritten Reich mit einer Reihe von Instituten, Veröffentlichungsorganen und Veranstaltungen sowie nicht zuletzt der distinkten Bezeichnung als eigenständiges Forschungsfeld über die traditionellen Fachgrenzen hinweg zu formieren und zu etablieren. „Judenforschung“ ist insofern keineswegs mit naturwissenschaftlich grundierter Rassenkunde oder Anthropologie identisch, wenn auch rassekundliche oder anthropologische Arbeiten zum Judentum in ihrem Rahmen stattfanden und enge Verbindungen zu Rasseanthropologie und -biologie bestanden. Vielmehr arbeiteten unter dieser Überschrift Historiker, Theologen, Philosophen, Literaturwissenschaftler und Juristen neben- und fallweise auch miteinander an Fragestellungen der Politik-, Sozial- und Rechtsgeschichte, der Religions-, Literatur- und Geistesgeschichte. Jenseits der Rassenkunde stellt sie vermutlich den markantesten Schnittpunkt von Wissenschaft und antisemitischer Propaganda sowie nationalsozialistischer Ideologie und antijüdischer Politik in ihrer Praxis von der Ausgrenzung über die Vertreibung bis zum Massenmord dar. In der NS-Judenforschung wurde der →Antisemitismus zum erkenntnisleitenden Prinzip erhoben, die jeweils bereits antisemitisch konstruierte „Judenfrage“ zum Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Interesses und zum Fokus der Forschungstätigkeit. Entgegen der Tradition der deutschen Geschichtswissenschaft – vor wie nach dem Zweiten Weltkrieg – Themen (deutsch-)jüdischer Geschichte auszublenden, wurden diese damit während der NS-Zeit durchaus für erforschungswürdig gehalten.2 Parallel zur Vertreibung und Ermordung des europäischen Judentums fand so eine Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte aus nationalsozialistisch-antisemitischer Perspektive statt – wobei diese Auseinandersetzung, obwohl auf die antisemitische „Judenfrage“ fokussiert, offensichtlich über die Erfordernisse der Propaganda zur Rechtfertigung der antijüdischen Politik auf der einen Seite und der Politik zu ihrer Implementierung auf der anderen Seite hinausging. Mit der NS-Judenforschung beginnt zwar nicht die wissenschaftliche Beschäftigung mit jüdischer Geschichte in Deutschland, doch gerade sie stellt ihre erste deutliche Verankerung in der akademischen Landschaft dar. Die Zwangsintegration jüdischer Geschichte in die deutsche Geschichte wurde von denen durchgeführt, die gleichzeitig eine antijüdische Politik legitimierten und betrieben. Die Institutionalisierung der Erforschung jüdischer Geschichte findet in Deutschland geradezu komplementär zur Ver-

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treibung und Ermordung des deutschen und des europäischen Judentums statt.3 Innerhalb kurzer Zeit kam es im Dritten Reich zu einer regelrechten Gründungswelle von Einrichtungen zur „Judenforschung“. Verschiedene Ämter und Akteure versuchten, kooperierend und konkurrierend, diese als historisch fundierten, transdisziplinär ausgerichteten geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschungszusammenhang über die traditionellen Fachgrenzen hinweg zu konstituieren und auf diesem Feld präsent zu sein. Bereits 1935 wurde in Berlin das „Institut zum Studium der Judenfrage“ gegründet, das ab 1939 als „Antisemitische Aktion“ und ab 1942 als „Antijüdische Aktion“ fungierte. Tatsächlich handelte es sich dabei um eine Abteilung des Reichspropagandaministeriums, wobei diese Verbindung aber zur Wahrung des Anscheins eines unabhängigen wissenschaftlichen Forschungsinstituts in der Öffentlichkeit verdeckt gehalten wurde. Trotz des nach außen getragenen Anspruchs galt das Institut intern als „Propagandainstitut, das sich bemüht, die Judenfrage auf möglichst sachlich-konkreter Basis zu erfassen und propagandistisch in Deutschland und im Ausland auszuwerten.“4 Für die wissenschaftliche „Judenforschung“ im Dritten Reich hatte es dementsprechend nur geringe Bedeutung. Das Veröffentlichungsorgan des Instituts, die „Mitteilungen über die Judenfrage“, berichtete über die angebliche Wirksamkeit des Judentums im nationalen und internationalen wirtschaftlichen, politischen und geistigen Leben, den wachsenden Antisemitismus in der Welt und über die antijüdische Politik im Deutschen Reich sowie später in den besetzten und verbündeten Ländern. 1936 wurde dann in München mit der „→Forschungsabteilung Judenfrage“ des „Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands“ eine der bedeutendsten und produktivsten Einrichtungen der NS-Judenforschung gegründet.5 Das in Berlin beheimatete Reichsinstitut sollte die Historische Reichskommission ersetzen und war neben dem „→Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichte“ für die Geschichtsforschung über die Neuzeit, vor allem seit der Französischen Revolution, zuständig. Nach dem Willen seines Präsidenten, des Historikers →Walter Frank (1905–1945), sollte es zum Zentrum einer neu gestalteten, nationalsozialistisch-antisemitischen Geschichtswissenschaft werden. Die Forschungsabteilung wurde formell von dem Münchner Ordinarius für deutsche Geschichte, →Karl Alexander von Müller (1882– 1964), geleitet, tatsächlich führte die Geschäfte aber sein Schüler, der Historiker →Wilhelm Grau (1910–2000), der sich mit einer bereits im Februar 1933 fertiggestellten Dissertation über das Ende der Regensburger jüdischen Gemeinde 1519 profiliert hatte und als Vorreiter einer nicht-jüdischen deutschen und antisemitisch grundierten „Judenforschung“ präsentiert und wahrgenommen wurde.6 Nach dem Ausschluss Graus aus dem Reichsinstitut auf Grund von Spannungen zwischen ihm und Walter Frank, die nicht zuletzt deshalb entstanden, weil die „Judenforschung“ im Reichsinstitut dessen andere Arbeitsbereiche in der Öffentlichkeit zunehmend in den Hintergrund drängte, wurde die Abteilung 1938 organisatorisch zurückgestuft. Mit ihren Jahrestagungen und Publikationen, mit den „Forschungen zur Judenfra-

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ge“ und den „Schriften des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands“, blieb sie aber auch darüber hinaus ein wesentlicher Kristallisationspunkt des gesamten Feldes. In Konkurrenz zu den Aktivitäten an Franks Reichsinstitut wurde im März 1941 in Frankfurt am Main das „→Institut zur Erforschung“ der Judenfrage eröffnet, das bereits 1939 formell gegründet worden war.7 Die Leitung übernahm auch hier nach seiner Trennung von Walter Frank und dem Reichsinstitut zunächst wieder Wilhelm Grau. Ihm folgte Klaus Schickert nach, der 1937 mit einer Arbeit über die „Judenfrage“ in Ungarn in München promoviert worden war. Das Institut war die erste realisierte Außenstelle von Rosenbergs für die Zeit nach dem Krieg geplanter nationalsozialistischer Alternativuniversität, der „Hohen Schule“, und baute auf der Hebraica-Sammlung der Frankfurter Stadtbibliothek auf. Bei seiner Gründung verbanden sich Alfred Rosenbergs Interessen mit denen des Frankfurter Oberbürgermeisters. Rosenbergs Dienststelle verfügte weder über ein Referat für Rassenkunde noch für die “Judenfrage“, obwohl er sich selbst immer wieder mit diesen Themen beschäftigt hatte. Zudem war Walter Frank, der ursprünglich von Rosenberg gefördert worden war, zu diesem inzwischen auf Distanz gegangen. Die Stadt Frankfurt wollte sich währenddessen ein nationalsozialistisches Profil geben und ihre Vergangenheit als „Stadt der Juden und Demokraten“ kompensieren. Trotz seiner späten Gründung gelang es dem Institut noch, eine entscheidende Bedeutung zu gewinnen, vor allem auch durch seine Verbindung zum „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“, die es zu einem Nutznießer der europaweiten Raubpolitik des Dritten Reichs werden ließ. Zum Zeitpunkt einer inzwischen weit fortgeschrittenen, radikalisierten antijüdischen Politik, die kurz vor dem Überfall auf die Sowjetunion unmittelbar vor dem Beginn des systematischen Massenmords am europäischen Judentum stand, gab es der „Judenforschung“ einen neuen Anstoß und provozierte unter gänzlich veränderten politischen Rahmenbedingungen, als sie zur Einweihung der Forschungsabteilung des Reichsinstituts bestanden, noch einmal grundsätzliche und konzeptionelle Überlegungen.8 Das Publikationsorgan des Frankfurter Instituts, „Weltkampf“, veröffentlichte neben Aufsätzen unter dem Titel „Politisches Tagebuch“ auch Nachrichten über die in Deutschland und den besetzten Gebieten ergriffenen antijüdischen Maßnahmen. In Eisenach wurde 1939 unter der Leitung des protestantischen Theologen Walter Grundmann (1906–1976) das “→Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ gegründet, dessen Aufgabe darin bestand, Christentum und nationalsozialistische Rassenlehre in Übereinstimmung miteinander zu bringen und das Neue Testament von jeder Bezugnahme auf das Alte Testament zu befreien.9 Im Zweiten Weltkrieg wurde mit der deutschen Expansion nicht nur die antijüdische Politik exportiert und in den besetzten und verbündeten Ländern implementiert, sondern auch die „Judenforschung“ und ihre Institutionen. Am →Institut für Deutsche Ostarbeit (IDO), das 1940 in Krakau als Zentralstelle für die deutsche wis-

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senschaftliche Arbeit im Generalgouvernement gegründet wurde, richtete man innerhalb der Sektion Rassen- und Volkstumsforschung ein allerdings weisungsfreies „Referat Judenforschung“ ein, dessen Leitung der Osteuropahistoriker Josef Sommerfeldt übernahm, der 1942 in Berlin mit einer Arbeit über die „Judenfrage als Verwaltungsproblem in Südpreußen“ promovierte. Es sollte auch für das Frankfurter Institut die Forschungen auf dem Gebiet des Generalgouvernements abwickeln.10 In Paris wurde 1941 das Institut d’Études des Questions Juives gegründet, an dem französische Wissenschaftler unter Leitung von René Gérard, dann Paul Sézille und später des Anthropologen Georges Montandon (dann als Institut d’Études des Questions Juives et Ethno-Raciales) arbeiteten. Das Institut stand unter dem Einfluß von Theodor Dannecker (1913–1945), dem Leiter der Pariser Außenstelle von Eichmanns RSHA-Referat IV B 4, und hatte vor allem die Förderung antijüdischer Propaganda im besetzten Frankreich zum Zweck. Weitere Institutionen der „Judenforschung“ wurden 1942/43 in Mailand, Florenz, Triest und Bologna und 1943 in Budapest eingerichtet.11 Auch im Zusammenhang mit sicherheitspolizeilicher Tätigkeit wurde mit wissenschaftlichem Anspruch über „rassische“ und weltanschauliche Gegner und damit unter anderem über Juden geforscht („Gegnerforschung“).12 Das Amt VII des Reichssicherheitshauptamts ging aus Planungen von →Franz Alfred Six (1909–1975) hervor und war für „Weltanschauliche Forschung und Auswertung“ zuständig. Es baute unter anderem auf die Tätigkeit des Referats II 112 des SD-Hauptamts auf und stellte damit eine institutionelle Verknüpfung von Vernichtungsapparat und Wissenschaft dar. 1941/42 wurde die Arbeit des als VII B 1 b für das Judentum zuständigen Referats als die eines „wissenschaftlichen Nachrichtendienstes“ gekennzeichnet, „der unmittelbar in der Gegenwart steht, aber in gewissen Fällen auch auf historische Erkenntnisse zurückgreift.“13 Auch die polizeiliche Praxis und Exekution eines eindeutigen Freund-Feind-Schemas bedurften im Dritten Reich, zumindest dem Anschein nach, der wissenschaftlichen Vertiefung und der Absicherung durch historische Erkenntnisse. Trotz ihrer vornehmlich außeruniversitären Verankerung stellte die NS-Judenforschung keinesfalls einen isolierten Forschungszweig dar, sondern war institutionell, personell und inhaltlich vollständig in die akademische Wissenschaftslandschaft ihrer Zeit eingebettet. So gelang es ihr auch beispielsweise von 1936 bis 1938 und von 1940 bis 1943 durch die Forschungsabteilung des Reichsinstituts mit einer ständigen Rubrik in der renommierten Historischen Zeitschrift und damit im zentralen Organ der deutschen Geschichtswissenschaft präsent zu sein („Zur Geschichte der Judenfrage“). An den Universitäten selbst wurden in verschiedenen Fachbereichen einschlägige Dissertationen verfasst. Für die Jahre 1939 bis 1942 wurden reichsweit insgesamt 32 „deutsche“ und somit im nationalsozialistischen Verständnis wie auch dem der „Judenforschung“ von nicht-jüdischen Studenten verfasste Dissertationen aufgeführt, die das Thema bereits im Titel tragen.14 Darunter finden sich Untersuchun-

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gen zur „Judenfrage“ in verschiedenen Ländern (Hans Schuster über Rumänien, Diss. jur. Leipzig 1939), zur „Entwicklung der Rechtseinheit des Ghettos im Rahmen des Judenrechts des deutschen Mittelalters“ (Kurt Hoenig, Diss. jur. Münster 1942), zu „Judengestalten auf der deutschen Bühne“ (Elisabeth Frenzel, Diss. phil. Berlin 1942), zur „Judenpolitik der fränkisch-deutschen König und Kaiser“ (Diss. phil. Jena 1941) oder zu „judengegnerischen Strömungen im deutschen Katholizismus“ (Fritz Schmidt-Clausing, Diss. theol. Jena 1942). An einigen Universitäten wurde über die Vergabe von entsprechenden Lehraufträgen hinaus die Einrichtung von Lehrstühlen versucht: so in Tübingen (Versuch der „Errichtung einer außerordentlichen Professur zur Erforschung des Judentums“ in der Philosophischen Fakultät für den Orientalisten Karl Georg Kuhn, 1940–43), Wien (Versuch der Errichtung eines „Extraordinariats für die Kunde des Judentums“ bzw. „die Erforschung der geistigen Grundlagen des Judentums“ als Teil des orientalischen Instituts für Gerhard Kittel, 1940–42), Berlin (Versuch der Einrichtung einer „Professur für Erforschung der Judenfrage“ in der Philosophischen Fakultät für den K. G. Kuhn, 1939) und Frankfurt (Genehmigung der Errichtung eines „Lehrstuhls für Judenkunde“ für K. G. Kuhn, 1944).15 Vor allem an der außeruniversitär institutionalisierten „Judenforschung“ lassen sich Formen und Richtungen der Radikalisierung beobachten: Wurde zunächst, ganz im Sinne der Nürnberger Gesetze, eine „reinliche Scheidung“ und somit eine konsequente Diskriminierung und Ausgrenzung der Juden durch historische Vorbilder gerechtfertigt und propagiert (zum Beispiel bei der Gründung der Münchner Forschungsabteilung des Reichsinstituts 1936), verschob sich der Fokus mit der Zeit auf Vertreibungslösungen (bei der Eröffnung des Frankfurter Instituts 1941), durch deren beständige rhetorische Verschärfung letztlich der vom Regime realisierte systematische Massenmord nahegelegt wurde, ohne dass dieser explizit in den Texten angesprochen worden wäre. Daneben fällt eine wesentlich deutlichere und gewalttätigere Sprache bei den „Judenforschern“ auf, die in unmittelbarer Nähe zu den Orten des systematischen Massenmordens gearbeitet haben, namentlich bei Josef Sommerfeldt am IDO in Krakau.16 Die institutionalisierte „Judenforschung“ nahm über die propagandistische Begleitung und wissenschaftliche Legitimation hinaus auch unmittelbar an den Massenverbrechen des NS-Regimes Anteil: Sie profitierte maßgeblich von der europaweiten Beschlagnahmung jüdischer Bibliotheken und Archive, die auch unter Beteiligung von „Judenforschern“ wie Johannes Pohl (1904–1960) und Wilhelm Grau durchgeführt wurde. Die einschlägige Literatur wurde dabei den verschiedenen Instituten für ihre Arbeit zugeführt. Als es im Zuge der Umsetzung der antijüdischen Politik in den besetzten und verbündeten Ländern zu Unklarheiten über den Status von bestimmten Personengruppen als im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie „jüdisch“ oder „nichtjüdisch“ kam, wurde die Expertise verschiedener „Judenforscher“ eingeholt. Die Sepharden in Frankreich behaupteten, sie seien – im Gegensatz zu aschkenasischen Juden – „rassisch“ keine Juden, sondern „Ario-Lateiner

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mosaischen Glauben“.17 Wilhelm Grau argumentierte in diesem Fall gegen eine Ausnahmestellung.18 Auch in den Niederlanden war der Status der „portugiesischen Juden“ unklar.19 In Frankreich wurde zudem versucht, für „Iraner mosaischen Bekenntnisses“ einen Ausnahmestatus zu erreichen, weil sie „blutmäßig nicht Juden, sondern nicht-jüdischer iranischer Abstammung“ seien. Die gleiche Frage stellte sich für „mosaische Georgier und Afghanen“.20 Die Einschätzungen der antijüdischen Fachleute gingen dabei weit auseinander und reichten von einer Zustimmung zur Einbindung in die antijüdische Politik bis hin zur Rechtfertigung von Ausnahmen.21 Durch die Mitwirkung bei der Definition nahmen die „Judenforscher“ jedoch in jedem Falle unmittelbar am Diskriminierungs- und Deportationsprozess im besetzten Ausland teil. Trotz umfangreicher Aktivitäten in den zwölf Jahren des Dritten Reichs, der Einrichtung mehrerer eigenständiger Forschungsinstitute, deren Forschungstätigkeiten und Veranstaltungen, der an den Universitäten entstandenen Arbeiten und der zahlreichen Publikationen kam die NS-Judenforschung über die Aufbauphase nicht hinaus. Bereits kurze Zeit nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde versucht, ein neues Forschungsfeld zu formieren, womit ein Prozess in Gang gesetzt wurde, der auf Grund des für das NS-System typischen Konkurrenzdrucks tatsächlich eine beachtliche Dynamik entwickelte, aber eben deshalb auch bis 1945 keine festen Strukturen oder Umrisse herausbilden konnte. Auch hier lässt sich der im NS-Staat allgegenwärtige Zentralisierungsdrang beobachten, der sich immer nur als Anspruch artikulierte, in der Praxis aber nie realisiert werden konnte. Das Frankfurter Institut versuchte sich zwar den Status einer „Zentralstelle des Reiches“ als „Reichsinstitut zur Erforschung der Judenfrage“ zu sichern, gleichzeitig hielt Walter Frank aber auch nach der Entlassung Graus und der Rückstufung der Forschungsabteilung an der vermeintlich zentralen, amtlichen Funktion der „Judenforschung“ seines Reichsinstituts fest.22 Konsequenterweise forderte Wilhelm Grau nicht nur eine „Zentralstelle“ für die „Judenforschung“, sondern auch für die „Judenpolitik“. Ende März 1938 schlug er Hitler in einem Memorandum die Einrichtung eines „Sonderreferats Judenfrage“ vor, das direkt dem Führer unterstellt sein sollte.23 Der Unabgeschlossenheit ihrer Etablierung entsprechend, stellt „Judenforschung“ im Dritten Reich keineswegs ein homogenes oder uniformes Feld dar. Vielmehr verfolgten die unterschiedlichen Akteure durchaus unterschiedliche Fragestellungen, brachten unterschiedliche Methoden zur Anwendung und verfolgten unterschiedliche Interessen. Zusammengehalten wurden sie freilich von einer gemeinsamen antijüdischen Intention. Von historischen Studien bis zu sozialwissenschaftlichen Datensammlungen entstanden in ihrem Rahmen Arbeiten verschiedenster Art mit verschiedenartigen Hintergründen und Bezügen. Das Feld selbst hatte keine festen Grenzen, sondern war allein schon auf Grund seiner transdisziplinären Ausrichtung durch Übergänge und Überschneidungen bestimmt. Die außeruniversitären Institute können höchstens als fester Kern betrachtet werden, jenseits dessen das Feld ausfranst. Dennoch lassen sich bestimmte Charakteristika herauskristalli-

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sieren, die einen gemeinsamen Denkstil der NS-Judenforschung ausmachen, das Denkkollektiv der „Judenforscher“ miteinander verbinden. Ganz ausdrücklich hatte die nationalsozialistische „Judenforschung“ zum Ziel, das vor allem von jüdischen Wissenschaftlern bearbeitete Forschungsgebiet jüdischer Geschichte zu „entjuden“. Gegen die ältere Tradition der von jüdischen Wissenschaftlern betriebenen „Wissenschaft vom Judentum“, der eine Einbindung in den akademische Betrieb weitgehend versagt blieb, grenzte man sich explizit ab, während man durchaus deren Forschungsergebnisse für die eigenen Zwecke zu nutzen wusste. Insgesamt ist die NS-Judenforschung in dieser Perspektive ebenso eine An-, wie auch eine Enteignung – durchaus auch in materieller Hinsicht – von Themen und Inhalten, Quellen und Wissensbeständen, Ressourcen und Material der „Wissenschaft vom Judentum“. Juden sollten nur noch als Objekte eine Rolle spielen, nicht mehr als forschende Subjekte. Die angeblich jüdisch-dominierte Sicht auf die deutsch-jüdische Geschichte sollte durch eine nicht-jüdische deutsche Perspektive ersetzt werden. Juden wurden allerdings, verborgen vor der Öffentlichkeit, auch in diesem Bereich als Zwangsarbeiter eingesetzt, wie etwa beim Raub und Aufbau der Bibliotheken oder auch für wissenschaftliche Arbeiten.24 Die NS-Judenforscher selbst waren sich der Paradoxie, die es innerhalb ihres Weltbildes bedeuten musste, die Geschichte eines als minderwertig denunzierten Feindes zu erforschen und zu überliefern, sehr wohl bewusst. Ganz offensichtlich bestand dabei die Gefahr, die als wertvoll und höherrangig definierte eigene Geschichte zu vernachlässigen. Um die ideologisch vorgegebenen Hierarchisierungen nicht zu gefährden, wurde „Judenforschung“ als „Geschichte der Judenfrage“ definiert und gegen eine „Judenkunde“ abgegrenzt, die sich allgemein mit jüdischer Geschichte und Gegenwart, mit jüdischen Sitten und Gebräuchen auseinandersetzt. Innerjüdische Themen empfand man als unnötigen Ballast. Vielmehr wurde die „Schnittfläche des deutschen [nicht-jüdischen] und jüdischen Lebenskreises“ in den Mittelpunkt gerückt. Die „Judenfrage“ wurde dabei eher als ein Teil der deutschen, denn der jüdischen Geschichte verstanden.25 Dementsprechend war die NSJudenforschung nicht nur eine besondere Strategie zur Definition und Repräsentation eines „Anderen“, sondern spielte in jeder Hinsicht auch eine wichtige Rolle für das Selbstbild und die Konstruktion einer eigenen deutschen Identität und Geschichte. Die Geschichte wurde zur Leitwissenschaft innerhalb der transdisziplinären „Judenforschung“, weil mit der „Endlösung“, die von den Nationalsozialisten auf die Tagesordnung gesetzt worden war, eine Historisierung der „Judenfrage“ möglich und nötig wurde. Die Untersuchung historischer Lösungsversuche der „Judenfrage“ und der Geschichte des Antisemitismus diente der Legitimierung der eigenen antijüdischen Politik durch die Rekonstruktion einer Tradition und Vorgeschichte. Zum einen ging es dabei um die Suche nach Anknüpfungspunkten, wobei in Rechnung gestellt wurde, dass frühere Zeiten den vermeintlichen Rassengegensatz noch nicht klar erkennen, wohl aber schon instinktiv spüren konnten. Dabei kamen auch

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volksgeschichtliche Konzepte zum Tragen. Weniger die Folgen des Antisemitismus für die Juden waren von Interesse als die Motive der Antisemiten, die verständnisvoll gerechtfertigt wurden. Legitimiert wurde dies durch die Behauptung, dass ein Historiker, der es mit der Wahrheit halten wolle, nicht einseitig das jüdische Leid schildern könne.26 Zum anderen konnte die Analyse historischer Lösungsversuche der „Judenfrage“, auch und gerade in ihrem Scheitern, den neuartigen nationalsozialistischen Ansatz entwickeln und begründen helfen.27 Auch die aktuelle antijüdische Politik war für die „Judenforscher“ bereits ein Forschungsgegenstand. In Frankfurt sammelte man nicht nur Pläne und Informationen über alte, sondern auch über neu errichtete Ghettos als Grundlage für eine Gesamtgeschichte der jüdischen Ghettos in Europa. In Dissertationen beschäftigte man sich mit den Problemen der jüdischen Auswanderung aus dem Reich (Walter Hirche, Diss. phil. Leipzig 1940), den Abläufen der „Arisierung“ in der Wirtschaft (Hans Wagner, Diss. soc. oec. Heidelberg 1941) und den Reaktionen auf die deutsche antijüdische Politik im Ausland (Sonja Weber, Diss. phil. Leipzig 1938). In der vierten und fünften überarbeiteten Auflage von Wilhelm Graus Lehrbuch „Die Judenfrage in der deutschen Geschichte“ (1942) endete der Überblick über die Geschichte der „Judenfrage“ in der Gegenwart, mit der Errichtung des Frankfurter Instituts. Als jüngste historische Dokumente waren im Anhang die Nürnberger Gesetze von 1935 wiedergegeben.28 Antisemitismus und antijüdische Politik der Nationalsozialisten bedurften aus der Perspektive der NS-Judenforscher keiner weiteren Rechtfertigung. Mit „Judenforschung“ wurde dementsprechend weniger eine Verwissenschaftlichung des Antisemitismus als Wissenschaft aus konsequent antisemitischer Perspektive betrieben.29 Die Wissenschaftler selbst betonten daher den Primat der Politik und die dienende Funktion der Wissenschaft.30 In der Öffentlichkeit versuchte „Judenforschung“ von der Politik abzugrenzen, um ihren Status als Wissenschaft nicht zu gefährden.31 Desgleichen stellte der Gegensatz zwischen Propaganda und Wissenschaft für die zeitgenössischen Akteure bereits ein wichtiges Unterscheidungskriterium dar. Immer wieder werden in den Texten die „streng wissenschaftlichen“ Methoden betont, während in internen Auseinandersetzungen der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit zur Denunzierung der Konkurrenten gebraucht wurde.32 Tatsächlich waren in der NS-Judenforschung von Anfang an Propaganda, Politik und Wissenschaft kaum unterscheidbar ineinander verwoben. Aus dem Einblick in den Relativismus historischer Erkenntnis wurde von den „Judenforschern“ wie auch von den Volkshistorikern nicht ein Modell der Toleranz und Pluralität abgeleitet, sondern vielmehr eine radikale Entscheidung für die Bindung an eine Weltanschauung und das eigene Volk getroffen. Diese Bindung wurde nicht etwa zu leugnen versucht, sondern zum Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Selbstverständnisses erklärt. Objektivität wurde ergänzt durch Engagement, Erfahrung und Erleben, wodurch die Grenzen gegenüber Propaganda und Politik erneut verwischt wurden. Die offensichtliche Spannung des Nebeneinanders von wissenschaftlicher For-

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schung und propagandistischer wie politischer Praxis wurde parallel zu den Abgrenzungsdiskursen mit dem Selbstverständnis als „kämpfende Wissenschaft“ offensiv zu überbrücken versucht. Der Begriff, der in verschiedenen Kontexten benutzt, jedoch offensichtlich von Walter Frank für die Arbeit an seinem Reichsinstitut eingeführt wurde, sollte die gegensätzlichen Momente dieses Wissenschaftsverständnisses vereinen und ihren neuen Charakter bezeichnen.33 Das Gegenbild bot die als vermeintlich apostrophierte Voraussetzungslosigkeit und Objektivität der Wissenschaften im liberalen Zeitalter, die ihrerseits als „pseudo-wissenschaftlich“ denunziert und als „politisch-moralischer Terror“ dargestellt wurden. Insgesamt ist die „Judenforschung“ im Hinblick auf den von Michael Grüttner erarbeiteten Katalog von Kennzeichen des spezifisch nationalsozialistischen Wissenschaftsverständnisses als eine Musterwissenschaft des Dritten Reichs anzusehen.34 Die Ablehnung der Voraussetzungslosigkeit von Wissenschaft, die Aufhebung der Trennung von Wissenschaft und Leben mit der Forderung nach Nützlichkeit, die zentrale Bedeutung des Rassebegriffs, der Anspruch auf Ganzheitlichkeit gegen eine disziplinäre Spezialisierung und Abgrenzung, die Frontstellung gegen Internationalität sowie die Einführung des Volks als Forschungsgegenstand beziehungsweise Bezugspunkt finden sich als konstitutive Momente ihres Selbstverständnisses und werden in ihren grundlegenden und programmatischen Schriften ständig diskutiert.

Dirk Rupnow

1 Vgl. die Schlagzeile „Zum erstenmal in der Geschichte: Judenforschung ohne Juden“, in: Illustrierter Beobachter vom 30.4.1942, unter der über die Gründung des Frankfurter Instituts zur Erforschung der Judenfrage berichtet wurde. Zur NS-Judenforschung vgl. Max Weinreich, Hitler’s Professors. The Part of Scholarship in Germany’s Crimes against the Jewish People. With a new introduction by Martin Gilbert, New Haven 1999, und Alan E. Steinweis, Studying the Jew: Scholarly Antisemitism in Nazi Germany, Cambridge/Mass. 2006. Einen Überblick bietet auch Dirk Rupnow, „Judenforschung“ im „Dritten Reich“. Wissenschaft zwischen Ideologie, Propaganda und Politik, in: Matthias Middell (Hg. u.a.), Historische West- und Ostforschung in Zentraleuropa zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg – Verflechtung und Vergleich, Leipzig 2004, S. 107–132, und ders, Antijüdische Wissenschaft im „Dritten Reich“. Wege, Probleme und Perspektiven der Forschung, in: Jahrbuch des Simon Dubnow-Instituts 5 (2006), S. 539–598. 2 Vgl. Christhard Hoffmann, Wissenschaft des Judentums in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“, in: Michael Brenner (Hg. u.a.), Wissenschaft vom Judentum: Annäherungen nach dem Holocaust, Göttingen 2000, S. 25–41, und Werner Schochow, Deutsch-jüdische Geschichtswissenschaft. Eine Geschichte ihrer Organisationsformen unter besonderer Berücksichtigung der Fachbibliographie, Phil. Diss. Berlin 1966. 3 Vgl. Dirk Rupnow, Vernichten und Erinnern. Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik, Göttingen 2005; ders., ‚Arisierung‘ jüdischer Geschichte. Zur nationalsozialistischen ‚Judenforschung‘, in: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 2 (2004), S. 349–367. 4 BArch, BDC, Ahnenerbe, Wolf Heinrichsdorff (geboren 1907), Denkschrift über „Das Institut zum Studium der Judenfrage“ und Heinrichsdorff an das Ahnenerbe/Kaiser vom 15.9.1939. Vgl. auch Zur

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Einführung, in: Mitteilungen über die Judenfrage 1 (1937), S. 1; BArch, R 55, 371, Bl. 10f., RMVP/Abt. II, Ref. II/2 und II/4 an RMVP/Abt. I vom 27.3.1934. 5 Vgl. Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966; Patricia von Papen, Schützenhilfe nationalsozialistischer Judenpolitik. Die „Judenforschung“ des „Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands“ 1935–1945, in: Fritz BauerInstitut (Hg.), „Beseitigung des jüdischen Einflusses…“. Antisemitische Forschung, Eliten und Karrieren im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 17–42, und Karl Christian Lammers, Die „Judenwissenschaft“ im nationalsozialistischen Dritten Reich. Überlegungen zur „Forschungsabteilung Judenfrage“ in Walter Franks „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands“ und zu den Untersuchungen Tübinger Professoren zur „Judenfrage“, in: Freddy Raphael (Hg.), „…das Flüstern eines leisen Wehens…“. Beiträge zu Kultur und Lebenswelt europäischer Juden. Festschrift für Utz Jeggle, Konstanz 2001, S. 369–391. 6 Vgl. Wilhelm Grau, Antisemitismus im späten Mittelalter. Das Ende der Regensburger Judengemeinde 1450–1519. Mit einem Geleitwort von Karl Alexander von Müller, München 1934. Zur Biographie Graus vgl. Patricia von Papen, Vom engagierten Katholiken zum Rassenantisemiten. Die Karriere des Historikers „der Judenfrage“ Wilhelm Grau 1935–1945, in: Georg Denzler (Hg. u.a.), Theologische Wissenschaft im „Dritten Reich“. Ein ökumenisches Projekt, Frankfurt a.M. 2000, S. 68– 113. 7 Vgl. Dieter Schiefelbein, Das „Institut zur Erforschung der Judenfrage Frankfurt am Main“. Antisemitismus als Karrieresprungbrett im NS-Staat, in: Fritz Bauer-Institut (Hg.), „Beseitigung des jüdischen Einflusses…“, S. 43–71; ders., Das „Institut zur Erforschung der Judenfrage Frankfurt am Main“. Vorgeschichte und Gründung 1935–1939, Frankfurt a.M. o. J., und Patricia von Papen-Bodek, Anti-Jewish Research of the „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ in Frankfurt am Main between 1939 and 1945, in: Lessons and Legacies IV (2004), S. 155–189. 8 Vgl. die Vorträge zur feierlichen Eröffnung des Instituts am 26. März 1941 sowie auf der anschließenden ersten Arbeitstagung in: Weltkampf 1941. 9 Vgl. Susannah Heschel, Deutsche Theologen für Hitler. Walter Grundmann und das Eisenacher „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“, in: Fritz Bauer-Institut (Hg.), „Beseitigung des jüdischen Einflusses…“, S. 147–167; dies., Nazifying Christian Theology: Walter Grundmann and the Institute fort he Study and Eradication of Jewish Influence on German Church Life, in: Church History 63 (1994), S. 587–695, und dies., The Aryan Jesus: Christianity, Nazis and the Bible, Princeton/NJ 2007. 10 Vgl. Josef Sommerfeldt, Die Aufgaben des Referats Judenforschung, in: Deutsche Forschung im Osten 1 (1941), S. 29–35. 11 Vgl. Joseph Billig, L’Institut d’Etude des Questions Juives, officine française des autorités nazies en France, Paris 1974; Kay Kufeke, Rassenhygiene und Rassenpolitik in Italien. Der Anthropologe Guido Landra als Leiter des „Amtes zum Studium des Rassenproblems“, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 10 (2001), S. 265–286; Patricia von Papen-Bodek, The Hungarian Institute for Research into the Jewish Question and Its Participation in the Expropriation and Expulsion of Hungarian Jewry, in: Pieter M. Judson (Hg.), Constructing Nationalities in East Central Europe, New York 2005, S. 223–242, und Gerhard F. Volkmer, Die deutsche Forschung zu Osteuropa und zum osteuropäischen Judentum in den Jahren 1933–1945, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 42 (1989), S. 109–214. 12 Vgl. Jürgen Matthäus, Konzept als Kalkül. Das Judenbild des SD 1934–1939, in: Michael Wildt (Hg.), Nachrichtendienst, politische Elite und Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, Hamburg 2003, S. 118–143; Jürgen Matthäus u.a., Ausbildungsziel Judenmord? „Weltanschauliche Erziehung“ von SS, Polizei und Waffen-SS im Rahmen der „Endlösung“, Frankfurt a.M. 2003; ders., „Weltanschauliche Forschung und Auswertung“. Aus den Akten des Amtes VII im Reichssicherheitshauptamt, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 5 (1996), S. 287–330, und Joachim

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Lerchenmüller, Die Geschichtswissenschaft in den Planungen des Sicherheitsdienstes der SS. Der SD-Historiker Hermann Löffler und seine Gedenkschrift „Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland“, Bonn 2001. 13 BArch, R 58, 7400, Bl. 90–96, Arbeitsplan VII B 1 b – Judentum, Ende 1941/Anfang 1942, und Lutz Hachmeister, Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998. 14 Vgl. Hans Praesent, Bibliographie deutscher Dissertationen über die Judenfrage 1939–1942, in: Weltkampf 1944, S. 103–105; Hans Praesent, Neuere deutsche Doktorarbeiten über das Judentum, in: Die Judenfrage in Politik, Recht, Kultur und Wirtschaft 7 (1943), S. 351ff. Eine weitere zeitgenössische Zusammenstellung von Texten bietet: Schrifttum zur Judenfrage. Eine Auswahl, München o.J. Als Beispiel für diesen Forschungszweig an einer Universität siehe Dirk Rupnow, Eine neue nationalsozialistische Musterdisziplin? „Judenforschung“ an der Universität Leipzig, in: Stephan Wendehorst (Hg.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, S. 253–384. 15 UAHUB, Philosophische Fakultät 1453; UAW, Rektorat 1473–1939/40 und Philosophische Fakultät 734–1941/42; UAT, 126a/284, und BArch, NS 8, 266, Koeppen an Schickert vom 31.10.1944. 16 Vgl. Josef Sommerfeldt, 200 Jahre deutscher Abwehrkampf gegen das Ostjudentum, in: Deutsche Post aus dem Osten 15 (1943), S. 8–13, 12. 17 NARA, T120 4661 (PA, Inland II A/B: Juden in Frankreich, Bd. IV), Bl. 45064, Deutsche Botschaft Paris an das Auswärtige Amt vom 23.1.1942, Betrifft: Behandlung der Sefarden; und ebd., Bl. 45065f., Association Culturelle Sepharadite de Paris vom 13.1.1941. 18 Ebd., Bl. 45083ff., Die Hohe Schule in Vorbereitung, Außenstelle Frankfurt a. M./Grau an das AA vom 7.2.1942. 19 NARA, T120 4666 (AA, Inland II A/B: Juden in Portugal), Bl. 47661–47666, Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands/Euler: Zur Frage der genealogischen Einordnung der sogenannten portugiesischen Juden in den Niederlanden, München vom 12.1.1943. 20 NARA, T120 4668 (AA, Inland II A/B: Juden im Iran), Bl. 46189, RMI /Feldscher an AA, Betrifft: Iranische Juden, Berlin vom 2.10.1942. 21 Ebd., Bl. 46194f.-227ff., diverse Gutachten des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands von Euler, Gerhard Kittel und Klingenfuss über Abstammung der Angehörigen des mosaischen Bekenntnisses in diversen Ländern des vorderen Orients; ebd., Bl. 46239–46242, Gerhard Kittel, Über die persischen, afghanischen und kaukasischen Juden, Wien vom 16.2.1943. 22 BArch, NS 8, 180, Bl. 82f., OB Krebs an Heß über die Einrichtung eines Reichsinstituts zur Erforschung des Judentums und der Judenfrage in Frankfurt a.M. vom 9.11.1938; Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a. M., MA 8.614, Bl. 16ff., OB Krebs an Frick über die Errichtung einer wissenschaftlichen und politischen Zentralstelle zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt a. M.; Walter Frank, Die Erforschung der Judenfrage. Rückblick und Ausblick, in: Forschungen zur Judenfrage 5 (1941), S. 7–21. 23 BArch, R 4901, 14.105, Bl. 31–37, Grau, Aufgaben der deutschen Judenpolitik im Ausland. Gedanken und Vorschläge vom 27.3.1938. 24 In der Bibliothek des RSHA arbeitete zudem eine Gruppe sogenannter in „Mischehe“ lebender jüdischer Wissenschaftler. Auch Rosenbergs Einsatzstab zwangsverpflichtete im Rahmen seiner Raubzüge in Europa jüdische Fachleute. In diesen Zusammenhang gehört auch Leo Baecks wissenschaftliche Arbeit im Auftrag des RSHA: Hermann Simon, Bislang unbekannte Quellen zur Entstehungsgeschichte des Werkes „Die Entwicklung der Rechtsstellung der Juden in Europa, vornehmlich in Deutschland“, in: Georg Heuberger (Hg. u.a.), Leo Baeck 1873–1956. Aus dem Stamme von Rabbinern, Frankfurt a.M. 2001, S. 103–110; Fritz Backhaus/Martin Liepach, Leo Baecks Manuskript über die „Rechtsstellung der Juden in Europa“. Neue Funde und ungeklärte Fragen, in: ZfG 50 (2002), S. 55–71.

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25 Vgl. Wilhelm Grau, Die Judenfrage als Aufgabe der neuen Geschichtsforschung, Hamburg 19372, S. 9; ders., Die Geschichte der Judenfrage und ihre Erforschung, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 83 (1937), S. 163–173, und Frank, Erforschung der Judenfrage. 26 Wilhelm Grau, Um den jüdischen Anteil am Bolschewismus, in: HZ 153 (1936), S. 336–343. 27 Beispielhaft Wilhelm Grau, Die geschichtlichen Lösungsversuche der Judenfrage, in: Weltkampf 1941, S. 7–15. 28 Wilhelm Grau, Die Judenfrage in der deutschen Geschichte, Leipzig 19425, S. 30–32. 29 Vgl. Dirk Rupnow, Rasse und Geist. Antisemitismus, antijüdische Wissenschaft und Definitionen des „Jüdischen“ im „Dritten Reich“, in: Zeitgeschichte 34 (2007) 1, S. 4–24. 30 Vgl. Walter Frank, Deutsche Wissenschaft und Judenfrage, in: Forschungen zur Judenfrage 1 (1937), S. 17–32; Otmar Freiherr von Verschuer, Was kann der Historiker, der Genealoge und der Statistiker zur Erforschung des biologischen Problems der Judenfrage beitragen, in: Forschungen zur Judenfrage 2 (1937), S. 216–222. 31 Vgl. Klaus Schickert, Die Judenforschung in der Wissenschaft, in: Stuttgarter NS-Kurier vom 25.6.1944. 32 Vgl. Wilhelm Grau, Das Institut zur Erforschung der Judenfrage, in: Weltkampf (1941) 1/2, S. 16– 21; Wissenschaft und Reklame, in: Mitteilungen zur weltanschaulichen Lage vom 12.9.1941. 33 Der Begriff der „kämpfenden Wissenschaft“ wurde schon vor dem Krieg und dem „Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften“ von Walter Frank geprägt. Er hatte das Konzept in Auseinandersetzung mit Maurice Barrès und Charles Maurras entwickelt, vgl. Walter Frank, Nationalismus und Demokratie im Frankreich der dritten Republik (1871 bis 1918), Hamburg 1933. Er griff dabei auf Heinrich von Treitschke als deutsches Vorbild und einen spezifisch deutschen Bildungsbegriff zurück, vgl. Walter Frank, Kämpfende Wissenschaft, Hamburg 1934. 34 Vgl. Michael Grüttner, Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus, in: Doris Kaufmann (Hg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2000, S. 557–585.

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Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften Hinter dem Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften, gelegentlich auch „Gemeinschaftswerk“ oder „Aktion Ritterbusch“ genannt, verbirgt sich die umfassendste Mobilisierung deutscher Geisteswissenschaftler in der NS-Zeit.1 Namhafte Wissenschaftler aus Universitäten und Forschungseinrichtungen sollten unbeschadet ihrer akademischen Position in einer Art geistigem Feldzug den Westmächten Frankreich und Grossbritannien, später auch den USA, die Überlegenheit des deutschen Geistes demonstrieren und dadurch an einer „Dritten Front“ (die beiden anderen waren die militärische und die ökonomisch-technische) eine intellektuelle Niederlage bereiten. Zu diesem Zweck sollten sie möglichst binnen Jahresfrist themengebundene Monographien, Aufsätze und/oder Sammelbände verfassen, in denen entweder die Abhängigkeit westlicher Ideen von deutschen Vorbildern oder, wo solche nicht nachgewiesen werden konnten, deren Vorbildlichkeit aufgezeigt würden. In den neutralen Ländern sollten derartige Publikationen eine Abkehr von westlichem Denken und humanistisch-aufklärerischer Orientierung sowie eine Hinwendung zu Nazi-Deutschland und seiner völkisch-rassischen Ideologie bewirken, das sich zum Herrscher eines kontinentalen „Neueuropa“ aufschwingen wollte. Deutsch sollte zudem die europäische Verkehrssprache, die Sprache der Politik, Ökonomie, Wissenschaft und Kultur, werden. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde die ohnehin bereits reduzierte staatliche Förderung der Geisteswissenschaften zunächst eingestellt, um alle Mittel ausschliesslich der Rüstung zukommen zu lassen. Doch am Vorabend des Westfeldzuges (Frühjahr 1940) besann man sich in Berlin auf die besondere Bedeutung der Geisteswissenschaften für die ideologische „Gegnerforschung“, die im Ersten Weltkrieg sträflich vernachlässigt worden sei, was angeblich zur moralischen Schwächung der Heimatfront und damit zur Niederlage von 1918 beigetragen habe. Man habe, darin waren sich führende NS-Politiker einig, den Alliierten seinerzeit die Meinungsbildung bei den Neutralen kampflos überlassen, was sich im Friedensschluss von Versailles und den daran anschliessenden Volksabstimmungen besonders verhängnisvoll ausgewirkt habe. Derartiges dürfe sich niemals wiederholen. Daher wurden prominente Vertreter wichtiger Geisteswissenschaften (Altertumswissenschaftler, Anglisten, Geographen, Germanisten, Historiker, Kunsthistoriker, Philosophen, Romanisten, Staats-, Völker- und Zivilrechtler) zum „Kriegseinsatz“ in einem sogenannten Gemeinschaftswerk nach Berlin eingeladen, einem Treffen, das durch eine vorgeschaltete Tagung in Kiel am 27. und 28. April vorbereitet worden war.2 Anglisten, Romanisten, Amerikanisten, Historiker und Völkerrechtler bildeten die Sparte „Auseinandersetzung mit Westeuropa“, Germanisten, Philosophen, Kunsthistoriker und Altertumswissenschaftler „Deutsches Wesen in Geschichte und Gegenwart“ und Staats- und Zivilrechtler sowie Geographen „Die Gestaltung der neuen europäischen Ordnung“3: „Die deutsche Geisteswissenschaft hat sich deshalb zusammengefunden zu einer weitgespannten Gemeinschaftsarbeit, welche

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dem deutschen Volke und allen, die an dem Neuaufbau Europas mitwirken wollen, unter der neuen Sich erarbeitete Erkenntnisse darstellt.“4 Beide Male kamen nur die als Leiter der geplanten Arbeitsgemeinschaften oder Arbeitskreise („Fachgruppen“) ins Auge gefassten Professoren zusammen, die danach nur noch getrennt mit ihren Fachkollegen tagten, da das Gesamtprojekt pyramidal angelegt war. Im Lauf der nächsten Monate wurden auch kleinere Fächer wie Altamerikanistik (heute Lateinamerikanistik), Indogermanistik5, Keltistik, Musikwissenschaft, Orientalistik, Psychologie6, Ur- und Frühgeschichte, Völkerkunde und Zeitungswissenschaft (Publizistik) zum Mitmachen aufgerufen. Insgesamt lassen sich etwa 1.000 in- und ausländische Gelehrte benennen, die an einem oder mehreren dieser Projekte mitwirkten. Bei der Reichs-Rektorenkonferenz in Strassburg im November 1941 wurde die „Aktion Ritterbusch“ besonders herausgestellt und über ihre Erfolge in der Presse berichtet.7 Im Dezember des gleichen Jahres wurde als zentrale Aktivität des „Kriegseinsatzes“ in der TH Berlin eine Buch- und Dokumentenschau unter dem Thema „Deutsche Wissenschaft im Kampf um Reich und Lebensraum“8 eröffnet. Die Tragweite dieses Unternehmens wird erst vor dem Hintergrund der Raumforschungskonzepte seines Initiators und Ideengebers, des Kieler Rektors, Juristen und Alt-PG →Paul Ritterbusch9, verständlich, der der ominösen Kieler „Stoßtruppfakultät“ junger Juristen angehörte, die die Wissenschaft organisatorisch wie inhaltlich im nationalsozialistischen Sinne umkrempeln wollten. Ritterbusch hatte, nachdem das Kompetenzgerangel zwischen dem Amt Rosenberg und der Parteikanzlei auf der einen und der Rektorenkonferenz der Universitäten und dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) auf der anderen, zugunsten der zweiten Gruppierung entschieden worden war, die Oberleitung über alle Projekte zugesprochen bekommen. Zum Lohn für seine Mühen wurde er im Jahr 1941 zum Nachfolger des Hochschulreferenten Wilhelm Groh bestellt und als Ministerialdirigent ins REM als Chef des Amtes Wissenschaft versetzt, was damals als die Krönung einer wissenschaftlichen Karriere galt, zumal er auch einen Lehrstuhl in Berlin erhielt. Ritterbusch gab zunächst die Parole aus, dass die erste und vordringlichste Aufgabe der Geisteswissenschaften im Kriege darin bestehe, „die geistige Auseinandersetzung mit der geistigen und Wertwelt des Gegners“ vorzubereiten. In diesem neuartigen „Kriegseinsatz der Wissenschaft“ gebe es „keine geisteswissenschaftliche Disziplin, die nicht in diesen gewaltigen Aufgaben ihren Platz finden“ könne und müsse.10 In Übereinstimmung mit Erich Ludendorffs Buch „Der totale Krieg“ erklärte auch Ritterbusch den Krieg zum Prüfstein der deutschen Geschichte und sprach von der Notwendigkeit seiner Totalität, der sich kein Wissenschaftler entziehen dürfe. Nur diejenigen Völker seien fähig, Krieg zu führen, „bei denen das Soldatische, das Geistige und Seelisch-Sittliche und das Wirtschaftliche eine Einheit und Ganzheit bildeten, den Krieg dadurch zu einem totalen machend“. Ritterbusch band von Anfang an den prominenten Staats- und Völkerrechtler →Carl Schmitt in sein Pro-

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jekt ein, der mehrfach mit SS-Juristen wie Werner Best und Reinhard Höhn über deren eigene völkische Raumkonzepte aneinandergeraten und daher dankbar für diesen neuen Wirkungskreis war.11 Schmitt betonte gegenüber den SS-nahen Verwaltungsspezialisten, die für die Lösung bestimmter Probleme Ad hoc-Erlasse bevorzugten, die Notwendigkeit einer dauernden Verrechtlichung und hielt nicht nur bei der Kieler Eröffnungstagung, sondern auch bei den nachfolgenden „Einsätzen“ der Romanisten, Historiker, Völkerrechtler unter anderen Grundsatzreferate in diesem Sinne. Als Legalist pochte er auf die Schaffung eines neuen nationalsozialistischen Rechtssystems, das selbst den aggressivsten Massnahmen des NS-Staates eine juristische Basis verleihen sollte. Die einzelnen Gesetze konnten allerdings von der in Demokratien üblichen Rechtsstaatlichkeit durchaus abweichen, da nicht eine naturrechtliche oder demokratische Instanz das Recht legitimierte, sondern der „Führerwille“. Zudem legte Schmitt in seinen Leitvorträgen sein Grossraumkonzept und seine Nichtinterventionstheorien, deutsche Abwandlungen der Monroe-Doktrin, dar: Der europäische Kontinent gehöre dem Deutschen Reich als Erbe des antiken und mittelalterlichen römischen Imperiums, die Meere den Engländern und Amerikanern. Gelegentlich wurden auch die Italiener und Japaner an der Seite des Deutschen Reichs erwähnt. Schmitts Vorstellungen sollten den „Kriegseinsatz“ insgesamt leiten, wenngleich fraglich ist, ob alle Teilnehmer an den einzelnen Tagungen diese juristischen Begründungen wirklich verstanden. Denn wenn die bisherige Aufgabe der historisch orientierten Geisteswissenschaften vorzugsweise darin bestanden hatte, die diachronen Entwicklungen der geistigen Manifestationen (Philosophie, Geschichte, Kunst, Recht, Sprache und Literatur) einzelner Völker und ihren zeitlichen Ablauf nach bestimmten Gesetzmässigkeiten zu erkennen und zu beschreiben, ging es jetzt um die geistige Beherrschung des Raumes: „Der gegenwärtige Krieg ist ein Endkampf um die geschichtlich-politische Einheit unseres Volkstums und um das Reich als seine totale Lebensordnung und zugleich um die Ordnung und die geschichtliche Gestalt Europas.“12 Die Geisteswissenschaften sollten sich nicht mehr von der Liebe zum Gegenstand leiten lassen, sondern völkisch-rassische Abgrenzungswissenschaften werden. Dies kann man bereits daran ablesen, dass sie das Epitheton „Deutsch“ erhielten, so dass aus der Philosophie eine „Deutsche Philosophie“, aus der Anglistik eine „Deutsche England- und Amerikawissenschaft“ und unter anderem aus der Kunstgeschichte eine „Deutsche Kunstwissenschaft“ wurden. Der absurde Gedanke, eine Wissenschaft „Deutsch“ zu nennen und damit rassisch und völkisch zu instrumentalisieren und zugleich international zu isolieren, war erstmals im Bereich der Physik in Auseinandersetzung mit der Einsteinschen Relativitätstheorie durch die beiden Nobelpreisträger →Philipp Lenard und Johannes Stark propagiert worden. Aufgrund der Betonung des „Deutschen“ würde diese neue Wissenschaft zwar immer ein Privileg der Deutschen bleiben, doch sollten die übrigen Völker, soweit sie rassisch dazu in der Lage waren, mit ähnlichen Prämissen eigene, national verankerte Wissenschaften betreiben. Denkt man diesen Leitgedanken des „Kriegseinsatzes“

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zu Ende, blieb den von Nationalsozialisten als rassisch minderwertig eingestuften Völkern nur ein Sklavendasein ohne Bildung und Wissenschaft, ein Konzept, das bei der Unterwerfung der östlichen Länder in die Tat umgesetzt wurde. Schmitt war nicht der einzige von aussen kommende Spezialist, der in fachfremde Einsätze einbezogen wurde. Die eher historisch orientierten Disziplinen sollten von Juristen, Politologen, Rassenkundlern, Raumforschern, Wirtschaftswissenschaftlern unter anderen begleitet werden, um den an sie gestellten politischen Vorgaben gerecht zu werden. Verlor die „Aktion Ritterbusch“ nach dem raschen Sieg über Frankreich im Juni 1940, dem Stocken der Besetzung Englands und dem ein Jahr später erfolgten deutschen Überfall auf die Sowjetunion auch an Schwung, da jetzt andere militärische und daraus folgend neue wissenschaftspolitische Prioritäten zum Beispiel in der →Ostforschung gesetzt wurden und die Kriegsführung sich erst jetzt wirklich totalisierte, so kam der von Ritterbusch ersonnene „Kriegseinsatz“ keineswegs zum Erliegen. Bis zum Kriegsende liefen alle Fäden bei ihm zusammen. Er genoss das Vertrauen des zuständigen Erziehungs- und Wissenschaftsministers Bernhard Rust und seines Amtschefs Rudolf Mentzel, die ihm den Rücken gegen das Amt Rosenberg stärkten. Rosenberg monierte nämlich wiederholt, dass am „Kriegseinsatz“ zu viele Wissenschaftler teilnähmen, die noch in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik sozialisiert worden seien und einer traditionellen und damit obsoleten Wissenschaftsauffassung huldigten. Der Nationalsozialismus sei ihnen keine Herzenssache, weshalb man auf ihre Forschungen besser verzichten solle. Ausserhalb Deutschlands seien die von den einzelnen Sparten produzierten Schriften kaum wahrgenommen worden und hätten das Ziel der Europäisierung im nationalsozialistischen Sinne verfehlt. Mit Karl Griewank,13 dem zuständigen Referenten der →Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die alle Tagungen und die daraus hervorgehenden Publikationen des „Kriegseinsatzes“ finanzierte, stand Ritterbusch ebenfalls in engem Kontakt und erhielt Durchschriften von allen DFG-Bewilligungen, die bis zum Kriegsende pünktlich gezahlt wurden. Er war zudem der natürliche Ansprechpartner aller Spartenleiter, die über ihre Sekretariate die Koordination der einzelnen Fächergruppen leiteten, was, wie die spärlichen Aktenfunde dennoch belegen, eine nicht unerhebliche Organisationsleistung bedeutete. Ritterbusch suchte vermutlich auch die sechs Verlage aus, die die einzelnen Publikationen druckten: die Hanseatische Verlagsanstalt Hamburg, Kohlhammer in Stuttgart und Berlin, Koehler & Amelang, Quelle und Meyer sowie Harrassowitz in Leipzig beziehungsweise Bruckmann in München. Alle Publikationen waren an einem gemeinsamen Emblem auf Umschlag und Titelseite zu erkennen, das aus einem hellen Säulenstumpf mit einer darauf ruhenden Schale, aus welcher drei Flammen aufsteigen, vor einem schwarzen Kreis mit der Umschrift „Deutsche Geisteswissenschaft“ bestand. Jede Fachgruppe erhielt eine bestimmte Farbe für ihre Publikationen (Germanistik weiß, Anglistik gelb, Romanistik ziegelrot, Orientalistik grün, Geschichte blau beziehungsweise blauweiss), so dass alle Publikationen sofort als Teile des „Gemeinschaftswerks“ zu

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erkennen waren. Die Auflagenzahlen waren für wissenschaftliche Bücher hoch (zwischen 2.000 und 8.000), da viele Exemplare an NS-Einrichtungen verschenkt wurden. Insgesamt lassen sich in den Jahren von 1941 bis 1944 67 Bücher beziehungsweise Broschüren (43 Monographien beziehungsweise 24 Sammelbände mit 299 unterschiedlichen Beiträgen von über 300 Wissenschaftlern, von denen einige doppelt lieferten, andere nur einzelne Bände herausgaben oder Sektionen betreuten, ohne selber zu publizieren) aus zwölf Disziplinen (Altertumswissenschaft14, Anglistik15, Geographie, Germanistik, Geschichte unter Einschluss von Rechts- und Vorgeschichte16, Kunstgeschichte17, Orientalistik18, Philosophie19, Romanistik20, Staatsrecht, Völkerrecht21, Zivil- und Arbeitsrecht) nachweisen, die aus dem „Kriegseinsatz“ hervorgegangen sind. Hinzu kommen einzelne Aufsätze, die nur schwer zu erfassen sind, weil ihre Verfasser nur gelegentlich darauf verweisen, dass ihre Arbeit auf Vorträge zurückgeht, welche bei einer Tagung des Gemeinschaftswerks gehalten wurden. Fächergruppen wie Indogermanistik, Musik, Psychologie, Alt- oder Lateinamerikanistik, Keltologie und Zeitungswissenschaft veröffentlichten überhaupt nichts. Minister Rust und Amtschef Mentzel hatten, vermutlich von der Festschrift der Deutschen Wissenschaft zu Hitlers 50. Geburtstag am 20. April 1939 angeregt,22 den Plan gefasst, Hitler zu seinem 52ten Geburtstag ausgewählte Titel auf den Gabentisch zu legen. Das fünfbändige germanistische Sammelwerk „Von deutscher Art in Sprache und Dichtung“ lag 1941 bereits geschlossen vor und kam für diese Auszeichnung in Frage.23 Die anderen Bände wurden trotz Drängen des Ministers erst später fertig: Von altertumswissenschaftlicher Seite erschien 1942, von Helmut Berve betreut, „Das Neue Bild der Antike“ in 2 Bänden,24 ein Jahr darauf, diesmal von Joseph Vogt besorgt, „Rom und Karthago. Ein Gemeinschaftswerk“. Vom historischen „Kriegseinsatz“, der das Thema „Die Westmächte und die europäische Ordnung“ verfolgen sollte, wurde Ende 1941 ein einleitender Sammelband „Das Reich und Europa“ publiziert. Die acht anschliessenden Bände folgten keinem festen Schema mehr. Die Geographen planten unter Leitung von Karl Heinrich Dietzel, Oscar Schmieder und Heinrich Schmitthenner eine auf mindestens fünf Bände angelegte Reihe „Lebensraumfragen. Geographische Forschungsergebnisse“, von der allerdings nur drei erschienen.25 Die Völkerrechtler brachten unter dem Spartenleiter Hermann Jahrreiß fünf Broschüren unter dem Reihentitel „Wandel der Weltordnung“ zum Druck. Die Philosophen projektierten unter jeweils anderer Leitung eine aus mehreren Bänden bestehende Reihe „Deutsche Philosophie“, von der die Sammelbände „Das Bild des Krieges im deutschen Denken, Das Deutsche in der deutschen Philosophie“ sowie „Systematische Philosophie“ herauskamen. Die Rechtsphilosophen unter Karl Larenz steuerten zwei Bände „Reich und Recht in der deutschen Philosophie“ bei, dazu die kleinere Broschüre „Europa und die deutsche Philosophie“. Die Staatsrechtler publizierten unter dem Herausgeber Ernst Rudolf Huber zwei Sammelbände in der Reihe „Idee und Ordnung des Reiches“, die Zivilrecht-

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ler (Karl Michaelis) eine kleine Folge von drei Broschüren unter dem Obertitel „Gegenwartsaufgaben der Zivilrechtswissenschaft“. Die Kunsthistoriker druckten vier Monographien einer sehr breit angelegten Reihe „Ausstrahlungen der deutschen Kunst“ (Karl M. Swoboda) und einen grundlegenden Band des Reihenherausgebers Wilhelm Pinder über „Sonderleistungen der deutschen Kunst“, der wiederum eigene Monographien anregte. Das orientalistische Reihenwerk „Deutsche Orientforschung“ verdankte sein Entstehen der Herbsttagung der deutschen Orientalisten 1942, deren Beiträge auf Drängen von →Walther Wüst vom →Ahnenerbe e.V. der SS und von Paul Ritterbusch im Rahmen des „Gemeinschaftswerks“ veröffentlicht wurden. Die Romanisten unter Fritz Neubert legten zwölf Bände aus ihrem Projekt „Frankreich, sein Weltbild und Europa“ vor. Die Anglisten konnten sich mit einem Band „Grundformen der englischen Geistesgeschichte“ (Carl August Weber),26 zwei Bänden „Die englische Kulturideologie“ (Paul Meißner) sowie einem interessanten kunsthistorischen Band von →Dagobert Frey, „Englisches Wesen in der bildenden Kunst“, sehen lassen, die alle zu ihrem Rahmenthema „England und Europa“ gehörten. Ritterbuschs bereits erwähnte Schrift „Wissenschaft im Kampf um Reich und Lebensraum“ zählte ebenfalls zu den offiziellen Publikationen des Gemeinschaftswerks. Wie die erhaltenen Gesamtpläne ausweisen, waren pro Sparte im Durchschnitt circa 50 Einzelprojekte vorgesehen. Demzufolge haben nur die Altertumswissenschaftler, Geographen, Germanisten und Orientalisten ihre zu Beginn des Kriegseinsatzes gesteckten Ziele erreicht. Da von ihnen an Stelle von Monographien nun Sammelbände erstellt wurden, welche die Vorträge reproduzierten, die anlässlich von Tagungen gehalten worden waren, verzichteten die genannten Fächer mit Ausnahme der Geographen auf eine längerfristige Förderung. Im Prinzip sollten alle Beiträge auf die von Ritterbusch bereits beim ersten Treffen in Kiel gemachten Leitvorstellungen ausgerichtet werden: „Die Aufgabe dieses Einsatzes besteht darin, die Idee einer neuen europäischen Ordnung, um die es in diesem Kampfe, nämlich des zweiten Weltkrieges, im letzten Grunde geht, in einer wissenschaftlich unanfechtbaren Weise herauszuarbeiten und als die Wahrheit und Wirklichkeit des Lebens der europäischen Völker zu erweisen.“27 Bei einer so stattlichen Zahl von Teilnehmern war die gewünschte Homogenität jedoch nicht zu erreichen. Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass hier, wenngleich unter verhängnisvollen Vorzeichen, eine nach dem Ende von Nazidiktatur und Krieg für selbstverständlich gehaltene interdisziplinäre Verbundforschung antizipiert wurde. Im Falle des „Gemeinschaftswerks“ hemmte keine föderative Wissenschaftsstruktur der Länder und der Universitäten, die spätestens 1935 beseitigt worden war, einen reichsumfassenden Wissenschaftlereinsatz. Rücksichtnahme auf föderale Empfindlichkeiten war nach Aufhebung der Länder nicht mehr nötig. Etwaige spezifische Aufgaben von Teilnehmern des „Gemeinschaftswerks“, die aus Verpflichtungen gegenüber ihrer Hochschule erwachsen wären, hatten als nachgeordnet zu gelten. Der „Kriegseinsatz“ wurde paramilitärisch organisiert. Hier galt ein wissenschaftliches Führerprinzip. Die einzelnen Treffen wurden als Lager aufgezogen, jedenfalls in der

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Anfangsphase. Dies bedeutete einen radikalen Bruch mit der herkömmlichen Einzelforschung, die zwar bedeutende Leistungen, aber auch individuelle Verzettelung, Leerlauf und Ineffizienz kannte. Bei aller organisatorischen Modernität muss jedoch noch einmal deutlich die einseitige ideologische Steuerung herausgestellt werden. Trotz der Konzentration auf den Volks- und den Raumgedanken blieben die Ergebnisse herkömmlich, zumal neuere Forschungsmethoden, die seit Ende der zwanziger Jahre aufgekommen waren (Soziologie, Psychologie, Strukturalismus, Mentalitäts- und unter anderem Mediengeschichte) als undeutsch gebrandmarkt wurden und nicht zur Anwendung kamen. Hält man sich vor Augen, dass fast zeitgleich mit dem „Gemeinschaftswerk“ die physische Vernichtung der Juden einsetzte, bekommt man Angst vor der planerischen Energie Ritterbuschs und seiner Mitstreiter, auch wenn sich die produzierten Publikationen mit wenigen Ausnahmen im Nachhinein als eher harmlos erweisen. Am stärksten vom nationalsozialistischen Herrschaftswillen durchtränkt waren die juristischen und geographischen, teilweise auch die philosophischen und historischen Publikationen. Je geschlossener ein Fach am „Gemeinschaftswerk“ teilnahm, desto ausführlicher wurde in den Fachzeitschriften darüber berichtet.

Frank-Rutger Hausmann

1 Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg: die „Aktion Ritterbusch“ (1940–1945), Heidelberg 20073. 2 Karl-Heinrich Dietze, Bericht über die Arbeitstagung zum Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften am 27. und 28.4.1940, in: Kieler Blätter (1940), S. 397–398. 3 Vgl. auch den Überblick über die vom RFR unterstützten wissenschaftlichen Arbeiten unter Beifügung der von der DFG auf den geisteswissenschaftlichen Gebieten geförderten Arbeiten. Rechnungsjahr 1940/41, Gräfenhainichen (circa 1940). 4 Deutsche Geisteswissenschaft. Gemeinschaftsarbeit deutscher Hochschullehrer im Kriegseinsatz, Leipzig (circa 1941), Einleitung. 5 Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft. Das Fach Religionswissenschaft an der Universität Tübingen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Dritten Reiches, Stuttgart 1999. 6 Ulfried Geuter, Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1988, S. 421–427. 7 Paul Ritterbusch, Gegenwartsaufgaben der deutschen Geisteswissenschaft, in: Illustrierte Zeitung von August 1940, Nr. 4956, S. 133 und 140b. 8 J. Tobias, Die deutsche Wissenschaft im Kriege. Rechenschaft über eine Ausstellung, in: Krakauer Zeitung vom 19.12.1941. 9 M. Otto, Paul Ritterbusch, in: NDB 21 (2003), S. 668–670. 10 Paul Ritterbusch, Wissenschaft im Kampf um Reich und Lebensraum, Stuttgart 1942, S. 16. 11 Frank-Rutger Hausmann, Carl Schmitt und die deutschen Romanisten, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 23 (1999), S. 409–430. 12 Einleitung zu „Deutsche Geisteswissenschaft“ (siehe Anm. 4). 13 Tobias Kaiser, Karl Griewank (1900–1953) – ein deutscher Historiker im „Zeitalter der Extreme“, Stuttgart 2007.

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14 Volker Losemann, Nationalsozialismus und Antike. Studien zur Entwicklung des Faches Alte Geschichte 1933–1945, Hamburg 1977, S. 108–115. 15 Frank-Rutger Hausmann, Anglistik und Amerikanistik im „Dritten Reich“, Frankfurt a.M. 2003, S. 297–364. 16 Karen Schönwälder, Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1992, S. 209–216; Christoph Cornelissen, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001, S. 302–304. 17 Hans H. Aurenhammer, Neues Quellenmaterial zum Kunstgeschichte-Programm im „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“ (1941), in: Kunst und Politik 5 (2003), Göttingen 2003, S. 231–242. 18 Ekkehard Ellinger, Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus 1933–45, Edingen-Neckarshausen 2006, S. 246–250. 19 Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Berlin 2002, S. 1105–1128. 20 Frank-Rutger. Hausmann, „Vom Strudel der Ereignisse verschlungen“. Deutsche Romanistik im „Dritten Reich“, Frankfurt a.M. 2000, S. 407–418. 21 Bardo Fassbender, Stories of War and Peace. On Writing the History of International Law in the „Third Reich“ and After, in: European Journal of International Law 13 (2002), S. 479–512. 22 Vgl. Deutsche Wissenschaft. Arbeit und Aufgabe, Leipzig 1939. 23 Gerhard Fricke, Deutsches Wesen in deutscher Sprache und Dichtung, in: ZfdB 16 (1940), S. 299. 24 Erich Burck, Fachtagung der klassischen Altertumswissenschaft, in: Kieler Blätter, 1941, S. 245. 25 E. Weigt, Tagung der Hochschulgeographen in Wien am 28. und 29. September 1940, in: Geographische Zeitschrift 46 (1940), S. 378–379; Oscar Schmieder, Mitteilungen der Deutschen Geographischen Gesellschaft, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde 68 (1943), S. 385–391. 26 F. Neubert, Der Kriegseinsatz der deutschen Romanistik. Politische Aufgaben der Forschung. Ein Beitrag zum Neuaufbau Europas, in: Deutscher Wissenschaftlicher-Dienst 21 (1940), S. 5f.; Rudolf Brummer, Die Arbeitstagung der deutschen Romanisten in Weimar am 29. und 30. November 1940, in: Zeitschrift für neusprachlichen Unterricht 40 (1941), S. 36f. 27 H. Bock, Bericht über die Anglistentagung, in: Kieler Blätter (1940), S. 400; Dietze, Bericht über die Arbeitstagung, ebd., S. 397.

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Nationalsozialistische Hexenforschung Über die europäischen Hexenprozesse, denen zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert schätzungsweise 50.000 Menschen, überwiegend Frauen, zum Opfer fielen, ist seit ihrem Ausklang kontrovers diskutiert worden.1 An dieser vielschichtigen und äußerst heterogenen Debatte beteiligten sich keineswegs nur Historiker und Historikerinnen. Vielmehr vermochte das Sujet immer schon ein breites Interesse zu erwecken und erwies sich für sehr unterschiedliche politische, soziale und religiöse Strömungen als attraktiv, die die große moralische Aufladung des Themas für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren verstanden.2 Dabei haben sich im populären Verständnis zahlreiche, im Wesentlichen bereits auf das 19. Jahrhundert zurückgehende Mythen über die Hexenprozesse gehalten, um deren Korrektur sich die historische Hexenforschung bis heute bemüht.3 Das völkische und nationalsozialistische Interesse am Hexenthema ist ohne diese längere diskursive Vorgeschichte nicht zu verstehen.4 Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein können in der wissenschaftlichen wie populären Literatur zu Hexenglauben und Hexenverfolgung zwei Deutungsmuster oder Grundnarrative, ein „rationalistisches“ und ein „romantisches“, voneinander unterschieden werden.5 Beide haben bestimmte Argumentationsmuster und Topoi hervorgebracht, die sie für die völkisch-nationalsozialistische Rezeption des Themas attraktiv machten. Das rationalistische Deutungsmuster war weitgehend auf die Hexenverfolgung konzentriert, wobei dem vermeintlichen Hexenwesen selbst als einer Vernunft, Wissenschaft und Fortschritt widersprechenden Erscheinung keinerlei Realität beigemessen wurde. Entstanden war es bereits in der Frühen Neuzeit, denn die Zurückweisung der christlich-theologischen Hexenlehre durch Naturwissenschaft und Rationalismus gehörte bereits zu den zentralen Argumenten frühneuzeitlicher Gegner der Hexenprozesse.6 Je mehr sich diese Position etablierte, die Hexenprozesse also als Irrsinn und Verbrechen erschienen, desto drängender wurde die Frage nach den Verantwortlichen. Die rationalistischen Interpreten hatten diesbezüglich eine eindeutige Antwort parat und identifizierten die römische Kirche oder gar das Papsttum als Hauptschuldige – entgegen der Tatsache, dass die berüchtigte kirchliche Inquisition mit den Hexenprozessen kaum etwas zu tun hatte, sondern diese vielmehr nahezu ausschließlich von weltlichen Gerichten durchgeführt wurden.7 Seither gehört der Verweis auf den sogenannten Hexenwahn zu den zentralen Topoi des populären antiklerikalen, bisweilen auch dezidiert antichristlichen Diskurses. Eine erhebliche Zuspitzung hat das Thema denn auch durch die konfessionellen Konflikte des 19. Jahrhunderts erfahren, und so tragen zahlreiche Abhandlungen über die Hexenprozesse aus dieser Zeit den antiklerikalen Stempel des Kulturkampfes.8 Indes wiesen die rationalistischen Interpretationen einen offenkundigen Schwachpunkt auf. Über die Hintergründe des Hexenglaubens hatten sie nämlich recht wenig zu sagen. Genau in diese Lücke stößt die romantische Deutungsrich-

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tung: Im Zentrum steht hier weniger die Hexenverfolgung als der Hexenglaube. Anders als in rationalistischen Interpretationen erscheint dieser dabei nicht als bloßer Wahn oder Irrsinn, sondern als ein – wenn auch verzerrtes – Relikt aus einer ferner Vergangenheit. Auf diese Weise aber verwandelt sich der Hexenglaube in eine wertvolle Quelle oder Spur, die es nur richtig zu lesen gelte: Aber- und Hexenglauben, so das Grundmotiv romantischer Darstellungen, sagen nicht nur etwas über unserer eigene Vergangenheit aus, sondern verweisen mitunter auch auf wertvolle Traditionen, derer wir in der Moderne verlustig gegangen seien. Charakteristisch war hier die Ansicht, der Hexenglaube gehe auf vorchristliche Glaubensvorstellungen zurück oder aber, es habe bis in die Frühe Neuzeit hinein einen tatsächlichen Hexenkult gegeben. Von herausragender Bedeutung war in diesem Zusammenhang Jacob Grimm (1785–1863). Dieser hatte die Hexe in seiner „Deutschen Mythologie“ (1835) in ein Ensemble altgermanisch-heidnischer Glaubensvorstellungen gestellt und auf „weise Frauen“ zurückgeführt, die als Heilkundige, Seherinnen und Priesterinnen in der paganen Gesellschaft eine zentrale Funktion erfüllt hätten.9 Die Figur der germanischen weisen Frau – eine romantisch-literarische Fiktion – spielte in der populären Hexenliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts eine herausragende Rolle. Nicht zuletzt hat sie auch Eingang in die Esoterik gefunden und ist von verschiedenen neureligiösen Strömungen adaptiert worden. So wurde in Spiritismus, Okkultismus und Theosophie um 1900 vielfältig über ein verborgen tradiertes – „okkultes“ – Wissen der Hexen und deren magischen Fähigkeiten spekuliert.10 Beide Deutungsmuster, das rationalistisch-antiklerikale wie das romantischesoterische, sind bereits im frühen 20. Jahrhundert in der sogenannten völkischen Bewegung11 rezipiert und den ideologischen Ausrichtungen entsprechend anverwandelt worden. Völkische Darstellungen der Hexenprozesse zielten vor allem darauf ab, dem Geschehen einen Platz in rassenhistorischen Deutungen der deutschen Geschichte zuzuweisen. Die römische Kirche und das Christentum mit seiner universalistischen Lehre fungierten dabei in der Regel als fundamentale Antagonisten. Auf diese Weise avancierten Entitäten wie „das deutsche Volk“, die „deutsche Frau“ oder die „nordische Rasse“ zu eigentlichen Objekten einer kirchlich initiierten Verfolgung. Aus naheliegenden Gründen erwies sich das Thema besonders für den kleinen, aber radikalen Flügel des sogenannten völkischen Neuheidentums als attraktiv, also für Gruppierungen, die versuchten, das Christentum durch „Rückkehr“ zum „arteigenen“ Glauben der vermeintlichen germanischen Vorfahren zu überwinden.12 So stellten Hexenglauben und Hexenverfolgung für den völkischen Germanisten Bernhard Kummer (1897–1962) im Anschluss an das rationalistische Deutungsmuster einen „artfremden“ Import durch Kirche und Christentum in eine heile, gänzliche dem Diesseits verpflichtete Welt des Germanentums dar.13 Andere Ideologen wie Guido List (1848–1919), der Begründer der „Ariosophie“, einer Vermischung völkischer Rassentheorie mit Versatzstücken der zeitgenössischen Esoterik, oder der spätere Mitbegründer und (zeitweilige) Leiter des SS-Ahnenerbes →Herman Wirth (1885–1981) knüpften stärker an romantische Deutungen an und sahen in den

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verfolgten Hexen Priesterinnen eines altgermanischen paganen Kults.14 Auf besonderes Interesse stieß das Thema zudem bei Frauen des völkischen Spektrums wie Mathilde Ludendorff (1877–1966), die versuchten, völkischen Nationalismus, Rassismus und →Antisemitismus mit Forderungen nach Gleichstellung der Geschlechter zu einer Art völkischen Feminismus zu amalgamieren und die Hexenverfolgung entsprechend als kirchlichen Angriff auf die deutsche Frau zu interpretieren.15 Bei aller Differenz – konstitutives und verbindendes Element völkischer Hexendarstellungen war immer eine weit über den älteren (protestantischen) Antiklerikalismus hinausgehende radikale Ablehnung des Christentums. Im völkischen Hexendiskurs der 1920er Jahre machte sich zudem ein Element bemerkbar, das auch die nationalsozialistische Hexenforschung insgesamt prägen sollte: der dezidiert „antichristliche Antisemitismus“ (Uriel Tal), also eine Form der Judenfeindschaft, die sich zugleich gegen die christliche Religion als vermeintlich bloße Fortführung des Judentums richtet.16 So suchte man nach Grundlagen für die Hexenverfolgung im Alten Testament, stellte die römische Kirche in eine direkte Linie zum antiken Judentum oder aber witterte hinter den Hexenprozessen unmittelbar eine jüdische Verschwörung gegen das deutsche Volk. Eine konstitutive Rolle spielte zudem die Vorstellung einer angeblich auf das Judentum zurückgehenden und von dort ins Christentum gelangten Misogynie. In Ludendorffs Darstellung etwa werden „blonde Nornen als ‚Hexe[n]‘ verbrannt auf dem Holzstoße Jahwe zu Ehren“, also dem jüdischen Gott des Alten Testaments geopfert, während andere völkische Feministinnen die Hexenverfolgung in eine durch das „jüdische Gesetz“ in die Welt gebrachte „Herabwürdigung? der Frau“ zurückführten.17 Die ideologischen Argumentationsmuster der nationalsozialistischen Hexenforschung waren jedenfalls lange vor 1933 ausformuliert worden. Völkische Autoren und Autorinnen fühlten sich durch die nationalsozialistische „Machtergreifung“ ermutigt und publizierten in den Folgejahren eine wahre Flut an Pamphleten und Abhandlungen zur Geschichte der Hexenprozesse. Das Verhältnis der völkischen Gruppierungen zum Nationalsozialismus war jedoch komplex und durchaus ambivalent. Sofern diese nicht bereit waren, sich nationalsozialistischen Organisationen unterzuordnen und einzugliedern, wurde der Spielraum immer enger. Eine entscheidende Zäsur stellte in diesem Zusammenhang das 1937 ergangene Verbot zahlreicher als sektiererisch deklarierter Gruppierungen dar, die als Gefahr für den ideologischen Monopolanspruch der NSDAP angesehen wurden und den dringend benötigten Ausgleich mit den Kirchen zu gefährden schienen. Langfristig hatten völkische Neopagane im NS-Staat mithin nur eine Chance, wenn sie sich im Umfeld führender Nationalsozialisten ansiedelten, die selbst neopagane Positionen vertraten – wie Rudolf Heß, Walther Richard Darré, Heinrich Himmler oder Alfred Rosenberg.18 So wurde die nationalsozialistische Hexenforschung im Wesentlichen von den durch Rosenberg und Himmler kontrollierten Institutionen und Organisationen, dem Amt Rosenberg, dem →SS-Ahnenerbe und dem SD betrieben. Nicht zuletzt äußerten sich diese beiden nationalsozialistischen Führungsfiguren selbst wiederholt

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und ausführlich zum Hexenthema. Im „Mythus des 20. Jahrhunderts“ (1930) nimmt das Thema denn auch eine relativ zentrale Rolle ein. Dabei griff Rosenberg auf das rationalistisch-antiklerikale Deutungsmuster zurück und bezichtigte die römische Kirche und das Christentum, den „Hexenwahn“ in Europa verbreitet und „Millionen des Abendlandes“ ermordet zu haben.19 Den Hexenglauben selbst stellte er dabei als orientalischen Aberglauben dar, der letztlich durch die Etrusker nach Rom und damit ins Abendland gekommen sei. Der Exkurs im „Mythus“ zur Hexenverfolgung spielte in der Rezeption des „Mythus“ eine wichtige Rolle. Rosenbergs Gegner im so genannten Weltanschauungskampf, d.h. vor allem die katholische Kirche, haben seine Ausführungen aufgegriffen und – was freilich nicht allzu schwer war – widerlegt, um die Haltlosigkeit des gesamten „Mythus“ aufzuzeigen und vor den Gefahren des sogenannten Neuheidentums zu warnen. So gab die im März 1934 gegründete katholische „Abwehrstelle gegen nationalsozialistische, antichristliche Propaganda“ in Köln als Beilage zu den Amtsblättern der Diözesen die Studien zum Mythus des XX. Jahrhunderts heraus, wobei das Hexenthema eine wichtige Rolle spielte.20 Als Reaktion auf diese kirchliche Kritik kam Rosenberg nicht nur selbst wiederholt auf die Hexenprozesse zu sprechen,21 sondern engagierte einen ganzen Stab an Mitarbeitern, um den kirchlichen Angriffen entgegenzutreten. Darunter befanden sich auch einige völkische Germanisten und Historiker, die mit dem Verfassen antiklerikaler Pamphlete zur Hexenverfolgung beauftragt waren, unter anderem auch der bereits erwähnte Bernhard Kummer.22 Die zentrale Figur für die weltanschauliche Auseinandersetzung mit den Kirchen im Amt Rosenberg war aber zweifellos der Volkskundler Matthes Ziegler (1911–1992). Dieser hatte sich bereits in seiner Dissertation über „Die Frau im Märchen“ (1937) mit vermeintlich altgermanischen Feen und weisen Frauen befasst und dabei festgehalten, dass die „Wesensschilderung der Hexe ohne die Frauenverachtung und den Hexenglauben des christlichen Mittelalters nicht denkbar“ gewesen sei.23 Unter Zieglers redaktioneller Ägide erschien zudem das von Rosenberg herausgegebene antiklerikale Nachschlagewerk „Handbuch zur Romfrage“ (1940). Auch hier findet sich ein – vermutlich von Ziegler selbst verfasster – längerer Artikel zum „Hexenwahn“. Ganz im Sinne Rosenbergs wird der Hexenglaube als „Fremdkörper im ursprünglichen deutschen Volksglauben“ und kirchlich bewirkter „Einbruch des Orients“ in die heile Welt des germanischen Abendlandes dargestellt, der erst sein Ende gefunden habe, „als die Naturbetrachtung des arischen Menschen“ sich wieder habe entfalten können.24 Allerdings war das völkisch-rationalistische Deutungsschema während des Nationalsozialismus keineswegs unumstritten. Denn auch die völkisch-romantische Auffassung, wonach das Hexentum ein originäres Relikt des germanischen Heidentums darstellt, wurde vertreten. Und da sich im Nationalsozialismus oftmals ältere ideologische Dispute der völkischen Bewegung in institutionellen Auseinandersetzungen niederschlugen, überrascht es nicht, dass diese Position vor allem in den mit dem rosenbergschen Apparat konkurrierenden Institutionen der SS vertreten wurde.

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Die Prominenz des Themas für SS-Wissenschaftler erklärt sich nicht zuletzt aus einem persönlichen Faible Heinrich Himmlers, der sich nicht nur wiederholt zur Hexenverfolgung äußerte, sondern überdies das – bis heute – umfangreichste Dokumentationsprojekt zur Geschichte der Hexenprozesse initiierte. Ein ausführlicher öffentlicher Rekurs auf das Thema findet sich in einer Grundsatzrede des SS-Chefs über die Aufgaben der SS („Die Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation“) auf dem Reichsbauerntag zu Goslar vom November 1935. Hier konstruierte Himmler eine lange Leidensgeschichte kirchlicher Verfolgungen in Deutschland und kam in diesem Zusammenhang auch auf die Hexenprozesse zu sprechen: „Wir sehen, wie die Scheiterhaufen aufloderten, auf denen nach ungezählten Zehntausenden die zermarterten und zerfetzten Leiber der Mütter und Mädchen unseres Volkes im Hexenprozess zu Asche brannten.“ Das antiklerikale Motiv lag also klar auf der Hand. Hinzu kam ein dezidierter antichristlicher Antisemitismus, denn letztlich erklärte Himmler die Hexenprozesse zu einem Teil einer jüdischen Verschwörung gegen das deutsche Volk: „Wir können in vielen Fällen nur ahnen, dass hier unser aller ewiger Feind, der Jude, in irgendeinem Mantel oder durch irgendeine seiner Organisationen seine blutige Hand im Spiel hatte.“25 In anderen Reden stellte der SS-Chef auf weitere ideologische Komponenten ab. So verstand er es im Februar 1937, Homosexualität und Hexenprozesse miteinander in Beziehung zu setzen und präsentierte die gesamte „Kirchenorganisation in ihrer Führerschaft“ als „homosexuelle[n] Männerbund“, dessen „sadistisch perverse“ Tendenzen in den Hexenprozessen exemplarisch zum Ausdruck gekommen seien. Besonders wichtig schien ihm dabei die Betonung des weiblichen Opfergangs für Volk und Glauben: „Die größten Blutopfer in den Hexen- und Ketzerprozessen hat die deutsche Frau gebracht und nicht der Mann.“26 Ganz eindeutig stand für Himmler ebenso wie für Rosenberg die antiklerikale Instrumentalisierung der Hexenprozesse im Vordergrund. Dennoch gibt es hinreichende Indizien dafür, dass er sich auch für die „okkulten“ Hintergründe des Hexenglaubens interessierte und mithin Ansichten zuneigte, wie sie der romantisch-esoterischen Literatur zu entnehmen waren. In beide Richtungen hat er in den verschiedenen SS-Institutionen zu Forschungen angeregt. Dabei traten die entsprechenden Autoren und Autorinnen schon bald nicht nur – wie in anderen Feldern auch – in Konkurrenz zu den Anhängern Rosenbergs, sondern auch untereinander. Als dezidierter Angriff auf das Amt Rosenberg ist etwa die Parteinahme der SS für den Wiener Germanisten Otto Höfler (1901– 1987) zu sehen. Dieser hatte den von Rosenberg unterstützten Bernhard Kummer frontal angegriffen und dessen Darstellung einer friedlichen und rationalen Germanenwelt, in die der Hexenglaube als Fremdkörper eingedrungen sei, scharf zurückgewiesen. Vielmehr führte er eine Tradition germanischer „ekstatischer Männerbünde“ an, die auf der Jagd nach „weiblichen Dämonen“ gewesen seien – eine Tradition, die später von der Kirche pervertiert worden sei.27 Unterstützt wurde Höfler in seiner weiteren akademischen Kariere vor allem vom Ahnenerbe der SS. Als Institution, die sich im Sinne Herman Wirths die Erforschung der arisch-germanischen

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„Geistesurgeschichte“ zur Aufgabe gestellt hatte, sah man sich hier prädestiniert, auch dem Hexenglauben auf den Grund zu gehen. Im Zentrum stand dabei der schon in der romantischen Mythologie mit der Hexenfigur in Verbindung gebrachte angebliche germanische Naturkult. Diese Intention lag etwa dem groß angelegten, (heute würde man sagen: interdisziplinären) Forschungsverbund „→Wald und Baum in der arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte“ zugrunde.28 Maßgebliche Figur dieses Unterfangens war der Leiter der Ahnenerbe-Abteilung für indogermanische Glaubensgeschichte, →Otto Huth (1906–1998). Dieser hatte in seiner Schrift Die „Fällung des Lebensbaumes“ (1936) eine umfassende Darstellung der Christianisierung der Germanen aus völkischer Sicht geliefert. Dabei kam er schließlich auch auf das „Verbot der Weissagung und Traumdeutung“ und die damit verbundene Verfolgung der sogenannten weisen Frauen zu sprechen. Im Sinne des antichristlichen Antisemitismus stellten die Hexenprozesse dabei für ihn letztlich Produkte jüdischen Denkens dar: „Die Seherin starb – der judaistische Priester zog ein.“29 Die gleiche Kombination völkisch-romantischer Hexenvorstellungen mit Antiklerikalismus und antichristlichem Antisemitismus lassen auch andere im Umfeld des SS-Ahnenerbes entstandene Texte zur Hexenverfolgung erkennen. So beklagte sich in der Ahnenerbe-Zeitschrift „Germanien“ eine gewisse Berta Dultz über den Untergang des „germanische[n] Mythos in Hexen- und Teufelsgeschichten“ und interpretierte die Legenden über den Hexensabbat als verfälschte Berichte über das germanische „Fest der Mutter Erde und der Frauen, wo man auf den Wallbergen (Götterbergen) die Befreiung des Frühlings aus den Fesseln des Winters und das Erwachen der Mutter Erde in der liebenden Umarmung der Sonne“ gefeiert habe. Schließlich habe die auf die „Ausrottung“ dieser „heidnischen Vorstellungen und Gebräuche“ zielende Hexenverfolgung „die germanischen Völker in ihrem rassischen Bestande unheilbar geschädigt“.30 In diese Richtung gehen auch die Äußerungen des völkischen Schriftstellers Wulf Sörensen, Hauptautor der zum Ahnenerbe-Verlagskomplex gehörenden Zeitschrift „Nordland“. Untermauert von einer martialischen bildlichen Darstellung einer Hexenverbrennung beklagt Sörensen die „planmäßig[e]“ Ermordung der blonden und blauäugigen „nordischen Mütter unseres Volkes“ durch Kirche und Christentum im Zuge der Hexenverfolgung.31 Trotz intensiven Bemühens gelang es dem Ahnenerbe jedoch nicht, die SS-Hexenforschung vollständig an sich zu ziehen. Die Beschäftigung mit den Hexenprozessen nämlich war seit 1935 alleinige Aufgabe des mit dem Kirchenkampf betrauten Sicherheitsdienstes (SD) der SS. Die Zuständigkeit des SD geht auf eine persönliche Anordnung Himmlers an den SD zur reichsweiten Erfassung aller Hexenprozesse zurück, den „H[exen]-Sonderauftrag“.32 Zunächst an die wissenschaftliche Forschungsstelle des SD-Hauptamtes angebunden, war das groß angelegte Projekt nach Gründung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) 1939 als eigene Dienststelle im Amt II bzw. VII („Weltanschauliche Forschung und Auswertung“) des sogenannten Gegnerforschers →Franz Alfred Six angesiedelt und stand hier wiederum unter der Leitung des katholischen Renegaten Rudolf Levin (1909–1945). Die anti-

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klerikale Intention des Unterfangens lag klar auf der Hand. Eindeutige Aussagen, worin genau das konkrete Ziel des H-Auftrages bestanden hat, gibt es indes nicht. Als Problemfelder des H-Auftrages wurden jedoch allgemein die „Erforschung der rassen- und bevölkerungsgeschichtlichen Wirkungen der Hexenprozesse“ und die „Wertung der Frau in den Hexenprozessen“ genannt.33 Zu diesem Zwecke stellte man zunächst eine umfangreiche Sammlung neuerer und älterer Literatur zur Hexenverfolgung zusammen. Der „H-Sonderauftrag“ war aber in erster Linie ein empirisch-quantitatives Projekt: Die Hexenforscher des SD beabsichtigten durch Archivrecherchen eine möglichst vollständige Erfassung sämtlicher in den Territorien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation durchgeführten Hexenprozesse und hielten ihre Daten bis zur kriegsbedingten Einstellung des Unterfangens im Januar 1944 (!) auf fast 34.000 Karteikarten fest. Diese bilden heute die in Poznań befindliche so genannte Hexenkartothek. Damit stellt der HAuftrag das bis heute quantitativ umfangreichste Projekt zur Erforschung der Hexenprozesse dar. Heutige Historiker und Historikerinnen der Hexenprozesse bemängeln zwar die Qualität der Sammlung – unklare Kriterien der Erfassung, unvollständige Daten, keine Berücksichtigung des sozialen und historischen Kontextes –, doch für das mutmaßlich ursprüngliche Ziel des Unterfangens, also als Materialsammlung zur propagandistischen Auswertung im antiklerikalen Kampf nach einem vermeintlichen „Endsieg“, hätte die Kartei allemal genügend Stoff geboten. Geplant war ursprünglich auch die Herausgabe einer wissenschaftlichen Reihe sowie die Popularisierung des Themas in Form von historischen Romanen und Propagandafilmen – alles Vorhaben, die nicht über das Planungsstadium hinauskamen. Die nationalsozialistische Hexenforschung basierte mithin weitgehend auf älteren völkischen Vorstellungen zum Thema, die ihrerseits auf Interpretationsmuster des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurückgehen. Die Attraktivität des Themas beruhte dabei im Wesentlichen darauf, dass es die Thematik offenkundig erlaubte, zentrale ideologische Elemente wie Rassentheorie, Antiklerikalismus, Antisemitismus und völkische Geschlechterideologie zu kombinieren und in historisch-narrativer Form zu transportieren. Grob gesprochen, lassen sich innerhalb der völkisch-nationalsozialistischen Interpretationen zwei Varianten voneinander unterscheiden: Ein völkisch-rationalistisches Deutungsmuster, das während des Nationalsozialismus vor allem von Alfred Rosenberg und in den ihm unterstellten Institutionen vertreten wurde, schilderte den Aber- und Hexenglauben als eine vermeintlich orientalische, ungermanische Tradition. Völkisch-romantische und esoterische Deutungen, wonach der Hexenglaube ein verborgenes Relikt germanischen Heidentums darstelle, fanden indes eher im Umfeld des SS-Ahnenerbes Platz. Das entscheidende Motiv

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dafür, sich mit dem Thema überhaupt zu befassen, stellten jedoch in beiden Fällen der Antiklerikalismus und antichristlicher Antisemitismus dar.

Felix Wiedemann

1 Vgl. zur Geschichte der Hexenprozesse als Überblick Walter Rummel u.a., Hexen und Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2012; Wolfgang Behringer, Hexen. Glaube, Verfolgung, Vermarktung, München 2009. 2 Vgl. zur populären Rezeption und Adaption des Themas im 19. und 20. Jahrhunderts allg. Felix Wiedemann, Rassenmutter und Rebellin. Hexenbilder in Romantik, völkischer Bewegung, Neuheidentum und Feminismus, Wiesbaden 2007 sowie die Beiträge in Katrin Moeller (Hg. u.a.), Realität und Mythos. Hexenverfolgung und Rezeptionsgeschichte, Hamburg 2003. 3 Vgl. als Korrektur der gängigen Mythen über die Hexenprozesse Rita Voltmer, Hexen. Wissen, was stimmt, Freiburg 2008. 4 Vgl. zur Präsenz des Themas im Nationalsozialismus allg. Barbara Schier, Hexenwahn und Hexenverfolgung. Rezeption und politische Zurichtung eines kulturwissenschaftlichen Themas im Dritten Reich, in: Bayrisches Jahrbuch für Volkskunde (1990), S. 43–117; Wiedemann, Rassenmutter und Rebellin, S. 169–184; Katarzyna Leszczynska, Hexen und Germanen. Das Interesse des Nationalsozialismus an der Geschichte der Hexenverfolgung, Bielefeld 2009 sowie die Beiträge in Sönke Lorenz (Hg. u.a.), Himmlers Hexenkartothek. Das Interesse des Nationalsozialismus an der Hexenverfolgung, Bielefeld 1999. 5 Vgl. zu dieser Unterscheidung William E. Monter, The Historiography of European Witchcraft: Progress and Prospects. In: The Journal of Interdisciplinary History 2 (1972), S. 435–452. 6 Vgl. Brian P Levack, The Decline and End of Witchcraft Prosecutions, in: Bengt Ankarloo (Hg. u. a.), Witchcraft and Magic in Europe. The Eighteenth and Nineteenth Centuries, London 1999, S. 1– 94. 7 Hierzu Rainer Decker, Die Päpste und die Hexen. Aus den geheimen Akten der Inquisition, Darmstadt 2003. 8 Vgl. Wiedemann, Rassenmutter und Rebellin, S. 36–55; Jörg Haustein, Von der Instrumentalisierung zur historischen Erkenntnis – die Auseinandersetzung um den Hexenwahn im 19. Jahrhundert, in: Moeller (Hg. u.a.), Realität und Mythos, S. 163–177. 9 Jacob Grimm, Deutsche Mythologie. Bd. 1, Wiesbaden 2003, S. 483, 329; zur Hexe bes. S. 860–924. Vgl. insgesamt Wiedemann, Rassenmutter und Rebellin, S. 56–84. 10 Quellenhinweise in Wiedemann, Rassenmutter und Rebellin, S. 85–114. 11 Im Anschluss an Uwe Puschner wird „völkisch“ hier im engen Sinne verwendet und auf ein spezifisches Spektrum innerhalb der deutschen extremen Rechten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bezogen, das sich selbst als „völkische Bewegung“ bezeichnete. Vgl. Uwe Puschner, Völkisch. Plädoyer für einen ‚engen‘ Begriff, in: Paul Ciupke (Hg. u.a.), „Erziehung zum deutschen Menschen“. Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik, Essen 2007, S. 53–66; vgl. ferner Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich, Darmstadt 2001; Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008. 12 Vgl. hierzu die Beiträge in: Stefanie von Schnurbein (Hg. u.a.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001. 13 Bernhard Kummer, Midgards Untergang. Germanischer Kult und Glaube in den letzten heidnischen Jahrhunderten, Leipzig 1927.

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14 Guido List, Das deutsche Hexenthum, in: Der Scherer. Erstes illustriertes Tiroler Witzblatt für Politik, Wissenschaft und Kunst 2.1900, S. 5–7; Herman Wirth, Was heißt deutsch. Ein urgeistesgeschichtlicher Rückblick zur Selbstbesinnung und Selbstbestimmung, Jena 1930, bes. S. 61–63. 15 Mathilde Ludendorff/W. v. D. Cammer, Christliche Grausamkeit an Deutschen Frauen. Zwei Aufsätze von Mathilde Ludendorff und W. v. D. Cammer, München 1934. Vgl. zur Anwendung des Feminismusbegriffs auf dieses Spektrum Christiane Streubel, Radikale Nationalistinnen. Agitation und Propaganda rechter Frauen in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 2006, S. 54–67. Vgl. zu den skizzierten völkischen Hexenrekursen Wiedemann, Rassenmutter und Rebellin, S. 117–168. 16 Uriel Tal, Christians and Jews in Germany. Religion, Politics and Ideology in the Second Reich 1870–1914, London 1975, S. 223–289. 17 Mathilde Ludendorff, Deutsche Gottglaube, Leipzig 1927, S. 49; Margarethe Kurlbaum-Sieber[t], Nur das jüdische Gesetz nahm dem Weibe das Priestertum, in: Irmgard Reichenau (Hg.), Deutsche Frauen an Adolf Hitler, Leipzig 1933, S. 54–58. 18 Vgl. Wolfgang Dierker, Himmlers Glaubenskrieger. Der Sicherheitsdienst der SS und seine Religionspolitik 1933–1945, Paderborn u.a. 2002, S. 200–210; Corinna Treitel, A Science for the Soul. Occultism and the Genesis of the German Modern, Baltimore u.a. 2004, S. 220–242 ferner grundlegend die Beiträge in Uwe Puschner u.a., Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus, Göttingen 2012. 19 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1933 [1930], S. 67. 20 Studien zum Mythus des XX. Jahrhunderts mit Anhang „Der Apostel Paulus und das Urchristentum“, Berlin 1934, S. 12–15, 29, 51–53. Zum Kontext Raimund Baumgärtner, Weltanschauungskampf im Dritten Reich. Die Auseinandersetzung der Kirchen mit Alfred Rosenberg, Mainz 1977. 21 Alfred Rosenberg, An die Dunkelmänner unserer Zeit. Eine Antwort auf die Angriffe gegen den „Mythus des 20. Jahrhunderts“, München 1935, S. 58–60. 22 Alfred Miller, „Wissenschaft“ im Dienste der Dunkelmänner. Eine Abrechnung mit den Verfassern und Hintermännern der „Studien zum Mythus des 20. Jahrhunderts“, Leipzig 1935; Edmund Mudrak, Grundlagen des Hexenwahns, Leipzig 1936; Walter Jaide, Wesen und Herkunft des mittelalterlichen Hexenwahns im Lichte der Sagaforschung, Leipzig 1936; Bernhard Kummer, Germanenkunde im Kulturkampf. Beiträge zum Kampf um Wissenschaft, Theologie und Mythus des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1935. 23 Matthes Ziegler, Die Frau im Märchen, Leipzig 1937, S. 226–228. 24 Art. Hexenwahn, in: Alfred Rosenberg (Hg.), Handbuch der Romfrage. Unter Mitwirkung einer Arbeitsgemeinschaft von Forschern und Politikern. Bd. 1, München 1940, S. 582–587. 25 Heinrich Himmler, Die Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation, in: Der 3. Reichsbauerntag in Goslar vom 10.–17.11.1935, hg. v. Reichsnährstand, Berlin 1935, S. 45–46. 26 Rede des Reichsführers-SS anlässlich der Gruppenführer-Besprechung in Tölz am 18.2.1937; Auszüge in: Bradley F. Smith (Hg. u.a.), Heinrich Himmler: Geheimreden 1933–1945 und andere Ansprachen, Frankfurt a. M. 1974, S. 103. 27 Otto Höfler, Kultische Geheimbünde der Germanen. Bd. 1, Frankfurt a. M. 1934. 28 Bernd-A. Rusinek, „Wald und Baum in der arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte“ – Ein Forschungsprojekt des ‚Ahnenerbe‘ der SS 1937–1945, in: Albrecht Lehmann (Hg. u.a.), Der Wald – Ein deutscher Mythos? Perspektiven eines Kulturthemas, Berlin u.a. 2000, S. 267–364. 29 Otto Huth, Die Fällung des Lebensbaumes. Die Bekehrung der Germanen in völkischer Sicht, Berlin 1936, S. 45. 30 Berta Dultz, Der Ursprung des Hexenwahns, in: Germanien. Monatshefte für Germanenkunde zur Erkenntnis deutschen Wesens 9 (1937), S. 270–276, 276. 31 Wulf Sörensen, Hexenverbrennungen 1484–1782, in: Nordland 2 (1934), S. 298.

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32 Hierzu ausführlich Jörg Rudolph, „Geheime Reichskommando-Sache“ – Hexenjäger im Schwarzen Orden. Der H-Sonderauftrag des Reichsführers SS, 1935–1944, in: Lorenz, Himmlers Hexenkartothek, S. 47–98; Leszczynska, Hexen und Germanen, S. 29–122. 33 Leszczynska, Hexen und Germanen, S. 85–86.

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Naturschutz als völkische Aufgabe Die Geschichte der Naturschutzbewegung ist ein relativ junger Wissenschaftszweig. Doch von Beginn an wurde deutlich, dass führende Naturschützer im Nationalsozialismus eine dem Regime gegenüber unterstützende Haltung einnahmen oder sogar durch ihren Anspruch an die „deutschgemäße“ Gestaltung der Landschaft im Sinne der Blut-und-Boden-Ideologie an Verbrechen gegen die Menschlichkeit indirekt, das heißt planerisch beteiligt waren.1 Naturschutz in Deutschland entstand ursprünglich in einer negativen Reaktion konservativ-bürgerlicher Eliten auf die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Vor allem vier Personen wurden für die weitere Entwicklung des Naturschutzes prägend, weil es ihnen gelang, ihr Anliegen konzeptionell, organisatorisch und – mit Ausnahme von Hermann Löns – auch rechtlich zu institutionalisieren. Der Komponist und Musiker Ernst Rudorff (1840–1916) übte harsche Kritik an den Auswirkungen der Industrialisierung auf Natur und Landschaft. Er sah darin fundamentale Gefahren: „Fahren wir fort, so zu wirtschaften wie bisher, Schönheit, Ursprünglichkeit, und Vergangenheit für nichts zu erachten, so werden wir bald ein ausgelebtes Volk sein.“2 Die von ihm angenommene Verbindung vom Umgang mit Natur und Landschaft als öffentliches Gut und der Höhe der geistigen Eigenschaften des in ihnen lebenden Volkes brachte ihn nahe an die völkische Auffassung der Blut- und Boden-Ideologie. Rudorff ordnete den Naturschutz in ein größeres Programm ein, das er als „Heimatschutz“ bezeichnete.3 Es gelang ihm zusammen mit dem Architekten und späteren NSDAP-Politiker Paul Schultze-Naumburg (1889–1949) seine Arbeit auf eine breitere Basis zu stellen. Sie gründeten 1904 den Deutschen Bund Heimatschutz.4 Erste Erfolge auf legislativer Ebene erreichte die Bewegung in Form von Gesetzen gegen die Verunstaltung der Landschaft, die der Zersiedelung Einhalt gebieten sollten. Sie wurden ab 1907 in fast allen Staaten des Deutschen Kaiserreiches erlassen.5 Die zweite prägende Persönlichkeit des frühen Naturschutzes war Hugo Conwentz (1855–1922). Er war zunächst Museumsdirektor des naturkundlichen und vorgeschichtlichen Museums der Provinz Westpreußen.6 Aufgrund guter Kontakte konnte er das Preußische Kultusministerium davon überzeugen, dass Naturdenkmäler wie beeindruckende alte Bäume schutzwürdig seien. 1906 beschloss die Regierung sogar, eine Staatliche Stelle für Naturdenkmalpflege in Preußen in Danzig einzurichten, die Conwentz ab 1910 in Berlin hauptamtlich leitete.7 Sein Nachfolger an der Spitze dieser Organisation wurde Walther Schoenichen (1876–1956). Er vertrat bereits in der Weimarer Republik rassistische Standpunkte, die bis zur Eugenik reichten. Sein Parteieintritt in die NSDAP erfolgte offiziell 1933, er selbst gab allerdings das Jahr 1932 an.8 Mit dem von den Nationalsozialisten erlassenen Reichsnaturschutzgesetz von 1935 wurde die Staatliche Stelle für Natur-

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denkmalpflege in Preußen zur Reichsstelle für Naturschutz erhoben.9 Naturschutz war damit als Staatsaufgabe im Behördenapparat verankert – und ist es bis heute. Die dritte für den Naturschutz der Jahrhundertwende wichtige Persönlichkeit war eine Frau, Lina Hähnle (1851–1941). Aus persönlichen Motiven an der Avifauna interessiert, gründete sie 1899 den Bund für Vogelschutz. Sie wollte in der breiten Öffentlichkeit dafür werben, die durch die Auswirkungen der Industrialisierung bedrohten Vogelpopulationen zu erhalten und zu fördern. Sie traf mit ihrem Anliegen auf einen hohen Zuspruch. Die Zahl von 1.000 Mitgliedern wurde bereits wenige Tage nach der Gründung des neuen Verbandes erreicht.10 Hähnle vertrat ein ästhetisches Konzept, das sich gut in die konservative Kulturtheorie des Heimatschutzes einordnete. Der Aufruf, dem Bund für Vogelschutz beizutreten, endete 1899 mit dem demselben Satz wie ein gleiches Dokument des Jahres 1914: „Unserer Heimat soll ihre Schönheit und Eigenart erhalten werden, unser Volk soll gelehrt werden, dieselbe zu lieben und zu verstehen.“11 Die Machtübernahme der Nationalsozialisten begrüßte der Bund für Vogelschutz später in aller Form.12 Für die vierte Wurzel des Naturschutzes kann Hermann Löns (1866–1914) stehen. In seiner Biographie immer wieder vor große Herausforderungen gestellt, war ihm das Naturerlebnis und dabei insbesondere die Jagd eine der wenigen stabilen Stützen seiner Persönlichkeit. Die Jagd könne den „entarteten“ Menschen wieder zu sich und zur →Volksgemeinschaft zurückführen. Zu diesem Verständnis gesellten sich einerseits eine Ablehnung der Lehre Charles Darwins (1809–1882), andererseits sozialdarwinistische Einstellungen, eine antidemokratischen Haltung, Antiurbanismus, Antimaterialismus und eine Verehrung des Volks als Träger der Nation.13 Als Schriftsteller setzte er die Lüneburger Heide mit seinem literarischen Schaffen in den Augen des Publikums erst in Wert.14 Bis dahin galt sie als ein Landstrich ohne große Bedeutung, der aufgrund der schlechten Böden auch kaum agrarisch genutzt werden konnte. Diese schriftstellerische Tätigkeit fand ihren öffentlichen Durchbruch just zu dem Zeitpunkt, als sich der in Stuttgart ansässige Verein Naturschutzpark für die Lüneburger Heide zu interessieren begann. 1909 in Stuttgart von der Redaktion der populärwissenschaftlichen Zeitung Kosmos gegründet, verfolgte er die Schaffung von „Naturschutzparken“. Sie sollten sichern, dass die „typischen deutschen Landschaften“ und ihre Natur in einem vom Menschen unberührten oder vorindustriell genutzten Zustand erhalten blieben. Wieder war das Ziel die Pflege des „Heimatsinns“. Löns und der Verein Naturschutzpark hatten mit weiteren Partnern Erfolg: Etwa 200 Quadratkilometer der Lüneburger Heide in den Kreisen Soltau und Winsen wurden 1921 als erster großflächiger Naturschutzpark Deutschlands ausgewiesen.15 Mit dieser Darstellung sind die wichtigsten Entwicklungen der Geschichte des Naturschutzes bis 1933 aufgezeigt, seit er sich um 1880 als soziale Bewegung konstituierte. Der deutsche Naturschutz hatte das Ziel, die vorindustrielle Natur und Landschaft zu erhalten. Zur Legitimation bemühte er vor allem ein Heimatkonzept, das

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durch seinen deterministischen Zusammenhang von Volk, Brauchtum und Landschaft der völkischen Blut- und Boden-Ideologie nahestand. Seine soziale Basis war in erster Linie konservativ respektive rechtskonservativ. Es gelang ihm, sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Vereinen oder halbstaatlichen Strukturen zu organisieren. Einige wichtige Funktionäre waren bereits in der Weimarer Republik dem völkischen Spektrum zuzuordnen; so etwa Hans Schwenkel (1886–1957), seit 1924 hauptamtlicher Leiter der Staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege in Baden Württemberg. Die besondere Rolle des Naturschutzes sah dieser darin, die Lebensgrundlagen des deutschen Volkes zu erhalten, und dadurch zur Kontinuität der deutschen Rasse beizutragen.16 Er bezog scharf Position gegenüber der materialistischen Denkweise und die durch die Industrialisierung veränderte Lebensweise der Menschen, die er 1933 mit den Stichworten „Verstädterung, Mechanisierung, Seelenlosigkeit, Gleichmacherei und Entwurzelung“ beschrieb. Als Synonyme hierfür benutzte er auch „jüdisch-liberalistische Wirtschaftsauffassung“. Er forderte die „Beibehaltung der deutschen Bauweise“, „die deutsche Kulturlandschaft soll ein deutsches und kein internationales Gesicht haben“.17 In den Nationalsozialismus ordneten sich die bisher dargestellten Strukturen und ihre führenden Akteure schnell ein und sie unterstützten das System. Ein wichtiger Motor dafür war der Erlass des Reichnaturschutzgesetzes von 1935. Auf Grundlage des sogenannten „Reichsermächtigungsgesetzes“ und damit ohne parlamentarische Befassung erlassen, machte es den Naturschutz zum Instrument der nationalsozialistischen Ideologie. Treibender Akteur war Hermann Göring, der aus persönlichem Interesse und als Reichsforstmeister den Naturschutz in seine Zuständigkeit zog.18 Seine rechte Hand wurde in diesem Bereich einer der einflussreichsten Naturschützer, der Nationalsozialist Hans Klose (1880–1963). Er wurde 1938 als Nachfolger von Walther Schoenichen Leiter der Reichsstelle für Naturschutz.19 Bekannte Naturschutzverbände wie der oben genannte Bund für Vogelschutz e. V. oder in der Pfalz die Pollichia e.V. änderten in der Folge ihre Satzung und drängten damit Juden im Sinne der Nürnberger Rassegesetze aus dem Verein.20 Der an die Sozialdemokratische Partei Deutschland angelehnte Tourismusverein Die Naturfreunde, der satzungsmäßig auch Naturschutz verfolgte, wurde verboten, auch wenn die Reichsleitung des Verbandes noch versuchte, eine Sprachregelung mit den neuen Machthabern zu finden.21 Neben und zum Teil in Konkurrenz zu den bisher genannten Kräften im Naturschutz entwickelten sich im Nationalsozialismus noch weitere Akteure mit erstaunlicher Dynamik. Hierzu gehörte Heinrich Himmler, der in seiner Funktion als →Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) einen Stab an Raumplanern, Agrarwissenschaftlern und Naturschützern um sich sammelte, der die Neuordnung der von der Wehrmacht und der SS eroberten Gebiete insbesondere in Osteuropa landschaftlich plante oder tatsächlich planerisch begleitete.22 Die konkreten Maßnahmen reichten sogar bis zur Grüngestaltung der Stadt Auschwitz und bis zur landschaftlichen Einrahmung der Krematorien des Konzentrationslagers

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Auschwitz-Birkenau. Diese Struktur konkurrierte wiederum mit den von Fritz Todt (1891–1942) im Zuge des Reichsautobahn- und Westwallbaus geförderten „Landschaftsanwälten“, einer Gruppe vor allem freischaffender Landschaftsgestalter. Unter der Führung des „Reichslandschaftsanwalts“ Alwin Seifert (1890–1972) arbeiteten sie als Berater und Landschaftsplaner, um technische, auch militärische Bauwerke in die Umgebung einzufügen. Dabei wurde die Arbeit am Westwall für sie ein Karrieresprungbrett, das sie in engen Kontakt mit der Wehrmacht und den Naturschützern im RKF brachte. Während diese die Landschaftsanwälte auch im Sinne der Grüntarnung schätzten, verfolgten sie selbst das weitergehende Ziel, „grüne Wehrlandschaften“ zu schaffen, die gemäß der Blut-und-Boden-Ideologie den Deutschen „erdgebundene Kraft“ verleihen sollten.23 Die hier genannten Akteure und die dahinter stehenden Institutionen konkurrierten teilweise miteinander, schlossen aber auch Koalitionen. Im Reichsforstamt wurden 1942 unter dem Ersten Naturschutzreferenten Lutz Heck (1892–1983) Zuständigkeiten neu geregelt, wobei der beim Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums verankerte Heinrich Wiepking-Jürgensmann (1891–1973) die Leitung des Referats Landschaftschutz und Landschaftsgestaltung in den neuen Siedlungsgebieten im Reichsforstamt zusätzlich mit übernahm.24 Heck wie auch Wiepking-Jürgensmann vertraten in ihren Funktionen völkische Postionen bis hin zum offenen Rassismus.25 Im Hinblick auf die Legitimation dieser Akteure darf die wissenschaftliche Ebene nicht vergessen werden. Hier spielte Reinhold Tüxen (1899–1980), der durch seine Vegetationskartierungen und die darauf beruhenden Pflanzempfehlungen heimischer Arten die Blut-und-Boden-Ideologie scheinbar empirisch belegte, eine Schlüsselrolle.26 Nach 1945 konnten fast alle bisher genannten Protagonisten aus der Zeit des Nationalsozialismus einen Großteil der institutionellen Strukturen und die institutionalisierten Konzepte in die Bundesrepublik Deutschland überführen. Die Kontinuität im Naturschutz ist als sehr hoch einzuschätzen. Naturschutz galt den Alliierten Besatzern der Westzonen offenbar weitgehend als unverdächtig. Die Kontinuitäten blieben außerhalb ihrer Aufmerksamkeit. Das kaum veränderte Reichsnaturschutzgesetz wurde 1958 vom Bundesverfassungsgericht zu Landesrecht erklärt und galt in den meisten Bundesländern bis 1976 weiter.27 Klose, der Leiter der Reichsstelle für Naturschutz, übernahm 1954 die Leitung der neu gegründeten Bundesanstalt für Naturschutz und Landschaftspflege (BANL).28 In diese Einrichtung wurde auch Tüxens Zentralstelle für Vegetationskartierung überführt.29 Nachfolger von Klose wurde 1954 der ehemalige Landschaftsanwalt Gert Kragh, der in seiner Amtszeit die im RKF kodifizierte „Landespflege“, also die zielgerichtete Gestaltung der Landschaft, forcierte.30 Gemeinsam mit dem Naturschutzjuristen des RKF, Erhard Mäding, der jetzt für die Schutzgemeinschaft →Deutscher Wald aktiv

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war, gab er zwischen 1954 und 1961 die Mitteilungen über Landespflege heraus und führte die Zeitschrift danach als Mitteilungen über Landschaftspflege in seiner Funktion als Leiter der Bundesanstalt für Naturschutz und Landschaftspflege (BANL) allein weiter.31 Mäding und Kragh scheuten sich nicht, auf aktuelle Publikationen von Hygienikern und Eugenikern der NS-Zeit im weiteren Kontext von „umfassender Landespflege“ empfehlend hinzuweisen.32 Heinrich Wiepking-Jürgensmann, wichtiger Akteure des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums, erhielt ebenso wie sein ehemaliger Vorgesetzter →Konrad Meyer an der Universität Hannover eine Professur und bildete einige Generationen von Naturschützern aus. Auch der „Reichslandschaftanwalt“ Seifert erreichte akademische Würden und unterrichtete als zuletzt außerordentlicher Professor an der Technischen Hochschule München, bis er 1955 emeritiert wurde.33 Der Bund für Vogelschutz war 1951 wieder in der ganzen Bundesrepublik Deutschland in seinen Gliederungen vertreten.34 An der Erarbeitung der „Grünen Charta von der Mainau“ vom 20. April 1961, dem Gründungsdokument eines der einflussreichsten Gremien des damaligen Naturschutzes, dem Deutschen Rat für Landespflege, beteiligten sich überproportional viele in der NS-Zeit engagierte Naturschutzfunktionäre wie Seifert und WiepkingJürgensmann sowie dessen Schüler Gerhard Olschowy (1915–2002) maßgeblich. Gerhard Olschowy – SS-Mitglied seit 1934 bis mindestens 1944, ab 1953 Referent im Bundeslandwirtschaftsministerium – wurde 1964 Nachfolger von Kragh in der Bundesanstalt für Vegetationskunde, Naturschutz und Landschaftspflege. Nicht überraschend forcierte er die Einführung der Landschaftsplanung in das Naturschutzrecht.35 Der Verein Naturschutzpark, der dem Traum von Heck im Nationalsozialismus, nämlich im ganzen Großdeutschen Reich Nationalparke einzurichten, am ehesten nahe kam, erreichte besonders viel.36 1953 übernahm der Hamburger Kaufmann →Alfred C. Toepfer den Vorstandsvorsitz. Er hatte 1931 mehrere Stiftungen zur „Förderung des deutschen Volkstums“ gegründet und stand in der Zeit des Nationalsozialismus in engem Kontakt mit Vertretern der höchsten Führungsebene des Regimes. Nach 1945 öffnete er seine Stiftungen vielen Funktionären des NS-Regimes. Toepfer gelang an der Spitze des Vereins Naturschutzpark die Etablierung von Naturparken in der ganzen Bundesrepublik Deutschland.37

Nils Franke

1 Vgl. Gert Gröning u.a., Die Liebe zur Landschaft. Teil II. Der Drang nach Osten. Zur Entwicklung der Landespflege im Nationalsozialismus und während des Zweiten Weltkrieges in den „eingegliederten Ostgebieten“, München 1987. 2 Ernst Rudorff, Heimatschutz. Im Auftrag des Deutschen Bundes Heimatschutz neu bearbeitet von Professor Dr. Paul Schultze-Naumburg, Leipzig 1926. S. 41.

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3 Andreas Knaut, Zurück zur Natur. Die Wurzeln der Ökologiebewegung. (Supplement 1), Greven 1993. S. 28. 4 Almut Leh, Zwischen Heimatschutz und Umweltbewegung. Die Professionalisierung des Naturschutzes in Nordrhein-Westfalen 1945–1975, Frankfurt u.a. 2006, S. 12. 5 Knaut, Zurück zur Natur, S. 244–258. 6 Reinhard Piechocki, Der staatliche Naturschutz im Spiegel seiner Wegbereiter. 4. Hugo Conwentz. (1855–1922). „Extremer Fleiß und taktische Klugheit.“ Pioneers of governmental nature conservation. 4. Hugo Conwentz (1855–1922). Workborse and tactician, in: Natur und Landschaft 81 (2006) 3, S. 158 7 Albrecht Milnik, Hugo Conwentz. Klassiker des Naturschutzes. Sein Waldweg zum Naturschutz, Remagen-Oberwinter 20042, S. 60–68. 8 Manfred Klein, Naturschutz im Dritten Reich, Mainz 1999, S. 304–306. 9 Jens Ivo Engels, „Hohe Zeit“ und „dicker Strich“. Vergangenheitsdeutung und -bewahrung im westdeutschen Naturschutz nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Joachim Radkau (Hg. u.a.), Naturschutz und Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2003, S. 374. 10 Horst Hanemann u.a., Die Chronik eines Naturschutzverbandes von 1899–1984, Wiesbaden 1987, S. 23. 11 „An Alle und Jeden“ zitiert in: Hanemann u.a., Die Chronik eines Naturschutzverbandes, S. 42. 12 Bund für Vogelschutz e. V. (Hg.), Jahresbericht 1933, Stuttgart 1933, S. 1; Reichsbund für Vogelschutz e. V. (Hg.), Jahresbericht 1936, Stuttgart 1936. S. 7. 13 Thomas Dupke, Hermann Löns. Mythos und Wirklichkeit. Eine Biographie von Thomas Dupke, Hildesheim 1994, S. 94, 104 14 Vgl. Hermann Löns, Der Wehrwolf. Eine Bauernchronik, Hannover u.a. 1996. 15 Knaut, Zurück zur Natur, S. 378–385, 379. 16 Klein, Naturschutz im Dritten Reich, S. 317 17 Ebenda S. 318 18 Hildegard Eissing, Kein Kommentar bitte. Anmerkungen zum Reichsnaturschutzgesetz, in: Nils Franke (Hg. u.a.), Kontinuitäten im Naturschutz, Baden-Baden 2014, S. 163f. 19 Engels, „Hohe Zeit“ und „dicker Strich“, S. 374. 20 Vereinsarchiv Pollichia/Neustadt a.d. Weinstrasse, S. 1, Saarpfälzischer Verein für Naturkunde und Naturschutz „Pollichia“, Bericht über die Tätigkeit im Jahre 1936 (97. Ver. Jahr), in: P1 Arbeitsberichte-Mitgliederlisten 1850–1963; Anna Katharina Wöbse, Lina Hähnle und der Reichsbund für Vogelschutz. Soziale Bewegung im Gleichschritt, in: Radkau (Hg. u.a.), Naturschutz und Nationalsozialismus, S. 318. 21 Augustin Upmann u.a., Organisationsgeschichte der deutschen Naturfreundebewegung bis 1933, in: Jochen Zimmer (Hg.), Mit uns zieht die neue Zeit. Die Naturfreunde. Zur Geschichte eines alternativen Verbandes in der Arbeiterkulturbewegung, S. 74; Christiane Dulk/Jochen Zimmer, Die Auflösung des Touristenvereins „Die Naturfreunde“ nach dem März 1933, in: Zimmer (Hg.), Mit uns zieht die neue Zeit, S. 114f. 22 Vgl. Gröning u.a., Die Liebe zur Landschaft, Teil II. 23 Nils Franke, Der Westwall in der Landschaft. Aktivitäten des Naturschutzes in der Zeit des Nationalsozialismus und seine Akteure, Mainz 2015, S. 55–59. 24 Gröning u.a., Die Liebe zur Landschaft, Teil II, S. 63. 25 Heinrich Wiepking-Jürgensmann, Die Landschaftsfibel, Berlin 1942, S. 13; HSTA Wiesbaden, 776, Naturschutzgebiet Altkönig, Landkreis Obertaunus und Friedberg, Niederschrift über die Arbeitsbesprechung und Bereisung am 19. und 20.6.1939 in Frankfurt a.M., S. 1. 26 Franke, Der Westwall in der Landschaft. S. 45–48. 27 Eissing, Kein Kommentar bitte, S. 169. 28 Klein, Naturschutz im Dritten Reich, S. 333.

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29 Piechocki, Der staatliche Naturschutz im Spiegel seiner Wegbereiter. 9. Reinhold Tüxen (1899– 1980). „Potenziell natürliche Vegetation.“ Pioneers of governmental nature conservation. 9. Reinhold Tüxen (1899–1980). „Potenziel natural vegetation“, in: Natur und Landschaft 81 (2006) 8. S. 420 30 Piechocki, Der staatliche Naturschutz im Spiegel seiner Wegbereiter. 11. Gert Kragh (1911–1984). „Zukunft durch gesunde Landschaft.“ Pioneers of governmental nature conservation. 4. Gert Kragh (1911–1984). Healthy landscapes for a healthy future, in: Natur und Landschaft 81 (2006) 11, S. 500f. 31 Bibliothek BfN, Sign. A 1456 (1950–1954), ORR Gert Kragh, Dr. Erhard Mäding (Hg.), Mitteilungen über Landespflege Nr. 20. Dezember 1954, (als Manuskript vervielfältigt); Bundesanstalt für Naturschutz und Landschaftspflege (Hg.), Mitteilungen zur Landschaftspflege 1 (40/41) (1961) 1/2; Bibliothek BfN, Sign. B 75- B 88, Lit 2712–5135 (1959–1961). 32 Bundesanstalt für Naturschutz und Landschaftspflege, Schutzgemeinschaft Deutscher Wald e. V., Arbeitskreis Landespflege (Hg.), Mitteilungen über Landespflege Nr. 34. April 1959. Bibliothek BfN. B 75-B 88. Lit 2712–5135 (1959–1961). S. 3; Bundesanstalt für Naturschutz und Landschaftspflege (Hg.), Mitteilungen zur Landschaftspflege. Landschaftsökologie – Landschaftserhaltung – Landschaftsplanung (bisher: Mitteilungen über Landespflege) (wie Anm. 31), S. 3. 33 Gröning u.a., Grüne Biographien. Biographisches Handbuch zur Landschaftsarchitektur des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Hannover 1997, S. 361, 415ff. 34 Hanemann u.a., Die Chronik eines Naturschutzverbandes, S. 91. 35 Bibliothek BfN Sign. A 1456 (1950–1954), Eissing, Wer verfasst die „Grüne Charta von der Mainau“? Einflüsse nationalsozialistischen Gedankenguts, in: Naturschutz und Landschaftsplanung 46 (2014) 8, S. 247–252; Kragh (Hg. u.a.), Mitteilungen über Landespflege Nr. 15.8.1953. Ms. S. 8. 36 HSTA Wiesbaden, Abt. 776/Naturschutzgebiet Altkönig, Landkreis Obertaunus und Friedberg. Niederschrift über die Arbeitsbesprechung und Bereisung am 19. und 20.6.1939 in Frankfurt a.M., S. 1; Jan Zimmermann, Alfred Toepfer, Hamburg 2008, S. 51, 84–87, 140. 37 Nils Franke, Die Geschichte des Naturschutzes in Hessen, Wiesbaden 2003, S. 95–105.

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NS-Volksgruppenrecht Das NS-Volksgruppenrecht löste den für unbefriedigend gehaltenen Schutz ethnischer deutscher Minderheiten durch den Völkerbund nach dem Ersten Weltkrieg ab. An die Stelle des menschenrechtlichen Ansatzes des Systems der Minderheitenschutzverträge, das vor allem die rechtliche und politische Gleichheit der Angehörigen ethnischer Minderheiten als Individualrechte anvisierte, trat der kollektivrechtliche Anspruch des Volksgruppenrechts. Das Volksgruppenrecht etablierte sich ausdrücklich als antiliberales und völkisches Gegenkonzept zum völkerrechtlichen Minderheitenschutz. Mit seiner Hilfe forderten die nationalen Minderheiten von dem Staat, dessen Staatsangehörige sie waren, Sonderregelungen, insbesondere in Form der Anerkennung und der staatlichen Förderung ihrer völkisch definierten Gruppen ein, um die ihnen vorenthaltene Eigenstaatlichkeit zu kompensieren. Das Volksgruppenrecht adressierte das „Volk“ eines Staates nicht als „Demos“, sondern als „Ethnos“. Eine allgemeingültige Begriffsdefinition der Volksgruppe fehlte allerdings. Zu ihren Mindestmerkmalen zählten die Existenz einer erlebten und gelebten Gruppe innerhalb eines Staates, die über ein eigenes Volkstum, eine eigene Sprache und Kultur verfügte, die als natürliche Abstammungsgemeinschaft eine historische Schicksalsgemeinschaft bildete, und deren Mitglieder Staatsangehörige dieses Staates waren. Die Rasse galt zwar auch als wichtiges Merkmal, wurde im NS-Volksgruppenrecht in der Literatur aber eher als bekräftigendes, nicht als allein ausschlaggebendes Kriterium für die Volksgruppenzugehörigkeit behandelt. Der NS instrumentalisierte das Volksgruppenrecht zur Unterstützung seiner imperialistischen Politik. Das Volksgruppenrecht ist keine Erfindung des NS und hört mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch nicht auf. Der Begriff der Volksgruppe und ihrer Gruppenrechte wurde zu Beginn der 1920er Jahre von den Kritikern des Minderheitenbegriffs, die diesen Terminus als abwertend betrachteten, in den Sprachgebrauch eingeführt. Heute wird das Volksgruppenrecht als nach wie vor hauptsächlich deutsches und österreichisches Projekt im Spannungsverhältnis zwischen Menschenrechten, sozialen Grundrechten, Gruppenrechten und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker angesiedelt.1 Seine Anfänge als Nationalitätenrecht reichen bis in das 19. Jahrhundert zurück. Staaten, die wie der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn Staatsangehörige mehrerer Nationalitäten vereinten, mussten sich frühzeitig mit deren Rechtsstellung im Staat auseinandersetzen. Art. 19 des österreichischen „Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger“ von 1867 regelte erstmals als unmittelbar anwendbare Norm des nationalen Rechts die Gleichberechtigung aller Volksstämme in der österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie in Form eines Gruppenrechts. Diese Regelung gilt als eines der Vorbilder des NS-Volksgruppenrechts. Als weiteres Vorbild wird Art. XIII § 188 der Paulskirchenverfassung von 1848/49 genannt. Erst das Ende des Ersten Weltkrieges hat allerdings einem systematischen Minderheitenschutz zur Entstehung verholfen. Die Pariser Vorortverträge und der Versailler Vertrag verschoben die Grenzverläufe des

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Kontinents. Mit den neuen Nationalstaaten, die sich in Mittel- und Osteuropa gründeten, und die sich mit ethnisch-sprachlichen Grenzen nicht deckten, wurden neue nationale Minderheiten erschaffen. Deutschland verlor ein Zehntel seiner Bevölkerung. Die Siegermächte banden die betreffenden Staaten in ein völkerrechtliches System multilateraler Minderheitenschutzverträge und einseitiger Verpflichtungserklärungen ein, deren Umsetzung in das nationale Recht der Völkerbund überwachte. Als Mustervertrag galt der Minderheitenschutzvertrag der Hauptalliierten mit Polen, der am 10. Januar 1920 in Kraft trat.2 Die Minderheitenschutzverträge hoben vor allem den menschenrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz in den Rang einer obersten Rechtsquelle, an der sich widersprechendes nationales Recht brechen sollte. Der Minderheitenschutz des Völkerbundes verfehlte gleichwohl sein Ziel. Die Gründe hierfür waren zahlreich. Verfahren vor dem Völkerbund waren schleppend, Sanktionsmöglichkeiten bestanden nicht, das Instrument der Weisungen wurde nicht genutzt oder stieß auf taube Ohren.3 Insgesamt betrachteten die deutschen Minderheiten in Osteuropa und ihr Mutterstaat den Minderheitenschutz als kümmerliches Surrogat für den Verlust ihres Selbstbestimmungsrechts, zuletzt sogar als „wohlüberlegte Aktion des Weltjudentums“ zur gezielten Schwächung der Deutschen.4 In der Kritik der NS-Volksgruppenrechtler am Minderheitenschutz klangen nicht nur die Ressentiments gegen Frankreich, Versailles und Genf durch. Vielmehr machten die Volksgruppenrechtler auch früh schon deutlich, dass sie eine Übertragung des westlichen Nationalstaatsdenkens auf Mittel- und Osteuropa ablehnten und „ernste Befürchtungen“ für den Frieden hegten, sollte eine volksgruppenrechtliche Neuordnung Europas scheitern.5 Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten erreichte die Bedeutung des Volksgruppenrechts neue Dimensionen, da der Lebensraumimperialismus des NS weit über die Revision der Grenzen des Versailler Vertrages hinausging. Vor allem die Völkerrechtler des NS begriffen das Volksgruppenrecht als Testlabor für ein „neues Völkerrecht“,6 mit dessen Hilfe die Staatenordnung Mitteleuropas zerstört und eine neue (Groß-)Raumordnung der Völker unter der Herrschaft der Deutschen etabliert werden sollte. Viele der führenden Volksgruppenrechtler hatten an den Planungen zur Unterwerfung des von ihnen so genannten „Ostraums“ teil. Die Definition des Volksgruppenrechts im NS blieb insgesamt nicht nur „äußerst indifferent“,7 der Inhalt des Volksgruppenrechts fluktuierte vielmehr in Zeit und Raum. Er passte sich den politischen Möglichkeiten und Taktiken, sowie den Kriegs- und Raumzielen des NS an. Das NS-Volksgruppenrecht wurde in der Verschleierungsformel des „Lebensrechts der Völker“ plakativ geschönt. Der Nachklang an die Volkslehren der Romantik machte diese Formel zunächst nicht nur zur offiziellen Staatsdoktrin der Appeasementpolitik des NS, sondern auch zu einem biegbaren Richtmaß für die NS-Volksgruppenrechtler, denn das Lebensrecht der Völker verlangte keine schematische Gleichheit. Die Volksgruppenrechtler brachen die Konzepte der Volksgruppentheoretiker zur überstaatlichen →Volksgemeinschaft und zur völkischen Raumordnung auf das rechtlich Machbare herunter und rechtfertigten die

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völkische Rechtsordnung des Großraums juristisch. Der völkische Staat hatte mit dem Liberalismus auch den formalen Gleichheitssatz über Bord geworfen, der die minderheitenschutzrechtlichen Regelungen des Völkerbundes beherrscht hatte. An die Stelle des quantitativen Kriteriums der Mehrheiten und Minderheiten setzte er ein qualitatives Kriterium: Das völkische Prinzip und die Hierarchie der Rassen ließen eine nach dem Wert der einzelnen Völker abgestufte Rechtsstellung der Volksgruppen in einem Staat zu. Diese als „Gerechtigkeit“ verbrämte Ungleichbehandlung der verschiedenen Volksgruppen nach dem „differenzierenden Gestaltungsprinzip der Artgleichheit“8 setzte der NS etappenweise um. Er verband das Volksgruppenrecht im Krieg mit seiner Reichsideologie und dem Recht im Großraum. Die Ausgrenzung, Unterdrückung und Vernichtung anderer Völker wurde zuletzt zurechtgebogen als ein im wohlverstandenen Interesse dieser Völker liegendes Mittel, mit dem die Deutschen die weniger leistungsstarken Völker von eigener Staatsbildung entlasteten und ihnen die Möglichkeit einräumten, ihre Kultur unter der Schutzmacht der Deutschen zu entwickeln. Denn das „Führungsvolk“ hatte die Aufgabe, die „Entwicklung der geführten Völker richtig zu steuern“.9 Das NS-Volksgruppenrecht verkündete „den Beginn einer neuen verfassungspolitischen Ära“ und zeigte den Strukturwandel vom nationalen Staat zum Dritten Reich an.10 Es ist deshalb nicht nur zu unterscheiden zwischen einem NS-Volksgruppenrecht vor dem Krieg und einem NS-Volksgruppenrecht während des Krieges, sondern ebenso ein Unterschied zu machen zwischen den Rechten fremdvölkischer Volksgruppen im Deutschen Reich vor 1939, den Rechten fremdvölkischer Volksgruppen während des Zweiten Weltkriegs im Altreich und im Großraum, sowie den Rechten deutscher Volksgruppen in Ost- und Südosteuropa vor und während des Zweiten Weltkrieges. Weiter ist zu unterscheiden zwischen dem positivierten Volksgruppenrecht, dem offen diskutierten Volksgruppenrecht und den nicht allgemein zugänglichen volksgruppenrechtlichen Planungen in den Institutionen der NS-Volkstumspolitik. In Nationalstaaten, in denen eine Ethnie die Mehrheit der Staatsbürger stellt, gelten fremdvölkische Minderheiten als strukturelle Minderheiten. Eine bloß formale Freiheit von staatlicher Ungleichbehandlung, also der nivellierende Menschenrechtsschutz, behütet diese Minderheiten zwar gegen diskriminierende Eingriffe von Seiten des Staates, erhält aber in der Regel nicht den Bestand des jeweiligen Volkstums. Deshalb stand im Nationalitäten- und Volksgruppenrecht die heute so genannte affirmative action in Form von rechtlichen Vorteilsgewährungen durch den Staat an die betreffenden Gruppen im Vordergrund. Diese Forderungen wurden auch im Rahmen des Europäischen Nationalitätenkongresses (1925 bis 1938) erhoben. Die Volksgruppen sorgten sich darum, dem Druck der Verdrängungs- oder Assimilierungspraktiken der neu entstandenen Nationalstaaten nicht standzuhalten und in die Staatsbürgermenge ihres Heimatstaates hinein aufgelöst zu werden. Als Hauptanliegen der Volksgruppen zur Bewahrung ihres wirtschaftlichen Lebens und ihrer Kultur lassen sich folgende Forderungen ausmachen: Neben die Abwehrrechte gegen den Staat wie den Schutz vor Enteignungen traten vermehrt gleichheits- und

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leistungsrechtliche Ansprüche an den jeweiligen Heimatstaat. Sie nahmen ihren Ausgang in der staatlichen Anerkennung der Volksgruppe als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Aus dieser „bündischen Grundlage“ für die Selbstverwaltung der Volksgruppe folgten politische Rechte der Gruppenzugehörigen an der Staatsorganisation, nämlich die Berücksichtigung der Volksgruppe bei der Besetzung der Staatsverwaltung vor allem auf dem eigenen Siedlungsboden, das Recht auf die eigene Sprache im privaten und öffentlichen Verkehr vor allem dort, wo die Volksgruppe die Mehrheit in einem Verwaltungsbezirk stellte, und das Recht auf politische Mitentscheidung.11 Als wichtigstes kulturelles Recht wurde das Recht auf ein eigenes Schul- und Hochschulwesen gehandelt. Diese Ansprüche bündelten sich in der Forderung nach der so genannten „nationalen Autonomie“ der Volksgruppen in ihren Wirtsstaaten. Die Garantie von Autonomie sprengte aber den rechtlichen Rahmen des Minderheitenschutzsystems und musste in der Regel durch bilaterale Staatsverträge auf völkerrechtlicher Ebene vereinbart und im innerstaatlichen Recht erkämpft und durchgesetzt werden. Die völkische Staatsrechtslehre diskutierte vor allem für die Deutschen im Ausland mehrere Varianten der nationalen Autonomie, die sich fast endlos miteinander kombinieren ließen. Am weitesten ging die territoriale Autonomie der Volksgruppen. Territoriale Autonomie als sanfte Vorform einer Grenzrevision zielte auf einen Sonderstatus des Siedlungsgebiets einer Volksgruppe und widersprach der Souveränitätsidee der neu entstandenen Nationalstaaten in Osteuropa. Die territoriale Autonomie kam allein für vermeintlich bodenständige Volksgruppen in geschlossenen Siedlungsgebieten in Frage. Als Unterarten einer auf dem Personalitäts- statt auf dem Territorialitätsprinzip fußenden Autonomie standen dagegen die politische Autonomie und vor allem die Kulturautonomie hoch im Kurs. Auf den politischen Entscheidungsebenen sollten Organe der Volksgruppen institutionalisiert werden, die das völkische Interesse im politischen Entscheidungsprozess des Heimatstaates vertraten, um die Volksgruppen vor Majorisierung zu schützen. Diese Organe konnten so genannte Kurien sein, ein eigener Volksgruppenstaatssekretär, ein Volksgruppenministerium oder – nachdem das NS-Führerprinzip in den deutschen Volksgruppen etabliert war – auch der Volksgruppenführer selbst.12 Als Vorbild für die Kulturautonomie, die vor dem Krieg das Ziel aller Volksgruppen in Europa gewesen war, galt das Estland der 1920er Jahre. Hier hatten die Baltendeutschen unter Führung von →Werner Hasselblatt erstritten, dass vormals staatliche Kultuszuständigkeiten wie die Verwaltung des Schulwesens, auf die als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannten Volksgruppen übergeleitet und vom estnischen Staat bezuschusst wurden. Die Kulturautonomie setzte aber wirtschaftlich potente oder mehr oder wenig heimlich durch den Mutterstaat alimentierte Volksgruppen voraus und war regelmäßig Gegenstand der zwischen dem NS und seinen verbündeten oder Schutzstaaten geschlossenen bilateralen Verträge. Seit den Anfängen des Volksgruppenrechts war umstritten, wie und von wem die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe bestimmt werden solle. Nach der subjekti-

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ven Theorie, die vor allem vor der Machtergreifung herrschend gewesen war, gab allein das Bekenntnis des Einzelnen den Ausschlag. Nach der objektiven Theorie musste ein Katalog „objektiver“ Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe erfüllt werden. Welche Kriterien dabei – neben der Sprache – essentiell sein sollten, blieb allerdings offen. Entgegen der Vermutung, dass in einem rassenideologisch fundierten Staat der Rassenachweis eine unabdingbare Voraussetzung sein würde, entwickelte die Rechtspraxis des NS eine Kombination an subjektiven und objektiven Merkmalen zur Bestimmung der Volksgruppenzugehörigkeit, über deren Vorliegen die betreffenden Volksgruppen selbst das letzte Wort sprachen. Gegen diese „echte völkische Selbstbestimmung“13 bestanden nämlich keine Bedenken mehr, nachdem die Volksgruppen im Osten von Nationalsozialisten erobert worden waren. Im Zusammenhang mit der Erfassung der Minderheiten im In- und Ausland war die Einrichtung von offiziellen Nationalkatastern eine wesentliche Forderung. Dass die Errichtung der Kataster mit dem Ziel der „volksbiologischen“ und „rassenpolitischen“ Erfassung der Völker und der deutschen Siedlungsplanung eng verbunden war, wurde in der volksgruppenrechtlichen Literatur allerdings verschwiegen.14 Volksgruppenrecht fand sich vor und während des Krieges auf verschiedenen Rechtsebenen. Zu differenzieren ist zunächst zwischen dem völkerrechtlichen Volksgruppenrecht, das sich in multilaterale und bilaterale Vereinbarungen einteilen ließ, und dem innerstaatlichen Volksgruppenrecht.15 Während des Krieges kam als weitere Rechtsgrundlage das Volksgruppenrecht hinzu, das in den Schiedssprüchen der Achsenmächte niedergelegt wurde. Nach dem Scheitern des multilateralen Ansatzes des Völkerbundes hatte das zwischenstaatliche Recht Konjunktur. Seine völkische Konzeption entkoppelte den Volksbegriff vom (National-)Staat. Das Volk wurde als überstaatliche Gemeinschaft begriffen, namentlich als „das eigenständige Volk“ im Sinne von →Max Hildebert Boehm,16 einem der Hauptstichwortgeber der Volksgruppentheorie. Der Terminus der überstaatlichen Volksgemeinschaft umfasste die deutschen Volksgruppen im Ausland. Er diente als strategischer Begriff für die Mitteleuropaidee des NS und legitimierte vor dem Krieg den Anspruch der deutschen Konnationale, als Schutzmacht des deutschen Volkstums in Mittel- und Osteuropa aufzutreten.17 Mit seiner Konsolidierung und dem Austritt aus dem Völkerbund am 14. Oktober 1936 favorisierte der NS deshalb den Abschluss bilateraler Verträge oder anderer zwischenstaatlicher Vereinbarungen zugunsten seiner Volksgruppen, denn mit gegenseitigen Abkommen ließ sich das völkerrechtliche Interventionsverbot umgehen. Zu den relevanten bilateralen Vereinbarungen des NS zählen die Deutsch-Polnische Minderheitenerklärung vom 5. November 1937, der die Volksgruppenjuristen einen Übergangscharakter beilegten, die Deutsch-Tschechoslowakische Erklärung zum Schutz der beiderseitigen Volksgruppen von November 1938, die wenig materielles Recht enthielt, dafür mit der Verständigungspflicht beider Staaten das Recht des Stärkeren bereits in Anschlag brachte, und das Deutsch-Rumänische sowie das Deutsch-Ungarische

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Protokoll vom 30. August 1940.18 Diese beiden letzten Vereinbarungen wirkten bereits nur noch einseitig verpflichtend gegen Rumänien und Ungarn. Das Volksgruppenrecht diente hier insgesamt dazu, die Expansion nach Osten durch Erweiterung des Einflussbereichs der deutschen Volksgruppen als einsatzfähiger und gleichgeschalteter Kampfgruppen mit rechtlichen Mitteln vorzubereiten. Die Volksgruppen wurden zu Wächtern und Vorposten der nationalsozialistischen Gebietsansprüche.19 Das galt neben Ungarn und Rumänien später auch in der Slowakei, in Serbien und Kroatien.20 Schiedsrechtliches Volksgruppenrecht findet sich im Zweiten Wiener Schiedsspruch vom 30. August 1940, mit dem das Deutsche Reich seine Führungsansprüche in Mitteleuropa unterstrich, indem es Grenz- und Volksgruppenfragen der Ungarn und Rumänen untereinander entschied. Solange es den außenpolitischen Interessen des NS diente, instrumentalisierte der Staat die Autonomieforderungen der deutschen Volksgruppen und ummäntelte sie mit der Aura des Naturrechts.21 Das auslandsdeutsche Volkstum fungierte als „fünfte Kolonne“ für die gewaltsame Neuordnung Europas durch den NS. Sobald sich imperiale Machtinteressen jedoch mit dem Volkstumskampf überkreuzten, wie ihn die Deutschen in Südtirol führten, opferte der NS das Volksgruppenrecht seinen außenpolitischen Zielen, wie hier der Achsenfreundschaft mit Italien. Grenzänderungen unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker vor dem Krieg und die Verlegung von Volks- und Siedlungsgrenzen durch Umsiedlungen und Deportationen während des Krieges zählten ebenfalls zum Repertoire des Volksgruppenrechts, das sich mit dem Großraumrecht verbunden hatte. Die Gewährung von Autonomierechten an fremdvölkische Volksgruppen im deutschen Volksgruppenrecht hing dagegen „völlig von der Bedeutung, Fähigkeit, Kulturhöhe und dem Verhältnis der betreffenden Nationalität zum staatsführenden Volk“ ab.22 Im innerstaatlichen Recht stellte sich nämlich zunächst folgende Frage: Durfte ein völkischer Staat, der in der Staatstheorie des NS naturgemäß dem Interesse eines einzigen Volkes zu dienen hatte, Rechte für nationale Minderheiten und deren Angehörige garantieren? „Echtes“ innerstaatliches Volksgruppenrecht im Sinne einer Anerkennung fremdvölkischer Volksgruppen als Körperschaften des öffentlichen Rechts, die sich autonom selbst verwalteten und politisch betätigen durften, so wie er das für die Auslandsdeutschen durch setzte, hat der NS in seinem Kernreich nicht geschaffen.23 Dazu war vor dem Krieg die Zahl der im Altreich lebenden nichtdeutschen Staatsangehörigen zu unbedeutend. Für sie galten die einfachgesetzlichen Rechtsvorschriften zugunsten der nationalen Minderheiten aus der Weimarer Zeit zunächst fort. Das innerstaatliche Volksgruppenrecht des NS affizierte gleichwohl alle erdenklichen Rechtsmaterien. Die hauptsächlichen Referenzgebiete im innerdeutschen NS-Volksgruppenrecht vor dem Krieg waren das Recht der ständischen Gliederungen des NS, das Vereinsrecht, das Personenstandsrecht, das Schulrecht, das Sprachenrecht, das Wohlfahrtsrecht, das Presserecht und das Erbhofrecht. Die fremdvölkischen Volksgruppen hatten zwar keinerlei Anteil an den Rechten, die sich ausschließlich aus der Zugehörigkeit zur Blutsgemeinschaft des

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deutschen Volkes ergaben. Es gab aber vereinzelte Gesetze wie das Presserecht, das die Presse in den Dienst an der deutschen Volksgemeinschaft stellte, die zumindest bis Kriegsbeginn sowohl personelle, sprachliche als auch inhaltliche Befreiungen für nationale Minderheiten vorsahen, wenn durch völkerrechtlichen Vertrag die Gegenseitigkeit verbürgt war. Eine Systematisierung des innerstaatlichen Volksgruppenrechts ist dagegen unmöglich und wurde auch nicht versucht. Die Dynamik der artbestimmten Wertrangordnung der Völker und später auch die Dynamik des Krieges ließen nicht einmal das Bedürfnis nach einer „Fiktion der Geschlossenheit der Rechtsordnung“ entstehen.24 Bereits ab Mitte der 1930er Jahre bestand in der Lehre darüber Konsens, dass kein Rechtsgebiet den nichtdeutschen Volksgruppen zu autonomer Regelung überlassen werden könne. Die fremden Völker, die der Großraum später umfasste, hatten „zum Aufbau des Reichs nichts beigetragen“ und sich deshalb keine Rechte, sondern lediglich Pflichten verdient.25 Praktisch ging der NS bald daran, das Kernreich völkisch zu homogenisieren, differenzierte seine Unterdrückungspolitik dabei aber nach dem Wert eines Volkes für seine Kriegs- und Lebensraumziele. Der Großraum schließlich förderte zutage, was die Kombination aus der organischen Staatstheorie, aus dem verdrehten Gleichheitssatz, der im Sinne eines „Jedem das Seine“ uminterpretiert worden war, und aus dem angeblichen Schutz der Arteigenheit fremden Volkstums im Volksgruppenrecht meinte. Die vermeintliche Kulturüberlegenheit des deutschen Volkes verband sich hier mit der Reichsideologie zu einem unbedingten Herrschaftsanspruch der Deutschen: Jedes Volk im Großraum hatte nach seiner „konkreten Ordnung“ unter der Führung der Deutschen zu leben, was so viel hieß, dass die Deutschen bestimmten, welches Volk welche Rechte erhielt. Die Einrichtung des Protektorats Böhmen und Mähren fiel nach herrschender Meinung in das staatsrechtliche Rechtsgebiet des Volksgruppenrechts, denn das Protektorat war ein unter Schutz genommenes autonomes Gebiet innerhalb des Deutschen Reichs. Ähnliches galt für das Generalgouvernement, das in „strukturellem Zusammenhang“ mit dem Volksgruppenrecht stand.26 Im Klartext bedeutete das die Unterwerfung und Dezimierung beider Völker, der Tschechen und der Polen, mit voller Legitimation durch die Volksgruppenrechtler. Nach ihren für die Öffentlichkeit bestimmten, verharmlosenden Darstellungen war das Tschechentum durch das Protektorat zwar politisch neutralisiert worden, hatte dafür aber eine rechtlich gesicherte, nationale Autonomie erhalten.27 Den Polen im Generalgouvernement blieb dagegen selbst in der offiziellen Lesart lediglich eine „natürliche Autonomie“ – was auch immer man darunter verstand.28 In den Think Tanks der Volkstumspolitik drängten die Volksgruppenrechtler dagegen darauf, alle für die Lebensraumideologie des NS erforderlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in beiden Zonen noch schnell im Krieg zu erledigen, um für den Frieden vollendete Tatsachen zu schaffen.29 Das Volksgruppenrecht nahm nicht nur die Nürnberger Rassengesetze in sich auf.30 Es hatte rund um den →Generalplan Ost auch das Ziel, durch Dissimilations-

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und Siedlungspolitik einen Keil zwischen die Völker des Ostens zu treiben, sie gegeneinander zu isolieren und ihren Hass von den Deutschen abzulenken. Gleichzeitig sollte der Schein einer Rechtsordnung gewahrt werden. Der „rassenbiologische“ Kampf in künftigen Rechtsvorschriften sah vor, ganze Völker stufenweise zu verknechten,31 auf ein niedriges Kulturniveau zu drücken, auf dem sie als Arbeitskräfte für die Deutschen und als Abnehmer ihrer Produkte zur Verfügung standen, und gleichzeitig ihre Vermehrung im Rahmen des Notwendigen zu begrenzen.32 So sollten im Rahmen des kulturellen Völkermordes polnische Kinder im Reich nur noch kurzzeitig Schulunterricht erhalten und die deutsche Sprache nur so rudimentär erlernen, dass sie Befehle verständen und niedere Berufe ausüben könnten. Gleichwohl – wie auch immer man das erreichen wollte – sollte den „Schutzangehörigen“ vorgespiegelt werden, dass das Reich ihre Arteigenheit achte.33 Wer dagegen für eine →Umvolkung in Betracht kam, sollte aus seinem Volk ausgesondert und ins Kernreich zur Assimilation überführt werden. Für die zynischen Volksgruppenrechtler stellten diese Pläne allerdings einen Wechsel auf die Zukunft dar, denn erst wenn der Lebensraum im Osten durch ethnische Säuberungen, Flurbereinigungen und Umsiedlungen neugeordnet sein würde, würde sich zeigen, ob überhaupt noch ein Bedürfnis nach einem besonderen Volksgruppenrecht bestehe.34 Hinter dem „Lebensrecht der Völker“, der biegsamen Glaubensformel der Volksgruppenrechtler, verbarg sich also eine Politik von Teilen und Herrschen, mit der die nichtdeutschen Völker im Einflussbereich des Deutschen Reichs entrechtet, versklavt und vernichtet wurden, um die Expansionspläne des NS durchzusetzen.35

Kathrin Groh

1 Dieter Blumenwitz, Minderheiten- und Volksgruppenrecht, Bonn 1992, S. 25. 2 http://www.europa.clio-online.de/site/lang__de/ItemID__219/mid__11373/40208215/default.aspx (24.01.2017). 3 Karl Georg Bruns, Grundlagen und Entwicklung des internationalen Minderheitenrechts, Berlin 1929; Otto Junghann, Das Minderheitenschutzverfahren vor dem Völkerbund, Tübingen 1934; Ernst Moritz Schmid-Burgk, Minderheitenrecht als politisches Recht, in: AöR 64 (1934), S. 129–177; Heinz Gottfried Mußmann, Das Minderheitenschutzverfahren vor dem Völkerbund, seine Mängel und sein Zusammenbruch, Essen 1939. 4 Hermann Raschhofer, Entwicklung und Funktion des neuen Volksgruppenrechts, in: ZaöRV 11 (1942/43), S. 418–444, 422. 5 Ders., Hauptprobleme des Nationalitätenrechts, Stuttgart 1931, S. 49ff.; Kurt O. Rabl, Grundlagen und Grundfragen eines mitteleuropäischen Volksgruppenrechts, Tübingen 1938, S. 22ff., 41ff. 6 Herbert Klauss, Nationalsozialistisches Volksgruppenrecht, Würzburg 1937, S. 8. 7 Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der Volkstumskampf im Osten, Göttingen 2000, S. 279. 8 Gustav Adolf Walz, Artgleichheit und Gleichartigkeit. Die beiden Grundprobleme des Rechts, Hamburg 1938, S. 1; ders., Neue Grundlagen des Volksgruppenrechts, Berlin 1940, S. 11ff. 9 Ohne Namen, Herrenschicht oder Führungsvolk, in: Reich, Volksordnung, Lebensraum 3 (1942), S. 122–141, 140.

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10 Raschhofer, (vgl. Anm. 4), S. 444. 11 Konrad Frey, Das Lebensrecht des deutschen Volkes außerhalb der deutschen Staatsgrenze und seine Ausgestaltung im Volksgruppenrecht der Nachkriegszeit, Erlangen 1937, S. 88. 12 Vgl. § 1 Gesetz über die rechtliche Stellung des Führers der deutschen Volksgruppe im Unabhängigen Kroatischen Staat vom 30. Oktober 1941, abgdr. ZaöRV 11 (1942), S. 250f. 13 Walz, Grundlagen (vgl. Anm. 8), S. 33. 14 Haar, (vgl. Anm. 7), S. 223; vgl. aber A. Schürmann, Festigung deutschen Volkstums in den eingegliederten Ostgebieten, in: Reich, Volksordnung, Lebensraum 6 (1943), S. 475–538, 479ff. 15 Umfassende Literaturhinweise bei Jacob Robinson, Das Minoritätenproblem und seine Literatur, Berlin 1928; Heinrich Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht, Wien 1931; Ernst Voßwinckel, Der völkerrechtliche Minderheitenschutz außerhalb des Völkerbundes, Münster 1938. 16 Max Hildebert Boehm, Das eigenständige Volk. Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaften, Göttingen 1932. 17 Ders., Die Krise des Nationalitätenrechts, Jena 1935, S. 19; Heinrich Bodensiek, Volksgruppenrecht und nationalsozialistische Außenpolitik nach dem Münchener Abkommen 1938, in: Zeitschrift für Ostforschung 1958, S. 502–518. 18 Zusammenfassung zu Polen: in ZaöRV 8 (1938), S. 109–110; zur Tschechoslowakei in ZaöRV (1939), S. 151; zu Rumänien in ZaöRV 10 (1940), S. 707–767, 748; Ausführungsgesetz in NuS 14 (1940/41), S. 748; zu Ungarn in http://ungarisches-institut.de/dokumente/pdf/19400830–2.pdf. 19 Hans von Rimscha, Zur Gleichschaltung der deutschen Volksgruppen durch das Dritte Reich, in: HZ 182 (1956), S. 29–63, 51ff. 20 Kurt O. Rabl, Zur jüngsten Entwicklung der slowakischen Frage, in: ZaöRV 9 (1938/39), S. 284– 321, 306ff.; ders., Verfassungsrecht und Verfassungsleben in der neuen Slowakei II, in: ZaöRV 10 (1940), S. 127–167, 150ff.; Walter May, Neues Volksgruppenrecht, in: Volk im Osten 7/8 (1940), S. 39–43.Verordnung über die Rechtsstellung der deutschen Volksgruppe vom 19. Juli 1941, in: ZaöRV 11 (1942), S. 253; Gesetz über die vorläufige Rechtsstellung der deutschen Volksgruppen im Unabhängigen Staate Kroatien vom 21. Juni 1941, in: ZaöRV 11 (1942), S. 247–252. 21 Abgedr. ZaöRV 10 (1940), S. 707–767, 746f.; Karl Gottfried Hugelmann, Der völkerrechtliche Schiedsspruch als Grundlage von Nationalitätenrecht, in: Zeitschrift für Völkerrecht 26 (1944), S. 10–34; Arpad Török, Volksgruppenrecht oder Menschenrechte, in: NuS 8 (1934), S. 560–569, 560. 22 Norbert Gürke, Der Nationalsozialismus, das Grenz- und Auslandsdeutschtum und das Nationalitätenrecht, in: NuS 6 (1932), S. 7–30, 27. 23 Samuel Salzborn, Ethnisierung der Politik. Theorie und Geschichte des Volksgruppenrechts in Europa, Frankfurt a.M. 2005, S. 82; Klauss, Nationalsozialistisches Volksgruppenrecht (vgl. Anm. 6); Christoph Freiherr von Imhoff, Grundlagen und Grundzüge eines neuen Volksgruppenrechts im Rahmen der politischen Lage Europas, Greifswald 1937; Georg Ziegert, Das autonome deutsche Volksgruppenrecht, Strehlen 1937; Kurt Keppler, Die rechtliche Stellung der nationalen Minderheiten in Deutschland, Crailsheim 1932; Hans-Georg Kloz, Minderheitenfrage und Volksstaat, Göttingen 1935; Herbert Kier, Über die Gestaltung eines Volksgruppenrechts, in: ZaöRV 7 (1937), S. 497–510, 507ff.; Adolf Merkl, Zur Typenlehre des Volkstumsrechts, in: ZöR 19 (1939), S. 114–136; Fritz Fabritius, Blut und Boden im Leben der deutschen Volksgruppen, in: ZfPol 29 (1939), S. 531–533; Siegfried Vaubel, Die rechtlichen Grundsätze der Bestimmung der Volkszugehörigkeit, Würzburg 1940. 24 Walz, (vgl. Anm. 8), S. 41. 25 Wilhelm Stuckart, Staatsangehörigkeit und Reichsgestaltung, in: Reich, Volksordnung, Lebensraum 5 (1943), S. 57–91, 70ff. 26 Raschhofer, (vgl. Anm. 4), S. 444. 27 Günther Küchenhoff, Großraumgedanke und völkische Idee im Recht, in: ZaöRV 12 (1944), S. 34– 82, 47ff.

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28 Friedrich Klein, Zur Stellung des Generalgouvernements in der Verfassung des Großdeutschen Reiches, in: AöR 71 (1941), S. 227–267, 248; Christian Jansen/Arno Weckbecker, Der „Volksdeutsche Selbstschutz“ in Polen 1939/40, Oldenburg 1992, S. 42ff. 29 Werner Hasselblatt (1939), in: Werner Schubert (Hg.), Akademie für Deutsches Recht 1933–1945. Protokolle der Ausschüsse, Band XIV, Frankfurt a.M. 2002, S. 467, 503f. 30 Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der Volkstumskampf im Osten, Göttingen 2000, S. 307ff.; Hermann Raschhofer, Nationalitäten als Wesen und Rechtsbegriff, in: Die Geisteswissenschaften, 25 Jahre Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Bd. 3, Berlin 1937, S. 329–373, 373. 31 Helmut Heiber, Dokumentation: Der Generalplan Ost, in: VfZ 6 (1958), S. 281–325, 296: „… die Deutschen müßten die Stellung der Spartiaten, die aus Letten, Esten u. dgl. bestehende Mittelschicht die Stellung der Periöken, die Russen dagegen die Stellung der Heloten haben.“ 32 Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung, Hamburg 1991, S. 71ff. 33 Entwurf einer Rahmenverordnung für die Schutzangehörigen des Deutschen Reichs (1940), in: Schubert, Akademie für Deutsches Recht, S. 619f., 622ff. 34 Karl Gottfried Hugelmann, Volk und Staat im Wandel des deutschen Schicksals, Essen 1940, S. 170. 35 Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944, Frankfurt a.M. 1984, S. 191ff., 206f.

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Ostforschung Die erstmalige Verwendung des Terminus lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren, es steht jedoch zu vermuten, dass er aus der Ministerialbürokratie der Weimarer Republik stammt und Mitte der 1920er Jahre erstmals verwendet wurde, um ein für die damalige Zeit neues Phänomen zu kennzeichnen. Eine genaue Definition der Ostforschung sowie ihre Abgrenzung zu anderen Forschungsrichtungen ist nur schwer möglich. Im Grunde genommen handele es sich um ein „unpräzises und verschwommenes Wort“ (Walter Schlesinger), das keine anderen geographischen Äquivalente (Nordforschung, →Westforschung, Südostforschung) besitze, obwohl es auch hier durchaus nachhaltige Forschungskontroversen – etwa den Streit zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker über die Italienpolitik der mittelalterlichen Kaiser – gegeben hat.1 Nichtsdestotrotz lässt sich das Phänomen eingrenzen und charakterisieren. Es handelt sich bei der Ostforschung um die „volksgeschichtliche, genauer gesagt volksbodengeschichtliche Interpretation der Geschichte Ostmitteleuropas“.2 Die Völker dieser Region und ihre Vergangenheit werden dabei ausschließlich als Funktion der deutschen Geschichte verstanden. Mit einem neuen methodologischen Zugang sollte der besondere deutsche Anteil herausgearbeitet und die Bedeutung der slawischen Völker heruntergespielt werden, die lediglich mehr oder weniger als Objekte erscheinen. Eines der entscheidenden Kennzeichen der Ostforschung war die Abkehr von der klassischen politischen Geschichte und die Hinwendung zu einem multidisziplinären Konzept, das auch geographische, ökonomische, volkskundliche und soziologische Elemente umfasste. Zentraler Gedanke war eine politische Stärkung des „deutschen Volkstums“ östlich der Grenzen des Deutschen Reiches gestützt auf das Auslandsdeutschtum und eine aggressive Grundstellung gegenüber anderen nationalen Wissenschaftssystemen, insbesondere dem polnischen. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Regionen Ostmittel- und Osteuropas nahm ihren Anfang schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Der Schwerpunkt lag dabei zwar eindeutig auf der Geschichte Russlands, wie die Einrichtung des ersten Lehrstuhls für osteuropäische Geschichte für den Deutschbalten Theodor Schiemann an der Berliner Universität im Juni 1902 zeigt, doch bedingte das „Erwachen“ nationaler Traditionen in Böhmen und dem geteilten Polen (vor allem im österreichischen Galizien) eine Gegenbewegung nicht nur in den deutschen Gesellschaften jener Regionen, sondern auch im wissenschaftlichen Bereich. Hatten sich etwa die Historiker der borussischen Schule um Leopold von Ranke zuvor kaum für eine Nation interessiert, die für die eigene Staatsräson unwichtig erschien, und hatten die wenigen Repräsentanten eines positiveren Polenbildes wie Jakob Caro oder Richard Roepell ein intellektuelles Schattendasein gefristet, so erregten die antislawischen Ausfälle des Berliner Historikers Theodor Mommsen im Jahre 1897 internationales Aufsehen.3 Auch bei seinem prominenten Kollegen Otto Hoetzsch findet man zu jener Zeit bereits jene Unterscheidung zwischen einer ostmitteleuropäischen Ge-

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schichte und einer deutschen Geschichte in Ostmitteleuropa, eine Perspektive, die in der Forschung als „doppelte Optik“ bezeichnet worden ist.4 In der Landesgeschichte rückten ebenfalls nationale Betrachtungsweisen in den Vordergrund. Erich Schmidts Darstellung zur Provinz Posen aus dem Jahre 1904 enthielt bereits eine Schwerpunktsetzung, die die Überhöhung der Rolle des Deutschtums auf Kosten der Polen bedeutete.5 Auch die österreichische Geschichtswissenschaft entwickelte in jener Zeit die ersten Ansätze eines stark deutschzentrierten Bildes von den Verhältnissen in den eigenen östlichen Reichsteilen. So entwarf der Czernowitzer Historiker Raimund Friedrich Kaindl in seiner zwischen 1907 und 1911 erschienenen dreibändigen „Geschichte der Deutschen in den Karpatenländern“ das Modell einer von den Deutschen in Abgrenzung von der slawischen Umgebung entwickelten kulturellen Elite. Hinzu kamen innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft erste Schritte hin zu einem Paradigmenwechsel in Richtung einer Betonung des Volkes gegenüber dem Staat. Diese fanden sich nicht nur bei Vertretern der Geographie oder der sich entwickelnden Geopolitik wie Friedrich Ratzel oder des bis 1907 in Wien lehrenden →Albrecht Penck, sondern auch bei einem methodisch so innovativen Historiker wie Karl Lamprecht, der mit seinen Ansichten wiederum weit nach Ostmitteleuropa hineinwirkte. Zum entscheidenden Wendepunkt in der Beschäftigung mit den östlich des Deutschen Reiches gelegenen Gebieten wurde aber das Ende des Ersten Weltkriegs mit den von den Siegermächten in Versailles diktierten Entscheidungen, insbesondere dem Verlust von Westpreußen, der Provinz Posen und einem Teil Oberschlesiens an den wieder entstandenen polnischen Staat. Mit diesem wollten sich weite Teile der deutschen Gesellschaft nicht abfinden, was seinen Niederschlag auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung fand. Um die verlorene Machtposition Deutschlands wiederzugewinnen, äußerte man nun zwar nach wie vor den Wunsch nach einer Revision der „blutenden Grenzen“, setzte aber zusätzlich verstärkt auf den Begriff des „Volkes“. Der gesamte Kontinent sollte nach ethnischen Kriterien neu geordnet werden, wobei dem „Grenz- und Auslandsdeutschtum“ eine besondere Rolle zukommen sollte, sah man doch in ihm die „wahren und unverfälschten Deutschen“.6 An der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik positionierte sich die 1923 in Leipzig auf Initiative von Penck und dem Geographen →Wilhelm Volz gegründete Mittelstelle für zwischeneuropäische Fragen.7 Parallel dazu tauchte das Thema des europäischen beziehungsweise „deutschen Ostens“ auch in einer Reihe wissenschaftlicher Arbeiten der frühen 1920er Jahre auf, die von namhaften Wissenschaftlern wie Erich Marcks, Karl Hampe oder Dietrich Schäfer verfasst wurden.8 Nachdem bereits auf dem Historikertag in Frankfurt am Main im Jahre 1924 ein größeres Interesse an den Fragen des Deutschtums registriert worden war, begann sich eine neue „ostdeutsche Landesgeschichte“ herauszubilden, deren methodische Wurzeln im Rheinland gelegt wurden, wo vor allem die Bonner Historiker um den

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Direktor des Instituts für Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande, →Hermann Aubin, den „Kampf um eine gerechte Westgrenze“ aufgenommen hatten. Die Kontakte zwischen Bonn und Leipzig waren seit dem Ende des 19. Jahrhunderts traditionell eng und mit den Namen Carl von Norden, Wilhelm Maurenbrecher, Karl Lamprecht – der sich in Bonn habilitiert hatte – sowie dessen Schüler Rudolf Kötzschke verbunden.9 Das Modell einer interdisziplinären Westforschung, wie es Aubin auf zwei von staatlichen Stellen finanzierten Tagungen in Witzenhausen und Heppenheim in Verbindung mit dem DSB unter →Karl Christian von Loesch im Jahre 1924 propagiert hatte, deren Ergebnisse ein Jahr später als Sammelband publiziert wurden, wurde rasch auf den Osten übertragen.10 Eine Tagung über Westpreußen in Marienburg im Oktober 1925 bedeutete den Einstieg in eine enge Kooperation von Wissenschaft und Politik, die als vorrangiges Ziel ein demographisches Ausbluten des Deutschtums in Ostmitteleuropa verhindern sollte, langfristig aber weitergehende Interessen verfolgte: eine ethnische Neuordnung der Region unter deutschen Vorzeichen.11 Ein zentraler Begriff in dieser frühen Phase der Ostforschung war die von Albrecht Penck geprägte Formulierung des „Volksbodens“ als einem einheitlichen, geschlossenen Siedlungsgebiet einer ethnisch homogenen Bevölkerung. Parallel dazu sollte die „spezifisch deutsche Art kulturwissenschaftlichen Aufbaus“, das sogenannte Kulturbodenprinzip, intensiv weiterverfolgt werde. Ausgangspunkt für eine weitere Expansion sollten die deutschen Sprachinseln sein, die nun in den Mittelpunkt der Arbeiten von Wissenschaftlern wie Walther Kuhn rückten, die mittels neuer Methoden wie einer national verstandenen historischen Demographie nachzuweisen versuchten, dass die deutschen Kulturformen im Osten von einer besonderen Zähigkeit gegen fremde Einflüsse geprägt gewesen waren. Die Jahre nach 1926 waren durch die umgewandelte Leipziger Stiftung gekennzeichnet, die nun den Namen →Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung trug und sich eine „vertiefte und erweiterte wissenschaftliche Untersuchung der historischen Stellung des deutschen Volkes“ zum Ziel setzte.12 Freilich wurde das neue Konzept an verschiedenen Orten weiterentwickelt, eine zentrale „reichsweite“ Steuerung kam aufgrund der divergierenden regionalen, politischen und persönlichen Interessen nicht zustande, so dass die Auseinandersetzung vor allem mit der polnischen Forschung, die spätestens seit dem Posener Historikertag von 1925 und der Gründung des Thorner Ostsee-Instituts ein Jahr später ein ernst zu nehmender Rivale in der Deutungshoheit geworden war, auf verschiedene Zentren verteilt blieb.13 Zu einem wichtigen Ort wurde zunehmend Breslau. Auf dem dortigen Historikertag von 1926 war bereits einer engen Verbindung von Geschichte und Geographie das Wort geredet worden. Ein Jahr später plädierte auch der Dekan der philosophischen Fakultät der Universität Breslau dafür, die Rolle Schlesiens als Grenzland stärker zu betonen.14 So war es nur folgerichtig, dass 1929 Hermann Aubin dorthin berufen wurde, um den „Volkstumskampf“ zu forcieren. Die Idee einer „aktiven Ost-

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politik“ hatte man auch an anderen Universitäten wie in Königsberg, wo eine Gruppe junger Nachwuchswissenschaftler, die sich in der Korporation Deutsch-Akademische Gildenschaft zusammengeschlossen hatte, die Unterstützung des angesehenen Historikers →Hans Rothfels fand. Hier strebten inhaltlich unter anderem →Erich Maschke, →Werner Conze und →Theodor Schieder nach einer territorialen Neustrukturierung Osteuropas und trachteten danach, wissenschaftliches und politisches Engagement miteinander zu verbinden.15 In eine ähnliche Richtung gingen die ostpolitischen Vorstellungen des Bundes Deutscher Osten unter →Theodor Oberländer. Ein weiteres Zentrum der Ostforschung wurde die Freie Stadt Danzig, wo sich der Historiker →Erich Keyser für eine „Erweiterung des methodischen Hauses“ stark machte. Eine interdisziplinäre Volksgeschichte mit den zentralen Kategorien „Volkstum“ und „Raum“ sah er nicht nur als moderne Gegenlinie zur polnischen Geschichtswissenschaft, sondern auch als Vehikel zum deutschen politischen Wiederaufstieg im Osten.16 Im Baltikum besaß das Herder-Institut in Riga eine wichtige Rolle im „Grenzlandkampf“, in der Tschechoslowakei die deutsche Karls-Universität in Prag. Eine zunehmend wichtigere, wenn auch nicht allein entscheidende Funktion bei der Entwicklung der neuen „Volksgeschichte“ übernahmen die 1931 gegründeten →Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften. Diese setzten sich aus sechs regional und funktional getrennten Forschungsverbünden und -instituten zusammen und bezogen insgesamt etwa 1.000 Wissenschaftler in ihre Arbeit mit ein.17 Im Bereich der Ostforschung war es vor allem die in Berlin ansässige →Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft (NOFG), die einen Großteil der Arbeiten zu Ostmitteleuropa an sich zog. Für den südosteuropäischen Raum bemühte sich die Wiener →Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft um die Übernahme zentraler Projekte. Das Scheitern der Leipziger Stiftung aufgrund personeller Intrigen im Jahre 1931 erleichterte den Aufbau neuer Strukturen, die die endgültige Abkehr von den klassischen Kategorien Staat und Nation vorbereiteten. Als Forum zur Neuorientierung der gesamten deutschen Geschichtswissenschaft nach Osten hin diente der Göttinger Historikertag von 1932. Zwar hatte sich dort noch kein fester Kreis von „Ostforschern“ herausgebildet, die antipolnische Stoßrichtung gerade im Vorfeld des Internationalen Historikerkongresses, der für 1933 in Warschau geplant war, ließ sich jedoch nun bereits deutlich erkennen.18 Der Verband Deutscher Historiker war nicht nur an fest geschlossenen Reihen für den Kongress interessiert, sondern erstellte auch ein umfangreiches Vademecum, das den Verlauf der Diskussionen simulieren sollte. Dieses schien gerade deswegen nötig zu sein, weil nur die wenigsten deutschen Teilnehmer über die unterschiedlichen Thesen zur deutsch-polnischen Geschichte im Detail informiert waren.19 Bei den Debatten in Göttingen wurde nicht nur der alte Topos vom „bedrohten Deutschtum im Osten“ wieder heraufbeschworen; der Kampf um die Grenzen verband sich mehr und mehr mit einer nationalpolitischen Radikalisierung bei zunehmender inhaltlicher Entprofessionalisierung.20

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Spiritus rector der neuen Ausrichtungen wurde immer deutlicher der Berliner Archivdirektor →Albert Brackmann, der im Jahr der „Machtergreifung“ Hitlers davon sprach, dass Aufgaben und Methoden der Ostforschung zwar wissenschaftlich sein müssten, das Endziel „im weitesten und besten Sinne“ aber ein politisches.21 Brackmanns vorrangiges Ziel war dabei der Kampf gegen die polnische Wissenschaft und Publizistik, den er mit Hilfe seiner Kollegen und der Politik zu führen trachtete. Dabei setzte er weniger auf die universitären Vertreter des Faches vor Ort wie Otto Hoetzsch oder Max Vasmer als vielmehr auf ihm gegenüber loyale Kräfte wie den Archivar und Schäfer-Schüler →Johannes Papritz, den er zum Leiter der →Publikationsstelle Dahlem machte, die 1932 ihre Arbeit aufgenommen hatte, sowie Hermann Aubin, seinen späteren Stellvertreter bei der NOFG. Diesen Historikern gemeinsam war der Wunsch nach einer entschiedenen Umgestaltung der nationalen Grenzen Ostmitteleuropas. Anders als die nächste Generation führender Ostforscher waren sie keine überzeugten Nationalsozialisten, sondern eher Nationaldemokraten, die in den klassischen antislawischen Kategorien des 19. Jahrhunderts dachten. Freilich waren sie bereit, der „Sache“ beziehungsweise ihrer Karriere willen, Hitler zu unterstützen und auch methodische Veränderungen hin zur Volksgeschichte gut zu heißen. Ähnlich verhielt es sich bei einer weiteren schillernden Figur, dem Königsberger Agrarwissenschaftler und späterem Abwehr-Offizier Theodor Oberländer, dessen Einfluss zu Beginn der 1930er Jahre durch die Übernahme des Vorsitzes des Bundes des Deutschen Ostens zu steigen begann. Oberländer war daran interessiert, seine eigenen ostpreußischen Kontakte auf das Baltikum auszuweiten. Ostforschung war auch in seinem Verständnis die Voraussetzung für den politischen Kampf, die „Universität ihre Munitionsfabrik, die verschiedenen Institute und Propagandastellen die Artillerie“.22 Die Konflikte, die in jenen Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs mit manchen Vertretern des NS-Systems stattfanden, entstanden nicht aus einer negativen Haltung zur „neuen Ordnung“ heraus, wie es die Protagonisten nach 1945 gerne behaupteten, sondern aus persönlichen Rivalitäten innerhalb der polykratischen Struktur des Nationalsozialismus. Die wichtigsten Forscher waren jedoch im mehr oder weniger losen Netzwerk der NOFG beziehungsweise der Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft vereinigt, insbesondere in den Beiräten. So liest sich die Liste der Gebiets- sowie der Fachvertreter innerhalb der NOFG wie ein Who is Who der bundesdeutschen Ostforschung nach dem Zweiten Weltkrieg. Vorher sollte ein Teil von ihnen freilich noch während des Zweiten Weltkriegs weitere Karriereschritte machen.23 Wichtig waren zudem die landeskundlichen Institute wie das Breslauer Osteuropa-Institut, das Institut für osteuropäische Wirtschaft in Königsberg oder das Danziger Ostland-Institut sowie regionale Einrichtungen in kleineren Städten wie das →Institut für Heimatforschung in Schneidemühl oder die →Sudetendeutsche Anstalt für Landes- und Volksforschung im tschechoslowakischen Reichenberg; für den südosteuropäischen Bereich auch das 1930 in München gegründete „Institut zur Erforschung des deutschen Volkstums im Süden und Südosten“ (Südost-Institut).

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Über die Zentralen der Forschungsgemeinschaften in Berlin und Wien suchte man den unmittelbaren Kontakt zu Regierungs- und Parteistellen. Diese wiederum waren an weiterführenden Informationen von Seiten der Wissenschaftler durchaus interessiert, zumal die Ausbildung des ideologisch noch loyaleren Nachwuchses zumindest seit Mitte der 1930er Jahre in vollem Gange war. Die Bedeutung einer Einrichtung wie der Publikationsstelle Dahlem für den NS-Wissenschaftsbetrieb unterstreicht die Höhe ihres Etats, der etwa denjenigen des →Walter Frank’schen Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands im Jahre 1941 deutlich übertraf.24 Im Oktober 1936 erfolgten freilich zunächst einige institutionelle Umgestaltungen in der Ostforschung, die den Einfluss der politischen Stellen noch einmal stärkten. Davon profitierte in erster Linie die SS, deren Volksdeutsche Mittelstelle nun zur zentralen Einrichtung wurde. Die bisher eher nach dem Verbandsprinzip organisierten Institutionen wurden nun voll ins NS-Wissenschaftsnetz integriert. Viele der Ostforscher traten jetzt in die NSDAP ein und erhielten parallel dazu feste Anstellungen.25 Der Kriegsbeginn 1939 schien für die Ostforschung eine Ausweitung der eigenen Möglichkeiten zu bedeuten. Nicht nur deuteten einige von ihnen in ihren Publikationen an, dass sich ohne die Konkurrenz der polnischen oder tschechischen Wissenschaft bestimmte ihrer Thesen leichter durchsetzen könnten, manche ließen zudem ihre Unterstützung oder zumindest stillschweigende Billigung der rassistischen Herrenmenschenideologie erkennen wie etwa Brackmanns Nachfolger als Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive, Ernst Zipfel.26 Außerdem hatten einige Wissenschaftler schon in den Jahren zuvor gefragt oder ungefragt Expertisen vorgelegt, in welcher Weise man Ostmittel- und Südosteuropa „neu ordnen“ solle. Dabei war es nicht nur um eine stärkere Anbindung des „Grenzund Auslandsdeutschtums“ an das Reich, sondern generell um eine Erweiterung des deutschen Einflusses im Sinne einer „Lehrmeisterrolle für die Einheimischen“ (→Walter Kuhn) oder einer „Restitution deutschen Volksbodens im Osten“ (Erich Maschke) gegangen.27 Nun verstärkte man diese Bemühungen und richtete entsprechende Denkschriften an die zuständigen staatlichen Stellen. Es zeigte sich jedoch rasch, dass den NS-Funktionsträgern diese oftmals zu konventionell waren. Um den Einfluss auf Entscheidungsprozesse nicht zu verlieren, trat Albert Brackmann nunmehr dafür ein, reine Propagandaschriften zu verfassen.28 Im Zuge dieses Vorgehens unterstützten weite Teile der deutschen Ostforschung die nationalsozialistischen Umsiedlungs- und Vertreibungsmaßnahmen im östlichen Mitteleuropa, sei es in Bezug auf Polen oder Tschechen oder auch gegenüber den Juden. In diesen Kontext gehören die vieldiskutierte Polendenkschrift Theodor Schieders vom 7. Oktober 1939 sowie die Überlegungen Aubins und anderer zur Eindeutschung Posens und Westpreußens vom 11. Oktober 1939.29 Zwar beteiligten sich die führenden Ostforscher nicht unmittelbar an Planung und Durchführung der Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen, doch ermöglichte ein Teil ihrer Arbeiten die nationale oder rassistische Segregation von Menschen, der zumindest im Falle der Juden deren Ver-

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nichtung folgte. So bearbeitete die Dahlemer Publikationsstelle verschiedene Karteien, darunter die Zweitexemplare der →Deutschen Volksliste, und gab auf Anfrage daraus Auskünfte für Behörden.30 Außerdem wirkten Ostforscher aktiv am Raub von Kultur- und Archivgütern in den besetzten Gebieten mit, etwa im Kontext des Sonderkommandos Künsberg.31 Im Rahmen der NS-Wissenschaftspolitik entstanden während des Krieges weitere Einrichtungen zur Verbreitung der eigenen Ideologie wie das Institut für Deutsche Ostarbeit in Krakau und die →Reichsuniversität Posen. Einen guten und von den Reinwaschungen der Jahre nach 1945 unberührten Überblick über das Wesen der Ostforschung gibt die 1942/43 entstandene zweibändige Bilanzfestschrift zum 70. Geburtstag Albert Brackmanns, die von Hermann Aubin, →Otto Brunner, Wolfgang Kohte und Johannes Papritz herausgegeben wurde.32 In über vierzig Beiträgen wurden dabei die Ergebnisse des Forschungskonzeptes aus den Jahren seit dem Ersten Weltkrieg dargestellt. Ernst Vollerts Würdigung des Jubilars war zugleich eine erste Bilanz der Ostforschung. Er betonte den Netzwerkcharakter der Arbeit bei allen Schwierigkeiten der Schaffung zentraler Strukturen und die Erfolge bei der Auseinandersetzung mit der „polnischen Propaganda“.33 Neben dem Stolz auf das bisher Erreichte im engen Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik präsentierte man auch seine Ideen für die Zukunft, etwa wenn Erich Keyser davon schrieb, dass die deutsche Ostforschung innerhalb der nun stattfindenden „mehr völkischen als kulturellen Umgestaltung“ des Ostens die biologischen Grundlagen des Daseins der Deutschen ermitteln müsse.34 Die Realität sah allerdings angesichts der Niederlagen der Wehrmacht anders aus. Der Einfluss der „alten Garde“ ging gegen Kriegsende zugunsten der NS-Stellen zurück, sofern von geordneter Wissenschaft überhaupt noch die Rede sein konnte. Ab 1943 übernahmen die →Abteilung VI G des Reichssicherheitshauptamts und die SS die weitgehende Kontrolle über die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften. Die Einrichtungen arbeiteten freilich weiter, die Frage, ob nun nachrichtendienstliche Aufgaben zur Volkstumsforschung hinzu kamen, ist bisher nicht eindeutig geklärt.35 Das Jahr 1945 war keine „Stunde Null“ der deutschen Ostforschung. Zwar erforderten die realen Verhältnisse eine Unterbrechung der Arbeiten, die wissenschaftlichen Strukturen ließen sich nicht aufrechterhalten, ebenso wenig eine geographische Kontinuität an den Orten im nun verlorenen Osten, doch schon bald bemühten sich die zumeist in die westlichen Besatzungszonen gelangten Ostforscher um eine Wiederaufnahme ihrer Aktivitäten, nun unter antikommunistischen Vorzeichen. An vorderster Stelle zu nennen sind hier die Bemühungen von Johannes Papritz um eine Restitution der Publikationsstelle Dahlem an neuem Ort, die freilich an Widerständen innerhalb der amerikanischen Besatzungsmacht scheiterten. Als einer der ersten, zunächst lockeren Zusammenschlüsse entstand im November 1946 ein Netzwerk überwiegend ostpreußischer Wissenschaftler und Praktiker, der →Göttinger Arbeitskreis, der von Anfang an eine primär revisionspolitische Absicht hatte.36 Versuche zur Neugründung von Institutionen gingen auch von anderer Seite aus. So bemühte sich der einstige selbsternannte Experte der „→Judenforschung“ Peter

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Heinz Seraphim um die Gründung einer interdisziplinären Einrichtung, die die traditionelle Ostforschung mit den neuen Bedürfnissen der Westmächte auch im geheimdienstlichen Bereich verband.37 Der aus dem Baltikum stammende Georg von Rauch legte den Plan für ein in Marburg angesiedeltes Institut für Russlandforschung vor, und auch die Gruppe um Theodor Oberländer, der früh wieder Anschluss an die Tagespolitik gefunden hatte, war in München aktiv.38 Überlegungen zu einer weitergehenden Popularisierung des „Ostgedankens“ entwickelte der Volkstumsforschers →Max Hildebert Boehm.39 Es war aber kein Zufall, dass sich letztendlich diejenigen mit ihren Plänen durch setzten, die auf die größte historische Legitimation verweisen konnten und nun eine Wiederbelebung der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften anstrebten. Da der alte „Spiritus rector“ Albert Brackmann durch seine Wohnsitznahme in der sowjetisch besetzten Zone als Ideengeber ausfiel, rückte immer stärker sein einstiger Stellvertreter Hermann Aubin in die Rolle der dominierenden Figur der Ostforschung. Praktisch gleichzeitig mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland richtete er einen Appell an Papritz, „zur alten Tätigkeit zurückzukehren“; es müsse eine neue „Publikationsstelle“ geschaffen und die deutsche Ostforschung „wieder planmäßig in Gang gebracht werden“.40 Auf dem Münchner Historikertag im Herbst desselben Jahres beriet man nicht nur ein von Aubin bei Papritz in Auftrag gegebenes Papier zur deutschen Ostforschung inklusive eines provisorischen Haushaltsentwurfes, sondern beschloss zudem im kleinen Kreis die Wiederbelebung der NOFG unter denselben inhaltlichen Vorzeichen wie vor 1945, nämlich einer Konzentration auf den „ostdeutsch-polnischen Raum“.41 Zwar vereinbarte man zugleich, sich von konkreten politischen Forderungen fernzuhalten und der „reinen Wissenschaft“ dienen zu wollen, doch darf diese Aussage nicht als eine Neupositionierung der Ostforschung verstanden werden, behauptete der anwesende Theodor Schieder doch, dass dies auch in der Vergangenheit bereits geschehen sei.42 Außerdem zeigte Aubins zwanzigseitige Hamburger Denkschrift vom 17. Dezember 1949, dass sich für ihn lediglich die geographischen Bedingungen geändert hatten.43 Zwar legte er den Schwerpunkt auf die Erinnerung an den „deutschen Osten“ schon aus Gründen der „völkischen Selbstachtung“, doch formulierte er im Folgenden, dass die Beweggründe und Aufgaben, die Albert Brackmann in den verschiedenen Einrichtungen der Ostforschung geleitet hätten, auch heute noch gelten würden. Deswegen müsse mit Mitteln des Bundes die Forschungsgemeinschaft wiederaufleben und eine neue Forschungsstelle (als Ersatz für die Dahlemer Publikationsstelle) gegründet werden.44 Aubin konnte sich mit seinen Vorstellungen weitgehend durchsetzen. Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen stellte für das Jahr 1950 entsprechende Haushaltsmittel zur Verfügung und auch der zunächst strittige Punkt des Namens der alt-neuen Einrichtung wurde mit →Johann Gottfried Herder-Institut rechtzeitig gelöst.45 Eine interministerielle Besprechung in Bonn am 4. April 1950 unterstrich die federführende Rolle der in Marburg zu gründenden Institution.46 Man einigte

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sich zudem auf Druck der Politik auf einen weitgehenden Verzicht auf politische Stellungnahmen durch die Wissenschaftler und eine „anders geartete Betrachtung dieses Raumes [i.e. Ostmitteleuropa] unter europäischen Gesichtspunkten“.47 Am 29. April wurde in Marburg von 20 „Ostforschern“ der Johann Gottfried Herder-Forschungsrat, und einen Tag darauf das ihm unterstellte Herder-Institut gegründet, die sich offiziell zum Ziel setzten, die „verstreuten Kräfte der Ostforschung“ zu sammeln und die gesamte westdeutsche wissenschaftliche Beschäftigung mit „deutscher Geschichte“ im nördlichen Ostmitteleuropa zu vertreten und zu koordinieren.48 Parallel dazu entstanden allmählich die Historischen Kommissionen für bestimmte Teilregionen entweder aufs Neue oder wurden neu gegründet, als eine der ersten die Historisch-Landeskundliche Kommission für Posen und das Deutschtum in Polen.49 Es war rasch zu spüren, dass man innerhalb der neuen Strukturen keine wesentlichen Veränderungen der Forschungsmethoden, politischen Positionen und der ihnen zugrunde liegenden Weltbilder vornahm, wenn man von dem zunehmenden Gewicht antisowjetischer und -kommunistischer Auffassungen absieht. Da sowohl in den Institutionen der Ostforschung als auch in den zuständigen politischen Stellen die alten Netzwerke wieder neu geknüpft wurden, blieb man weitgehend unter sich. Persönliche Differenzen oder alte Feindschaften wurden dagegen lediglich intern, in Ausschusssitzungen und der privaten Korrespondenz, behandelt.50 Nur äußerst selten wurden Ostforscher dabei wegen ihrer Rolle im NS-System aus der Zunft verstoßen, auch typische nationalsozialistische Biographien wie die des Ministerialbeamten Werner Essen, der an den Nürnberger Rassegesetzen mitgewirkt hatte und während des Krieges unter anderem beim Reichskommissar Ostland für Rasse- und Siedlungspolitik zuständig war, behinderten eine „Wiederverwendung“ nach 1945 keineswegs.51 Mit der Westintegration der neuen Bundesrepublik und dem wirtschaftlichen Aufstieg wuchs der Wunsch nach institutioneller Förderung für die Ostforschung bei gleichzeitigem Verzicht auf allzu kritisches Nachfragen nach ihren Wurzeln. Die 1950er Jahre waren somit eine letzte Blütezeit der Beschäftigung mit dem „deutschen Osten“; die Gründung neuer Einrichtungen wie der Ostdeutschen Forschungsstelle Dortmund (1952, später in Forschungsstelle Ostmitteleuropa umbenannt), des Instituts für Geschichte und Landeskunde Schlesiens in Würzburg (1952, heute: Gerhard-Möbus-Institut für Schlesienforschung) oder des auf Böhmen spezialisierten Collegium Carolinums in München (1956) belegt diesen Trend ebenso wie das Aufkommen des „Ostkunde-Unterrichts“ in den Schulen oder die verstärkte finanzielle Förderung von Zeitschriften und anderen Publikationen.52 Im Zentrum der Ostforschung befand sich aber immer mehr das Marburger Herder-Institut. Seine 1952 erstmals erschienene Zeitschrift für Ostforschung verkörperte wie kaum ein anderes Organ die Kontinuität der Zeit vor 1945, wie sie Hermann Aubin in seinem Einführungsartikel vehement verteidigte.53 Zwar betonte er die rasante Veränderung des Kontinents durch den Zweiten Weltkrieg, den Vormarsch

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Russlands und die „Austreibung“ der Deutschen, und agitierte für den Kampf des Abendlandes gegen den „asiatischen Raum“. Dahinter verbarg sich allerdings ganz offensichtlich der Wunsch nach einer verstärkten Rolle des Deutschtums und der Wiederaufnahme alter, „erfolgreicher“ Forschungen. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass es den meisten Ostforschern schwer fiel, sich vom hergebrachten Kulturträgersyndrom und dem damit verbundenen Überlegenheitsdünkel gegenüber den slawischen Nachbarn zu lösen.54 Eine neue Nachdenklichkeit schien auch nicht nötig zu sein, existierten doch die alten Netzwerke und Freundeskreise weiter, erfolgte das Zusammenspiel von Politik, Verwaltung und Wissenschaft auf die althergebrachte Weise. Somit galt der Kampf eher dem wachsenden Desinteresse in der westdeutschen Wirtschaftswundergesellschaft, die nicht mehr allzu sehr an den verlorenen Krieg und den alten deutschen Osten erinnert werden wollte. Auch damit ist die „longue durée“ völkischer Paradigmen, die Dominanz der Vertriebenenverbände und alter Seilschaften zu erklären. Erst zu Beginn der 1960er Jahre zeichneten sich allmähliche Veränderungen ab, die – zweifellos ausgelöst von gesamtgesellschaftlichen Neuorientierungen – die Fixierung auf das „Deutschtum“ in weiten Teilen der Wissenschaft aufzuheben begannen. Dennoch war es bis zu einem kritischeren Umgang mit den eigenen Traditionen noch weit. Die wenigen kritischen Stimmen konnten relativ problemlos erstickt werden. So beschloss der Herder-Forschungsrat den Beitrag seines Mitgliedes Walter Schlesinger gar nicht erst zu veröffentlichen, in dem dieser bereits 1963 die Verbindung politischer und wissenschaftlicher Fragestellung in der Ostforschung kritisiert hatte.55 Der Weg zu einer modernen Osteuropaforschung, zu einem normaleren Verhältnis zu den Kollegen in Polen, der Tschechoslowakei oder Ungarn wurde aber dennoch langsam freier. Rückzugsgebiete der alten Ostforschung blieben, mitunter bis zum heutigen Tage, in einigen Bereichen der Landesgeschichtsschreibung der altostdeutschen Gebiete oder bei der politisch instrumentalisierten Wissenschaft der Vertriebenenorganisationen bestehen.

Markus Krzoska

1 Walter Schlesinger, Die mittelalterliche deutsche Ostbewegung und die deutsche Ostforschung, in: ZfO 46 (1997), S. 427–457, 427. 2 Klaus Zernack, Bemerkungen zur Geschichte und gegenwärtigen Lage der Osteuropahistorie in Deutschland, in: Klaus-Detlev Grothusen (Hg.), Europa Slavica – Europa Orientalis. Festschrift für Herbert Ludat zum 70. Geburtstag, Berlin 1980, S. 552. 3 Theodor Mommsen, An die Deutschen in Österreich, in: Neue Freie Presse Nr. 11923 vom 31.10.1897. 4 Klaus Zernack, „Deutschland und der Osten“ als Problem der historischen Forschung in Berlin, in: Reimar Hausen (Hg. u.a.), Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jh., Berlin 1992, S. 579. 5 Erich Schmidt, Geschichte des Deutschtums im Lande Posen unter polnischer Herrschaft, Bromberg 1904.

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6 Willy Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993, S. 23. Der 1919 gegründete Deutsche Schutzbund für das Grenz- und Auslandsdeutschtum war nicht nur in den umstrittenen Regionen wie Oberschlesien aktiv, sondern bemühte sich auch um eine neue nationale Haltung gegen die Positionen der Moderne beziehungsweise der Ideengeschichte seit 1789. 7 Vgl. Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus, Göttingen 20022, S. 26–34, und Michael Fahlbusch, „Wo der deutsche … ist, ist Deutschland!“ Die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920–1933, Bochum 1994. 8 Erich Marcks, Ostdeutschland in der deutschen Geschichte, Leipzig 1920; Karl Hampe, Zug nach dem Osten. Die kolonisatorische Großtat des deutschen Volkes im Mittelalter, Leipzig 1921; Dietrich Schäfer, Osteuropa und wir Deutschen, Berlin 1924. Der Treitschke-Schüler Schäfer hatte bereits 1915 einen Band mit dem Titel „Das deutsche Volk und der Osten“ publiziert. 9 Vgl. Matthias Middell, Lehre und Forschung auf dem Gebiet der Kultur- und Universalgeschichte institutionalisieren? Das Beispiel Leipzig, in: ders. (Hg. u.a.), Historische Institute im internationalen Vergleich, Leipzig 2001, S. 86–88. 10 Wilhelm Volz (Hg.), Der westdeutsche Volksboden. Aufsätze zu den Fragen des Westens, Breslau 1925. Vgl. Burkhard Dietz, Die interdisziplinäre „Westforschung“ der Weimarer Republik und NSZeit als Gegenstand der Wissenschafts- und Zeitgeschichte. Überlegungen zu Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Geschichte im Westen 14 (1999), S. 189–209. 11 Die Ergebnisse dieser Tagung wurden ebenfalls von Volz unter dem Titel „Der ostdeutsche Volksboden“ 1926 in Breslau publiziert. Vgl. Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 42– 45 (Anm. 7). 12 Wilhelm Volz/Hans Schwalm, Zum Geleit, in: Deutsche Hefte für Volks- und Kulturbodenforschung 1 (1930/31), S. 1. 13 Zu Fragen der Interaktion deutscher Ostforschung und polnischer Westforschung vgl. Jan M. Piskorski, „Deutsche Ostforschung“ und „polnische Westforschung“, in: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte (1996) 1, S. 379–389; Markus Krzoska, Nation und Volk als höchste Werte: Die deutsche und die polnische Geschichtswissenschaft als Antagonisten in der Zwischenkriegszeit, in: Bernard Linek (Hg. u.a.), Nationalismus und nationale Identität in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, Opole 2000, S. 297–312. 14 Hans-Erich Volkmann, Historiker aus politischer Leidenschaft, Hermann Aubin als Volksgeschichts-, Kulturboden- und Ostforscher, in: ZfG 49 (2001) 1, S. 32–49, 33. 15 Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 81–85. 16 Vgl. Erich Keyser, Die Geschichtswissenschaft. Aufbau und Aufgaben. München 1931, S. 7; Willi Oberkrome, Volksgeschichte, S. 144. 17 Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945, Baden-Baden 1999. 18 Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 102f. 19 BArch, R 153, 1704, Vademecum für die deutschen Teilnehmer des Internationalen Historikerkongresses in Warschau 1933. 20 Michael G. Müller, Bilder und Vorstellungen der Ostforschung von der Geschichte Polens in der Frühen Neuzeit, in: ZfO 46 (1997) 3, S. 376–391, 382. Diese Entprofessionalisierung betraf freilich nicht die Strukturen der Ostforschung, deren Möglichkeiten sich im Laufe der 1930er Jahre erheblich verbesserten. 21 BArch, R 153, 1269, Bericht über die Gründungstagung der NOFG in Berlin vom 19./20.12.1933, zitiert nach Volkmann, Historiker aus politischer Leidenschaft, S. 35. 22 PA, Kult VI A, 2-FOG Bd. 6, Protokoll der Kommissionssitzung vom 12.5.1936 in Flensburg, Bl. E62347, zitiert nach Fahlbusch, Wissenschaft, S. 203. 23 Die Organisationsstruktur der NOFG ist abgedruckt bei Fahlbusch, Wissenschaft, S. 187.

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24 Ebd., S. 205. 25 Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 294ff. 26 [Wir müssen…] „aus der Geschichte den Nachweis […] erbringen, daß alles höhere Leben im Ostraum deutschen bzw. nordischen Ursprungs ist und daß die slavischen Völker selbst der ordnenden Hand des deutschen Menschen bedürfen.“ So Ernst Zipfel auf der Nürnberger Tagung der VFG am 23.2.1941, zitiert nach Gabriele Camphausen, Die wissenschaftliche historische Rußlandforschung im Dritten Reich (1933–1945), Frankfurt a.M. 1990, S. 211. 27 Walter Kuhn, Versuch einer Naturgeschichte der deutschen Sprachinsel, in: Deutsche Blätter in Polen 3 (1926), S. 65–140, 111; Erich Maschke, Deutsches Volk in der Geschichte Polens, in: Deutsche Arbeit (1934), S. 493–498. 28 Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 324f. Ähnlich argumentierte sein Stellvertreter Aubin: „Die Wissenschaft kann nicht einfach warten, bis sie gefragt wird […] Sie muss sich selber zu Worte melden“. Zitiert nach BArch, R 153, 291, Aubin an Brackmann vom 18.9.1939. 29 Angelika Ebbinghaus/Karl Heinz Roth, Vorläufer des „Generalplans Ost“. Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, in: 1999 7 (1992), S. 62–94 (dort auch Abdruck des ersten Entwurfs); „Denkschrift über die Fragen der Eindeutschung Posens und Westpreußens und der damit zusammenhängenden Umsiedlungen“ vom 11.10.1939 vgl. PA, R 104208, Bl. 484109–484116, zitiert nach Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 11. 30 Vgl. Götz Aly/Karl Heinz Roth, Die restlose Erfassung, Berlin 1984, S. 78–79. 31 Ständig für das Sonderkommando tätig waren Jürgen von Hehn, Wilfried Krallert und Alfred Karasek. Vgl. Fahlbusch, Wissenschaft, S. 477–512; Ulrike Hartung, Raubzüge in der Sowjetunion. Das Sonderkommando Künsberg 1941–1943, Bremen 1997. 32 Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg. 2 Bd., Leipzig 1942– 43. 33 Ernst Vollert, Albert Brackmann und die ostdeutsche Volks- und Landesforschung, in: ebd., Bd. 1, S. 3–11, 5 und 10. 34 Erich Keyser, Die Erforschung der Bevölkerungsgeschichte des deutschen Ostens, in: ebd., S. 93. 35 Eine solche Auffassung vertritt Fahlbusch, Wissenschaft, S. 751; dagegen Michael Burleigh, Germany turns Eastwards. A Study of „Ostforschung“ in the Third Reich, Cambridge 1988, S. 244f. 36 Vgl. Jörg Hackmann, „An einem neuen Anfang der Ostforschung“. Bruch und Kontinuität in der ostdeutschen Landeshistorie nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Westfälische Forschungen 46 (1996), S. 232–258, 240. 37 BArch, Z 35 (Deutsches Büro für Friedensfragen), 215 (Institute, Einrichtungen und Organisation der Ostforschung), P.-H. Seraphim, Bericht über die „Notwendigkeit deutscher Ostforschung“. 38 Ebd., Denkschrift über die Möglichkeit des Aufbaus eines Bundesinstituts für Ostforschung in Marburg vom 18.4.1950; ebd. Georg von Rauch an die „Dienststelle für Auswärtige Angelegenheiten, Bonn“ vom 7.9.1950; Gert Robel, Osteuropa-Institut München, in: Erwin Oberländer (Hg.), Geschichte Osteuropas. Zur Entwicklung einer historischen Disziplin in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1945–1990, Stuttgart 1992, S. 281f. 39 Realisieren konnte er sie freilich erst zu Beginn der 1950er Jahre in Lüneburg, vgl. Bernhard Schalhorn, Anfänge deutschlandpolitischer Forschungs- und Bildungsarbeit in den fünfziger Jahren: Die Ost-Akademie Lüneburg, in: Deutsche Studien 25 (1987), S. 318–328. 40 HSTAM, Nl Papritz, C 12 g, 32 Aubin, Aubin an Papritz vom 2.6.1949, zitiert nach Hackmann, „An einem neuen Anfang der Ostforschung“, S. 241f. 41 BArch, Z 35, 215, Bl. 140/141, Aufzeichnung von Oskar Kossmann vom 21.9.1949; Dokumentensammlung des Herder-Instituts Marburg, 200 (Gründung des Herder-Forschungsrates/Herder-Instituts), Sitzung ostdeutscher und an ostdeutschen und osteuropäischen Forschungen beteiligter Forscher im Rahmen des deutschen Historikertages München am 15.9.1949, zitiert nach Eduard Mühle, Institutionelle Grundlegung und wissenschaftliche Beschäftigung mit „deutscher Geschichte“ im

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östlichen Mitteleuropa (1945–1959), in: Jerzy Kłoczowski (Hg. u.a.), Erfahrungen der Vergangenheit. Deutsche in Ostmitteleuropa in der Historiographie nach 1945, Marburg 2000, S. 36. 42 Ebd. 43 BArch, Z 35, 215, Bl. 115–137, Hermann Aubin, Denkschrift über die Umwandlung der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft in eine (Nord- und) Ostmitteleuropäische Forschungsgemeinschaft und die Errichtung einer (Nord- und) Ostmitteleuropäischen Forschungsstelle. 44 Ebd., Bl. 128 und 133. 45 Jörg Hackmann, „An einem neuen Anfang der Ostforschung“, S. 246ff. 46 BArch, Z 35, 215, Bl. 80–86, Niederschrift über die Besprechung beim Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen über Fragen der Ostforschung am 4.4.1950 (v. Zahn); ebd., Bl. 72–73, Aufzeichnung über die interministerielle Besprechung vom 4.4.1950 Betreffs wissenschaftliche Ostforschung (Kossmann). 47 Ebd., Nl Theodor Schieder, 257, Besprechung des Bundesministers für Gesamtdeutsche Fragen mit Direktor Werner Essen (Marburg) vom 8.8.1950 (von Zahn). 48 Eduard Mühle, Institutionelle Grundlegung, S. 388. 49 Wolfgang Kessler, Ostforschung als Abwehr. Die Historisch-Landeskundliche Kommission für Posen und das Deutschtum in Polen als Gesinnungsgemeinschaft (1950–1990), in: ders. (Hg. u. a.), Zwischen Region und Nation, Osnabrück 2013, S. 149–192. 50 Dabei konnte es durchaus um Fragen wie die Rolle einzelner Wissenschaftler im Nationalsozialismus gehen, wie der Briefwechsel zwischen Hermann Aubin und Ernst Birke in Sachen der Breslauer SS-Tätigkeit des letzteren belegt; vgl. BArch, NL Hermann Aubin, 3, Allgemeine Korrespondenz Ernst Birke. 51 Freilich gab es aus Kreisen der SPD-Opposition relativ früh Kritik an einigen Protagonisten der Ostforschung, etwa an Seraphim, den Aubin in einem Schreiben an Theodor Schieder daraufhin gegen die Angriffe in Schutz nahm; vgl. BArch, NL Theodor Schieder, 447, Aubin an Schieder vom 24.6.1952. Werner Essen, ein enger Freund Theodor Oberländers, stieg 1950 zum Direktor des Herder-Instituts auf und fand später in Oberländers Bonner Ministerium neue Arbeit. 52 Etwa das Großprojekt der Dokumentation der Vertreibung der Deutschen, das vom Bundesvertriebenenministerium initiiert wurde. Vgl. Mathias Beer, Die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Hintergründe – Entstehung – Ergebnis – Wirkung, in: GWU 50 (1999), S. 99–117; zur „Ostkunde“ vgl. Eduard Mühle, „Utracony niemiecki wschód“ w pamięci kulturowej nowo powstałej RFN, in: Zbigniew Mazur (Hg.), Wspólne dziedzictwo? Ze studiów nad stosunkiem do spuścizny kulturowej na Ziemiach Zachodnich i Północnych, Poznań 2000, S. 704–711. 53 Hermann Aubin, An einem neuen Anfang der Ostforschung, in: ZfO 1 (1952), S. 3–16. 54 Eduard Mühle, Institutionelle Grundlegung, S. 62. 55 Walter Schlesinger, Die mittelalterliche deutsche Ostbewegung und die deutsche Ostforschung.

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Prähistorische Archäologie Der Direktor des Provinzial-Museums zu Hannover Karl Hermann Jacob-Friesen definierte 1928 die Prähistorische Archäologie als „Wissenschaft von der kausalen Entwicklung alles dessen, was das geistige Leben und die äußere Lebensführung des Menschen in den Zeiten ausmacht, aus denen wir noch keine schriftlichen Quellen besitzen“.1 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatte sich dieses Forschungsfeld in Mitteleuropa etabliert, in dem mit der Gewinnung von Sachgut und Strukturen durch Ausgrabung und der typologischen Auswertung dieser Funde und Befunde eine relative chronologische Einordnung des Fundplatzes gelingt, um ihn schließlich als Teil einer lokalen oder regionalen historischen Narration darstellen zu können. Zusätzlich wurde das wachsende allgemeine „Denkmalbewusstsein“ auf archäologische Fundplätze übertragen und konsequent in dieses disziplinäre Selbstverständnis integriert, was sich in ersten Formen einer Denkmalschutzgesetzgebung niederschlug.2 Während Jacob-Friesen und seine Zeitgenossen von Urgeschichtsforschung, Vorgeschichte oder Prähistorie in Abgrenzung zu den Forschungsfeldern der Geschichtswissenschaft sprachen, wird das Fach inzwischen meist als Ur-, Vorund Frühgeschichte oder Prähistorische Archäologie bezeichnet.3 Ebenso wie im beginnenden 21. Jahrhundert war die Prähistorische Archäologie bereits im 19. Jahrhundert methodisch, inhaltlich und institutionell von einer großen regionalen Vielfalt gekennzeichnet, mit der auch die sehr unterschiedliche Rezeption von Ideologien und Einbindung in politiknahe Forschungs- und Kommunikationsstrukturen wie diejenigen der Völkischen Bewegung oder die Instrumentalisierung archäologischer Forschungen für völkische Konstrukte im frühen 20. Jahrhundert zu erklären ist. Obgleich inzwischen einzelne regional orientierte Analysen zur Wissenschaftsgeschichte der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie mit einem Schwerpunkt auf dem Zeitraum 1933–1945 und auf einzelnen Akteuren vorliegen,4 fehlt bislang eine umfassende Beschreibung dieser unterschiedlichen methodischen, inhaltlichen, institutionellen und auch ideologischen Traditionen der Urgeschichtsforschung zwischen 1900 und 1933. Bis 1900 wurde von Mitgliedern zahlreicher Geschichts- und Altertumsvereine ein breites Spektrum archäologischer Fundplätze wie Siedlungs- und Bestattungsplätze oder fortifikatorische Strukturen erschlossen, wobei es epochen- und kulturspezifische Schwerpunkte entsprechend der unterschiedlichen räumlichen Verbreitung dieser Phänomene gab, etwa die zahlreichen megalithischen Fundplätze in Norddeutschland, die frühmittelalterlichen Reihengräberfriedhöfe im Rheinland und Südwestdeutschland sowie die slawischen befestigten Siedlungen (Burgwälle) in Nord- und Ostdeutschland. Auf Grundlage ihrer Erforschung und der Präsentation der dabei gewonnenen Funde wie Keramik, Waffen und Schmuck in Sammlungen und Museen bestand am Ende des 19. Jahrhunderts ein relativchronologisch differenziertes Verständnis von den ersten sesshaften archäologischen Kulturen des Neolithikums in Mitteleuropa über die metallzeitlichen Kulturen und die römische

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Okkupationszeit bis zu den Reichsgründungen am Ende des Frühmittelalters. Inzwischen hatten sich im Wesentlichen drei unterschiedliche Perspektiven auf die „deutsche Vorgeschichte“ herausgebildet, die zum Teil spezifische Organisationsformen entwickelten. Am einflussreichsten war erstens der historisch-kulturwissenschaftliche Ansatz, in enger Orientierung an der historischen Rezeption antiker Autoren zu versuchen, die archäologischen Kulturen ab den Metallzeiten den für Mitteleuropa schriftlich überlieferten Kelten, Germanen und Slawen zuzuordnen und damit schließlich einen Beitrag zur erhofften regionalen Identitätsstiftung oder gar nationalen Narration zu liefern.5 In der Germanistik sowie in der Anthropologie, der →Volkskunde, der Rechtsgeschichte und der Religionswissenschaft war bereits je ein spezifischer Germanenbegriff erarbeitet worden,6 wobei in Anlehnung an einen vielfach modifizierten Volksbegriff die germanische Vorzeit zur nationalen Vorzeit erklärt worden war.7 Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts gingen der historische, der geografische und der sprachwissenschaftliche Germanenbegriff in dem der physischen Anthropologie auf und „Germanen“ und „Deutsche“ wurden endgültig gleichgesetzt.8 Die scheinbare Plausibilität dieses multidisziplinär erarbeiteten Germanenbegriffs bildete eine Grundlage für den sozialdarwinistischen und rassenbiologischen Volksbegriff, der nicht nur für die Weltanschauung der völkischen Bewegung, sondern auch für die Forschungen der meisten Vertretern der Prähistorischen Archäologie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert konstitutiv werden sollte.9 Daraus ergab sich eine fortgesetzte breite öffentliche, patriotisch orientierte Rezeption der entsprechenden archäologischen Forschungen.10 Um 1900 wurden diese Leidenschaften für die nationale (Vor-)Geschichte von einem Kulturpessimismus ergänzt, der in der vermeintlich heilen, da archaisch geordneten Welt der Vorzeit mit kulturell und naturräumlich abgrenzbaren Völkerschaften das verlorene nationale Paradies zu erkennen meinte.11 Neben dieser Tradition der Germanischen Altertumskunde stand innerhalb der Prähistorischen Archäologie zweitens diejenige der provinzialrömischen Forschungen in West- und Süddeutschland zu den Siedlungs- und Befestigungsüberresten der römischen Okkupationszeit, die einhergingen mit einer bis in den Humanismus zurückreichenden Verehrung für die mediterranen Kulturen, deren Einfluss auf die nordalpinen Kulturen fortgesetzt gefeiert wurde. Ab der Jahrhundertwende wurden diese beiden archäologischen Traditionsstränge zu einer ideologischen Konkurrenz zwischen der zunehmend völkisch orientierten nationalen Vorgeschichtsforschung und der am Konzept „ex oriente lux“ orientierten konservativen Altertumskunde aufgebaut, die ab den späten 1920er Jahren in Machtkämpfe um Forschungsressourcen mündete und dabei vielfach als Stichwortgeber für kulturpolitische Debatten innerhalb der Völkischen Bewegung fungierte. Östlich der Elbe und damit jenseits des historisch überlieferten germanischen Siedlungsgebietes sowie des provinzialrömischen Einflußbereiches entwickelte sich die archäologische Forschung auch innerhalb von Geschichts- und Altertumsverei-

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nen, aber mit der Gründung der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (BGAEU) 1869 gewann drittens eine besonders naturwissenschaftlich geprägte interdisziplinäre Perspektive Einfluss auf das Forschungsfeld. Die intensive Verbreitung dieses Forschungskonzeptes gelang durch regelmäßige Tagungen, aber auch durch überregionale Forschungsprojekte, die von zahlreichen regionalen Zweiggesellschaften sowie der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (DGAEU) seit 1870 durchgeführt wurden.12 Die strukturelle Uneinheitlichkeit der kulturpolitisch einflusslosen, aber inhaltlich und methodisch bereits weitgehend abgrenzbaren Wissenschaft forcierte nach der Jahrhundertwende vielfältige Allianzen und Strategien, mit deren Hilfe die Institutionalisierung der Archäologie erreicht werden sollte. In den meisten deutschen Ländern gelang bis zum Ersten Weltkrieg die Anbindung einer kleinformatigen archäologischen Denkmalpflege an Museen, wobei jedoch das Gros der Forschungsarbeit immer noch von Vereinsmitgliedern geleistet wurde.13 So lange es an wirkungsvollen Denkmalschutzgesetzen fehlte, sahen die Vertreter der haupt- wie ehrenamtlichen archäologischen Forschung und Denkmalpflege ihre Hauptaufgabe in der Öffentlichkeitsarbeit zur Vermittlung der Schutzbedürftigkeit der archäologischen Fundplätze. Dafür wurden Bündnisse mit lokalen und regionalen Vereinen und Organisationen eingegangen, wodurch vielerorts die Anschlussfähigkeit zwischen Archäologie und Heimat- sowie Naturschutzbelangen hergestellt wurde.14 Die einflussreichsten Impulse für eine Institutionalisierung der Prähistorischen Archäologie erwuchsen aus der Anthropologie, den klassischen Altertumswissenschaften und aus der Germanistik und lassen sich mit Rudolf Virchow (1821–1902), Theodor Mommsen (1817–1903) und →Gustaf Kossinna (1858–1931) sowie Berlin als dem politischen und wissenschaftlichen Zentrum Deutschlands verbinden. Nach Virchow sollte die Archäologie Teil der Anthropologie als universaler Einheitswissenschaft werden, aber der Mangel an entsprechenden Forschungskonzeptionen, der Institutionalisierungswille vieler kleiner Kulturwissenschaften sowie Virchows Tod 1902 führten zur Aufgabe dieser Tradition der Archäologie. Allerdings wurde an einigen Lehrstühlen für Anthropologie und Ethnologie auch Archäologie gelehrt, was die Herausbildung der interdisziplinären Rassenkunde vorbereitete. Der Althistoriker Theodor Mommsen sah dagegen die Prähistorische Archäologie trotz methodischer Zweifel als Teil einer universalen Altertumswissenschaft, er forderte dafür ein zentrales Reichsinstitut und förderte die Arbeit von Großforschungsprojekten nach naturwissenschaftlichem Vorbild (Reichslimeskommission; gegr. 1892). Dem entsprach die Politik des Deutschen Archäologischen Institutes, das die Prähistorische Archäologie ab 1902 mit der Gründung der Römisch-Germanischen Kommission in ihr Arbeitsfeld integrierte.15 Aus der Germanistik gab es im gesamten 19. Jahrhundert immer wieder Impulse hin zu einer Einbeziehung archäologischer Funde in die Forschung, aber erst der Germanist Kossinna formulierte diese Konzeption zur „Deutschen Vorgeschichte“ einflussreich aus. 1902 wurde er an der Berliner Universität auf den ersten außerordentlichen Lehrstuhl für Deutsche Archäologie beru-

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fen und konzentrierte sich fortan in seinen Vorlesungen und Publikationen auf die Erforschung von Ursprung und Genese der Germanen.16 Mit seinem explizit nationalen Verständnis von Archäologie als Kulturwissenschaft und seiner Orientierung auf die Germanen als den Römern ebenbürtig und den Slawen überlegen stand Kossinna dem Universalismus der damaligen Geschichts- und Kulturwissenschaften Berliner Prägung deutlich entgegen. Inneruniversitäre Konflikte, aber auch methodische Kritik aus dem eigenen Fach hinsichtlich der Grenzen der Rekonstruierbarkeit kultureller oder genetischer Abstammungsgemeinschaften verstärkten bei Kossinna und seinen Schülern sowie zahlreichen Fachkollegen die Forderungen nach besserer Anerkennung und Förderung der archäologischen Forschung, wofür auch intensiv völkische Argumente eingesetzt und die Archäologie mehr denn je als nationale Wissenschaft dargestellt wurde. Parallel dazu verschärfte sich nach dem Ersten Weltkrieg in vielen archäologisch und historisch forschenden Vereinen und Organisationen die Argumentation hin zu einer Betonung völkischer Werte, die sich nach dem Kriegsende unter dem Eindruck der Gebietsabtretungen in West- und Ostdeutschland radikalisierte. Für die Prähistorische Archäologie bot sich nun die Gelegenheit, historische Begründungen für Grenzrevisionen um archäologische Argumente zu erweitern und dadurch die gesellschaftliche Relevanz des Faches und seiner Institutionen zu stärken; eine Strategie, die auch in anderen europäischen Staaten gewählt wurde und dort ebenfalls zum Ausbau der wissenschaftlichen Infrastruktur führte.17 Je nach regionalen akademischen und strukturellen Gegebenheiten brachten Archäologen diese ethnozentrische Perspektive auf die Vorzeit in Kooperationen vor allem mit den Geschichtswissenschaften und der Anthropologie ein. Zu ihrer Anerkennung in diesen Bündnissen trug bei, dass sich in den meisten preußischen Provinzen seit dem Erlass des Ausgrabungsgesetzes von 1914 und dessen Durchführungsbestimmungen 1920 endlich staatliche Denkmalpflegeämter durch die Berufung eines „Staatlichen Vertrauensmannes für kulturgeschichtliche Bodenaltertümer“ etablierten, so dass Archäologie nicht länger patriotische Liebhaberei, sondern staatliche Aufgabe geworden war.18 Archäologen arbeiteten in der interdisziplinären Volksgeschichts- und Volkstumsforschung seit den 1920er Jahren mit, die sich besonders im Rahmen der →West- und der →Ostforschung im Rheinland sowie in Ostdeutschland mit finanzieller Förderung vor allem der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft für Gemeinschaftsforschungen und der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften etablierten. Die Anschlussfähigkeit archäologischer Projekte gegenüber diesen revisionistischen, oftmals von der Landesgeschichte koordinierten Forschungen wurde bei Arbeiten über die frühmittelalterliche Ethnogenese im Rheinland (→Franz Petri), die Deutsche Ostexpansion oder die →Hanseforschung unter Beweis gestellt, wobei ihnen eine fortgesetzte Abwertung aller „nicht-germanischen“ Kulturen gemeinsam war.19 Sie blieben aber stets marginal im Vergleich zu den historischen oder sprachwissenschaftlichen Forschungsergebnissen, auch wenn sie teilweise öffentlichkeits-

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wirksamer zu inszenieren waren. Nicht nur die politische Orientierung der einzelnen Archäologen motivierte solche Projektarbeiten, sondern auch die Tatsache, dass die Etats der Museen und Denkmalpflegeeinrichtungen sowie der Lehrstühle kaum Forschungsmittel beinhalteten und die Inflation alle Forschung zu lähmen drohte.20 Sowohl aus revisionistischen als auch aus traditionell ethnozentrischen Motiven heraus kam es zu Kooperationen zwischen Archäologie und Anthropologie, mit denen nach dem Ersten Weltkrieg an einzelnen Universitätsinstituten oder anthropologisch-ethnologischen Sammlungen und Museen der Versuch unternommen wurde, historische, archäologische und anthropologische Perspektiven hin zu einer interdisziplinären Rassenkunde zu verknüpfen.21 Bereits die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Blutgruppenforschung 1926 in Wien durch →Otto Reche 1926 war unter lebhafter Anteilnahme des Establishments der deutschen Prähistorischen Archäologie erfolgt und auch die Berufung Eugen Fischers in den Vorstand der BGAEU 1928 entsprach dieser Interessenlage.22 Als Reche ab 1927 in Leipzig lehrte, verstärkte er dort sein Engagement für den strukturellen Aufbau der interdisziplinären Rassenkunde, indem er Projektforschung betrieb und sich zusammen mit den Protagonisten der →Leipziger Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung dem Geographen →Wilhelm Volz und dem Landeshistoriker Rudolf Kötzschke (1867–1949) für die Einrichtung eines Lehrstuhls für Vor- und Frühgeschichte einsetzte.23 Kötzschke hatte in Leipzig bereits 1909 ein interdisziplinäres Forschungsprogramm mit großem archäologischem Anteil für eine Volks-Siedlungs-Geschichte entworfen, das er nach 1918 mit umfangreicher politischer Unterstützung als wissenschaftlichen Beitrag zur geheimen Revisionspolitik erweiterte.24 Sein Ziel war eine landeskundlich orientierte Geschichte der deutschen Ostkolonisation als einer „wirkliche[n] Geschichte des Volksbodens“ mit dem Nachweis einer fortdauernden, nur kurzzeitig durch slawische Einwanderer unterbrochenen deutschen Siedlungskontinuität,25 wobei Mitteldeutschland sowohl als Ausgangspunkt der Ostexpansion als auch als Mitte des mittelalterlichen Reiches einen genuinen Forschungsschwerpunkt darstellte. Reches Ziel einer umfassenden rassischen Volkskunde einschließlich der Rekonstruktion der „Blutgruppenverteilung in alten historischen Siedelungen und Einwanderungsgebieten“26 ergänzte diese Forschungsperspektiven Kötzschkes ebenso wie diejenigen zahlreicher Archäologen. Dementsprechend stark war auch die Unterstützung aus der Prähistorischen Archäologie, als die Gesellschaft für Blutgruppenforschung ab 1926 serologische und morphologische Untersuchungen an Schulkindern in Österreich und Deutschland zum Beispiel in Oberschlesien unter der Leitung von →Bolko von Richthofen durchführte.27 In Sachsen stellte der Archäologe Walter Frenzel seine Kenntnisse über die Besiedlungsgeschichte der Oberlausitz für ein Projekt Reches zur Bestandsaufnahme „fremdrassischer“, in diesem Fall slawischer Bevölkerungsteile in Deutschland zur Verfügung.28 Reche wollte seine „anthropologische“ Einschätzung der Sorben als ei-

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ner „slawischen Rasse“ bestätigen und die Gefahr ihrer Mobilisierung durch polnische oder tschechische Propaganda abschätzen. Obwohl das Projekt scheiterte, wirkte dieser Entwurf eines regionalen rassenkundlich orientierten (Vor-)Geschichtsbildes beispielgebend und war publizistisch ein Erfolg. Parallelen zu dieser regional eng vernetzten kulturgeschichtlichen und anthropologischen Volkstumsforschung zeigen sich sowohl im Rheinland als auch in der Provinz Sachsen in der Arbeit zweier Kossinna-Schüler. In Heidelberg gab der Lehrstuhlinhaber →Ernst Wahle (1889–1981) die Zeitschrift für Rassenkunde mit heraus und in Halle an der Saale entwickelte der Direktor des Provinzialmuseums Hans Hahne (1875–1935) eine interdisziplinäre „Volkheitskunde“ als Schnittmenge aus Vorgeschichtsforschung, Volkskunde und Rassenkunde. Unter seiner Ägide entstanden umfangreiche archäologische Datensammlungen, um die „Sonderverhältnisse“ der von ihm wissenschaftlich und kulturpolitisch begleiteten konstruierten Region „Mitteldeutschland“ zu erforschen und zusammen mit der geographischen Kulturlandschaftsforschung zu popularisieren.29 Neben diesen völkisch motivierten interdisziplinären Forschungen betrieb ein derzeit nicht genau zu bestimmender Anteil der deutschen Archäologen eher national-konservativer Gesinnung eine vorwiegend lokal orientierte Forschung. Im Mittelpunkt standen die Datierung und ethnische Zuordnung von Fundplätzen und am methodisch und strukturell einflussreichsten waren die archäologischen Landesaufnahmen als Datengrundlage für die denkmalpflegerische Arbeit, die von intensiver Öffentlichkeitsarbeit begleitet wurde.30 Diese fortgesetzte Professionalisierung der Archäologie führte auch dazu, dass vereinzelt Vereinsforschung, nun ‚Laienforschung‘, in Konkurrenz zur amtlichen Archäologie geriet. Dabei kam es weniger zu Konflikten mit traditionsreichen Altertumsvereinen, sondern vor allem mit völkischen germanophilen Theoretikern, die Urreligionen und -philosophien rekonstruieren und reaktivieren wollten. Obwohl Projekte wie an den Externsteinen bei Detmold in Verbindung mit der „Gemeinde Hermannsland“ des Deutschbunds oder →Hermann Wirths →Forschungsinstitut für Geistesurgeschichte vielfach mit regionalpolitischer und wissenschaftspolitischer Förderung ausgestattet waren, formulierten anerkannte Vertreter des Faches wie der oben genannte Jacob-Friesen demgegenüber ebenso grundsätzliche Kritik wie bereits an der Methodik Kossinnas.31 Nach Kossinnas Emeritierung 1926 und der Verzögerung der Wiederbesetzung der Professur bis 1934 verlagerte sich die universitäre Archäologie auf den 1927 eingerichteten ersten ordentlichen Lehrstuhl für Vorgeschichte an der Universität Marburg, der mit Gero von Merhart besetzt wurde. Noch 1930 wurde also nur an zwei deutschen Universitäten Prähistorische Archäologie im Hauptfach gelehrt, aber an insgesamt 14 Universitäten konnte man die Doktorprüfung in Prähistorischer Archäologie ablegen bei Dozenten beispielsweise der Völkerkunde oder bei Privatdozenten, die an Museen der Universitätsstadt als Archäologen arbeiteten.32 Deshalb mehrten sich ab Mitte der 1920er-Jahre die reichsweit regionalpolitisch platzierten Forderungen aus der Archäologie nach einer besseren universitären Vertretung des

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Faches und dessen Einbeziehung in die Lehrerausbildung. Als kulturpolitisch einflussreichste Struktur für die Vertretung der Fachinteressen erwies sich der 1929 gegründete →Kampfbund für deutsche Kultur, dem 1931 der junge, wissenschaftlich engagierte und glühend völkisch eingestellte Hans Reinerth (1900–1990) beitrat. Reinerth entwickelte in einer Phase beruflicher Umorientierung fachpolitische Visionen und gründete 1932 die Fachgruppe „Vorgeschichte“ im Kampfbund, die 1933 mit Kossinnas Gesellschaft zum Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte fusionierte.33 In ihm war die Mehrheit der Archäologen vertreten, die anfänglich nahezu geschlossen Reinerths Archäologiekonzept aus institutionellem Ausbau und Gründung eines Zentralinstitutes, inhaltlicher und politischer Gleichschaltung, massiver Öffentlichkeitsarbeit und intensiver Zusammenarbeit mit auslandsdeutschen und skandinavischen Forschungseinrichtungen befürworteten. Der Ausbau des Faches gelang dank der Förderung der Kulturpolitik der Länder, so dass die Anzahl der Lehrstühle von zwei im Jahr 1927 auf 25 im Jahr 1942 stieg, und während 1931 nur ein archäologisches Denkmalamt existierte, arbeiteten 1943 bereits 14 solcher Einrichtungen mit entsprechenden Denkmalschutzgesetzen. Aus Sicht der Archäologie verbesserten sich die Einsatz- und Arbeitsbedingungen für Absolventen nach 1933 grundlegend. Während die Stellenausstattung an den Denkmalämtern und Universitäten konstant gering blieb, boten sich nun Stellen beim Arbeitsdienst für die wissenschaftliche Baubegleitung, in der Bauforschung, →Hausforschung und →Burgenforschung, bei Ausstellungsprojekten, in der Verlagsproduktion von Lehr- und Informationsmaterialien sowie in der Lehrerausbildung.34 Aber die inhaltliche und politische Gleichschaltung der deutschen Archäologie durch die Verankerung der völkischen, germanozentrischen Thesen im Rahmen der nationalsozialistischen Urgeschichtsforschung und die Transformation der regional und ideologisch immer noch diversen Archäologie zu einer einheitlichen, ideologisch uniformen nationalsozialistischen Wissenschaft, wie sie durch Reinerth vorangetrieben wurde, scheiterte. Auch ein einheitliches politisches nationalsozialistisches Vorgeschichtsbild wurde nicht entwickelt. Aber genügend Archäologen sowie Förderer wie Heinrich Himmler und zahlreiche Regionalpolitiker glaubten, mit Hilfe der Archäologie aus der vermeintlich germanischen Urgeschichte Mitteleuropas die Expansionsbestimmung des zeitgenössischen Deutschland herleiten und das tradierte Bild der Germanen als wilde Barbaren wissenschaftlich korrigieren zu können und förderten entsprechende Projekte.35 Mit diesen Ambitionen beeinflussten Fachwissenschaftler wie Politiker einen fachinternen Machtkampf, der ältere thematische (provinzialrömische versus germanische Archäologie), personelle („KossinnaSchule“ versus Carl Schuchhardts Nachfolger →Wilhelm Unverzagt) und politische (offen völkische, später nationalsozialistische versus national-konservative) Polarisierungen fortsetzte.36 Diese vielfach kolportierte Gegnerschaft ist vor dem Hintergrund der fortgesetzten Strukturschwäche der Prähistorischen Archäologie auch als Ressourcenkampf zu dekodieren, der in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurückreicht. Durch die Umstrukturierungen in der Notgemeinschaft sowie durch die Be-

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setzung des Berliner Lehrstuhls mit Reinerth Ende 1934 verschoben sich die bisherigen Forschungsförderungsstrukturen, und renommierte Wissenschaftler begaben sich ebenso wie neu ernannte Lehrstuhlinhaber und Denkmalpfleger oder junge Absolventen aktiv und vielfach bedingungslos auf die Suche nach Ressourcenpartnern. Anders als noch in den 1920er-Jahren eröffneten sich neue Arbeitsmöglichkeiten in der nunmehr offiziellen militärischen, ministerialbürokratischen und wirtschaftspolitischen Revisionsplanung oder in der Stiftung →Ahnenerbe der SS, deren Projektmitarbeiter zu Fragen der germanischen Ethnogenese, der ottonischen Geschichte oder frühmittelalterlichen Seehandelsplätze forschten.37 Mit Kriegsbeginn wurden schließlich auch in besetzten Gebieten Forschungsfragen verfolgt, die bis in die Zeit um den Ersten Weltkrieg zurückreichten, nun jedoch nicht mehr allein im Zeichen des Revisionismus standen, sondern vor allem in dem der Expansion.38

Susanne Grunwald

1 Karl Hermann Jacob-Friesen, Grundfragen der Urgeschichtsforschung. Stand und Kritik der Forschung über Rassen, Völker und Kulturen in urgeschichtlicher Zeit, Hannover 1928, S. 90–91. 2 Wilfried Lipp, Natur – Geschichte – Denkmal. Zur Entstehung des Denkmalbewusstseins der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. u.a. 1987; Jürgen Kunow, Die Entwicklung von archäologischen Organisationen und Institutionen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert und das „Öffentliche Interesse“ – Bedeutungsgewinne und Bedeutungsverluste und deren Folgen, in: Peter F. Biehl (Hg. u.a.), Archäologien Europas, Münster 2002, S. 147–183; 149ff.; Stefan Kraus, Die Entstehung und Entwicklung der staatlichen Bodendenkmalpflege in den preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen, Aichwald 2012. 3 Zur derzeitigen Terminologie, Methodik und Zielvorstellungen der deutschsprachigen ur- und frühgeschichtlichen Archäologie: Doreen Mölders (Hg. u.a.), Schlüsselbegriffe der Prähistorischen Archäologie, Münster u.a. 2014. 4 Heiko Steuer (Hg.), Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995. Erg.bde. RGA 29, Berlin 2001; Achim Leube (Hg.), Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933–1945, Heidelberg 2002; Uta Halle, „Die Externsteine sind bis auf weiteres germanisch!“ Prähistorische Archäologie im Dritten Reich, Bielefeld 2002; Focke-Museum, Bremer Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte (Hg.), Graben für Germanien. Archäologie unterm Hakenkreuz, Stuttgart 2013; Ulf Ickerodt (Hg. u.a.), Archäologie und völkisches Gedankengut: Zum Umgang mit dem eigenen Erbe. Ein Beitrag zur Selbstreflexiven Archäologie, Frankfurt a.M. u.a. 2010. 5 Sebastian Brather, Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen, Berlin u.a. 2004; Dietrich Hakelberg, Nationalismus einer Elite. „Heidnisches Teutschland“ und „vaterländische Alterthumskunde“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Elisabeth Vogel (Hg. u.a.), Zwischen Ausgrenzung und Hybridisierung. Zur Konstruktion von Identitäten aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, Würzburg 2003, S. 15–35. 6 Ingo Wiwjorra, Germanenmythos und Vorgeschichtsforschung im 19. Jahrhundert, in: Michael Geyer (Hg. u.a.), Religion und Nation. Nation und Religion, Göttingen 2004, S. 367–385; 369; ders., Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2006, S. 30–42. 7 Bernhard Giesen u.a., Vom Patriotismus zum völkischen Denken: Intellektuelle als Konstrukteure der deutschen Identität, in: Helmut Berding (Hg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität.

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Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2, Frankfurt a.M. 1994, S. 345– 393; Wolfgang Bialas (Hg.), Die nationale Identität der Deutschen. Philosophische Imaginationen und historische Mentalitäten (u.a. Frankfurt a. M. 2002); Christian Jansen, The Creation of German nationalism (1750–1850), in: Helmut Walser Smith (ed.), Oxford Handbook of Modern German History, Oxford 2010, S. 234–259. 8 Ingo Wiwjorra, Die deutsche Vorgeschichtsforschung und ihr Verhältnis zu Nationalismus und Rassismus, in: Uwe Puschner (Hg. u.a.), Handbuch zur „völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1999, S. 186–207, 194, 197; Heinrich Beck (Hg. u.a.), Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Erg.bde. RGA 34, Berlin u.a. 2004; Wiwjorra, Der Germanenmythos, S. 41, 235–245. Zu den älteren germanischen Rassenstereotypen ebd., S. 198–216; 222ff. 9 Bernhard Mees, Hitler und Germanentum. Journal of Contemporary History 39 (2004) 2, S. 255– 270; Jürg Glauser (Hg. u.a.), Germanentum im Fin de siècle. Wissenschaftsgeschichtliche Studien zum Werk Andreas Heuslers, Basel 2005. 10 Uwe Puschner, „Hermann, der erste Deutsche“ oder: Germanenfürst mit politischem Auftrag. Der Arminius-Mythos im 19. und 20. Jahrhundert, in: Ernst Baltrusch (Hg. u.a.), 2000 Jahre Varusschlacht. Geschichte – Archäologie – Legenden, Berlin 2012, S. 257–286. 11 Wiwjorra, Die deutsche Vorgeschichtsforschung, S. 187f. 12 Susanne Grunwald, „Das ergab aber ein so buntes und wenig eindrucksvolles Bild“. Zu den Anfängen der archäologischen Kartographie in Deutschland um 1900, in: Ethnologisch-Archäologische Zeitschrift 53 (2012) [2014] 1, S. 5–34. 13 Kunow, Die Entwicklung von archäologischen Organisationen. 14 Ulf Ickerodt, Zwischen unbequemem Denkmal und inszeniertem Erinnerungsort, in: Christian Boldt (Hg. u.a.), Erinnerungsorte. Steinburger Jahrbuch 59, 2015, Itzehoe 2014, S. 21–64. 15 Werner Krämer, Fünfundsiebzig Jahre Römisch-Germanische Kommission, in: Deutsches Archäologisches Institut/RGK (Hg.), Festschrift 75jähriges Bestehen der RGK, Mainz 1979, S. 5–18. 16 Sebastian Brather, Ethnische Identitäten als Konstrukte der frühgeschichtlichen Archäologie, in: Germania 78, (2000), S. 139–177, 143–149. 17 Johan Callmer (Hg. u.a.), Die Anfänge der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie als akademisches Fach im europäischen Vergleich, Rahden/Westf. 2006; Sebastian Brather, Ethnische Interpretationen in der europäischen Archäologie. Wissenschaftliche und politische Relevanz. In: Judith Schachtmann (Hg. u.a.), Politik und Wissenschaft in der prähistorischen Archäologie, Dresden 2009, S. 30–51. 18 Erstes modernes Denkmalschutzgesetz 1902 in Hessen, 1911 in Großherzogtum Oldenburg, 1920 Hamburg, 1929 Mecklenburg: Kunow, archäologische Organisationen, S. 156–157; ders. (Hg. u.a.), Archäologie und Bodendenkmalpflege in der Rheinprovinz 1920–1945, Köln 2013. 19 Uta Halle, Archäologie und Westforschung, in: Burkhard Dietz (Hg. u.a.), Griff nach Westen. Die „Westforschung“ der völkisch-nationalen Wissenschaft zum nordwesteuropäischen Raum (1919– 1960), Münster u.a. 2003, S. 383–406; Hubert Fehr, Germanen und Romanen im Merowingerreich. Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschehen. Erg.bd. RGA 68, Berlin 2010; Susanne Grunwald, „Die Aufteilung der Burgen auf die Geschichte wird eine Änderung erfahren müssen“. Zur Geschichte der Zantoch-Idee. Acta Prähist. Arch. 41 (2009) S. 231–262. 20 Susanne Grunwald (Hg. u.a.), Die Spur des Geldes in der Prähistorischen Archäologie. Mäzene – Förderer – Förderstrukturen, Bielefeld 2016. 21 Anja Laukötter, Von der Kultur zur Rasse – vom Objekt zum Körper? Völkerkundemuseen und ihre Wissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2007. 22 Zu den ersten Mitgliedern gehörten Robert Beltz, Hans Hahne, Gustaf Kossinna, R. R. Schmidt, Carl Schuchardt und Hans Seger: Archiv des Instituts für Ethnologie, Universität Leipzig (IEUL), Re XXI, Liste der Gründungsausschussmitglieder, undatiert (1927) unpag. Vgl. Peter Weingart (Hg. u.

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a.), Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 355. 23 Susanne Grunwald, Rassenkundliche Kooperation. Zur Zusammenarbeit von Otto Reche und Walter Frenzel in der Oberlausitz, in: Ethnographisch Archäologische Zeitschrift 49 (2008) S. 499–517. 24 Esther Ludwig, Rudolf Kötzschke – Das schwere Bemühen um die Bewahrung der „unantastbaren Reinheit des geschichtlichen Sinnes“, in: Wieland Held (Hg. u.a.), Rudolf Kötzschke und das Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde an der Universität Leipzig, Beucha 1999, S. 21– 70. 25 Rudolf Kötzschke, Über Aufgaben vergleichender Siedlungsgeschichte der deutschen Volksstämme. In: Studium Lipsiense. Ehrengabe für Karl Lamprecht […] (Berlin 1909) S. 23–54; S. 15; Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf im Osten“, Göttingen 2002, S. 31. 26 Archiv IEUL, Re XXI, Entwurf Pressetext zur Ankündigung der Zeitschrift für Rassenphysiologie der Deutschen Gesellschaft für Blutgruppenforschung, ca. 1928, S. 2. 27 Ebd., Protokoll der konstituierenden Hauptversammlung der Deutschen Gesellschaft für Blutgruppenforschung am 20.7.1926, verfasst am 21.7.1926. 28 Frank Förster, Weggang eines Wendenbekämpfers. Dr. Walter Frenzels scheinbar überraschender Wechsel von Bautzen nach Frankfurt (Oder) 1936, in: Lětopis 50 (2003), S. 30–41; Katja Geisenhainer, „Rasse ist Schicksal“. Otto Reche (1879–1966) – ein Leben als Anthropologe und Völkerkundler, Leipzig 2002, S. 282, 295, 297; Susanne Grunwald, Rassenkundliche Kooperation, S. 507– 510; Walter Frenzel/Werner Radig/Otto Reche (Hg.), Grundriß der Vorgeschichte Sachsens, Leipzig 1934. 29 Dietrich Hakelberg, Deutsche Vorzeit als Geschichtswissenschaft – Der Heidelberger Extraordinarius Ernst Wahle im Kontext seiner Zeit, in: Steuer, Eine hervorragend nationale Wissenschaft, S. 199–310; Irene Ziehe, Hans Hahne (1875–1935), sein Leben und Wirken. Biographie eines völkischen Wissenschaftlers, Halle 1996; Jürgen John, Die politisch-administrative Geschichtslandschaft „Mitteldeutschland“, in: ders. (Hg.), „Mitteldeutschland“. Begriff, Geschichte, Konstrukt, Rudolstadt u.a. 2001, S. 229–267; Historische Kommission der Landesgeschichtlichen Forschungsstelle für die Provinz Sachsen und für Anhalt (Hg.), Mitteldeutscher Heimatatlas, Magdeburg 1935–1943. 30 Kirsten Hoffmann, Ur- und Frühgeschichte – eine unpolitische Wissenschaft? Die urgeschichtliche Abteilung des Landesmuseums Hannover in der NS-Zeit, in: Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 74 (2005), S. 209–249. 31 Jacob-Friesen, Grundfragen der Urgeschichtsforschung; Uta Halle, „Pflege exakter Wissenschaft und Bekämpfung aller Auswüchse“ – Das Provinzialmuseum Hannover und die völkische Laienforschung, Die Kunde 2002, N.F. 55, S. 103–114. 32 Martin Jahn, Wie ist die Vorgeschichtswissenschaft an den deutschen Universitäten vertreten? Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 6 (1930) 9, S. 150–153. 33 Hans Reinerth, Deutsche Vorgeschichte. Die deutsche Vorgeschichte im Dritten Reich, Nachruf Gustaf Kossinna, in: NS-Monatshefte 3(Juni 1932) 27, S. 259–261; Gunter Schöbel, Hans Reinerth. Forscher – NS-Funktionär – Museumsleiter, in: Achim Leube (Hg.), Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933–1945, Heidelberg 2002, S. 321–396; Halle, Externsteine, S. 60ff. 34 Wolfgang Pape, Zur Entwicklung des Faches Ur- und Frühgeschichte in Deutschland bis 1945, in: Leube (Hg.), Prähistorie und Nationalsozialismus, S. 163–226. 35 Volker Losemann, Aspekte der nationalsozialistischen Germanenideologie, in: Peter Kneißl (Hg. u.a.), Alte Geschichte und Wissenschaftsgeschichte, Darmstadt 1988, S. 256–284; Halle, Externsteine, S. 62–66. 36 Halle, Externsteine, S. 32–34.

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37 Egon Schallmayer (Hg. u.a.), Archäologie und Politik. Archäologische Ausgrabungen der 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts im zeitgeschichtlichen Kontext, Wiesbaden 2011; Dirk Mahsarski, Herbert Jankuhn, 1905–1990. Ein deutscher Prähistoriker zwischen nationalsozialistischer Ideologie und wissenschaftlicher Objektivität, Rahden/Westf. 2011. 38 Jean-Pierre Legendre (Ed. u.a.), L’archéologie nazie en Europe de l’Ouest, Gollion 2007.

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Rassenbiologie Die Fragen nach unseren Ursprüngen beschäftigen die Menschen schon seit jeher. Sie spielen bei der Selbstfindung und Herausbildung der eigenen, ethnischen Identität und des Nationalverständnisses eine ebenso große Rolle wie in der europäischen Wissenschaftstradition. Im Laufe der Geschichte sind ethnische Auseinandersetzungen, offener Rassismus und →Antisemitismus zu wichtigen, oftmals konstruierten, zweifelhaften Merkmalen nationalen Selbstverständnisses geworden. Rassistische Gesellschaftsbilder gab es schon lange vor der Entwicklung des Rassebegriffes. So hielt man in Griechenland die Barbaren für minderwertig und behauptete, sie seien nur zur Sklaverei vorbestimmt; im Alten Indien wurde das „Kastenwesen“ eingeführt. Mit Carl von Linnés (1707–1778) Forschungen war es Mitte des 18. Jahrhunderts zum ersten Mal gelungen, den Schritt zu einer biologischen Anthropologie zu vollziehen. Hierbei war es sein Verdienst, den Menschen in eine vergleichende und systematisierte Betrachtung der Tierwelt – eine Biologie des Menschen – eingebettet zu haben. Nach Linné gehörte der Mensch in die Ordnung der Primaten (Herrentiere). Die Gelehrten in der Nachfolge des Enzyklopädisten George Buffon stellten dann zwangsläufig die Fragen, wann und wie sich der Mensch nun eigentlich über das Niveau tierischer Primaten erhoben habe. Die Geschichte zeigt, dass in der älteren Naturgeschichte/Anthropologie zunächst nur „Affe-Mensch-Vergleiche“ oder „Hautfarbenvergleiche“ vorgenommen werden konnten. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gelang es dann aber gleich von drei wissenschaftlichen Seiten aus, Beiträge für eine biologisch argumentierende Anthropologie zu leisten. So haben die Zoologie/Anatomie, Geografie und Philosophie in einigen Punkten wichtige Grundlagen für die exakte (spätere) Hominidengliederung sowie die zukünftige Wissenschaft (biologische Anthropologie) gelegt. Der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) formulierte die grundlegenden Begriffe für die Anthropologie, der Mediziner Johann F. Blumenbach (1752–1840) hingegen erweiterte diese um die biologischen Grundlagen und gab eine erste Einteilung der Menschenrassen, der Geograf Eberhard A. W. Zimmermann (1743–1815), der Naturforscher Alexander von Humboldt (1769–1859) sowie Johann W. von Goethe (1749– 1832) dehnten die Betrachtung auf geografisch-zoologische sowie völkerkundliche Themen aus. Der Mediziner Samuel T. von Sömmerring (1755–1830) integrierte dann noch eine anatomisch-physiologische (medizinische) Sichtweise in die Forschungen, so mit seiner 1785 erschienenen Schrift „Über die körperliche Verschiedenheit des Negers vom Europäer“, wo er sich mit aller Entschiedenheit gegen die mittelalterliche Auffassung wandte, ob Schwarzafrikaner überhaupt Menschen und nicht vielleicht Affen wären.1 Einige Zeit später – im unmittelbaren Anschluss an das Erscheinen von Charles Darwins (1809–1882) „Origin of Species“ (1859) – ging die Forschergemeinschaft einen Schritt weiter, indem nun konkret Fragen nach der Herkunft und Verbreitung der Menschen gestellt und diese in eine biologisch-anthropologische Forschung in-

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tegriert wurden. Außerdem spielten die in diesem Zeitraum entdeckten fossilen Funde eine bedeutende Rolle, denn diese ließen den realhistorischen Ablauf der Hominidenevolution erkennen. So hatte der deutsche Sprachraum an den frühen Fossilfunden (Neandertaler 1856, Funde von Taubach und Weimar-Ehringsdorf 1871– 1892, Unterkiefer von Mauer 1907, Jungpaläolithiker in Obercassel 1914) einen beachtlichen Anteil. Selbstverständlich war aber eine überzeugende Einordnung dieser Funde nur vor dem Hintergrund des Gesamtbestandes menschlicher Fossilien möglich, zumal man eben auch über außerdeutsche Funde (Pithecanthropus) diskutierte. Seit den 1920er Jahren verlagerten sich dann die (geografischen) Hauptfundgebiete wichtiger Fossilien nach China, Südafrika oder Kenia. In Deutschland hingegen endete die seit 1856 (Neandertaler) begonnene Phase bedeutender Funde im Juli 1933 mit dem Fund von Steinheim an der Murr, der als europäischer Präsapiens-Fund den Funden von Swanscombe in England (1935/36, 1955) und Fontéchevade in Frankreich (1947) zuzuordnen ist. Nach Steinheim war es den deutschen Anthropologen dann nur noch möglich, sich an den allgemeineren Diskussionen über die Fossil- und Abstammungsgeschichte in der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu beteiligen, jedoch nicht mehr an den Erstbeschreibungen.2 Das 20. Jahrhundert wurde zur Epoche, in der sich Wissenschaft, Gesellschaft und Politik am weitesten auf die Ideologie des Rassismus eingelassen haben, diese zum Teil neu begründeten und an der praktischen Umsetzung ihrer Programme beteiligt waren. Dieser Zusammenhang war ein wichtiger Faktor und treibendes Moment der Verwirklichung politisch-ideologischer und biologistischer Utopien. Dabei ging es um Visionen einer „reinen Rasse“, einer „Rasse ohne Fremdkörper“ oder eines „erbgesunden Volkes“. Eine der größten Perversionen bestand in einer Verquickung von „Rasse“ und Kultur – also in der Tendenz, ein Volk oder eine Nation nicht nur kulturell, sondern auch biologisch, das heißt erblich oder genetisch auszugrenzen und für andersartig und eigenartig zu halten.3 Dabei kam es recht schnell zu einer Verkürzung der evolutiven Aussagen und parallel dazu oftmals zu einer politisch aufgeladenen und determinierenden Interpretation der Forschungsergebnisse sowie weitgehenden Biologisierung der Gegebenheiten. Besonders im Norden und in der Mitte Europas etablierten sich Interessengruppen, die sich zum Ziel gesetzt hatten, den „nordischen Menschen“ (später dann öfters mit dem aus der Sprachwissenschaft kommenden Begriff „Arier“ gleichgesetzt) mit als positiv und superior empfundenen körperlichen und geistigen Merkmalen aufzuladen. Dabei erregten diese Gruppen eine recht große mediale Aufmerksamkeit und trugen auf diese Weise ihre Vorstellungen in die Gesellschaft. So wurde im Jahre 1907 auf Initiative von Alfred Ploetz (1860–1940) der Ring Norden, 1910 der Geheime Nordische Ring (Nordische Ring, 1926) sowie 1925 die Nordische Bewegung gegründet; 1911 folgten →Willibald Hentschel (1858–1947) mit dem Mittgart-Bund sowie der österreichische Publizist Jörg Lanz von Liebenfels (1874–1954) mit der Ostara-Gesellschaft. Dieser positiven Aufladung der „Nordischen Rasse“ in der fortschrittspessimistischen Atmosphäre fin-de-siècle folgten zwangsläufig Tendenzen zur Bewahrung der

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angeblich positiven und „wünschenswerten“ Eigenschaften auch im gesundheitlichen Bereich. Hier wurde die Politik angefragt, entsprechende selektive Forderungen in Gesetzgebungen auszugestalten. Üblich wurde hier die simplistische Kategorisierung nach den Minderwertigen und Tüchtigen. Ferner gerieten kurz vor dem Ersten Weltkrieg auch quantitative bevölkerungspolitische Überlegungen mehr und mehr in die sozialdarwinistische Perspektive. Dieser „sozialdarwinistische Biologisierungsschub“ in der Bevölkerungstheorie und Gesundheitspolitik führte zu einem tiefgreifenden Paradigmenwechsel, denn zu dieser Zeit stießen zunehmend neue Stichworte wie „Eugenik“ (Eugenics) in England und den Vereinigten Staaten und „Rassenhygiene“, „Rassenkunde“, „Rassenbiologie“ oder „Rassenpflege“ in Deutschland auf breite Resonanz.4 So verwundert es auch nicht, wenn 1938 der Tübinger Botaniker Ernst Lehmann (1880–1957) einen Beitrag in der NS-Lehrerzeitung „Der Biologe“ mit den Worten einleitete: „Vererbungslehre, Rassenkunde und Rassenhygiene gehören zu den Grundlagen nationalsozialistischen Denkens.“5 In seiner Untersuchung hatte Lehmann festgestellt, dass im Gegensatz zu genetischen Lehrveranstaltungen ab 1900 in Deutschland anthropologische Vorlesungen und Übungen in größerem Umfang zu verzeichnen waren, mit Steigerungsraten in der Vorkriegszeit, der Folgezeit nach 1918 bis hin zum vierten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. So zählte er beispielsweise in den zehn Wintersemestern von 1909/10 bis 1918/19: 117, von 1919/20 bis 1929/30: 213 Vorlesungen auf diesem Gebiet; 1934 war ein Höchststand mit 62 erreicht – später bewegte sich das jährliche Angebot zwischen 40 bis 50 Lehrveranstaltungen. Die Untersuchung dokumentiert weiterhin, dass sich seit Mitte der 1920er Jahre die Rassenkunde sowie später auch die Rassenhygiene als geeignete Felder für eine nationalsozialistische Propagierung der Rassen-Ideen erwiesen und in der deutschen Wissenschaftslandschaft etabliert hatten. Ausnahmen gab es bei der Rassenhygiene, die im ersten Jahrzehnt des vorigen Jahrhundertsnoch kaum in den deutschen Lehrplänen vertreten war; die Statistik von Lehmann nennt für 1930/31 lediglich 13 Lehrveranstaltungen. Nach der ‚Machtübernahme‘ stieg hingegen auch hier die Zahl an: 1933/34 waren es 54, 1935/36: 53 und 1937/38: 32.6 Diese Zahlenangaben dokumentieren, dass der Rasse(n)gedanke neben einem ebenso politisch durchsetzten Erziehungsprogramm und der späteren Apologie des Krieges zum zentralen Element einer nationalsozialistischen Lehre und Forschung an den Universitäten, einigen wissenschaftlichen Instituten (Kaiser-Wilhelm-Netzwerk)7 sowie in der Propagandamaschinerie der hauptamtlichen Partei- und Wissenschaftsstellen avancierte. Diesem Trend schlossen sich frühzeitig führende nationalsozialistische Politiker an, wie unter anderen der spätere Reichsminister des Innern Wilhelm Frick (1877– 1946).8 Rassenbiologie zu jener Zeit, oft auch unter „Rassenkunde“ und „Rassenlehre“ subsumiert, wurde dabei also als eine physisch-anthropologische, die Rassenhygiene als eine medizinische Wissenschaft mit zumeist klinischer Orientierung verstanden. Die Rassenbiologie entstand aus der Verknüpfung der klassischen Erblehre

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(Mendelismus) mit der physischen Anthropologie, menschliche Erblehre und Erbbiologie entsprechen in etwa unserem heutigen Begriff Humangenetik (human genetics).9 In Deutschland entwickelte sich die „Rassenhygiene“ von Anfang an zwar parallel, jedoch differenzierter gegenüber der englischen Eugenik oder Rassenkunde/ Rassenbiologie. Manchmal auch als „Erbhygiene“ bezeichnet, wurde sie als angewandte Disziplin innerhalb der Medizin angesehen. Die Kategorie der „Rasse“, besonders in der vitalen Auffassung von Ploetz, einer „sich erhaltenden und ersetzenden Lebenseinheit einer Population“, gehörte dabei von Anfang an zu den zentralen Termini.10 An einen „Dienst an der Rasse“ hatte auch der praktische Arzt Wilhelm Schallmayer (1857–1919) gedacht, als er 1900 beim Kruppschen Preisausschreiben11, an dem auch Ernst Haeckel (1834–1919) beteiligt war, mit seinem Werk „Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker“. Eine staatswissenschaftliche Studie auf Grund der neueren Biologie den ersten Platz belegte.12 Die zweite Person war der bereits erwähnte Alfred Ploetz, der in der Schweiz beim Psychiater August Forel (1848–1931) studiert hatte. Er war zudem mit der dritten wichtigen Figur der frühen Rassenhygiene in Deutschland, dem Psychiater und Begründer der erbbiologischen Prognose Ernst Rüdin (1874–1952), durch Heirat mit dessen Tochter verwandt. Von Beginn an arbeiteten innerhalb der deutschen Rassenhygiene auch andere Mediziner wie →Fritz Lenz (1887–1976)13 oder Anthropologen wie Eugen Fischer (1874– 1967)14 aktiv mit. Die von Ploetz am 22. Juni 1905 gegründete (Berliner) Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene sowie die Internationale Gesellschaft für Rassenhygiene und die im J. F. Lehmann Verlag erscheinende Zeitschrift „Archiv für Rassenund Gesellschafts-Biologie“ (ab 1904) waren innerhalb der deutschen Entwicklung wichtig im Bestreben, den wissenschaftlichen Boden für Fächer wie Rassenhygiene und Rassenkunde an Universitäten und Hochschulen vorzubereiten, breite Teile der Öffentlichkeit mit deren Zielen bekannt zu machen, für kommende Themen zu interessieren und das neue Vokabular zu verbreiten. Eine wichtige Rolle bei der Popularisierung kam im Jahre 1911 der Internationalen Hygiene-Ausstellung (IHA) in Dresden zu. Unter Leitung von Alfred Ploetz, Ernst Rüdin und Max von Gruber (1853– 1927) wurde eine „Sondergruppe Rassenhygiene“ vorbereitet. An der Präsentation nahm eine ganze Reihe von Ärzten und Naturwissenschaftlern teil. Das Programm sowie Inhalte der Sondergruppe wurden in einem speziellen Katalog veröffentlicht.15 In Dresden kam es dann im Verlauf der IHA auch zu Differenzen zwischen den deutschen und englischen Eugenikern/Rassenhygienikern, die an einer Kooperation innerhalb der „weißen Rasse“ interessiert waren. Es gelang aber nie, eine einheitliche internationale Organisation unter deutscher Führung zu schaffen.16 Die internationalen eugenischen Kongresse 1912 in London und 1921 in New York belegen hingegen einen Einfluss auf die englisch-amerikanische Eugenik. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Eugenik dann weltweit als Mittel zur „Regeneration“ angesehen. Entsprechende Hoffnungen auf eine „Gesun-

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dung“ wurden in biologische Maßnahmen gesetzt. Man sprach über die Notwendigkeit einer „eugenischen Reform“, in der dem interventionistischen Staat eine wichtige Rolle zufallen sollte.17 Die Abkehr von einer voluntaristischen Version der Eugenik hin zu staatlichen Eingriffen erfuhr in Deutschland unter dem Eindruck der angeblichen weiteren Schwächung des deutschen „Volkskörpers“ (der deutschen Erbsubstanz) auch die Rassenhygiene einen nachhaltigen konjunkturellen Aufschwung. Im angeblichen Verfall der Sitten und der politischen Stabilität sahen weite Teile der Öffentlichkeit Parallelen zum Verfall der „Rasse“. Es wurden Sterilisierungsmaßnahmen, darunter auch viele in Sachsen („Lex Zwickau“ von G. Boeters), und Einwanderungsbestimmungen (in den 1920er besonders in den Vereinigten Staaten) diskutiert und in manchen Ländern sogar erlassen.18 Aber auch die heute selbstverständlichen Maßnahmen zum Schutz vor mutagenen Strahlen und Substanzen oder finanzielle und städtebauliche Programme wurden initiiert, die es Familien erleichtern sollten, Kinder zu haben. All dies gehörte zu dem Repertoire der „eugenischen“ Reform der Zwischenkriegszeit. Innerhalb des spezifischen Forschungsverbundes von Rassenhygiene, -kunde und Rassenanthropologie kam es dann zur Präzisierung von „Rassenkategorisierungen“ sowie zur weiteren Erforschung der Folgen der „Rassenmischung“, die besonders durch die „Rehobother Bastardstudien“ von Eugen Fischer die Diskussionen in Deutschland („Rheinlandbastarde“) dynamisierten. Für den psychiatrischen Bereich kamen zu dieser Zeit wichtige Impulse von Rüdins Vererbungsstudien über Schizophrenie (Dementia praecox). Die Bestrebungen nach einem „Züchtungsstaat“ trafen aber zugleich auch auf scharfe Kritik, die vieles vom Werdenden vorhersah und auch heute noch in aktuellen Diskussionen teilweise Bestand hat.19 Ein Sonderfall und weltweit einzig war schließlich die Verbindung von Eugenik, Rassenhygiene und politischem Rassismus – speziell in seiner antisemitischen Variante – in der NS-Zeit. Seit Mitte der 1920er Jahre hatten sich – neben dem Sozialdarwinismus – ebenso die Rassenkunde sowie die Rassenhygiene als geeignete Felder für eine nationalsozialistische Propagierung von Rassenideen erwiesen und weitgehend in der deutschen Wissenschaftslandschaft etabliert.20 Dabei wurde das neue Regime von vielen Rassenhygienikern unterstützt und befürwortet. Der später umstrittene Anthropologe, der Berliner Ordinarius für Rassenhygiene und Doktorvater des berüchtigten Auschwitz-Lagerarztes Josef Mengele (1911–1979), Otmar Freiherr von Verschuer (1896–1969), bemerkte 1944 zum zehnjährigen Jubiläum des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP: „Die Rassenpolitik gilt mit Recht als Kernstück des Nationalsozialismus […] Der Nationalsozialismus dagegen hat den Menschen selbst mit den in ihm enthaltenen rassischen und erblichen Anlagen und die dem einzelnen Menschen übergeordnete Gesamterscheinungsform von Volk und Rasse in den Mittelpunkt seiner Politik gerückt […] Die Vorschläge einzelner Wissenschaftler, Programme wissenschaftlicher Gesellschaften wären aber niemals zur Durchführung gekommen, wenn nicht der Nationalsozialismus die Rassenpolitik als Panier erhoben hätte“.21 An dieser Stelle ist aber ausdrücklich zu

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betonen, dass es einen zentralen, homogenen Rasse-Begriff im Dritten Reich nie gab. Während der Rassenpopularisator →Hans F. K. Günther (1891–1968) einen statischen Rasse-Begriff22 bevorzugte, wählten andere den sogenannten dynamischen Rasse-Begriff.23 Verschiedene Autoren sahen ferner den nachhaltigen Einfluss, den die Rassentheorien in der deutschen Rassenkunde und Rassenhygiene haben sollten und der ihre wissenschaftspolitische Funktion für das Dritte Reich legitimierte, in dem Umstand begründet, dass zwischen der sich etablierenden (physischen) Anthropologie und den populären Rassentheorien „keine ausreichenden Differenzen bestanden, die es vor allem der Wissenschaft erlaubt hätten, sich von den politischen Bewegungen erfolgreich abzugrenzen“.24 So wurden zwar einerseits rassentheoretisch, biologistisch und sozialdarwinistisch beeinflusste Wissenselemente in die nationalsozialistische Ideologie übernommen, um den instrumentellen politischen Stellenwert zu dokumentieren. Andererseits wurde aber gerade durch diese Einfügung der aus dem rassenkundlichen Wissenskanon sich ergebenden praktischen Maßnahmen auch ein neues Betätigungsfeld, eine „Eignungsprüfung“ zur „Eindeutschung“ im Rahmen der Deutschen Volksliste unter der Federführung von SS und dem Rassenamt des RuSHA geschaffen, wo man nun den Schritt der direkten Umsetzung der ideologischen Gesichtspunkte in konkrete wissenschaftliche Ergebnisse vollziehen konnte.25 Die Forschung wurde nun eng mit den zwei Doktrinen der „Rassen-“ und „Erbgesundheitspflege“ verknüpft und somit Bestandteil der neuen Infrastruktur des NS-Staates. Am 15. Juli 1933 wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses genehmigt und damit der Weg zu den Ausgrenzungsstrategien durch exzessive Unfruchtbarkeitsmachungen bereitet. Der ideologisch bevorzugte Aufschwung an rassenkundlichen und vererbungswissenschaftlichen Fragestellungen spiegelte sich auch in den Bereichen der Human- und Biowissenschaften (Universitäten, Kaiser Wilhelm-Institute) wider.26 So überrascht im Ganzen dann zu Beginn der 1930er Jahre auch nicht der Umstand, dass bereits am 17. November 1933 der Stellvertreter des „Führers“, Rudolf Heß (1894–1987), dem in Göttingen promovierten Mediziner →Walter Gross (1904– 1945) die Überwachung und Vereinheitlichung der gesamten Schulung und Propaganda auf den Gebieten der Bevölkerungs- und Rassenpolitik übertrug.27 Gross wurde als Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP28 berufen, welches Anfang des Jahres 1934 auf Wunsch von Adolf Hitler beim Stab des Stellvertreters des Führers eingerichtet worden war. Dieses Amt erhielt den Auftrag, die rassenpolitische Aufklärungsarbeit in der NSDAP, ihren Gliederungen und den angeschlossenen Verbänden zu überwachen und nach einheitlichen Gesichtspunkten auszurichten. Mit Unterstützung des Reichsschulungsamtes und durch die Förderung von Alfred Rosenberg (1893–1946) und Joseph Goebbels (1897–1945) gelang es Gross relativ schnell, „einheitliche Richtlinien für die Behandlung dieser Fragen im Sinne der Partei durchzusetzen und ihnen in der Öffentlichkeit Geltung zu verschaffen. Dabei wurde auf die weltanschaulichen Folgerungen und Voraussetzungen des rassischen Denkens bewußt der allergrößte Wert gelegt.“29 Mit der Gründung des Rassenpoliti-

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schen Amtes der NSDAP setzte dann also reichsweit eine planmäßig gesteuerte, bewusst gezielte und von politischen bzw. wissenschaftsideologischen Gesichtspunkten getragene „Aufklärung des deutschen Volkes“ in Rassenfragen ein: „Der Rassengedanke wurde zur politischen Willenserklärung des Dritten Reiches. Aus den Erkenntnissen der Erb- und Rassenforschung und noch über sie hinaus ist uns diese neue weltanschauliche Haltung erwachsen, die uns wieder die Gesetze des Lebens, die Stimme des Blutes und den Wert der Rasse verstehen gelehrt hat.“30 Nachfolgende Übersicht über die Etablierung der Rassenhygiene/Rassenkunde an einigen deutschen Universitäten und wissenschaftlichen Einrichtungen verdeutlicht dabei eine Jenaer Sonderstellung.31 Hier waren institutionelle Beispiele in einer derartigen Häufung anzutreffen, wie sie im Dritten Reich an keiner anderen Universität (vielleicht bis auf das „besetzte“ Prag)32 mehr vorgekommen sind: Ort Berlin

Danzig Düsseldorf Frankfurt

Freiburg i.Br. Gießen Greifswald Hamburg

Innsbruck Jena

Institut, Zeitraum, Fachvertreter Institut für Rassenhygiene der Universität, Fritz Lenz 1933–1945; Institut für Rassenbiologie der Universität, Wolfgang Abel 1942– 1945; Anstalt für Rassenkunde, Völkerbiologie und ländliche Soziologie, Hans F. K. Günther, 1935–1940; Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, Eugen Fischer 1927–1942, Otmar Freiherr von Verschuer 1942–1945 Institut für Erb- und Rassenforschung der Medizinischen Akademie, Erich Grossmann 1942–1945 Extraordinariat für Erbgesundheits- und Rassenpflege, Friedrich E. Haag 1934–1940 Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene der Universität, Otmar Freiherr von Verschuer 1935–1942, Heinrich W. Kranz 1943–1945; Institut zur Erforschung der Judenfrage ab 1941 unter →Wilhelm Grau Anstalt für Rassenkunde, Völkerbiologie und ländliche Soziologie, Hans F. K. Günther 1940–1945 Institut für Erb- und Rassenpflege, Heinrich W. Kranz 1934–1942, Hermann Boehm 1943–1945 Institut für menschliche Erblehre und Eugenik, Günther Just 1933– 1942, Fritz Steiniger 1942–1945 Rassenbiologisches Institut der Universität, Walter Scheidt 1926– 1965; Abteilung für Erb- und Zwillingsforschung an der II. Medizinischen Universitätsklinik, Wilhelm Weitz 1934–1945 Erb- und Rassenbiologisches Institut der Universität, Friedrich Stumpfl 1939–1945 Seminar für Sozialanthropologie, Hans F. K. Günther 1930–1935/ 36; ab 1936–1955/1960 Bernhard Struck – o. Prof. und Seminar/Anstalt/Institut für Anthropologie und Völkerkunde

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Jena

Jena Jena Köln

Institut für „Menschliche Züchtungslehre und Vererbungsforschung“ (1934/35–1935), später dann für „Menschliche Erbforschung und Rassenpolitik“, →Karl Astel (bis 1945) o. Prof. für Phylogenetik, Vererbungslehre und Geschichte der Zoologie; Ernst-Haeckel-Haus (Institut), Victor Franz 1936–1945 Institut und Lehrauftrag für „Allgemeine Biologie und Anthrogenie“, Gerhard Heberer 1938–1945 Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene, Ferdinand Claussen 1939–1945 (Assistenz Wolfgang Bauermeister)

Königsberg

Rassenbiologisches Institut, Lothar Löffler 1934–1943, Bernhard Duis 1943–1945

Leipzig

Institut für Rassen- und Völkerkunde der Universität, →Otto Reche 1927–1945

München

Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene der Universität, Fritz Lenz 1923–1933, Lothar Tirala 1933–1936, Ernst Rüdin 1936–1945; ab 1919 Kaiser-Wilhelm-Institut für Genealogie und Demographie (Ernst Rüdin) Institut für Erb- und Rassenhygiene an der Medizinischen Fakultät der Karls-Universität, Karl Thums 1940–1945; Institut für Sozialanthropologie und Volksbiologie an der Philosophischen Fakultät, Karl Valentin Müller 1942–1945; Institut für Rassenbiologie an der Naturwissenschaftlichen Fakultät, →Bruno Kurt Schultz 1942–1945 Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene, Hans Grebe 1944–1945 Institut für Rassenbiologie der Reichsuniversität, Wolfgang Lehmann 1942–1945 Rassenkundliches Institut 1934–1938, Rassenbiologisches Institut 1938–1945, Wilhelm Gieseler 1934–1945 Rassenbiologisches Institut der Universität, Lothar Loeffler 1942– 1945 Rassenbiologisches Institut der Universität, Ludwig Schmidt-Kehl 1937–1941, Friedrich Keiter 1941–1942, Günther Just 1942–1945 (1948)

Prag

Rostock Straßburg Tübingen Wien Würzburg

Wie ausweglos die Lage bei den Versuchen war, die ideologisierte deutsche Rassenbiologie/Rassenhygiene frühzeitig abzulehnen und zugleich ihre zentrale These von der „natürlichen“, angeborenen und unveränderlichen Ungleichheit der Menschen auf der wissenschaftlichen, aber auch populärwissenschaftlichen Ebene zu diffamieren, zeigt die Initiative des in Karlsbad tätigen jüdischen Eugenikers, Anthropologen und Röntgenologen Ignaz Zollschan (1877–1948). Seit 1934 bemühte er sich,

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eine Initiative gegen die NS-Rassenlehre („Internationale Enquête über die wissenschaftlichen Grundlagen der Rassenideologie“) im wissenschaftlichen Bereich auf der Ebene der Akademien und Universitäten in Mittel- und Westeuropa sowie in den Vereinigten Staaten zu organisieren.33 Besonderes Engagement zeigten dabei nicht nur die Gesellschaft der Nationen, sondern auch berühmte Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Sigmund Freud oder der erste tschechoslowakische Staatspräsident Tomas G. Masaryk (1850–1937). In ihrem nie veröffentlichten Manifest „An die Vertreter der Wissenschaft!“ von 1935 wurde die kommende Katastrophe eindeutig vorhergesagt: „Wir erleben es Alle, wie die Rassenlehre unter Zuhilfenahme von Erkenntnissen aus den verschiedenen Wissensgebieten, Theorien über Wert und Unwert von Völkern und Menschengruppen als Tatsachenfeststellungen proklamiert; wir erleben es Alle, wie aus der Rassenlehre Rechte abgeleitet werden, die tief in die Beziehung von Mensch zu Mensch, von Volk zu Volk, von Staat zu Staat eingreifen und darüber hinaus die Beziehung zwischen Menschen und ethischen Prinzipien umgestalten wollen. Wir stehen vor der Alternative: ist die Lehre richtig, unabänderlich und daher schicksalsbestimmend, dann müsste sich unter ihrem Einfluss das gesamte soziale Aussehen unseres Erdballes und unser gesamtes Kulturbewußstsein ändern. Ist sie aber unrichtig, unwahr, dann müsste um der unabsehbaren Folgen willen ihr Einfluss als verderblich angesehen werden.“34 „Rassenmischung, Rassenkampf und Rassenerzeugung“ – das waren die drei großen Themen der Rassentheorie im 19. Jahrhundert gewesen. Schließlich fokussierte man aber auf die „Rassenerzeugung“, wo biologisches und politisches Leben endgültig kurz geschlossen wurden.35 Die bis dato nur oftmals theoretisch formulierten Pläne/Ziele zur Züchtung und Vernichtung von Rassen und Ethnien wurden jetzt unter den Bedingungen totalitärer Systeme und ihrer geführten Kriege und Strategien („Säuberung“, „Durchschleusung“, „Selektion“, „Vernichtung“) in die Praxis umgesetzt. Biopolitische Diskurse, rassistische Praktiken kehrten so unmittelbar nach der globalen politischen Perestroika Ende 1980er Jahre sogar in Formen wieder (Jugoslawien- und Tschetschenien-Kriege; Uiguren-Konflikt; Nepal-Problematik; Völkermord in Ruanda, Aborigines), die man besonders Ende des 20. Jahrhunderts für endgültig (wie beispielsweise die Apartheid in Südafrika) überwunden gehalten hatte.36 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sieht es so aus, dass „Rasse“ als wissenschaftlicher Begriff weitgehend obsolet geworden ist und im Alltagsgebrauch zumindest in Deutschland geächtet wird, in den USA dagegen wohl noch toleriert ist. Stattdessen wird mehr von Fortpflanzungsgemeinschaften oder Populationen in biologischer Hinsicht, von Ethnien und Kulturen in den Geistes- und Sozialwissenschaften geredet.37

Uwe Hoßfeld/Michal V. Šimůnek

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1 Christine Hanke, Zwischen Aufklärung und Fixierung. Zur Konstitution von „Rasse“ und „Geschlecht“ in der physischen Anthropologie, Bielefeld 2007; Anne Dreesbach, Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer Menschen“ in Deutschland, 1870–1940, Frankfurt a.M. u.a. 2005; Uwe Hoßfeld, Geschichte der biologischen Anthropologie in Deutschland. Von den Anfängen bis in die Nachkriegszeit, Stuttgart 20162. 2 Uwe Hoßfeld, Reflexionen zur Paläoanthropologie in der deutschsprachigen evolutionsbiologischen Literatur der 1940er bis 1970er Jahre, in: Bernhard Kleeberg (Hg. u.a.), Urmensch und Wissenschaften. Eine Bestandsaufnahme, Darmstadt 2005, S. 59–88. 3 Daniel J. Kevles, In the Name of Eugenics. Genetics and the Uses of Human Heredity, New York 1985; Peter Weingart u.a., Rasse, Blut, Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988; Paul Weindling, Health, race, and German politics between national unification and Nazism, 1870–1945, Cambridge 1989; Mark B. Adams, The Wellborn Science: Eugenics in Germany, France, Brazil, and Russia, New York 1990; John Glad, Jewish Eugenics, Washington 2010; Amos Morris-Reich, Race and Photography: Racial Photography as Scientific Evidence, Chicago 2016. Für die zeitgenössische Argumentation vgl. Friedrich Keiter, Rasse und Kultur, Stuttgart 1938–40. 4 Jochen-Christoph Kaiser u.a., Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie“. Politische Biologie in Deutschland 1895–1945. Eine Dokumentation, Berlin 1992; Pascal Grosse, Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland: 1850–1918, Frankfurt a.M. 2000; Michal Šimůnek u.a., Von der Eugenik zur Rassenhygiene – der tödliche Mythos vom „erbgesunden Volk“, in: Dresdner Hefte 108 (2011), S. 57–65; Michael Haller (Hg. u.a.), Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz. Von Galton zu Sarrazin: Die Denkmuster und Denkfehler der Eugenik, Heidelberg 2012. 5 Vgl. Ernst Lehmann, Vererbungslehre, Rassenkunde und Rassenhygiene, in: Der Biologe 7 (1938), S. 306–310, 306; ders., Verbreitung erbbiologischer Kenntnisse durch Hochschule und Schule, in: Deutschlands Erneuerung 22 (1938), S. 561–567, 642–650; Wilhelm Stuckart/Rolf Schiedermair, Rassen- und Erbpflege in der Gesetzgebung des Dritten Reiches, Leipzig 1939. 6 Ebd.; Lehmann, Vererbungslehre, Rassenkunde und Rassenhygiene (wie Anm. 5), S. 309f. 7 Doris Kaufmann (Hg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, 2 Bde., Göttingen 2000; Carola Sachse u.a., Biowissenschaftliche Forschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten und die Verbrechen des NS-Regimes. Informationen über den gegenwärtigen Wissensstand, Berlin 2000; Robert N. Proctor, Adolf Butenandt (1903–1995). Nobelpreisträger, Nationalist und MPG Präsident. Ein erster Blick in den Nachlaß, Berlin 2000; Hans-Walter Schmuhl, Hirnforschung und Krankenmord. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung 1937–1945, Berlin 2000; Susanne Heim, Research for Autarky, Berlin 2001; dies. (Hg.), Autarkie und Ostexpansion. Pflanzenzucht und Agrarforschung im Nationalsozialismus, Göttingen 2002; Helmut Maier: „Wehrhaftmachung“ und „Kriegswichtigkeit“. Zur rüstungstechnischen Relevanz des Kaiser-Wilhelm-Institutes für Metallforschung in Stuttgart vor und nach 1945, Berlin 2002; Moritz Epple, Rechnen, Messen, Führen. Kriegsforschung am Kaiser-Wilhelm-Institut für Strömungsforschung (1937–1945), Berlin 2002; Hans-Walter Schmuhl, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927–1945, Berlin 2005ff. 8 Vgl. Wilhelm Frick, Ansprache des Herrn Reichsministers des Innern Dr. Frick auf der ersten Sitzung des Sachverständigenbeirates für Bevölkerungs- und Rassenpolitik am 28. Juni 1933, in: Volk und Rasse 8 (1933), S. 137–142; ders., Ansprache des Herrn Reichsministers Dr. Frick bei der Gründungsversammlung des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst am 20. November 1933 im Reichsministerium des Innern, in: Volk und Rasse 8 (1933), S. 234–236; ders., Das nordische Ge-

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dankengut in der Gesetzgebung des Dritten Reiches. Rede auf der Tagung der Nordischen Gesellschaft in Lübeck, in: Volk und Rasse 11 (1936), S. 317–320. 9 Vgl. Hans-Christian Harten u.a., Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reiches. Biobibliographisches Handbuch, Berlin 2006, XIII, 3. 10 Eugen Fischer, Eugenik, in: Handwörterbuch der Naturwissenschaften, Jena 1933, S. 898–901. 11 Hans Severus Ziegler/Johannes Conrad/Ernst Haeckel, Natur und Staat, Beiträge zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre. Eine Sammlung von Preisschriften, Teil III, Jena 1903. Weitere Bände zwischen 1903 und 1907 thematisierten: Philosophie der Anpassung mit besonderer Berücksichtigung des Rechtes und des Staates (Heinrich Matzat); Darwinismus und Sozialwissenschaft (Arthur Ruppin); Natur und Gesellschaft (Albert Hesse); Prinzipien der natürlichen und sozialen Entwicklungsgeschichte des Menschen (Curt Michaelis); Soziologie (A. Eleutheropulos); Der Wettkampf der Völker mit besonderer Bezugnahme auf Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika (Emil Schalk); Organismen und Staaten (Alfred Methner); Die ererbten Anlagen und die Bemessung ihres Wertes für das politische Leben (Walter Haecker). 12 Jürgen Sandmann, Der Bruch mit der humanitären Tradition. Die Biologisierung der Ethik bei Ernst Haeckel und anderen Darwinisten seiner Zeit, Stuttgart 1990; Klaus- Dieter Thomann u.a., Naturwissenschaft, Kapital und Weltanschauung. Das Kruppsche Preisausschreiben und der Sozialdarwinismus, 3 Teile, in: Medizinhistorisches Journal 30 (1995), S. 99–143, 205–243, 315–352. 13 Vgl. Robert N. Proctor, Racial Hygiene. Medicine under the Nazis, Cambridge 1988, S. 48–50. 14 Ebd. In Fischers Arbeiten wurde schon frühzeitig auf die Folgen der „Rassenmischung“ verwiesen. Mit seiner Untersuchung von 2.567 „Rehobother Bastarden“ unternahm er kurz vor dem Ersten Weltkrieg erstmals den Versuch, die Mendelschen Erbgesetze auf den Menschen zu übertragen, wobei er auf traditionelle Methoden der Anthropologie (wie Vermessung von Körperpartien, Hautund Haaruntersuchungen) zurückgriff. Bei den Versuchspersonen handelte es sich um die Nachkommen holländischer und deutscher Männer und Nama-Frauen, die von den Europäern „Hottentottinnen“ genannt wurden. Sie hatten sich 1870 in Rehoboth niedergelassen, das seit 1884 zum deutschen „Schutzgebiet“ in Afrika gehörte. 15 Max von Gruber/Ernst Rüdin, Fortpflanzung. Vererbung. Rassenhygiene. Illustrierter Führer durch die Gruppe Rassenhygiene der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden, München 1911. 16 Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1997. 17 Ludger Weß, Die Träume der Genetik. Gentechnische Utopien von sozialem Fortschritt, Frankfurt a.M. 1989, S. 46–51. 18 Steven Selden, Inheriting Shame. The Story of Eugenics and Racism in America, New York 1999, S. 22–37. 19 Oscar Hertwig, Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus, Jena 1918, S. 92–93. 20 Karl Saller, Die Rassenlehre des Nationalsozialismus in Wissenschaft und Propaganda, Darmstadt 1961. 21 Otmar Freiherr von Verschuer, 10 Jahre Rassenpolitisches Amt, in: Der Erbarzt (1944) 3/4, S. 54. 22 Es war ein völkisch-abstammungsgeschichtliches Modell, das auf den phänotypisch-morphologischen Studien basierte und die Bedeutung der „Rassenseele“ hervorhob. 23 Es war ein konstruierter Arbeitsbegriff, der die geographisch-soziale-religiöse Rassen als Mischungs- und Veränderungsprozess gesehen hat. Deutlich war der Einfluss der Deszendenztheorie. 24 Weingart et al., Rasse (wie Anm 3), S. 99–100. 25 Ebd.; Gunter Mann, Neue Wissenschaft im Rezeptionsbereich des Darwinismus: Eugenik – Rassenhygiene, in: Berichte für Wissenschaftsgeschichte 1 (1978), S. 101–111; Uwe Hoßfeld, Haeckelre-

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zeption im Spannungsfeld von Monismus, Sozialdarwinismus und Nationalsozialismus, in: History and Philosophy of the Life Sciences 21 (1999), S. 195–213. 26 Vgl. Uwe Hoßfeld, „Rasse“ potenziert: Rassenkunde und Rassenhygiene an der Universität Jena im Dritten Reich, in: Karen Bayer (Hg. u.a.), Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus und in der frühen Nachkriegszeit. Stuttgart 2004, S. 197–218. 27 Walter Gross sprach 1934 von einer Doppelaufgabe in der rassenpolitischen Erziehung: „[…] einmal klare, zielsichere Konsequenz im Durchdenken, rücksichtslose Ausmerzung jedes unklaren begrifflichen Kompromisses im Innern, zugleich aber kluge und überlegene Darstellung der neuen Gedankengänge dem Ausland gegenüber, um nicht durch ungeschickte Formulierungen, die an sich schon großen Widerstände der liberalen Welt noch künstlich zu vermehren“ (Ein Jahr rassenpolitische Erziehung. Kritik und Auslese. NS Monatshefte 5 (1934) 54, S. 833–837, 834). Vgl. auch ders., Aufgabe und Anspruch der NS. Rassengesetzgebung. Vortrag, gehalten am 16. Juni auf der Jahrestagung der Thüringer Ärzteschaft in Weimar. NS Monatshefte 6 (1935) 64, S. 593–606. 28 Weitere rassenkundliche „Schaltstellen“ waren u.a.: Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle (Robert Ritter), Abteilung für Erbgesundheits- und Rassenpflege (Eduard Schütt), Kriminalbiologische Forschungsstelle (Ferdinand von Neureiter), Erbwissenschaftliches Forschungsinstitut (Günther Just), Rassen – und Siedlungs-Hauptamt der SS. 29 Vgl. Gross, Erziehung (wie Anm. 27), S. 836. 30 Walter Gross, Drei Jahre rassenpolitische Aufklärungsarbeit, in: Volk und Rasse 11 (1936), S. 331– 338, 331. 31 Uwe Hoßfeld, Menschliche Erblehre, Rassenpolitik und Rassenkunde (-biologie) an den Universitäten Jena und Tübingen von 1934–1945: Ein Vergleich, in: Verhandlungen zur Geschichte und Theorie der Biologie 1 (1998), S. 361–392; ders., Staatsbiologie, Rassenkunde und Moderne Synthese in Deutschland während der NS-Zeit, in: Verhandlungen zur Geschichte und Theorie der Biologie 4 (2000), S. 249–305; ders., „Rasse“-Bilder in Thüringen, 1863–1945. Blätter zur Landeskunde Thüringen – Nr. 63, Erfurt 2006, Uwe Hoßfeld u.a., Rassenkunde, Rassenhygiene und Eugenik im Deutschen Monistenbund – Keplerbund, in: Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur 3 (2008), S. 257–271; Michal Šimůnek u.a., Von der Eugenik zur Rassenhygiene – der tödliche Mythos vom „erbgesunden Volk“, in: Dresdner Hefte 108 (2011), S. 57–65. 32 Michal Šimůnek, Ein neues Fach. Die Erb- und Rassenhygiene an der Medizinischen Fakultät der Deutschen Karls-Universität Prag 1939–1945, in: Antonín Kostlán (Hg.), Wissenschaft in den böhmischen Ländern 1939–1945, Prag 2004, S. 190–316; ders., Eugenics, Social Genetics and Racial Hygiene. Plans for the Scientific Regulation of Human Heredity in the Czech Lands, 1900–1925. Eugenics and Nationalism in Central and Southeast Europe 1900–1940, Budapest 2006, S. 145–167; Uwe Hoßfeld u.a., Die Kooperation der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Deutschen Karls-Universität Prag im Bereich der „Rassenlehre“, 1933–1945, Landeszentrale für politische Bildung, Erfurt 2008; Michal Šimůnek u.a., The Avantgarde of the “Rasse”. Nazi ‘Racial Biology’ at the German Charles University in Prague, 1940–1945, in: Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis LIV (2014), S. 55–104. 33 John M. Efron, Defenders of the Race. Jewish Doctors and Racial Science in Fin-de-Siècle Europe, New Haven 1994. 34 Archiv der Kanzlei des Staatspräsidenten Prag, Korrespondenz – Mappe Zollschan I., Entwurf „An die Vertreter der Wissenschaft!“, Prager Burg, Prag. 35 Christian Geulen, Geschichte des Rassismus, München 2007. 36 Ebd. Barbara Danckwortt (Hg. u.a.), Historische Rassismusforschung: Ideologen, Täter, Opfer, Berlin 1995; Uwe Hoßfeld, Biologie und Politik. Die Herkunft des Menschen, Erfurt 2017. 37 Michelle Brattain, Race, racism, and anti-racism: UNESCO and the politics of presenting science to the postwar public, in: American Historical Review 112 (2007), S. 1386–1413; Hendrik Cremer, „… und welcher Rasse gehören Sie an?“ Zur Problematik des Begriffs „Rasse“ in der Gesetzgebung.

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Policy Paper 10. Deutsches Institut für Menschenrechte, 2. Auflage, Berlin 2009; Ders., Ein Grundgesetz ohne „Rasse“ – Vorschlag für eine Änderung von Artikel 3 Grundgesetz. Policy Paper, Deutsches Institut für Menschenrechte, Berlin 2010.

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Runenkunde Runen sind relativ junge Schriftzeichen der Germanen, deren Entstehung sich vermutlich erst im ersten vorchristlichen Jahrhundert vollzogen hat. Auf dem Kontinent wurden sie um 800 von der Lateinschrift abgelöst, während sie in den skandinavischen Ländern bis in das Mittelalter hinein Verwendung fanden. Runeninschriften sind vornehmlich epigraphisch auf verschiedenen Materialien und Gegenständen überliefert und gehen in ihrer standardisierten Form auf zwei zeitlich aufeinander folgende Runenreihen zurück, die „Futhark“ genannt werden. Nach wie vor bleiben in der Runenforschung noch viele Fragen offen. Die Herkunft der Runen, vermutlich aus einer mittelmeerischen Schrift, ist nach wie vor nicht eindeutig geklärt. Auch über Alter, Bedeutung, Verwendung und Reihenfolge der Runen gehen die Meinungen oft auseinander. Die anfangs sehr kurzen Inschriften sind in der Regel lesbar, aber in ihrer Datierung und Bedeutung nicht immer unstrittig. Zur seriösen Erforschung der Runen bedarf es daher einer hohen sprachwissenschaftlichen und archäologischen Kompetenz.1 Während in Deutschland die wissenschaftliche Runologie, bedingt durch die spärliche Überlieferungslage von kontinentalen Inschriften, erst 1821 mit der Publikation von Wilhelm Grimm „Über deutsche Runen“ einsetzte, waren in Dänemark und besonders Schweden bereits im 16. und 17. Jahrhundert runenkundliche Forschungsaktivitäten zu beobachten. So gilt u.a. der schwedische Reichsantiquar und Lehrer Gustav Adolfs, Johann Bure, als „Entdecker“ der Runen. Schon im Jahr 1599 begründete er eine Inschriftensammlung, die im 18. Jahrhundert von Johann Göransson unter dem Namen „Bautil“ fortgesetzt wurde. Bereits die frühen runologischen Werke enthielten nicht nur zeitgenössische Gelehrsamkeit, sondern verbreiteten auch patriotisches, germanophiles und zivilisationskritisches Gedankengut, das oftmals von Irrtümern und Verfälschungen geprägt war. Dies galt für die skandinavische wie auch die deutsche Vorzeitforschung, für deren romantisierende Sichtweise hier die Zeitschrift „Bragur“, herausgegeben von Christian Gottfried Boeckh und Friedrich David Gräter, beispielhaft genannt sei.2 Im 19. Jahrhundert machte sich in Deutschland auf dem Gebiet der germanischen Altertumskunde bereits ein Germanismus breit, der seine charakteristische Ausprägung aus dem Volkstumsgedanken bezog. Die unveränderliche, weil natürliche und ursprüngliche Konstante des Volkes repräsentierte die deutsche Nation, deren Geltungsbereich von Sprache und Poesie als Offenbarung des Volksgeistes abgesteckt wurde. Neben historisch belegbaren Ereignissen suchte man zunehmend nach den Idealen und Kulturleistungen der germanisch-deutschen Frühzeit. Zudem wurde das pangermanische Denken bald mit kulturgeographischen Gebietsansprüchen verknüpft. Während sich die Überbeanspruchung des Geistigen und der Glaube an einen völkischen Kulturnationalismus besonders auf die germanische Altertumskunde und die deutsche Philologie auswirkten, bediente die runologische Literatur der

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Jahrhundertmitte noch kaum diese nationalistischen Versatzstücke. Geprägt vom Defizit an kontinentalen Runendenkmälern, das eine nationale Emphase nicht nahelegte, beschäftigte man sich vorwiegend mit sprach- und schrifthistorischen Fragestellungen, wie etwa der Anordnung der Runen im Futhark, dem Verhältnis der Runenreihen zueinander oder dem Runengebrauch. In der Frage nach der Herkunft der Runen setzte sich bereits die Theorie der Entlehnung aus einer südeuropäischen Schrift durch.3 Der geistesgeschichtliche Wandel vom Nationalismus zum Chauvinismus, dem sich letztlich insbesondere die außeruniversitäre Runenkunde nicht entziehen konnte, setzte mit der deutschen Reichsgründung von 1871 ein. Das erstarkte nationale Selbstbewusstsein ließ auch den ursprünglich indifferenten Volkstumsgedanken in einen Rassismus abgleiten, der 1890 seinen Höhepunkt erlebte. Popularphilosophische Autoren wie Arthur de Gobineau und →Houston Stewart Chamberlain übertrugen ungesicherte biologische Denkmodelle auf alle Bereiche der Gesellschaft, auch auf die Politik und Geschichte. Rassemischung und Rassereinhaltung wurden mit Verfall oder Prosperität auf kulturellem und politischem Gebiet identifiziert. Die angeblich wertvolle biologische Substanz der hellhäutigen Rasse, insbesondere der Arier und Germanen, sollte auch auf kulturellem Gebiet deren Vormachtstellung und Überlegenheit belegen. Der aristokratische Mythos der germanischen Herrenrasse, verbunden mit einer kulturpessimistischen Haltung und Darwins Lehre vom „Kampf ums Dasein“, entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer antisemitisch und militaristisch grundierten völkischen Weltanschauung mit nahezu religiöser Substanz.4 Das völkische Rassenbewusstsein erreichte spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch die Erforschung der Runenschrift. Vorreiter waren hier die Prähistoriker →Gustaf Kossinna und Ludwig Wilser, der eine Universitätsprofessor, der andere Privatgelehrter. Beide bemühten sich um eine völkische Neubewertung der Vorgeschichte einschließlich der germanischen Schriftlichkeit. Im Gegensatz zur provinzialrömischen Vorgeschichtsforschung der Römisch-Germanischen Kommission des Archäologischen Instituts des Deutschen Reiches forderten Kossinna und Wilser eine spezifisch „Deutsche Vorgeschichte“, die sich ausschließlich den Überresten der germanischen Kultur zuwenden sollte. Insbesondere Wilser, ein dezidierter Gegner der Entlehnungshypothese der Runen, verstieß gegen alle gesicherten Aussagen der Fachwissenschaft. Er vertrat die Auffassung, dass die Runen als Zeugnisse einer weit in die Vorzeit zurückreichenden „Volksschrift“ anzusehen seien und der nordischen Urheimat des Indogermanentums entstammten. Seiner Meinung nach hatten die Germanen nicht nur die Runen, sondern auch die Schrift insgesamt erfunden und über die ganze Welt verbreitet. Auch der professionelle Prähistoriker Kossinna nahm den indogermanischen Ursprung der Runen an, indem er die steinzeitlichen Symbole in portugiesischen Megalithgräbern als archetypische Vorlage der Runenschrift deutete und ihnen sogar eine Lautbedeutung unterstellte. Damit sei die Schrift der indogermanischen „Herrenschicht“ obendrein der orienta-

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lischen Bilderschrift überlegen gewesen. Wilser und Kossinna gehörten bereits zu den unmittelbaren Vordenkern der nationalsozialistischen Vorgeschichtsforschung, die ihre ethnozentrischen Thesen allerdings zu einer Zeit aufgriff, in der diese als wissenschaftliche Theorien bereits überholt und widerlegt waren.5 Neben der germanozentrischen Prähistorie wurde die völkisch grundierte Runen-Esoterik zum geistigen Wegbereiter der nationalsozialistischen Runenkunde, obwohl diese zum Okkultismus und zur Geheimwissenschaft ein zwiespältiges Verhältnis besaß. Gleichwohl speiste sich der Runenokkultismus ebenfalls aus den irrationalen, zivilisations- und kulturkritischen, aber auch rassistischen Tendenzen des späten 19. Jahrhunderts und bediente mit seinem Mystizismus und Spiritismus vor allem das Verlangen nach einer genuinen germanischen Religiosität. Er verdankt seine Existenz dem Werk des Wiener Schriftstellers und Sektengründers Guido von List, der wie Lanz von Liebenfels zu den undurchsichtigsten Vordenkern des Nationalsozialismus zählt. Der tatsächliche Einfluss dieser Wiener Subkultur, die versuchte, mit ihrer „Ariosophie“ das völkische Denken mit dem Okkultismus zu kombinieren, ist nur schwer bestimmbar.6 Mit seinem 1908 erschienenen Werk „Das Geheimnis der Runen“ erhob List weder einen wissenschaftlichen Anspruch noch fußte er auf einer gesicherten Grundlage. Allein „seherisches Schauen“ und „Erb-Erinnern“ sollte die „Esoterik der arischen Väter“ wiedergewinnen.7 Lists Runenbegriff war äußerst vielschichtig: Über die „Buchstaben-Runen“ hinaus sollte es „Heilszeichen-Runen“ geben, die ihre Form bis hin zur künstlerischen Ornamentik wandeln konnten. Die von List erfundenen Runennamen waren seiner Meinung nach die archetypischen Worte einer arischen Ursprache. Sie besaßen eine dreifache Bedeutung, die er mit Volksetymologien, Sinnsprüchen und verballhornten Edda-Weisheiten garnierte. Das runische Urwissen wurde von einer Priesterkaste, den „Armanen“, verwaltet und nach der Christianisierung in geheimer Form weitergegeben. Zusammenschlüsse wie die „Feme“, die „Bauhütte“ und die „Heroldszunft“ versteckten die ariosophische Runenkenntnis in einer esoterischen Geheimsymbolik. Damit konnte List symbolhafte und ornamentale Gebilde jeglicher Art an Bauwerken, aber auch in Rechts- und Volksbräuchen, zur arischen „Hieroglyphik“ erklären.8 Die Wirkung der Listschen Runenlehre war bemerkenswert. Es entstand eine reichhaltige Literatur von epigonalen Schriftstellern, die sich seinen Hypothesen anschlossen. Philipp Stauff, Bernhard Koerner, Rudolf John Gorsleben, Werner v. Bülow, Ernst Tristan Kurtzahn, Siegfried Adolf Kummer und Richard Sinning traten mit größeren monographischen Veröffentlichungen hervor, in denen sie zwar keine grundsätzlich neuen Erkenntnisse verbreiteten, aber doch unter Rückgriff auf die Listsche Methode und Terminologie bestimmte Teilbereiche der ariosophischen Runendeutung kultivierten. Zugleich organisierte sich die Gefolgschaft des Wiener Sektengründers in Geheimgesellschaften und okkulten Zirkeln. List selbst gründete den „Hohen Armanen-Orden“. Sein Lebenswerk setzte die „Guido-von-List-Gesellschaft“ in Wien fort, deren Präsident Philipp Stauff wurde. Werner v. Bülow und

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Rudolf John Gorsleben standen der „Edda-Gesellschaft“ vor und publizierten in der Zeitschrift „Hagal“. Siegfried Adolf Kummer gründete 1927 die „Runenschule Runa“, in der er „arisches Weistum“ und Runenkunde unterrichtete. Den bekanntesten dieser Geheimzirkel, der in Organisation, Terminologie und Ritual als völkische Entsprechung der Freimaurerlogen erschien, rief 1918 der Polit-Okkultist Rudolf Fhr. von Sebottendorf unter dem Namen „Thule-Gesellschaft“ ins Leben. Die „Thule“, in der auch Runenauslegung und Astrologie betrieben wurde, galt als Münchner Zweig des 1912 entstandenen „Germanenordens Walvater“.9 Die geistesgeschichtliche Bedeutung der ariosophischen Esoterik und vor allem die politische Bedeutung einschlägiger Geheimgesellschaften sind oftmals übertrieben und selten belegt worden. Das Dritte Reich war jedoch kein Produkt geheimwissenschaftlicher Gruppenbildungen, und die Runenspekulationen gehörten auch nicht zu den okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus. Für die völkische Runenund Sinnbildforschung unter dem NS-Regime erwies sich das Werk Lists und seiner Jünger jedoch als Leitbild von großer Tragweite. Die eklektische Auswertung aller mythischen und religiösen Quellen für die Runendeutung, die nordische Entstehung der Runen aus dem kosmischen Geschehen, ihre Überlieferung in Brauchtum, Volkskunst und Bauwerken, die Identifikation von Kultur und Rasse, der pseudoreligiöse Anspruch sowie das pangermanische Sendungsbewusstsein – all dieses belegt, dass die Muster der ariosophischen Runenliteratur enger mit der NS-Runenkunde verknüpft waren, als es sich diese selbst eingestehen wollte.10 Die Machtübernahme der Nationalsozialisten löste in sämtlichen runenkundlichen Sparten eine spürbare Dynamik aus, denn nahezu alle Runenspezialisten versprachen sich vom neuen Regime eine wie auch immer geartete Förderung ihres Anliegens. Dies wurde zunächst mehr atmosphärisch durch die häufige Verwendung von Runen und runenähnlichen Symbolen in der Emblematik der nationalsozialistischen Parteiorganisationen nahegelegt. Den größten Bekanntheitsgrad genoss das von Hitler selbst als Logo der NSDAP entworfene Hakenkreuz, ein 5.000 Jahre altes, indogermanisch verbreitetes Zeichen, dem irrigerweise runischer Charakter zugeschrieben wurde. Als zweitprominentestes Beispiel machte die als „Siegrune“ missverstandene s-Rune S in Form von Uniform- und Standartenabzeichen der SS und des Deutschen Jungvolks eine rasante Karriere. Die „Odalsrune“ O fungierte als Kennzeichen des „Reichsnährstandes“ unter Reichsbauernführer Richard Walther Darré. Zahllos sind die Belege für die entsprechende Instrumentalisierung weiterer Runen im NS-Brauchtum, insbesondere der sogenannten „Tyr“- t, „Hagal“- H und „Manrunen“ z.11 Diese sinnfällige Runenverwendung war jedoch nur ein äußerliches Indiz dafür, dass nach 1933 ein regelrechter Boom der Runologie einschließlich ihrer laienhaften Nebenzweige stattfand. Ohne zu übertreiben kann man von einem lawinenartigen Zuwachs an runologischer Literatur sprechen. Von 1935 bis 1942 erschienen nicht weniger als dreizehn Einführungen in die Runenkunde, davon einige von wissenschaftlichem Wert und oftmals in mehrfacher Auflage.12 An den Universitäten Gie-

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ßen und Göttingen entstanden unter der Leitung von Helmut Arntz und Wolfgang Krause zwei namensgleiche Institute für Runenforschung. Zahlreiche Denkmälerausgaben, Bibliographien, Handbücher und sogar eine eigene Zeitschrift, die „Berichte zur Runenforschung“, unterfütterten den Anspruch der Runologie als ernstzunehmende, eigenständige Disziplin. Neben der Fachwissenschaft und der populären Runenschriftstellerei florierten im Dritten Reich aber nach wie vor die Esoterik und der Okkultismus, die in den Runen sowohl Dokumente einer autochthonen germanischen Weltanschauung als auch Medien zur Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit und Rasse sahen.13 Teil an der nationalsozialistischen Runenkonjunktur hatte schließlich auch die →Volkskunde, die neben der Germanistik und der Ur- und Frühgeschichte zu den ideologietauglichen Leitwissenschaften der NSZeit aufstieg. Dabei usurpierte die Symbolforschung angebliche Runen im Alltagsleben, im Brauchtum und in der Architektur und unterstellte ihnen eine weltanschauliche Bedeutung.14 Zwar unterstützte das Regime alle germanophilen Bestrebungen und verstand diese auch als Zulieferant seiner Weltanschauung. Gleichwohl schauten Staat und Partei nicht tatenlos zu, als Wissenschaft, Laienforschung und Esoterik glaubten, dass ihre große Stunde gekommen sei. Unter den zahlreichen Parteigrößen setzten besonders Alfred Rosenberg und Heinrich Himmler alles daran, ein Steuerungsund Kontrollsystem zu etablieren, um auch die Runenforschung im Sinne eigener Vorstellungen „gleichzuschalten“. Die kultur- und wissenschaftspolitischen Aktivitäten des sogenannten Amtes Rosenberg waren zweifellos von geringerer Bedeutung als diejenigen der SS. Denn Alfred Rosenberg, obwohl nationalsozialistischer Chefdogmatiker des Dritten Reiches, spielte unter den Paladinen Hitlers eine nachgeordnete Rolle. Schwerpunkt seiner Arbeit war die Observierung, Kontrolle und Förderung der Wissenschaft, insbesondere der Vorgeschichte und Volkskunde. Diese Aufgaben übernahmen auch der ihm zugeordnete Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte unter Hans Reinerth und die Arbeitsgemeinschaft für Deutsche Volkskunde unter Matthes Ziegler. Darüber hinaus ging es Rosenberg um die Gestaltung eines „Neuen Glaubens“, einer säkularisierten Religiosität, die praktisch in der Schulung und Feiergestaltung der Partei umgesetzt werden sollte.15 In Rosenbergs Amt arbeitete die Abteilung für Volkskunde und Feiergestaltung aktiv an der Umdeutung von Runen oder besser Runenformen in Sinnbilder, in denen die Grundlagen des germanischen Weltbildes verewigt sein sollten. Der Volkskundler Matthes Ziegler, der auch die Leitung der Abteilung innehatte, ging von der Prämisse aus, dass „runische“ Symbole im Hausrat und Brauchtum der ländlichen Bevölkerung, das heißt in der Ornamentik von Gebrauchsgegenständen, in Hausmarken und Bauernwappen, aber auch in der Fachwerkkonstruktion von Häusern, kontinuierlich bis in die Gegenwart überliefert waren und dabei ihre inhaltliche Aussagekraft kaum verändert hatten. Dass die Ähnlichkeit von brauchtümlichen Schmuckformen mit germanischen Runen dekorativ und konstruktiv bedingt war

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und auf deren einfache geometrische Formen zurückging, ließ die NS-Symbolforschung nicht gelten. Denn die Aufmerksamkeit des Amtes Rosenberg galt ohnehin nicht den Runen als wissenschaftlichem Objekt, sondern als erneuerbarem Kultrequisit. So mündete die dort betriebene Volkskunde direkt ein in neuheidnische Glaubensformen und Religionspraktiken.16 Die zweite Aufgabe des Amtes bestand in der Observierung und Steuerung aller weltanschaulich relevanten Wissenschaftsaktivitäten, so auch der Runen- und Sinnbildforschung. Rosenbergs Mitarbeiter sammelten Informationen über die traditionellen Runologen Wolfgang Krause, Helmut Arntz und Franz Altheim. Aber auch die der Partei nahestehende Laienforschung wurde aufmerksam kontrolliert, wie etwa die umstrittene Vortragstätigkeit des SS-Hauptsturmführers Karl Theodor Weigel oder das egozentrische Verhalten Herman Wirths. Ergänzt wurde diese verdeckte Observierungstätigkeit durch die öffentliche Herausgabe eines parteiamtlich verbindlichen Index’ der Volkskunde-Literatur mit politisch wertenden Kommentaren unter dem Titel „Deutsche Volkskunde im Schrifttum“, in dem auch die Veröffentlichungen zur Runen- und Sinnbildforschung nach nationalsozialistisch erwünschter und abzulehnender Literatur kategorisiert wurden.17 Weitaus wirkungsvoller als Rosenberg setzte der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, seine wissenschafts- und kulturpolitischen Interessen im Herrschaftsgefüge des NS-Systems durch.18 Neben den Wissenschaftsaktivitäten des →SS-Ahnenerbes wurden die Runen zunächst im Bereich der Schulung der allgemeinen SS in germanischer Vorgeschichte und Kulturkunde behandelt, eine Besonderheit, die auf Himmlers Germanophilie zurückging. Die weltanschauliche Unterweisung unterstand dem „Schulungsamt“ im Rasse- und Siedlungshauptamt, das Richtlinien und Materialien für die örtlichen Schulungsleiter bereitstellte. In den SS-eigenen Zeitschriften „SS-Leithefte“, „Nordland“ und „Das schwarze Korps“ tauchten die Runen als Illustrationsmaterial wie auch in einigen populärwissenschaftlichen Beiträgen auf. Eine eigene runenkundliche Schulungsschrift existierte allerdings nicht, obwohl es eine Anzahl von inhaltlich fragwürdigen Einführungen in die Runenkunde gab, die von SS-Angehörigen verfasst waren.19 Himmler versuchte – ähnlich wie Rosenberg – den angeblichen kultischen Gehalt der Runen in seinem „Neuheidentum“ freizulegen. In Abgrenzung zu den christlichen Konfessionen strebte er eine SS-eigene, „gottgläubige“ Religiosität an, die als neugermanischer Glaube nach prähistorischem Vorbild ausgerichtet war. Bei den Feiern der kultischen Höhepunkte im Leben von SS-Männern, zu denen Namensweihen, feierliche Aufnahmen in die SS, Eheweihen und Totenweihen, besonders aber Sonnenwend- und Julfeiern gehörten, traten sogenannte Runen als wirkungsmächtige Heilszeichen und schmückende Ornamentik auf den Utensilien des SS-Brauchtums in Erscheinung. Als prominentes Beispiel ist hier der silberne, mit Runen verzierte Totenkopfring der SS zu nennen, der die Aufgabe hatte, an die Gemeinsamkeiten von germanischer Geisteshaltung und nationalsozialistischer Weltanschauung zu erinnern.20

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Der Rückgriff auf die germanische Vorzeit wurde freilich nicht von allen SS-Mitgliedern ernst genommen und oftmals als persönlicher „Tick“ Heinrich Himmlers aufgefasst. Begeistert pflegte dieser über die Germanen und ihre Kultur zu räsonieren, eine Thematik, bei der er einige Kenntnisse besaß. Als Autodidakt neigte er dazu, auch abwegigen Theorien Glauben zu schenken, wenn sie den hohen Stand der germanischen Kultur zu beweisen schienen. Da Himmlers ‚Germanenspleen‘ öffentlich bekannt war, sammelte sich in seiner Nähe eine Reihe von runologischen Schwarmgeistern, die, wie etwa der Schöpfer des SS-Totenkopfrings, Karl Maria Wiligut, einer völkisch-rassistischen und geheimwissenschaftlich-magisch begründeten Runendeutung angehörten. Himmlers Adjutanten und höhere SS-Führer versuchten, ihn zumindest von den größten pathologischen Scharlatanen abzubringen, zumeist vergeblich.21 Letzten Endes ging auch die Gründung des SS-Ahnenerbes im Jahr 1935 auf Himmlers runenkundliche Leidenschaft zurück. Einer der Initiatoren dieses Vereins war der Privatgelehrte →Herman Wirth, eine zentrale Gestalt der völkischen Sinnbildforschung der zwanziger und dreißiger Jahre. In seinen Hauptwerken „Der Aufgang der Menschheit“ und „Die heilige Urschrift der Menschheit“22, zwei voluminöse Bände, deren Inhalt von der etablierten Wissenschaft erbittert bekämpft wurde, legte Wirth seine Theorie über den Ursprung der Runen dar. „Runen“ – das waren für ihn Gottessymbole einer atlantischen Urreligion, entstanden aus der Verehrung und der Beobachtung der Sonne. Aus der geometrischen Umsetzung des Sonnenlaufs leitete er alle vorkommenden Sinnbilder und Runen ab und interpretierte sie als erstes schriftliches Zeugnis einer monotheistisch-kosmischen Urreligion.23 Zunächst zählte auch Heinrich Himmler zu den Anhängern von Wirths Vorstellungen, denn er machte ihn zum ersten Präsidenten des Ahnenerbes und finanzierte großzügig seine Symbolforschungen in der „Pflegstätte für Schrift- und Sinnbildkunde“. Zu Wirths Mitarbeitern gehörte Karl Theodor Weigel. Dieser akademisch nicht ausgebildete Laie hatte, angeregt durch das Buch „Runenhäuser“ des völkischen Multifunktionärs, Agitators und List-Anhängers Philipp Stauff,24 schon in seiner Wandervogel-Zeit Briefe in Runen geschrieben. Weigels Spezialität waren die „Fachwerkrunen“ und alle Sinnbilder am und im Bauernhaus. Er veröffentlichte verschiedene laienhafte Darstellungen zu dieser Thematik, sah aber seine Hauptaufgabe in der „Außenarbeit“, das heißt: Er fotografierte die von ihm als Sinnbilder erkannten Zeichen und sicherte die Aufnahmen in einem nach idealtypischen Formen geordneten Fotoarchiv.25 Weigels „Hauptstelle für Sinnbildforschung“, deren Projekte zeitweilig sogar von der DFG finanziert wurden, ging 1937 in Herman Wirths Ahnenerbe-„Pflegstätte für Schrift- und Sinnbildkunde“ auf. Bald konnte der SS-Obersturmbannführer dort fast selbständig wirken, denn Himmler hatte den sachlich erfolglos arbeitenden Schwarmgeist Wirth 1938 zum Verlassen des Ahnenerbes gedrängt. Zugleich forcierte das Ahnenerbe nun den Ausbau der SS-Forschungsgemeinschaft zu einem akademischen Forschungsinstitut. Hierfür sollten renommierte Lehrstuhlinhaber an allen

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Universitäten als Ahnenerbe-Mitglieder angeworben und durch Personalunion eine enge Verflechtung von SS-Forschungsstätten und Universitätsinstituten hergestellt werden.26 Im Zuge dieser Bemühungen gelangte auch der international anerkannte Göttinger Indogermanist Wolfgang Krause zum SS-Ahnenerbe. Schon zu Beginn der dreißiger Jahre hatte er begonnen, die Gunst der Stunde zu nutzen. Durch zahlreiche Publikationen, vor allem eine grundlegende Edition der „Runeninschriften im älteren Futhark“ und die Gründung eines „Archivs für Runenforschung“ zunächst in Königsberg, weitergeführt als „Institut für Runenforschung“ in Göttingen, versuchte Krause, die Runologie in Deutschland als Disziplin zu etablieren.27 Hinsichtlich der Schaffung einer deutschen Zentralstelle der Runenforschung verfolgte der junge Gießener Dozent Helmut Arntz jedoch ähnliche Pläne. Der dynamische Arntz besaß Mitte der dreißiger Jahre sogar leichte Vorteile im Wettrennen um die Runen. Sein Hauptwerk, das „Handbuch der Runenkunde“, erschien zwei Jahre vor Krauses Denkmälerausgabe. Auch mit der „Bibliographie der Runenkunde“, der Edition der „einheimischen Runendenkmäler des Festlandes“ und der Zeitschrift „Runenberichte“ machte Arntz dem älteren Kollegen Krause Konkurrenz. Schließlich leitete er an der Universität Gießen sogar ein „Institut für Runenforschung“, das gegenüber dem Krauseschen Institut die älteren Rechte für sich beanspruchte.28 Aufgrund dieser Konkurrenzsituation begann der durch seine fortschreitende Blindheit gehandikapte Krause, sich gegen Ende der dreißiger Jahre dem SS-Ahnenerbe zu nähern. Als von der SS unterstützter Wissenschaftler musste er mit dem von ihm wenig geschätzten Autodidakten Karl Theodor Weigel zusammenarbeiten. 1943 erfolgte die Errichtung der Ahnenerbe-„Lehr- und Forschungsstätte für Runen- und Sinnbildkunde“ in Göttingen, in der unter der Leitung von Wolfgang Krause auch Weigel seine Sinnbildforschungen verrichtete.29 Sachlich war die Kooperation des nüchternen Junggrammatikers und des pseudowissenschaftlichen Laienforschers möglich geworden, weil Krause in der Frage der Herkunft der Runen eine Theorie entwickelt hatte, die den Verfechtern der autochthonen Runenentstehung entgegenkam. Krauses Kompromiss nahm an, dass nicht alle Runen aus norditalischen Schriftsystemen stammten, sondern einige aus einheimischen Sinnbildern entstanden waren. Mit dieser Theorie vom doppelten Ursprung der Runen war offenbar auch für das SS-Ahnenerbe der Anschluss der Runenforschung an die Sinnbildforschung hergestellt.30 Idealtypisch liegen den Positionen der völkisch orientierten Runenkunde während der NS-Zeit folgende Prämissen zugrunde: Die Runen waren die Nachfolger der steinzeitlichen Sinnbilder und Felszeichnungen und damit bis zu 5.000 Jahre alt. Sie stammten nicht von südeuropäischen Alphabeten ab, sondern waren eine selbständige Erfindung der Germanen oder Indogermanen. Das Besondere der Runen bestand in ihrem magisch-religiösen Gehalt; sie waren Gottessymbole. Diese drei Grundannahmen leiteten sich aus einer übergreifenden Germanenideologie31 mit vier Komponenten ab: Erstens diente die Runen- und Sinnbildforschung der Etablie-

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rung eines „arteigenen“ Kulturbegriffs. Indem den Runen ein lebensphilosophischer und religiöser Sinn unterstellt wurde, wurden sie zu Kronzeugen einer hochstehenden germanischen Kultur. Dadurch mutierten die Germanen von einem schlichten Naturvolk zu Schöpfern einer Urschrift und damit der ältesten Kultur der Menschheit. Zweitens besaß die germanische Hochkultur eine bis heute existierende, lebendige Kontinuität. Vornehmlich Bauern, Künstler und Handwerker hätten durch die brauchtümliche Verwendung von Sinnbildern das Runenwissen bis auf den heutigen Tag bewahrt. Drittens führte die seit der Steinzeit überlieferte Urreligion zur Negation von Geschichte. Statt die Vielfalt der historischen Veränderungen zu erforschen, wurde ein zeitloser, unveränderlicher germanischer Mythos verkündet. Die Vollkommenheit stand am Anfang der Menschheit, nicht an ihrem Ende. Das Medium der Runen vermittelte den mythischen Ursprung der Rasse. Viertens konnte es bei solchen Axiomen keine objektive Forschung geben: Wissenschaft war nicht das Streben nach Wahrheit, sondern der Nachweis für die großartige Bedeutung der Germanen in der Vorzeit.32 Aufgrund des ideologischen Hintergrundes der Runenkonjunktur während des Dritten Reiches war die Beschäftigung mit den Runen nach 1945 fast mit einem Tabu belegt. Selbst die seriöse Runologie stand unter dem Verdacht, ein Relikt aus der NS-Zeit zu sein. Gleichwohl lebte die Runenforschung als kleine Spezialdisziplin der Germanistik und Skandinavistik fort, wenn ihr auch nicht mehr die gleiche öffentliche Aufmerksamkeit zuteilwurde. Auch die Runenaktivitäten der Heimat- und Laienforscher, der Esoteriker und der Germanenromantiker verschwanden nur kurzfristig aus der Wahrnehmung und existierten als Subkultur weiter. Nicht wenige völkische Runenphantasten fühlten sich missverstanden, beriefen sich auf eine kritische Wirkung ihrer Schriften und verstanden sich sogar als Verfolgte des NS-Systems. Unverkennbar überdauerten allerdings die Lehren des ariosophischen Runendeuters Guido von Lists und seiner Epigonen Stauff, Gorsleben und Kummer. Die darin enthaltenen rassistischen, pseudoreligiösen und neuheidnischen Elemente fanden oftmals unter dem Deckmantel der Heilkunde, der Esoterik und der individuellen Bewusstseinserweiterung eine Fortsetzung. Dass sinnstiftende Angebote aus der germanischen Phantasiewelt auch in der bundesrepublikanischen Gesellschaft gefragt waren und sind, beweist das Beispiel Herman Wirth. Dieser war zwar politisch belastet aus dem Dritten Reich hervorgegangen, arbeitete aber nach der Internierung 1947 unbeirrt weiter an seinen Felsbildforschungen, zunächst in den Niederlanden, dann auch in Schweden. Da seine Planungen dort nicht zum Zuge kamen, gründete er 1954 in Marburg die „Gesellschaft für europäische Urgemeinschaftskunde“ und nahm das alte Projekt einer „Freilichtschau“ unter dem Namen „Heimskringla“ wieder auf. In den Siebziger Jahren erhielt Wirth sogar Zulauf aus der Öko-Bewegung, da seine steinzeitliche Hochkultur nach mutterrechtlichen Grundsätzen konstruiert war und lebensphilosophisch dem alternativen Ökologieverständnis entgegenkam. Dass Wirth im persönlichen Umgang mit Lokalpolitikern eine überzeugende Rhetorik zur Verfügung

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stand, offenbarte sich 1980, als das Land Rheinland-Pfalz um ein Haar den Bau eines Museums für eine „Europäische Sammlung für Urgemeinschaftskunde“ in Kusel mit einem Millionenbetrag gefördert hätte. Wirth starb 1981 mit nach wie vor unerfüllten Träumen, aber sein Verein „Ur-Europa e.V.“ bemüht sich, sein Lebenswerk fortzusetzen.33 Ebenso wenig wie das Wirthsche Gedankengut ging die Erforschung der „Hausrunen“ am Fachwerkbau mit dem Nationalsozialismus unter, auch wenn mit dem SS-Laienforscher Karl Theodor Weigel einer der alten Protagonisten bereits zu Beginn der 1950er Jahre verstorben war. Seit 1983 trat der Architekt und Denkmalpfleger Manfred Gerner mit verschiedenen Arbeiten zur Hausforschung hervor, in der er hinsichtlich der Deutung von Ornamentik und Symbolik an Fachwerkbauten kritiklos die Darstellungen von esoterischen und nationalsozialistischen Autoren wie List, Stauff und Weigel übernahm. Nicht immer lassen sich solchen Darlegungen politische, völkische oder rechtsradikale Motive unterstellen, aber es erstaunt doch, dass unter Autodidakten und Laien die germanophile Esoterik sich nach wie vor einer naiven Aufnahmebereitschaft erfreut.34 Während die Vertreter der vorchristlichen Naturreligionen und der volkskundlich-völkischen Laiengelehrsamkeit nach 1945 erst allmählich wieder Fuß fassten, erwachte die von den Nationalsozialisten als Sektierertum angegriffene individualistische Esoterik sehr bald zu neuem Leben. Eine besondere Spielart der mystischen, parapsychologischen, lebensreformerischen und bewusstseinserweiternden Formen der Runenanwendung stellt die „Runengymnastik“ dar. Als Begründer dieser Art von Runenmagie gilt Friedrich Bernhard Marby, der schon in den 1920er Jahren in Konkurrenz zum Dresdner Runenmagier Siegfried Adolf Kummer die Praxis der menschlichen Nachahmung von Runenformen in Körperstellungen und Bewegungen kultiviert hatte. Solche Übungen, die mit Sprechgesängen kombiniert werden konnten, dienten der Kontaktaufnahme mit den Göttern und Vorfahren und wirkten zugleich als individuelle Heilungs- und Kräftigungsmittel; auch kamen sie bei der Praxis des „Tischerückens“ zum Einsatz. Marby wirkte bis zu seinem Tod 1966 im okkulten Untergrund, fand aber einen erfolgreichen Fortsetzer seiner Aktivitäten in Karl Spiesberger, einem Runenmagier, der sich zwar auf Marby berief, aber dessen völkische und antisemitische Grundierung nicht weiter verfolgte. Über magische Selbsterfahrungskreise hinaus bediente Spiesberger die lebensreformerische und heilkundliche Szene und stellte die Verbindung zu Yoga und autogenem Training her.35 Vielfältig und überraschend sind die medialen und ornamentalen Verwendungszusammenhänge, in denen Runen während der letzten siebzig Jahre in völkischen, neuheidnischen und rechtsesoterischen Kreisen aufgetaucht sind. Die Situation wird dadurch noch unübersichtlicher, dass selbst die Anhänger von Folklorismus, ökologischer Lebensreform, Selbsterfahrungstherapie und alternativer Heilkunst zuweilen auf Runen zurückgreifen und diese mit eigenen Medien der Erkenntnis vermischen. Die dabei entstehenden eklektischen und synkretistischen Struktu-

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ren erzeugen nicht nur eine neue Unübersichtlichkeit, sondern auch eine allgemeine Beliebigkeit, der mit wissenschaftlicher Analyse kaum noch beizukommen ist.

Ulrich Hunger

1 Vgl. Klaus Düwel, Runenkunde, Stuttgart 20084; Wolfgang Krause, Runen, Berlin 1970; Heinz Klingenberg, Runenschrift – Schriftdenken – Runeninschriften, Heidelberg 1973; Helmut Arntz, Handbuch der Runenkunde, 2. Aufl., Halle/Saale 19442; Ludvig F. A. Wimmer, Die Runenschrift, Berlin 1887. 2 Vgl. Gerhard Jaffé, Geschichte der Runenforschung, Berlin u.a. 1937; Theobald Bieder, Geschichte der Germanenforschung, 3 Bde., Leipzig u.a. 1921–25; Rudolf von Raumer, Geschichte der germanischen Philologie, München 1870; Otto Springer, Die Nordische Renaissance in Skandinavien, Stuttgart u.a. 1936; Klaus von See, Deutsche Germanen-Ideologie vom Humanismus bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. 1970; ders., Barbar, Germane, Arier, Heidelberg 1994; Heinz Gollwitzer, Zum politischen Germanismus des 19. Jahrhunderts, in: Festschrift für Hermann Heimpel, Bd. 1, Göttingen 1971, S. 282–356; Heinrich Fauteck, Die skandinavische Romantik, in: Ernst Bieler (Hg. u.a.), Die europäische Romantik, Frankfurt a.M. 1972, S. 406–477; Ulrich Hunger, Die Runenkunde im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Wissenschafts- und Ideologiegeschichte des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. u.a. 1984, S. 290–315. 3 Vgl. Franz Joseph Lauth, Das germanische Runen-Fudark, München 1857; Rochus v. Liliencron, Karl Müllenhoff, Zur Runenlehre, Halle 1852; Adolf Kirchhoff, Das gothische Runenalphabet, Berlin 1854; Rudolf Henning, Die deutschen Runendenkmäler, Straßburg 1889; Eduard Sievers, Runen und Runeninschriften, in: Hermann Paul (Hg.), Grundriss der germanischen Philologie, IV. Abschn., Straßburg 1896, S. 248–262; Theodor von Grienberger, Neue Beiträge zur Runenlehre, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 32, 1900, S. 289–304; 39, 1907, S. 50–100. 4 Vgl. Uwe Puschner, Germanenideologie und völkische Weltanschauung, in: Heinrich Beck (Hg. u. a.), Zur Geschichte der Gleichung ‚germanisch – deutsch‘. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, Berlin, New York 2004, S. 103–129; ders., Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich, Darmstadt 2001; Bernard Mees, The Science of the Swastica, Budapest u.a. 2008, S. 11– 31; Hunger, Runenkunde im Dritten Reich, S. 290–315; Gollwitzer, Germanismus, S. 317–319; See, Deutsche Germanen-Ideologie, S. 56–62; Wolfgang Emmerich, Zur Kritik der Volkstumsideologie, Frankfurt a.M. 1971; Karl Schwedhelm (Hg.), Propheten des Nationalismus, München 1969. 5 Gustaf Kossinna, Die deutsche Vorgeschichte, eine hervorragend nationale Wissenschaft, Leipzig 1912; Ludwig Wilser, Die Germanen, 2 Bde, Leipzig3 1920–1923; ders., Deutsche Vorzeit. Einführung in die germanische Altertumskunde, Steglitz 1917. Vgl. Hunger, Runenkunde im Dritten Reich, S. 311–315; Heinz Grünert, Gustav Kossinna, vom Germanisten zum Prähistoriker, Rahden 2002. Zur germanozentrischen Vorgeschichtsrichtung, zu der auch Hans Hahne, Bernhard Kummer, Wilhelm Teudt und Theobald Bieder gehörten, vgl. Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932, hg. von Karlheinz Weissmann, Graz 20056. 6 Vgl. Nicholas Goodrick-Clarke, Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Graz 1997; Mees, Science of the Swastica; George L. Mosse, Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Die völkischen Ursprünge des Nationalsozialismus, Königstein 1979; Hunger, Runenkunde im Dritten Reich, S. 315–330. 7 Johannes Balzli, Guido von List, der Wiederentdecker Uralter Arischer Weisheit, Leipzig 1917, S. 46f. 8 Guido von List, Das Geheimnis der Runen, Leipzig 1908; ders., Die Bilderschrift der Ario-Germanen, Wien 1910. Vgl. Hunger, Runenkunde im Dritten Reich, S. 316–318; Mees, Science of the Swastica, S. 60–62; Goodrick-Clarke, Okkulte Wurzeln des NS.

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9 Als Hauptwerke der List-Epigonen gelten Rudolf John Gorsleben, Hoch-Zeit der Menschheit, Leipzig 1930; Philipp Stauff, Runenhäuser, Berlin 1913; Siegfried Adolf Kummer, Heilige Runenmacht, Hamburg 1932; Berhard Koerner, Handbuch der Heroldskunst, 4 Bde, Görlitz 1920–1930. Vgl. Hunger, Runenkunde im Dritten Reich, S. 319–330; Mohler, Konservative Revolution; Mees, Science of the Swastica. 10 Vgl. Hunger, Runenkunde im Dritten Reich, S. 327–330. 11 Vgl. Ulrich Hunger, Wissenschaft und Ideologie: Die Runenkunde im Nationalsozialismus, in: Uwe Puschner (Hg. u.a.), Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 312–328; ders., Runenkunde im Dritten Reich, S. 96–107. 12 Vgl. Bernhard Reiß, Runenkunde, Leipzig 1936; Helmut Arntz, Handbuch der Runenkunde, Halle 19442; ders., Die Runenschrift, Halle 1938; Wolfgang Krause, Was man in Runen ritzte, Halle 19432; ders., Runen, Erfurt 1938; Karl Theodor Weigel, Runen und Sinnbilder, Berlin 19403; Gustav G. Engelkes, Runenfibel, Langensalza 1935; Albrecht Diedrich Dieckhoff, Einführung in die nordische Runenlehre, Hamburg 1935; ders., Nordische Runenlehre, Hamburg 1935, Konstantin Reichardt, Runenkunde, Jena 1936; Heinar Schilling, Kleine Runenkunde, Magdeburg 1938; Edmund Weber, Kleine Runenkunde, Berlin 1941; Kurt Renck-Reichert, Runenfibel, Heilbronn 19422. 13 Vgl. Siegfried Adolf Kummer, Runenmagie, Dresden [1933]; Max Raschdorff, Nordische Sinnzeichen- und Bilderschrift durch 4 Jahrtausende, 2 Bde., Finsterwalde 1939; Renck-Reichert, Runenfibel; Friedrich Bernhard Marby, Rassische Gymnastik als Aufrassungsweg, Stuttgart 1935. Vgl. dazu Hunger, Runenkunde im Dritten Reich, S. 346–355; Goodrick-Clarke, Okkulte Wurzeln. 14 Vgl. Hunger, Runenkunde im Dritten Reich, S. 355–363. Allgemein Emmerich, Kritik der Volkstumsideologie; Hermann Bausinger, Volksideologie und Volksforschung. Zur nationalsozialistischen Volkskunde, in: Zeitschrift für Volkskunde 61 (1965), S. 177–204. 15 Vgl. Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner, Stuttgart 1970; Hunger, Runenkunde im Dritten Reich, S. 108–132; ders., Wissenschaft und Ideologie, S. 315–317. Zu den neuheidnischen Religionsvorstellungen vgl. Stefanie von Schnurbein, Religion als Kulturkritik. Neugermanisches Heidentum im 20. Jahrhundert, Heidelberg 1992; Uwe Puschner (Hg. u.a.), Die völkischreligiöse Bewegung im Nationalsozialismus, Göttingen 2012; ders., Weltanschauung und Religion, Religion und Weltanschauung. Ideologie und Formen völkischer Religion, in: zeitenblicke 5 (2006), [http://www.zeitenblicke.de/2006/1/Puschner/index_html] (25.5.2016). 16 Vgl. Hunger, Runenkunde im Dritten Reich, S. 17–132; Esther Gajek, „Feiergestaltung“ – Zur planmäßigen Entwicklung eines „aus nationalsozialistischer Weltanschauung geborenen, neuen arteigenen Brauchtums“ am Amt Rosenberg, in: Stefanie von Schnurbein (Hg. u.a.), Völkische Religion und Krisen der Moderne, Würzburg 2001, S. 386–408; Wolfgang Brückner, „Volkskunde und Nationalsozialismus“. Zum Beispiel Matthes Ziegler, in: Bayerische Blätter für Volkskunde 13 (1986), S. 189–192. 17 Vgl. Hunger, Runenkunde im Dritten Reich, S. 126–132. 18 Vgl. Heinz Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf, Gütersloh 1967; Hans Buchheim u.a., Anatomie des SS-Staates, 2 Bde, Freiburg 1965; Peter Longerich, Heinrich Himmler, München 2008; Josef Ackermann, Heinrich Himmler als Ideologie, Göttingen u.a. 1970. 19 Vgl. Dieckhoff, Nordische Runenlehre; Schilling, Kleine Runenkunde; Weigel, Runen und Sinnbilder. 20 Zu den SS-Feiern vgl. Ackermann, Himmler; Longerich, Himmler, S. 265–308; Klaus Vondung, Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, Göttingen 1971; Höhne, Orden, S. 146f.; John M. Steiner, Über das Glaubensbekenntnis der SS, in: Joachim Hütter u.a., Tradition und Neubeginn, Köln u.a. 1975, S. 317–335; Hunger: Runenkunde, S. 144–147 und 151–154. Zu Wiligut vgl. Goodrick-Clarke, Okkulte Wurzeln, S. 155–166; Longerich, Himmler, S. 292–295. 21 Vgl. Hunger, Runenkunde im Dritten Reich, S. 154–170; Longerich, Himmler, S. 265–308.

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22 Herman Wirth, Der Aufgang der Menschheit, Jena 1928; ders., Die Heilige Urschrift der Menschheit, Leipzig [1931–1936]. 23 Vgl. Michael H. Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945, Stuttgart 1974, S. 11–16 u. 41–43; Hunger, Runenkunde im Dritten Reich, S. 171–203; ders., Wissenschaft und Ideologie, S. 319–324; Ingo Wiwjorra, Herman Wirth – Ein gescheiterter Ideologe zwischen „Ahnenerbe“ und Atlantis, in: Barbara Danckwortt (Hg.), Historische Rassismusforschung. Ideologen, Täter, Opfer, Hamburg u.a. 1995, S. 91–112; ders., In Erwartung der „Heiligen Wende“ – Herman Wirth im Kontext der völkischreligiösen Bewegung, in: Puschner, Völkisch-religiöse Bewegung, S. 399–416; Luitgard Löw, Völkische Deutungen prähistorischer Sinnbilder. Herman Wirth und sein Umfeld, in: Puschner, Völkisch und national, S. 214–232. 24 Vgl. Stauff, Runenhäuser. 25 Vgl. Ulrich Nußbeck, Karl Theodor Weigel und das Göttinger Sinnbildarchiv, Göttingen 1993; Rolf-Wilhelm Brednich, Das Weigelsche Sinnbildarchiv in Göttingen, in: Zeitschrift für Volkskunde 78 (1985), S. 22–39; Hunger, Runenkunde im Dritten Reich, S. 203–220. 26 Vgl. Kater, Ahnenerbe, S. 88. 27 Zu Krause vgl. Hunger, Runenkunde im Dritten Reich, S. 70–95 u. 220–237; ders., Wolfgang Krause, in: Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, Berlin u.a. 2003, S. 1016–1017; Klaus Düwel, Wolfgang Krause, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, begr. von Johannes Hoops, Bd. 17, Berlin u.a. 2001, S. 320–324; Fritz Paul, Fünfzig Jahre Skandinavistik an der GeorgAugust-Universität Göttingen, Göttingen 1985 (Privatdruck). [https://www.uni-goettingen.de/de/geschichte-des-seminars/91592.html] (25.5.2016). 28 Zu Arntz vgl. Hunger, Runenkunde im Dritten Reich, S. 43–70; Gerd Simon u.a., Chronologie Arntz, Helmut, 2007, [http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/ChrArntz.pdf ] (25.5.2016). 29 Vgl. Hunger, Runenkunde im Dritten Reich, S. 224–228; Nußbeck, Weigel, S. 111–117. 30 Zu Krauses Ursprungstheorie vgl. Hunger, Runenkunde im Dritten Reich, S. 85–95 u. 227. 31 Vgl. allgemein Eberhard Lämmert u.a., Germanistik – eine deutsche Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1967; See, Deutsche Germanen-Ideologie; ders., Barbar, Germane, Arier; Gollwitzer, Germanismus; Hermann Engster, Germanisten und Germanen, Frankfurt a.M. u.a. 1986; Julia Zernack, Germanische Altertumskunde. Skandinavistik und völkische Religiosität, in: Schnurbein u.a., Völkische Religion, S. 227–253; Puschner, Germanenideologie und völkische Weltanschauung. 32 Zu den vier Konstituenten der Germanenideologie vgl. Hunger, Runenkunde, S. 364–413. 33 Vgl. Löw, Völkische Deutungen, S. 221–224; Wiwjorra, Herman Wirth; Hunger, Runenkunde im Dritten Reich, S. 455–458. 34 Vgl. G. Ulrich Grossmann, Völkisch und national – Der „Beitrag“ der Hausforschung. Wiederaufleben der Runenkunde des SS-Ahnenerbes, in: Puschner, Völkisch und national, S. 31–64. 35 Vgl. Karl Spiesberger, Runenexerzitien für Jedermann, Freiburg 19764; ders., Runenmagie, Handbuch der Runenkunde, Berlin 19682. Zur Runengymnastik siehe Bernd Wedemeyer-Kolwe, Runengymnastik. Von völkischer Körperkultur zur alternativen Selbsterfahrungspraktik?, in: Puschner, Völkisch und national, S. 329–340; ders., Völkisch-religiöse Runengymnastiker im Nationalsozialismus, in: Puschner, Völkisch-religiöse Bewegung, S. 459–472.

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Transitional Justice Transitional Justice (TJ) ist zum einen ein Konzept, das unterschiedliche rechtliche, historische und politische Maßnahmen beinhaltet, um vergangenes Unrecht aufzuarbeiten und anzuerkennen, Opfer zu entschädigen, Täter zur Rechenschaft zu ziehen und neue politische Institutionen zu stärken; und es ist zum anderen ein langfristiger Aufarbeitungsprozess, der über mehrere Generationen andauern kann.1 Bei der historischen, symbolischen, politischen oder juristischen Aufarbeitung geht es nicht um Aufrechnung von Unrecht, sondern um die öffentliche Darstellung und das Bezeugen von begangenem Unrecht mit dem Ziel, die Fehler aus der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Ziel ist es, in Zukunft solche und ähnliche Menschenrechtsverbrechen zu verhindern, die zu Diktatur, Unterdrückung, Krieg, Völkermord, schwerwiegender Ausbeutung oder Unrecht führten. Daher spielt die Erinnerungsarbeit – wie etwa durch Gedenkstätten, Bildung und Museen – eine zunehmende Rolle im TJ-Prozess, der weit über die strafrechtliche Aufarbeitung hinausgeht.2 Gleichzeitig leistet der TJ-Prozess nur dann einen Beitrag zur gesellschaftlichen Versöhnung (reconciliation), wenn die darin involvierten Akteure, wie etwa Opferverbände, Täter, Behörden oder Gerichte, gleichberechtigt sind und Verantwortung, Schuld- oder Unschuldszuweisungen in alle Richtungen vornehmen.3 Siegerjustiz oder einseitige Schuldzuweisung in Form von Vergeltung nach dem Motto „denen geschieht es recht“ werden langfristig nicht zur Heilung, sondern zu neuen Konflikten zwischen den betroffenen Gruppen führen.4 Der Gefahr der Willkür- oder Siegerjustiz versuchen Gerichte, Behörden, internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen, die sich der Instrumente und Mechanismen von TJ bedienen, entgegenzuwirken. Strafrechtliche Aufarbeitung, Wahrheitskommissionen, Erstattungszahlungen, Reparationen und Kompensationen, Gedenkstätten, Gedenktage, Reformen des Sicherheitssektors, Rehabilitierungsmaßnamen, Lustrationsgesetze oder Amnestien sind nur einige der wenigen Maßnahmen, die zum Katalog der TJMechanismen und -Instrumente gehören.5 Opfer anzuerkennen, Täter zur Verantwortung zu ziehen, sind Möglichkeiten von TJ, das vergangene Unrechtsregime, Gewalt, Terror oder Völkermord aufzuklären und zu delegitimieren. TJ Maßnahmen zielen darauf ab, entsprechend der Vorgaben des internationalen Völker- und Menschenrechts, das vergangene Unrechtsregime zu delegitimieren und das neue – in der Regel – demokratisch politische Regime zu legitimieren.6 Aus der Delegitimierung und der Legitimierung von (neuen) Institutionen und Ordnungssystemen besteht der Bezugsrahmen von TJ. Das Unrecht seitens offizieller Stellen anzuerkennen, ist dabei zunächst der erste Schritt und damit verbunden, das ehemalige Herrschaftsregime, die War-Lords, oder Diktatoren, zu entmystifizieren und zu delegitimieren. In weiteren Schritten erfolgt die langsame Legitimierung von politischen Institutionen und der Aufbau von Zivilgesellschaft durch die Einbeziehung verschiedener gesellschaftlicher ziviler, wirtschaftlicher und politischer Akteure in

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Untersuchungskommissionen, öffentlichen Debatten, Gedenkveranstaltungen oder bei Gerichtsverhandlungen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 wurden nationale und internationale Tribunale überall in Europa eingesetzt, um der Teufelsspirale von Vergeltung und Gewalt entgegenzuwirken. Gleichwohl empfanden in den ersten Monaten und Jahren nach Kriegsende gerade viele Deutsche beispielsweise die Durchführung der Nürnberger Prozesse bis 1948 als Siegerjustiz der Alliierten. Der öffentlichen Wahrnehmung nach wurden die Kriegsverbrechen der Alliierten Streitkräfte gegen Ende des Krieges nicht nach dem gleichen Recht bestraft wie die Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten. Auch wenn das subjektive Empfinden eines Teils der Bevölkerung einer sachlichen Untersuchung nicht standhielt, so war diese Wahrnehmung eine Gefahr für den demokratischen Wiederaufbau der Bundesrepublik, denn das bürgerliche Vertrauen in die Justiz konnte nicht aufgebaut werden, und jenes in die Besatzungsmacht schwand.7 Die Tatsache, dass im Dezember 1948 die ersten Menschenrechtsabkommen, sowohl die Internationale Genozidkonvention als auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von den Vereinten Nationen verabschiedet worden sind, gilt als Indikator dafür, dass die internationale Staatengemeinschaft aus den anfänglichen Fehlern lernen konnte. Beide Dokumente berufen sich mittelbar auf die Verbrechen während der Diktaturen und Kriege in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber ein für alle Menschen gleicher auf rechtsstaatlichen Prinzipien basierender Aufarbeitungsprozess ist nach 1945 in Ost- und Westeuropa nicht vollends gelungen. So wollten die Vereinten Nationen mit der Schaffung internationaler Menschenrechtsverträge, einer einseitigen Siegerjustiz in Zukunft entgegen wirken. Dies konnte aus politischen Gründen aber erst nach dem Ende des Kalten Krieges mit der Einrichtung des Jugoslawientribunals in 1992 dem Ruandatribunal in 1994 und dem Internationalen Strafgerichtshof in 1999 erneut umgesetzt werden. Aufarbeitungsprozesse finden inzwischen weltweit unabhängig von der Schwere des Verbrechens oder des Unrechts statt, in Demokratien ebenso wie in Nachkriegsgesellschaften oder postdiktatorischen Staaten.8 Die zahlreichen juristischen Mechanismen und Methoden innerhalb eines TJ Prozesses zielen dabei darauf ab, Selbstjustiz auf der einen und Wiederholung autoritärer Herrschaftsstrukturen andererseits zu vermeiden. Diese „Übergangsjustiz im Übergang“ wie Transitional Justice häufig übersetzt wird, soll stattdessen Mythen, falschen Schuldzuweisungen, Rache und Siegerjustiz vorbeugen. Es ist daher angemessener von einer ‚Rechtsstaatlichkeit im Übergang‘ zu sprechen, da sie dem, was mit TJ zu erreichen ist, der Schaffung von Rechtssicherheit, näher kommt, als die häufig überzogenen Versprechen nach allgemeiner Gerechtigkeit oder interpersoneller Versöhnung. Letzteres kann, muss aber nicht, ein Ergebnis von TJ sein.9 Ob die unterschiedlichen Maßnahmen und Instrumente von TJ das erreichen können, hängt letztlich von der breiten und inklusiven Beteiligung aller vom Prozess betroffener Akteure und von der Umsetzung ihrer Entscheidungen ab. Dies sind

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die Opfer, Richter, Anwälte, Täter, Politiker, NGOs, Medienvertreter oder Mitarbeiter internationaler Organisationen, Gerichtshöfe oder Tribunale. Sie sind in diesem Prozess gleichberechtigte Akteure und genießen nicht nur gleiche Menschenrechte, etwa auf ein faires Verfahren und auf Anerkennung, sondern sie tragen dazu bei, dass im Aufarbeitungsprozess nach größtmöglicher Transparenz entschieden wird und unter Beteiligung der Öffentlichkeit. Es hängt daher nicht nur vom politischen Willen einer Regierungselite in einer Übergangsgesellschaft ab wie ein TJ-Prozess durchgeführt wird, sondern auch davon, inwiefern unterschiedlichen Akteuren erlaubt wird, an dem Prozess teilzunehmen, und zwar Opfer und Täter im gleichen Maße, Wirtschaftsvertreter unterschiedlicher Parteien, Vertreter religiöser Verbände, ehemalige Kombattanten oder Vertreter von Minderheiten. Ihnen sollte erlaubt sein, Historikerkommissionen einzuberufen, Gesetze zur Aufarbeitung zu initiieren, Gerichtsprozesse anzuregen, Generalamnestien nach Möglichkeit zu vermeiden, Gedenkstätten oder Mahnmale aufzubauen, Tribunale ins Leben zu rufen, Wahrheitsund Versöhnungskommissionen mit einem Mandat auszustatten, Reparationen zu bemessen oder Opfern und deren Angehörige mit Kompensationszahlungen für vergangenes Unrecht zu entgelten. Diese Maßnahmen sollen einerseits zur gesellschaftlichen oder zwischenstaatlichen Versöhnung dienen – wie etwa nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa – aber auch zur Wiedererlangung des Vertrauens der Bevölkerung in staatliche Strukturen und Institutionen (in Rechtsstaatlichkeit durch Gerichte und Polizei, in parlamentarische Demokratie durch Partizipation und Versammlungsfreiheit), wie dies in vielen lateinamerikanischen und osteuropäischen Ländern nach den Demokratisierungswellen in den achtziger und neunziger Jahren der Fall war. Ein einzelner TJ-Mechanismus, nur eine strafrechtliche Aufarbeitung oder das ausschließliche Einsetzen einer Historikerkommission, losgelöst von anderen Mechanismen, stellt keinen umfassenden Aufarbeitungsprozess dar und leistet damit auch wenig oder keinen Beitrag zur Delegitimierung des vergangenen Regimes, weniger noch zur Legitimierung des neuen politischen Systems. Eine einzige Maßnahme allein kann weder den gesamten Umfang des Unrechts bewerten, noch der Legitimierung des neuen Regimes dienen. Eine Kombination mehrere Maßnahmen auf lokaler, nationaler oder zwischenstaatlicher Ebene, also ein Gesamtpaket, kann einen solchen Beitrag leisten. Legitimierung des neuen politischen Regimes bedeutet, dass die Zivilgesellschaft, bestehend aus Opfern, Tätern und Mitläufern, lernt, sich gegenseitig sowie den politischen Institutionen zu vertrauen und diese zu nutzen. Denn einzelne Methoden oder Maßnahmen, wie etwa die Einrichtung einer Enquetekommission oder eines Entschädigungsfonds losgelöst von anderen Maßnahmen, haben keinen breiten gesellschaftlichen Effekt. Sie bergen die Gefahr, dass sie nur einen Teil der Historie abdecken, nur wenige Täter ins Rampenlicht setzen oder nur bestimmte, ausgewählte Gruppen von Opfern entschädigen. Nach einer allgemeinen Definition des Internationalen Zentrums für Transitional Justice (ICTJ) in New York beinhaltet ein TJ-Prozess dementsprechend unter-

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schiedliche Wege, Maßnahmen, Institutionen oder Instrumente, um auf systematische oder weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit zu reagieren. Diese Maßnahmen müssen in der Lage sein, Opfer anzuerkennen und Täter vor Gericht zu stellen. So wird der Grundstein gelegt, Frieden, Stabilität und Demokratie zu fördern. Die erwähnten TJ-Verfahren liefern diese Möglichkeit, soziales, wirtschaftliches, oder politisches Unrecht anzuerkennen, Täter zu bestrafen und Opfer zu kompensieren. Das Völkerrecht und damit die internationalen Menschenrechtsstandards in Hunderten internationaler Verträge, Erklärungen, Pakte, Übereinkommen oder Protokollen sind heute die normativen Leitlinien, nach denen politische und historische Ereignisse als Unrecht bzw. menschenrechtsverachtend eingestuft werden kann. Wir finden hierbei vier Kategorien von Mechanismen, die zu unterscheiden sind: Erstens: Politische, historische oder symbolische Anerkennung vergangenen Unrechts. Öffentliche Anerkennung wird erreicht durch Wahrheits-, Historiker- oder Versöhnungskommissionen. Die Festlegung von Gedenkstätten und Gedenktagen, die Förderung öffentlicher Debatten, Spiel- oder Dokumentarfilme, Literatur oder Romane über die Vergangenheit, Schulbuchreformen, die Öffnung von Archiven, Talkshows, Internetforen oder die symbolische Benennung von Opfern und mutmaßlichen Tätern leisten einen Beitrag zur Wahrnehmung und öffentlichen Anerkennung. Eine öffentliche Entschuldigung seitens der Nachfolgeregierung und der politischen Akteuren erkennt symbolisch vergangenes Unrecht an. Sie hat den weitreichendsten politischen Wert im Anerkennungsprozess und führt häufig zu weiteren, materiellen Maßnahmen. Zweitens: Restitution und Entschädigung. Restitution umfasst die Rehabilitierung oder Entschädigung der Opfer von Gewalt, Enteignungen, Vertreibung, Inhaftierung oder Mord. Neben materiellen und finanziellen Kompensationen an einzelne Opfer oder Reparationszahlungen an Staaten oder öffentliche Einrichtungen geht es auch um ‚Wiedergutmachung‘ im weitesten Sinne. Darunter fallen Versöhnungsprogramme zwischen Opfer- und Tätergruppen oder ehemaligen „Erbfeinden“. Des Weiteren ist darunter auch inter-personelle Versöhnung zu verstehen, die Schaffung formaler Arbeitsverhältnisse zwischen den ehemaligen Kombattanten oder verfeindeten Gruppen durch Quotenregelungen für Minderheiten in öffentlichen Einrichtungen und Parlamenten, Begegnungsprogramme oder Amnestien für politische Gefangene des ehemaligen Regimes. Dies trifft vor allem in Ländern zu, die von innerstaatlichen Konflikten, Bürgerkriegen oder Diktatur betroffen sind, denn hier leben und arbeiten Opfer und Täter nach dem Konflikt am selben Ort und es gibt keine Gelegenheit zur räumlichen Trennung. Des Weiteren gehören zu Restitutionsprogrammen auch die Wiederherstellung und die Aufrechterhaltung der Gedenkstätten, religiöser oder spiritueller Gebäude oder Tempel oder die öffentliche Exhumierung von Massengräbern und die Bestattung der Toten. Drittens: Strafrechtliche und administrative Aufarbeitung von Verantwortlichkeiten, von Militärs und Politikern nach rechtsstaatlichen Normen und internationa-

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len Menschenrechtsstandards auf Grundlage des humanitären und internationalen Völkerrechts. Das Völkergewohnheitsrecht kann heute auch rückwirkend auf schwere Menschenrechtsverletzungen in Diktaturen und gewaltsame Konflikte angewandt werden, selbst wenn diese Länder zum Zeitpunkt der Tat nicht Mitglied der Völkergemeinschaft oder Vertragspartei waren, wie etwa das Taliban-Regime in Afghanistan bis 2001 oder auch das Assad-Regime in Syrien. Schwerste Menschenrechtsverletzungen, wie etwa Verbrechen gegen die Menschlichkeit, verjähren nicht und können jederzeit und unabhängig vom politischen Ordnungssystem in dem jeweiligen Land geahndet werden. Genozid, systematische Vergewaltigung oder die Anwendung von Folter gehören beispielsweise dazu. Übergangsregierungen sind angehalten, rechtsstaatliche Reformen einzuleiten, die sich auf internationale Menschenrechtsnormen und das humanitäre Völkerrecht beziehen. Auf dieser Rechtsgrundlage sollen Verantwortliche des vorangegangenen Unrechtsregimes überführt und verurteilt werden. Andere Überprüfungsverfahren gegenüber vermeintlichen Tätern, wie etwa die Lustrationsprozesse gegenüber Beamten, das Stasiunterlagengesetz der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf den SED-Staat nach 1990, helfen, Mitverantwortliche für die Taten des Unrechtsregimes von der neuen Regierung auszuschließen. Sofern nationale Strafgerichtsbarkeit aufgrund fehlender rechtsstaatlicher Strukturen und Bürokratie nicht möglich ist, kann diese Lücke durch internationale, hybride Tribunale oder Gerichtshöfe gefüllt werden. Derartige hybride oder internationale Tribunale wurden seit 1992 bislang für das ehemalige Jugoslawien, für Ruanda, Ost-Timor, für Sierra-Leone, für den Libanon und Kambodscha einberufen. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag ist seit 1999 der erste permanente Gerichtshof dieser Art mit eingeschränktem Mandat.10 Reformen im Sicherheitssektor gehören ebenfalls zu den am häufigsten angewendeten Maßnahmen im Bereich der Überprüfungsmethoden. Demobilisierung und Entmilitarisierung des Militärs, die Schaffung einer zivilen Rechtsordnung, die Einrichtung einer zivilen Polizei statt Militärpolizei, sind sicherheitspolitische Maßnahmen, denen in der Regel ein Strafprozess oder ein Lustrationsprozess vorausgeht. Viertens: Amnestiegesetze oder Rehabilitierungsgesetze werden zunehmend als TJ-Maßnahmen eingestuft. Sie sind mit Abstand die umstrittensten Maßnahmen. Amnestien gelten in besonderem Maße in ehemaligen Militärdiktaturen. Das liegt am hohen Anteil aktiver Militärs oder Milizen. Von ihnen geht häufig die größte Gefahr für einen sich im Aufbau befindlichen fragilen Demokratisierungsprozess aus. Allerdings ist der Sicherheitssektor auch der am schwersten zu reformierende Sektor und daher stärkster Nutznießer von Amnestiegesetzen. Aus Furcht vor dem Wiedererstarken militärischer Macht werden Generäle und Milizen häufig amnestiert. Sie sind jederzeit in der Lage, durch gewaltsame Machtergreifung oder einen Putsch die Demokratiebemühungen einer noch fragilen Übergangsregierung zu stören. Militärputsche sind nach dem Ende einer Militärdiktatur eher die Regel als die Ausnahmen und machen daher die frühe Transitionsphase zur schwierigsten Phase im

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TJ Prozess.11 Um militante Gruppen, die häufig zu den Eliten des ehemaligen Unrechtsregimes gehörten, Zeit zur Reintegration zu gewähren, werden ihnen in der Regel General-Amnestien zuteil. Daher gelten Amnestie-Abmachungen als ‚letzter Ausweg‘ und werden zwischen der alten und neuen politischen Führung gemeinsam mit einer neuen Verfassung oder durch ein Referendum verabschiedet.12 Jedoch stellen diese Milizen häufig 20 Prozent oder mehr des öffentlichen Sicherheitsapparates dar und nicht selten putschen sie oder verhindern den Aufbau ziviler Strukturen. Spanien, Myanmar, Chile, die Elfenbeinküste oder die Türkei sind nur wenige Beispiele der letzten Jahrzehnte, in denen das Militär einen TJ nicht nur verhinderte, sondern die Demokratisierungsbemühungen massiv behinderte. Zweifellos sind Amnestien ein Hemmnis für jeden Aufarbeitungsprozess und können eine Kultur der Straflosigkeit herbeiführen. Sofern sie jedoch als kurzfristige Übergangslösung gesehen werden und reversierbar sind, wenn das Land sich nach einigen Jahren staatliche Institutionen aufgebaut hat, dann können sie durchaus den TJ-Prozess unterstützen. In der Regel sollten Amnestien aber als letztmögliches Mittel gesehen werden, dem jeder rechtsstaatliche Prozess vorzuziehen ist. Anders gesehen, implizieren Amnestien zugleich eine Mittäterschaft. Denn gäbe es niemanden zu amnestieren, wäre seitens dieser Person oder der Gruppen nichts vorgefallen. Amnestien können daher für die Opfer von Gewalt auch eine Form indirekter Anerkennung für das erduldete Unrecht sein. Es ist für alle Beteiligten deutlich, dass Militärs oder Beamte, die in den Genuss von Amnestien kommen, potenziell einem Strafverfahren ausgesetzt wären, und damit wird eine Mitverantwortung impliziert. Innerhalb eines Referendums, wie in Argentinien oder aufgrund einer Aufhebung durch Gerichte wie in Uruguay können die Amnestiegesetze jedoch begrenzt oder aufgehoben werden. Beobachter dieser Prozesse wie etwa Hazan, Teitel oder Olson, Payne und Reiter, stimmen darin überein, dass eine Wirkung der TJ-Methoden und Maßnahmen erst nach einem längeren Zeitraum und unter Einbeziehung verschiedener Mechanismen zu erkennen ist.13 Dafür müssen allerdings grundlegende Menschenrechte wie Partizipations-, Versammlungs-, Meinungs-, Pressefreiheiten oder das Recht auf faire Gerichtsverfahren garantiert sein.14 Diese sollten in einer Übergangsverfassung verankert und durch formale demokratische Institutionen wie Gerichte und Parlamente geschützt werden. Nur dann kann ein TJ-Prozess überhaupt eingeleitet werden. Ist dies nicht der Fall oder ist der Konflikt noch im vollen Gange, wird es schwer sein, Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen oder den Opfern eine Anerkennung zuteilwerden zu lassen. Denn um die Entscheidungen für die entsprechenden Maßnahmen zu treffen, ist es bedeutsam, ob ein Land und die Gesellschaft noch im Stadium eines bewaffneten Konflikts (wie im Falle der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY)), oder in dem eines Übergangs nach einem Waffenstillstand oder Friedensvertrag ist.15 Bis zu fünf (maximal zehn) Jahre nach dem Konflikt spricht man in der Regel von einer Transitions- oder Übergangsphase, danach von einer Transformations-

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und Konsolidierungsphase, in der TJ-Maßnahmen vor allem eine systemlegitimierende Rolle inne haben. Mittelfristig dauert der Übergang zum stabilen demokratischen Regime zwischen zehn und zwanzig Jahren. Hier ist von einem Generationenmodell die Rede. Während dieser Phase erreichen Demokratien in der Regel ihren Status der Konsolidierung. In diesem Zeitraum führen die unterschiedlichen Akteure wiederholt TJ-Maßnahmen wie Verurteilungen, Entschädigungen und Untersuchungskommissionen oder Gedenkveranstaltungen im größeren Rahmen durch. Nicht zufällig ist dies auch die Phase, in der die meisten Gerichtsprozesse im Rahmen des TJ-Prozesses stattfinden, da sich erst nach einigen Jahren und nach der Etablierung einer rechtsstaatlichen Verfassung und des Strafrechts sowohl Opfer als auch Täter wagen, ohne Furcht vor Vergeltung über vergangenes Unrecht vor einer staatlichen Institution auszusagen. Der wesentlichste Beitrag von TJ liegt demnach darin, dass alle beteiligten politischen, wirtschaftlichen oder zivilen Akteure mit den unterschiedlichsten Maßnahmen das vorangegangene Unrechtsregime delegitimieren und dem neuen politischen Regime neues Vertrauen schenken. Ein inklusiver Ansatz mit möglichst fairer, transparenter und gleicher Beteiligung von Opfern und Tätern auf allen Ebenen, hat den größten Delegitimierungseffekt. Bedeutsam für den legitimierenden Effekt ist, dass TJ Maßnahmen verlorenes Vertrauen der Bevölkerung in staatliche Institutionen wieder herstellen, indem sie durch transparente und faire Gerichtsverfahren signalisieren, dass sich das neue Regime von dem vorherigen deutlich abgrenzt und nach internationalen Menschenrechtsstandards agiert. Dies setzt voraus, dass sich Täter dem (neuen) Strafrecht beugen oder den Lustrationsergebnissen zustimmen und ihre Ämter räumen, dass sich Opfer mit den Kompensationszahlungen zufrieden geben und die Gesellschaft als Ganzes dem gemeinsamen Narrativ und Erinnern an die Vergangenheit zustimmt. In diesen Fällen kann TJ einen Beitrag zur neuen Gesellschaftsordnung und Stabilisierung der Demokratie leisten.16 Gleichzeitig unterstützen TJ-Maßnahmen Versöhnungsprogramme und Projekte zur Wiederherstellung eines interpersonellen Vertrauens für das tägliche Miteinander. TJ bleibt daher vor allem ein langfristiger Prozess, von bis zu einer Generation, also circa 20 Jahre und länger. Dass TJ-Maßnahmen Demokratisierungs- und Friedensprozesse beschleunigen können, ist erst in den letzten zwanzig Jahren von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt worden und wurde unter starker Einbeziehung von Menschenrechtsorganisationen, Interessen- und Opferverbänden weiterentwickelt.17 2004 hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dazu eine Resolution verabschiedet.18 Zwei Jahre später beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Grundprinzipien und Leitlinien zu TJ in Verbindung mit Versöhnungsund Demokratisierungsprozessen. Deren Anerkennung durch die neuen (Übergangs-)Regierungen ist oft auch Grundlage für die Mitgliedschaft eines Landes in der internationalen Staatengemeinschaft. Denn der neue Staat signalisiert damit zu-

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mindest, dass er beabsichtigt, internationale Menschenrechtsstandards, Rechtsstaatlichkeit und Transparenz beim Umgang mit Unrecht in der Vergangenheit und Gegenwart anzuwenden.

Anja Mihr

1 Ruti Teitel, Globalizing Transitional Justice, Oxford 2014; J. Mc Adams ed., Transitional justice and the Rule of Law in New Democracies, Notre Dame 2003; Tricia Olson u.a., Transitional justice in Balance; Comparing Processes, Weighing Efficacy, Washington, DC, 2010. 2 Mark Gibney u.a., The Age of Apology, Facing up the Past, Philadelphia 2008. 3 James Gibson, The Contribution of Truth to Reconciliation, Lessons From South Africa, in: Journal of Conflict Resolution 50 (2006), S. 409–432. 4 Neil Kritz, Transitional Justice. How Emerging Democracies Reckon with Former Regimes, Bd. 1, Washington DC 2004. 5 Jon Elster, Retribution and Reparation in the Transition to Democracy, Cambridge 2006. 6 Alexander Mayer-Rieckh (Hg. u.a.), Justice as Prevention, Vetting Public Employees in Transitional Societies, Advancing Transitional Justice Studies, New York 2007. 7 Susanne Jung, Die Rechtsprobleme der Nürnberger Prozesse, Tübingen 1992. 8 Marta Minow, Between Vengeance and Forgiveness, Facing History after Genocide and Mass Violence, Boston 1998. 9 Cary Murphy, A Moral Theory of Political Reconciliation, Cambridge 2010. 10 Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, 1999, Art 7. 11 Siegmar Schmidt (Hg. u.a.), Amnesie, Amnestie oder Aufarbeitung? Zum Umgang mit autoritären Vergangenheiten und Menschenrechtsverletzungen, Wiesbaden 2009. 12 Anja Mihr (Hg.), Transitional Justice: Between Criminal Justice, Atonement and Democracy, SIM Special 37, Utrecht 2012. 13 Teitel, Globalizing Transitional Justice. 14 Pierre Hazan, Measuring the Impact of Punishment and Forgiveness: a Framework for Evaluating Transitional justice, International Review of the Red Cross 88 (2006) 36, S. 19–47. 15 Hugo van der Merwe (Hg. u.a.), Assessing the Impact of Transitional Justice, Challenges for Empirical Research, United States Institute of Peace, Washington D.C. 2009. 16 Elazar Barkan, The Guilt of Nations, Restitution and Negotiating Historical Injustice, Baltimore 2004. 17 Teitel, Globalizing Transitional Justice. 18 Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen S/2004/616, The rule of law and transitional justice in conflict and post-conflict societies, 23.8.2004. http://www.ipu.org/splz-e/unga07/ law.pdf (August 2012).

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Tsiganologie Tsiganologie wird im deutschsprachigen Raum allgemein als Sammelbegriff für aus verschiedenen Disziplinen stammende Veröffentlichungen über Geschichte, Kultur und Sprache von als „Zigeuner“ bezeichneten Gruppen verwendet. Der Begriff ist in Anlehnung an das französische Wort „tsigane“ („Zigeuner“) gebildet worden. Eingeführt wurde er Ende der 1970er-Jahre von dem an der Universität Gießen angesiedelten „Projekt Tsiganologie“,1 um sich von der deutschen „Zigeunerkunde“ beziehungsweise „Zigeunerwissenschaft“ abzugrenzen, die durch ihre rassistisch-biologistische Ausrichtung und vor allem aufgrund ihrer Zulieferdienste während des Nationalsozialismus als diskreditiert galt. Den Anspruch, mit der traditionellen „Zigeunerkunde“ zu brechen, hat die überwiegende Mehrheit der als „Tsiganologen“ Publizierenden jedoch nicht einlösen können. Dies lässt sich zum einen auf das Fehlen einer kritischen Reflexion über die Prämissen, Arbeitsweisen und Ergebnisse der „Zigeunerkunde“ zurückführen, an deren Texte und Gedankengebäude auch die Tsiganologie anknüpfte. Zum anderen fehlte es an eigenständiger Theoriebildung, was wiederum methodisch fragwürdige Zugänge und inhaltlich höchst problematische Aussagen nach sich zog. Als eigene Wissenschaftsdisziplin kann die Tsiganologie – vom Duden als „Wissenschaft von Kultur und Sprache der Roma und Sinti“ definiert2 – daher nicht gelten. Anders als die ebenfalls umstrittene angelsächsische Tsiganologie hat sich die deutschsprachige Tsiganologie nie dauerhaft institutionell oder publizistisch etablieren können.3 In Auseinandersetzung mit der Tsiganologie und in Abgrenzung dazu entwickelte sich seit den 1990er Jahren in der Bundesrepublik die Antiziganismusforschung.4 „Zigeunerkunde“ hat sich als ein mehrheitsgesellschaftlicher Diskurs über als „Zigeuner“ bezeichnete Gruppen seit dem 15. Jahrhundert herausgebildet und sich dabei verschiedener Quellensorten bedient. Neben den in spätmittelalterlichen Chroniken überlieferten Beschreibungen sind Reiseberichte, volkskundliche Beobachtungen, kriminalistische und juristische Texte, Verwaltungsdekrete, sprachwissenschaftliche Untersuchungen, literarische Verarbeitungen und ethnografische Bildquellen zu nennen. Auf der Basis dieser einseitigen, oftmals spekulativen Überlieferung trug die „Zigeunerkunde“ maßgeblich zur Homogenisierung, Exotisierung und Marginalisierung der Minderheit bei. Erst als Angehörige der Minderheit seit den 1970er-Jahren mit eigenen Positionen an die Öffentlichkeit traten und sich dem ihnen zugewiesenen Objektstatus verweigerten, verlor die Tsiganologie an Legitimität und schließlich auch an Einfluss. Eine historisch-kritische Gesamtdarstellung zur deutschsprachigen Tsiganologie und ihrer Wirkungsgeschichte liegt bis heute nicht vor. Am Beispiel einzelner Protagonisten werden im Folgenden paradigmatische Entwicklungen dargestellt. Als bedeutendster Vertreter der deutschen „Zigeunerkunde“ gilt Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann (1753–1804). Mit seiner 1783 erschienenen Dissertation begründete er die moderne, als wissenschaftlich geltende „Zigeunerforschung“.5 Der 274-

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seitige Band stieß auf ein großes Publikumsinteresse und wurde schon 1787 um eine nunmehr auf 358 Seiten angewachsene zweite Auflage ergänzt.6 Mit Übersetzungen dieser Auflage ins Englische, Niederländische und Französische fand Grellmanns Darstellung auch international große Resonanz.7 Grellmann nahm für sich in Anspruch, aus den bis dahin nur vereinzelt vorhandenen Beschreibungen von „Zigeunern“ die erste Synthese geschaffen zu haben, deren Gültigkeit „sich auf dieses Volk in allen Ländern von Europa“8 erstrecke. Zudem wollte er den Nachweis erbringen, dass „Zigeuner“ aus Indien stammten.9 Diesem Ansinnen entspricht die Zweiteilung der Dissertation: Der ethnographische Abschnitt widmet sich in 15 Kapiteln der „Beschreibung der Zigeuner nach ihrer Lebensart, ihren Sitten und Eigenschaften“, der zweite Abschnitt handelt in sechs Kapiteln „Vom Ursprunge der Zigeuner“, diskutiert verschiedene Herkunftsthesen und breitet Sprachvergleiche zwischen „zigeunerisch“, „hindostanisch“ und „teutsch“ aus.10 Bevor ein Blick auf die Entstehungsbedingungen der Dissertation und die Arbeitsweise Grellmanns geworfen wird, seien hier einige Kernthesen vorgestellt, die nicht nur paradigmatisch für den Autor selbst sind, sondern auch über zweihundert Jahre lang von der Tsiganologie – wenn auch in diversen Spielarten – reproduziert wurden. Diese Thesen breitet Grellmann bereits in seiner Einleitung aus; sie sind gleichsam die Richtschnur, an der er seine vermeintlichen Forschungsergebnisse anpasst. „Zigeuner“ unterscheiden sich laut Grellmann überall in Europa signifikant von der übrigen Bevölkerung: „Man bedenke nur, wie sehr sie vom Europäer verschieden sind. Dieser ist weiß, der Zigeuner schwarz; der Europäer geht bekleidet, der Zigeuner halb nacket; jenem schaudert für Speise von verrecktem Vieh, dieser bereitet sich davon Leckerbissen. Ueberdieß sind auch diese Menschen, seit ihrer ersten Erscheinung in Europa durch Raub, Diebstahl und Mordbrennen berüchtigt; der Europäer hegt also nicht nur Abscheu gegen sie, sondern auch Haß.“11 Und obwohl „Zigeuner“ bereits seit 450 Jahren in Europa lebten, hätten sie sich nie kulturell gewandelt: „Das sonderbarste aber ist, dass weder Zeit, noch Clima, noch Beyspiele bisher auf sie, überhaupt genommen, merklichen Einfluß gehabt haben. Seit vierthalb hundert Jahren wandeln sie als Pilger und Fremdlinge umher, sind zu finden im Morgen- und Abendlande, unter rohen und gesitteten, faulen und fleißigen Menschen; und bleiben doch immer und überall, was ihre Väter waren – Zigeuner“.12 Grellmann führt diese angebliche Unfähigkeit zu einem zivilisatorischen Prozess auf zwei Ursachen zurück. Da „Zigeuner“ ein „Volk des Orients“ seien, seien sie von sich aus nicht in der Lage, sich zu verändern: „Man denke sich einen Menschen, bey dem Gewohnheit und angestammte Neigungen das einzige und stärkste Triebrad seiner Handlungen sind; in dessen Seele kein neuer und ungewohnter Gedanke, weder durch eigenes Nachdenken leicht entsteht, noch von andern erweckt, leicht haftet […]: so wird er immer bleiben, was er ist, und sich in seinen spätesten Nachkommen noch gleich seyn. Das ist vollkommen der Fall bey den Zigeunern.“13 Die zweite Ursache sieht er – ganz im Einklang mit dem aufgeklärten Absolutis-

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mus – in fehlenden staatlichen Maßnahmen, mit denen allein aus „gröstentheils Müßiggängern, Bettlern, Betrügern und Dieben, die jetzt ernden, wo sie nicht gesäet haben, und verzehren, was der Fleiß eines anderen hervorgebracht hat“, doch „arbeitsame und nützliche Unterthanen“ gemacht werden könnten.14 Grellmann war eher zufällig auf sein Promotionsthema gestoßen, nachdem er nach einem nicht abgeschlossenen Theologiestudium 1781 von Jena nach Göttingen gewechselt war. Ökonomisch unter Druck stehend und auch aufgrund seines vergleichsweise hohen Alters in Verzug, suchte er sich ein Feld aus, von dem er sich eine Profilierung für eine akademische Karriere oder den Staatsdienst versprach. 1784 wurde er Privatdozent, dann außerordentlicher und 1794 ordentlicher Professor.15 Wissenschaftlich hatte sich Grellmann noch nie mit „Zigeunern“ befasst, die behandelten Sprachen – Romanes und Sanskrit – beherrschte er nicht, auch war er nie mit Sinti oder anderen Gruppen der Minderheit in Kontakt getreten, was Zeit seines Lebens der Fall blieb. Dennoch verfasste er in kaum zwei Jahren ein Buch, welches das negative und von Stereotypen überladene „Zigeunerbild“ des Mittelalters wissenschaftlich sanktionierte und in die Moderne transformierte. Dies konnte nur deshalb gelingen, weil er sich großzügig bei anderen Autoren bediente. Für den ersten Abschnitt übernahm er über weite Strecken teils wörtlich Passagen aus einer Artikelserie, die 1775/76 in einer Wiener Zeitschrift erschienen war und über „Zigeuner“ in Österreich und Ungarn berichtete.16 Obwohl diese und weitere überproportional herangezogene Veröffentlichungen sich auf einen begrenzten Raum in Südosteuropa bezogen, verallgemeinerte Grellmann seine Kompilation als für ganz Europa gültig, spitzte die in den Texten vorgefundenen Behauptungen nochmals zu und ließ alles das unerwähnt, was nicht ins Bild passte und zu einer Differenzierung hätte führen können.17 Für den sprachwissenschaftlichen Abschnitt griff er auf Unterlagen zurück, die ihm der Göttinger Mineraloge und Linguist Christian Wilhelm Büttner (1716–1801), bei dem Grellmann auch Unterkunft fand, überlassen hatte. Diesem sowie weiteren Forschern, die zuvor die Verbindungen des Romanes mit dem Sanskrit entdeckt hatten, dankte Grellmann in seiner Vorrede.18 Die Entdeckung der Ähnlichkeit des Romanes mit dem Sanskrit – und damit auch die „Aufdeckung“ der bis dahin von Mythen umrankten Herkunft der „Zigeuner“ – war durchaus eine kleine Sensation. Auch wenn Grellmann diese Leistung nicht für sich reklamieren konnte, so war doch er derjenige, der dieser Neuigkeit zu einer breiten Publizität verhalf. Doch Grellmann wertete diese Entdeckung ab, indem er in seinem Schlusskapitel behauptete, dass die nach Europa eingewanderten „Zigeuner“ in Indien der niedrigsten Kaste angehört hätten. Grellmann war der bekannteste, aber keineswegs der einzige der „Zigeunerforscher“, die mit zweifelhaften Methoden, aber hohem Unterhaltungswert eine große Öffentlichkeit erreichten.19 Kritischere Zeitgenossen, die sowohl akademische Ansprüche als auch eigene Erfahrungen mit Angehörigen der Minderheit in ihrem Lebensumfeld hatten, blieben weitaus wirkungsloser. Zu nennen sind hier etwa Jo-

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hann Erich Biester (1749–1816)20 oder Johann Christian Christoph Rüdiger (1751– 1822).21 Während Grellmann sich nach seiner akademischen Abschlussarbeit nie wieder dem Thema zuwandte, verkörpert Heinrich von Wlislocki (1856–1907) den Typus des Privatgelehrten, der sich durch eine breite publizistische Tätigkeit einen Ruf als vermeintlich intimer Kenner erarbeitete. Der Siebenbürger Sprachwissenschaftler und Volkskundler veröffentlichte von 1880 bis 1897 mehr als 80 Texte über Geschichte, Lieder, Sprache, Märchen und Bräuche transsilvanischer „Zigeuner“.22 Seine angeblich jahrelangen Feldstudien unter „Zigeunern“ und eine ihm angedichtete zeitweise Ehe mit einer „Zigeunerin“23 trugen zur Festigung seiner bis zum Ende des 20. Jahrhunderts währenden Stellung als Gewährsmann für „die“ europäische „Zigeunerkultur“ bei.24 Doch auch Wlislockis Veröffentlichungen entstanden mit zweifelhaften Methoden und zeichnen sich durch unzulässige Verallgemeinerungen aus. Seine Untersuchungsobjekte fand er in der Gruppe der siebenbürgisch-ungarischen Roma, die als Wandergewerbetreibende nicht ortsfest lebten und lediglich rund drei Prozent aller ungarischen Roma im Habsburgerreich ausmachten.25 Unter diesen angeblich „unverfälschten Zigeunern“ suchte der kulturpessimistische Wlislocki nach „echter Volkstümlichkeit“ und entwarf dabei ein zwischen Romantisierung und Verteufelung changierendes, mit Vorurteilen und haltlosen Behauptungen angereichertes Sittengemälde des „Zigeunertums“. Die enorme Textproduktion des stets von Krankheiten geplagten Wlislocki, der seit 1890 nach und nach in geistige Umnachtung verfiel, war seiner ständigen Geldnot geschuldet. Angewiesen auf die Honorare für Veröffentlichungen, richtete er seine Schriften auf einen möglichst hohen Publikumseffekt hin aus und schöpfte seit den 1890er-Jahren immer wieder aus seinem früher zusammengetragenen Material. Dieses Material wurde allerdings schon von Zeitgenossen äußerst kritisch bewertet. Es wurde ihm nicht nur Plagiierung, sondern auch Spekulation, Fehlinterpretation und sinnentstellende Übersetzung aus dem Romanes nachgewiesen. Außerdem warfen ihm selbst nahestehende Kollegen vor, Märchen und Lieder erfunden oder gar selbst produziert zu haben, indem er selbst verfasste Texte von Roma übersetzen ließ, um sie als Originaltexte auszugeben. Arthur Thesleff kam nach einer empirischen Überprüfung 1898 zu dem Ergebnis, dass Wlislocki verantwortungslos sei; nahezu alles, was er publiziere, sei seine eigene Erfindung.26 Und Richard Pischel schrieb 1890 in den „Göttinger Gelehrten Anzeigen“ über das von Wlislocki publizierte Material: „In den Händen des Laien wird es ohne Zweifel viel Unheil anrichten.“27 Doch wie bei Grellmann vermochten es derlei kritische Einwände nicht, die Verbreitung der Schriften oder den Ruf des Autors zu beeinträchtigen. Im 19. Jahrhundert gewann der Diskurs über „Zigeuner“ auch vor dem Hintergrund der Nationalstaatsbildung noch mehr an Bedeutung; ethnisch-biologistische Zuschreibungen verfestigten sich zunehmend. Die Zahl der Publikationen – ob von interessierten Laien, Kriminologen oder Volkskundlern verfasst – stieg deutlich an.

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Typisch für die „Zigeunerkunde“ bleibt auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass theoretische und methodische Fragen nicht diskutiert, sondern Einzelbefunde, persönliche Blickwinkel und der tradierte Textkorpus zu allgemeingültigen Aussagen verzerrt werden, die von der Lebensrealität der Angehörigen der heterogenen nationalen Gruppen der Minderheit weit entfernt waren. Zwei wichtige Protagonisten des beginnenden 20. Jahrhunderts sind Hanns Weltzel (1902–1952)28 und Engelbert Wittich (1878–1937).29 Beide Autoren waren keine Wissenschaftler, hatten im Diskurs jedoch eine wichtige Position, da sie als „Zigeuner“ respektive Jenische galten30 oder aber laut eigenen Angaben eine lange Zeit ihres Lebens unter „Zigeunern“ verbrachten.31 Dies kann als typisches Phänomen der Epoche angesehen werden, da auch in anderen Gesellschaftsbereichen, wie der Kunst und Literatur, das „wilde“ und „freie Zigeunerleben“ als erstrebenswerte Alternative zum bürgerlichen Leben stilisiert und dargestellt wurde. Weltzel schrieb folkloristische Bücher und suchte dazu immer wieder die Nähe zu Angehörigen der Minderheit. Eve Rosenhaft kommt in Bezug auf Weltzels Wirken zu dem Fazit, dass er zwar Sympathie und Einfühlungsvermögen für den Einzelnen besessen, sich in quasi-wissenschaftlichen Texten aber dem Zeitgeist angebiedert, sogar bereitwillig die Termini der Nationalsozialisten verwendet habe.32 Auch gibt es Hinweise darauf, dass Weltzel der →Rassenhygienischen Forschungsstelle von →Robert Ritter zugearbeitet haben soll, was Weltzel selbst immer bestritten hat und bis heute nicht belegt werden konnte.33 Engelbert Wittich schrieb als Laie Folkloristisches und Triviales, aber auch Absonderliches respektive Abscheuliches über das vermeintliche Leben „der Zigeuner“. So ließ er sich in seinen Schriften etwa über die „Sexualität im Zigeunerleben“ aus.34 Seine Schriften sind heute noch leicht zugänglich, weil Joachim Hohmann eine Zusammenstellung seiner Texte 1990 neu herausgab.35 Wenige Jahre zuvor war ein erster Publikationsversuch Hohmanns beim S. Fischer Verlag nach vielfältigen Protesten gescheitert.36 Als Tiefpunkt der „Zigeunerkunde“ ist die Tätigkeit von Robert Ritter anzusehen, der mit Hilfe einiger fester und freier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den 1930er Jahren die vermeintlich wissenschaftliche Grundlage für den NS-Genozid an den Sinti und Roma legte. Seine rund 24.000 „gutachtlichen Äußerungen“ waren Grundlage für die rassistische Isolierung, die Ausplünderung, Zwangssterilisation, Deportation und Ermordung der Sinti und Roma im Deutschen Reich. Robert Ritter37 begann 1936 mit dem Aufbau seiner Rassenhygienischen Forschungsstelle beim Reichsgesundheitsamt. Im gleichen Jahr veröffentlichte der Völkerkundler Martin Block seine Dissertation „Zigeuner. Ihr Leben und ihre Seele“.38 Block reiht sich ein in die Reihe der Wissenschaftler, die vorgeben, Sympathien für die eigenen Untersuchungsgegenstände zu hegen, dabei aber die Vorstellungen von der Minderwertigkeit der „Zigeuner“ nie ablegen können. Blocks Arbeit basiert auf Forschungsreisen, die er vermutlich während des Ersten Weltkrieges in Rumänien unternahm. In der zeitgenössi-

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schen Völkerkunde wurden seine Schriften kaum bis gar nicht zur Kenntnis genommen.39 Erneut war es Joachim Hohmann, auf den noch gesondert einzugehen ist, der diesem „Zigeunerforscher“ in den 1990er Jahren posthum Aufmerksamkeit verschaffte, indem er die vergriffene Dissertation und die Habilitationsschrift Blocks neu herausgab.40 Fachlich ist die Wiederherausgabe mangelhaft – so fehlt etwa das Autorenverzeichnis der Ausgabe von 1936, woraus sich Rückschlüsse auf die Quellen von Block ergeben. Auch fällt auf, dass Hohmann, aus welchen Erwägungen heraus auch immer, die Schrift „gesäubert“ hat. In der Version von 1936 findet sich im Fazit bei Block: „Ein Volk mit viel Raum, aber ohne Zeit, ein Volk, das uns Rätsel zu lösen aufgibt, ein intelligentes und musikalisches Volk, ein verhältnismäßig rassereines Volk [sic!], das seit Jahrtausenden bis heute seinem Volkstum treu geblieben ist.“41 In der von Hohmann herausgegebenen Version aus dem Jahr 1997 fehlt hingegen der Passus zum „verhältnismäßig rassereinen Volk“.42 Nach dem Kriegsende erlebte die „Zigeunerwissenschaft“ eine bemerkenswerte Renaissance, auch weil die Verbindung zwischen NS-Verfolgungsinstanzen und wissenschaftlicher Beiträgerschaft nicht öffentlich thematisiert und kritisiert wurde. Gründe dafür liegen in der systemübergreifenden, andauernden Überwachung der als „Zigeuner“ Gebrandmarkten durch die Kriminalpolizei und im Fortbestehen der antiziganistischen Einstellungen innerhalb der Bevölkerung nach Kriegsende, die aufgrund ihrer jahrzehntelangen Tradierung nicht als Besonderheit des NS-Staates verstanden wurden. Die „Zigeunerkunde“ betonte im NS-Staat rassepolitische Bezüge, in der Bundesrepublik gewann das Narrativ der angeborenen Kriminalität und Devianz an Bedeutung. Die Nachkriegs-Tsiganologie43 wird zum Abschluss dieses Artikels mit ihren Hauptvertretern vorgestellt. Siegmund A. Wolf beschäftigte sich als Sprachwissenschaftler, durchaus nicht ohne folkloristisch verbrämte Vorurteile, vor allem mit der Sprache Romanes. Er hatte sich der Mitarbeit innerhalb der NS-„Zigeunerverfolgung“ verweigert, woraufhin sein Material beschlagnahmt und der Ritterschen Forschungsstelle übergeben worden war. Wolf gab in der Nachkriegszeit in mehreren Auflagen das Wörterbuch der Zigeunersprache heraus.44 Sein Wörterbuch aus dem Jahr 1960 sticht deshalb besonders hervor, weil dort sehr früh die NS-Verfolgung von Sinti und Roma thematisiert wird. Auch war Wolf sich darüber bewusst, dass innerhalb der Zunft ein Umdenken stattfinden müsse: „Man kann heute Zigeunerforschung nicht mehr über die Köpfe der Erforschten betreiben“, so äußerte er in einer Tageszeitung im Jahr 1963.45 Hermann Arnold (1912–2005) dagegen, ein Nervenarzt aus Landau, in der Kriegszeit im Dienst der Wehrmacht mit bisher ungeklärten Aufgaben betraut, stieg nach Kriegsende zu dem von staatlichen, wissenschaftlichen und karitativen Stellen meist gefragtesten „Zigeunerexperten“46 auf, obwohl auch ihm immer wieder eine Mitwirkung an der NS-Erfassung der Sinti und Roma nachgesagt wurde. Arnold legte eine ganze Fülle von Publikationen zum Thema vor, darunter 1965 den Band „Die Zigeuner. Herkunft und Leben im deutschen Sprachgebiet“. Sein vermutlich wirk-

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mächtigster Aufsatz erschien 1962 in der Zeitschrift für Ethnologie.47 In seinen Schriften verteidigt er Ritters Arbeit, verwendet das Material der Rassenhygienischen Forschungsstelle48, plädiert für Sterilisationen von „Zigeunern“ und verbreitet weiter die Rittersche These, wonach „Zigeunermischlinge“ am kriminellsten von allen „Zigeunern“ wären. Erst durch die Kritik von Verbänden der Sinti und Roma konnten Arnolds Reputation und Wirken erschüttert werden. Joachim S. Hohmann (1953–1999) nimmt eine ambivalente Position ein. Ihm sind mit Sicherheit Verdienste in der kritischen Erforschung der NS-Zigeunerverfolgung zuzuschreiben, auch wenn er dabei immer wieder zentrale wissenschaftliche Standards missachtete. Er veröffentlichte bereits 1981 ein wichtiges Buch49 dazu und hielt im selben Jahr einen viel beachteten Vortrag auf dem Roma-Weltkongress in Göttingen. Mitte der 1980er Jahre kam es jedoch anlässlich der Neuauflage der Schriften von Engelbert Wittich zum Bruch mit den Verbänden der Sinti und Roma. Trotz zahlreicher Einwände gab Hohmann seit 1990 seine Reihe Studien zur Tsiganologie und Folkloristik im Verlag Peter Lang heraus.50 Sein Versuch, der Tsiganologie unter sozialwissenschaftlichen Fragestellungen zu neuer Bedeutung zu verhelfen, musste nicht zuletzt an der dürftigen Theoriebildung scheitern.51 An der Gießener Universität wurde in den 1970er Jahren von dem Theologen und Soziologen Reimer Gronemeyer das „Projekt Tsiganologie“ etabliert, dem auch die Ethnologen Mark Münzel und Bernhard Streck sowie Georgia A. Rakelmann angehörten.52 Es war zwar erklärtes Ziel, sich von der rassistischen „Zigeunerwissenschaft“ abzugrenzen. Doch faktisch deutete diese Tsiganologie unter zivilisationskritischen und sozialromantischen Vorzeichen vorherrschende rassistische Deutungen in ethnisch-kulturalistische Zuschreibungen um. „Zigeunern“ wurde eine spezifische Form von „Eigensinn“ unterstellt, mit der staatliche Normierungsversuche unterlaufen würden. Wie Sören Niemann feststellte, verwandelten die Protagonisten „Rasse“ in „Eigensinn“, „Asozialität“ in „Flexibilität“ und „Primitivität“ in „Alternative zu den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen“.53 Die Gießener Tradition führte Bernhard Streck, der „Zigeuner“ als Träger einer „Kultur der Zwischenräume“ begreift, fort, als er 1994 Leiter des Instituts für Ethnologie in Leipzig wurde.54 Das „Tsiganologische Forum“ in Leipzig organisierte mehrere Veranstaltungen, man gab eine Zeitschrift heraus und es entstanden Qualifikationsarbeiten, jedoch endete diese vorübergehende Etablierung der Tsiganologie in Deutschland mit der Emeritierung Strecks. Mit der Abwicklung des Leipziger Forschungsbereichs scheint die deutschsprachige Tsiganologie an ihrem Ende angelangt zu sein. Letztlich mussten alle Reformversuche auch deshalb scheitern, weil Tsiganologie von ihrem Ansatz her auf einer essentialistischen und stereotypisierenden Sicht auf „Zigeuner“ basiert, die außerhalb von Gesellschaft und Zivilisation stehend, verortet werden.

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1 Vgl. Reimer Gronemeyer, Warum Tsiganologie? Bemerkungen zu einer Wissenschaft mit Blutspuren, in: Giessener Hefte für Tsiganologie (1985) 1, S. 3–7, 7, vgl. Anm. 3. 2 http://www.duden.de/rechtschreibung/Tsiganologie (24.7.2016). 3 Im englischsprachigen Raum hat sich seit 1888 die Zeitschrift Journal of the Gypsy Lore Society (seit dem Jahr 2000 trägt die Zeitschrift den Titel Romani Studies) etabliert. (Selbst-)kritisch zur Rolle der Zeitschrift und der dahinterstehenden Gesellschaft vgl. Thomas Acton, scientific racism, popular racism and the discourse of the Gypsy Lore Society, in: Ethnic und Racial Studies 19 (2016) 7, S. 1187–1204. 4 Zum Stand und zum Selbstverständnis der Antiziganismusforschung vgl. Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma (Hg.), Antiziganismus. Soziale und historische Dimensionen von „Zigeuner“-Stereotypen, Heidelberg 2015; Markus End (Hg. u.a.), Antiziganism – What’s in a Word?, Newcastle upon Tyne 2015. 5 Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann, Die Zigeuner. Ein historischer Versuch über die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksahle dieses Volkes in Europa, nebst ihrem Ursprunge, Dessau u.a. 1783. Anders, als Martin Ruch, Zur Wissenschaftsgeschichte der deutschsprachigen ‚Zigeunerforschung‘ von den Anfängen bis 1900, Freiburg 1986, S. 103 feststellte, ist auch diese erste Auflage überliefert und als Digitalisat im Internet verfügbar. 6 Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann, Historischer Versuch über die Zigeuner betreffend die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksale dieses Volkes seit seiner Erscheinung in Europa, und dessen Ursprung, Göttingen 17872. 7 Heinrich Grellmann, Dissertation on the Gipsies, being an Historical Enquiry, concerning the Manner of Life, Oeconomy, Customs and Conditions of these People in Europe, and their Origin, trans. Matthew Raper, London 1787, 18072; ders., Geschiedkundige Verhandeling over de Heidens, betreffende hunne herkomst, leevenswijze, gesteldheid, zeden en lotgevallen, sedert hunne verschning in Europa, Dordrecht 1791; ders., Histoire des Bohémiens ou Tableau des moeurs, usages et coutumes de ce peuple nomade; suivie de recherches historiques sur leur origine, leur langage et leur première apparition en Europe, Paris 1810. 8 Zit. nach der ersten Auflage, Vorrede, Bl. 3R. 9 Ebd., Bl. 4R. 10 Erstauflage: erster Abschnitt S. 15–154, zweiter Abschnitt S. 155–274; Zweitauflage: erster Abschnitt S. 19–199, zweiter Abschnitt S. 200–342. 11 Grellmann, Zigeuner, S. 9. 12 Ebd., S. 1. 13 Ebd., S. 7. 14 Ebd., S. 10f. 15 Joachim Krauss, Die Festschreibung des mitteleuropäischen Zigeunerbildes. Eine Quellenkritik anhand des Werkes von Heinrich M. G. Grellmann, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 19 (2010), S. 33–56, 38–41 zum biografischen Kontext. 16 Der Autor war Samuel Augustini Abhortis, die Serie erschien in „Kaiserlich Königliche allergnädigste privilegierte Anzeige aus sämtlichen kaiserlich-königlichen Erbländern“. Vgl. dazu Krauss, Festschreibung, S. 47–49; Ruch, Wissenschaftsgeschichte, S. 104–110. 17 Ebd.; Krauss, Festschreibung, S. 49–52. 18 Grellmann, Versuch, S. XII-XVI. 19 Vgl. etwa die Vorgehensweise von Francesco Griselini, der während einer Reise in das Banat 1775 nach Material dafür Ausschau hielt, das seine These, „Zigeuner“ kämen aus Ägypten, belegen konnte. Dabei machte er Feststellungen wie diese: „Den Geruch der Bohnen können die Zigeuner so wenig wie die alten Ägypter vertragen.“ Zit. nach Ruch, Wissenschaftsgeschichte, S. 151; in ebd.,

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S. 463–514 findet sich eine chronologische Bibliographie zur deutschsprachigen „Zigeunerforschung“ vom 15. Jahrhundert bis 1985. 20 Johann Erich Biester, Über die Zigeuner, besonders im Königreich Preußen. Mit einem Vorwort von Ulrich Kronauer, Heidelberg 2014 (erstmals erschienen 1793 in der von Biester herausgegebenen „Berliner Monatsschrift“). 21 Johann Christian Christoph Rüdiger, Neuester Zuwachs der teutschen fremden und allgemeinen Sprachkunde in eigenen Aufsätzen, Bücheranzeigen und Nachrichten, Leipzig 1782, S. 37–84: „Von der Sprache und Herkunft der Zigeuner aus Indien“. 22 Hier und im Folgenden Ruch, Wissenschaftsgeschichte, S. 196–284. 23 Beides widerlegt in ebd., S. 200, 212–228, 237. 24 So verlängerte Joachim S. Hohmann noch 1994 den Nachruhm Wlislockis in die Gegenwart: Heinrich von Wlislocki, Zur Ethnographie der Zigeuner in Südosteuropa. Tsiganologische Aufsätze und Briefe aus dem Zeitraum 1880–1905, hg. von Joachim S. Hohmann, Frankfurt a.M. u.a. 1994, S. 9–53. Bis heute wird der Band vom Verlag ohne eine kritische Anmerkung mit den Worten beworben, Wlislocki sei „einer der wichtigsten ‚Zigeunerforscher‘ des ausgehenden 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum“. Vgl. https://www.peterlang.com/search?q1=Wlislocki&searchBtn= (4.8.2016). 25 Bei der ungarischen „Zigeunerconscription“ von 1893 wurden 243.432 beständig ansässige Roma, 20.406 zeitweilig ansässige und 8.938 „Wanderzigeuner“ gezählt, vgl. Ruch, Wissenschaftsgeschichte, S. 193. 26 Ebd., S. 270. 27 Zit. nach ebd., S. 265. 28 Eve Rosenhaft, Hanns Weltzel (1902–1952). Ein Leben im 20. Jahrhundert, in: Dessauer Kalender: Heimatliches Jahrbuch für Dessau Roßlau und Umgebung 58 (2014), S. 92–107. 29 Vgl. Jan Severin, „Zwischen ihnen und uns steht eine kaum zu überwindende Fremdheit.“ Elemente des Rassismus in den „Zigeuner“-Bildern der deutschsprachigen Ethnologie, in: Markus End (Hg. u.a.), Antiziganistische Zustände, Münster 2009, S. 67–94, 80; vgl. Joachim Hohmann (Hg.), Engelbert Wittich. Beiträge zur Zigeunerkunde, Frankfurt 1990. 30 Wittich bezeichnet sich etwa selbst als „Zigeuner“, obwohl er wahrscheinlich eher aus der Minderheit der „Jenischen“ stammte, vgl. Engelbert Wittich, Blicke in das Leben der Zigeuner. Von einem Zigeuner, Striegau 1911. 31 Vgl. Hanns Weltzel, The Gypsies of Central Germany, in: Journal of the Gypsy Lore Society, Series 3 (1938) XVIII, S. 9–24, 73–80, 104–109. 32 Vgl. Rosenhaft, Weltzel, S. 107. 33 Vgl. Ebd., S. 100. 34 Vgl. Engelbert Wittich, Beiträge zur Zigeunerkunde. Hg. von Joachim S. Hohmann, Frankfurt a. M. 1990, S. 162ff. 35 Vgl. Ebd. 36 Vgl. Brawo Sinto! Lebensspuren deutscher Zigeuner, Hg. von Joachim S. Hohmann, Frankfurt a. M. 1984. 37 Vgl. Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996, S. 125–162; ders. (Hg.), Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerverfolgung im Europa des 20 Jahrhunderts, Stuttgart 2007; Tobias SchmidtDegenhard, Vermessen und Vernichten. Der NS-„Zigeunerforscher“ Robert Ritter, Stuttgart 2012. 38 Vgl. Martin Block, Zigeuner. Ihr Leben und ihre Seele. Dargestellt auf Grund eigener Reisen und Forschungen, Leipzig 1936. 39 Siegfried Becker, Eine Fotodokumentation zur materiellen Kultur Rumäniens des Tsiganologen Martin Block (1891–1972), in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, Bd. LIX/108, Wien 2005, S. 383–406, 403.

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40 Vgl. Martin Block, Die materielle Kultur der Zigeuner, Frankfurt a.M. 1991; Martin Block, Die Zigeuner. Ihr Leben und Ihre Seele. Dargestellt auf Grund eigener Reisen und Forschungen, Frankfurt a.M. 1997. 41 Block, Zigeuner [1936], S. 213. 42 Block, Die Zigeuner [1997], S. 235. 43 Einführend Ulrich Friedrich Opfermann, Von Ameisen und Grillen. Zu Kontinuitäten in der jüngeren und jüngsten deutschen Zigeunerforschung, in: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma (Hg.), Antiziganismus. Soziale und historische Dimensionen von „Zigeuner“Stereotypen, Heidelberg 2015, S. 200–222. 44 Vgl etwa Siegmund A. Wolf, Großes Wörterbuch der Zigeunersprache, Mannheim 1960. 45 Eve Rosenhaft, Gefühl, Gewalt und Melancholie, in: Sozialwissenschaftliche Informationen 30 (2001) 3, S. 22–34, 34. 46 Vgl. Sebastian Lotto-Kusche, Spannungsfelder im Vorfeld der Anerkennung des Völkermords an den Sinti und Roma. Das Gespräch zwischen dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland am 17. März 1982, in: Marco Brenneisen (Hg. u.a.), Stigmatisierung – Marginalisierung – Verfolgung. Beiträge zum 19. Workshop zur Geschichte und Gedächtnisgeschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Berlin 2015, S. 224–244, Anm. 23. 47 Hermann Arnold, Wer ist Zigeuner?, in: Zeitschrift für Ethnologie 87 (1962), S. 115–134. 48 Vgl. Karola Fings/Frank Sparing, Vertuscht, verleugnet, versteckt. Akten zur NS-Verfolgung von Sinti und Roma, in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 12 (1995), S. 181–201. 49 Vgl. Joachim S. Hohmann, Geschichte der Zigeunerverfolgung in Deutschland, Frankfurt a.M. 1981. 50 Nach Hohmanns Tod führte Wolfgang Wippermann die Reihe unter dem Titel „Sinti- und Romastudien. Publikationen zur Geschichte der Sinti und Roma und zum Antiziganismus“ bis 2003 fort. 51 Vgl. von Hohmann verfasstes Vorwort und Einleitung in Joachim S. Hohmann, Handbuch zur Tsiganologie, Frankfurt a.M. u.a. 1996. 52 Paradigmatisch: Mark Münzel, Bernhard Streck (Hg.), Kumpania und Kontrolle. Moderne Behinderungen zigeunerischen Lebens, Giessen 1981, sowie Reimer Gronemeyer (Hg.), Zigeuner in der Sozialpolitik heutiger Leistungsgesellschaften, Giessen 1983. 53 Sören Niemann, Eine nomadische Kultur der Freiheit. Vom Traum der Tsiganologie, in: Wulf D. Hund (Hg.), Zigeunerbilder. Schnittmuster rassistischer Ideologie, Duisburg 2000, S. 31–50, 35. 54 Vgl. Bernhard Streck, Kultur der Zwischenräume. Grundfragen der Tsiganologie, in: Fabian Jacobs u.a. (Hg.), Roma-/Zigeunerkulturen in neuen Perspektiven, Leipzig 2008, S. 21–48. Vgl. die Kritik von Ulrich F. Opfermann (wie Anm. 43), S. 214–222.

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Umvolkung Die „Umvolkung“ war ein Schlüsselbegriff der NS-Volkswissenschaft am Ende der 1930er und Anfang der 40er-Jahre, der besonders in Kreisen der SS-Wissenschaft und SS-Politik in annektierten Ländern eine Karriere machte. Sie war als Oberbegriff konzipiert, unter den die Volkswissenschaft jene politischen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und besonders auch biologischen und psychologischen Prozesse zu subsummieren versuchte, die beim Wechsel oder Wandel der kollektiven (ethnischen und nationalen) Identität eine Rolle spielen. Die NS-Volksforschung wollte damit ein Phänomen studieren, das im nationalistischen und völkischen Diskurs seit dem 19. Jahrhundert durch Ausdrücke wie Entdeutschung, Eindeutschung (Germanisierung), Slawisierung, Tschechisierung, Polonisierung, Magyarisierung bezeichnete. Der Begriff „Umvolkung“ entspricht nur sehr ungefähr den heutigen Begriffen „Akkulturation“, „Assimilation“ und „soziale Integration“, mit denen ein strukturierter Prozess der soziokulturellen und sozioökonomischen Angleichung von einzelnen Menschen oder Menschengruppen, die aus anderen kulturellen und religiösen Gesellschaften kommen, auf das Leben in einer anderen, sie annehmenden Gesellschaft beschrieben wird. Radikale Differenz des NS-volkswissenschaftlichen Paradigmas besteht im Vergleich zum Paradigma der modernen liberalen Sozialwissenschaften in vollständig anderen Grundprinzipien, auf denen auch der Begriff „Umvolkung“ aufgebaut wurde, und in Zielen, die von theoretischer „Volksforschung“ wie auch praktischer „Umvolkungspolitik“ verfolgt wurden. Der Begriff des „Volkes“ (oder „Volkstums“) trat als Axiom aller volkswissenschaftlichen Fragestellung an Stelle des Begriffs „Gesellschaft“. Das „Volk“ war als eine organische Ganzheit von „Rasse“, Kultur und Geschichte konstruiert, wobei „Rasse“ den bedeutendsten Bestandteil „völkischer“ Kontinuität („Substanz“) bildete. In weiterer Entwicklung und Radikalisierung des volkswissenschaftlichen Paradigmas wurde Dreieinheit des Menschen von Leib („Blut“), Seele und Geist postuliert und das „Volk“ wurde dann „biologisch-geistig-seelische Wirklichkeit“.1 Dies betonte noch mehr den biologischen Materialismus der NS-Volkswissenschaften, weil in diesem Konzept „Geist“ (als Resultat einer Kultur) vom „Blut“ (Rasse) meist „entfernt“ war und sich ihm vollkommen entfremden konnte. „Sie [‚Blut‘ und ‚Geist‘] können sich leichter unabhängig voneinander entwickeln, in der Umvolkung geraten bekanntlich oft ‚Blut‘ und ‚Geist‘ geradezu in Gegensatz.“2 Einer „Umvolkungs-Forschung“ ging es zunächst um eine vielschichtige geschichtliche (prähistorische, archäologische und historische), sprachwissenschaftliche, bevölkerungswissenschaftliche und vor allem volksbiologische und volkspsychologische Analyse des Zuwachses oder Verlusts an Bevölkerung, die zu einem „Volk“ gehörte und die sich auch so betrachtete, durch Wechsel oder Wandel von Menschen eines „Volkstums“ in ein anderes „Volkstum“. Diese interdisziplinäre Erforschung solcher Assimilations- und Dissimilationsvorgänge in der Geschichte und

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Gegenwart, sollte zeigen, durch welche – angeblich ursprüngliche – Elemente strukturelle Zusammensetzung heutiger Völker geprägt wurde. „Umvolkung“ und „Volkwerdung“ sind zwei Seiten einer Medaille. Beide führenden Umvolkungstheoretiker der letzten Jahre des NS-Regimes →Hans Joachim Beyer3 und Wilhelm Emil Mühlmann4 einigten sich darauf, dass eine wirklich wissenschaftliche Antwort auf die Frage, was ein Volk sei, angeblich erst als Forschungsresultat der „UmvolkungsForschung“ gegeben werden könne.5 Ein mehr praxisorientiertes Forschungsziel lag in der Beantwortung von Fragen, die sich mit der Pragmatik des Ob und Wie der „Umvolkung“ beschäftigten. Ist ein Volkstumswechsel oder ein Volkstumswandel überhaupt möglich, und falls ja, wie? Was bedingt und unter welchen Faktoren, und nach welchen Regeln und Gesetzen verliefen verschiedene „Umvolkungsvorgänge“ in der Weltgeschichte? Was geschieht während der „Umvolkung“ mit „Rasse“ als dem „festen Kern des völkischen Lebens“? Bleibt er erhalten oder verändert er sich durch ethnische Mischung? Ist vollzogene „Umvolkung“, besonders des „als untergegangen bezeichneten Deutschtums“, rückgängig zu machen?6 Alle diese Fragen entstanden in programmatischer Verbindung der NS-Volkswissenschaft mit der Praxis der NS-Volkstumspolitik. Aus enger Verquickung von Politik und Wissenschaft entstanden völkermörderische Methoden der Umsiedlungs-, Vertreibungs-, Assimilations- und Vernichtungspläne für die Bevölkerung der von NS-Deutschland seit 1939 annektierten und okkupierten Länder, vor allem in Mittel- und Südosteuropa.7 Alle ethischen Fragen, Vorbehalte oder Konsequenzen aktiver politischer Anwendung des zynischen, rationalisierten Wissens wurden in Anbetracht der utopischen „deutschvölkischen“ Zukunft ausgeklammert beziehungsweise mit NS-Ideologie und rassischer Moral legitimiert.8 Wenn wir aus dem Milieu schlussfolgern können, in welchem der erste Aufruf zu wissenschaftlicher Beschäftigung mit diesem Phänomen publiziert wurde, kommt der Ausdruck „Umvolkung“ aus dem völkisch-nationalistischen Vokabular der deutschen Schutzvereine in deutschen Grenzgebieten und ethnisch gemischten Gebieten der Habsburgermonarchie. Es war →Karl Christian von Loesch im Jahre 1925, der diesen Aufruf in einem Sammelband, herausgegeben vom Deutschen Schutzbund, veröffentlichte und den Ausdruck „Umvolkung“ vielfach als Synonym zur Assimilation und Dissimilation, verwendete. Er verstand ihn als einen übergeordneten Ausdruck für Ein- und Entdeutschung, wobei vor allem Entdeutschung den negativen Vorgang in der deutschen Geschichte repräsentierte, weil dadurch „viel deutsches Volkstum[s] verloren gegangen“ sei.9 Eine umgekehrte Tendenz, die Eindeutschung, wurde in den völkisch-nationalistischen Kreisen offensichtlich auch nicht positiv verstanden. Bis in die 1930er Jahre warnten einige rassenhygienisch geschulte Bevölkerungsstatistiker vor „Umvolkung“ des deutschen Volkes durch „volksfremde Elemente“.10 Während der 30er Jahre wurde der Begriff gelegentlich von der jüngsten Generation der Soziologen, Ethnologen und Historiker als Synonym für „normale“ Assimilation verwendet. Im Rahmen seiner Forschungsstelle für das Volkstum in Ruhr-

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gebiet untersuchte →Wilhelm Brepohl Assimilationsvorgänge der ins rheinischwestfälische Industriegebiet eingewanderten polnischen Arbeiter.11 Ebenfalls in den deutschen Industriegebieten versuchte Karl Valentin Müller das Verhältnis zwischen Begabung, Rasse, Fruchtbarkeit und sozialen Aufstieg zu erforschen und eine neue Synthese von sozialer Frage und Rassenlehre zu erreichen. Was ihn an Arbeitern interessierte, übertrug er seit Mitte der 30er-Jahre auf die Beziehung zwischen Völkern und ihre rassisch-sozialen Strukturen: Er begann die „blutmäßige Durchdringung“ zweier Völker und andere Fragen der zwischenethnischen Berührungen vor allem an Tschechen und Deutschen zu studieren und stieß ebenfalls auf das Problem der „Umvolkung“.12 Seine Studien13 beeindruckten den jungen, ehrgeizigen Redakteur der Auslandsdeutschen Volksforschung Beyer, der sich mit demselben Phänomen im Rahmen auslandsdeutscher Forschung intensiv auseinandersetzte. Mit Beyer beginnt die systematische, rassisch orientierte „Umvolkungs-Forschung“. Von Anfang an distanzierte er sich von der geistesgeschichtlich orientierten Deutung des Volksbegriffs, wie ihn in der damaligen Volkstheorie Max Hildebert Boehms einflussreiches Buch vom „eigenständigen Volk“ repräsentierte. „Bei der Umvolkung handelt es sich primär um eine vorangegangene Veränderung der rassischen Eigenart (Mischehe) oder aber um eine Dämpfung des Rasse- und Volksbewusstseins, die bis zur Abtötung gehen kann und sich zumeist in dem Wille vollendet, durch eine Mischehe dem Nachwuchs eine andere rassische Eigenart zu geben“,14 erklärte er auf einer von ihm im August 1937 organisierten Tagung der Arbeitsstelle für auslandsdeutsche Volksforschung. Vor einem bereits damals zum SD zugeneigten Gelehrtenkreis umriss Beyer seine „Umvolkungs“-Konzept und ein Programm für die Forschung, welche nun Aufgabe vor allem der völkischen Anthropologie, der Rassekunde und der Volkslehre sein sollte.15 Das ursprüngliche Konzept hat sich bis zum Kriegsende nicht geändert, es wurde aber weiter präzisiert. Durch die Kulmination der aggressiven Außenpolitik NS-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg seit Herbst 1939 wechselten die NS-Intellektuellen den Fokus auf die Assimilationsvorgänge im östlichen Europa. Es ging nicht mehr um „passiven“ Schutz und „Abwehr“ des gefährdeten „Auslandsdeutschtums“, sondern um eine „aktive“ Bevölkerungspolitik, deren Mechanismen, Möglichkeiten sowie wahrscheinlichen positiven und negativen Auswirkungen wenig bekannt waren.16 Desto mehr wuchs das Interesse an der „Umvolkungs-Forschung“. Im Juni 1939 legte Beyer, der inzwischen zum hauptamtlichen Mitarbeiter des Berliner SD befördert worden war, an der Münchner Universität erfolgreich mit Unterstützung seines SD-Leiters →Franz Alfred Six eine nicht veröffentlichte Habilitationsschrift vor, die „Umvolkungsvorgänge“ in Ostmitteleuropa analysierte und im RSHA als einer der Mustertexte der „konzeptionellen Matrix“ für die Bevölkerungspolitik in den okkupierten Ländern diente.17 Beyers Richtung der „Umvolkungs-Forschung“ erreichte den Höhepunkt in den Jahren 1942–1945 in der Reinhard Heydrich Reichstiftung für wissenschaftliche Forschung in Prag, die zur theoretisch-wissenschaftlichen Zentrale der RSHA für die „Umvolkung“ ausgebaut wurde.18 Beyer traf sich an der Prager Universität auch mit

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Müller, der seit 1939/1940 vertrauliche Denkschriften und Expertisen für Staatsekretär Karl Hermann Frank im Amt des Reichsprotektors Böhmen und Mähren lieferte sowie auch eine Reihe von Aufsätzen über rassische Zusammensetzung der Tschechen veröffentlichte.19 Während Müller mit der Reichsstiftung kooperierte, aber ihr nicht angehörte, profilierte sich als zweite Persönlichkeit der Stiftung der Völkerpsychologe der Leipziger Schule, Rudolf Hippius, der von der Posener Reichsuniversität kam. Dieser baltische Deutsche entwickelte in Posen psychodiagnostische Methoden, mit welchen er den Volkscharakter der deutsch-polnischen Mischehen und dann auch die „seelischen“ Strukturen verschiedener osteuropäischer Völker untersuchte.20 Beyer arbeitete alle diese Anregungen mit Ergebnissen seiner Habilitation und neueren Studien zur Assimilation und „Amalgamation“ (im Sinne „völkischer“ Verschmelzung), die von ihm und seinem Assistenten Othmar Feyl21 in der →Reinhard-Heydrich-Stiftung durchgeführt wurden, im Herbst 1944 in eine Synthese aus, deren Ziel es war, neben theoretischen Aspekten auch eine Art praktischer Methode für die richtige Anwendung politischer Gewalt und ethnischer Manipulation an den beherrschten Menschen Ostmitteleuropas zu entwickeln. Im Vorwort seines Buches drückt Beyer seine Hoffnung mit Zynismus aus, dass „am Ende dieses Kampfes die Rettung der Völker und der Aufbau einer leistungsgerechten europäischen Ordnung Gewissheit wird“.22 Zur gleichen Zeit, als Beyer seine Studien fertigstellte, erschien ebenfalls in Prag eine Schrift von Wilhelm Emil Mühlmann, der eine Dozentur für Ethnologie und Völkerpsychologie an der Berliner Universität seit 1939 innehatte.23 Die Schrift ging auf ein „Volkstumskundliches Colloquium“ im Jahre 1942 zurück, das Karl Christian von Loesch an der →Deutschen Auslandswissenschaftlichen Fakultät organisierte.24 Weil der bereits zur Publikation vorbereitete Sammelband mit dem Vortrag von Mühlmann „durch Feindwirkung restlos verloren“ gegangen war, griff Mühlmann auf seine damaligen Gedanken noch einmal und gründlicher zurück, so dass eine neue Schrift entstand, die dank Vermittlung von Hippius, sehr wahrscheinlich von der Reinhard-Heydrich-Stiftung finanziert, im Herbst 1944 in Druck ging. Die Studie wirkt teilweise als eine Ergänzung zu Beyers Schrift. Während sich Beyer auf Nordamerika, wo „Amalgamation“ angeblich zur „Volkwerdung“ eines ganz neuen „Volkes“ führte, und auf Assimilationsvorgänge in Ostmitteleuropa (vor allem bei Polen und Madjaren, weniger auf Tschechen und Ukrainern) konzentrierte, widmete Mühlmann seinen „globalen Blick“ auf weite Teile der Erde Eurasien (einschließlich des russischen Teils Osteuropas und Sibiriens), Asien, Afrika, Australien Ozeanien und Mittel- und Südamerika.25 Beide wichen jedoch der Analyse westeuropäischer Nationen wegen deren zu großer Komplexität des Phänomens aus. Mühlmanns Ansatz unterscheidet sich von Beyers Studie in ihrer deutlich soziologischen Fragestellung. Den Begriff „Umvolkung“ begrenzte er nur auf Assimilationsvorgänge zwischen den so genannten „reifen Völkern“ und Assimilation war für ihn im Vergleich zu Beyer der richtige Oberbegriff für ethnische Wandlung und Wechsel. Seinem Konzept zufolge sei das „Volk“ nur die höchste Stufe in der Hierarchie der ethni-

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schen Einheiten, in der weniger „reife“ und „unreife“ („vor-volkliche“) Einheiten wie Stamm, Sippe, Klan und ethnische Bande und Horden niedrigere Stufen der ethnischen und politischen Integration einnahmen.26 Diese Hierarchie war dann auch nicht Ausdruck des „Volkes“ oder der „Rasse“, sondern eines nicht näher definierten „Ethnos“, der ein Zentralbegriff seines Assimilationskonzeptes war. Mühlmann schloss damit die rassische Forschung nicht aus. Vielmehr brauchte er aus seiner ethnologischen Sicht nur den ihm zu engen Terminus „Volk“ zu erweitern. Wenn dann Ethnologie zu einer scientia prima aufgewertet wurde, sprach er auch der →Rassenbiologie neben Vor- und Frühgeschichtsforschung, Sprachwissenschaft, Volksforschung und Völkerpsychologie weiterhin eine wichtige Bedeutung zu. Nach 1945 versuchte Mühlmann die Kontinuität seiner ethnoorientierten Assimilations-Theorie (wenn auch ohne die Betonung der Rassenbiologie) mindestens in kleinen Artikeln des Großen Brockhaus’ zu behalten. Das von ihm auf Wunsch der Redaktion bearbeitete Stichwort „Umvolkung“ war nun als Synonym zum Nationalitätswechsel im Sinne des „Übergang[s] einer Person oder eines Volksteils in eine andere sprachlich-kulturelle Zugehörigkeit“ definiert. Dem Stichwort nach war ein solcher Prozess mit Anwendung planmäßiger und gewaltsamer Politik einer „herrschenden Nation“ gegenüber Bürgern einer anderen Sprache und kultureller Zugehörigkeit seit dem Aufkommen des Nationalstaats im 19. Jahrhunderts verbunden und bedeutete „einen der häufigsten Anlässe internationalen Unfriedens und inneren Spannungen“. Das Stichwort, in dem nicht einmal der Nationalsozialismus, so wie die „Umvolkungs-Praxis“ des NS-Regimes erwähnt wurde, hatte in dieser traditionellen Summa des Wissens aber eine kurze, einmalige Karriere.27

Jiří Němec

1 Hans Joachim Beyer, Umvolkung. Studien zur Frage der Assimilation und Amalgamation in Ostmitteleuropa und Übersee, Brünn u.a. 1945, S. IX. Diese umfangreiche Studie galt als verschollen. Es sind aber mindestens zwei Exemplare in den Bibliotheken in Tschechien zu finden (eines in der Prager Nationalbibliothek). Nach dem hier zitierten Exemplar aus der Bibliothek des Ethnologischen Instituts der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, das mir zugänglich war und das mehrere Verlagsstempel von Buchkorrekturen ausweist, kann man feststellen, dass die Herausgabe zwischen Oktober 1944 und Januar 1945 im Brünner Rohrer Verlag vorbereitet wurde. Ob das Buch wirklich in die Buchdistribution kam, bezweifle ich aber. 2 Hans Joachim Beyer, Um die Klärung des Volksbegriffs, in: Deutsche Volksforschung in Böhmen und Mähren 3 (1944), S. 193–214, 208. Vgl. auch ders., Rassische Kräfte in der Umvolkung, in: Deutsches Archiv für Volksforschung 6 (1942), S. 1–16. 3 Zu Hans Joachim Beyer (1909–1971) vgl. Karl-Heinz Roth, Heydrichs Professor. Historiographie des „Volkstums“ und der Massenvernichtungen. Der Fall Hans Joachim Beyer, in: Geschichtsschreibung als Legitimationswissenshaft 1918–1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 262–342; Alexander Pinwinkler, Historische Bevölkerungsforschungen. Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 2014, S. 47–73 und Beyers Porträt von Andreas Wiedemann in diesem Band des Handbuchs, S. 65–68.

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4 Kurze biographische Daten zu dem Ethnosoziologen Wilhelm Emil Mühlmann (1904–1988) vgl. Dirk Käsler, „Mühlmann, Wilhelm Emil“, in: Neue Deutsche Biographie 18 (1997), S. 292f. Onlinefassung: URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118737333.html (30.11. 1016) und zu seinen Nachkriegsarbeiten für den Brockhaus: Carsten Klingemann, Soziologie und Politik. Sozialwissenschaftliches Expertenwissen im Dritten Reich und in der früheren westdeutschen Nachkriegszeit, Wiesbaden 2009, S. 363–373. 5 Wilhelm Emil Mühlmann, Assimilation, Umvolkung, Volkwerdung. Ein globaler Überblick und ein Programm, Prag 1944, S. 104, Hans Joachim Beyer, Um die Klärung des Volksbegriffs, S. 207; ders., Umvolkung, S. 608. 6 Ähnliche Fragen stellte Beyer, Umvolkung, S. 3. 7 Vgl. Isabel Heinemann, „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neordnung Europas, Göttingen 2003. 8 Vgl. Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus, Göttingen 2014. 9 Karl C. von Loesch, Eingedeutschte, Entdeutschte und Renegaten. Ein Entwurf, in: ders. (Hg.), Volk unter Völkern. Bücher des Deutschtums, Bd. 1, Breslau 1925, S. 213–241, 222. 10 Vgl. Thomas Bryant, Friedrich Burgdörfer, in diesem Band. 11 Vgl. Stefan Goch, Wilhelm Brepohl, in: Handbuch der völkischen Wissenschaften, Bd. 1, S. 81–84 und Silke van Dyck u.a., „…daß die offizielle Soziologie versagt hat“. Zur Soziologie im Nationalsozialismus, der Geschichte ihrer Aufarbeitung und der Rolle der DGS, Wiesbaden 20152, S. 95–97, 125–126. 12 Vgl. Ursula Ferdinand, Der Geburtenrückgang als Herausforderung an die Bevölkerungswissenschaft in Deutschland, in: Rainer Mackensen (Hg. u.a.), Ursprünge, Arten und Folgen des Konstrukts „Bevölkerung“ vor, im und nach dem „Dritten Reich“. Zur Geschichte der deutschen Bevölkerungswissenschaft, Wiesbaden 2009, S. 250–257. 13 Vgl. Karl Valentin Müller, Die Gesetzmäßigkeit bei Wandlungen von sozialanthropologischem Gefüge von rassisch nahe stehenden Nachbarvölkern durch Umvolkungsprozesse, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 31 (1937), S. 326–347. 14 Hans Joachim Beyer, Zur Frage der Umvolkung, in: Auslandsdeutsche Volksforschung 1 (1937), S. 361–386, 385. 15 Nach Roth, Heydrichs Professor, S. 279 war die Tagung nur teilweise öffentlich. Es nahmen aktiv Oswald Kroh, Karl C. von Loesch, Harold Steinacker, Hans Koch, Otto Albrecht Isbert, Alfred Csallner teil. Ihre Beträge (außer den von K.C. von Loesch und H. Steinacker) wurden auch in der Zeitschrift Auslandsdeutsche Volksforschung im Jahre 1937 veröffentlicht. 16 Mühlmann, Umvolkung, Assimilation und Volkwerdung, S. 9 definierte „Umvolkungspolitik“ gegenüber „natürlichen Prozessen“ der Assimilation als Vorgang, „wenn die Assimilation von Seiten der überlegenen Gruppe gewollt war“. (Hervorhebung im Original) 17 Roth, Heydrichs Professor, S. 285. 18 Neben Andreas Wiedemann, Reinhard Heydrich Stiftung, Leipzig 2000, neuerlich zur Aufbauphase und zu Konkurrenzvorstellungen zwischen Reinhard Heydrich, Alfred Rosenberg und dem Amt des Reichsprotektors vgl. Jiří Němec, Pražská věda mezi Alfredem Rosenbergem a Reinhardem Heydrichem. K prehistorii Říšské nadace Reinharda Heydricha pro vědecká bádání v Praze [Prager Wissenschaft zwischen Alfred Rosenberg und Reinhard Heydrich. Zur Vorgeschichte der Reinhard Heydrich Reichsstiftung für wissenschaftliche Forschung in Prag], Studia Historica Brunensia 58 (2011), S. 85–105 und zusammenfassend mit kritischen Bemerkungen zur Position von K. V. Müller gegenüber Beyer vgl. Klingemann, Soziologie und Politik, S. 92–98. Für den Gesamtkontext der NSVolkstumspolitik im Protektorat siehe Detlef Brandes, „Umvolkung, Umsiedlung, rassische Bestandaufnahme“, NS-„Volkstumspolitik“ in den böhmischen Ländern, München 2012. 19 Eduard Kubů, „Die Bedeutung des deutschen Blutes im Tschechentum“. Der „wissenschaftlichpädagogische“ Beitrag des Soziologen Karl Valentin Müller zur Lösung des Problems der Germani-

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sierung Mitteleuropas, in: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 45 (2004), S. 93–114. 20 Zu Rudolf Hippius (1905–1945) vgl. Uwe Wolfradt u.a., Rudolf Hippius. Ein Völkerpsychologe zwischen Wissenschaft und Ideologie, in: Theo Herrmann (Hg. u.a.), Psychologen in autoritären Systemen, Frankfurt a.M. 2012, S. 165–181; und Uwe Wolfradt, Ethnologie und Psychologie. Die Leipziger Schule der Völkerpsychologie, Berlin 2011, S. 164–168. Im Prager Nationalarchiv befinden sich einige seiner nicht veröffentlichten Studien und Forschungsberichte zur psychologischen Erforschung der Tschechen aus Prag und Umgebung, die Hippius zwischen Juni 1943 und Juli 1944 durchführte: Nationalarchiv Prag, Bestand des Staatssekretärs im Am des Reichsprotektors, Signatur 110–4/543. 21 Othmar Feyl (1914–1999) nach 1945 in Ost-Berlin und später auch Professor für Bibliothekswissenschaft and der Humboldt-Universität, war Schüler von Beyer aus Prag und Stuttgart, der damals die Frage nach konkreten „deutschen“ Persönlichkeiten, die sich während des 19. Jahrhunderts in die tschechischen Eliten assimilierten, erforschen sollte (vgl. mehrere kleinere Beiträge in der Zeitschrift Deutsche Volksforschung in Böhmen und Mähren). 22 Beyer, Umvolkung, Vorwort ohne Seite. 23 Käsler, Mühlmann. 24 Mühlmann, Umvolkung, Assimilation, Volkwerdung, Vorwort. 25 Ebd, S. 19 wies Mühlmann auf die Beyers Arbeit indirekt hin, wenn er seine „begründete Hoffnung“ ausdrückte, dass über „Umvolkung in Europa“ von kompetenter Seite „eine ausführliche Darstellung bald erscheinen“ würde. 26 Ebd, S. 7–8. 27 Vgl. Assimilation, in: Der Grosse Brockhaus. Bd. 1, (1952), S. 448, Umvolkung, in: ebd., Bd. 11, (195216), S. 744–745. Zur Autorenschaft Mühlmanns vgl. Klingemann, Soziologie und Politik.

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Ungarische Volkstumsforschung Wenn man die ungarische Volkstumsforschung als ein ehemals dominantes Forschungsparadigma adäquat beschreiben und ihre Position im ungarischen Wissenschaftsdiskurs vor dem Zweiten Weltkrieg einschätzen möchte, dann ist es erforderlich, die folgenden zwei Aspekte zu berücksichtigen: Zum einen ist die Entwicklungsgeschichte verschiedener Disziplinen parallel zu untersuchen, zum anderen sind auch die historischen Kontexte des ungarischen Staatswesens zu beachten. Die theoretischen Leitkonzepte sowie die internationalen wissenschaftlichen Trends, welche die ungarische Forschungslandschaft in dieser Zeit prägten, reichen nicht aus, wenn es darum geht, Ziele und Profile der ungarischen Volkstumsforschung zu erfassen. Zu beachten sind daher auch jene internationalen politischen Kontexte (Entscheidungen), die im weltpolitischen Konflikt die Geschichte dieses Landes bestimmten, das als Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie den Ersten Weltkrieg verloren hatte. Die geographische Lage: Die Grenzen Ungarns stimmten bis zum Abschluss der Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg mit den „natürlichen“ Grenzen des Karpatenbeckens überein.1 Die ungarische Geographie vertrat damals in ihren Veröffentlichungen die Ansicht, es sei eine natürliche Gegebenheit, dass der ungarische Staat diesen Raum einnimmt. Ungarn verlor seine territoriale Einheit seit der Staatsgründung im Jahr 1000 n.u.Z. zwar mehrmals, sogar für mehrere Jahrhunderte, und einige Gebiete hatten unter Fremdherrschaft gestanden, aber das Karpatenbecken wurde trotzdem weitgehend als der zentrale Raum der zusammenhängenden ungarischen Staatsgeschichte betrachtet.2 Der Friedensvertrag nach dem Ersten Weltkrieg löste die historische Raumstruktur Ungarns auf und das Becken als „Raum einer 1000 Jahre währenden Staatlichkeit“ war nicht mehr vorhanden. Das Land hatte zwei Drittel seines Gebiets verloren, und ein Drittel der ungarischsprachigen Bevölkerung (3,2 Mio.) lebte nun außerhalb der neu festgelegten Staatsgrenzen.3 Die schockartige Erschütterung, die der Friedensvertrag von Trianon auslöste, brachte die ganze Gesellschaft aus dem Gleichgewicht.4 Das war ein historisches Ereignis, das nicht nur die Politik der 1920er und 1930er-Jahre, sondern auch die Wissenschaftsgemeinde herausforderte und eine Stellungnahme erforderlich machte, da eben das Geistesleben und das ideologische Denken damals wesentlich durch die Wissenschaften wie die Historiographie bestimmt waren.5 Die Geschichte: Die Volkstumsforschung war die Disziplin, die in diesem Kontext deutlicher als andere Wissenschaftszweige Stellung bezog und dabei Kulturnation anstelle der Staatsnation als Leitbegriff ins Feld führte. Elemér Mályusz, der einer der bedeutendsten Historiker dieser Zeit war, fasste 1931 das Programm der Volkstumsforschung wie folgt zusammen:6„Das Land, die Bevölkerung und die Kultur leben unter den riesigen Gewölben des Staats immer miteinander verflochten zusammen. Gemeint ist damit, dass diese Menschen nicht nur Staatsbürger waren, sondern früher auch zu gemeinsamen religiösen, kulturellen, rassischen und natio-

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nalen Gemeinschaften gehörten […] Die Hunderttausende Ungarn, die nun von uns weggestoßen wurden, sind Träger einer besonderen, volkstümlich gewordenen Kultur […]. Diese volkstümliche Kultur, die bisher im Sprachgebrauch, vor allem jedoch in dem ethnographisch erschließbaren Brauchtum zu beobachten war, ist durch eine gewisse seelische Veranlagung und ethnische Grundzüge gekennzeichnet.“7 Diese Überlegungen waren offensichtlich durch die deutsche Volkstumsforschung angeregt. Ein weiterer Impuls war der ethnische Volksbegriff, der sich während des Weltkrieges auch in Ungarn verbreitete: Die komplexen Forschungsansätze, die nach der Auflösung der staatlichen Einheit auf Grund des Friedensvertrags von Trianon die Ursprünge, das Wohngebiet und die Kultur des Ungarntums fokussierten, hatten das Ziel, das Bewusstsein einer Zusammengehörigkeit aufrechtzuerhalten. Im Gegensatz zu einem Volksbegriff, dem das Staatswesen zu Grunde lag, setzte dieses Konzept voraus, dass für eine Gesellschaft eine siedlungsspezifische, religiöse, „rassische“ und nationale Gliederung charakteristisch sei. Eine solche Vorstellung galt in dieser Zeit jedoch nicht als einzigartig, denn die politisch und ideologisch geprägten Sichtweisen waren mit einer Neuorientierung der Geschichtsschreibung verbunden. In seiner Promotionsschrift, die 1922 veröffentlicht wurde, argumentierte Mályusz beispielsweise dafür, dass die ungarischen Leibeigenen, die Ackerbau trieben, jenen Slawen kulturell überlegen seien, die von der Viehzucht lebten. Diese Arbeit verwendet topographische Zeichnungen von Siedlungen und Urbare, Abgabenlisten sowie Verzeichnisse, also zahlreiche Dokumente, die nicht als Urkunden gelten. Auf diese Weise wird die Untersuchung lokaler Gesellschaften als ein Forschungsansatz dargestellt, der die Erschließung der volkstümlichen Kultur und die Untersuchung des Alltagslebens sowie der Bevölkerungsstruktur am besten ermögliche.8 Diese Vorstellung wird in einem späteren Aufsatz des Historikers noch deutlicher auf den Punkt gebracht. Sie geht annäherungsweise auf deutsche wissenschaftliche Modelle zurück, steht aber im Gegensatz zur Territorialgeschichte (welche die politischen und verwaltungstechnischen Gegebenheiten fokussiert und eine ausgewählte territoriale Einheit der fürstlichen Macht untersucht) und zur Ortsgeschichte (Siedlungsgeschichte). Der ungarische Ansatz (helytörténet) lässt sich zwischen diesen beiden deutschen Forschungsrichtungen verorten und ist durch einen flexiblen Umgang mit staatlichen Verwaltungseinheiten charakterisiert.9 Die historische Rechtfertigung der Überlegenheit der ungarischen Kultur zeigt ideologische Ähnlichkeiten mit dem Neonationalismus der 1920er Jahre. Das wichtigste Ziel dieser Bestrebungen war nach Kuno Klebelsberg, eine „gebildete und wohlhabende“ ungarische Nation zu schaffen, wobei diese „gewichtiger“ sein sollte als die benachbarten Nationen. In Klebelsbergs Politik war die Voraussetzung für die intellektuelle und kulturelle Vormachtstellung der Ungarn im Karpatenbecken aber nicht nur die Förderung des christlichen Mittelstandes, sondern auch eine Nationalpolitik, die sich auf das Volkstum konzentriert und sich effektiv für die Volks-

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bildung einsetzt, um dadurch „das Volk auf der Basis der nationalen Kultur“ aufrechtzuerhalten.10 In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre haben sich die rechten und rechtsradikalen Ideologien verstärkt. Auch die Kämpfe um die verlorenen Gebiete (die Revisionspolitik) gewannen an Bedeutung und brachten erste Erfolge. Parallel zu diesen Entwicklungen radikalisierten sich Mályusz’ Ansichten. Von Anfang der 1940er Jahren an widmete er sich der Erforschung Siebenbürgens. Er beschäftigte sich immer intensiver mit der Besiedlung, der staatlichen und kirchlichen Verwaltung, den Veränderungen in der ethnischen Zusammensetzung sowie mit der Minderheitenpolitik. Mályusz lieferte Beweise dafür, dass die ungarische Bevölkerung dank ihrer „Volkskraft“ anderen Völkern überlegen sei und die Herrscher aus dem Königshaus der Árpáden eine bewusste Minderheitenpolitik betrieben hätten. Im Rahmen dieser Politik hätten die Könige die Dörfer im Grenzgebiet gegründet, um die Grenzen bewachen und die ungarische Bevölkerung beschützen zu können.11 Ein paar Jahre später hält Mályusz fest: „Es war dem Königreich zu verdanken, dass sich das Ungarntum verbreitet hatte und die Flusstäler und die Hügellandschaften von Siebenbürgen zum „ungarischen Volksboden“ wurden. Mit Hilfe des Königreichs konnte das ungarische Volk vor dem 13. Jahrhundert […] bis auf die hohen Gebirge, überall Fuß fassen und all jene Gebiete erobern, von denen aus es seinen Bevölkerungsüberschuss zum Zweck einer ununterbrochenen Kolonialisierung ableiten konnte.“12 In der deutschsprachigen Zusammenfassung seiner Arbeit aus dem Jahr 1940 übernahm Mályusz „auf Anregung von der jüngsten deutschen Geschichtswissenschaft“ bereits Begriffe wie Volksboden, Kulturboden, Rasse und Raum. Das bedeutet, dass seit Ende der 1930er-Jahre seine historiographische Argumentation, seine Untersuchungsmethoden sowie seine Terminologie eine sehr enge Verwandtschaft mit dem völkischen Gedankengut aufwiesen.13 Seine wissenschafts- und bildungspolitischen Bestrebungen zielten auf die Institutionalisierung der Volkstumsgeschichte ab. In seinem 1931 veröffentlichen programmatischen Aufsatz plädierte er demzufolge für die Gründung einer Zeitschrift mit dem Titel Gazdaság- és Társadalomtörténeti Szemle [Wirtschafts- und gesellschaftsgeschichtliche Rundschau]. Als Beispiel diente die Zeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die Ende des 19. Jahrhunderts gegründet wurde. In dieser Zeitschrift sollten demnach Aufsätze zur Siedlungs- und Ortsgeschichte sowie zu methodologischen Fragestellungen erscheinen. Außerdem stellte Mályusz im genannten Aufsatz auch die wichtigsten wissenschaftlichen Einrichtungen Deutschlands vor. Er schrieb beispielsweise über die im Jahr 1925 in München gegründete Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums (Deutsche Akademie), die mit dem Ziel ins Leben gerufen wurde, die Beziehungen zwischen den Deutschen im In- und Ausland zu verstärken. Anschließend betonte er noch die Bedeutung der Grundlagenforschung und wies zum Beispiel darauf hin, warum die Erforschung von Orts- und Flurnamen von Bedeutung sein könnte.14 Im

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Sinne dieser Vorstellungen verfasste Mályusz noch in demselben Jahr auch eine Denkschrift an Sándor Domanovszky (1877–1955), der in der Zeit als einer der bedeutendsten Wissenschaftler auf dem Gebiet der ungarischen Kulturgeschichte galt. In dieser Schrift plädierte Mályusz für die Einrichtung des Ungarischen Historischen Instituts (Magyar Történeti Intézet), das die Forschung im Bereich der Volkstumsund Ortsgeschichte koordinieren sollte. Ihm zufolge sei diese Maßnahme erforderlich, weil nach dem Weltkrieg die Geschichtswissenschaften der europäischen Nationen „einen heftigen Kampf miteinander führen, um mit handfesten historischen Beweisen belegen zu können, dass die Blutsverwandten der jeweiligen Nation mehr Anspruch auf ein von ihnen bewohntes Gebiet erheben dürfen als ihre Gegner.“15 Als Professor der Universität Budapest hatte Mályusz von 1934 an die Möglichkeit, die Volkstumsgeschichte in die universitäre Lehre einzuführen und den wissenschaftlichen Nachwuchs auf diesem Gebiet zu fördern. In den Jahren 1936–1937 bot er universitäre Vorlesungen an, die Titel waren „Einführung in die ungarische Volkstumsgeschichte“, „Ungarischer Volksboden im Mittelalter“ sowie „Der mittelalterliche ungarische Kulturboden“. In diesen Lehrveranstaltungen stellte er Linguistik, Ethnographie, Ethnologie und Soziologie als Disziplinen dar, die am meisten zur Erforschung des Volkstums beitragen können. Im selben Jahr gelang es ihm auch, an der Universität das Institut für das ungarische Volkstums- und Ortsgeschichte (Magyar Népiség- és Településtörténeti Intézet) einzurichten. Das Forschungsprogramm beinhaltete die Erschließung ungarischer Familiennamen und die Untersuchung von Assimilationsprozessen anhand von Urkunden. Das Institut sollte weiterhin die Forschungstätigkeiten im Bereich der Volkstumsforschung institutionell koordinieren, methodologisch betreuen und neue Impulse geben.16 Mályusz setzte sich zwar für die historische Unabhängigkeit der ungarischen Kultur ein und äußerte sein Bedenken im Zusammenhang mit der alldeutschen Bewegung, die eine östliche Expansion des Deutschtums forderte, in seinen in den 1940er-Jahren veröffentlichten Aufsätzen argumentierte er aber für ein engeres ungarischdeutsches politisches Bündnis.17 Die →Volkskunde: Nachdem das historische Herrschaftsgebiet Ungarns mit dem Ersten Weltkrieg aufgelöst worden war, gewann die Volkskunde immer mehr an wissenschaftspolitischer Bedeutung und forderte sogar den Status einer „nationalen“ Wissenschaft ein. Der Grund war vor allem das Fortbestehen einer Forschungstradition, die immer noch der Kategorie Kulturnation verpflichtet war. Dabei wurde weiterhin die Autonomie der ungarischen Kultur propagiert und eine ethnische Kontinuität des Ungarntums über die Landesgrenzen hinaus betont. István Bibó (1911–1979), der in der Mitte des 20. Jahrhunderts als der hervorragendste Wissenschaftler der ungarischen Ideengeschichte galt, beschrieb in einer zusammenfassenden Analyse über die Zwischenkriegszeit die Rolle der ungarischen Volkskunde nach dem Friedensvertrag. Er hält diesbezüglich fest, dass die Volkskunde die wichtigste Disziplin sei, die sich der Erforschung des Ungarntums widme und sie deshalb zu einer Wissenschaft des ungarischen Schicksals („sorstudomány“) avan-

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ciere. Nach Bibó hätten die ungarischen Wissenschaftler der 1920er-Jahre die Meinung vertreten, dass „sich der kulturelle Zustand der ungarischen Nation in einer Krise befindet; das Ungarntum mit seiner besonderen Ausprägung, seinem tiefsinnigen Charakter und mit seinen Aufgaben in Widerspruch geraten ist, oder mindestens eine Verunsicherung erlebte. Folglich habe es seine gewöhnliche Beziehung, sein ungestörtes Verhältnis zu diesen Eigenschaften sowie seine gleichmäßige Ausprägung verloren. Da es notwendig ist, diesen Zustand wiederzufinden und wiederherzustellen, muss das richtige, originale Ungarntum, der reine ungarische Charakter, die ursprüngliche ungarische Kultur gefunden und erschlossen werden. Am wichtigsten ist in dieser Hinsicht die Erkundung des Bauerntums, weil das Bauerntum die reinsten und am wenigsten verstellten Formen des Ungarntums, des ungarischen Charakters, des ungarischen Verhaltens und Schöpfergeistes spontan und in ihrer einzigartigen Entwicklung bewahrt, im Gegensatz zu anderen Schichten der Nation, die gemischter und unruhiger sind.“18 Dieses Programm, das die Erforschung des gesamten ungarischen Sprachraums auf Grund einer grenzübergreifenden kulturell-ethnischen Einheit, über die Staatsgrenzen nach dem Friedensvertrag hinaus zum Ziel hatte, führte zu einer verstärkten Hinwendung zur Volkskultur. Betont wurde zugleich, dass die Volkskultur eine Erneuerung der nationalen Kultur ermöglichen kann. Darüber hinaus standen diese Bestrebungen auch in einem „natürlichen“ Einklang mit der offiziellen ungarischen Kulturpolitik. Dass die Bauernkultur eng mit dem jeweiligen Ort und Raum verbunden ist, wurde deswegen so stark betont, weil das Forschungsprogramm so gut wie keine theoretischen Grundlagen hatte. Dieses Defizit hatte in diesem Fall aber eine positive Wirkung auf die grundsätzlich beschreibende Volkskunde. Es wurde nämlich dadurch die Ausgangsthese bestätigt, dass die ungarische Kultur und die geographische Umgebung untrennbar miteinander verflochten seien. Die Vorstellung, dass die ethnischen Bevölkerungsgruppen als kulturstiftende Völker im Raum oder in einer Landschaft vorhanden seien, regte auch die ungarische Volkskunde, Geschichtswissenschaft und Geographie der Zwischenkriegszeit an. Diese Disziplinen versuchten folglich, mit geographisch, ethnographisch und historisch fundierten Argumenten nachzuweisen, dass das „Kerngebiet“ der ungarischen Kultur über hervorragende kulturstiftende Eigenschaften verfüge.19 In der Zwischenkriegszeit führte dies zu einer Verzahnung der Volkstumsgeschichte und der Volkskunde. Zu beobachten ist diese Entwicklung in mehreren Aufsätzen des prominentesten Ethnographen dieser Epoche, István Györffy (1884– 1939). Seine Arbeiten über Landschaften oder Völkergruppen zeigen eine Verknüpfung dieser Disziplinen. Ebenso bezeichnend ist, dass er bereits in den 1910er-Jahren Katasterpläne als Quelle für siedlungsgeschichtliche, volkskundliche und linguistische Untersuchungen erkannte. Seine Auseinandersetzung mit Flurnamen und seine geographischen Kenntnisse dienten auch als Vorbereitung auf spätere Arbeiten. Des Weiteren ergänzte er in einer Arbeit seine ethnographischen und geographischen Erkenntnisse auch mit einer Analyse von historischen Quellen und

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Verzeichnisse von Leibeigenen und sonstige Aufzeichnungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert in die Untersuchung einbezogen. In der genannten Arbeit, welche die Volkskultur des Ungarntums im Grenzgebiet zwischen der Ungarischen Tiefebene und Siebenbürgen, im Tal der Schwarzen Kreisch, zum Gegenstand hatte, wurden auch Familiennamen untersucht. Für Györffy bedeutete die umfassende Erschließung eines Gebiets die ausschließliche Grundlage für die Erkenntnisse der Volkskunde und der Volkstumsforschung. Mit seinen weiteren Arbeiten zur Geschichte von ethnischen Bevölkerungsgruppen verfolgte er das Ziel, die Rolle, wie die Ungarn ihre führende Position erkämpft oder verloren hatten, in den Mittelpunkt der Diskussionen zu rücken und diese als „Schicksalsfragen“ erscheinen zu lassen.20 Nicht nur die geographische Lage der genannten Regionen und Siedlungen erkundete er dabei, sondern auch die Ansiedlung, innere Migration, demographische Verhältnisse sowie die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontakte der einzelnen ethnischen Bevölkerungsgruppen und Völker. Die wissenschaftspolitischen Ansprüche der Volkskunde beschleunigten auch ihre Institutionalisierung. An den Universitäten in und außerhalb der Hauptstadt wurden Lehrstühle gegründet und auch das Ethnographische Museum war immer enger mit der Forschungslandschaft vernetzt. Die Ungarische Gesellschaft für Ethnographie setzte sich ebenfalls intensiv mit „sozialen und politischen Fragen im Zusammenhang mit dem ungarischen Volk, der ungarischen Nation und dem Gesamtgebiet Ungarns“ auseinander. Deshalb glaubten die Gesellschaftswissenschaftler, sich in diesem institutionellen Rahmen durchsetzen zu können. Am Ende der 1930er-Jahre wurden das Zentrum für Landschafts- und Volksforschung (Táj- és Népkutató Központ) und zahlreiche regionale Forschungsinstitute außerhalb der Hauptstadt (in Siebenbürgen, in Transdanubien und in der Tiefebene) gegründet. Weiterhin wurde das Institut für die Erforschung des Ungarntums (Magyarságtudományi Intézet) aufgestellt, das in der ethnographischen Forschung eine Schlüsselposition hatte und später zum Zentrum der Hungarologie wurde.21 (Diese Aktivitäten gerieten frühzeitig in das Visier der →Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft und der SS.) Die Geographie: Eine tief verwurzelte Besonderheit der ungarischen Geographie besteht darin, dass die Ungarn in einer engen Verbindung zu ihrer „natürlichen“ Umgebung, zur Landschaft dargestellt werden und man dabei von der These ausgeht, dass „diese Geschichte, die Kultur zwangsläufig nur hier und nur auf die Art und Weise“ hervorgehen konnte. In der Zwischenkriegszeit wurde es die wichtigste Aufgabe der ungarischen Geographie, eine harmonische Konstellation von Staatsterritorium – natürlicher Umgebung – und historischer Zeit nachzuweisen, das Karpatenbecken als einen idealen Raum zu positionieren, der sich nicht aufteilen lässt und in dem die ungarische Staatlichkeit seit tausend Jahren kontinuierlich besteht. Im wissenschaftlichen Denken war das Leitkonzept damals der Ratzel’sche Determinismus. Nach diesem seien historische Entwicklungen zwangsläufig von der Entstehung der geographischen Umgebung (vom Karpatenbecken) abhängig, oder

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die Art und Weise, wie die ungarische Nation diese Landschaft besiedelt hatte, ergebe sich aus den räumlichen Verhältnissen. Nach der Erschütterung, die der Vertrag von Trianon auslöste, erhielten die Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Landschaft-Raum-Nation in der ungarischen Geographie hohe Aufmerksamkeit. Die enge (auch verhängnisvolle) Verbindung dieser Aspekte stand im Mittelpunkt der Zwischenkriegszeit. Die landschaftskundlichen Argumente, dass es einen ungarischen politisch-nationalen Raum gebe, sind in diesem Zusammenhang sinnvoll und nachvollziehbar, weil die Karpaten und das von diesem Gebirge umschlossene Gebiet für die Ungarn immer mehr als bloße geographische Gegebenheiten darstellten. Dieser Raum verfügte schon immer über einen besonderen Status. Die Vorstellung, dass die tausend Jahre währende ungarische Staatlichkeit des „Heiligen Stefan“ eine „sakrale Einheit“ bilde, setzte sich nach 1920 besonders stark durch.22 Die Geographie samt ihrer Bezugswissenschaften wie die Statistik und die Kartographie stellte den politischen Entscheidungsträgern „wissenschaftliche“ Argumente zur Verfügung und beriefen sich auf die Rigorosität der Naturwissenschaften, um dadurch die Unanfechtbarkeit der ungarischen Staatsgrenzen und die Unverletzlichkeit der Siedlungsgebiete der ungarischen Bevölkerungsgruppe zu legitimieren.23 Die ungarische Geographie der Zwischenkriegszeit konnte sich seit den 1930er Jahren nicht länger verweigern, Stellung zum Friedensvertrag von Trianon zu beziehen und war deshalb gezwungen, auch ihre eigene Position im Hinblick auf die neue Situation zu revidieren. Das neu formulierte Selbstverständnis der Geographie lässt sich wie folgt zusammenfassen: nichts änderte sich. Demnach gebe es keine physischen und/oder humangeographischen Gründe, die es erforderlich machen würden, das infolge des Ersten Weltkriegs kleiner gewordene, „neue“ Staatsgebiet als eine geographische Einheit anzuerkennen. Diese Einstellung impliziert auch, dass man („wir, Geographen, die nun mit jener neuen Situation konfrontiert sind, die dadurch entstand, dass ein Großteil des Landesterritoriums verloren gegangen ist“) die Situation aus dem umgekehrten Blickwinkel betrachten sollte. Demzufolge bestehe die Aufgabe nicht darin, das neu entstandene Staatsgebilde zu beschreiben und seine räumlichen Verhältnisse zu analysieren, sondern eben die Stabilität und die Einheitlichkeit des früheren Zustandes sollte aufgezeigt werden, indem weitere Argumente anzuführen seien und es die inakzeptable neue Situation hervorzuheben gelte. Die Geographie sollte demnach einfach die gegenwärtigen Umstände „unberücksichtigt lassen“ und die geographischen Zusammenhänge zwischen Territorium und Staat in einem größeren Kontext sichtbar machen. Es entstanden deshalb komplementäre Raumkonzepte, aber auch jene, die sich aus mehreren Ansätzen zusammensetzten. Einige Konzepte waren auf konkrete politische Erwartungen zurückzuführen und wurden quasi „auf Bestellung“ erarbeitet. In anderen Fällen haben die politischen Entscheidungsträger die Ergebnisse der wissenschaftlichen Grundlagenforschung für ihre Zwecke missbraucht. Als Beispiel für die Verflechtung von Politik und Wissenschaft kann man Pál Teleki (1879–1941) nennen, der als Ministerpräsident mehrmals eine Machtposition innehatte (1920–1921; 1939–1941), aber gleichzei-

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tig auch die kartographischen Arbeiten koordinierte, deren Ergebnisse er dann verwenden wollte, um seine politischen Ziele durchzusetzen.24 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert entwarf die ethnische Kartographie zahlreiche neue Landkarten, die sich durch immer feinere Darstellungstechniken auszeichneten. Dass die ethnischen Karten nach dem Ersten Weltkrieg explizit zu politischen Zwecken erstellt wurden, ist weitläufig bekannt, da es eben der Ministerpräsident und Geograph Pál Teleki war, der später eine solche Motivation in seinen Schriften bestätigte. Die Volkstumskarten erzeugten die Illusion, ethnische Grenzen würden bei einer künftigen Revision der Staatsgrenzen berücksichtigt. Der Grund war, dass auf diesen Karten die ethnischen Grenzen auf Grund von Statistiken markiert wurden, die mehr oder weniger zuverlässige Informationen über die sprachliche und/oder ethnische Zusammensetzung lieferten. Obwohl die mit unterschiedlichen Darstellungsverfahren erstellten und plastischen Karten über die ethnischen Verhältnisse bereits im Jahr 1920 bei den Friedensverhandlungen zur Verfügung standen, hatten diese Karten im Endeffekt die Festlegung der Staatsgrenzen nicht beeinflusst. Die ethnische Zusammensetzung wurde im Vertrag von Trianon für die österreichisch-ungarische Monarchie weiter nicht berücksichtigt.25 In diesem Zusammenhang ist die Gründung 1926 des Instituts für Staatswissenschaft (Államtudományi Intézet) durch Pál Teleki zu sehen. Als Wissenschaftler, aber in erster Linie auch als Politiker erkannte er, dass bei den Entscheidungen nach dem Ersten Weltkrieg ethnische Karten und Statistiken keinerlei Rolle gespielt hatten. Telekis Motivation war die Angst davor, dass man in einer künftigen Revisionsverhandlung die ethnische Raumstruktur möglicherweise wieder nicht berücksichtigen würde. Der wichtigste Auftrag des Instituts war deshalb, für eine eventuelle Grenzrevision Karten vorzulegen, die möglichst genau und mit vielfältigen Darstellungsverfahren die ethnischen Verhältnisse veranschaulichen und auf frühmöglichsten Erhebungen beruhen. Die Karten sollten also tatsächlich eine politische Funktion erfüllen. Seit der Entstehung der modernen europäischen Nationalstaaten ist zu beobachten, dass Karten und Statistiken, welche die ethnischen und sprachlichen Verhältnisse darstellen, entweder von vornherein ideologisch geprägt waren, oder eine politische nationalstaatliche Instrumentalisierung ermöglichten und bis heute ermöglichen. Karten arbeiten nämlich mit Techniken (bildliche und zeichenhafte Darstellungsweisen, intensive Verallgemeinerung), die eine solche Funktionalisierung begünstigen. Die Kartographen, die diese ethnischen Karten entwarfen, versuchten zum Beispiel möglichst eindrucksvolle Visualisierungen zu finden. Es wurden zahlreiche Abhandlungen und Bücher veröffentlicht, in denen die verschiedenen Verfahren der ethnischen Kartographie beschrieben und die Vor- und Nachteile der einzelnen Methoden erläutert wurden. Aus der Geschichte der ethnischen Kartographie ist es auch ersichtlich, dass die Ergebnisse dieser Disziplin auch dann beliebige Interpretationen ermöglichen und politisch funktionalisierbar sind, wenn die Karten wissenschaftlich weitgehend korrekt und objektiv entworfen werden, weil es keine ethnischen Karten gibt, die als neutral zu bezeichnen wären. In einem Aufsatz

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räumt Teleki sogar ein, dass es unmöglich sei, eine für alle akzeptable, „politisch neutrale“ Karte von Mitteleuropa zu erstellen, auch wenn man alles Mögliche tun würde, die wissenschaftliche Objektivität zu bewahren. Die fundamentalen Gegensätze zwischen den Völkern sollten sich nämlich in diesem Raum daraus ergeben, dass die ethnischen und staatlichen Grenzen nicht miteinander übereinstimmen.26 In den 1930er und 1940er-Jahren veröffentlichten nicht nur Pál Teleki und András Rónai (1906–1991) Aufsätze über die kartographische Praxis der Zeit. Auch Imre Jakabffy (1915–2006) realisierte ebenfalls ethnische Karten mit diesen Methoden. Es gibt zwar keine Analysen, die sich explizit mit den optischen und psychologischen Aspekten auseinandersetzen, aber die Zeichensprache und die Farben der kartographischen Darstellung sind feste Bestandteile dieser wissenschaftlichen Tradition. Die verschiedenen Diagramme, Darstellungsformen (Kreise, Kugeln, Würfel, Säulen) können Laien, die sich mit Karten nicht auskennen, leicht irreführen. Die Farbtöne lösen eine irrationale, emotionale Wirkung aus, indem der Eindruck erweckt wird, die räumlichen Verhältnisse der einzelnen ethnischen Bevölkerungsgruppen entsprächen nicht ihrer „Fähigkeit, sich in einem Raum behaupten zu können“, als die Angaben das nahelegen würden.27 Diese Volkstumskarten gelten deshalb in der kartographischen Tradition grundsätzlich nicht als wissenschaftlich. Die ethnische Kartographie ist lediglich eine „bildstatistische Methode“ – ein Begriff, den der österreichische Gesellschaftstheoretiker Otto Neurath prägte. Ein Darstellungsverfahren, das benutzt wird, „wenn Bilder beim Ausdruck einer Idee mehr versprechen als Worte“.28 Der Austausch zwischen deutschen und ungarischen Wissenschaftlern war in der Zwischenkriegszeit durch mehrere Bruchlinien gekennzeichnet, was die zeitlichen Verhältnisse und die thematischen Schwerpunkte angeht. Die ungarischen Vertreter der Volkstumsforschung hatten ein ambivalentes Verhältnis zu den deutschen Forschungen, die eine ähnliche Ausrichtung hatten.29 Einerseits erkannten die ungarischen Wissenschaftler jene ideologisch geprägten Raumkonzepte der deutschen Wissenschaft an, die als Reaktion auf den „Schock von Versailles“ hervorgebracht wurden. Sie versuchten, diese Ansätze auf die ungarischen Verhältnisse zu übertragen und dadurch die Ungerechtigkeit der Beschlüsse von Trianon auszuleuchten. Andererseits konnten sich die ungarischen Wissenschaftler nicht mit diesen primären Konzepten zufrieden geben, die sich auf die räumlichen Verhältnisse als Ganzes bezogen. Sie mussten sich auch mit jenen Aspekten des Friedensvertrags auseinandersetzen, die zwar als sekundär erscheinen mögen, aber die größten, traumatischen Konsequenzen hatten. Die ungarische Bildungselite war nämlich nach dem Vertrag von Trianon auch mit einer neuen demographischen Situation konfrontiert, die im Vergleich zu früheren Epochen der ungarischen Geschichte völlig anders war und schwerwiegende Folgen hatte. Das bedeutete, dass sich große ungarische Bevölkerungsgruppen infolge der 1920 festgelegten Grenzen unfreiwillig in einem Minderheitenstatus befanden. Es war plötzlich eine enorm schwere Herausforderung für die ganze wissenschaftliche Gemeinde und die Bil-

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dungselite. Die ungarische Bevölkerung und die politische Elite Ungarns verlangten eine Stellungnahme: „Was lässt sich doch nun noch machen?“ Dass die Volkskunde und die Geographie zur Untersuchung der ungarischen kulturellen Verhältnisse eben die theoretischen und methodologischen Ansätze der deutschen Wissenschaft aufgegriffen hatten, war in dieser Situation eine „natürliche“ Entscheidung, weil die ungarisch-deutschen wissenschaftlichen Kontakte in der Zeit sowieso stark waren. Die deutsche Geographie und Volkskunde haben nach der Reichsgründung, um die Jahrhundertwende wissenschaftliche Zugänge herausgearbeitet, die in methodischer und terminologischer Hinsicht immer einheitlicher geworden sind und mit denen sich die Situation des sogenannten „Auslandsdeutschtums“ darstellen ließ. Wenn es also darum ging, Argumente gegen die Auflösung des ungarischen Staatsraumes anzuführen und zu erklären, warum diese Entscheidung unhaltbar sei, lieferten völkische Wissenschaftler mit ihren Reaktionen auf den Schock von Versailles gute Beispiele. Wenn die ungarischen Geographen, von denen die meisten sehr gute Deutschkenntnisse hatten, Studienaufenthalte im Ausland absolvierten und sich in der deutschsprachigen Fachliteratur auskannten, nahmen sie folglich diese Impulse aus der deutschen Forschungslandschaft auf. Die ungarische Volkstumsforschung übernahm – zwar nicht ausschließlich – aber in erster Linie von der deutschsprachigen völkischen Wissenschaft jene Positionen und Fachbegriffe, mit denen sich die Entwicklungsgeschichte und die kulturelle Situation der ungarischen Minderheitengruppen beschreiben ließen.30 Während die disziplinären Querverbindungen in den 1920er Jahren noch relativ übersichtlich waren, kommt es nach Hitlers Machtergreifung (1933), als allmählich „wissenschaftliche“ Ansätze zur Legitimierung nationalsozialistischer Territorialansprüche entwickelt wurden, zu einem komplexen Verhältnis. Die theoretischen Zugänge (die volkskundliche Sprachinselforschung), die eine untrennbare kulturelle Einheit der deutschen Heimat (Mutterland) und der deutschen Bevölkerungsgruppen außerhalb der Staatsgrenzen (Volkskörper) propagierten, haben die ungarischen Wissenschaftler weiterhin positiv aufgenommen und zur Untersuchung der nach 1920 entstandenen ungarischen Minderheitengruppen verwendet. Gleichzeitig beobachtete die ungarische wissenschaftliche Gemeinde aber mit wachsendem Misstrauen, wie Deutschland eben im Sinne der Volkstumspolitik Überlegungen anstellte, welche Rolle die ungarndeutsche Bevölkerung künftig im „Großdeutschen Reich“ spielen sollte. Der Volksbund in Ungarn und die Forschungseinrichtungen, die in Deutschland tätig waren und sich mit der Erforschung des Auslandsdeutschtums beschäftigten, strebten mit den ungarischen Wissenschaftlern eine möglichst enge Zusammenarbeit an, um ihre Interessen besser durchsetzen zu können.31 Die Volkstumsforscher an der Universität Wien →Otto Brunner und →Hugo Hassinger knüpften vorsichtig Kontakt zu ungarischen Geographen, um herauszufinden, ob sie deutschfreundlich und kooperationsbereit sind oder eine Zusammenarbeit eher ablehnen.32 In einem Bericht an das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) schätzte Hugo Hassinger zum Beispiel, dass 16 ungarische Geographen zuverlässig seien,

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wenn man die reichsdeutschen Interessen berücksichtige. Während Hassinger vorschlug, dass Rezső Milleker (1887–1945), der die deutschen Entwicklungen bedingungslos begrüßte, den Prinz-Eugen-Preis erhalten solle, stufte er Károly Kogutowicz (1886–1948) und Ferenc Fodor (1887–1962) negativ ein und bezeichnete sie als Juden. Jenő Cholnoky (1870–1950) und Mihály Haltenberger (1888–1972) wurden ebenfalls als deutschfeindlich beschrieben. Wenn man also die Ziele der deutschen Volkstumspolitik in Ungarn durchsetzen wolle, würden die dominanten Forschungsrichtungen der ungarischen Geographie Hindernisse darstellen, so Hassinger.33 Eine Verstärkung des wissenschaftlichen Austausches konnte man jedoch nicht vermeiden, denn die ungarische Geographie und Kartographie hatten zur Vorbereitung des Ersten (1938) und Zweiten (1940) Wiener Schiedsspruchs einen wichtigen Beitrag geleistet und diese Neuregelungen der Staatsgrenzen erfolgten jeweils unter deutscher Führung. Auch wenn man diese historische Situation mit den häufig verwendeten und inzwischen kanonisierten Begrifflichkeiten der ungarischen Geschichtsschreibung charakterisiert und mit Ausdrücken wie „Handlungsraum und Zwangslage“ operiert, kann man Folgendes festhalten: obwohl die ungarischen Wissenschaftler die Territorialansprüche des Deutschen Reiches mit großem Bedenken und Misstrauen wahrnahmen, wurden die deutsch-ungarischen Beziehungen zwangsläufig doch stärker und enger und die Handlungsspielräume der ungarischen Wissenschaft wesentlich eingeschränkt. Die „Verstärkung des Austausches“ bedeutete, dass die deutschen Volkstumsforscher zum Beispiel das Archiv des Instituts für Staatswissenschaft frei benutzen konnten. Später, als Ungarn in den Zweiten Weltkrieg eingetreten war, konnten die deutschen Wissenschaftler auch Feldforschungen durchführen, um die Ergebnisse der ungarischen Volkszählung im Hinblick auf die ethnische und sprachliche Zusammensetzung der Bevölkerung zu überprüfen. Über die bereits erwähnten Wissenschaftler hinaus haben noch die folgenden Personen in ungarischen Archiven und Sammlungen geforscht: →Karl Christian von Loesch, der die institutionellen Rahmenbedingungen für die Volkstumsforschung des Reichsführers SS schuf; →Fritz Valjavec vom Südost-Institut München; der Historiker und Geograph →Wilfried Krallert, Leiter der Abteilung des →RSHA VI G sowie →Hermann Aubin, der sich für die Erforschung der deutschen Volksgeschichte im östlichen Teil Europas einsetzte. Die Besorgnis wurde nicht nur in der ungarischen Politik, sondern auch in der ungarischen Geographie immer größer, weil sich die Raumkonzepte der nationalsozialistischen Geopolitik radikalisierten.34 Die ungarischen Geographen und Kartographen befürchteten zu Recht, dass die Forschungstätigkeiten und -ziele der NSStatistiker, Geographen und Volkskundler, die sich mit deutschen Bevölkerungsgruppen in Ungarn beschäftigten, eine Wiedereingliederung der abgetretenen Gebiete gefährden könnten. Während des Zweiten Weltkrieges wollte man mit der Unterstützung des Volksbundes „die räumliche Gebundenheit“ und „die Lebensfähigkeit“ des Deutschtums in Ungarn erforschen sowie das Größenverhältnis der deutschen Bevölkerungsgruppe möglichst genau ermitteln, um den Personenkreis zu er-

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weitern, der für die Waffen-SS rekrutiert werden könne. Außerdem wurde auch die geographische Verteilung der deutschen Bevölkerungsgruppen mit Hilfe der ethnischen Kartographie bestimmt.35 Fakt ist jedoch, dass die verstärkte Zusammenarbeit und Anwesenheit der deutschen Wissenschaftler in Ungarn während des Zweiten Weltkrieges auch für die ungarischen Wissenschaftler Vorteile hatte. Die ungarischen Forscher versuchten dabei, gute Kontakte zu ihren deutschen Kollegen zu pflegen, auch wenn die Bedenken gegenüber der deutschen Volkstumspolitik latent doch vorhanden waren. Auf Grund der Nachlässe (Briefe, Memoiren, Interviews) kann man darauf schließen, dass die deutsch-ungarischen wissenschaftlichen Beziehungen grundsätzlich durch gegenseitige Hilfsbereitschaft gekennzeichnet waren.36 In der ungarischen Geschichtsschreibung und in der Wissenschaftsgeschichte der ungarischen Geographie wird seit Jahrzehnten darüber diskutiert, wie die politischen und die „rein“ wissenschaftlichen (also vermeintlich unschuldigen) Aspekte auseinandergehalten werden können, wenn man Telekis Tätigkeiten beurteilt. Sogar Teleki selbst äußerte sich zu dieser Ambivalenz, die sich aus seinen gleichzeitig ausgeübten und widersprüchlichen Tätigkeiten ergab. Seit Mitte der 1930er-Jahre sprach sich Teleki als Politiker im Zusammenhang mit der veränderten ethnischen Zusammensetzung des Landes immer schärfer gegen die ungarischen Juden aus – ebenso wie sich die Ansichten von Mályusz mit der Zeit radikalisierten. Teleki versuchte aber gerade mit einer „wissenschaftlichen“ Argumentation zu beweisen, dass seine Entscheidungen über die Tagespolitik hinausgingen und er als Wissenschaftler Stellung beziehe, wenn er als Ministerpräsident Gesetzentwürfe einbringe.37 Das war der Fall, als das zweite Judengesetz (1938) verabschiedet wurde und als er ein weiteres, drittes Gesetz vorschlug, das jedoch wegen seines Todes nicht mehr vom Parlament diskutiert wurde. Teleki erklärte die Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit des Gesetzes mit der wissenschaftlichen Überzeugung und Vorstellungüber die gesellschaftliche Relevanz der Kategorien „Rasse und Blut“.38 Sein Gedankengang ist kaum nachvollziehbar und erinnert eher an die antisemitischen Auslassungen des deutschen Geographen Siegfried Passarges über das Judentum in der deutschen Landschaft. In diesem Zusammenhang ist es auf jeden Fall festzuhalten, dass die Argumente seines „wissenschaftlichen →Antisemitismus“ in seiner sogenannten synthetischen Landschaftskunde anzutreffen sind. Mit diesen Argumenten rechtfertigte er die gesellschaftliche Ausgrenzung der Juden – gemeint waren dabei vor allem die Juden, die nicht assimiliert waren –, also ihre kulturellen Unterschiede bewahrt haben und aus Galizien stammten. Der Politiker und Geograph nahm nämlich eine organische Einheit an, die sich einerseits aus der Landschaft als natürliche Umgebung, andererseits aus biologischen und gesellschaftlichen Eigenschaften zusammensetze. In diesem Sinne stelle die Landschaft eine organische Synthese dar, in der natürliche und kulturelle Gegebenheiten nicht voneinander zu trennen seien. Anhand dieser Vorstellung arbeitete Teleki die These heraus, dass das ungarischen Blut, die Rasse, die Seele und die Landschaft in einer natürlichen Harmonie

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vorhanden seien. In diesen Gedanken kann man jene Rassenvorstellung wiedererkennen, die auf biologischen Fakten beruhte und die Teleki von Arthur de Gobineau sowie von →Houston Stewart Chamberlain übernommen hatte.39 Der Politiker und Geograph kommt mit diesem Ansatz dem als „wissenschaftlich“ positionierten NSJudenbegriff nahe.40

Róbert Keményfi/Tamás Csíki

1 Die ungarische Geographie ließ die Staatsgrenzen als natürliche Notwendigkeiten und daher als unbestreitbar und nicht als Ergebnis historischer Entwicklungen und Verträge erscheinen, denn diese Grenzen stimmten scheinbar einerseits mit der Gebirgskette der Karpaten, andererseits mit Flüssen im Süden überein. 2 Für einen umfassenden Überblick über die ungarische Geschichte siehe: László Kontler, A History of Hungary, Palgrave 2006; István György Tóth (ed.), A Concise History of Hungary, Budapest 2005. 3 Für Angaben zur ethnischen Zusammensetzung in der Zeit in Ungarn sowie zur geographischen Verteilung von Völkergruppen vgl. Károly Kocsis et al., Ethnic Geography of the Hungarian Minorities in the Carpathian Basin, Budapest 1998. 4 Die ungarische Delegation unterzeichnete den Friedensvertrag am 4. Juni 1920 im Schloss Grand Trianon (Versailles). Sowohl im ungarischen Wissenschaftsdiskurs wie in öffentlichen Diskussionen ist der Schlossname ein Inbegriff für all die Verluste, die Ungarn auf Grund der im Friedensvertrag festgelegten Forderungen der Siegermächte hinnehmen musste. 5 Ignác Romsics, The Dismantling of Historic Hungary: The Peace Treaty of Trianon 1920, Boulder 2002; ders., Hungary in the Twentieth Century, Budapest 1999. 6 Elemér Mályusz (1898–1989). Nachdem er seine Studien abgeschlossen und einen Forschungsaufenthalt im Wiener Archiv absolviert hatte, war er von 1922 bis 1930 Mitarbeiter des Ungarischen Staatsarchivs. Er war Professor zwischen 1930 und 1934 an der Universität Szeged und zwischen 1934 und 1945 an der Universität Budapest. Im Jahre 1945 wurde er wegen seiner politischen Ansichten gezwungen, in die Rente zu gehen. Zwischen 1947 und 1954 arbeitete er im Archiv der evangelischen Kirche. Von 1954 bis 1968 Mitarbeiter des Instituts für Geschichtswissenschaft der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Als Wissenschaftler setzte er sich mit fast allen Epochen der ungarischen Geschichte auseinander und erforschte dabei ausführlich die Kultur- und Kirchengeschichte. 7 Elemér Mályusz, A népiségtörténete [Volkstumsgeschichte], in: Bálint Hóman (Hg.), A magyar történetírás új útjai [Neue Wege der ungarischen Geschichtsschreibung], Budapest 1931, S. 238–239. 8 Elemér Mályusz, Turóc megye kialakulása [Die Entstehung des Komitats Turz], Budapest 1922. 9 Elemér Mályusz, A helytörténeti kutatás feladatai [Die Aufgaben der ortsgeschichtlichen Forschung]. Századok [Jahrhunderte] 58 (1924), S. 538, 543–552, 555–556, 560. 10 Kuno Klebelsberg (1875–1932) Rechtsgelehrter, Landtagsabgeordneter, zwischen 1922 und 1931 als Kultusminister tätig. Im Mittelpunkt seiner Bildungspolitik standen folgende Bestrebungen: die Erweiterung des Netzwerkes von Volksschulen, die Modernisierung der Sekundarstufe sowie die Erneuerung der Lehrerausbildung. Er rief zum Zweck der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung in Wien, Berlin und Rom ungarische Kulturinstitute ins Leben. Diese Einrichtungen nennen sich Collegium Hungaricum. Kuno Klebelsberg, Ungarische Kulturpolitik nach dem Kriege, Berlin u.a. 1925; Ferenc Glatz, Historiography, Cultural Policy, and the Organization of Scholarship in Hungary in the 1920’s, Budapest 1970, S. 273–293. 11 Elemér Mályusz, A magyarság és a nemzetiségek Mohács előtt [Das Ungarntum und die ethnischen Minderheiten vor der Schlacht bei Mohács (1526)], in: Sándor Domanovszky (Hg.), Magyar

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Művelődéstörténet. Bd. 2, Budapest 1939, S. 105–124; Elemér Mályusz, A középkori magyar nemzetiségi politika [Die ungarische Volkstumspolitik im Mittelalter], in: Századok 73 (1939), S. 257–294, 385–448, Vilmos Erős, Ein Bahnbrecher der modernen Gesellschaftsgeschichte (Elemér Mályusz) in: Mikes International 14 (2014) 4. S. 47–49. 12 Dieser Aufsatz ist auch in deutscher Sprache erschienen. Elemér Mályusz, Das Ungartum im mittelalterlichen Siebenbürgen, in: Siebenbürgen und seine Völker, Budapest u.a. 1944, S. 36–75; zitiert nach Vilmos Erős, A Szekfű–Mályusz vita [Die Debatte zwischen Szekfű und Mályusz], Debrecen 2000, S. 71. 13 Elemér Mályusz, Geschichte des ungarischen Volkstums von der Landnahme bis zum Ausgang des Mittelalters, Budapest 1940; Vilmos Erős, Ethnohistory in Hungary (Elemér Mályusz und Szabó István), in: Journal of Eurasian Studies (2015), S. 17–36. 14 Mályusz, A népiség, S. 245–246, 265, 268. 15 Vilmos Erős, Mályusz Elemér feljegyzése egy Magyar Történeti Intézet felállításáról [Das Memorandum von Elemér Mályusz über die Einrichtung des Ungarischen Historischen Instituts], Töreténelmi Szemle 1998, S. 114–126; vgl. Márta Fata, Elemér Mályusz und die Begründung der modernen Lokalgeschichte, in: H. Fassel (Hg. u.a.), Regionen im östlichen Europa – Kontinuitäten, Zäsuren und Perspektiven, Tübinger Geographische Studien (2000) 128, S. 225–233; Vilmos Erős, Ein Wegbereiter der modernen gesellschaftsgeschichtlichen Forschung in Ungarn: Elemér Mályusz (1898– 1989), in: Ungarn–Jahrbuch, Bd. 32 (2014/2015) Regensburg 2016, 229–241. 16 Elemér Mályusz, A magyar történettudomány [Ungarische Geschichtswissenschaft], Budapest 1942, Vilmos Erős, A Szekfű–Mályusz, S. 69–70. 17 Vgl. Elemér Mályusz, A magyar történettudomány [Die ungarische Geschichtswissenschaft], Budapest 1942, Vilmos Erős, A Szekfű–Mályusz, S. 114–116. 18 István Bibó, A magyarságtudományok problémája [Zur Problematik der Ungarntumsforschung], in: István Bibó, Válogatott tanulmányok II [Ausgewählte Schriften Bd. 2], Budapest 1986, S. 554. 19 Die ungarische Geographie zeigte Ähnlichkeiten mit der kartographischen Praxis und mit den mythischen Naturvorstellungen der deutschen Geographie. Zum Beispiel wurde die geologische Struktur des Karpatenbeckens in diesem Sinne betrachtet. Die Geographie nahm an, dass die Karpaten durch Auffaltung um eine einzige, große Steinplatte herum entstanden seien und diese strukturelle Grundlage die Möglichkeit für die Entstehung eines zusammenhängenden Staatsraumes geschaffen habe. Zu erwähnen sind diesbezüglich auch die Analysen, in denen die kulturstiftenden Auswirkungen von Flüssen dargestellt wurden. Es wurde demzufolge angenommen, dass das abgelagerte Donaubecken (quasi als eine Art Mesopotamien) zur kulturellen Kraft des Ungarntums beigetragen habe. Für deutsche Beispiele und einen historischen Überblick siehe: Hans-Dietrich Schultz, Sie wussten, was sie taten! Die propagandistische „Kraft der Karte“ in der Deutschen Schulgeographie der Zwischenkriegszeit, in: Sabine Tzsaschel (Hg. u.a.), Visualisierung des Raumes. Karten machen – die Macht der Karten, Leipzig 2007, S. 13–37. Über die ungarischen Mythen im Zusammenhang mit der Geographie siehe: Róbert Keményfi, Kulturelles Grenzgebiet – kulturelle „Wirkungskräfte“. Die Idee vom „ungarischen Mesopotamien“ 2009, in: Lozoviuk Petr (Hg.), Grenzgebiet als Forschungsfeld. Aspekte der ethnografischen und kulturhistorischen Erforschung der Grenzlande, Leipzig 2009, S. 55–75; Róbert Keményfi, Die Geologische Karte als politisches Instrument im Dienst der Nation. Der Mythos des Tisia-Massivs zwischen den beiden Weltkriegen in der ungarischen Geographie, in: Peter Haslinger (Hg. u.a.), Kampf der Karten, Marburg 2012, S. 216–227. 20 István Györffy, Das Ungarntum im Tale der Schwarzen Körös. Földrajzi Közlemények [Beiträge zur Geographie], (internationale Ausgabe) 41 (1913), S. 1–10, 87–128. 21 László Kósa, A magyar néprajztudomány története [Die Geschichte der ungarischen Volkskunde], Budapest 2001, S. 32–34, 129–130. Für einen Überblick über die Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit vgl. László Kósa (Hg.), Die Ungarn ihre Geschichte und Kultur, Budapest 1994.

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22 Dieser Staatsbegriff der Zwischenkriegszeit verweist auf den ersten ungarischen König Stefan (István) I. den Heiligen (ca. 969–1038). Sein Verdienst war die Gründung des ungarischen Staats (n.u.Z. 1000). Das Territorium dieses Staates erstreckte sich im Donau-Becken der Karpaten. Die ungarische Bevölkerung wurde zum Christentum bekehrt und eine Einheit regiert. König Stefan versuchte dabei auch die ungarischen Bräuche, Kultur aufzubewahren. Gleichzeitig plädierte er stark für Toleranz und betonte, dass es wichtig sei, andere Völkergruppen zu akzeptieren. Vgl. Miklós Zeidler, Ideas on Territorial Revision in Hungary 1920–1945, Wayne, N.J. 2007. 23 Vgl. Anm. 19. 24 Graf Pál Teleki studierte an der Universität von Budapest Jura und promovierte auf dem Gebiet der Staatsrechtslehre. Er wurde1905, 1906 und 1916 zum Landtagsabgeordneten gewählt, im Jahr 1911 wurde er zum Generalsekretär des Ungarischen Gesellschaft für Geographie ernannt. Im Ersten Weltkrieg diente er an der serbischen, italienischen und rumänischen Front als Ordonnanzoffizier. Im Jahre 1917 wurde er zum Leiter der Behörde für Militärinvalidenversorgung ernannt. Als Vorbereitung auf die Friedensverhandlungen entwarf er seine berühmte Karte vom Karpatenbecken, auf der die in größeren Gemeinschaften oder zerstreut lebenden ungarischen Bevölkerungsgruppen dargestellt wurden (carte rouge). Nach dem Untergang der ungarischen Räterepublik (1919) nahm er als Hauptvertreter der ungarischen Delegation an den Friedensverhandlungen teil. Von 1920 an war er als Außenminister und später als Ministerpräsident tätig. Er versuchte die Verhältnisse im Land zu konsolidieren und der außenpolitischen Isolation Ungarns entgegenzuwirken. Während seiner Amtszeit wurde der Friedensvertrag ratifiziert und Teleki sprach sich für eine beschränkte Bodenreform aus. 1921 und 1918 trat er zweimal zurück, weil der frühere König (Karl IV.) wieder an die Macht kommen wollte. Er zog sich aus der Politik zurück, nahm aber weiterhin aktiv an öffentlichen Diskussionen teil. Er war von 1921 an der Universität Budapest (von 1934 an der Technischen Universität) als Professor der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät tätig, wobei er mehrmals auch zum Dekan ernannt wurde. Er führte einen ehrenamtlichen Titel im Ungarischen Pfadfinderverein, von 1929 war er auch in der internationalen Pfadfinderbewegung tätig und bekleidete eine Funktion im obersten Gremium der Organisation. Von 1939 an war er wieder Ministerpräsident und es gelang ihm, Ungarn bis 1941 vom Weltkrieg fernzuhalten. Er setzte seine Sozialpolitik fort und versuchte, die rechtsradikale Bewegung („Pfeilkreuzler“) zurückzudrängen. Im April 1941, als die Deutschen Ungarn unter Druck setzten, sich im Krieg gegen Jugoslawien zu beteiligen, sah Teleki keinen Ausweg, als sich das Leben zu nehmen. Vgl. Balázs Ablonczy, Pál Teleki (1879–1941), Wayne N.J. 2006. 25 Vgl. Anm. 5. 26 Paul Teleki/Andrew Rónai, The different types of ethnic mixture of population, Budapest 1937. 27 Guntram Herb, Under the map of Germany; Hans-Dietrich Schultz, Völkerkarten im Geographieunterricht des 20. Jahrhundert. Ausgewählte Beispiele nebst Anregungen für den aktuellen Umgang mit diesem Kartentyp, in: Peter Haslinger (Hg. u.a.), Kampf der Karten, Marburg 2012, S. 13–61; Mark Monmonier, Eins zu einer Million. Die Tricks und Lügen der Kartographen, Basel u.a. 1996; Ute Schneider, Die Macht der Karten, Darmstadt 2006; Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen, Hamburg 2012. 28 Otto Neurath, Gesammelte bildpädagogische Schriften, Bd. 3, Wien 1991, S. 423; vgl. die neueste Arbeit zu diesem Thema: Günther Sander, Otto Neurath. Eine politische Biographie, Wien 2014. 29 Für einen wissenschaftshistorischen Überblick über diese Epoche vgl. László Kósa, A magyar néprajztudomány története. [Die Wissenschaftsgeschichte der ungarischen Volkskunde] Budapest 1989, S. 127–197. 30 Siehe Anm. 19. 31 Das Thema wurde ausführlich erforscht, für eine Zusammenfassung vgl. Lóránt Tilkovszky, Ungarn und die deutsche „Volksgruppenpolitik“ 1938–1945, Budapest 1981; Norbert Spannenberg, Der Volksbund der Deutschen in Ungarn 1938–1944, München 2005; Mathias Beer (Hg. u.a.), Südost-

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forschung im Schatten des Dritten Reiches, München 2004; Karl Nehring (Hg.), Südost-Institut München 1930–1990, München 1990. 32 Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?, Baden-Baden 1999, S. 279–284; 649–650; Wolfgang Aschauer, Die Deutschen und/oder das Deutsche – Ethnizität und ihre Bedeutung für das Denken und Handeln der Donauschwaben (Ungarn), in: Manfred Büttner (Hg.), Geisteshaltung und Stadtgestaltung, Frankfurt a.M. 1997, S. 123–160. 33 Dieser Bericht wird zitiert in Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst, S. 648–649. 34 Über die Beziehung zwischen der deutschen und ungarischen Geographie siehe Holger Fischer, Deutsch-ungarische Beziehungen in der Geographie der Zwischenkriegszeit, in: Holger Fischer (Hg. u.a.), Technologietransfer und Wissenschaftsaustausch zwischen Ungarn und Deutschland. Aspekte der historischen Beziehungen in Naturwissenschaft und Technik, München 1995, S. 291–352; ders., Das ungarisch-deutsche Verhältnis in der Zwischenkriegszeit: Freiraum – Partnerschaft – Abhängigkeit? in: Roland Schönfeld (ed.), Germany and Southeastern Europe – Aspects of Relations in the Twentieth Century, München 1997, S. 59–70. 35 Siehe die einschlägigen Werke in Anm. 31. 36 Als Beispiel kann man Wilfried Krallert erwähnen, der im Reichssicherheitshauptamt die Abteilung VI G (RSHA) leitete. Er konnte auch in den Kriegsjahren frei in die südöstlichen Länder Europas reisen und auf die Materialien zugreifen, die er zu seinen Untersuchungen brauchte. Um die deutschen Bevölkerungsgruppen auf diesen Gebieten erkunden und kartographisch erfassen zu können, hatte er freundliche Kontakte zu dem rumänischen Demographen Sabin Manuilă (1894–1964), der das Zentrale Statistikamt Rumäniens leitete. So konnte Krallert aus erster Hand Informationen über die ethnische Zusammensetzung, die Größenverhältnisse der jüdischen und der Tschango (csángó) Bevölkerungsgruppen, sowie über ihre geographische Lage bekommen. (Meinolf Arens, Egy etnikus csoport a totalitárius népességpolitika feszültség mezejében. A moldvai magyarok/csángók a román–magyar–német kapcsolatok tükrében (1944). [Eine ethnische Bevölkerungsgruppe im Spannungsfeld der totalitären Bevölkerungspolitik. Ungarn/Tschangos in der Moldau im Spiegel der rumänisch-ungarisch-deutschen Beziehungen], in: Sándor Ilyés (Hg. u.a.), Lokális és transznacionális életvilágok. [Lokale und transnationale Lebenswelten] Kolozsvár 2008, S. 145–180.) Diese Angaben reichte er dann an ungarische Wissenschaftler weiter, die keinen Zugang zu diesen Statistiken hatten. Hierzu siehe noch den Nachlass von Elemér Mályusz, sowie Aubins Korrespondenz: Michael Fahlbusch, Wilfried Krallert (1912–1969). Ein Geograf und Historiker im Dienst der SS, in: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945, Wien u.a. 2008, S. 793–836, 816. 37 Während der ersten Amtszeit von Teleki als Ministerpräsident wurde im Jahre 1920 an allen ungarischen Universitäten eine Zulassungsbeschränkung (numerus clausus) eingeführt. Durch diese Maßnahme wurde bei der Zulassung das Größenverhältnis zwischen den in Ungarn ansässigen „Rassen und Volksgruppen“ berücksichtigt. Das Ziel war dabei, die Juden, die im Hochschulbereich mehr als andere Bevölkerungsgruppen repräsentiert waren, zurückzudrängen. Das war das erste Gesetz, in dem der ausgrenzende Begriff Rasse verwendet wurde. In den 1930 Jahren wurden dann noch weitere judenfeindliche Gesetzte verabschiedet: im Mai 1938 wurde der Beschluss zur „Gewährleistung eines besseren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gleichgewichtes“ (das sogenannte erste Judengesetz Ungarns) angenommen. Im Sinne dieser Regelung wurde festgelegt, dass maximal 20% der Juden in selbstständigen Berufen, in Verwaltung und Bildung arbeiten dürfen. (Als Juden galten dabei die Mitglieder einer jüdischen Glaubensgemeinde sowie Personen, die nach 1919 zum Christentum konvertierten.) Das zweite Judengesetz trat im Mai 1939, nach dem erneuten Amtsantritt von Teleki in Kraft: dieses Gesetz stellte die Zulassungseinschränkungen an Hochschulen wieder her und es wurde auch festgelegt, dass Israeliten nicht im öffentlichen Dienst angestellt werden können. Sogar im Oberhaus des ungarischen Parlaments wurde es verboten, dass Personen jüdischer Abstammung ein Amt bekleiden. In Städten und Dörfern durfte man einen Gewerbeschein oder eine Genehmigung für gewerbliche Tätigkeiten nur für 6% der Juden ausstellen. Die Rechte,

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landwirtschaftliche Immobilien oder Grundstücke zu kaufen und zu besitzen, wurden ebenfalls eingeschränkt. Das Gesetz setzte demzufolge rassistische Aspekte durch, denn als Juden wurden jene Personen betrachtet, von denen der eine Elternteil oder zwei Großelternteile zur israelitischen Religionsgemeinde gehörten. Die rassistische Diskriminierung erreichte ihren Höhepunkt mit dem Gesetz XV im Jahr 1941: mit dieser Maßnahme wurden Mischehen verboten und sogar außereheliche sexuelle Beziehungen wurden sanktioniert. Über die institutionalisierte Diskriminierung von Juden in Ungarn sowie über den Holocaust vgl. Randolph Braham, The Politics of Genocide: The Holocaust in Hungary, 2 vols. New York 1994. 38 István Bibó, The Jewish Question in Hungary After 1944, in: wie Anm. 18, S. 155–322. 39 In diesem Zusammenhang muss man sich mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern die rassentheoretische Auseinandersetzung mit dem Homo sapiens in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert als Suche nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen anzusehen ist. Steht es fest, dass es keine Methoden gibt, mit denen sich die Zusammenhänge zwischen Habitus, biologischen Eigenschaften, Seele und Kultur exakt beschreiben lassen? Ist eine Fragestellung nach solchen Zusammenhängen in jenem wissenschaftlichen Kontext irrelevant, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert entstand? – In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nahm man an, dass die biologische Determiniertheit des Menschen auch auf die Gesellschaftsstruktur Einfluss nehmen könne. Die gegenwärtige wissenschaftshistorische Forschung wiederlegte inzwischen jedoch ein solches Argument eindeutig. Bereits in den Jahrzehnten vor dem Nationalsozialismus galt nämlich eine Forschungspraxis als wissenschaftlich problematisch, die Kausalitätsverhältnisse zwischen Rassenlehre, physische Anthropologie, Seele und Kultur herstellte. Erkennbar ist dabei, dass solche Fragestellungen damals außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses zu verorten waren und als Pseudowissenschaft eingestuft wurden. Vgl. Veronika Lipphardt, Das „schwarze Schaf“ der Biowissenschaft, in: Dirk Rupnow (Hg. u.a.), Pseudowissenschaft, Frankfurt a.M. 2008. S. 223–250, 224– 230. Die theoretischen Grundlagenforschungen, die eine natürliche Bestimmtheit der Kultur ablehnten, standen den Wissenschaftlern dieses Zeitalters zur Verfügung. Gemeint sind damit auch die Wissenschaftler der ersten zwei Jahrzehnte des Jahrhunderts. Die Erkenntnisse der amerikanischen Anthropologie hätten zum Beispiel Pál Teleki, der mehrere Sprachen beherrschte, zu einer kritischen Revision seiner Überlegungen über die Zusammenhänge zwischen Rassenlehre und Natur anregen können. Teleki zitierte die Werke von Franz Boas (1858–1942). Obwohl Boas bereits am Anfang der 1900er Jahre seine zentrale These des kulturellen Relativismus herausarbeitete, übernahm Teleki diese These nicht. Nach diesem Ansatz sei die Kultur nicht durch evolutionäre Bedingungen oder durch rassische Eigenschaften bestimmt, sondern jede Kultur stelle eine einzigartige Lebenswelt dar und sei daher in ihrer Einzigartigkeit zu erforschen. Boas schrieb bereits in seinem 1911 veröffentlichten Buch The Mind of Primitive Man ausführlich darüber, dass es wegen der Vielfalt an Phänotypen innerhalb einer Rasse unmöglich sei, von Unter- und Überordnungen zu sprechen. Er übte scharfe Kritik an den Rassentheorien seines Zeitalters. Teleki ließ aber diese zentrale Aussage, die Ablehnung der Rassentheorie, unberücksichtigt. 40 Vgl. Anm. 24.

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Volk Als Begriff und Vorstellung spielte „Volk“ in der völkischen Bewegung eine zentrale Rolle. Vordergründig stellte es einen gemeinsamen Nenner dar, auf den sich die disparaten radikalnationalistischen Strömungen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik verständigen konnten. Das Schlagwort und die Idee bot den unterschiedlichen, oft konkurrierenden Akteuren, Vereinen und Zirkeln im rechten politischen Spektrum ein gemeinsames Fundament. Der primär biologisch, im Sinne einer Abstammungsgemeinschaft verstandene Begriff „Volk“ war geradezu konstituierend für die völkische Bewegung. Er bildete eine Klammer, welche die verschiedenen Gruppen und ihre Anhänger miteinander verband und die ihnen ein Mindestmaß an ideologischer Gemeinsamkeit verlieh. Nicht zuletzt diente daher das Adjektiv „völkisch“ zur (Selbst-) Bezeichnung dieser Kreise. Während der Ausdruck „völkisch“ seit circa 1900 nicht mehr neutral (im Sinne von „national“, „das Volk betreffend“), sondern beinahe ausschließlich zur Benennung der politischen Ideologie am rechten Rand gebraucht wurde,1 gelang es den Protagonisten der völkischen Bewegung nicht, den Begriff „Volk“ einseitig in ihrem Sinne zu besetzen. Auch weiterhin fand dieser – wenn auch mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen – in allen politischen Lagern Verwendung. Und selbst innerhalb der völkischen Bewegung waren die unter „Volk“ subsumierten Inhalte keineswegs immer deckungsgleich und widerspruchsfrei. Vielmehr trug der allseitige Gebrauch des Begriffs dazu bei, das Fehlen eines gemeinsamen, klar umrissenen Programms zu kaschieren. Weitgehend synonym zu „Volk“ wurde das Wort „Nation“ eingesetzt. Allerdings fand dieses aus semantisch-strategischen Gründen in radikalnationalistischen Kreisen seltener Verwendung als „Volk“. Einigkeit bestand in weiten Teilen der völkischen Bewegung darüber, dass unter „Volk“ nicht das personelle Substrat des (gegenwärtigen) Staates (das „Staatsvolk“ im Sinne eines „demos“) zu verstehen sei, sondern dass das „Volk“ der Existenz des Staates geschichtlich vorausgehe und es in seiner Bedeutung über ihm stehe. Daher dürfe es nicht mit der Gemeinschaft der Staatsbürger verwechselt werden. Entsprechend selbstverständlich war es für völkische Ideologen, etwa die Millionen deutscher Auswanderer des 19. Jahrhunderts und deren Kinder weiterhin dem deutschen Volk zuzurechnen. Statt auf die (durch staatliche Stellen verliehene) Staatsbürgerschaft oder auf das individuelle Bekenntnis zu einer Nation und ihren Werten zu rekurrieren, knüpften die meisten Radikalnationalisten zur Bestimmung des „Volkes“ und seiner Angehörigen an das Kriterium der „Herkunft“ beziehungsweise der „Rasse“ an. „Volk“ wurde als Abstammungsgemeinschaft („ethnos“) begriffen. Indem sie „Volk“ als entscheidende politische Referenzgröße und Adressat von Botschaften betrachteten, bezog sich das Begriffsverständnis in völkischen Kreisen mittelbar auf den Bedeutungswandel, den das Wort während der Romantik durchlaufen hatte. War „Volk“ vormals fast ausschließlich als negativ konnotierte Bezeichnung für die „unteren Schichten“ (im Sinne von „Pöbel“, „plebs“) verwendet wor-

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den, stieg es infolge der Französischen Revolution, der napoleonischen Kriege und der deutschen Nationalstaatsbestrebungen zu einem politischen Hochwertwort und zu einem Machtfaktor auf, der nach Überzeugung von Denkern verschiedenster politischer Couleur für die weitere Entwicklung in Deutschland unbedingt berücksichtigt werden müsse.2 Wie die Vorstellungen im völkischen Milieu verdeutlichen, führte eine solche Schlussfolgerung nicht notwendigerweise zu der Forderung, die auf dem Territorium lebenden Personen zu einem Staatsvolk mit demokratischen Partizipationsrechten werden zu lassen – im Gegenteil: Völkische Organisationen wie der →Alldeutsche Verband zielten vielmehr darauf ab, die Diskrepanz zwischen „ethnos“ und „demos“ zu überwinden. Diese sollte gewaltsam beseitigt werden, etwa durch eine Expansionspolitik mitsamt „Germanisierung“ der Bewohner (sofern eine solche als möglich erachtet wurde) sowie durch eine zwangsweise Umsiedlung bzw. Vertreibung „fremder“, „nicht deutscher“ Bevölkerungsgruppen. Entsprechende Forderungen nach einer „völkischen Flurbereinigung“ (Peter Walkenhorst), wie sie etwa von →Heinrich Claß in einer Denkschrift vom 18. September 1914 formuliert wurden, stießen im Verlauf des Ersten Weltkriegs auf immer größeren Zuspruch.3 Das kleindeutsche bismarcksche Kaiserreich hatte der völkischen Bewegung seit jeher als defizitär gegolten. Dem existierenden Deutschen Reich wurde die Vision vom Zusammenschluss des Volkes zu einer „biologisch-geschichtliche[n] ‚Ganzheit‘“ (Wolfgang Tilgner)4 jenseits der bestehenden Staatsgrenzen entgegengehalten. Nicht der Staat, sondern das als „ethnos“ gedachte „Volk“ bildete also den zentralen Bezugspunkt für die verschiedenen völkischen Weltanschauungen. In diesem Denken stimmten „Volk“ und „Staat“ nicht miteinander überein. Völkische Kreise strebten daher die Anpassung des Staates und seines „demos“ an die Ausdehnung des „ethnos“ an. Somit diente „Volk“ bei den Radikalnationalisten des wilhelminischen Kaiserreichs stets als ein „politische[r] Aktionsbegriff“ (Peter Walkenhorst), der auf die Revision des bismarckschen Nationalstaats und seiner Grenzen zielte.5 Doch gingen die Ziele vieler völkischen Ideologen über die bloße Einbeziehung der sogenannten Auslandsdeutschen in ein deutsches Staatsgebiet hinaus. Vielmehr spielte in ihrem Denken die Vorstellung vom „Lebensraum“ eine zentrale Rolle. Dieses vom Leipziger Geographen Friedrich Ratzel 1901 geprägte Schlagwort bezeichnete den „einer bestimmten Art als Nahrungs- und Lebensgrundlage“ dienenden Teil der Erdoberfläche. Raum wurde als wichtigste Lebensbedingung angesehen. Wachsende und aufstrebende Völker würden „Lebensraum“ benötigen – so der Anspruch, den beispielsweise →Arthur Moeller van den Bruck in seinem Werk Das Recht der jungen Völker (1919) und →Hans Grimm in seinem Erfolgsroman Volk ohne Raum (1926) stark machten. Die Forderung nach einem größeren „Lebensraum“ für das „deutsche Volk“, die in der sozialdarwinistischen Vorstellung vom „Kampf ums Dasein“ kulminierte, war in völkischen Kreisen allgegenwärtig. Sie diente zur Rechtfertigung imperialistischen Expansionsstrebens als eine für das „deutsche Volk“ existenzielle und moralische Notwendigkeit. Territoriale Expansion

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müsse mit der „Kolonisation“, der kulturellen Durchdringung, der eroberten Gebiete einhergehen.6 In der Volksvorstellung der Radikalnationalisten fand sich rassistisches, expansionistisches, sozialdarwinistisches, antisemitisches und deutschtümelndes Gedankengut, aber auch Ideen aus der Lebensreformbewegung wurden darin aufgegriffen. Die verschiedenen Ideologeme einte die Ablehnung von Kompromissen und das Streben nach holistischen Lösungen. Zudem waren sie vielfach durch ein hohes Maß an Radikalität gekennzeichnet. Diese kam etwa in der Vorstellung zum Ausdruck, es gehe um die Existenz oder den Untergang des „Volkes“. Neben dem Glauben an eine organische, einheitliche, vor- und überstaatliche Gemeinschaft des „Volkes“ und an die Überlegenheit der Deutschen im Vergleich zu anderen Völkern wohnte diesem Denken die pseudoreligiöse Überzeugung inne, eine spezifische Mission gegenüber allen übrigen Nationen der Welt verfolgen zu müssen. Zugleich herrschte die Vorstellung von der allgegenwärtigen Bedrohung des „deutschen Volks“ durch innere und äußere Feinde vor. Innerhalb der völkischen Bewegung wurde „Volk“ zumeist als eine „metaphysische Einheit“ mit „unabänderliche[n] nationale[n] Charakterzügen“, als ein „beständige[s] Wesen“, als eine „eigengesetzliche Persönlichkeit“ oder als eine „biologische Einheit“ unter „Ausschliessung andersrassiger Elemente“ begriffen.7 Diese Bedeutungsvarianten wurden sowohl einzeln als auch in beliebiger Kombination gebraucht. Idealtypisch lässt sich innerhalb des radikalnationalistischen Spektrums zwischen einer rassenideologischen und einer metaphysischen Vorstellung von „Volk“ unterscheiden – ohne dass sich diese beiden Zugänge in der Praxis jedoch zwangsweise gegenseitig ausschließen mussten. Auf der einen Seite wurde „Volk“ als Rassengemeinschaft betrachtet. Obwohl es seitens völkischer Autoren vereinzelt Bestrebungen gab, „Volk“ ausschließlich als sprachlich-kulturellen und „Rasse“ als naturwissenschaftlichen Begriff zu definieren, fand eine klare Abgrenzung zwischen beiden Termini nicht statt, vielmehr wurde „Volk“ zumeist ein „starker biologischer Kern“ zugesprochen.8 Davon ausgehend ließ sich gar eine Hierarchie aufstellen: Die verschiedenen Völker besäßen, so etwa der Statistiker und Bevölkerungspolitiker Ernst Hasse im Jahr 1898, einen unterschiedlichen Wert – zwischen ihnen herrsche eine „natürliche“ Ungleichheit. Dementsprechend müssten sie, so die prekäre „Logik“, auch ungleich behandelt werden. Als besonders „hochwertig“, wenn nicht gar als das „hochwertigste“, galt – kaum überraschend – das „deutsche Volk“. Von ihm blieben Angehörige „minderwertiger Völker“ wie Juden, Slawen und „andere Fremdrassige“ ausgeschlossen. Diese mussten in den Augen einflussreicher Radikalnationalisten gar vom „deutschen Volk“ ferngehalten werden, weil sie andernfalls den „hochwertigen Volkskörper“ mit „Keime[n] des Verfalls“ zu infizieren drohten. Insbesondere die Jude galten völkischen Agitatoren wie Heinrich Claß oder Theodor Fritsch als „der Feind schlechthin“. Sie würden versuchen, das „deutsche Volk“ durch „jüdisches Blut und jüdischen Geist“ (Heinrich Claß) zu zersetzen.9 Da nach Überzeugung vieler

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völkischer Denker die industrielle Moderne zu einer negativen Auslese und damit zur Degeneration des „Volkes“ beitrage, entstand die Forderung, dieser „Gegenauslese“ mit rassenhygienischen und eugenischen Maßnahmen entgegenzuwirken. In Deutschland setzten sich Biologen und Mediziner wie Alfred Ploetz, Wilhelm Schallmayer, Erwin Baur, Eugen Fischer und →Fritz Lenz sowie Institutionen wie die Gesellschaft für Rassenhygiene (seit 1905, ab 1907: Internationale Gesellschaft für Rassenhygiene), das →Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem (seit 1927) und verschiedene lokale Eugenische Gesellschaften für ein solches biopolitisches Programm ein. Als Vorbild diente ihnen dabei vor allem der britische Naturforscher Francis Galton, der beabsichtigt hatte, das „Niveau der erblichen Tüchtigkeit der englischen Nation“ zu heben, indem mittels Eugenik „die angeborenen Eigenschaften einer Rasse verbesser[t] und diese Eigenschaften zum größtmöglichen Vorteil zur Entfaltung“ gebracht werden sollten. Wissenschaftler wie der Philosoph Christian von Ehrenfels gingen sogar noch einen Schritt weiter: Sie forderten nicht nur die Erhaltung der Rasse, sondern die planmäßige Hochzüchtung eines „Neuen Menschen“ durch Sexualreform, Männerauslese und Polygynie. →Willibald Hentschels Siedlungsvision von „Mittgart“ verband solche Überlegungen mit der Idee, die „germanische Rasse“ mittels „Menschengärten“ und Züchtung zu erneuern sowie die „nordische Volkskraft“ zu stärken. Entsprechendes Gedankengut knüpfte zwar an vermeintliche biologische Erkenntnisse an, trug aber häufig – wie etwa auch bei Jörg Lanz von Liebenfels’ Plänen zur Züchtung einer „Edelrasse der Blonden“, der „Arioheroiker“ – (pseudo-) religiös-mythische und utopisch-fantastische Züge.10 Innerhalb dieses rassistischen Denkens über „Volk“ gab es durchaus Unterschiede: Einige Völkische wie Alfred Ploetz setzten „Rasse“ und „Volk“ synonym, andere wie →Hans F. K. Günther sahen die bestehenden „Völker“ als eine Mischung verschiedener „Rassen“ an – als eine Station auf dem einzuschlagenden Weg zurück zu möglichst reinen „Rassen“.11 Neben dieser rassenideologischen Vorstellung wurde „Volk“ auf der anderen Seite metaphysisch als ein geschlossenes, einheitliches Wesen mit spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen („Volkscharakter“) und eigenem Willen („Volkswillen“) angesehen. Solche idealisierten und transzendierten Konzepte hatten ihre Ursprünge im Zusammendenken von „Mensch“, „Landschaft“/„Boden“ und „Seele“, wie es seit der Romantik (dort maßgeblich etwa von →Johann Gottfried Herder vertreten) in der deutschen Ideengeschichte verbreitet war. „Volk“ galt in dieser Vorstellung nicht als die bloße Summe der „Volksgenossen“, ihm wurde vielmehr ein übernatürliches Dasein zugesprochen. Sein Wesen gehe über die Addition der Individuen hinaus. Uneinheitlichkeiten sowie soziale, konfessionelle oder politische Konflikte waren mit diesem Modell nicht vereinbar. Entsprechend forderte der Vorsitzende des Alldeutschen Verbands, Heinrich Claß, in seiner Schrift „Wenn ich der Kaiser wär’“ aus dem Jahr 1912 auch zur Überwindung der gesellschaftlichen Interessengegensätze mittels eines alles überwölbenden „Nationalbewusstseins“ auf und propagierte damit das Ziel einer die sozialen Konflikte unterbindenden „→Volksgemein-

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schaft“. Volkskonzepte konnten darüber hinaus religiöse und heilsgeschichtliche Sinnzuschreibungen tragen. So wohnte ihnen häufig etwa die Überzeugung inne, das „Volk“ währe im Gegensatz zum Individuum ewig. Zudem dienten als historische Ereignisse verbrämte Mythen (beispielsweise der Hermann- und KyffhäuserMythos) dazu, eine vermeintlich bis in die Frühgeschichte zu den Germanen zurückreichende Traditionslinie zu schaffen und die imaginierte Gemeinschaft des gegenwärtigen „Volkes“ dadurch zu überhöhen.12 Volksvorstellungen, die auf metaphysischen Kriterien beruhten, wurden von vielen völkischen Schriftstellern gepflegt und verbreitet: Wilhelm Schäfer betonte die angeblichen Besonderheiten der „deutschen Seele“ und legte diese Spezifika in einer „inneren Geschichte des deutschen Volkes“ dar. →Erwin Guido Kolbenheyer charakterisierte in seiner vielgelesenen Romantrilogie „Paracelsus“ das auf Art, Innerlichkeit, Werte und Glaube beruhende Wesen des „deutschen Volkes“ beispielhaft anhand der historischen Persönlichkeit des titelgebenden frühneuzeitlichen Arztes und Mystikers und verlieh darin der Forderung nach einer Wiedergeburt des „deutschen Wesens“ in der Gegenwart Ausdruck. Entsprechende metaphysische Volksvorstellungen konnten am romantischen Gedankengut anknüpfen, das etwa in Wilhelm Heinrich Riehls Bestreben, das „deutsche Volk“ zu studieren und die „Naturgesetze des Volkslebens“ zu ergründen, zum Ausdruck kam.13 Die beiden skizierten idealtypischen, auf (pseudo-) naturwissenschaftlichen Rassentheorien oder auf metaphysischen Vorstellungswelten beruhenden Volkskonzepte wurden vielfach miteinander verbunden. So trug beispielsweise Wilhelm Stapels Theologie vom „Volksnomos“ sowohl rassenideologische als auch metaphysische Züge. Insgesamt verwendeten viele völkische Ideologen beide Vorstellungen nebeneinander oder in Kombination miteinander, gleichwohl die zwei Konzepte zueinander nicht widerspruchsfrei waren. Die offensichtlichen Gegensätze ließen sich jedoch etwa durch die ständige und unhinterfragte Verwendung des Hochwertwortes „Volk“ sowie durch die „Homogenitätsutopie“ (Peter Walkenhorst)14, die beiden Bedeutungen innewohnte, weitgehend überdecken. Eine andere idealtypische Kategorisierung der Volks- und Nationsvorstellungen wurde in der Forschung von Stefan Breuer vorgeschlagen. Breuer unterscheidet zwischen „individualistisch-territorial[en]“, „holistisch-territorial[en]“ und „holistischethnisch[en]“ Konzepten – im rechten politischen Spektrum hätten die beiden Letztgenannten miteinander rivalisiert, während das individualistisch-territoriale Verständnis als „westlich“ abgelehnt worden sei: Die konservative Auffassung von einer auf Staat und Dynastie bezogenen „Nation“ habe sich im 19. Jahrhundert mit den von der Romantik geprägten liberalen Vorstellungen eines rational gefassten „Volksgeists“ sowie einer gottgeschaffenen Sprach- und Kulturgemeinschaft zum holistisch-territorialen Volks- und Nationskonzept vereinigt. Von dieser Position, die eine „Konsolidierung des kleindeutschen Staates […], nicht aber die Vereinigung aller Deutschen in einem einzigen Nationalstaat“ zum Ziel gehabt habe, grenzt Breuer das wohl weniger stark verbreitete holistisch-ethnische Modell ab. Diesem

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habe keine „Staats-“, sondern das Ideal einer auf ethnischen Kriterien wie „Sprache“, „Kultur“, „Geschichte“, „Religion“, „Sitte“ oder „Abstammung“ beruhenden „Volksnation“ zugrunde gelegen. Völkische Autoren hätten mit ihren Volkskonzepten an einzelnen oder mehreren dieser Kriterien angeknüpft, teilweise – wie etwa bei Ernst Hasse – würden sich in ihrem Denken aber auch holistisch-ethnische und holistisch-territoriale Vorstellungen miteinander verbinden. Selbst Alldeutsche wie Heinrich Claß, der Deutschbund-Gründer Friedrich Lange oder der Rassenideologe →Houston Stewart Chamberlain hätten jedoch nicht konsequent ein ethnisch-holistisches Verständnis von „Nation“ vertreten, sondern sich an der Staatsnation im holistisch-territorialen Sinne orientiert, so Breuer.15 Wie Peter Walkenhorst herausgearbeitet hat, wurde „Rasse“ in völkischen Kreisen als „semantischer Code“ für eine holistisch-biologistische Volksvorstellung gebraucht.16 „Volk“ stand hierbei synonym für die idealisierte „Rasse“. Da jedoch eine objektive Bestimmung der „Rassenzugehörigkeit“ nicht möglich war – und auch trotz diverser Anstrengungen etwa auf dem Gebiet der Schädelvermessung nicht gelang (und naturgemäß nicht gelingen konnte) –, bildeten letztlich neben dem Aussehen ethnische Merkmale wie „Abstammung“, „Sprache“ und „Kultur“ die Grundlage auch für den „rassischen“ Volksbegriff der Radikalnationalisten. So verwundert es kaum, dass sich einige Akteure innerhalb der völkischen Bewegung der Pflege der deutschen Sprache widmeten und diese zum Vereinsziel erhoben. Der 1898 von Adolf Reinecke gegründete Alldeutsche Sprach- und Schriftverein glaubte in der „deutsche[n] Muttersprache“, die „in tönender Form in die Erscheinung tretende Volksseele“ und in deren Zustand ein Abbild des „völkischen und staatlichen Verfalls vergangener Zeiten“ erkennen zu können. „Sprache“ wurde hier als ein Kriterium für die Definition der Zugehörigkeit zum „Volk“ angesehen. Und sogar einzelne Rassenforscher wie Heinrich Driesmans oder Ludwig Kuhlenbeck griffen für die Bestimmung ihres Untersuchungsgegenstandes auf das Merkmal „Sprache“ zurück.17 Zugleich gab es aber auch eine große Gruppe an völkischen Autoren, die anderer Ansicht waren: So bestritt beispielsweise der Eugeniker Fritz Lenz vehement, dass es einen Zusammenhang zwischen dem „äußerlichen“ Faktor „Sprache“ und der in der „Rasse“ manifest werdenden inneren, biologischen Substanz des „Volkes“ gebe.18 Dass die radikalnationalistischen Volkskonzepte vor der NS-Herrschaft keineswegs nur Gedankenspielereien einer kaum ernstzunehmenden politischen Minderheit waren, macht der Blick auf ein hochumstrittenes Gesetzgebungsprojekt im Kaiserreich deutlich: An dem im Jahr 1913 verabschiedeten Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz zeigte sich der Einfluss völkischer Lobbygruppen wie dem Alldeutschen Verband, der Deutschen Kolonialgesellschaft oder dem Verein für das Deutschtum im Ausland und deren Volkskonzepten auf die Politik. Aus Sicht der Radikalnationalisten ging es darum, „demos“ und „ethnos“ in Einklang zu bringen oder zumindest die Diskrepanz zwischen beiden nicht weiter zu vertiefen. „Volksfremde Elemente“ sollten nach ihrem Dafürhalten aus der „nationalen Gemein-

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schaft“ ausgeschlossen bleiben. Auch wenn sich die völkischen Organisationen nicht vollumfänglich mit ihren Positionen durchsetzen konnten, erreichten sie doch, dass das von Sozialdemokraten propagierte Modell einer auf dem „demos“ beruhenden Staatsbürgernation keine Mehrheit fand. Stattdessen orientierte sich das neue deutsche Staatsbürgerrecht am „ius sanguinis“ und das Deutsche Reich verstand sich als Schutzmacht aller Deutschen, die innerhalb und außerhalb der deutschen Staatsgrenzen lebten. Ein „ethnos“-Volkskonzept hatte Eingang in das Reichsgesetzbuch gefunden.19 Generell stand der auf Pluralismus aufbauende Volksbegriff im Sinne von „demos“ zu den völkischen „ethnos“-Volkskonzepten mit ihrem holistischen Charakter in einem scharfen Gegensatz. Nicht politische, sondern „rassische“ Gleichheit bildeten ihre gedankliche Grundlage. Zu Recht kann daher das in diesem Sinne gebrauchte Wort „Volk“ als ein „Grundbegriff […] des antidemokratischen Denkens“ (Kurt Sontheimer)20 – nicht nur in der Zeit der Weimarer Republik, sondern bereits im Kaiserreich – bezeichnet werden. Die Offenheit des Volksbegriffes und seine unterschiedlichen semantischen Aufladungen ließen ihn ferner zu einem Vehikel werden, das völkisch-holistische, antipluralistische und ethnisch-rassistische Vorstellungen über die Alltagssprache in den Denk- und Sprachhorizont breiter Bevölkerungsschichten transportieren konnte.

Jörn Retterath

1 Vgl. Uwe Puschner, „Wildgeworden“ und „gefährlich“! Die öffentliche Auseinandersetzung mit den Völkischen in ihrer Zeit, in: Patrick Merziger (Hg. u.a.), Geschichte, Öffentlichkeit, Kommunikation. Festschrift für Bernd Sösemann zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2010, S. 109–126, 111f. 2 Vgl. Fritz Geschnitzer u.a., Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Otto Brunner u.a., Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7: Verw–Z, S. 141–431, hier besonders als Zusammenfassung: S. 142–151. Allgemein zur Geschichte des Volksbegriffs und zu seiner Verwendung im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik: Jörn Retterath, „Was ist das Volk?“ Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917–1924, München 2016. 3 Peter Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, Göttingen 2007, S. 334. 4 Wolfgang Tilgner, Volk, Nation und Vaterland im protestantischen Denken zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus (ca. 1870–1933), in: Horst Zilleßen (Hg.), Volk, Nation, Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus, Gütersloh 1970, S. 135–171, 147. 5 Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, S. 84. 6 Vgl. ebd., S. 172–182, 173. 7 Synnöve Clason, Schlagworte der „Konservativen Revolution“. Studien zum polemischen Wortgebrauch des radikalen Konservatismus in Deutschland zwischen 1871 und 1933, Stockholm 1979, S. 129–133. 8 Vgl. Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008, S. 115–122, 121. 9 Vgl. Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, S. 96 f., 123, 294–303, Zitat: S. 298.

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10 Vgl. Peter Emil Becker, Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedanke. Wege ins Dritte Reich, Teil II, Stuttgart 1990, S. 599–611, 600. Dass entsprechende Züchtungsfantasien indes nicht nur unter gesellschaftlich randständigen Schriftstellern und Publizisten gepflegt wurden, sondern auch unter akademischen Bildungseliten diskutabel waren, zeigt das Beispiel des Strafrechtsprofessors Andreas Thomsen und dessen 1925 erschienen Schrift „Der Völker Vergehen und Werden“. Vgl. Thomas Vordermayer, Bildungsbürgertum und völkische Ideologie. Konstitution und gesellschaftliche Tiefenwirkung eines Netzwerks völkischer Autoren (1919–1959), München 2016, S. 237–247. 11 Vgl. Günter Hartung, Völkische Ideologie, in: Uwe Puschner (Hg. u.a.), Handbuch der „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1999, S. 22–41, 37. 12 Vgl. Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, S. 89ff. Zur „Wiederentdeckung der Germanen“ durch die völkische Bewegung: George L. Mosse, Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1991, S. 78–98. 13 Vgl. Becker, Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus, S. 579–584, 583. 14 Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, S. 83. 15 Vgl. Stefan Breuer, Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2010, S. 77–104, 78, 84f. 16 Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, S. 113. 17 Vgl. Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001, S. 28–42, 36. 18 Vgl. Vordermayer, Bildungsbürgertum und völkische Ideologie, S. 10f. 19 Vgl. Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, S. 149–172; Ingo Eser, „Volk, Staat, Gott!“ Die deutsche Minderheit in Polen und ihr Schulwesen 1918–1939, Wiesbaden 2010, S. 138f.; Dieter Gosewinkel, Homogenität des Staatsvolks als Stabilitätsbedingung der Demokratie? Zur Politik der Staatsangehörigkeit in der Weimarer Republik, in: Wolther von Kieseritzky (Hg.), Demokratie in Deutschland. Chancen und Gefährdungen im 19. und 20. Jahrhundert. Historische Essays, München 1999, S. 173– 201, 174–177. 20 Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 21968, S. 244.

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Völkisch Indology The völkisch movement, which held sway in Germany and Austria roughly from the 1890s to the 1920s, was in essence a loosely bound collection of about a hundred heterogeneous organisations which shared one common element: “to celebrate a mystical racial notion of the German Volk”.1 This ethnic nationalist movement rested on three cardinal components: language, race, and religion, which were used as criteria to define as well as idealize a Germanic identity.2 Delineating German völkisch identity required an Other – a “Konstrastbegriff”. To the overwhelmingly Protestant-inclined völkisch groups, anti-Semitism came to provide this concept. Indeed, most völkisch groups held “Judaism to be the arch enemy of the German people and the German race (Volkstum)”.3 At first glance, such völkisch world views had little to do with Indology, a broad term used in the 19th and early 20th century to encompass a number of disciplines “concerned with the study of the literary cultures of ancient India.”4 Nevertheless, the discipline of Indology dovetailed in many respects with the völkisch movement, contributing to the three aforementioned elements that helped define völkisch ideology. The academic disciplines of History, Philology, Philosophy and Theology – all of which intersected with Indology – played substantial roles in forming a völkisch German identity in the 19th century.5 The German interest in India started from the late 18th century. It was connected to the rise of German nationalism, romanticism, and questions of faith that Protestant Christianity faced post-Enlightenment. From the time of Napoleonic wars, rising linguistic nationalism in Germany began to assert the superiority of German language and culture to counter French hegemony in Europe. Indologists also attempted to displace Hebrew with Sanskrit as the prestigious theological language. Sanskrit and the “Aryan civilization” that it represented seemed to provide a cultural heritage, which could be portrayed as older and nobler than both Graeco-Roman and Hebraic traditions and which Germans could co-opt to form their national identity. The indologists of 19th century were trained rigorously in the philological method of text criticism. They saw themselves as mediators and interpreters of an Aryan German past that supposedly superseded the Hebraic biblical tradition. Since language was considered by the German intelligentsia to be an expression of a people’s spirit, the speakers of the German/Aryan language were presumed to be both distinct and superior to the speakers of the Semitic languages. Scholars like the German born Oxford Indologist Max Müller provided sanction to this theory by comparing Sanskrit with Hebrew in order to establish the superiority of the latter.6 The Vedic scholar Rudolf von Roth saw in the ancient text of the Vedas, an Aryan history of Christianity from which Jews could be excluded.7 Similarly, the late 19th century academic interest in Buddhist (and Jain) texts was due to the fact that Buddhism

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appeared to be a precursor of Protestant enlightenment that reformed the corrupted Brahmanical religion and spread the proto-Christian messages of love and peace.8 An innate anti-Semitism as well as a racial interpretation of ancient Indian history made Indology susceptible to the völkisch agenda. Richard Wagner, who tried to combine Buddhist messages with medieval Germanic legends, was influenced by the Indologist Hermann Oldenberg’s popular work „Buddha: Sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde“ (1881).9 This book was based on a widely held 19th century notion, propagated, among others, by the Indologist Christian Lassen through his “Indische Altertumskunde” (1847). Lassen represented the popular notion of the time, that white skinned Aryans invaded India and conquered the local (black skinned) non-Aryans to produce a glorious Aryan civilization which subsequently degenerated due to racial consanguinity between Aryans and non-Aryans.10 Some Indologists did oppose both the racial interpretation of Indian history and the claims of non-academic, populist and esoteric groups such as the Theosophical Society, which drew on Indian religious concepts and flourished as part of the völkisch movement. 11 The 19th C. professor of Linguistics at Halle, August Pott and the early 20th C. professor for Sanskrit and Ethnology at the German university of Prague, Moritz Winternitz, for example, protested against the concept of an Indogermanic “race”.12 August Pott’s book “Die Ungleichheit menschlischer Rassen hauptsächlich vom sprachwissenschaftlichen Standpunkte” (1856) was a direct criticism of Arthur de Gobineau’s book of the same name. Pott propagated the theory of a polygenetic, pluralistic and therefore fundamentally different origins of human speech as opposed to Max Müller’s theories about specific language families and their stages of development.13 Moritz Winternitz wrote in the introduction to his book, ‘Geschichte der indischen Literatur,’ that the Indo-Aryan languages, together with Iranian, form the language family which was commonly termed indogerman, in which German as well as most other European languages are included. This linguistic connection denoted that the groups of speakers shared a cultural affinity. However, Winternitz stated categorically, that it was an error to assume, as it was widely done, that this linguistic kinship signified an ‘Indogermanic race’ which does not exist and never did. 14 Meanwhile Theosophy, which had popularised an exoteric version of Buddhism in the West, was openly condemned by Max Müller.15 Richard von Garbe, professor at Tübingen, denounced all so-called evidences of Buddhist influences on Christianity through his work, “Indien und das Christentum” (1914). 16 And yet the border between academic Indology and völkisch–esoteric groups like the Theosophical Society remained porous. F. Otto Schrader, a scholar of Indian philosophy and Buddhist literature became the director of the library of the Theosophical Society in Adyar, South India, from 1905–1916. He tried to popularise Buddhism on behalf of this Society through his writings.17 Eventually he returned to Germany and became a professor at Kiel in 1921. In 1933, as the Nazis confiscated many of his colleagues’ books, Schrader was able to save his from being burnt by

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ensuring the Nazis of his „pure Aryan ancestry“. This feat also hints at Schrader’s völkisch political leanings. Ethnological elements in Indological scholarship continued to provide legitimacy to the völkisch views expressed by popular proponents of racialism like Arthur de Gobineau and →Houston Stewart Chamberlain, as well as by the academic →Hans F. K. Günther. These ideologues made specious ethnographic readings of Indian history not only to reinforce the völkisch, Indo-Aryan origins of German past but also to call for a racial hygiene programme allegedly along the lines of ancient Indian caste system. The caste system, they claimed, forbade the Nordic Aryans to associate with dark skinned aboriginals. 18 The Germanophile racist Chamberlain even expressed his thanks to the field of Indology with the words: “A brilliant series of scholars of Indology and Germanic culture has…completed their great deeds at the right moment; now we too possess our ‘holy books’ and what they teach is more beautiful and nobler than what the Old Testament records.”19 Hence, the two central concerns of the fin de siecle Indologists – to “purify” Christianity and resolve the dichotomy between science and faith – often led them into the academically spurious hands of the völkisch movement. A prominent precursor of this trend was Paul Deussen, professor of Philosophy at Kiel from 1889, friend of Nietzsche and admirer of Schopenhauer. Apart from academic works, Deussen wrote popular texts praising the virtues of Indian philosophy as pure, original and uncontaminated by Semitic influences. The Semites, he claimed, had contributed little to the “true” philosophy, of Christians in general and Germans in particular.20 The racial undertones of Deussen’s work were later appropriated by Alfred Rosenberg, the Nazi ideologue and minister, in his book “Der Mythus des 20. Jahrhunderts” (1930). Rosenberg also employed Deussen’s distinction between the philosophical-mythological Aryan philosophy and the “superstitious views on magic” of the subjugated non-Aryans of ancient India.21 Another Indologist who symbolized the connection between Indology and völkisch movement during this period was →Leopold von Schroeder, professor at University of Vienna, a personal friend of Chamberlain, and an avid Wagnernite. Schroeder’s two major völkisch oriented works were „Die Vollendung des arischen Mysteriums“ in Bayreuth (1911) and “Arische Religion” (two volumes, 1913–14). In the first, Schroeder traced an unbroken line of Aryan thought from ancient Indian texts to Wagnerian operas via Nordic legends. In the second, he sought to Aryanise Christianity and Germanise the Aryans by linking ancient Indian “Aryan” ideals to medieval Nordic/Germanic myths. Both Paul Deussen and Leopold von Schroeder joined the German Christians, an influential, late Weimar religious movement that revered völkisch nationalism and anti-Semitism, and eventually allied with the Third Reich.22 The more neo-pagan German Faith movement, which officially began in 1933, sought to extol the Nazi ideals of „Blut und Boden“ and replace Christian religious symbols with “Ger-

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manic” (neopagan) ones. It was led by →Jakob Wilhelm Hauer, professor for Religious Studies and Indology at the University of Tübingen from 1927 to 1945. An example of Hauer’s völkisch scholarship was his interpretation of the ancient Hindu text “Bhagavadgita” as a doctrine of National Socialist metaphysics of “Kampf und Tat”. This interpretation of the Gita allegedly inspired Heinrich Himmler in justifying mass murder.23 In another “important” work, titled “Das religiöse Artbild der Indogermanen und die Grundtypen der indoarischen Religion” (1937), Hauer claimed that the supposed creators of the Bhagavadgita, the Kshatriya or the warrior caste, could preserve the Aryan blood in their veins the longest.24 Hauer’s book was praised as a serious academic work which had practical significance since it spoke of heroism that mastered human tragedies through will and deed.25 This review, full of völkisch discourse, came from the Indologist Richard Schmidt, Professor at Münster and SS Obersturmführer.26 Another “like-minded” colleague of Hauer was Hermann Lommel, Professor of “Indogermanistik” at Frankfurt, who tried to establish the Germans’ “true relationship with the ancient Aryans and their spiritual essence” in his book „Die Alten Arier“ (1935). It cannot have been pure co-incidence that Lommel published a sequel to this book, extolling the martial valour of Indra, the “Aryan” god of war, in 1939.27 A Sanskrit expert who personified völkisch Indology in the Nazi state was →Walther Wüst. As a trusted henchman of Himmler, Wüst occupied several high ranking positions in the Third Reich, including that of the rector of the University of Munich and head of the →SS Ahnenerbe. In the latter capacity, he lent scholarly respectability to the crude racism that this völkisch association espoused, by trying, for example, to prove that Hitler’s „Mein Kampf“ was a reflection of Aryan worldview.28 Erich Frauwallner, professor of Sanskrit and director of the Orientalist Institute at the University of Vienna, who joined the Nazi party in 1932 when it was still banned in Austria, also propagated Völkisch ideals through works like “Der arische Anteil an der indischen Philosophie” (1939). In this article, Frauwallner claimed that the similarities between the European and ancient Indian philosophy were due to their “common (Aryan) blood”.29 He traced an original phase of pure Aryan philosophy which later degenerated into a non-Aryan Hindu phase. Frauwallner continued this racial argument in another article titled “Die Bedeutung der Indischen Philosophie” which he presented at an Orientalist conference convened as a part of the war effort (the so-called →Aktion Ritterbusch) in 1942. Here Frauwallner claimed that Indian philosophy was the only discipline outside Europe which was worthy of being called a Wissenschaft (science) because it was a “typical creation of an Aryan people”.30 No wonder, that Walther Wüst claimed in his closing speech that this convention was of substantial significance for the German Volk since the discussions on Orientalism proved that the efficaciousness of

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“German Wissenschaft” was “an achievement of the Nordic Indogermans”.31 This statement echoed the claim put forward in 1938 by the Indogermanist Hermann Güntert, SS and NSDAP member, dean of the Faculty of Philosophy in Heidelberg (1933–37), that research into Indo-Germanic languages examined the development and destiny of “our Aryan ancestors” and contributed to the history of the evolution of the German language, which mirrors the growth of “deutschen Volkstums”. In this way, this linguistic discipline contributed to the knowledge of “our völkisch essence” and our “völkische Art”, rendering a service to “our Volk”.32 The service to the German Volk by Indological scholars was also manifested in several “practical” ways, which included carrying on National Socialist and antiEnglish propaganda in India. Apart from Wüst and Hauer, another Indologist, Ludwig Alsdorf, NSDAP member and expert on Jainism, was involved in such propaganda, which was organised by the ministries of Rosenberg and Ribbentrop.33 In 1942 Alsdorf was appointed a lecturer at the Volks- und Landeskunde Indien at the University of Berlin, in the →Deutsches Auslandswissenschaftliche Institut (which was closely monitored by the Ministry of External Affairs and the Nazi Secret Service).34 The establishment of a Sonderreferat Indien (SRI) in Berlin under the External Affairs Ministry (Auswärtigen Amt) to support the Indian nationalist leader Subhas Chandra Bose, who had arrived in Germany in 1941, was also motivated by reasons of political propaganda. The SRI published a series of books on India titled “Indien in Einzeldarstellungen” “to provide a reliable source of information on India to the relevant German agencies concerned with that country”.35 The political implication of this claim is unmistakable.36 The series authors included Ludwig Alsdorf and a retired expert of Tamil, Hermann Beythan. The latter had also written a book titled “Who is Adolf Hitler?” in Tamil, which had been published jointly by the External Affairs Ministry and the Propaganda ministry in 1936.37 Several Indologists likewise used their knowledge of India by working as interpreters for the Indian Legion, comprising Indian POWs from the British Indian army which fought in Africa. This Legion was raised by Bose, whom Walther Wüst, among others, helped to set up a free Indian government in exile in 1942.38 The interpreters included Alsdorf, Paul Thieme, Professor of Indology at Breslau and Karl Hoffmann. The latter was a student of Walther Wüst at the university of Munich. Hoffmann had written a dissertation on “The old Indo-aryan words with nd, especially in the Rg Veda”, which was published by the Ahnenerbe, not the least because Hoffmann became an SS member in 1938.39 Thieme and Hoffmann jointly edited a magazine titled “Bhaibund” (Fraternity), aimed at the Indian soldiers. Surviving copies of the magazine show that the Indologists were not only mediating between languages and cultures but also inspiring the Indians to join the National Socialist cause, thereby providing a last service to the Völkisch Nazi state.40 After the war, only the ‘senior’ Indologists whose proximity to the Nazi regime was glaringly visible, met with legal impediments. Hauer was interned by the French occupying forces from 1945–47 and his professorship was annulled. In 1949,

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he was classified as a Mitläufer (accomplice) and forced into retirement, though with full pension.41 Walther Wüst was classified as ‘Belasteter’ (incriminated) in 1949 during a denazification process at Munich. He lost his professorship and was sentenced to three years of labour camp, which he had anyway gone through at different stations of internment after the war. Wüst was also charged in the legal case against the Ahnenerbe in Munich (1968) as well as in the judicial process against Nazi doctors at Nuremberg (1972) for complicity in murder. However, charges against him could not be proven and he spent the rest of his life in relative obscurity.42 Erich Frauwallner lost his academic position after the war due to his party affiliation. However, in 1951 the ban on Frauwallner’s right to teach was revoked and he returned to Oriental institute as a teacher. In 1955 he became the president of the newly formed Institut für Indologie and in 1960 he was given a full professorship.43 The younger scholars fared better. Ludwig Alsdorf became a professor at University of Hamburg in 1950 after a five year period of unemployment.44 Karl Hoffmann, despite his association with the SS, could become professor for Comparative Indogermanic languages at the University of Erlangen in 1955.45 Paul Thieme was interned by the British in 1945. He could return to his academic position at Halle after a year and from there, went on to make a highly successful career as a famous indologist at Yale in America and finally at Tübingen.46

Baijayanti Roy

1 George S. Williamson, The longing for myth in Germany: Religion and Aesthetic Culture from Romanticism to Nietzsche, Chicago et al 2004, p. 286. 2 Uwe Puschner, Die Völkische Bewegung im Wilhelminischen Kaiserreich: Sprache, Rasse, Religion, Darmstadt 2001, p. 14. 3 Uwe Puschner, Anti-Semitism and German Voelkisch ideology, in: Hubert Cancik/Uwe Puschner (eds.), Antisemitismus, Paganismus, Völkische Religion, München 2004, p. 56. 4 Vishwa Adluri/Joydeep Bagchi, The Nay Science: A history of German Indology, Oxford 2014, p. 5. 5 Ingo Haar (eds. et al), Handbuch der Völkischen Wissenschaften, München 2008, p.13. 6 Dorothy M. Figueira, Aryans, Jews, Brahmins. Theorizing authority through myths of identity, Albany, N.Y. 2002, p. 44. 7 Rudolf von Roth, Über die heiligen Schriften der Arier, in: Jahrbuch für deutsche Theologie 2 (1857), p. 141. 8 Jainism was an ancient Indian religious cult that shared many features of Buddhism, like nonviolence. 9 Danielle Buschinger, Das Mittelalter Richard Wagners, Würzburg 2007, p. 135. 10 Douglas T. McGetchin, Indology, indomania and Orientalism. Ancient India’s rebirth in modern Germany, N.J., 2009, p. 164–165. 11 Ibid. 12 Ibid., p. 133–134. 13 Paul Horn, August Friedrich Pott. Beiträge zur Kunde der Indogermanische Sprachen, Bd. 13, Göttingen 1888 (reprint 1974), p. 330. 14 Moritz Winternitz, Geschichte der indischen literature, Bd. 1, Leipzig 1909, p. 5.

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15 David Chidester, Empire of Religion. Imperialism and Comparative Religion, Chicago et al 2014, p. 270. 16 Richard Garbe: Indien und das Christentum: eine Untersuchung der religionsgeschichtlichen Zusammenhänge, Tübingen 1914. 17 F. Otto Schrader, Buddhism. Adyar Pamphlets No. 47, November 1914. 18 Lucia Staiano-Daniels, The melancholy of the thinking racist: India and the ambiguities of race in the work of Hans F.K. Günther, in: Transcultural encounters between Germany and India: Kindred spirits in the 19th and 20th centuries. Joanne Miyang Cho (eds. et al), London, N.Y. 2014, p. 173. 19 Houston S. Chamberlain, Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, quoted in: Suzanne Marchand, German Orientalism in the age of Empire. Religion, Race and Scholarship, N.J., Washington 2009, p. 292. 20 Suzanne Marchand, German Orientalism in the Age of Empire, Religion, Race and Scholarship, Washington D.C. 2009, p. 307. 21 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, München 1930, p. 29. 22 Marchand, German Orientalism, p. 309; Puschner, Die Völkische Bewegung, p. 215. 23 Karla O. Poewe, New Religion and the Nazis, NY 2006, p. 133. 24 Jakob Wilhelm Hauer, Glaubensgeschichte der Indogermanen, Bd. 1, Stuttgart 1937, p. XI. 25 Review by R. Schmidt, Orientalische Literaturzeitung (1939) 8/9, p. 546–548. 26 Richard Schmidt’s position in the SS has been mentioned in: Sheldon Pollock, Deep Orientalism? Notes on Sanskrit and power beyond the Raj, in: Carol A. Beckenbridge, Peter van der Veer (ed.), Orientalism and the post colonial predicament. Perspectives on South Asia, Philadelphia 1993, p. 94. 27 Herman Lommel, Die Alten Arier. Religion und Kultur der Alten Arier, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1935, and Bd. 2, Der Arische Kriegergott, Frankfurt a.M. 1939. 28 Walther Wüst, Des Führers Buch ‚Mein Kampf‘ als Spiegel Arischer Weltanschauung, in: Gerd Simon (ed.) online version: https://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/WuestBuddha.pdf (29.1.2017). 29 Erich Frauwallner, Der arische Anteil an der indischen Philosophie, in: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 46 (1939), p. 267–291. 30 Pollock, Deep Orientalism, p. 93. 31 Walther Wüst, Schlussrede, p. 201, in: H.H. Schaeder (ed.), Orient in deutscher Forschung, Leipzig 1944, p. 201. 32 Hermann Güntert, Neue Zeit-neues Ziel, in: Wörter und Sachen. Zeitschrift für Indogermanische Sprachwissenschaft, Volksforschung und Kulturgeschichte 19 (1938), p. 11. 33 Maria Framke, Delhi-Rom-Berlin: Die indische Wahrnehmung von Faschismus und Nationalsozialismus 1922–1939, Darmstadt 2013, p. 70, 74. 34 Horst Junginger, Terra Incognita: Die Geschichte der Indologie in der Zeit des Nationalsozialismus, Unpublished paper presented at a conference at Würzburg, titled: Perspektiven der Indienforschung: 200 Jahre Indienforschung: Geschichte(n), Netzwerke, Diskurse, 4.–5. July 2008. The Deutsches Auslandswissenschaftliche Institut specialised in contemporary politics, culture and languages of different lands. Teaching ‘living languages’ was an important goal of this institute, as Gideon Botsch claims in: Politische Wissenschaft im Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2006, p.107. 35 Jan Kuhlmann, Subhas Chandra Bose und die Indienpolitik der Achsenmächte, Berlin 2003, p. 163. 36 Ibid. 37 Junginger, Terra Incognita. 38 Ibid. 39 Maximilian Schreiber, Walther Wüst, Dekan und Rektor der Universität München 1935–45, Munich 2008, p. 133–134.

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40 Kuhlmann, Subhas Chandra Bose, p. 298. 41 Horst Junginger, Jakob Wilhelm Hauer, in: Ingo Haar (eds. et al.), Handbuch der völkischen Wissenschaften, Munich 2008, p. 234. Also, Margarete Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, Leben, Werk, Wirkung, Heidelberg 1986, p. 346. 42 Maximilian Schreiber, Walther Wüst, p. 347–358. 43 Jakob Stuchlik describes Frauwallner’s involvement in National Socialism and the corruptions in the ways of dealing with this past after 1945 in his book Der arische Ansatz: Erich Frauwallner und der Nationalsozialismus. Vienna 2009. 44 Klaus Brun, Obituary of Ludwig Alsdorf, in: Klaus Brun (eds. et al) Ludwig Alsdorf and Indian Studies, Delhi 1990, p. 7. 45 Schreiber, Walther Wüst, p. 357. 46 Johanna Narten, Obituary of Paul Thieme, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 2002, p. 311–317.

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Völkische Islamophile-Orientalistik Die Bedeutung der islamophilen Orientalistik innerhalb der völkischen Wissenschaften wurde lange unterschätzt. Dass hier nicht nur von völkischer Orientalistik, sondern von islamophiler Orientalistik die Rede ist, soll die Richtung anzeigen, in die sich der parteitreue Zweig der Orientalistik während des Dritten Reiches bewegte und soll außerdem den Zugang der Nationalsozialisten zu Kulturen und Gesellschaften islamisch geprägter Regionen verdeutlichen. „Islamophil“ bezeichnet mit der Endung „-phil“ eine Neigung zu etwas. Das altgriechische „Philia“ bedeutet „Freundschaft“. „Islamophilie“ bedeutet dementsprechend die Freundschaft zum Islam. „Orientalistik“ ist die Bezeichnung für die wissenschaftliche Untersuchung islamisch geprägter Regionen Asiens, Afrikas wie auch europäischer Gebiete des Osmanischen Reichs, ihrer Sprachen und Kulturen, aus einem eurozentristischen Blickwinkel. Die Beschäftigung mit islamischen Gesellschaften hat in Europa eine lange Tradition. Die Bezugnahme des Christentums auf den Islam und die gleichzeitige Abgrenzung von ihm bildeten seit dem Hochmittelalter einen wichtigen Fokus abendländischer Gelehrsamkeit. So waren beispielsweise verloren geglaubte Texte griechischer Philosophen in arabischer Übersetzung wieder gefunden worden, und in naturwissenschaftlichen Fächern und der Medizin waren arabische Gelehrte den Europäern weit voraus. Bereits im 13. Jahrhundert profitierten europäische Gelehrte von diesem vielfältigen Wissen, obwohl der Islam seit den Kreuzzügen die Anti-Religion zum Christentum schlechthin darstellte.1 Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wurde die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Orient und dem Islam intensiver. In der Fachrichtung „Orientalistik“ spezialisierten sich Wissenschaftler auf die Untersuchung von Sprachen, geistiger und materieller Kultur und Geschichte orientalischer Länder. Neue Regionen und ihre Gesellschaften sollten verortet, untersucht und in das europäische Weltbild eingeordnet werden. Orientalistik bot so gesehen stets auch Projektionsflächen europäischer Wahrnehmung muslimischer Lebenswelten auf der einen und Ausdruck einer Positionierung der eigenen abendländischen, christlichen Kultur auf der anderen Seite. Diese manifestierte sich in einem von Vorurteilen und Pauschalisierungen geprägten Orientalismus, der, wie von Edward Said formuliert, das Machtgefälle zwischen Orient und Okzident offenbarte.2 Der öffentliche Diskurs über orientalische Kulturen war somit abhängig von der ideologischen, politischen und ökonomischen Vorherrschaft Europas über andere Gebiete der Erde. Zudem wurden die Erforschung und Deutung des Orients geprägt vom Aufkommen zeitgenössischer rassistischer Theorien, was der Diskriminierung betreffender Völker Vorschub leistete. Die Beschäftigung mit dem Islam und den Gesellschaften des „Morgenlandes“ fällt zusammen mit der Intensivierung imperialistischer Bestrebungen europäischer Großmächte in Afrika und Indien, aber auch mit einer zunehmenden Mobilität des Bildungsbürgertums. Forschungs- und Bildungsreisen in muslimisch geprägte Ge-

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genden, durch die europäischen Gebiete des Osmanischen Reichs, durch Afrika, den Nahen, Mittleren wie auch den Fernen Osten nahmen zu. Parallel zu dieser Entwicklung wurden Institutionen geschaffen, die auf wissenschaftlicher Ebene eine Beschäftigung mit dem Forschungsgegenstand „Orient“ ermöglichten. Akademien entstanden, Gesellschaften und Vereine wurden gegründet, die sich dem Forschungsschwerpunkt „Orient“ widmeten. Erstmals wurde das Fach „Orientalistik“ 1795 in der Pariser École spéciale des langues orientales eingeführt, und Frankreich galt fortan als Ursprungsland für orientalische Studien, die nebst sprachlichen auch oben genannte Aspekte untersuchten. Ein auch für deutsche Studenten außerordentlich wichtiger Vertreter dieser frühen französischen Orientalistik war Antoine-Isaac Silvestre de Sacy. Denn erst fünfzig Jahre später wurde auf Initiative von Heinrich Leberecht Fleischer die Deutsche Morgenländische Gesellschaft (DMG) mit Sitz in Leipzig ins Leben gerufen. 1886 öffnete schließlich das Institut für Orientalistik an der Universität Wien seine Pforten. Im Deutschen Reich wurden neben der DMG weitere Institutionen gegründet, die sich der Untersuchung des Orients verschrieben, so etwa die Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft (GG) 1876 in Koblenz, der Deutsche Verein zur Erforschung Palästinas (DVEP) 1877 in Leipzig, die Deutsche Orient-Gesellschaft (DOG) 1898 in Berlin und die Deutsche Gesellschaft für Islamkunde (DGI) 1912 in Berlin. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert hatte das Deutsche Reich seine europäischen Nachbarn überflügelt: Im internationalen Vergleich nahm die deutsche Orientalistik nun eine führende Rolle ein. Die Deutsche Morgenländische Gesellschaft vergab jährlich das „Fleischer-Stipendium“, das jungen Nachwuchswissenschaftlern als Karrieresprungbrett diente. Nicht nur durch die Vergabe dieses Stipendiums, auch durch das Bereitstellen von Forschungsmitteln und als Herausgeberin zahlreicher Schriften beeinflusste und steuerte die Deutsche Morgenländische Gesellschaft als einflussreichste außeruniversitäre Institution die Gemeinschaft deutscher Orientalisten.3 Auch einige deutsche Universitäten blicken auf eine lange Tradition orientalischer Studien zurück, aber im Gegensatz zu den Pariser Orientalisten über einen rein philologischen Zugang. So beispielsweise die Universität Gießen, wo bereits 1670 ein Lehrstuhl für orientalische Sprachen eingerichtet wurde. Mit der Berufung Johann August Vullers 1833 nach Gießen kam erstmals ein Verfechter jener Richtung auf den Lehrstuhl, der die Orientalistik als eigenständige Disziplin betrachtete. Nach dessen Tod jedoch wurde dieser Lehrstuhl erst 1901 nach zwanzig Jahren Vakanz in einen Lehrstuhl für Semitistik umgewandelt und durch Friedrich Zacharias Schwally wieder besetzt. Auch die Universität Leipzig verfügte bereits seit 1728 über ein Orientalisches Institut, allerdings war es der Theologischen Fakultät angegliedert, und erst im 19. Jahrhundert wurden neben der ursprünglich philologischen Ausrichtung historische Forschungsaspekte berücksichtigt.

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Im Vergleich etwa zur deutschen Geschichtswissenschaft, deren Einbettung in die universitäre Landschaft bis 1880 bereits abgeschlossen war, etablierte sich Orientalistik als Fachrichtung an Universitäten erst um die Jahrhundertwende. Bis zum Ersten Weltkrieg gelang es auch nicht, Islamkunde (heute: Islamwissenschaft) als eigenständige Disziplin in die deutschen Universitäten zu integrieren. Der Zugang zu den orientalischen Kulturen über die Sprache blieb wegweisend. Unter der redaktionellen Leitung von Georg Kampffmeyer wurde zwar schon seit 1913 die Zeitschrift Die Welt des Islam herausgegeben, der einzige Lehrstuhl für „Geschichte und Kultur des Orients“ war jedoch außerhalb der Universität am Hamburgischen Kolonialinstitut untergebracht, das den Fokus in der Lehre zu Beginn seiner Existenz auf eine zukünftige Beschäftigung der Absolventen in den deutschen Kolonien legte.4 Islamkunde stellte aber, etwa im Vergleich zur Altorientalistik, einen wichtigen Gegenwartsbezug her und ließ sich auch politisch nutzen – wie im wissenschaftlichen Diskurs, der vor dem Ersten Weltkrieg noch anti-islamisch, seit der Allianz mit dem Osmanischen Reich aber pro-islamisch geprägt war, ersichtlich wird. Auch die DGI, die von Beginn weg zum Ziel hatte, sich mit gegenwartspolitischen Fragen des Islam auseinanderzusetzen, wurde stark von den imperialistischen Interessen des Kaiserreichs beeinflusst. Aufgrund dieses Instrumentalisierungspotentials sollten nun an Hochschulen vermehrt Gelehrte berücksichtigt werden, die neben den orientalischen Sprachen auch Wert auf Geschichte und Kultur legten. So wurde beispielsweise auf Druck des preußischen Kultusministeriums der seit 1908 am Hamburgischen Kolonialinstitut lehrende Carl Heinrich Becker 1913 an die Universität Bonn berufen, mit dem ausdrücklichen Auftrag, dort „die Geschichte und Sprache des Orients“ zu lehren. Becker war Mitbegründer einer gegenwartsbezogenen Orientalistik, von 1919 bis 1921 und 1921 bis 1925 Staatssekretär des preußischen Kultusministeriums, 1921 und 1925 bis 1930 Kultusminister und galt als wichtiger Reformer der Universitätslandschaft während der Weimarer Republik. In Beckers Person offenbart sich die bereits in der Zwischenkriegszeit herrschende Verzahnung von Orientalistik und Politik, vor allem in Gestalt des Auswärtigen Amtes und des Preußischen Kultusministeriums. Oft waren Orientalisten zugleich als Wissenschaftler wie auch im diplomatischen Dienst tätig. Die sprachliche Verwandtschaft von Hebräisch und Arabisch führte zu einem weiteren Merkmal der Orientalistik. Der Anteil jüdischer Orientalisten an deutschen Hochschulen war bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten überdurchschnittlich hoch: 25 Prozent der Lehrstühle hielten Wissenschaftler mit jüdischen Wurzeln inne. Insbesondere die DMG unterhielt vielfältige Kontakte zu unterschiedlichsten jüdischen Institutionen und Gelehrten. Nach Einführung der Nürnberger Rassengesetze 1935 beugte aber auch sie sich dem staatlichen Druck. Immerhin wurde in einer Satzungsänderung von 1940, die den Ausschluss jüdischer Mitglieder forderte, ein Zusatz berücksichtigt, der den Vorstand ermächtigte, nach freiem

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Ermessen auch Mitglieder aufzunehmen, die nicht den NS-Rasseansprüchen genügten.5 Zwischen 1933 und 1938 wurden rund ein Drittel der Wissenschaftler aus den Gebieten Semitistik, Islamwissenschaft, Altorientalistik und Ägyptologie aus dem Hochschulbetrieb entlassen. Die Entlassungen von Lehrstuhlinhabern und Forschenden erfolgten entweder aufgrund rassischer oder politischer Vorgaben des „Dritten Reiches“. Die drei Säuberungswellen, welche die Nationalsozialisten in diesen fünf Jahren im Bereich der deutschen Orientalistik umsetzten, sollten für die Disziplin weitreichende Folgen haben. Die Verfolgten suchten unter anderen in der Türkei, Palästina, England oder den Vereinigten Staaten Zuflucht, so etwa der Bonner Gelehrte Paul Kahle, der mit seiner Familie nach England fliehen musste. Orientalisten mit jüdischen Wurzeln, beispielsweise Hedwig Klein, wurden in Konzentrationsund Vernichtungslager deportiert, die sie in vielen Fällen nicht überlebten. Bei anderen wartete man die kurz bevorstehende Emeritierung ab wie im Falle des Rektors der Breslauer Universität Carl Brockelmann 1935, der sich gegen studentische Hetzkampagnen wie diejenige gegen Ernst Cohn einsetzte. Spätestens ab 1938 bestimmten NS-konforme Orientalisten die Forschungsschwerpunkte im „Großdeutschen Reich“.6 Die NS-Politik unterstützte aber die Orientalistik nicht in ihrer Gesamtheit, sondern in erster Linie projektbezogen.7 Die intensive Auseinandersetzung mit dem Islam diente insbesondere in den späteren Kriegsjahren dazu, potentielle menschliche Ressourcen zu lokalisieren und für den Dienst in Waffen-SS und Wehrmacht nutzbar zu machen. Der Krieg gegen die Sowjetunion und die Westalliierten sowie an Nebenfronten und die dadurch verursachten immens hohen Verluste verlangten nach neuen Rekrutierungsmöglichkeiten und der Suche nach Bündnispartnern, die man im Nahen Osten zu finden hoffte. Das Auswärtige Amt (AA) sowie die SS fungierten unter dem Nationalsozialismus als Institutionen, welche hohes Interesse am Islam und am Orient zeigten. Wissenschaftliche Berichte über orientalische Gebiete dienten letztendlich dazu, die deutsche Politik zu rechtfertigen und die der nicht verbündeten beziehungsweise feindlichen Staaten zu verurteilen. Dementsprechend war der wissenschaftliche Output durchsetzt mit frankophoben, anglophoben und antiamerikanischen Aussagen, die vermischt wurden mit antisemitischen und antikommunistischen Inhalten. So war die Orientalistik einerseits Handlanger der aktuellen Politik geworden, indem sie das Vorgehen der Kriegsgegner in den Kolonien und Protektoraten kritisierte. Andererseits verhalf sie der NS-Politik dazu, jene vermeintlichen rassischen Analogien und Abgrenzungen historisch herzuleiten, die den Genozid an Millionen von Menschen „wissenschaftlich“ legitimieren sollten. Insbesondere in der Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe der SS wird das Netzwerk NS-konformer Wissenschaft sichtbar. Das Ahnenerbe gliederte sich in 34 wissenschaftliche Abteilungen, so genannten Lehr- und Forschungsstätten. SSOberführer →Walther Wüst, seit 1935 Dekan der Philosophischen Fakultät, später

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Rektor der Universität München, seit 1937 zweiter Präsident und ab 1939 Kurator des Ahnenerbe, war selbst Indogermanist und deshalb interessiert daran, auch die Orientalistik in diese Forschungsgemeinschaft zu integrieren. Zuletzt unterstand sie als Amt A dem Persönlichen Stab des Reichsführers SS. Die Lehr- und Forschungstätigkeit für den Vorderen Orient wurde an SS-Sturmbannführer Viktor Christian, Dekan der Philosophischen Fakultät und Direktor des Orientalischen Instituts der Universität Wien, vergeben.8 Ein weiter Exponent in der orientalistischen Abteilung des Ahnenerbes war SSUntersturmführer Otto Rössler, ein Afrikanist und Semitist, an dessen Person die Verquickung von Forschung und Nationalsozialismus exemplarisch aufgezeigt werden kann. Studiert hatte Rössler in Wien und Berlin, promoviert hatte er in Berlin, und habilitiert wurde er in Tübingen. 1941 erhielt er dort eine befristete Dozentenstelle, war aber zur gleichen Zeit bereits im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) im Amt VII B 1 unter der Leitung von SS-Standartenführer Franz A. Six angestellt. In diesem Amt, das sich den Themen „Freimaurer und Judentum“ widmete, unterstützte er mit seinen spezifischen Kenntnissen die Einbettung der „Endlösung der Judenfrage“ in einen völkisch-wissenschaftlichen Kontext. Hervorgehoben wurde in der Forschung während des Dritten Reiches auch der absolutistische Anspruch des Islams als religiöses Pendant zum quasireligiösen Wesen des Nationalsozialismus. So schrieb etwa Franz Ronneberger, ein enger Mitarbeiter des Historikers →Fritz Valjavec am Südost-Institut in München, begeistert von der totalitären Ausrichtung des Islam. Die Ganzheitlichkeit des Islams, die muslimische Gesellschaften „in allen sozialen Funktionen, religiös, bürgerlich, politisch“ umschließe und vereinnahme, erschien völkischen Wissenschaftlern wie Ronneberger als erstrebenswertes Ideal.9 In der islamophilen Orientalistik wurden solche idealtypischen Aspekte des Islam als Vorbild für den Nationalsozialismus nun unterstrichen. Der Islam wurde als System präsentiert, das die ganze Gesellschaft wie auch jedes einzelne Individuum kontrollierte – diesen Anspruch erhob auch der Nationalsozialismus für sich. Ähnliche Aspekte zeigen auch weitere Artikel, die im Völkischen Beobachter, dem Parteiorgan der NSDAP, über „Panislamismus“, „Der Islam und seine Völker“ oder „Der Islam in der Prüfung“ erschienen sind.10 Letztlich ging es aber bei der positiven Darstellung orientalisch-islamischer Lebenswelten nicht nur darum, Parallelen zwischen Islam und Nationalsozialismus aufzuzeigen, sondern Bezugspunkte zu suchen und – wenn nötig – zu schaffen, welche die Rekrutierung von Muslimen in nationalsozialistische Einheiten erleichterten beziehungsweise erst ermöglichten. Die personellen Ressourcen, die nach dem Scheitern des Ostfeldzugs dringend benötigt wurden, schätzte Ronneberger 1942 auf 90 Mio. Muslime in Indien, 12,6 Mio. in der Türkei und knapp zwei Mio. in Europa. China und Malaysia erwähnte er ebenfalls, ohne aber konkrete Zahlen zu nennen.11

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Das Augenmerk lag dabei insbesondere auf den europäischen Muslimen. Diese bildeten zwar im Vergleich zu anderen Kontinenten eine verschwindend kleine Gruppe, der Zugriff auf sie war aber vergleichsweise einfach. Die Nationalsozialisten gingen davon aus, dass die globale islamische Glaubensgemeinschaft genau beobachten und registrieren würde, wie sie sich gegenüber den europäischen und nordafrikanischen Muslimen verhielten. Würde es ihnen gelingen, das Image einer Schutzmacht der Muslime zu kreieren, würden weitere Muslime folgen, so die einfache Rechnung. Ronneberger formulierte diesen Anspruch folgendermaßen: „In Wort und Tat haben Italien und Deutschland ihre Bereitschaft und Entschlossenheit bezeugt, den mohammedanischen Völkern im Kampf um die Erhaltung und Sicherung ihrer Lebensrechte beizustehen.“12 Nach der Vertreibung unliebsamer Personen aus den Universitäten veränderte sich der Forschungszweig der Orientalistik nicht nur hinsichtlich oben genannter Elementen, Diffamierung des Feindes und Rechtfertigung von Völkermord. Es setzte eine Instrumentalisierung des Faches ein, welche als zentralen Aspekt die Nutzbarmachung des Islams für militärische Zwecke zum Ziel hatte. Aus nationalsozialistischer Perspektive war der „erwachende Islam“ als politische Bewegung wert, wissenschaftlich untersucht zu werden. Denn der – vielleicht entscheidende – Einfluss, den muslimisch geprägten Gesellschaften bei einer Weiterführung des Krieges haben würden, wurde von nationalsozialistischen Forschenden, Journalisten, Politikern und Militärs bereits Ende der 1930er Jahre erkannt. Auch die Überzeugung, dass die islamische Gemeinschaft als Ganzes funktionierte, als „orientalisch-islamische Schicksalsgemeinschaft“, die in der Auseinandersetzung mit abendländischen Ideologien zusammenhielt, prägte den deutschen Umgang mit Islam und Orient. Denn in Deutschland war man sich bewusst, dass sich „die Anhänger des Propheten […] umworben [fühlen]. Die Rivalität der europäischen Kolonialmächte hat ihnen ihre neue Stellung verschafft, erst ohne ihr Zutun, allmählich aber mit Bewusstsein ausgebaut.“13 Der Islam wurde zu einem ernstzunehmenden Machtfaktor, wie der Afrikanist Meinulf Küsters konstatierte: „Gewaltige Erschütterungen kennzeichnen unsere Gegenwart. Politische Umwälzungen größten Ausmaßes sind die Folgen des erbitterten Kampfes, den die Ideen miteinander führen. In Europa, Amerika, Ostasien und im Nahen Osten, überall ringen neue Kräfte um den Durchbruch, kämpfen alte Geistesströmungen um ihre Wiedergeburt und Wiederbelebung. So wird man die Fragen des Nahen Ostens, die Kämpfe in Palästina, die Gärung in der arabischen Welt nur verstehen können, wenn man um die Frage des Islam Bescheid weiß.“14 Im Dritten Reich nahm man die muslimischen Kräfte als eine „geistige Einheit […] im Kampf gegen das Abendland“ wahr, eine Art islamischer Nationalismus, der mit europäischen Zäsuren wie etwa der Französischen Revolution oder der Bildung von Nationalstaaten nicht vergleichbar sei, sondern als Reaktion auf die imperialistischen Ziele europäischer Großmächte entstanden sei. Früh kam man zum Schluss, dass diese politische Bewegung nur als „Synthese zweier Kräfte, von denen die eine

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laizistisch und national im Sinne des europäischen Vorbildes ist, die andere aber religiös islamisch, das heisst ‚orientalisch‘ oder ‚anti-okzidental‘“ verstanden werden könne. „Und der islamische Nationalismus ist keineswegs Nationalitätenproblem im Sinne Europas, sondern die gestaltende Kraft am Neubau der arabischen Welt, in der die politische Reaktion gegen den abendländischen Imperialismus zum Ausdruck kommt.“15 Eine Macht also, die entweder in geeignete Bahnen gelenkt werden musste oder sich gegen das Dritte Reich wenden würde. Wie aber konnte diese „anti-okzidentale“ Haltung überwunden und für nationalsozialistische Zwecke genutzt werden? Auf praktischer Ebene beherbergte das Dritte Reich als Zeichen seiner islamophilen Einstellung zwei herausragende und umstrittene Exponenten der muslimischen Welt: Den von den Nationalsozialisten als rechtmäßiger Herrscher des Iraks anerkannten Raschid Ali al-Gailani und den Großmufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini. Letzterer war bekannt für seine radikal antisemitische Einstellung, die er bereits in den 1920er Jahren formuliert hatte und aufgrund derer er von den Briten verurteilt worden war. Beide sollten in der Propagandamaschinerie eine wichtige Rolle spielen. Al-Husseini wurde insbesondere bei den Rekrutierungsanstrengungen für zwei der muslimischen Waffen-SS Divisionen, die „Handschar“ und die „Kama“ in Südosteuropa, eingesetzt. Im Juli 1943 beauftragte Reichsführer SS Heinrich Himmler den Chef des SS-Hauptamtes, SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Gottlob Berger damit, beim Großmufti genaue Ernährungsvorschriften des Islam abzuklären.16 Für die religiöse Betreuung muslimischer Einheiten sollten Imam- und Mullah-Kurse angeboten werden, um sicher zu gehen, dass die Soldaten von Geistlichen betreut würden, die eine entsprechende nationalsozialistische Vorbildung genossen hatten. Solche Institute waren sowohl in Guben als auch in Dresden geplant, und sollten der Leitung des Großmuftis unterstehen.17 Ein wesentlicher Berührungspunkt schien den Nationalsozialisten der →Antisemitismus zu sein. Über dieses gemeinsame Feindbild versuchte man auch andere Brücken zu schlagen. Geschickt wurde hier eine Verbindung zwischen „Weltjudentum“ und Großbritannien hergestellt, das als Kolonialmacht ein Feindbild erster Ordnung darstellte. Himmler ging so weit, dass er „zur Mobilisierung des Islam“ einen „Führerbefehl“ erwirken wollte, um so Zugriff auf alle „waffenfähigen Muselmanen“ Europas zu erhalten. Der Großmufti sollte als Werbeträger in Rundfunk, Presse und über Flugblattpropaganda für die muslimischen Einheiten der WaffenSS eingesetzt werden.18 Trotz dieser Absichten, den Islam für die Mobilisierung von Millionen Muslimen aus Europa, Nordafrika, dem Nahen und dem Mittleren Osten zu instrumentalisieren, blieb die Auseinandersetzung der NS-Spitze mit dem Islam eine oberflächliche. Der Begriff „Weltislam“ widerspiegelt dieses pauschalisierende Verhältnis der Nationalsozialisten zur islamischen Welt, die vorwiegend als eine monolithische Gemeinschaft wahrgenommen wurde.19 Dennoch wurde noch Anfang 1944 die „Forschungsstelle Orient“, zuerst als „Orient-Institut“ geplant, an der Universität Tübin-

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gen eingerichtet. Organisatorisch war sie Teil des →RSHA VI G. Als Leiter der Forschungsstelle wurde Walter Lorch eingesetzt, ein Spezialist für den Vorderen Orient. Abschließend bleibt zu sagen, dass für die Vertreter des Dritten Reiches literarische Darstellungen des Orients oft wichtiger waren als wissenschaftliche Erkenntnisse. Schriftsteller beeinflussten den Diskurs über und das Verständnis vom Orient in der breiten Bevölkerung in mindestens dem Maße wie die Orientalistik selbst. Einer der wichtigsten Vertreter dieser Gattung war der Jugendschriftsteller Karl May, der breit rezipiert wurde und, wie der Sonderbeauftragte Südost Hermann Neubacher schrieb, für die „Jugend zwischen 10 und 80 Jahren“ von großer Bedeutung sei.20 Durch seinen Orientzyklus, der 1892 erstmals erschien, hatte er die Wahrnehmung vieler Deutscher von „Orient“ mitgeprägt. Delikat an Mays Beschreibungen ist aber, dass er zwar Berichte zeitgenössischer Forschungsreisender studiert, selbst aber die Gebiete zum Zeitpunkt der Abfassung seiner Romane nie betreten hatte. Die Orientalistik entwickelte sich während des Dritten Reiches insbesondere aufgrund kriegsbedingter Zwänge zu einer für die nationalsozialistische Propaganda wichtigen Wissenschaft. Diese Entwicklung ging einher mit der Verdrängung, Verfolgung, und Ermordung von kritischen Orientalisten und solchen, die nicht den „rassischen“ Vorgaben entsprachen. Am Ende blieb ein Wissenschaftszweig, der ganz im nationalsozialistischen System aufging und mithalf, den Antisemitismus „wissenschaftlich“ zu begründen und somit die Vernichtung von Millionen von Menschen zu rechtfertigen, durch seine islamophile Ausrichtung die Rekrutierung von Muslimen in deutsche Verbände zu ermöglichen und die Suche nach potentiellen Bündnispartnern voranzutreiben.

Franziska Zaugg

1 Vgl. Ekkehard Ellinger, Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus 1933–1945, Edingen-Neckarhausen 2006, S. 279. 2 Vgl. Edward W. Said, Orientalism, New York 19942, S. 7. 3 Vgl. Sabine Mangold, Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“ – Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004, S. 201. 4 Vgl. Mangold, „Weltbürgerliche Wissenschaft“, S. 173, 261–264. Vgl. Ellinger, Deutsche Orientalistik, S. 27f. 5 Vgl. Ellinger, Deutsche Orientalistik, S. 83. 6 Vgl. Ludmila Hanisch, Die Nachfolger der Exegeten. Deutschsprachige Erforschung des Vorderen Orients in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 2003, S. 114–118. 7 Ursula Wokoeck, German Orientalism. The Study of the Middle East and Islam from 1800 to 1945, New York 2009, S. 202. 8 Ellinger, Deutsche Orientalistik, S. 109. 9 BArch, NS 5-VI/16961, „Der Islam im Antlitz Europas“, Dr. Franz Ronneberger, in: Völkischer Beobachter (VB), Nr. 296, 23.10.1942.

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10 Ebd., „Der Islam und seine Völker“, Dr. Philipp Hildebrandt, in: VB, Nr. 91, 1.4.1937; ebd., „Panislamismus“, ftw, in: VB, 18.4.1936. Vgl. „Der Islam in der Prüfung“, Dr. H. Höpfl, in: VB, Nr. 279, 6.10.1942. 11 BArch, NS 5-VI/16961, „Der Islam im Antlitz Europas“, Franz Ronneberger, VB, Nr. 296, 23.10.1942. 12 Vgl. ebd., „Der Islam im Antlitz Europas“, Franz Ronneberger, VB, Nr. 296, 23.10.1942. 13 Ebd., Ohne Autorenangabe, in: Der Angriff, Nr. 67, 20.3.1937. 14 Ebd., Meinulf Küsters, in: Frankfurter Volksblatt, Nr. 24, 26.1.1938. 15 Ebd., „Von unserem Mitarbeiter“/ohne Namensangabe, in: Germania, Nr. 4, 5.1.1938. 16 Vgl. BArch, NS 19/2601, fol. 142, Himmler an Berger vom 22.6.1943. 17 Vgl. Pieter Sjoerd van Koningsveld, The Training of Imams by the Third Reich, in: Willem B. Drees, Pieter Sjoerd van Koningsveld (Hg.), The Study of Religion and the Training of Muslim Clergy in Europe. Academic and Religious Freedom in the 21st Century, Leiden 2008, S. 334f., 37. 18 BArch, NS 31/42, fol. 6, „Mobilisierung des Islam“, Reichsführer SS, SS-Hauptamt A I/M, 28.2.1944. 19 Vgl. David Motadel, Islam and Nazi Germany’s War, Cambridge u.a. 2014, S. 4. 20 Hermann Neubacher, Sonderauftrag Südost 1940–1945. Bericht eines fliegenden Diplomaten, Göttingen 1956, S. 114.

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Völkische Religionswissenschaft Der eigentümliche Sinngehalt des Wortes völkisch bildete sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts heraus, wobei andere Übersetzungen des lateinischen popularis (vom lateinischen Substantiv populus = Volk) wie „volkhaft“ oder „volklich“ ganz ausser Gebrauch kamen. Inhaltlich meint das Adjektiv „völkisch“ wesentlich anderes und mehr als eine blosse Eigenschaft von Volk. Es diente vor allem zu Zeiten nationaler Krisen als Losungswort für solche Programmentwürfe, in denen die Partikularinteressen antagonistischer Klassen und Gesellschaftsschichten auf der höheren Ebene des Volkes aufgehoben schienen. Sinnverwandte Begriffe wie volkstümlich, national oder nationalistisch vermögen dagegen nur ungenau zu beschreiben, worin das Charakteristische der völkischen Idee besteht. Ihre Eigenart gründet auf einer in dieser Form spezifisch deutschen Geschichtsentwicklung, die auch der Grund dafür ist, dass das Wort völkisch nicht adäquat übersetzt werden kann. Das gleiche Manko teilen einige Überbleibsel völkischen Denkens, die sich in der deutschen Sprache bis heute erhalten haben. Dazu gehören die Volksdeutschen, die Volkswohlfahrt, die Volksbücherei, die Volkskirche und nicht zuletzt der Volkswagen, für die es keine angemessenen fremdsprachlichen Äquivalente gibt. Hinter dem Ausdruck völkisch steht das Problem, dass es in Deutschland lange Zeit unklar war, wer nach welchen Kriterien dem deutschen Volk zuzurechnen sei. Die bis weit ins 19. Jahrhundert andauernde Zersplitterung Deutschlands in kleine und kleinste Staatsgebilde mit jeweils eigener Zollhoheit verzögerte die Entstehung eines modernen Nationalstaates, der sich über seine äusseren Grenzen definierte. Unter diesen Umständen bildeten sich romantisierende Vorstellungen vom deutschen Volk heraus, die das Fehlen einer eigenen Staatszugehörigkeit dadurch zu überwinden suchten, dass sie im bewussten Gegensatz zu den industriell fortgeschrittenen Ländern Frankreich und England eine wirkliche „→Volksgemeinschaft“ deutscher Nation propagierten, die nicht auf äusserlich materiellen sondern auf ideellen Werten beruhte. Der deutsche Volksmythos wurde zur tragenden Grundlage der völkischen Idee.1 Obgleich die nationalen Mythen der Deutschen in hohem Masse religiös geprägt waren, blieb der christliche Volksstaat aller Deutschen insbesondere deshalb eine Illusion, weil die im Verlauf der deutschen Nationalstaatsbildung zu Tage tretenden Widersprüche vielfach auf religiöse Ursachen, das heisst auf die Glaubensstreitigkeiten des 16. Jahrhunderts zurückgingen. Der Grundsatz des Augsburger Religionsfriedens von 1555 „cuius regio, eius religio“ entwickelte sich zum grössten Hindernis deutscher Nationalstaatlichkeit. Er führte zum Dreissigjährigen Krieg und nicht zum stammes- oder länderübergreifenden Deutschen Reich. Auf der Grundlage des nachreformatorischen Territorialkirchentums musste jedes christliche, auf eine übergeschichtlich spirituelle Einheit abzielende Volksmodell als eine die tatsächlichen Verhältnisse auf den Kopf stellende Ideologie erscheinen. Dies umso mehr, als sich der Prozess der religiösen Differenzierung fortsetzte und in eine zunehmend säkula-

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rer werdende Gesellschaft mit einem beträchtlichen Prozentsatz an kirchlich nicht mehr gebundenen oder sogar gänzlich glaubenslosen Menschen einmündete. Auch der auf eine nichtchristliche Traditionsbildung hin ausgerichtete völkische Paganismus war ausser Stande, ein allgemeinverbindliches religiöses Konzept zu formulieren, geschweige denn, es zu verwirklichen. Statt einer Art Nationalkirche den Weg zu ebnen, trug das ‚Heidentum‘ nicht unwesentlich zur Verschärfung der religiösen Auseinandersetzungen und der Glaubensspaltung in Deutschland bei. Die völkische Religionswissenschaft nahm den von einer ausserchristlichen Religionsauffassung ausgehenden Impuls auf und versuchte, ihn theoretisch zu verarbeiten. Über die „Arierfrage“ und das sogenannte „Indogermanenproblem“ bestanden von Anfang an enge Verbindungslinien zwischen paganen Vorstellungen und der völkischen Religionswissenschaft. Im Gegensatz zur christlichen Theologie, deren glaubensmässige Voraussetzungen im 19. und 20. Jahrhundert zum Teil radikal in Zweifel gezogen wurden, versprach das Studium der indogermanischen Religionsgeschichte ein höheres Mass an Evidenz, da es auf die vermeintlich objektiven Erkenntnisse der anthropologischen Rassenkunde aufbauen konnte. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Idee der Rasse das Kernstück der völkischen Religionswissenschaft bildete. Noch deutlicher als bei den „Ariern“ trat die religiöse Unterströmung bei ihrem semitischen Gegenpol zu Tage. Auch die Semiten, die Söhne Sems nach der Völkertafel in Genesis 10, waren eigentlich nur eine Sprachgemeinschaft, die ausserhalb der philologischen Forschung keinerlei Bedeutung erlangt hätte, wenn die Vorstellung vom Judentum nicht durch religiöse Kategorien vorgeformt wäre. Die Erfindung einer semitischen Rasse entsprang dem ungelösten Problem der „halsstarrigen“ Verweigerung der Juden, sich zum Christentum zu bekehren und dessen religiöse Vorrangstellung anzuerkennen. Jene berühmte „Judenfrage“ war zuallererst eine religiös ungeklärte Frage, die erst sekundär von politischen, gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und auch rassistischen Determinanten überlagert wurde. Das Judentum selbst spielte in der Religionswissenschaft nur eine untergeordnete Rolle. Das hing mit internen Entwicklungen und damit zusammen, dass die Religionswissenschaft Christentum und Judentum der Theologie überliess und sich ganz auf die sogenannte Fremdreligionen konzentrierte. In der gesellschaftlichen Krisensituation nach dem Ersten Weltkrieg nahm die völkische Bewegung einen starken Aufschwung, in dessen Sog sich auch die völkische Religionswissenschaft entwickelte. Die christlichen Kirchen hatten zusammen mit der gesellschaftlichen Vorrangstellung auch ihr religiöses Deutungsmonopol verloren. Wegen ihrer rückwärtsgerichteten Fixierung auf die kaiserliche Monarchie wurden sie weithin für unfähig gehalten, die religionslose Arbeiterschaft in das Volksganze integrieren zu können. In der Frontstellung gegen die hegemonialen Ansprüche der etablierten Kirche formierte sich die völkische Religionswissenschaft als Metatheorie einer alternativen, völkisch-paganen Religiosität. Da sie ausser wissenschaftlichen zugleich religiöse Interessen verfolgte, lehnte sie jeden epistemolo-

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gischen Agnostizismus oder Positivismus als dem religiösen Leben unangemessen ab. Ihr theoretischer Ansatz zielte gerade umgekehrt darauf ab, Wissenschaft und Religion unter völkischen Vorzeichen wieder zu einem organischen Ganzen zusammenzufügen. Allerdings kam der völkischen Religionswissenschaft diese doppelte religiöse und wissenschaftliche Aufgabenstellung erst nach der Machtübertragung des Jahres 1933 wirklich zu Bewusstsein. Bis dahin äusserte sich der völkische Aufbruch in einem tastenden Suchen mit Entwicklungsmöglichkeiten nach verschiedenen Seiten hin. Jetzt glaubten sich völkische Religionswissenschaftler aber im Zentrum des Geschehens und hielten sich für berufen, die ideologische Grundlegung des „Dritten Reiches“ entscheidend mitzugestalten. Wer, wenn nicht die völkische Religionswissenschaft, sollte den Beweis dafür erbringen, dass die geistige Substanz und der geschichtliche Ursprung der nationalsozialistischen Weltanschauung im alten „Arier“und „Indogermanentum“ lag? Völkische Religionswissenschaftler beschäftigten sich ihrem Eigenverständnis nach mit der geistigen Tiefendimension des Nationalsozialismus und dem, was das „Dritte Reich“ in seinem Innersten zusammenhielt. Aus ihrer Sicht musste der nationalsozialistische Staat ein auf Sand gebautes flüchtiges Gebilde bleiben, falls es nicht gelang, ihn in der religiösen Tradition der „Indogermanen“ zu verwurzeln. In dem Masse, wie die beiden Adjektive völkisch und nationalsozialistisch nach 1933 zu einem Synonym wurden, bedeutet auch der Ausdruck der völkischen Religionswissenschaft in erster Linie nationalsozialistische Religionswissenschaft. Die Religion der „Arier“ oder „Indogermanen“ bildete ihren imaginären Bezugspunkt, den es über den „Rassegedanken“, das heisst über eine „rassische“ Religionsgeschichte wissenschaftlich zu fundieren galt. Das Hauptkennzeichen der völkischen Religionswissenschaft ist deshalb der von ihr unternommene Versuch, die angeblich von der Natur des Menschen selbst vorgegebene Beziehung zwischen Rasse und Religion historisch nachzuweisen und theoretisch zu verarbeiten. Die Idee der „Rasse“ hatte für die völkische Religionswissenschaft den entscheidenden Vorteil, dass sie sowohl eine ideelle als auch eine scheinbar materielle Seite besaß. Bislang hatte man „Gott“ für die Ursache und den Seinsgrund (causa essendi) einer Religion angesehen. Er ist es, der die Phänomene der Religionsgeschichte bewirkt. Da „Gott“ der Wissenschaft aber nicht zugänglich ist, nicht gewusst, sondern nur geglaubt werden kann, erhält jede theologisch ausgerichtete Religionsforschung automatisch zwei unterschiedliche Wahrheitsebenen. Neben der normalen, mit den Methoden der Religionswissenschaft zu erfassenden Religionsgeschichte, gibt es den eigentlich religiösen Bereich, die absolute Sphäre Gottes, die von der Wissenschaft nicht tangiert wird. Unter den Bedingungen einer allgemeinen Religionsgeschichte und der Annahme vieler Götter mit einer ebenso grossen Zahl „absoluter“ Wahrheiten muss ein solcher Lösungsansatz aber als offenkundig subjektiv ausscheiden. Der an und für sich naheliegende Schritt einer Anthropologisierung der Religionsgeschichte würde aber in letzter Konsequenz, so die Befürchtung,

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zu Anthropomorphismus und Materialismus führen, denn er impliziert, dass sich der Mensch seine Religion und seine Götter selbst schafft. Die erkenntnistheoretische Leerstelle einer auf den religiösen Glauben angewiesenen a-historischen Bestimmung von Religion konnte durch die Idee der Rasse geschlossen werden. Mit ihrer Hilfe schien eine Lösung für das alte Dilemma der Religionswissenschaft möglich, die geglaubte Wirklichkeit einer Religion nicht ohne Rückgriff auf einen religiösen Erfahrungshorizont, das heisst theologisch, erfassen zu können. Der völkischen Religionswissenschaft galt nun ganz einfach eine solche Religion als wahr, die ihrem rassischen Wesen entsprach. Gleichzeitig liess der Doppelcharakter der Rassenidee genügend Spielraum für eine ideelle und somit auch religiöse Bestimmung der völkischen Glaubensgeschichte. Nicht nur für die völkische Religionswissenschaft, sondern für jede Art der Religionsforschung stellt die Frage nach dem Verhältnis zur „eigenen“ Religion ein zentrales Thema dar. Worin besteht der Unterschied zwischen einer theologischen und einer religionswissenschaftlichen Betrachtungsweise? Auf welcher Ebene kann das Christentum mit dem Buddhismus, dem Islam oder auch den „primitiven“ Religionen der indigenen Völker verglichen werden? Wie hat die Religionswissenschaft den Wahrheitsanspruch des Christentums und die herausragende Stellung der Kirchen in der deutschen Gesellschaft zu beurteilen? Die Einsicht, dass alle Religionen ihren je eigenen Wert in sich tragen und aus ihrem eigenen kulturellen und sozialen Kontext heraus zu verstehen sind, bildet den Ausgangspunkt des genuin religionswissenschaftlichen Ansatzes. Die Religionswissenschaft sah in den ausserchristlichen Religionen nicht mehr das widergöttliche oder im besten Fall fehlgeleitete Heidentum, das es zu missionieren und zu bekehren galt, sondern eine autonome, von ihrer Beziehung zum christlichen Heilsangebot unabhängige Grösse. Zwangsläufig verlor das Christentum in einer solchen Perspektive seine religiöse Vorrangstellung. Es wurde eine Religion wie jeder andere und Teil der „allgemeinen“ Religionsgeschichte. Ihren entscheidenden Anstoss erfuhr die Allgemeine Religionsgeschichte, wie der ursprüngliche Name der Religionswissenschaft lautete, durch den Gleichheits- und Autonomiegedanken der Aufklärung. Auf der Negativfolie des religiösen Fanatismus und der Glaubenskriege früherer Jahrhunderte wurde die Vorstellung der allgemeinen Gleichheit auf dem Gebiet der Religion zum entscheidenden Charakteristikum der sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an zahlreichen europäischen Universitäten etablierenden Religionswissenschaft.2 Expeditionen in fremde Länder und Kontinente, ethnographische Berichte von Missionaren und Reisenden, der internationale Warenaustausch wie die koloniale Expansion hatten eine Vielzahl neuer Religionen in das Blickfeld Europas gebracht. Ihre heiligen Bücher harrten noch lange Zeit der Übersetzung und vergleichenden Analyse. Die Wichtigkeit der klassischen Altertumswissenschaft und der orientalischen Philologien für die Entwicklung der Religionswissenschaft kann daher kaum hoch genug veranschlagt werden. In diesem Zusammenhang ist besonders an die auf 50 Bände veranschlagte Reihe der „Sacred Books of the East“ zu erinnern, die

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der Indologe und Religionswissenschaftler Friedrich Max Müller seit 1879 herausgab. Gerade auf dem Gebiet der damals so genannten „arischen Philologie“, das heisst beim Studium der Religionen Indiens und Irans, erbrachte die religionswissenschaftliche Forschung herausragende Leistungen. Eine strukturelle Affinität der Religionswissenschaft mit der Religion der „Arier“ oder „Indogermanen“ erscheint hier in gewisser Weise schon präformiert. Wenn sich nun auf der einen Seite der wissenschaftliche Nachweis einer indogermanischen beziehungsweise indoeuropäischen Spracheinheit führen liess (Franz Bopp), und wenn man andererseits von einer engen Zusammengehörigkeit von Sprache und Religion ausging, lag es möglicherweise nahe, das Volk der „Arier“ auch über die Religion und mit Hilfe religionswissenschaftlicher Kategorien bestimmen zu wollen. Womöglich war der Schritt von der arischen Philologie zur arischen Weltanschauung schon in einem allzu weiten Sprachverständnis angelegt, das in der Sprache ein Medium sah, das ausser Wortbedeutungen auch Weltbilder übermitteln konnte. Da es sich als aussichtslos herausstellte, die intendierte Urreligion der „Arier“ allein auf sprachwissenschaftlichem Wege herzuleiten, versuchten einige Wissenschaftler, die sogenannte „linguistische Paläontologie“ um andere, nichtwissenschaftliche und letztlich auch um rassische Interpretationsansätze zu erweitern. Gleichwohl wäre es falsch, die sich im 19. Jahrhundert formierende Idee der Rasse teleologisch auf den Rassismus des „Dritten Reiches“ und den nationalsozialistischen →Antisemitismus hin zu interpretieren. Erst unter dem Einfluss nationalistischen und völkischen Denkens wurde aus einer zulässigen und seinerzeit vielleicht sogar sinnvollen Hypothese der wissenschaftlichen Klassifikation ein System pejorativer Zuschreibungen. Erst dann kam es in grossem Stil zur Herabsetzung „niederer“ Rassen und vice versa zur radikalen und ungehemmten Aufwertung der eigenen „arischen Rasse“. Eine solche Tendenz lässt sich ansatzweise bereits bei Friedrich Max Müller, einem der grossen Pioniere der europäischen Religionswissenschaft, beobachten.3 Während seiner Studienzeit gehörte Müller noch zur demokratischen Opposition des Vormärz, um drei Jahrzehnte später auf die Bismarcksche Machtstaatpolitik einzuschwenken. Im Zusammenhang der imperialen Konsolidierung des Deutschen Kaiserreichs scheint sich dieser Zug bei ihm noch verstärkt zu haben. Müller trat 1894 der deutschen Gobineau-Gesellschaft bei, deren erklärtes Ziel darin bestand, die ohne jeden Zweifel rassistischen Ansichten des französischen Grafen und Schriftsteller Joseph Arthur Comte de Gobineau in Deutschland zu verbreiten. Auch der Gründer des Archivs für Religionswissenschaft Thomas Achelis zählte zum Kreis der Gönner und Freunde der Gobineau-Vereinigung. Bis zum Ersten Weltkrieg beschränkte sich die weltanschauliche Umsetzung und konkrete Nutzanwendung des Rassegedankens auf kleine Randgruppen im völkischen Lager. Und auch innerhalb der völkischen Bewegung blieben die Anhänger einer arischen oder indogermanischen Religion eine verschwindend kleine Minderheit.4 Andererseits stieg im 19. Jahrhundert das Interesse an einer spirituellen Erfahrung ausserhalb des Christentums stark an. Die Sehnsucht nach einer geistigen Er-

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neuerung äusserte sich in zahlreichen Reformbestrebungen im Bereich der Kunst, der Pädagogik, der Lebensreform, der Ernährung und der Sexualität. Über diese abseits des Mainstreams liegenden ausser- und antichristlichen Weltanschauungsgemeinschaften des Kaiserreichs wurde bislang kaum geforscht. Erst in den letzten Jahren wurden sie Gegenstand fundierter Studien.5 Auf der Suche nach einer authentischen Form, um der eigenen Religiosität einen angemessenen Ausdruck zu verleihen, stiess man auf mögliche Anknüpfungspunkte weit abseits des Christentums. So entdeckte man unter anderem bei den Germanen und noch weiter zurück bei den „Indogermanen“ und „Ariern“ eine religiöse Tradition, die man aufgreifen konnte.6 Äusserte sich der Wunsch nach einer religiösen Neuwerdung noch innerhalb eines christlichen Bezugsrahmens, mündete er meistens in den eindringlichen Appell ein, zum Urchristentum und zum ursprünglichen Anliegen Jesu zurückzukehren, das durch die kirchlichen Amtsträger aus Gründen des Machterhalts verwässert und korrumpiert worden sei. In der historischen, von der Erfahrung des Nationalsozialismus bestimmten Perspektive wird oft übersehen, wie sehr die frühen Neubildungen der völkischen Religionsgeschichte durch ein Moment der progressiven Kritik an den politischen und religiösen Verhältnissen des monarchischen Obrigkeitsstaats gekennzeichnet sind. Völkische Religionen wollten eine Alternative zu den etablierten Kirchen anbieten, die zum „Establishment“ gehörten und die auf vielfältige Art und Weise mit der Staatsmacht und der politischen Reaktion verbundenen waren. Um ihrer religiösen Kritik Ausdruck zu verleihen, griffen sie auf uralte Mythen und Elemente unterschiedlichster religiöser Traditionen zurück. Schliesslich setzte sich die mehrere tausend Jahre alte Religion der „Arier“ beziehungsweise „Indogermanen“ als dominante Richtung durch. Die völkische Religionswissenschaft konstituierte sich in der Rationalisierung deutschgläubiger Ideen und in dem Bemühen, zu den religiösen Urgründen des „Indogermanentums“ vorzudringen. Sie muss als theoretischer Reflex auf die völkische Religionsgeschichte verstanden werden. Das Erstarken der völkischen Religionswissenschaft erfolgte in der Weimarer Republik parallel zum Aufschwung der völkischen Bewegung. Ein nach dem Krieg gleichfalls um sich greifender Trend zum Irrationalismus wirkte sich in der Religionswissenschaft in besonderer Weise aus, weil der Bezugspunkt aller Religionen nun einmal jenseits wissenschaftlicher Rationalität im Bereich des Transzendenten und Supranaturalen liegt. In wissenschaftstheoretischer Hinsicht nur ungenügend vorgebildet, hatten viele Religionswissenschaftler Probleme, mit dem Irrationalen der Religionsgeschichte rational umzugehen.7 Anstelle der christlichen Offenbarung erklärten sie die eigene religiöse Erfahrung zur Vorbedingung der religionswissenschaftlichen Erkenntnis. Hervorgegangen aus dem Bestreben, sich von der christlichen Theologie zu emanzipieren, nahm die völkische Religionswissenschaft in kürzester Zeit genau die Eigenschaften an, die sie am Christentum früher kritisiert hatte. Das bei ihr nach 1933 zu Tage tretende Ausmaß an dogmatischer Engstirnigkeit und religiöser Intoleranz wie auch eine rücksichtslose Machtbesessenheit ging sogar

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noch darüber hinaus. In ihrer rassistischen Verengung auf die völkische Glaubensgeschichte der „Indogermanen“ stellte sie das ursprüngliche Anliegen der „allgemeinen“ Religionsgeschichte auf den Kopf. Im Jahr 1933 gab es in Deutschland gerade eine Handvoll religionswissenschaftlicher Lehrstühle. Davon waren lediglich zwei (Bonn und Tübingen) nicht in einer theologischen Fakultät angesiedelt. Die außerordentliche Professur für Religionswissenschaft in der philosophischen Fakultät der Universität Leipzig kam zunächst zum Erliegen, weil ihr Inhaber Joachim Wach emigrieren musste. In der Anfangsphase des „Dritten Reiches“ bestand auf nationalsozialistischer Seite keinerlei Interesse an einer Religionswissenschaft, die den Glauben der alten „Arier“ wiederauferstehen lassen wollte. Der Reichserziehungsminister Bernhard Rust und sein Fachreferent Eugen Mattiat protegierten zu dieser Zeit ganz eindeutig die Deutschen Christen, das heisst die weltanschaulichen Hauptgegner der Deutschgläubigen. Im Gegensatz zu den „Neuheiden“ konnte man sich auf deutschchristlicher Seite auf eine lange geistesgeschichtliche Tradition berufen, in der die Verbindung von Deutschtum und Christentum als maßgeblicher Ausdruck der natürlichen Schöpfungsordnung Gottes galt, wie das die →Volksnomostheologie propagierte. Auf diese Weise liess sich nicht nur die weltanschauliche Zusammengehörigkeit von Christentum und Nationalsozialismus behaupten, sondern auch der Ausschluss der Juden aus der deutschen Gesellschaft als konsequente Anwendung des völkischen Lebensgesetzes theologisch rechtfertigen. An vielen Universitäten wurden neue DCProfessuren etabliert, die, sofern sie eine religionsgeschichtliche Ausrichtung hatten, eine direkte Konkurrenz für die völkisch pagane Religionswissenschaft bedeuteten. So wurde beispielsweise die Allgemeine Religionsgeschichte 1935 an der Universität Berlin in den Rang eines planmässigen Ordinariats erhoben, als das Ministerium die Evangelisch-theologische Fakultät insgesamt auf DC-Kurs brachte. Der Missionswissenschaftler Johannes Witte, der die Stelle innehatte, war ein überzeugter Nationalsozialist und polemisierte unermüdlich gegen die religiösen Ansprüche der Deutschen Glaubensbewegung. Auch an der Universität Jena verhinderten starke deutschchristliche Kräfte die Etablierung einer religionswissenschaftlichen Forschung auf deutschgläubiger Basis. Erst ab der zweiten Hälfte der dreissiger Jahre änderte sich die Situation zugunsten der völkischen Religionswissenschaft. Das hatte mit dem desillusionierenden Verlauf des Kirchenstreits und einer allgemeinen Veränderung der religionspolitischen Lage zu tun. In der NS-Führung gewannen die Befürworter einer kirchenkritischen oder sogar kirchenfeindlichen Politik zunehmend die Oberhand. Alfred Rosenberg, Heinrich Himmler und später vor allem Martin Bormann förderten eine völkisch-nationalsozialistische Religionswissenschaft nach Kräften, da sie in ihr ein Machtinstrument sahen, um den Einfluss der Kirchen im öffentlichen Leben zurückzudrängen. Einzelne NS-Repräsentanten auf Länderebene wie der württembergische Ministerpräsident und Kultusminister Christian Mergenthaler verfolgten die gleiche Linie. Ihre Ansichten über die Religion im Allgemeinen und das Christentum im Be-

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sonderen speisten sich aus einer oberflächlichen Aufklärung und aus Rudimenten der Religionskritik des 19. Jahrhunderts. „Eine der vordringlichsten Aufgaben, die der nationalsozialistischen Kulturpolitik gestellt sind“, schrieb Alfred Baeumler für das Amt Rosenberg im Juni 1938 an das Reichserziehungsministerium, sei „der Neuaufbau der Religionswissenschaft an den Universitäten“.8 Alfred Rosenberg gelang es freilich nur sehr bedingt, sich mit seinen Vorstellungen bei der konservativen Kultusbürokratie durchzusetzen. Er forcierte deshalb den Ausbau der Religionswissenschaft in seiner eigenen Dienststelle. Im Rahmen der Hohen Schule der NSDAP errichtete er eine religionswissenschaftliche Aussenstelle, die er über →Wilhelm Brachmann einige Zeit später an der Universität Halle institutionalisieren konnte. Brachmann erhielt dort im April 1942 eine ordentliche Professur für Religionswissenschaft. Eine vergleichbare Entwicklung lässt sich bei der Kultur- und Hochschulpolitik der SS beobachten. Besonders im „→Ahnenerbe“ der SS wurde ein völkisches Wissenschaftskonzept entwickelt, das die ideologischen Defizite der Universitäten überwinden wollte. Auch das „Ahnenerbe“ verstand sich als Speerspitze des Nationalsozialismus zur völkischen Neugestaltung des geistigen Lebens in Deutschland. Der Leiter der „Ahnenerbe“-Abteilung für indogermanische Glaubensgeschichte →Otto Huth habilitierte sich 1939 an der Universität Tübingen im Fach Religionswissenschaft. Dank der massiven Unterstützung durch die SS gelangte er im April 1942 auf eine an der →Reichsuniversität Straßburg neu eingerichtete religionswissenschaftliche Professur. →Walther Wüst trat als wissenschaftlicher Direktor des „Ahnenerbes“ ebenfalls dafür ein, den Beitrag der Religionswissenschaft bei der Erforschung der arischen Weltanschauung stärker zu akzentuieren. Seit 1939 gab er das →Archiv für Religionswissenschaft heraus, das er mit einem programmatischen Leitartikel über die neuen Aufgaben der völkischen Religionswissenschaft einleitete. Die nach Halle und Straßburg dritte Neueinrichtung eines religionswissenschaftlichen Seminars während des „Dritten Reiches“ erfolgte im Jahr 1944 an der Universität Greifswald.9 Dessen Leiter, der schwedischstämmige Dozent Åke Ohlmarks, stand den Deutschen Christen nahe und erstrebte einen engeren Zusammenschluss der nordisch protestantischen Länder. Ohlmarks beteiligte sich auch an zwei religionswissenschaftlichen Arbeitstagungen, die unter starker skandinavischer Beteiligung 1942 und 1943 in Weißenfels bei Halle abgehalten wurden. Neben dem Bemühen, die Gesinnungs- und Kampfgemeinschaft der nordischen Staaten zu festigen, war den Weißenfelser Tagungen eine betont antisemitische Stoßrichtung zu eigen. Als Organisatoren traten führende Vertreter des 1939 in Eisenach gegründeten Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben in Erscheinung. Mittels der religionsgeschichtlichen Methode sollte der objektive Beweis für ein arisches Christentum erbracht werden. Dabei entstand eine Art wissenschaftlicher Antisemitismus, der sich selbst als Religionswissenschaft ausgab.

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Verständlicherweise konnte sich der völkische Impuls leichter in ausseruniversitären Einrichtungen als an den Hochschulen Geltung verschaffen, wo konservative und reaktionäre Kräfte noch lange über das Jahr 1933 hinaus einen grossen Einfluss ausübten. Die völkische Religionswissenschaft gewann dann aber auch an den Universitäten zunehmend an Terrain. Die Verbindung mit der deutschgläubigen Bewegung musste allerdings nicht immer so deutlich hervortreten wie an der Universität Tübingen, wo die religionswissenschaftliche Arbeit fast ausschliesslich den religiösen Zielen der Deutschen Glaubensbewegung diente. Ihrem ehemaligen Führer →Jakob Wilhelm Hauer gelang es im April 1940, ein „Arisches Seminar“ zu gründen, zu dessen Haupttätigkeit die Herausarbeitung eines antichristlichen Weltanschauungsunterrichts gehörte.10 An der Universität Kiel wechselte im Wintersemester 1935/36 der protestantische Theologe Hermann Mandel von der theologischen in die philosophische Fakultät und erhielt dort eine Professur für Religionsphilosophie und Religionsgeschichte mit besonderer Berücksichtigung einer „rassenkundlichen Geistesgeschichte“. Mandel, der zuerst dem deutschkirchlichen und dann dem deutschgläubigen Lager angehörte, vertrat eine arische Weltanschauungslehre auf rassischer Grundlage. Der Lehrstuhl des protestantischen Systematikers Karl Bornhausen wurde 1935 an der Universität Frankfurt ebenfalls im Sinne einer nationalsozialistischen Religionsphilosophie umgewandelt. Er erhielt sogar ein religionswissenschaftliches Institut zugesprochen, das aber nicht weiter in Erscheinung trat. Im September 1935 leitete Bornhausen die Delegation der deutschen Religionswissenschaftler auf dem internationalen religionsgeschichtlichen Kongress in Brüssel, wobei er sich alle Mühe gab, den Nationalsozialismus in ein positives Licht zu rücken und als Aufbruch „metaphysischer Urkräfte“ darzustellen. Auch unterhalb der Ebene neuer oder umgewidmeter Professuren erfuhr die Religionswissenschaft im „Dritten Reich“ eine Stärkung. Neue religionswissenschaftliche Dozenturen wurden etwa in Tübingen von Otto Huth und Hans Endres sowie in Würzburg durch →Herbert Grabert besetzt. Die offenkundige Zunahme religionswissenschaftlicher Habilitationen und Promotionen lässt sich im Ganzen kaum ermitteln, da auch in anderen Fächern religionsgeschichtliche Fragestellungen immer öfter zum Prüfungsthema gewählt wurden. Die vielfach zu konstatierende Einbeziehung der Religionsgeschichte in die Lehrauftragsbezeichnungen benachbarter Disziplinen kann ebenfalls nur als Trend und nicht im genauen Umfang festgestellt werden. Als Beispiel sei Bernhard Kummer genannt, der seit November 1942 als ordentlicher Professor für Nordische Sprache, Kultur und Religionsgeschichte an der Universität Jena lehrte.11 Wie man an den in Bonn, Marburg und München tätigen Religionswissenschaftlern Gustav Mensching, Heinrich Frick und Rudolf Franz Merkel sehen kann, musste eine Annäherung an die Ideologie des Nationalsozialismus nicht unbedingt unter deutschgläubigen Vorzeichen stattfinden. Doch profitierte die völkische Religionswissenschaft zweifellos von der Entkirchlichung des öffentlichen Lebens. Das allgemeine Klima hatte sich in der Tat zu Ungunsten der christlichen Kirchen verändert und an den Universitäten zu einem drastischen Einbruch

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bei der Zahl der Theologiestudenten geführt. In der Debatte, ob und welche theologischen Fakultäten als solche aufzuheben seien, wies Alfred Rosenberg wiederholt auf die Notwendigkeit hin, Lehrstühle für Religionswissenschaft „nach und nach an allen deutschen Hochschulen in den philosophischen Fakultäten zu errichten“.12 Andererseits erlangten die Belange des Krieges nach dem Überfall auf Polen auch auf dem Feld der Wissenschaftspolitik oberste Priorität. Alle Überlegungen zur Stärkung einer kirchlich ungebundenen Religionswissenschaft standen unter dem Vorbehalt, dass der Beitrag der christlichen Kirchen für die innere und äussere Wehrkraft nicht gefährdet werden durfte. Demgegenüber waren die ausufernden Diskussionen um das Wesen der arischen Religiosität geradezu belanglos. Wie alle völkischen Wissenschaften entstand auch die völkische Religionswissenschaft in der Frontstellung gegen Liberalismus und Positivismus. Sie setzte sich die Überwindung der dem deutschen Wesen angeblich nicht artgemässen französischen beziehungsweise jüdischen Aufklärung zum Ziel. Die Vorstellung, dass Objektivität und Allgemeingültigkeit angemessene Kriterien der wissenschaftlichen Arbeit seien, wurde durch den völkischen Wissenschaftsbegriff vollständig negiert und durch das Postulat der völkischen Bedingtheit jeder Wissenschaft ersetzt. Als Epiphänomen der völkischen Religionsgeschichte verarbeitete die völkische Religionswissenschaft den in der indogermanischen Glaubensgeschichte zum Ausdruck kommenden religiösen Aufbruch und versuchte, ihn mit Hilfe des Rassegedankens in ein theoretisches System zu bringen. Die Verbindung von Rasse und Religion wurde von ihr als eine natürliche Einheit angesehen, die von fremdvölkischen und überstaatlichen Mächten allerdings planmässig zersetzt worden sei. Obwohl die völkische Religionswissenschaft unter dem Banner des Kampfes gegen eine theologische Fremdbestimmung der religionsgeschichtlichen Forschung antrat, beinhaltete ihr wissenschaftliches Programm keine wirkliche Abkehr von einem Religionsmodell, das die eigene subjektive Religiosität zur Voraussetzung hatte. Ganz im Gegenteil entwickelte sie sich sehr schnell zu einer völkischen Gegentheologie, die das Christentum mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln bekämpfte.

Horst Junginger

1 Zur Mythologisierung des Volksbegriffes siehe den umfangreichen Artikel Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 238ff., 386ff. In diesem für jede begriffsgeschichtliche Erörterung der politischen Entwicklung Deutschlands zentralen Beitrag wird die völkische Ideologie aber nur beiläufig gestreift, nicht analysiert. 2 Vgl. Kurt Rudolph, Die Religionsgeschichte an der Leipziger Universität und die Entwicklung der Religionswissenschaft, Berlin 1962; Karl-Heinz Kohl, Geschichte der Religionswissenschaft, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1988, S. 217–262, und Hans G. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997.

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3 Zu Friedrich Max Müller vgl. Hans-Joachim Klimkeit, in: Axel Michaels (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München 1997, S. 29–40, und Laurens van den Bosch, Friedrich Max Müller: A Life Devoted to the Humanities, Leiden 2002. 4 Wie gering die Mitgliedszahlen innerhalb der deutschreligiösen Bewegung waren, belegt die Habilitationsschrift von Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001, S. 261. 5 Vgl. Diethart Kerbs (Hg. u.a.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998; Uwe Puschner (Hg. u.a.), Handbuch zur ‚Völkischen Bewegung‘ 1871–1918, München 1999; Stefanie von Schnurbein (Hg. u.a.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe ‚arteigener‘ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001; Kai Buchholz (Hg. u.a.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bd., Darmstadt 2001, und Hubert Cancik (Hg. u.a.), Völkische Religionen im 19. und 20. Jahrhundert, München 2004. 6 Horst Junginger, Völkische Religionen, in: Metzler Lexikon Religion, Bd. 3, Stuttgart 2000, S. 578f. 7 Vgl. Rainer Flasche, Religionsmodelle und Erkenntnisprinzipien der Religionswissenschaft in der Weimarer Zeit, in: Hubert Cancik (Hg.), Religions- und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, S. 261–276, und ders., Der Irrationalismus in der Religionswissenschaft und dessen Begründung in der Zeit zwischen den Weltkriegen, in: Hans G. Kippenberg (Hg. u.a.), Religionswissenschaft und Kulturkritik, Marburg 1991, S. 243–257. 8 BArch, BDC-REM, Brachmann, Alfred Baeumler an das Reichserziehungsministerium (Prof. Wilhelm Groh) vom 17.6.1938. 9 Fritz Heinrich, Das Religionswissenschaftliche Institut der Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald 1944–1945, in: ZfR 5 (1997), S. 203–230. 10 Vgl. Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, Stuttgart 1999, S. 216–223, und ders., Das ‚Arische Seminar‘ an der Universität Tübingen, 1940–1956, in: Heidrun Brückner (Hg. u.a.), Indienforschung im Zeitenwandel. Analysen und Dokumente zur Indologie und Religionswissenschaft in Tübingen, Tübingen 2002, S. 176–207. 11 Vgl. Fritz Heinrich, Die deutsche Religionswissenschaft und der Nationalsozialismus. Eine ideologiekritische und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung, Petersberg 2002, S. 186f., 365ff. 12 BArch, 62 Di 1, 56/4, Bl. 38, Rosenberg an den Stellvertreter des Führers vom 4.5.1939.

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Völkische Sonderpädagogik Der Begriff „Sonderpädagogik“ wird von Sonderpädagogen als zentrale Bezeichnung für die Disziplin und synonym mit den Begriffen „Heilpädagogik“ und „Behindertenpädagogik“ verwendet. Begriffe wie „Rehabilitationspädagogik“, „Theorie der Sondererziehung“ oder „Integrationspädagogik“ haben sich dagegen nicht allgemein durchgesetzt. Die Austauschbarkeit der Begriffe „Sonderpädagogik“, „Heilpädagogik“ und „Behindertenpädagogik“ wird in den inhaltlich übereinstimmenden Abrissen zur Geschichte der Sonderpädagogik, der Heilpädagogik und der Behindertenpädagogik besonders deutlich, die Andreas Möckel vorgelegt hat.1 Der Begriff „Sonderpädagogik“ wird als Oberbegriff verwendet. Durch ihn soll die Einheit der „differentiellen“ Sonderpädagogiken hergestellt und das Allgemeine der Disziplin gefasst werden. Die Sonderpädagogik versteht sich wie die Heilpädagogik und die Behindertenpädagogik als Pädagogik für alle Altersstufen und Lebensbereiche. Gleichwohl ist sie wie diese primär Schulpädagogik, genauer: Sonderschulpädagogik. Die „differentiellen“ Sonderpädagogiken, zu denen die Gehörlosenpädagogik, die Blindenpädagogik und die Lernbehindertenpädagogik gehören, die aus der Hilfsschulpädagogik hervorgegangen ist, korrespondieren nämlich den vielfältigen Formen des deutschen Sonderschulsystems und den speziellen Behindertengruppen, für die diese Geltung beanspruchen. Möckel betont denn auch, die Geschichte der Sonderpädagogik habe als Geschichte ihrer Schulen begonnen.2 Die synonyme Verwendung der Begriffe „Sonderpädagogik“, „Heilpädagogik“ und „Behindertenpädagogik“ verdeckt, dass die Begriffe in unterschiedlichen historisch-gesellschaftlichen Kontexten entstanden und von diesen geprägt worden sind. Der Begriff „Heilpädagogik“, der der älteste Begriff in dieser Reihe darstellt, ist im 19. Jahrhundert in Deutschland von der Hilfsschulpädagogik in einem spezifischen Sinne verwendet worden. Der Begriff „Sonderpädagogik“ ist im Deutschen Reich im Nationalsozialismus etabliert und der Begriff „Behindertenpädagogik“ in der Bundesrepublik Deutschland nach der NS-Zeit eingeführt worden. In allen begriffsgeschichtlichen Analysen der Sonderpädagogik wird die Einführung des Begriffs „Sonderpädagogik“ dem Schweizer Sonderpädagogen Heinrich Hanselmann zugeschrieben und das Jahr 1941 als Entstehungsdatum des Begriffs festgemacht.3 In diesem Jahr erschien Hanselmanns „Theorie der Sondererziehung“, in der er den Begriff „Heilpädagogik“ durch den Begriff „Sonderpädagogik“ ersetzte.4 Hanselmann gilt als Nestor der Heilpädagogik und als ihr Begründer als wissenschaftlicher Disziplin.5 Verschwiegen wird in der Sonderpädagogik, dass der Begriff „Sonderpädagogik“ nicht in der Schweiz, sondern im nationalsozialistischen Deutschland und dort bereits im Jahr 1934 eingeführt wurde, dass das Konzept der Sonderpädagogik von dem promovierten Hilfsschullehrer →Karl Tornow entwickelt und die Sonderpädagogik als „völkische“ Sonderpädagogik an die rassenhygienischen Ziele des Nationalsozialismus angeschlossen wurde.

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Das Verschweigen der Einführung des Begriffs „Sonderpädagogik“ im Nationalsozialismus und der Urheberschaft Tornows kann angesichts der Bedeutung, die dem Begriff für die Disziplin zukommt, nicht als Forschungsdesiderat gewertet werden. Das Verschweigen ist vielmehr dem Bestreben der Sonderpädagogik geschuldet, die entwickelten Geschichtsmythen zum Nationalsozialismus zu bewahren. Die Entstehung der Sonderpädagogik wird wie die Entstehung des vielgliedrigen deutschen Sonderschulsystems, das gegenwärtig acht Sonderschulformen umfasst, von Sonderpädagogen systemtheoretisch gedeutet und damit als zwangsläufiges Nebenprodukt gesellschaftlicher Differenzierung behauptet.6 Der Begriff „Sonderpädagogik“ steht in dieser Disziplin für eine „systemsoziologische Semiotik“.7 Das System Schule erzeugt nach dieser Vorstellung qua Komplexitätsreduktion Behinderte und damit notwendig auch ein System besonderer Schulen. Der theoretische Überbau dieses Systems heißt „Sonderpädagogik“ und die Sonderpädagogik ist das Produkt einer Systemgliederung im Bildungswesen, erklärt Ulrich Bleidick. Angesichts der als zwangsläufig behaupteten Entwicklung kann die Kritik an der Sonderschule und an der Sonderpädagogik aus systemtheoretischer Perspektive nur als Versuch gewertet werden, den Lauf der Planeten zurückdrehen zu wollen.8 Nach den Vorstellungen der sonderpädagogischen Historiographie fand im Nationalsozialismus ein „Niedergang“ der Heilpädagogik und damit ein Stillstand ihrer Entwicklung und ihr Verschwinden als Disziplin statt.9 Möckel erklärt, der Nationalsozialismus habe die in 150 Jahren aufgebaute Heilpädagogik widerrufen. Es gäbe deshalb keine Theorie der NS-Heilpädagogik, die man analysieren könne, es sei denn, man halte die Anwendung der Rassenlehre auf die Sonderschulen für eine heilpädagogische Theorie, was sie nun wirklich nicht sei.10 Der Begriff „Sonderpädagogik“ wurde im Nationalsozialismus nicht erstmals gebraucht. Vielmehr wurde er schon in den 1920er-Jahren verwendet, etwa auf der Heilpädagogischen Woche, die 1927 in Berlin stattfand.11 Der Begriff wurde vor der NS-Zeit allerdings nur en passant, synonym mit dem Begriff „Heilpädagogik“ und in seiner eingeschränkten Bedeutung als „Sonderschulpädagogik“ verwendet. Anders im Nationalsozialismus. Tornow bestimmte den Begriff „Sonderpädagogik“ im Gegenüber zum Begriff „Heilpädagogik“, grenzte ihn systematisch gegenüber diesem ab, bestimmte den Begriff „Sonderpädagogik“ inhaltlich neu und schloss die Sonderpädagogik als „völkische“ Sonderpädagogik an die rassenhygienischen Ziele des Nationalsozialismus an. Die Entwicklung der Sonderpädagogik erfolgte im Kontext der nationalsozialistischen „Gleichschaltung“, die alle Bereiche der deutschen Gesellschaft und damit auch die Lehrerverbände betraf. Eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung der Sonderpädagogik als einer die Taubstummen-, die Blinden- und die Hilfsschulpädagogik übergreifenden Pädagogik stellte die Zusammenführung der Taubstummen-, Blinden- und Hilfsschullehrer in einer gemeinsamen Berufsorganisation, der Fachschaft V Sonderschulen des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (NSLB), dar. Diese Zusammenführung war von Hilfsschullehrern gegen den Widerstand der

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Taubstummenlehrer im NSLB durchgesetzt und mit rassenhygienischen Argumenten begründet worden.12 Die Einheit der Sonderschullehrer wurde durch ein gemeinsames Fachschaftsorgan, „Die deutsche Sonderschule“, und durch gemeinsame reichsweite Schulungslager der Fachschaft Sonderschulen gestärkt und erfahrbar gemacht. Neben der gemeinsamen Berufsorganisation stellte die gemeinsame praktische rassenhygienische Aufgabe, die sich Sonderschullehrern im Zusammenhang des 1933 erlassenen „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) stellte, eine weitere wichtige Bedingung für die Entwicklung einer übergreifenden Sonderpädagogik dar. Durch die Bestimmung des „angeborenen Schwachsinns“, der „erblichen Blindheit“, der „erblichen Taubheit“ und der „schweren erblichen körperlichen Missbildung“ als „Erbkrankheiten“ im Sinne des Gesetzes wurden alle Schüler der bestehenden Sonderschulen als potentiell „Erbkranke“ bestimmt und damit allen Sonderschullehrern die gemeinsame praktische Aufgabe gestellt, an der Durchführung des Gesetzes mitzuwirken. Sonderschullehrer erhoben für sich darüber hinaus den Anspruch, als Gutachter und Mitglieder des Erbgesundheitsgerichts an der Entscheidung über die Sterilisation sowie an rassenhygienischer Forschung und an der Propaganda für das Gesetz mitzuwirken.13 Diese weit über die Gesetzesbestimmungen hinausgehenden Ansprüche der Sonderschullehrer wurden jedoch nicht erfüllt. Die sonderpädagogische Geschichtsschreibung ist bemüht, die Mitarbeit der Sonderschullehrer an der Durchführung des GzVeN herunterzuspielen. Sonderschullehrer werden als hilflose Opfer und als Missbrauchte des Naziregimes dargestellt, zwischen führenden Sonderschullehrern und Sonderschullehrern in der Praxis wird ein Gegensatz konstruiert und die Verstrickung auch der allgemeinen Pädagogik betont. Hervorgehoben wird, dass der Sonderschulbesuch nicht automatisch zur Zwangssterilisation geführt habe, dass nicht alle Sonderschüler sterilisiert worden seien und dass sich im Sonderschulalltag nach 1933 nicht viel geändert habe.14 Vielmehr habe in der Sonderschule eine friedliche Arbeit stattgefunden, während außerhalb der Schule Parteiredner gegen Schwache gehetzt und einem Teil der Hilfsschüler mit der Sterilisierung und schwerbehinderten Kindern mit der Ausmerze gedroht hätten.15 Festzuhalten bleibt dagegen, dass Sonderschullehrer über die Sonderschule als Institution und die Selektions- und Bestimmungsprozesse, die diese seit dem 19. Jahrhundert konstituierten, wie keine andere Lehrergruppe an der Zwangssterilisation und im Einzelfall auch der „Euthanasie“ beteiligt waren. Der „Euthanasie“ fielen jene Sonderschüler zum Opfer, die von Sonderschullehrern nicht erst in der NSZeit als „Unbrauchbare“ aus der Sonderschule und aus der Schule und der Bildung überhaupt ausgeschlossen worden waren. Durch die Bestimmung der Hilfsschüler als „angeboren Schwachsinnige“ und damit als unheilbar Gehirnkranke und mehrheitlich Erbkranke, die die Hilfsschulpädagogik im 19. Jahrhundert vorgenommen hatte, wurden (ehemalige) Hilfsschüler im Nationalsozialismus zu bevorzugten Op-

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fern der Zwangssterilisation. Anders als Volksschüler waren alle Sonderschüler durch die Vorgaben des GzVeN als potentiell „Erbkranke“ bestimmt und damit ausnahmslos von der Zwangssterilisation bedroht. Das Konzept der völkischen Sonderpädagogik, das Tornow als führender Kopf der Reichsfachschaft Sonderschulen erstmals auf deren erstem reichsweiten Schulungslager in Berlin-Birkenwerder im Oktober 1934 und dort erneut im Januar 1935 vortrug, diente einem doppelten Zweck.16 Durch dieses sollte zum einen die Einheit der Sonderschullehrer und der Sonderpädagogik begründet, zum anderen die Disziplin konzeptionell erneuert und politisch anschlussfähig gemacht werden. Tornow erklärte rückblickend, erst von nationalsozialistischer Grundanschauung und -haltung aus habe sich, nicht ohne Kämpfe, zum ersten Male in der Reichsfachschaft V im NSLB aus der gekennzeichneten Einstellung heraus die deutsche Sonderpädagogik als ein einheitliches, in sich geschlossenes Wissenschaftsgebiet mit all seinen praktischen Folgerungen und Forderungen ergeben.17 Der Untertitel der Monographie, in der Tornows Konzept einer völkischen Sonderpädagogik veröffentlicht wurde, lautete denn auch: „Zugleich eine Begründung der Einheit der Reichsfachschaft V (Sonderschulen) im NSLB“. Durch diese Monographie, die auch ins Ungarische übersetzt wurde, und durch den wortgleichen Abdruck seines Vortrags im Februar-Märzheft 1935 des Fachschaftsorgans wurde der Begriff „Sonderpädagogik“ in Fachkreisen rasch publik gemacht.18 Während Tornow in seinem Vortrag 1934 die Begriffe „Sonderpädagogik“ und „Sonderschulpädagogik“ noch nebeneinander und synonym gebraucht hatte, gab er in seinem Vortrag, den er 1940 auf der Gründungstagung der „Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik“ in Wien hielt, den Begriff „Sonderschulpädagogik“ zugunsten des weiteren Begriffs „Sonderpädagogik“ auf und präzisierte den Anspruch der völkischen Sonderpädagogik.19 Ziel der völkischen Sonderpädagogik sei nicht die Erlangung der „völkischen“ Brauchbarkeit des Zöglings, betonte Tornow. Der Begriff „völkisch“ schließe nämlich erbbiologische Tüchtigkeit in sich ein, die selbstverständlich bei einem Teil der Zöglinge nicht vorhanden sei. Mit dem Begriff der völkischen Sonderpädagogik sei keineswegs der Anspruch verbunden gewesen, etwa notwendige erbbiologische Maßnahmen als nicht erforderlich hinzustellen oder gar nachzuweisen, dass Sonderschüler für das deutsche Wirtschaftsleben unbedingt erforderlich seien, um darauf ihre Daseinsberechtigung zu gründen. Damit habe vielmehr lediglich gezeigt werden sollen, dass die deutsche Sonderschule ihr Ziel erreicht habe, Sonderschüler sozial brauchbar und erwerbsfähig zu machen. Wie die Heilpädagogik neu als „völkische Sonderpädagogik“ wurde die Sonderschule von Sonderpädagogen im Nationalsozialismus neu als „Sammelbecken für erbbiologisch unerwünschten Nachwuchs“ bestimmt. Tornow erhob für die Sonderschule den Anspruch, an einer gerechten Entscheidung über die Sterilisation aktiv und wirkungsvoll mitzuarbeiten, und betonte, alle ihre Maßnahmen seien am Ende

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volksbiologischer, zum mindesten bevölkerungspolitischer Natur und stünden unter dem Gesichtspunkt der negativen Auslese.20 Der Blindenlehrer Erich Wittke bezeichnete das „Erbgesundheitsgesetz“ als „Grundgesetz der Sonderpädagogik“, das für die Sonderschule höchste politische Wirklichkeit habe. Die innere Haltung der Zustimmung zu diesem Gesetz zu schaffen, sei die pädagogische Aufgabe der Sonderschule. Der erbkranke Mensch müsse aus völkischem Pflichtgefühl heraus das Opfer der Sterilisation bringen, wie der erbgesunde Mensch zum Opfer seines Lebens im Krieg bereit sei.21 Sonderschüler sollten nach dem Anspruch der völkischen Sonderpädagogik durch Sondererziehung in der Sonderschule zur Einsicht in die Notwendigkeit ihrer Sterilisation als „Erbkranke“ geführt und als Sterilisierte für die deutsche „→Volksgemeinschaft“ brauchbar gemacht werden. Die Hilfsschulpädagogik hatte sich im 19. Jahrhundert als Heilpädagogik definiert und den Anspruch erhoben, übergreifende Pädagogik für alle Gruppen von Sonderschulkindern und damit auch für Taube und Blinde zu sein. Die Taubstummenpädagogik und die Blindenpädagogik verstanden sich dagegen nur als Pädagogiken des Taubstummen- bzw. des Blindenwesens und wiesen den universellen Geltungsanspruch der Heilpädagogik zurück. Anders als Hilfsschullehrer hatten die qua Status und Besoldung privilegierten Taubstummen- und Blindenlehrer an der Schaffung einer übergreifenden Sonderpädagogik, eines übergreifenden Sonderschulsystems und einer übergreifenden sonderpädagogischen Profession kein Interesse, fürchteten sie doch auch, von den zahlenmäßig weit überlegenen Hilfsschullehrern dominiert zu werden und ihre Privilegien einzubüßen. Mit der Einführung des Begriffs „Sonderpädagogik“ sollten auch die Vorbehalte der Taubstummen- und Blindenlehrer gegenüber der Heilpädagogik überwunden und ihre Vorbehalte gegen eine gemeinsame heilpädagogische Fachschaft mit rassenhygienischen Argumenten ausgehebelt werden. Tornow entwickelte den Begriff „Sonderpädagogik“ in seinem Vortrag 1934 aus der behaupteten Wende zweier Zeitalter, die mit dem Nationalsozialismus begonnen und zu einer Umwälzung des Denkens geführt habe.22 Im Nationalsozialismus sei an die Stelle des trennenden, zergliedernden Denkens das organische Denken getreten, das die Einheit erkennen lasse und das zu einem lebendigen Ganzen zusammenführe, was zuvor getrennt und isoliert worden sei. Aus der behaupteten „kopernikanische(n) Wendung“ leitete Tornow die Notwendigkeit ab, die Trennung von Taubstummen-, Blinden- und Hilfsschulpädagogik zugunsten einer übergreifenden Sonderpädagogik zu überwinden. Die Bezeichnung „Heilpädagogik“, die geschichtlich belastet und unzeitgemäß sei, müsse durch die Bezeichnung „Sonderpädagogik“ ersetzt werden, forderte Tornow und betonte, dass die neue deutsche Sondererziehung nationalsozialistisch-völkisch begründet und ausgerichtet sei.23 Der Begriff „Sonderpädagogik“, dem der Begriff „Sondererziehung“ für den Anwendungsbereich der Sonderpädagogik korrespondierte, war nicht einfach nur ein neues Etikett. Mit ihm wurde vielmehr eine Abkehr von den Vorstellungen der Heil-

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pädagogik vorgenommen und die Autonomie der Disziplin gegenüber der Medizin gestärkt. Taubstummen- und Blindenlehrer hatten ihren Widerstand gegen ihre Vereinigung mit Hilfsschullehrern in einer gemeinsamen heilpädagogischen Fachschaft mit dem zentralen Argument begründet, dass sie nicht wie diese Heilpädagogen seien, weil sich Taubheit und Blindheit nicht heilen ließen. Mit dem Begriff „Heilpädagogik“ hatte die Hilfsschulpädagogik jedoch nicht den Anspruch auf Heilung, sondern ihre Nähe zur Medizin markiert. In Anlehnung an Begriffe der Psychiatrie hatte sie Hilfsschüler als „angeboren Schwachsinnige“ und als „Minderwertige“ bestimmt und den Hilfsschullehrer in die Nähe des Arztes gerückt. Die Bestimmung des „angeborenen Schwachsinns“ als „Erbkrankheit“ im Sinne des GzVeN bedrohte den Ausbau der Hilfsschule im Nationalsozialismus und forcierte die Neubestimmung der Sonderschüler, die Tornow mit seinem Konzept der völkischen Sonderpädagogik vornahm. Tornow erklärte, es komme nicht auf den einzelnen Defekt und damit nicht auf Taubheit, Blindheit oder Schwachsinn, sondern darauf an, ob jemand behindert sei, von sich aus unter Benutzung der üblichen Bildungs- und Erziehungseinrichtungen sich zum vollwertigen und lebenstüchtigen Gliede des deutschen Staates und der deutschen Volks- und Kulturgemeinschaft zu entwickeln.24 Es gehe darum, betonte Tornow unter Bezugnahme auf Karl Heinrichs, auf den sich später auch Bleidick bezog25, den „schadhaften völkischen Erziehungsvollzug“ funktionstüchtig zu machen, um den Zögling zu einem „wertigen Gliede innerhalb der völkischen Gemeinschaft zu erziehen“. Der Begriff der „Besonderung“ habe den Vorteil, dass hier nur eine Abweichung vom Üblichen mitgedacht werde, ohne dass sich wie beim Heilen eine Sinngebung auf Krankes, Anormales, Defekthaftes einschleiche.26 Sonderschüler wurden von der Sonderpädagogik im Nationalsozialismus damit nicht mehr als Kranke einer je besonderen Art, sondern neu und übergreifend als „Behinderte“ bestimmt und ihre Negativbestimmung als „Minderwertige“ durch ihre Positivbestimmung als „Sonderschulbedürftige“ ersetzt. Im Reichschulpflichtgesetz von 1938 wurde der Behinderungsbegriff erstmals gesetzlich verankert und für Behinderte erstmals reichsweit die Pflicht zum Besuch einer entsprechenden Sonderschule festgeschrieben. Durch die Bestimmung der Taubstummen-, Blinden-, Sprachheil- und Hilfsschulen als Sonderschulen wurde mit diesem Gesetz die Entwicklung eines gegliederten Sonderschulsystems entscheidend vorangebracht. Die generelle Kategorisierung der Hilfsschulkinder als „angeboren Schwachsinnige“ verschwand im Nationalsozialismus nicht nur aus der Sonderpädagogik, sondern auch aus amtlichen Dokumenten. Durch den Verzicht auf die Bestimmung der Sonderschüler als Kranke im Kontext der völkischen Sonderpädagogik wurde auch die Stellung des Sonderschullehrers gegenüber dem Arzt gestärkt. Dementsprechend wurden Ärzte im reichsweiten Erlass zum „Personalbogen für die Hilfsschüler“ von 1940 bei der Auslese in die Hilfsschule an zweite Stelle hinter Hilfsschullehrer gesetzt.27 Die Neubestimmung der Sonderschüler als in der allgemeinen Schule „Behinderte“ und als „Sonder-

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schulbedürftige“ erweiterte die Negativauslese von Volksschülern in die Sonderschule beträchtlich. Das gilt noch mehr für die Bestimmung von Schülern der allgemeinen Schule als „sonderpädagogisch Förderbedürftige“, die die Sonderpädagogik inzwischen im Zusammenhang von Inklusion vornimmt. Als der Schweizer Sonderpädagoge Hanselmann 1941 seine „Theorie der Sondererziehung“ veröffentlichte, nahm er aus gutem Grund – nicht anders als Sonderpädagogen heute – auf die Einführung des Begriffs „Sonderpädagogik“ im nationalsozialistischen Deutschland und auf Tornows Urheberschaft keinen Bezug. Das löste bei den Vertretern der Reichsfachschaft Sonderschulen berechtigte Empörung aus. Hanselmann hatte in seiner „Theorie der Sondererziehung“ verschwiegen, dass der Begriff „Sonderpädagogik“ von Tornow 1934 eingeführt und die Heilpädagogik im Nationalsozialismus als völkische Sonderpädagogik neu bestimmt worden war. Das veranlasste den Leiter der Reichsfachschaft Sonderschulen, den Taubstummenlehrer Fritz Zwanziger, zu einer empörten Replik, in der er den Begriff „Sonderpädagogik“ als geistiges Eigentum der Reichsfachschaft Sonderschulen reklamierte. Zwanziger führte aus, es sei allen bekannt, dass seit der Machtübernahme im Jahre 1933 von der Reichsfachschaft V aus die Begriffe „Sonderpädagogik“ und „Sondererziehung“ gebraucht und propagiert worden seien und dass Tornow der Vorkämpfer hierfür gewesen sei, indem er als erster von der nationalsozialistischen Weltanschauung her die wissenschaftliche Grundlage schuf, von der aus sich der Begriff der Sonderpädagogik zwingend als etwas Neues ergeben habe. Bereits im Jahre 1934 habe Tornow diesbezügliche grundlegende und damals völlig neue Ausführungen in den beiden Reichsfachschaftslagern in Birkenwerder gemacht. Im Jahre 1935 sei seine Broschüre „Völkische Heil- oder Sonderpädagogik“, die auch ins Ungarische übersetzt worden sei, erschienen. 1940 sei Tornow in Wien erneut mit der der Fachschaft Sonderschulen bekannten und selbstverständlichen Forderung aufgetreten, den Begriff der Heilpädagogik abzulehnen und dafür den Begriff Sonderpädagogik zu gebrauchen, da die neue deutsche Sonderpädagogik tatsächlich etwas bisher noch nie Dagewesenes und völlig Neues sei. Die Sonderpädagogik lasse sich daher nicht von nationalsozialistischer Auffassung und Weltanschauung trennen, sondern sei dieser unmittelbar zugehörig. Die Fachschaft Sonderschulen betrachte deshalb die Begriffe „Sonderpädagogik“ oder „Sondererziehung“ als ihr geistiges Eigentum.28 Insgesamt wurden im Nationalsozialismus wichtige Grundlagen für die Entwicklung einer übergreifenden Sonderpädagogik, eines übergreifenden Sonderschulsystems und einer übergreifendenden sonderpädagogischen Profession gelegt und das Begriffsinventar der Disziplin erneuert. Diese im Nationalsozialismus vorangebrachten Entwicklungen wurden in Deutschland nach der NS-Zeit fortgesetzt und Ende der 1960er-Jahre im Wesentlichen abgeschlossen. Der Begriff „Sonderpädagogik“ setzte sich als zentrale Bezeichnung für die Disziplin vor allem nördlich der Mainlinie gegenüber dem Begriff „Heilpädagogik“ durch. Die Akzeptanz des Begriffs zeigte sich nicht zuletzt daran, dass das „Enzyk-

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lopädische Handbuch der Heilpädagogik“, das 1911 in erster und 1934 in zweiter Auflage erschienen war, in seiner dritten Auflage 1969 in „Enzyklopädisches Handbuch der Sonderpädagogik“ umbenannt wurde.29 Mit der völkischen Sonderpädagogik wurde im Nationalsozialismus nicht nur die zukunftsweisende Neubestimmung der Sonderschüler als „Behinderte“ vorgenommen, sondern es wurden auch Grundlagen für die Pädagogik der Behinderten gelegt, die Bleidick nach der NS-Zeit entwickelte.30 Weder in den Abrissen, die Bleidick seit 1969 vorgelegt hat, noch in einem neueren Abriss zur Behindertenpädagogik werden die Einführung der Begriffe „Sonderpädagogik“ und „Behinderte“ im Nationalsozialismus und der Zusammenhang zwischen der völkischen Sonderpädagogik und der nach 1945 entstandenen Behindertenpädagogik thematisiert.31 Neben den Begriffen „Sonderpädagogik“ und „Behinderte“ wurde auch der Begriff „Sonderschulbedürftigkeit“ nach der NS-Zeit weiter verwendet und zu einem Zentralbegriff der Disziplin. In der 1965 erstmals erschienenen und vielfach wiederaufgelegten „Lernbehindertenpädagogik“ von Karl Josef Klauer avancierte der Begriff „Sonderschulbedürftigkeit“ zu einem der zentralen „Grenzbegriffe“, mit denen sich die Pädagogik der Lernbehinderten gegenüber der allgemeinen Pädagogik abgrenzte.32 Auch der Begriff „Lernbehinderte“ hatte bereits im Nationalsozialismus Verwendung gefunden. Im „Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens“, das die Kultusministerkonferenz (KMK) 1960 vorlegte und das auf Vorgaben des Hilfsschulverbands von 1954 basierte, wurde das vielgliedrige Sonderschulsystem festgeschrieben und damit die Gleichstellung der Hilfsschulen mit den privilegierten Sonderschulen für Gehörlose und Blinde verwirklicht, für die Hilfsschullehrer im Nationalsozialismus gekämpft hatten. Anders als im Reichsschulpflichtgesetz wurden im Gutachten der KMK zwölf Sonderschulformen und daneben auch der „Heilpädagogische Lebenskreis“ unterschieden. Zur Begründung für den Ausbau des Sonderschulwesens wurde im Gutachten auf die geschichtliche Schuld verwiesen, die das „deutsche Volk“ gegenüber jenen Menschen abzutragen habe, die durch Leiden oder Gebrechen benachteiligt seien. Zum „Heilpädagogischen Lebenskreis“, der im Gutachten als Einrichtung für „pflegebedürftige Kinder“ bestimmt wurde, hieß es, diejenigen Kinder, deren Erziehbarkeit und Bildbarkeit so gering sei, dass sie weder in Schulen noch in Heilpädagogischen Kindergärten gefördert werden könnten, hätten auch ein Anrecht darauf, als Menschen beachtet und behandelt zu werden.33 Es waren dies die Kinder, die die Hilfsschulpädagogik wie die völkische Sonderpädagogik ebenfalls als für die Sonderschule „Unbrauchbare“ gewertet hatten und die im Nationalsozialismus der „Euthanasie“ zum Opfer gefallen waren. Der übergreifenden Sonderpädagogik und dem übergreifenden Sonderschulsystem korrespondierte die Zusammenführung der verschiedenen Sonderschullehrergruppen zu einer übergreifenden sonderpädagogischen Profession, die nach der NS-Zeit gelang. Dafür spielte die alle Sonderschullehrergruppen übergreifende gemeinsame Sonderschullehrerausbildung, die in der Bundesrepublik Deutschland

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Ende der 1960er-Jahre durchgesetzt wurde, eine zentrale Rolle.34 Der Hilfsschulverband knüpfte nach der NS-Zeit auch insofern an die Tradition der Reichsfachschaft Sonderschulen an, als er sich 1955 in „Verband Deutscher Sonderschulen“ umbenannte und damit beanspruchte, Verband für alle Sonderschullehrergruppen zu sein. Seit 2008 bezeichnet er sich als „Verband Sonderpädagogik“. Mit der Neubestimmung der Heilpädagogik als völkische Sonderpädagogik wurden im Nationalsozialismus nicht nur wichtige Grundlagen für die Entwicklung einer übergreifenden Sonderpädagogik, eines übergreifenden Sonderschulsystems und einer übergreifenden sonderpädagogischen Profession geschaffen und die Nomenklatur der Disziplin zukunftsweisend erneuert. Vielmehr war damit auch die größtmögliche Exklusion von Sonderschülern, nämlich ihre Ausschließung von der Fortpflanzung und ihre Ermordung, verbunden. Es entbehrt nicht der Ironie, dass sich Sonderpädagogen, die im Nationalsozialismus an den Verbrechen der Zwangssterilisation und der „Euthanasie“ beteiligt waren, seit dem Ende der NS-Zeit als Anwälte für das Lebensrecht von Menschen mit Behinderungen behaupten und die Geschichte der Sonderpädagogik als Emanzipationsbewegung im modernen Sinn werten.35 Bleidick hatte erklärt, eine pädagogische Theorie, die ihre historischen Dimensionen vernachlässige, verweigere sich entscheidender Einsichten, die dann mühsam wieder nachzuholen seien.36 Dem ist angesichts des Verschweigens der völkischen Sonderpädagogik in der sonderpädagogischen Historiographie nichts hinzuzufügen.

Dagmar Hänsel

1 Vgl. Andreas Möckel, Geschichte der Sonderpädagogik unter besonderer Berücksichtigung der Schule für Lernbehinderte. Studienbrief, Fernuniversität Hagen 1984; ders., Geschichte der Behindertenpädagogik, in: Georg Antor (Hg. u.a.), Handlexikon der Behindertenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis, Stuttgart u.a. 2001, S. 68–71; ders., Geschichte der Heilpädagogik oder Macht und Ohnmacht der Erziehung, Stuttgart 20072. 2 Möckel, Geschichte der Sonderpädagogik, S. 24. 3 Vgl. Erich Beschel, Der Eigencharakter der Hilfsschule, Weinheim 1960; ders., Heilpädagogik, begriffsgeschichtlich, in: Gerhard Heese (Hg. u.a.), Enzyklopädisches Handbuch der Sonderpädagogik und ihrer Grenzgebiete, Bd. 1, Berlin 19693, Sp. 1266–1268; Gerhard Heese, Sonderpädagogik (Heilpädagogik), in: H.H. Groothoff (Hg.), Pädagogik, Frankfurt a.M. 1964; Heinz Bach, Heilpädagogik, in: Enzyklopädisches Handbuch der Sonderpädagogik und ihrer Grenzgebiete, in: Gerhard Heese (Hg. u.a.), Enzyklopädisches Handbuch der Sonderpädagogik und ihrer Grenzgebiete, Bd. 1, Berlin 19693, Sp. 1259–1266; Ulrich Bleidick, Heilpädagogik – Sonderpädagogik – Pädagogik der Behinderten. Wandlungen der Begriffsbildung, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 20 (1969) 2, S. 67–97. Festschrift für Gustav Lesemann zum 80. Geburtstag am 23.2.1969; ders., Sonderpädagogik, in: Gerhard Heese (Hg. u.a.), Enzyklopädisches Handbuch der Sonderpädagogik und ihrer Grenzgebiete, Bd. 3, Berlin 19693, Sp. 3191–3226; ders., Historische Theorien: Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Pädagogik der Behinderten, in: Ulrich Bleidick (Hg.), Handbuch der Sonderpädagogik, Bd. 1: Theorie der Behindertenpädagogik, Berlin 1985, S. 253–272; ders., Pädagogik der Behin-

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derten: Ein Ausblick, in: G. Opp (Hg. u.a.), Focus Heilpädagogik. Projekt Zukunft, München 1996, S. 28–35; ders., Sonderpädagogik, in: G. Antor/Ulrich Bleidick (Hg.), Handlexikon der Behindertenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis, Stuttgart u.a. 2001, S. 92–94. 4 Vgl. Heinrich Hanselmann, Grundlinien zu einer Theorie der Sondererziehung (Heilpädagogik), Zürich 1941. 5 Bleidick, Heilpädagogik – Sonderpädagogik – Pädagogik der Behinderten, S. 85. 6 Ders., Handlexikon der Behindertenpädagogik, S. 92. 7 Ders., Pädagogik der Behinderten: Ein Ausblick, in: G. Opp (Hg. u.a.), Focus Heilpädagogik. Projekt Zukunft, München 1996, S. 31. 8 Ders., Behinderung als pädagogische Aufgabe. Behinderungsbegriff und behindertenpädagogische Theorie, Stuttgart u.a. 1999, S. 55, 56, 63. 9 Vgl. Ulrich Bleidick/Siegind Ellger-Rüttgardt, Behindertenpädagogik – eine Bilanz. Bildungspolitik und Theorieentwicklung von 1950 bis zur Gegenwart, Stuttgart 2008, S. 11. 10 Möckel, Geschichte der Heilpädagogik, S. 191. 11 Die Heilpädagogische Woche in Berlin vom 15. bis 22. Mai 1927. Ausführlicher Bericht, erstattet von Arno Fuchs, Magistratsschulrat in Berlin (1928). 12 Vgl. M. Breitbarth, Warum die Heilpädagogische Fachschaft?, in: Die Hilfsschule 26 (1933), S. 322–327. 13 Vgl. Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 nebst Ausführungsverordnungen. Bearbeitet und erläutert von Arthur Gütt, Ernst Rüdin, Falk Ruttke. Mit Beiträgen von Erich Lexer und Heinrich Eyme, München 19362; vgl. P. Bartsch, Sonderschullehrer auf dem Marsche, in: Die deutsche Sonderschule 1 (1934) 8, S. 561–565; Karl Tornow, Die Mitarbeit des Sonderschullehrers bei der Verwirklichung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Aus der Praxis der Gutachtertätigkeit des Hilfsschullehrers, in: Die deutsche Sonderschule 3 (1936) 5, S. 321– 332. 14 Vgl. M. Höck, Hilfsschule im Dritten Reich, Berlin 1979, S. 133; G. Kremer, Die Sonderschule im Nationalsozialismus: das Beispiel Hilfsschule, in: K.-P. Horn (Hg. u.a.), Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbrunn 2011, S. 162–184. 15 Möckel, Geschichte der Heilpädagogik, S. 200. 16 Vgl. Hänsel, Karl Tornow als Wegbereiter der sonderpädagogischen Profession. Die Grundlegung des Bestehenden im Nationalsozialismus, Bad Heilbrunn 2008. 17 Karl Tornow, Völkische Sonderpädagogik und Kinderpsychiatrie. Bericht über die 1. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik in Wien am 5. September 1940, in: Zeitschrift für Kinderforschung 49 (1943) 1, S. 79. 18 Ders., Die Einheit der Fachschaft V (Sonderschulen) im NSLB. und die sich daraus ergebende Schau ihrer Arbeit in wissenschaftlicher und praktischer Hinsicht, in: Die deutsche Sonderschule 2 (1935) 2/3, S. 110–129; ders., Völkische Heil- oder Sonderschulpädagogik? Zugleich eine Begründung der Einheit der Reichsfachschaft V (Sonderschulen) im NSLB, Halle a.S. 1935. 19 Vgl. Tornow, Völkische Sonderpädagogik und Kinderpsychiatrie; Dagmar Hänsel, Die Deutsche Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik im Nationalsozialismus als verkappte Fachgesellschaft für Sonderpädagogik, in: Bildungsgeschichte. International Journal for the Historiography of Education (2017) 1. 20 Tornow, Völkische Sonderpädagogik und Kinderpsychiatrie, S. 82. 21 Erich Wittke, Erbgesundheitsgesetz – Strukturwandel der Sonderpädagogik, in: Die deutsche Sonderschule 3 (1936) 7, S. 495–498. 22 Tornow, Die Einheit der Fachschaft V, S. 110. 23 Ders., Völkische Sonderpädagogik und Kinderpsychiatrie, S. 77, 81f. 24 Ders., Die Einheit der Fachschaft V, S. 121.

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25 Vgl. Bleidick, Heilpädagogik – Sonderpädagogik – Pädagogik der Behinderten, S. 82; ders., Behinderung als pädagogische Aufgabe, S. 57. 26 Tornow, Die Einheit der Fachschaft V, S. 121. 27 Vgl. Dagmar Hänsel, Die NS-Zeit als Gewinn für Hilfsschullehrer, Bad Heilbrunn 2006. 28 Vgl. Zwanziger, Der Begriff „Sonderpädagogik“ ist unser geistiges Eigentum, in: Die deutsche Sonderschule 8 (1941) 7/8, S. 391f. 29 Vgl. Enzyklopädisches Handbuch, 1911, 1934, 1969. 30 Vgl. Ulrich Bleidick, Pädagogik der Behinderten. Grundzüge einer Theorie der Erziehung behinderter Kinder und Jugendlicher, Berlin 19845. 31 Vgl. Bleidick, Heilpädagogik – Sonderpädagogik – Pädagogik der Behinderten; ders., Sonderpädagogik, in: Heese (Hg. u.a.), Enzyklopädisches Handbuch der Sonderpädagogik, Sp. 3191– 3226; ders., Pädagogische Theorien der Behinderung und ihre Verknüpfung, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 28 (1977) 4, 207–229; ders., Historische Theorien: Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Pädagogik der Behinderten, in: ders. (Hg.), Handbuch der Sonderpädagogik, Bd. 1 Theorie der Behindertenpädagogik, Berlin 1985, S. 253–272; ders., Pädagogik der Behinderten: Ein Ausblick; V. Moser u.a., Theorien der Behindertenpädagogik, München u.a. 2008. 32 Vgl. K. J. Klauer, Lernbehindertenpädagogik, Berlin 19672, S. 10. 33 Vgl. Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens. Erstattet vom Schulausschuss der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1960, S. 7, 39. 34 Vgl. Dagmar Hänsel, Sonderschullehrerausbildung im Nationalsozialismus, Bad Heilbrunn 2014. 35 Möckel, Geschichte der Sonderpädagogik unter besonderer Berücksichtigung der Schule für Lernbehinderte. Studienbrief, Fernuniversität Hagen 1984, S. 16. 36 Bleidick, Heilpädagogik – Sonderpädagogik – Pädagogik der Behinderten, S. 81.

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Völkisch-Esoteric and Völkisch-Religious Movements in Germany and Austria 1890–1945 Well before the rise of the Third Reich, many contemporaries noted affinities between the Austro-German völkisch movement, esotericism, and pagan religion. After the Nazi seizure of power, perceptions of the occult, pagan, and “border scientific” [grenzwissenschaftlich] character of the völkisch qua National Socialist movement became widespread.1 Indeed, among Weimar intellectuals and a later generation of German emigré historians, a remarkable consensus emerged in the 1960s and 70s regarding the importance of völkisch-esoteric and völkisch-religious traditions in paving the way for Nazism.2 To be sure, revisionist scholars have since argued that these ideas transcended the racist and anti-Semitic, völkisch milieu. Many liberal and cosmopolitan Central Europeans, they observe, sought relief in alternative forms of esoteric and “border scientific” knowledge: astrology, clairvoyance, theosophy, ariosophy, and various kinds of spiritualist, parapsychological, and “natural healing” practices.3 Even this revisionist scholarship, however, recognizes the popularity and persistence of occult, pagan religious, and border scientific doctrines across the German and Austrian population – and not least of which the völkisch milieu.4 Over the past two decades we have in fact witnessed a renaissance in scholarship investigating the close connections between the völkisch movement, pagan religion and esotericism.5 In this contribution, I will argue that, taken together, there is considerable (new) research to suggest that the relationship between esotericism, paganism and the völkisch movement was always close, constituting a shared supernatural imaginary which informed right-wing attitudes toward science and religion, politics and society, and race and space well into the Third Reich.6 Although Max Weber famously proclaimed the “disenchantment of the world” in 1917, he likewise observed that, despite (or perhaps because of) the rise of science and decline of organized religion, “the ultimate and most sublime values have retreated […] into the transcendental realm of mystic life” – namely popular religion and esotericism. Hence, along with a public disenchantment of the world, there emerged by the end of the nineteenth century a private renaissance in everyday religiosity, a “longing for myth” and renewed belief in fate and miracles that occurred outside the framework of traditional religious institutions.7 Among of these proliferating alternatives to mainstream Christianity were various strains of Germanic paganism, supplemented by a renewed popular interest in Indo-European folklore and Nordic mythology. By the middle of the nineteenth century, Romantic-era intellectuals had resuscitated a broad palette of Germanic and Indo-European symbols, myths, and beliefs that both reinterpreted and displaced traditional forms of Christianity.8 Central to these efforts was the study – and sometimes outright invention – of runic alphabets (→Runenkunde) and pagan religious

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practices (see Indology, folklore studies, Burgenforschung, Hexenforschung) that represented an Ur-Germanic, pre-Christian, Aryan civilization.9 This research was not merely or even primarily academic in motivation, but was intended by many völkisch thinkers to create “a noble and shining faith agreeable to the ‘soldier soul’ of the later day Nordic” based upon, “the whole crude and chaotic mass of the pagan beliefs […] found in the twin gospels’ of the Elder and Younger Eddas.”10 A number of scholars have characterized the intellectuals most interested in resuscitating this völkisch-pagan religiosity as anti-modernists, as politicians of “cultural despair.”11 But most research shows, to the contrary, how widely popular this longing for myth, this preoccupation with Germanic folklore, mythology, and pagan religion actually was. Plenty of liberal, modernist thinkers were skeptical regarding the consequences of rapid industrialization and genuine in their search for new (völkisch) spirituality.12 Whether (re)inventing pagan religious ceremonies or searching for the Holy Grail; promoting Nordic mythology and Germanic folklore; recovering an Indo-Aryan racial past or exploring Tibetan Buddhism – the emerging Austro-German supernatural imaginary integrated multiple strains of völkisch religiosity. Perhaps the most quintessential melding of (völkisch) religion and esotericism was Theosophy, invented by the Russo-German aristocrat Helena Blavatsky in 1875. After helping sponsor chapters of the Theosophic Society in Germany and Austria, Blavatsky published her magnum opus, The Secret Doctrine, in 1888. An eclectic two volume work, The Secret Doctrine drew liberally on Darwinism, Hinduism, Tibetan Buddhism and Egyptian religion as well as the contemporary British fantasy novel, The Coming Race.13 Worth mentioning here is the role of the lost civilization of Atlantis or Thule in the Theosophist worldview.14 For Blavatsky and her followers Atlantis may have correlated with the mythic Buddhist lands of “Shambhala” in Hindu tradition, ostensibly located under the Himalayas, where the successors of the third “root race” of “Lemurians” resided. 15 After the destruction of this proto-Nordic civilization through a global flood, Theosophists believed, a few survivors migrated to the highlands of the Himalayas where they founded the secret society of “Agarthi.”16 Theosophy’s idea of a lost but recoverable Aryan civilization with roots in Indo-European prehistory would play an important role in later völkisch-occult theories, from Ariosophy to World Ice Theory.17 Blavatsky’s Theosophic movement quickly picked up supporters across Germany and Austria, incorporating many of the incipient völkisch elements already extant with the Austro-German supernatural imaginary. Wilhelm Hübbe-Schleiden, who founded the German Theosophical Society in 1884, exemplified these tendencies. So too did Hübbe-Schleiden’s Theosophic colleague, the Austrian engineer Rudolf Steiner.18 After falling out with his Theosophic colleagues, Steiner developed his own, more implicitly völkisch occult doctrine, Anthroposophy.19 Anthroposophy, for example, was not afraid to assert the superiority of white Europeans over

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the Asian and Jewish races and “went so far as to claim that in the grand cycle of spiritual evolution, the Germanic race had advanced the furthest.”20 Beyond asserting the spiritual connection between ethnicity and morality, Steiner believed that putting the Aryan race first would favorably alter evolution. “For many anthroposophists,” writes Peter Staudenmaier, “Jewishness signified the very antithesis of spiritual progress and the epitome of modern debasement.”21 Inspired by Guido von List at the turn of the twentieth century, Ariosophy was an even more explicitly völkisch and anti-Semitic version of the Austro-German Theosophic movement. List believed that the lost Atlantean civilization described by Blavatsky was in fact a pre-Christian, Wotan-worshipping race of Nordic superhumans, which had been undermined by racial miscegenation. Hence Nordic civilization could only be restored by adherence to a strict eugenics program of selective breeding.22 To this end List developed his so-called “Armanist” doctrine, based on a fictional runic alphabet and electic appropriation of Judeo-Christian, Buddhist, and Nordic religious teachings.23 Like Steiner’s Anthroposophic publications, List’s numerous works on sexology, eugenics, and Germanic runes were rejected by mainstream science. But List’s secret society (Armanen) and “scientific” contributions, including his well known Secret of the Runes (1908), did help create a doctrine (Ariosophy) and branch of Runic Studies (Runenkunde), that found many proponents in the Third Reich.24 List’s younger contemporary, Jörg Lanz von Liebenfels, picked up and elaborated upon these “Armanist” ideas in the völkisch-occult journal Ostara—which Hitler may have read as a young man in Vienna. A lapsed Cisterician monk, Lanz seized on List’s Armanism, which he called “Ariosophy,” as both a substitute religion and racial science. Lanz’s major “innovation” was to supplement List’s Armanist teachings with the “science” of “Theozoology,” a bizarre cocktail of pagan and eastern religions, Nordic mythology, and evolutionary biology. In the pages of Ostara, Liebenfels anticipated Nazism in many respects, proposing a ban on interracial marriages, selective breeding and polygamy to restore the race, and the sterilization and elimination of inferior races, including the Jews and the mentally and physically inferior.25 In the decade before the First World War, List and Lanz von Liebenfels attracted important political figures to the Ariosophic movement. For example, Hitler’s early role model, the populist mayor of Vienna Karl Lueger, joined Lanz in co-founding the Guido von List society in 1908.26 Heinrich Himmler’s mentor in ideological and spiritual matters, Karl Maria Wiligut (see below), was also a practicing Ariosophist, publishing a student of Runology (Seyfrieds Runen) in 1903 and an Armanist-inspired (“Irminist”) religious text (Neun Gebote Gots) in 1908. The co-founder of the proto-Nazi Thule Society, Rudolf von Sebottendorff, was likewise a prominent Ariosophist, astrologer, and leader of the Armanen’s successor organization, the German Order.

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Indeed, the German Order (Germanenorden), founded by Theodor Fritsch in 1912, is especially important in the history of the völkisch-esotericism and paganism. Fritsch was one of Germany’s earliest and most vociferous racial anti-Semites, publishing the infamous Anti-Semitic Correspondence, as well as a leader of the virulently racist German-Social party. Given the remarkable overlap between völkisch politics, esotericism, and religion, it should come as no surprise that Fritsch eagerly joined the Guido von List Society and Lanz’s quasi-masonic Order of the New Templar (Neu Templer Orden, ONT) as well.27 But in 1912, Fritsch decided to found his own Armanen-inspired secret society, the German Order (Germanenorden), along with a political working group that could disseminate the principles of the Order to a wider public: the Reich Hammer Association (Reichshammerbund) – named after his infamous anti-Semitic publishing company, Der Hammer.28 Fritsch’s co-founding the German Order and Hammer Association in 1912 was unique in the history of the völkisch movement. Before 1912, völkisch politics, religion, and esotericism often overlapped, drawing support from similar circles. But their respective organizations – for example the religio-mystical Armanen and party political German-Socials, remained distinct. In bringing together these multifarious elements in the same organization, Fritsch anticipated the Thule Society and with it the early Nazi Party. For the Hammer Association sought to bring together all “racist-reformist groups” with “national” and “social” values, “urging collaboration with Catholics, a broad spread of propaganda to workers, farmers, teachers, officials, and officers, and special activity at the universities.” 29 The Hammer Association also moved beyond Protestant Saxony to become Pan-German in scope, developing branches in the hotbeds of völkisch thought, Austria and Bavaria.30 The Hammer Association had trouble attracting supporters – like so many other völkisch groups that emerged in the last two decades of the German Empire. When war did break out in August 1914, both the Hammer Association and German Order fell into disarray.31 But the war also radicalized and propagated völkisch-nationalist thinking across the population, while previously apolitical, even pacifist occultists like Steiner began to characterize the war as “cosmically necessary,” a “manifestation of processes playing out among ‘the beings of the spirit worlds,’ a ‘world of demons and spirits which works through humankind when nations battle one another.’”32 By 1917, many chapters of the German Order and Hammer Association had dissolved into larger organizations such as the Pan-German League, Fatherland’s Party, German Nationalist Protection and Defiance Organization (Deutscher Schutzund Trutzbund) and German-Socials. Instead of disbanding, however, the Munich Chapter of the German Order split off from its parent organization in 1916 to form the German Order Walvater Chapter of the Holy Grail.33 The most important individual to join the rogue Munich chapter of the German Order was Rudolf von Sebottendorff. As leader of the Walvater Chapter, Sebottendorff met Walter Nauhaus, who had formed a discussion circle to explore their oc-

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cult ideas known as the Thule Society. In early 1918 Sebottendorff appointed Nauhaus the Walvater Chapter’s deputy recruiter and soon began hosting frequent meetings at the Four Seasons Hotel in Munich. On 17 August 1918, as Ludendorff’s last Offensive dissipated on the western front, Sebottendorff merged the Walvater branch of the Germanic Order with Nauhaus’s nascent “Thule Society.”34 Like the German Order, ONT, List Society, and Armanen before it, the Thule’s growing interest in rightwing politics was leavened by a continuing interest in völkisch esotericism and religiosity. Even as he was marshalling support for military action against the revolutionary left, Sebottendorff found time for extended perorations on the pendulum as an “instrument for radiesthetic experiments or alleged medical diagnosis.” Newly initiated male Thulists wore a bronze pin with a swastika and two spears while the “ladies wore a golden swastika.”35 But the Thule Society also emulated the völkisch politics of the Hammer Association, German Socials, and Fatherland’s Party, providing an ideological and organizational bridge to National Socialism. The Thulists wanted a Greater Germany devoid of Jews, Freemasons, and Communists, proposing a set of “reforms” that were both economically progressive and anti-democratic, socially inclusive and racially exclusive. Only a party that adhered to strict völkisch and eugenical thinking, Sebottendorff argued, could defend against the twin threats of Jewish-Bolshevism and international finance capitalism.36 Sebottendorff and his colleagues made two important organizational decisions in late-Summer and early Fall of 1918. First, Sebottendorff purchased a newspaper, the Münchener Beobachter (new subtitle: “Independent Paper for national and racial politics”). Second, the Beobachter’s head sportswriter and political editor, Karl Harrer, co-founded, in October 1918, a “political workers’ circle” (Politische Arbeiter-Zirkel), with his fellow Thule Society colleague and former Fatherland’s Party member, Anton Drexler.37 Nevertheless, like the German Order that preceded it, the Thule Society and its loosely-affiliated “political worker’s circle” would have likely remained small, mostly harmless völkisch-esoteric splinter groups if not for Germany’s devastating defeat and Socialist revolution in early November 1918.38 In this environment, “apocalypticism became a staple of culture and of some strands of religious discourse—not to mention German war propaganda.” “As defeat was followed by revolution,” the historian Monica Black continues, “some Germans of an eschatological outlook were only confirmed in their view that the end of days were upon them.”39 For völkisch “believers in racial apocalypse”, the experience of Eisner’s Socialist Republic, followed immediately by armistice, defeat, and the end of the German Empire, was catastrophic. Conditioned by war, dislocation, and millennial rhetoric of the supernatural imaginary, a number of völkisch-minded Germans believed that new, more radical, more violent political movement was necessary to facilitate rebirth and regeneration.40

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Galvanized by these events, on 5 January 1919, the leaders of the Thule Society’s “political worker’s circle,” Drexler and Harrer, joined with the völkisch poet Dietrich Eckart and economist Gottfried Feder to form the German Workers’ Party (DAP).41 These early DAP members had at least as many ties to the völkisch-esoteric German Order and Thule Society as they did to the better known Pan-German Association, German-Social Party, Schutz- und Trutzbund or Fatherland’s Party.42 Moreover, among the Free Corps soldiers that Gustav Noske deputized in April 1919 to fight the Communists was Rudolf von Sebottendorff’s own Kampfbund (“Fighting Association”), later renamed the Free Corps Oberland, whose members would include dozens of future SA, SS, and Nazi leaders.43 Finally, the twelve point political program that Harrer and Sebottendorff published in the Munich Observer on 31 May 1919 anticipated the twenty-five point program composed for the DAP by Drexler and the young Adolf Hitler a few months later.44 Both the Thule and the DAP had its ideological and organizational roots in the völkisch esoteric and religious movements of the late-Imperial epoch, movements which, in the words of Peter Longerich, “at the peak of the inflation and during the subsequent period of upheaval, were generally in vogue.”45 More specifically, Nazi ideology emerged “from a broader völkisch subculture […] connected with earlier völkisch religious trends […] neither paganism nor the esoteric was excluded from the NSDAP in its early years.”46 But if the early (NS)DAP made frequent recourse to völkisch-estoeric and religious ideas, it did so in ways that appealed more directly to the radicalized, mass politics of the postwar world.47 One of the most important influences on Hitler and the Nazi Party, Dietrich Eckart, was keenly aware of the need to translate his “enthusiasm for Nordic folk-lore” and the mystical roots of Germanic religion for a mass audience. Alfred Rosenberg worked in turn to synthesize Eckart’s “völkisch-redemptive views of German spiritual and racial superiority with conspiratorial-apocalyptic White emigré conceptions of international Jewry as a malevolent force that strove for world domination through datastardly means.”48 In his most important work, Myth of the Twentieth Century, Rosenberg brought together an eclectic mix of border scientific racism and Indo-Germanic paganism in helping articulate the Nazi Party’s supernatural imaginary for millions of Germans.49 Echoing the Ariosophists, Rosenberg claimed that the ancient Aryans from northwest India and Persia had founded all great civilizations, including the Nordic, before succombing to miscegenation with lesser races and Judeo-Christianity.50 As a young adult, Heinrich Himmler had read the works of Theodor Fritsch, about whom he said, “One suddenly begins to understand things that one couldn’t grasp as a child about what quite a lot of biblical stories are worth […] the terrible scourge and danger of religion by which we are being suffocated.” 51 By “religion,” of course, Himmler meant Christianity, which had tried to replace the Edda and Nibelungenslied, “the magical world of Thor, Freya, Loki, and other Norse divinities.”52 Himmler likewise read literature that “in his view, dealt with occult phe-

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nomena in a serious ‘scholarly’ way; for example, a book about Astrology, Hypnosis, Spiritualism, Telepathy, pendulum dowsing, and the transmigration of souls […] a topic that was also to preoccupy him after he became Reichsführer SS.” Himmler eagerly requested horoscopes and believed that “it was possible to communicate with the souls of the dead.”53 He also invested heavily in Asian religions, carrying around, alongside the Edda, the Vedas and Bhagagad Gita, the speeches of Buddha, and other eastern texts.54 Thus, already by 1923, writes Longerich, Himmler had “developed a coherent voelkisch vision, involving anti-Semitism, extreme nationalism, racism […] occult beliefs and Germanophile enthusiasms […] an ideology that was a mixture of political utopia, romantic dream world, and substitute religion.”55 Hitler himself left Linz with a strong appreciation of Norse mythology and Germanic folklore. But it was in Vienna that he likely picked up Ariosophic ideas, attracted to the “manichaean comic-book dualism of blonds and darks, heroes and sub-men, Aryans and Tschandalen, described in the Ostara of Lanz von Liebenfels.”56 In early speeches Hitler “relied on völkisch writers such as Guido von List and Theodor Fritsch,” arguing that the “Aryan, during the ice age, engaged in building his spiritual and bodily strength in the hard fight with nature, arising quite differently than other races.” All “these people held one sign in common,” Hitler claimed, “the symbol of the sun. All of their cults were built on light, and you can find this symbol, the means of the generation of fire, the Quirl, the cross. You can find this cross as a swastika not only here [in Germany], but […] in India and Japan. It is the swastika of the community […] once founded by Aryan culture.”57 While Hitler’s library contained few “works on political theory,” there were many volumes on “popular medicine, miraculous healing… and special diets”, stories “about Wotan and the gods of German mythology” and books about magic symbols and the occult, including Lanz von Liebenfels’ The Book of German Psalms: The Prayerbook of Arios-Racial Mystics and Anti-Semities.58 In short, völkisch-esotericism and religion was an essential component of the early Nazi movement. The speeches and writings of virtually all leading Nazis “featured concepts derived from Madame Blavatsky and popularized by Theodor Fritsch,” a belief that the “eternal struggle between Ormuzd and Ahriman [divine Zoroastrianist spirits in pre-Islamic Persian], between light and darkness, has once again ended in the victory of the sun, whose symbol is the ancient Aryan sign of salvation: the swastika.”59 Nazism’s eclectic appropriation of völkisch esotericism and paganism cannot be dismissed as the pet project of Himmler, Hess, or a few odd characters on the fringes of the Third Reich. It had powerful roots in the völkisch-esoteric, and popular religious revival of early twentieth century Central Europe, part of a shared supernatural imaginary that might be exploited in the process of building ideological and spiritual consensus across a diverse Nazi party and all the more eclectic German population. Indeed, “[a]lready soon after coming to power,” Alfred Rosenberg observed, many Germans “stamped the Führer as a messiah and ascribed the great results of

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the struggler to otherworldy powers.” “Astrology made a special effort,” Rosenberg added, “to exploit this ideological situation for themselves and obscured the achievements and goal of National Socialism with prophecies and soothsaying of the most primitive kind.”60 The astrological predilections of high-ranking Nazis – including Himmler and Hess – are of well known. But we should not forget that other early Nazis, such as Herbert Volck, Wilhelm Gutberlet, and Karl Heimsoth were “trained” astrologers, while the SA leader Röhm and other high-ranking stormtroopers were profoundly interested in astrology as well. 61 At the same time the majority of Austria and Germany’s occult and astrological journals were “national and völkisch,” often advocating prophecies about the coming “Third Reich”.62 “He is apparently only in his element when he has a crowd in front of him,” wrote the famous graphologist and astrologer Elsbeth Ebertin in 1923. “On the platform he is more like a medium, the unconscious tool of higher powers […] But precisely as a result of this, it will emerge that this National Socialist movement will not only be strengthened internally, but externally as well, and to such an extent that it will have historic consequences.”63 “Adolf Hitler makes the plan,” according to amother prominent astrologer in April 1931, “because he thinks more consciously in a cosmic fashion than many other German politicians. He has a heart in his breast that feels the interrelationship with the cosmos more distinctly than speculative Sophists.” “Despite all obstacles,” wrote the head of Germany’s largest Astrological Association, Hubert Korsch, “our Führer has completed his struggle in defense of the German racial soul [Volksseele] in victorious and in legal fashion. The national renewal has begun in all corners of the Reich […]. A new German era has begun!”64 “If one dispenses with the idea that these journals knew the future due to their magical abilities,” the contemporary scholar of occultism remarked, “then one has to explain why almost all of thesis occult magazines were pro-Nazi after 1931” and admit “that some of these occult-astrological periodicals and their editors represented ideologically nationalist and especially racialist thoughts out of conviction, that derived from ideological principles that lay not too far [from occult principles] and were expressed in their publications.” “Communist or left and internationallyinclined workers did not belong to those” who bought these periodicals or patronized occult establishments, but rather the “half-educated circles of the bourgeoisie” who were, “if by no means always national Socialist, yet indeed national.”65 The NSDAP even enlisted the help of leading völkisch-esoteric figures, such as Weimar’s greatest horror writer, Hanns Heinz Ewers, and most famous clairvoyant, Erik Hanussen, to peddle Nazi propaganda.66 In Rider in the German Night, Ewers chose the Nazi Free Corps leader Paul Schulz (aka Gerhard Scholz) as his protagonist, a rightwing terrorist who murdered republican politicians and fought to end the Franco-Belgian occupation of the Ruhr in 1923. Employing völkisch-esoteric imagery, the book extolled the virtues of Scholz and other Nazi-affilaited völkisch-eso-

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teric groups, including the Werewolf, Artamanen, Ludendorff’s Tannenbergbund, and the Thule-associated Bund Oberland. 67 Goebbels and Röhm convinced Hitler that additional propaganda work from Ewers would be an asset to the movement and that “such a work might attract new circles to the party.” Horst Wessel, the famous Nazi martyr, was chosen as the subject. If Ewers’ melding of politics and mysticism was popular on the völkisch right, it generated critical reactions across the Weimar left. According to one Socialist reviewer, in Wessel Ewers had created a “national Socialist Vampire.” Another suggested that “Frank Braun, the behind-the-scenes hero of ‘Vampire’ and ‘Alraune,’ has been transformed into Horst Wessel, and those fabled characters now represent Hitler and Goebbels.” The Socialist Wahrheit commented on the “demonic” elements in the whole display, while the Communist Red Post published an assortment of articles lamenting the “new German mysticism”, “political irrationalism”, and “superstition” represented by Ewers presence at the Nazi movement.68 While Ewers’ fiction articulated the supernatural horrors and nationalist mysticism which fueled Nazism’s emotionally charged politics, Hanussen represented the prophet who visualized the Nazi seizure of power. Hanussen’s dozens of prophecies favourable to the NSDAP were consumed by tens of thousands of Germans, providing a unique window into this convergence of between occult and völkisch (Nazi) prophets in the last years of the Weimar Republic. Hanussen even “predicted” the infamous February 28th 1933 Reichstag Fire – no doubt assisted by his close friendship with Berlin SA leaders – indicating the remarkable extent of his intimacy with the NSDAP (and helping to explain his murder after the seizure of power).69 Like other völkisch-esoteric prophets of the 1920s and 30s, Hanussen facilitated the Nazi mission of making Germans believe they “were the Chosen People and that the downfall of 1918 would be reversed by a national capacity to make […] the impossible possible.”70 The Nazis’ opportunistic invocation of “positive Christianity” before 1933 should not distract us from the fact that the NSDAP, alongside its exploitation of occultism, was also celebrating the pagan solstice and praising the swastika as pagan “sunwheel”.71 After the seizure of power, half-hearted Nazi attempts to attract Christian votes shifted to a desire to work out a modus vivendi with the Churches based on a mutual hatred of Communism, virulent nationalism, and latent anti-Semitism.72 But whatever the short term necessity of mollifying the Churches, the Nazis were always seeking völkisch alternatives. As Hitler put it, National Socialism is an alternative “form of conversion, a new faith, but we don’t need to raise the issue – it will come of itself.”73 Or as Himmler’s masseuse observed a few years later, the Reichsführer’s “hostility towards Christianity has led him to take a systematic interest in other religions.”74 To argue that most leaders of the Third Reich sympathized with völkisch religiosity and perhaps even sought to revive a kind of Ario-Germanic paganism is not to deny the heterogeneity of these ideas or efforts. The various strains of Ario-Ger-

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manic religiosity included the officially sponsored German Christians, led by the Nazi Bishop Ludwig Müller, a völkisch branch of Protestantism that eliminated the Old Testament, excluding non-Aryans, and incorporating pagan Nordic elements.75 It also included the SS-affiliated religious scholar and Indologist →Jakob Wilhelm Hauer’s German Faith Movement.76 Equally prominent among these many (völkischesoteric religious traditions were the Ariosophic doctrine of Irminism and closely related offshoot of “Luciferianism”.77 The above-mentioned SS Obersturmfuhrer Karl Maria Wiligut, for example, was a prominent Ariosophist and esotericist already before the First World War. After meeting Himmler in 1933, Wiligut received an invitation to join the SS and was appointed the head of the Department for Pre-History in the SS Race and Settlement Office. By 1935, he had risen to SS Colonel and become a part of Himmler’s personal staff, taking on a role within the new Ahnenerbe as well. 78 In this capacity, Wiligut, who called himself Weisthor (Wise-Thor), had a hand in almost every aspect of SS attempts to (re)construct a new Ario-Germanic religion, blending “the Teutonic archaism of List with the Ario-Christianity of Lanz, albeit in a novel form”.79 Wiligut believed he had spiritual powers derived from his God-like ancestors who were themselves descendants of the Aesir and Vanir of Norse mythology, including Thor, Wotan and the Ancient Germanic hero Arminius.80 Wiligut’s “spirits” told him that there was a lost “nine commandments of God,” which originated from the “occult transmission of our Asa-Una clan Uilligotis”.81 Combining Ariosophic and World Ice theories, Wiligut further argued that this religion was part a superior Aryan civilization, which arose millenia before recorded history, “a time when giants, dwarves and mythical beasts moved about beneath a sky filled with three suns.” 82 According to Wiligut, the four classes of Irminist Gods, the Asen, – Odinist, Baldurist, Thorist, and Lokiist – could “control the thoughts of one thousand human beings”. The white superrace (“light children”) who worshipped the Asen ostensibly stood above the lower racial forms—Neanderthals, blacks, Jews, who “unleashed demonism” through miscengenation. 83 Himmler enlisted hundreds of academic and lay scholars interested in exploring these Irminist/Ariosophic ideas. Prominent among these scholars was the Grail researcher Otto Rahn. An otherwise unremarkable amateur philologist whose “research” had been sponsored by French Theosophists, Rahn was “call[ed] into the staff of the Reichsführer SS” in the mid-1930s because his Luciferian ideas “accord [ed] with the National Socialist way of thinking”.84 Now funded by the SS Ahnenerbe, Rahn was charged by Himmler and Wiligut with recovering an Ur-Germanic, Indo-Aryan religion – efforts that would eventually produce his second book, Lucifer’s Court.85 In Lucifer’s Court, Lucifer became a purveyor of light who was worshipped by the heretical medieval sect of Cathars (“Luciferians” or “light bearers”). The Cathars, according to Rahn, protected the Grail, which had migrated East from Tibet via the Indo-Aryan tradition of the Thule (Shambala), but were burned by the Dominicans for their efforts.86

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Rahn’s interpretation therefore linked Nazi Ario-Germanic religion explicitly to the paganism, Satanism, and “witchcraft” practiced across Germany in the Middle Ages, at places such as Brocken in the Harz mountains, the site of the Walpurgis Night in Faust.87 But Himmler was not the least bit put off by such arguments, ordering one hundred copies of Lucifer’s Court for the SS, ten bound in pig leather and ten more in luxurious Pergament. He even gave one to Hitler for his birthday.88 Rahn’s theories moreover buttressed Wiligut’s völkisch-religious predilections, from the appropriation of the Grail mythos to the Ahnenerbe’s investigations into World Ice Theory and the Indo-Aryan origins of Germanic race and religion in Tibet and northern India.89 Wiligut’s Irminism and Rahn’s Luciferianism resonated among SS and Nazi leaders who wanted to strengthen German cultural, historical, and religious identity, in particular Himmler, Darré, and the first head of the Ahnenerbe, Hermann Wirth.90 Wirth, whose “wild Atlantean Runomania” was infamous, followed Wiligut’s lead in sponsoring expeditions to Scandinavia that would prove the existence of a two million year old Irminist civilization (Atlantis or Thule) destroyed by a cataclysm and preserved in ancient runes [Runenkunde].91 Wiligut’s theories were crucial in Himmler and Wirth’s search for Germanic “holy places,” such as the burial site of Henry I in Quedlinburg, the Externsteine near Detmold, and the Wewelsburg castle near Büren in Westphalia.92 Wiligut’s Ahnenerbe-sponsored “castle research” [Burgenforschung] helped shaped the Wewelsburg into a center for reviving the Irminist faith, replete with pagan wedding services for SS officers and pagan solstice festivals for local Germans.93 Alfred Rosenberg played a similar role in promoting the Ario-Germanic spirituality, hoping to awaken “the old Nordic myths and values symbolized by Gods”.94 He believed the Third Reich’s research “in the field of Nordic religious history” would “form the yeast that will permeate the former Catholic and former Lutheran components of the German Church. Then the Nordic sagas and fairy tales will take the place of the Old Testament stories of pimps and cattle dealers.”95 With these goals in mind, the Amt Rosespberg sponsored folklore research and collaborated with Himmler’s rival Ahnenerbe on various archaeological excavations across Europe. 96 These various strains of völkisch paganism, from Luciferianism and Irminism to Germanic folklore and Nordic mythology, were supplemented by a Nazi fascination in Indo-Aryan religion.97 From Himmler, Darré, and Rosenberg to Hitler, Bormann, and Hess, most Nazi leaders expressed affinities toward Buddhism, Hinduism, Shintoism, Confucianism and Islam inherited from the (völkisch) Indomania and eastern-inspired (völkisch) esotericism of the ninteenth century.98 Hence the Nazi supernatural imaginary provided an eclectic range of pantheistic religious beliefs that coalesced around Germanic paganism, but incorporated elements of eastern, New Age and other Indo-Aryan religiosity.99

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The same ideological continuities to the late-nineteenth century völkisch movement exist on the other end of the esoteric spectrum: border science. As the Weimar rocket scientist Willy Ley observed already in 1947, the Third Reich may have developed an impressive array of technological innovations. But the Nazis were just as likely to eschew mainstream science in favor of “magic,” on “the willingness of a noticeable proportion of the Germans to rate rhetoric above research and intuition above knowledge.” The Third Reich did not merely exploit anthroposophy, astrology, or dowsing for practical reasons, Ley observed. They truly sought a “magic[al]” alternative to the materialist science of “Jews and Marxists,” finding it in border scientific doctrines “which originated in Germany and … had a special appeal to Germans.” These border scientific doctrines “exist[ed], and to some extent even flourish[ed], before Hitler,” Ley observed. But “they were hemmed in by the authority of the scientists” and the liberal culture of the Weimar Republic. “After Hitler had become Führer,” however, “it was almost the other way round.” “Small wonder,” Ley concludes, that border scientists “experienced a heyday under such a regime.”100 In his critical essays on astrology and occultism, “Stars Down to Earth” and “Theses Against Occultism”, Theodor Adorno elaborated on this idea, suggesting that Nazi crimes were as much a product of occult and border scientific thinking as they were mainstream science. For just as popular occultism was being pushed underground after 1937, “scientific astrology”, parapsychology, and other border scientific doctrines were experiencing a renaissance of sorts.101 In November 1939, for example, Goebbels brought the idea of employing astrology for propaganda purposes to Hitler. Encouraged by Hitler and Himmler’s response, Goebbels decided to enlist Krafft and other astrologers for the purposes of psychological warfare.102 Only a couple days after his meeting with Hitler, Goebbels reported in his diary: “I broached the idea of Nostradamus … for the first time. The whole world is full of mystical superstition. Why shouldn’t we exploit that in order to undermine the enemy front?”103 The völkisch-esoteric doctrine of Anthroposophy made its way into the Third Reich as well. As the notorious Otto Ohlendorf – SS Gruppenführer and Chief of the special task force (Einsatzgruppe D) – reported to American occupation authorities, he “found in many branches of [Anthroposophic] research valuable suggestions and results that promised to lead out of the impasse in which [the natural sciences] were invested.” The spiritual aspects of Anthroposophy were useful since “National Socialism had in the short time of its existence [developed] no spiritual education.” It seemed especially “imperative for the overall intellectual development of National Socialism,” Ohlendorff reasoned, “not to disturb [Anthroposophic] research and their institutions, but to leave them in peace, to develop without violent influence from the outside, regardless of the direction of the research.”104 Not only Ohlendorff, but Hess, Darré, and even Alfred Rosenberg’s head of Science, Alfred Baeumler, supported many aspects of anthroposophy as complementary to National Socialism.105 Himmler too was interested in Anthroposophy, in partic-

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ular Steiner’s völkisch-esoteric doctrine of “biodynamic agriculture,” which promised to restore the quasi-mystical, organic purity of the soil and increase food production and peasant settlement at the same time. “In regard to biological-dynamic fertilization,” Himmler wrote, “I can only say: as a farmer I am generally sympathetic.” Himmler would take the opportunity of the war – as Goebbels did with astrology – to institutionalize BDW across the Greater German Reich.106 In October 1939, with the invasion of Poland underway, Himmler charged the SS leaders Günther Pancke and Oswald Pohl to think about “reshap[ing] eastern lands along organic lines,” employing anthroposophists like Erhard Bartsch as consultants. In cooperation with the new Deutsche Versuchsanstalt für Ernährung und Verpflegung (German Research Facility for Food and Nutrition), the SS soon established biodynamic plantations in the eastern territories as well as the Dachau and Ravensbrück concentration camps. Himmler even directed his SS colleagues to begin purchasing a large amount of products with the anthroposophic copyright (Demeter) from Steiner’s pharmaceutical firm, Weleda.107 In 1940 alone, Hess, Darré, Rosenberg, and Ley all visited the Anthroposoph and BDW expert Bartsch’s farm in Marienhöhe while Pancke and Pohl expressed the desire to begin experimenting with medicinal plants in Dachau.108 The concentration camp system therefore served not only to eliminate “life unworthy of life” based on border-scientific premises, but also as “part of SS plans to use biodynamic cultivation in the environmental and ethnic reordering of the East.”109 Thus, if Hitler, Himmler and other Nazi ideologues had relatively few opportunities to realize their völkisch-esoteric, imperial, and eugenical “fantasies” before the war, the situation changed profoundly in September 1939. “What remained only a pipedream” before the outbreak of war, writes Michael Kater, Hitler and Himmler, “now standing at the very apex of the Nazi empire”, could make a reality.110 Because the Second World War was, in the Nazi mind, both a colonial and a religious war, the Nazis could legitimize techniques “that would be disdained in ‘civilized’ warfare.”111 In comparison to European colonial policies in Africa, Nazi empire-building in Eastern Europe was both more preoccupied with biopolitical engineering on border scientific grounds and mystical fantasies about recovering a lost Indo-Aryan utopia.112 Indeed, it was precisely the mélange of völkisch-esotericism and border science, virulent racial anti-Semitism and Indo-Aryan religious eschatology, that made Nazi imperial and eugenical doctrines so fantastical and dangerous. Which brings us to the “Final Solution”. The Holocaust was certainly part of a longer-term resurgence in ethno- and biopolitical violence beginning with →Hartwig Hundt-Radowsky in the early 19th century and continuing through the German colonial experience in the Kaiserreich, and Armenian genocide during the First World War.113 But while ethnic cleansing and biopolitical thinking was popular across Europe and the United States, Nazi attempts to sterilize and murder millions went beyond any prevailing understanding of eugenics in natural scientific circles in the United States, Britain, or Sweden.114 Were the “Jewish Question” (or “Gypsy Ques-

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tion” or “Slavic question”) primarily “scientific” in nature, it would have been impossible for the Nazis, at the same time that they were murdering the Jews, to ally with Arab (Semitic) peoples or create SS Divisions of Indians and Muslims – much less appropriate so many East and South Asian religious doctrines. In the end, Nazi views on race and anti-Semitism were more radical than those of other European colonizers because they drew not just on the broader racist assumptions of Darwin or Kipling but on the völkisch-esoteric doctrines of Liebenfels and Fritsch, on a conception of the Jews as monsters, as the metaphysical, indeed apocalyptic, embodiment of evil.115 These intellectual antecedents gave the Nazi colonial and racial project a far more “abject”, monstrous, and “eliminationist” tone.116 The extreme brutality of racial resettlement, human experimentation, and the Holocaust were only possible because of the Third Reich’s völkisch-esoteric, religio-eschatological, and border scientific world views, which conceived the racial other as both a biological disease and a supernatural threat which needed to be eradicated to ensure the survival of the →Volksgemeinschaft.

Eric Kurlander

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11 See Fritz Stern, The Politics of Cultural Despair; Mosse, Masses and Man: Nationalist and Fascist Perceptions of Reality, 1987, pp. 199–200, 13; Mees, Hitler and Germanentum; Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007. 12 See Kevin Repp, Reformers and Critics; Mosse, Masses and Man: Nationalist and Fascist Perceptions of Reality, 1987, pp. 199–200; Franz Wegener, Alfred Schuler, der letzte Deutsche Katharer, pp. 50–73. 13 Blavatsky, The Secret Doctrine, New York: Theosophical Society, 1888. 14 Treitel, Science, p. 84. 15 Isrun Engelhardt, Nazis of Tibet: A Twentieth Century Myth. 16 Goodrick-Clarke, pp. 100–101; Rose, Thule, pp. 37–39.; also see Rudolf von Sebottendorff’s history of the Thule Society in Thule-Bote, 31. Gilbhart (October) 1933, Nr. 1 (München) in NS26/865a, p. 28. 17 Südwestrundfunk SWR2, Essay, Zivilisation ist Eis. Hanns Hörbigers Welteislehre – eine Metapher des Kältetods im 20. Jahrhundert. vom 15.7.2008, 21.03 Uhr. www.swr.de/swr2/programm/ …/essay/-/…/swr2-essay-20080715.rtf. 18 Treitel, Science, pp. 99–100. 19 Zander, Esoterische Wissenschaft um 1900, pp. 81–84; Treitel, Science, pp. 99–102; Staudenmaier, Between Occultism and Nazism, pp. 24–27. 20 Treitel, Science, p. 103; Staudenmauer, Between Occultism and Nazism, p. 39. 21 Staudenmaier, Between Occultism and Nazism, pp. 264–265. 22 Mosse, Masses and Man, p. 201, 103–104, 207–212; Treitel, Science, pp. 74–75; Goodrick-Clarke, Roots, pp. 28–30, 59–61. 23 Mosse, Masses and Man, p. 209. 24 Goodrick-Clarke, p. 49–50, 157–160. 25 David Luhrssen, Hammer of the Gods: The Thule Society and the Birth of Nazism, Washington 2012, pp. 40–41; Daim, Der Mann, pp. 23–74; Goodrick-Clarke, Roots, pp. 196–199; Yenne, pp. 32– 34. 26 Leo Pammer, Hitlers Vorbilder: Dr. Karl Lueger www.antifa.co.at/antifa/PAMMER2.PDF (2.2.2017), pp. 3–4, 9–11; Bruce F. Pauley, From Prejudice to Persecution: A History of Austrian Anti-Semitism, pp. 42–45. 27 Hermann Gilbhard, Die Thule-Gesellschaft: von okkulten-Mummenschanz zum Hakenkreuz. Munich: Kiessling, 1994, pp. 44–46; Reginald H. Phelps, ‘Before Hitler Came’: Thule Society and Germanen Orden, in: Journal of Modern History 35 (1963) 3, pp. 241–245. 28 Reginald Phelps, Theodor Fritsch und der Antisemitismus, in: Deutsche Rundschau 87 (1961), pp. 442–449; Gilbhard, Thule, pp. 44–45. 29 Phelps, Before Hitler Came, pp. 248–254. 30 Gilbhard, Thule, pp. 45–47; Wegener, p. 36. 31 IfZ, ED 386, G. Szczesny, Die Presse des Okkultismus, Geschichte und Typologie der okkultistischen Zeitschriften, Diss 1940 Munich (under Karl d’Ester), p. 119. 32 Staudenmaier, Between Occultism and Nazism, pp. 64–65. 33 Gilbhard, Thule, pp. 47–48; Goodrick-Clarke, Roots, pp. 131–132. 34 Howe, Sebottendorff, pp. pp. 33–34, 28–29; Rose, Thule Gesellschaft, pp. 34–35; Sebottendorf, Bevor Hitler kam, pp. 41–43. 35 Howe, Sebottendorff, p. 35. 36 Sebottendorf, Bevor Hitler kam, pp. 47–56, 23–25; Gilbhard, Thule, pp. 15–18; Redles, Reich, pp. 54–55. 37 Redles, Reich, pp. 56–57. 38 Phelps, Before Hitler Came, pp. 245–261. 39 Black, Groening, p. 213.

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40 David Redles, Hitler’s Millennial Reich, pp. 41–42. 41 Rudolf von Sebottendorff, Bevor Hitler kam, Munich 1933, pp. 93–102, 81–84; Gilbhard, Thule, pp. 148–151; Goodrick-Clarke, Roots, pp. 149–150. NS 26–865a. 42 Goodrick-Clarke, Roots, pp. 151–152; Sebottendorff, Bevor Hitler kam, pp. 103–125; Karl Haushofer: BArch, R 1507/2034, pp. 101–103. 43 Sebottendorff, Bevor Hitler kam, pp. 103–109, 112–125; Haar, Historiker im Nationalsozialismus, pp. 80–82; Kershaw, Hubris, pp. 172–174; BArch, R 1507/2034, pp. 101–103, 111–112. 44 Sebottendorff, Bevor Hitler kam, pp. 171–181. 45 Longerich, Himmler, pp. 77–78; also see Szeczny, 119–121, 131–144; Fisher, Fantasy, pp. 11–12. Gilbhard, Thule, pp. 15–21, 67–69; Redles, Reich, pp. 64–65. 46 Samuel Koehne, Were the National Socialists a Völkisch Party? Paganism, Christianity and the Nazi Christmas, in: Central European History 47 (2014), p. 763; Puschner/Vollnhals, Forschungsund problemgeschichtliche Perspektiven, in: Puschner (eds. et al.), Die völkisch-religiöse Bewegung; pp. 29–41, Bullock, Hitler, pp. 79–80; Goodrick-Clark, Roots, pp. 169–170. 47 Bärsch, Politische Religion. 48 Kellogg, Russian Roots of Nazism, pp. 70–73. 49 Gugenberger/Schweidlenka, Die Faden der Norne, pp. 106–110; Steigmann-Gall, The Holy Reich, pp. 17–22, 142–143; Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, München 2003, pp. 94–95; Dietrich Eckart, Der Bolschewismus: von Moses bis Lenin, München 1924, pp. 18–25; Heiden, History, Alfred Knopf, New York 1935, pp. 66–69; Piper, Rosenberg, pp. 15–17. 50 Bärsch, Politische Religion, pp. 198–199, 206–208; Lewis Spence, The Occult Causes of the Present War, pp. 128–129,144–146; Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, München 1934, pp. 21–144; Dietrich Bronder, Bevor Hitler kam, Hannover 1964, pp. 219–225. 51 Longerich, Himmler, pp. 70–71, 78–79. 52 Pringle, Master Plan, p. 18: “A collection of Old Norse sagas and poems that invoked, among other things, the magical world of Thor, Freya, Loki, and other Norse divinities.” 53 Longerich, Himmler, pp. 77–78; BArch, NL Himmler, N 1126/9, Heinrich Himmler’s reading list. The book list extends from September 4, 1919 to February 19, 1927; Treitel, Science, pp. 214–215. 54 Trimondi, Hitler, pp. 27–28. 55 Longerich, Himmler, p. 739. 56 Goodrick-Clarke, Roots, p. 192–199; Daim, Mann, pp. 17–48; Sebottendorff, Bevor Hitler kam, pp. 188–190; Mosse, Masses and Man, p. 66; Brigitte Hamann, Hitlers Wien: Lehrjahre eines Diktators, München 1996, pp. 39–45; Picker, Hitlers Tischgespräche, p. 95. 57 Koehne, Christmas, pp. 773–774; Mees, Hitler and Germanentum, pp. 268–270; Redles, Reich, pp. 71–72. 58 Waite, Psychopathic God, p. 62. 59 Koehne, Christmas, pp. 784–786; also see Uwe Puschner, Weltanschauung und Religion, Religion und Weltanschauung. Ideologie und Formen völkischer Religion, in: Zeitenblicke 5 (2006) 1; Puschner/Vollnhals, Perspektiven, pp. 23-24. 60 BArch, NS 8/185, p. 50. 61 Ellic Howe, Urania’s Children, pp. 86–89; Howe, Nostradmus and the Nazis, pp. 126–127; Wulff, Zodiac and Swastika, pp. 37–45; Armin Mohler: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918– 1932. Ein Handbuch, Darmstadt 1989, p. 447; Kugel, Ewers, pp. 295–298. 62 Szczesny, Die Presse des Okkultismus, p. 142. 63 Howe, Nostradamus and the Nazis, pp. 122–124; Howe, Urania’s Children, pp. 87–89. 64 Astrologische Portraits, in: Zenit: Zentralblatt für astrologische Forschung (1931) 4; Erneuerung, in: Zenit (1933) 5, pp. 177–179. 65 “Although it is hardly a reputable chapter in the history of the bourgeoisie of the system [Weimar] time, it nonetheless must be affirmed that it was precisely these Germans who, in the chaos of

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the postwar crises, fell into the hands of Boulevard occultism.” In: Szczesny, Die Presse des Okkultismus, pp. 131–132. 66 Kugel, Unverantwortliche, pp. 334–335. 67 Ewers, Reiter in Deutscher Nacht; Wolf Graf von Helldorff: BArch, R 1507/2027, pp. 37–38; R 1507/2028, pp. 16–30, 151–159; R 1507/2031 pp. 65–66; Werwolf report indicating that Kloppe, ibid., R 1507/2032, p. 105. 68 Kugel, Unverantwortliche, pp. 322–323, 325, 327–328, 329–330. 69 Kugel, Hanussen, pp. 221–224; Alexander Bahar/Wilfried Kugel, Der Reichstagsbrand, Berlin 2000, p. 642–645. 70 Fisher, Fantasy and Politics, pp. 3–4, 15–18. 71 Koehne, Christmas, pp. 784–786; Puschner, (ed.), Die völkisch-religiöse Bewegung. 72 Gerhard Schormann in: Lorenz et. al., Hexenkarthotek, pp. 177–178; see reports in BArch, R 58/ 1599, pp. 9–10, 19–26; Wüst, Indo-Germanische Bekenntnis, p. 12; Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus, München 2002, p. 333; Jörg Rudolf, „Geheime Reichskommando-Sache!“, in: Hexenkartothek, pp. 82–83; Longerich, Himmler, pp. 266–267. 73 Hexham in: JCH (2007) 42, p. 65; Vondung, National socialism, pp. 1–3. 74 Kersten, Memoirs, p. 148; Longerich, Himmler, p. 281. 75 Bronder, Bevor Hitler kam, pp. 205–209, 213–217; Piper, Steigmann-Gall, The Holy Reich, in: JCH (2007), pp. 51–53; Spence, The Occult Causes of the Present War, pp. 153–155. 76 Karla Poewe, New Religions and the Nazis, New York 2006, pp. 10–11; Surprising Aryan Mediations between German Indology and Nazism: Research and the Adluri/Grünendahl debate, p. 14; Poewe, pp. 10–14, 57–65. 77 Redles, Reich, pp. 53–57; The Occult Causes of the Present War, pp. 40–41; Rissmann, Hitler’s Gott, pp. 198–206. 78 Goodrick-Clarke, Roots, pp. 182–184, 189–191; Treitel, Science, p. 214; Lange, Otto Rahn, Leben & Werk, p. 25; Pringle, Master Plan, pp. 46–48; Longerich, Himmler, p. 284. 79 Goodrick-Clarke, Roots, p. 180. 80 Pringle, Plan, pp. 46–47. 81 Longerich, Himmler, pp. 285–286; Goodrick Clarke, Roots, p. 177. 82 Pringle, Plan, p. 100. 83 Trimondi, Hitler, p. 107; Goodrick-Clarke, Roots, pp. 180–181. 84 Lange ed., Otto Rahn, Leben & Werk, p. 27. 85 BArch, N 1126/21, Letters from Bergmann to Brandt, 11.4.36; Lange, ed. Otto Rahn, Leben & Werk, pp. 55–56. 86 Rahn, Luzifers Hofgesind, p. 9; Joscelyn Godwin: Arktos. Der polare Mythos zwischen NS-Okkultismus und moderner Esoterik, Graz 2007, pp. 110–111; Lange ed., Otto Rahn, Leben & Werk, pp. 21– 22, 26, 42; Trimondi, Hitler, p. 268. 87 Spence, Causes, pp. 40–41, 80–82; Steven C. Weisenburger, A Gravity’s Rainbow Companion: Sources and Contexts for Pynchon’s Novel, Athens 2011. p. 203 88 BArch, NS 19/688, Letters, 4.5.37, 4.7.37; Lange ed., Otto Rahn, Leben & Werk, pp. 28–29, 56–63. 89 Kersten, Memoirs, pp. 152–154; Redles, Hitler’s Millennial Reich, pp. 53–57; Lange ed., Otto Rahn, Leben & Werk, p. 16; Longerich, Himmler, pp. 294–296. 90 Lange, Otto Rahn, Leben & Werk, p. 29; Goodrick-Clarke, Black Sun, pp. 134–135; Trimondi, Hitler, p. 268. 91 Pringle, Master Plan, pp. 54–57, 59–60, 73–75; Dow/Lixfeld (eds.), Nazification, pp. 100–105; Longerich, Himmler, p. 224; Rudolf, Geheime Reichskommando-Sache!; Soenke Lorenz et al., Himmlers Hexenkartothek. Das Interesse des Nationalsozialismus an der Hexenverfolgung, Bielefeld Jahr, pp. 55–58; Mees, Hitler and Germanentum, pp. 262–263; Kater, Ahnenerbe, pp. 196–197; Wolfgang Krause, Runeninschriften im älteren Futhark, Halle 1937; Ulrich Hunger, Die Runenkunde

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im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Wissenschafts- und Ideologiegeschichte des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. u.a. 1984; BArch, NS 21/2649, 2648, „Zur Frage der Sinnbildforschung, 10.21.1942, 12.16.1941, In Sand gestreute Sinnbilder. 92 Longerich, Himmler, pp. 293–295; Gugenberger/Schweidlinka, pp. 156–161; Pringle, Plan, pp. 48–49; Longerich, Himmler, pp. 294–296; Rahn, Otto Rahn, Leben & Werk, p. 25; Goodrick-Clarke, Roots, pp. 186–188. 93 Goodrick-Clarke, Roots, p. 187; Fabian Link, Burgen und Burgenforschung: Wissenschaft und Weltanschauung, 1933–1945, Köln 2014, pp. 124–125. 94 Gugenberger/Schweidlenka, Die Faden der Norne, pp. 116–117; Spence, Causes, pp. 158–159, 178; Mees, Hitler and Germanentum, pp. 263–264. 95 Koehne, Christmas, pp. 789–790; Spence, Causes, p. 141. 96 Mees, Hitler and Germanentum, pp. 263–264; Bärsch, Political Religion, pp. 198–199, 202–208, 263–264; Koehne, Christmas, pp. 788–789; Entries from in NL Darré in: BArch, N 1094I/65a, p. 44; ibid., N 1094I-77, Rheden bio in NL Darré pp. 107–108, 121; ibid., N 1094I/77, 94–97, 113–121. 97 Trimondi, Hitler, pp. 38–39. 98 As Dietrich Bronder observes, “That the Führer of a party that so powerfully emphasized the superiority of Nordic blood, indeed, that wanted a Germanic Renaissance, allowed itself to become significantly caught up in orientalist and Asiatic magic is hard to understand, but [it is] a fact.” Bronder, Bevor Hitler kam, 219–220. 99 Eric Kurlander, The Orientalist Roots of National Socialism, in: Joanne Miyang Cho et al. (eds.), Transcultural Encounters Between Germany and India. London, 2013. 100 Ley, Pseudoscience, pp. 90–91; Treitel, Science, p. 22 101 Eric Kurlander, The Nazi Magicians’ Controversy: Enlightenment, Border Science, and Occultism in the Third Reich, in: Central European History 48 (2015), pp. 498–522; Howe, Urania’s Children, p. 119. 102 Borresholm, Goebbels, pp. 146–147; Ulrich Maichle, Die Nostradamus-Propaganda der Nazis, 1939–1942 http://www.nostradamus-online.de/index1.htm (2.2.2017); also see Howe, Urania’s Children, pp. 168–172; BArch, R 58/6207, Letter to Heydrich requesting Heinrich Träncker’s astrological library to be delivered to Himmler, 12.4.1939; 12.5.1939, letter to Heydrich; 4.6.1940, Denkschrift zur Astrologie discussed. 103 Die Tagebücher von Joseph Goebbels Online, 24.11.1939 as quoted in http://www.nostradamus-online.de/index1.htm. 104 IfZ, ED 498/23, NL Otto Ohlendorff (1945), pp. 1–2, 5–6; also see Staudenmaier, Fascination, pp. 42–44 105 Staudenmaier, Fascination, pp. 45–50. 106 Werner, Anthroposophen, pp. 284, 26–27, 59, 66, 72, 301–302. 107 Staudenmaier, Organic Farming. 108 Werner, Anthroposophen, p. 283. 109 Staudenmaier, Organic Farming. 110 Kater, Ahnenerbe, p. 236; Kater, Artamanen, p. 627. 111 Indeed Nazi dreams of empire were brought back to “contexts in metropolitan life in which the defense mechanisms that normally limit the expression of wishful fantasies are attenuated and a dreamlike sense of omnipotence is encouraged.” Steinmetz, Devil’s Handwriting, pp. 62–66. 112 Matthew P. Fitzpatrick, The Pre-History of the Holocaust? The Sonderweg and Historikerstreit Debates and the Abject Colonial Past, in: Central European History 41 (2008), pp. 500–503. 113 Jürgen Zimmerer, Von Windhoek nach Auschwitz? Münster 2011. 114 Schleiermacher/Schagen, Medizinische Forschung, pp. 251–263, 271–275; Kater, Ahnenerbe, pp. 265–266.

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115 Vondung, Political Religion, pp. 92–93; Burleigh, National Socialism as a Political Religion, p. 3. 116 Fitzpatrick, Pre-History, pp. 501–504.

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Volksdroge Methamphetamin Obwohl sich die Nationalsozialisten schon vor ihrer Machtübernahme als Saubermänner gaben und ab 1933 mit propagandistischem Pomp und drakonischen Strafen eine ideologisch unterfütterte strikte Antidrogenpolitik umsetzten, wurde unter Hitler eine besonders süchtig machende Substanz zum populären Produkt. Ganz legal machte dieser Stoff als Pille unter dem Markennamen Pervitin in den Dreißigerjahren überall im Deutschen Reich und später auch in den besetzten Ländern Europas Karriere und wurde zur akzeptierten, in jeder Apotheke erhältlichen „Volksdroge“, die erst 1939 unter Rezeptpflicht gestellt und 1941 den Bestimmungen des Reichsopiumgesetzes unterworfen wurde. Sein Inhaltsstoff, das Methamphetamin, ist heute weltweit illegal beziehungsweise streng reglementiert1, gilt aber mit annähernd einhundert Millionen Konsumenten als eines der populärsten Gifte der Gegenwart. Es wird in versteckten Labors vielfach von chemischen Laien meist verunreinigt hergestellt und von den Medien als „Crystal Meth“ verteufelt. Dass Deutschland zu wenig natürliche Rohstoffe für eine bewaffnete Auseinandersetzung mit seinen Nachbarn besaß, hatte der Erste Weltkrieg verdeutlicht. Also mussten künstliche geschaffen werden: Synthetisches, aus Kohle hergestelltes Benzin sowie Buna (synthetischer Kautschuk) standen im Zentrum der Entwicklung der IG Farben, die sich im NS-Staat als Global Player konsolidierte.2 Unter Görings Ägide wurde die Wirtschaft in Vierjahresplänen gesteuert, um das Reich in all jenen Stoffen vom Ausland unabhängig zu machen, die in Deutschland selbst produziert werden konnten. Dies umfasste auch Drogen, die einen Stützpfeiler der pharmazeutischen Industrie vor allem am Rhein darstellten. So ließ die Rauschgiftbekämpfung der Nationalsozialisten zwar den Konsum von Morphin und Kokain deutlich sinken, doch die Entwicklung synthetischer Stimulanzien wurde nach 1933 forciert und führte zu einer Blüte der pharmazeutischen Firmen. Die Belegschaften von Merck in Darmstadt, Bayer im Rheinland oder Boehringer in Ingelheim wuchsen, die Löhne stiegen. Auch bei der Berliner Firma Temmler standen die Zeichen auf Expansion. Ihr Chefchemiker Fritz Hauschild3 forschte nach einem „leistungssteigernden Mittel“ und griff dabei auf die Arbeit japanischer Wissenschaftler zurück, die ein anregendes Molekül mit dem Namen N-Methylamphetamin 1887 zum ersten Mal synthetisiert und 1919 in Reinform kristallisiert hatten.4 Entwickelt wurde der Wachmacher aus dem Ephedrin, einem Naturstoff, der die Bronchien erweitert, das Herz stimuliert und den Appetit hemmt. In der Volksmedizin Europas, Amerikas und Asiens war Ephedrin als Bestandteil der Meeresträubel-Pflanzen schon lange bekannt und fand auch im sogenannten Mormonentee Verwendung. Hauschild perfektionierte das Produkt und entwickelte im Herbst 1937 ein neues Syntheseverfahren für Methamphetamin.5 Am 31. Oktober 1937 meldeten die Temmler-Werke mit dem ersten deutschen Methylamphetamin ihre eigene, an Potenz das

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amerikanische Benzedrin (ein Amphetamin) in den Schatten stellende Spielform der vitalisierenden Medikamente im Berliner Reichspatentamt unter dem Markennamen Pervitin an.6 Was die molekulare Struktur betrifft, so gleicht der Stoff dem Adrenalin und kann aufgrund des fast gleichen molekularen Aufbaus problemlos die Blut-HirnSchranke passieren. Anders als Adrenalin verursacht Methamphetamin keine plötzliche Blutdrucksteigerung, sondern hat eine sanfter ansteigende, länger anhaltende Wirkentfaltung. Die Wirkung entsteht, weil die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin aus den Nervenzellen des Gehirns in die synaptischen Spalten ausgeschüttet werden. Dadurch geraten die Hirnzellen untereinander in Kommunikation. Schlagartig fühlt der Konsument sich hellwach, empfindet eine Energieerhöhung, die Sinne werden geschärft. Das Selbstvertrauen steigt; es kommt zu einer subjektiv empfundenen Beschleunigung der Denkprozesse, einer Erzeugung von Euphorie, einem Gefühl der Leichtigkeit und Frische. Ein Ausnahmezustand wie bei einer plötzlichen Gefahr, wenn der Organismus alle Kräfte mobilisiert. Doch Methamphetamin schüttet die Neurotransmitter nicht nur in die Spalten aus, sondern blockiert auch ihre Wiederaufnahme. Die Wirkung hält oftmals über zwölf Stunden an, was bei höherer Dosierung die Nervenzellen bis zur Schädigung beanspruchen kann, da die intrazelluläre Energieversorgung in Mitleidenschaft gezogen wird. Nervenzellen sterben ab, es kann zu Wortfindungs-, Aufmerksamkeitsund Konzentrationsstörungen, einem allgemeinen Gehirnabbau kommen, was Gedächtnis, Gefühle und Belohnungssystem betrifft. Fehlt dem Konsumenten nach Abklingen der Wirkung die künstliche Stimulanz, ist dies ein Zeichen für leere Hormonspeicher, die sich erst im Laufe einiger Wochen wieder auffüllen. In der Zwischenzeit stehen weniger Neurotransmitter zur Verfügung: Antriebslosigkeit, Depressionen, Freudlosigkeit und kognitive Störungen können die Folgen sein. Solche möglichen Nebenwirkungen sind mittlerweile erforscht, standen allerdings bei Temmler nicht im Vordergrund. Die Firma beauftragte mit Mathes & Sohn eine der erfolgreichsten Werbeagenturen Berlins. Als Vorbild diente die Coca-Cola Company, die ebenfalls ein anregendes Produkt vermarktete und mit ihrer Reklamestrategie um das Schlagwort „eisgekühlt“ riesige Erfolge feierte. In den ersten Wochen und Monaten des Jahres 1938, als Pervitin seinen Siegeszug begann, tauchten auf den Litfaßsäulen, den Außenseiten von Straßenbahnen und in den Omnibussen, in S- und U-Bahnlinien Berlins Plakate auf. Modern-minimalistisch nannten sie lediglich den Markennamen und verwiesen auf die medizinischen Indikationen: Kreislauf- und Antriebsschwäche, Depressionen. Dazu war das orange-blaue Pervitin-Röhrchen abgebildet, die charakteristische Verpackung mit dem geschwungenen Schriftzug. Zeitgleich erhielten alle Berliner Ärzte einen Brief von Temmler, worin es hieß, es sei Ziel der Firma, die Mediziner persönlich zu überzeugen: Gratispillen mit drei Milligramm Inhaltsstoff lagen bei sowie eine frankierte Antwortpostkarte: „Sehr geehrter Herr Doktor! Ihre Erfahrungen mit Pervitin, auch

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weniger günstige, sind uns wertvoll für die Abgrenzung des Indikationsgebietes. Wir wären Ihnen darum für eine Mitteilung auf dieser Karte sehr dankbar.“7 Vertreter der Temmler-Werke besuchten Großpraxen, Krankenhäuser, Unikliniken überall im Land, hielten Vorträge und verteilten die neue Selbstbewusstseinsdroge, das Aufpulverungsmittel, das Aufgewecktheit versprach. In der Firmendarstellung hieß es, die durch Pervitin „wiedererwachende Lebensfreude bei resignierenden Menschen (ist) eine der wertvollsten Gaben […], die den Kranken mit dem neuen Mittel gespendet werden kann“. Selbst „die Frigidität der Frauen ist einfach durch Pervitin-Tabl. zu beeinflussen. Die Behandlungstechnik ist denkbar einfach: täglich 4 halbe Tabletten weit entfernt von den Abendstunden zehn Tage im Monat durch 3 Monate hindurch. Damit sind sehr gute Ergebnisse zu erzielen, durch eine Stärkung der Libido und Sexualkraft der Frau.“8 Auf dem Beipackzettel stand außerdem, das Mittel gleiche Entzugserscheinungen von Alkohol, Kokain und sogar Opiaten aus. Eine Art Gegenrauschgift also, das alle Gifte, zumal die illegalen, ersetzen sollte. Der Genuss dieser Substanz wurde nämlich nicht sanktioniert, das Methamphetamin im Gegenteil als eine Art Allheilmittel missverstanden. Auch eine systemstabilisierende Komponente sprach man dem Stoff zu: „Wir leben ja in einer energiegespannten Zeit, die höhere Leistungen verlangt und uns größere Verpflichtungen auferlegt als je eine Epoche zuvor“, schrieb der Chefarzt eines Krankenhauses. Die unter industriellen Laborbedingungen in gleichbleibender, reiner Qualität hergestellte Pille solle dabei helfen, Leistungsverweigerung entgegenzuwirken und „Simulanten, Arbeitsunwillige, Miesmacher und Nörgler“ in den Arbeitsprozess zu integrieren.9 Der Tübinger Pharmakologe Felix Haffner schlug die Verordnung des Pervitin sogar als „höchstes Gebot“ vor, wenn es um „den letzten Einsatz für das Ganze“ gehe: eine Art „chemischer Befehl“.10 Doch den Deutschen musste die Einnahme des euphorisierenden Mittels gar nicht befohlen werden. Der Hunger nach potenter Hirnnahrung war ohnehin vorhanden. Der Konsum wurde nicht etwa von oben angeordnet, lief also nicht top down, wie man es in einer Diktatur erwarten könnte, sondern bottom up.11 „Pervitin wurde zu einer Sensation“, berichtete ein Psychologe: „Es fand schnell Eingang in weiteste Kreise; Lernende nahmen das Mittel, um die Anstrengungen der Prüfungen besser überstehen zu können; Fernsprechbeamtinnen und Krankenschwestern, um den Nachtdienst durchzuhalten, schwer körperlich oder geistig Arbeitende, um zu Höchstleistungen zu gelangen.“12 Ob es Sekretärinnen waren, die damit schneller tippten, Schauspieler, die sich vor der Vorstellung auffrischten, Schriftsteller, die die Stimulanz des Methamphetamins für klare Nächte am Schreibtisch nutzten oder Arbeiter an den Fließbändern der großen Fabriken, die aufgeputscht ihren Ausstoß erhöhten – Pervitin verbreitete sich in allen Schichten. Möbelpacker packten mehr Möbel, Feuerwehrleute löschten schneller Feuer, Frisöre schnitten rascher Haare, Nachtwächter schliefen nicht mehr ein, Lokomotivführer führten ohne zu murren ihre Lokomotiven, und Fernfahrer bretterten, ohne Pause machen zu müssen, über die in Rekordzeit fertiggestellte Au-

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tobahn. Das Nickerchen nach dem Mittagessen fiel kollektiv aus. Selbst bei Parteileuten sowie der SS war die Droge nicht verpönt.13 Stress wurde ab- und sexueller Appetit aufgebaut, Motivation künstlich gesteigert. Ein Mediziner schrieb: „Ich habe auch an mir im Selbstversuch beobachtet, daß körperlich und geistig eine angenehme Energiezunahme zu bemerken ist, die mich seit einem halben Jahr veranlaßt, Arbeitskameraden, Hand- und Geistesarbeitern, besonders zeitweilig übermäßig angespannten Volksgenossen, auch Rednern, Sängern (beim Lampenfieber), Examenskandidaten Pervitin zu empfehlen. […] Eine Dame benutzt das Mittel gern (ca. 2x2 Tabletten) vor Gesellschaften; eine andere erfolgreich an besonders anstrengenden Werktagen (bis zu 3x2 Tabletten täglich).“14 Pervitin wurde zum Symptom der sich entwickelnden Leistungsgesellschaft. Selbst eine mit Methamphetamin versetzte Pralinensorte kam auf den Markt. Pro Genusseinheit waren vierzehn Milligramm Methamphetamin beigemischt – beinahe das Fünffache einer Pervitin-Pille. „Hildebrand-Pralinen erfreuen immer“, lautete der Slogan. Die Empfehlung lautete, drei bis neun Stück davon zu essen, mit dem Hinweis, dies sei, ganz anders als Coffein, ungefährlich.15 Die Hausarbeit ginge dann leichter von der Hand, zudem schmölzen dabei sogar die Pfunde, da der Schlankmacher Pervitin den restlichen Appetit zügele. Zur Kampagne gehörte auch ein Aufsatz von Fritz Hauschild in der Klinischen Wochenschrift. Darin sowie drei Monate später in der gleichen Zeitschrift unter der Überschrift „Neue Spezialitäten“16 berichtete er von der äußerst stark erregenden, stimulierenden Wirkung des Pervitin, von Energiezunahme und Steigerung des Selbstbewusstseins wie der Entschlusskraft. Die gedanklichen Assoziationen liefen rascher ab, auch körperliche Arbeiten könnten leichter ausgeführt werden. Seine vielseitige Verwertbarkeit in der inneren und allgemeinen Medizin, Chirurgie und Psychiatrie scheine umfangreiche Indikationsgebiete zu sichern und zugleich zu neuen wissenschaftlichen Fragestellungen anzuregen. Auf diese Fragestellungen konzentrierten sich in Folge die Universitäten überall im Reich. Den Anfang machte Professor Schoen von der Poliklinik Leipzig, der von „einer stundenlang anhaltenden psychischen Stimulation, Verschwinden von Schlafbedürfnis und Müdigkeit, stattdessen Aktivität, Redefluss, Euphorie“ berichtete.17 Pervitin wurde unter Forschern en vogue – Eigenversuche gehörten zum guten Ton: „Zunächst darf über die persönlichen Erfahrungen im Selbstversuch nach wiederholter Einnahme von 3–5 Tabletten (9–15 mg) Pervitin berichtet werden, auf Grund derer wir uns überhaupt einmal orientierten über die psychischen Wirkungen.“18 Immer neue Vorzüge traten zu Tage. Eventuelle Nebenwirkungen blieben im Hintergrund. Die Professoren Lemmel und Hartwig von der Universität in Königsberg meldeten gesteigerte Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit: „In diesen ereignisreichen Zeiten des Konflikts und der Expansion ist es eine der größten Aufgaben des Arztes, die Leistungsfähigkeit des Einzelnen zu erhalten und nach Möglichkeit noch zu steigern.“19 Eine Studie zweier Hirnforscher aus Tübingen wollte eine Beschleunigung des Denkprozesses durch Pervitin nachgewiesen haben und

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eine generelle Energiesteigerung. Auch seien Entschlusshemmungen, Hemmungen allgemeiner Art sowie Depressionen gebessert worden. Eine Intelligenzprüfung habe eine deutliche Erhöhung ergeben. Aus München, von einem Professor Püllen, kamen Daten aus „vielen hundert Fällen“, die diese Aussagen unterstützten. Er berichtete von einem rundum stimulierenden Effekt auf das Großhirn, den Kreislauf und das vegetative Nervensystem. Zudem hatte er bei „einmaliger Hochdosierungsbeigabe von 20 Milligramm eine deutliche Furchtreduktion“ festgestellt.20 Die Firma Temmler versorgte Ärzte mit diesen positiven Ergebnissen regelmäßig per Briefpost. Pervitin erleichterte dem Einzelnen den Zugang zu der großen Aufregung und propagierten „Selbstheilung“, die das deutsche Volk angeblich erfasst hatte. Der starke Stoff mauserte sich zu einem Lebensmittel, das auch ihr Hersteller nicht allein auf den ärztlichen Sektor beschränkt sehen wollte. „Deutschland erwache!“, hatten die Nazis gefordert. Methamphetamin sorgte nun dafür, dass das Land wach blieb. Angefeuert von einem verhängnisvollen Rauschcocktail aus Propaganda und pharmakologischem Wirkstoff gerieten die Menschen immer mehr in Abhängigkeit. Die Rolle des Methamphetamins bei der Wehrmacht ist verknüpft mit einem asketisch wirkenden Oberstabsarzt mit schmalem Gesicht und dunkelbraunen, auf den wenigen von ihm erhaltenen Aufnahmen stets überintensiv blickenden Augen. Otto F. Ranke war 38 Jahre alt, als er zum Leiter des Instituts für allgemeine und Wehrphysiologie ernannt wurde – eine Schlüsselposition, auch wenn das noch niemand ahnte. Die Physiologie war in der damaligen Medizin eine Randdisziplin. Sie behandelt das Zusammenwirken der physikalischen und biochemischen Vorgänge der Zellen, Gewebe und Organe. Eine Art Gesamtschau und ganzheitlicher Ansatz, um einen Organismus zu verstehen. Die Wehrphysiologie beschäftigt sich mit den speziellen Belastungen von Soldaten – mit dem Ziel, die Leistung einer Armee aus medizinischer Hinsicht zu optimieren und Schäden durch zu starke Beanspruchung oder äußere Einflüsse zu vermeiden. In einer Zeit, in der sich das Militär als moderne Organisation zu verstehen begann und Soldaten als „beseelte Motoren“21 bezeichnet wurden, bestand Rankes Aufgabe darin, diese vor Abnutzung, sprich Dienstunfähigkeit zu bewahren. Er hatte die Einzelteile so zu schmieren, dass die Maschine optimal lief, und war eine Art Leistungscoach für das deutsche Heer – sowie Gadget-Erfinder. Im Laufe der Jahre entwickelte Ranke so unterschiedliche Dinge wie ein Sichtgerät zur Enttarnung künstlichen Grüns (von Tarnanzügen im Wald), neue Staubschutzbrillen für Motorradfahrer, kugelsichere und zugleich schweißdurchlässige Tropenhelme für das Afrikakorps oder Lauschmikrofone zur Verbesserung des Richtungshörens für die Abwehr. Rankes Wehrphysiologisches Institut war eine Abteilung der Militärärztlichen Akademie (MA) in der Berliner Invalidenstraße, untergebracht in einer weitläufigen Anlage im Stile des friderizianischen Neobarock. „Scientiae Humanitati Patriae“ stand in geschwungenen goldenen Lettern über dem Hauptportal: „Der Wissenschaft Der Menschlichkeit Dem Vaterland“. Von 1934 bis 1945 bildete das Heer hier

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seinen Sanitätsoffiziersnachwuchs aus. Die preußisch geprägte Eliteeinrichtung, beherbergte die größte medizinisch-wissenschaftliche Bibliothek Europas, besaß eine ausgezeichnete Gerätesammlung in einem zweigeschossigen, mit modernster Technik ausgerüsteten Laborgebäude, wies mehrere große Hörsäle, Lesezimmer, Aulen und Gesellschaftsräume auf, eine Ehrenhalle mit den Büsten Virchows, von Helmholtz’, von Behrings und anderer Mediziner und Forscher. Modernste Turn- und Schwimmhallen gehörten ebenso zum Komplex wie der fünfgeschossige Wohntrakt mit komfortablen Doppelzimmern für die 800 Sanitätsoffiziersanwärter, die „Pfeifhähne“ genannt wurden, eine Berlinerische Verballhornung von „Pépin“, was auf die „Pépinière“ zurückging, die einstige Ausbildungsstätte für Militärärzte unter den preußischen Königen, aus der die Crème der medizinischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts hervorgegangen war. Im großen Gebäuderiegel, der den Innenhof nach hinten abgrenzte, befanden sich die wissenschaftlichen Abteilungen: das Institut für Pharmakologie und Wehrtoxikologie, das Laboratorium für Serumkonservierung, das Luftfahrtmedizinische Forschungsinstitut unter Leitung von Hubertus Strughold (der nach dem Krieg gemeinsam mit Wernher von Braun die US-Raumfahrt ermöglichte) sowie das Wehrphysiologische Institut unter Otto Ranke, das 1938 aus nur einem zusätzlichen Hilfsarzt, drei Medizinalpraktikanten und wenigen zivilen Schreibkräften bestand. Als führender Wehrphysiologe des Dritten Reiches kannte Ranke einen Hauptfeind: die Müdigkeit – ein schwer zu greifender Antagonist, der regelmäßig die Kämpfer zum Ausruhen zwang. Ein Soldat, der schläft, ist ein nutzloser, zur Leistung unfähiger, ein gefährdeter Soldat. Wer müde ist, zielt schlechter, schießt planloser, fährt weniger geschickt Motorrad, Auto oder Panzer. In Rankes Worten: „Abspannung am Kampftag kann schlachtentscheidend sein. […] Oft ist im Gefecht das Aushalten in der letzten Viertelstunde wesentlich.“22 Ranke hatte Ermüdungsbekämpfung zur Chefsache erklärt, und als er im Frühjahr 1938 in der Klinischen Wochenschrift die Lobeshymne des Temmler-Chemikers Hauschild auf dessen Wachhaltemittel Pervitin las, wurde er hellhörig. Die Behauptung, das Mittel verhelfe zu einem zwanzig Prozent höheren Atemvolumen und einer größeren Aufnahme von Sauerstoff – damals Messgrößen für Leistungssteigerung – ließ ihn nicht mehr los. Er veranstaltete mit zunächst neunzig, später einhundertfünfzig angehenden Sanitätsoffizieren freiwillige Blindversuche, gab ihnen Pervitin (P), Coffein (C) oder Scheintabletten (S). Dann ließ er sie die ganze Nacht hindurch (beim zweiten Versuch sogar von 20 Uhr bis 16 Uhr am nächsten Tag) mathematische und andere Aufgaben lösen. Die Ergebnisse schienen eindeutig: Die „S-Leute“ lagen gen Morgengrauen mit den Köpfen auf den Bänken, die Pervitinierten hingegen waren nach wie vor manisch bei der Sache, mit „frischen Gesichtern […] körperlich und geistig regsam“, wie es im Versuchsprotokoll heißt. Auch nach über zehn Stunden andauernder Konzentration fühlten sie sich noch „so, dass sie ausgehen möchten“.23

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Doch Ranke stellte nach Auswertung der Testbögen nicht nur Positives fest. Vorgänge, die dem Großhirn höhere Abstraktionsleistungen abforderten, wurden von den Pervitin-Konsumenten nicht sonderlich gut bewältigt. Zwar ging das Rechnen schneller vonstatten, aber auch fehlerhafter. Zudem ergab sich keinerlei Steigerung der Konzentrations- und Merkfähigkeit bei komplexeren Fragen und nur eine geringgradige bei den allerstumpfsinnigsten Aufgaben. Pervitin hielt gesichert vom Schlafen ab, schlauer machte es nicht. Ideal also für Soldaten, lautete das nicht einmal zynische Fazit aus diesen ersten systematischen Drogenversuchen der Militärgeschichte: „Ein hervorragendes Mittel zum Hochreißen einer ermüdeten Truppe. […] Es ist wohl verständlich, welche überragende militärische Bedeutung es haben würde, wenn es gelänge, die natürliche Ermüdung durch ärztliche Maßnahmen für den Tag des Einsatzes einer Truppe vorübergehend zu beseitigen. […] Ein militärisch wertvoller Stoff.“24 Im Spätherbst 1939 reagierte das Reichsgesundheitsamt auf den unübersehbar gewordenen Trend des Methamphetaminkonsums im Deutschen Reich. Staatssekretär Leonardo Conti, seines Zeichens „Reichsgesundheitsführer“, versuchte zu verhindern, dass „ein ganzes Volk unter Rauschgift gerät“.25 Er verwies darauf, dass die „störenden Nachreaktionen den nach Anwendung erzielten günstigen Erfolg vollkommen wieder aufheben“. Um die Gesetzeslage zu verschärfen, wandte er sich an das Justizministerium und brachte seine „Sorge zum Ausdruck, dass durch Entstehung einer Pervitin-Toleranz ganze Bevölkerungsteile lahmgelegt werden könnten. […] Wer Ermüdung mit Pervitin beseitigen will, der kann sicher sein, dass es zu einem schleichenden Abbau der körperlichen und psychischen Leistungsreserven und damit zum Zusammenbruch kommen muss.“ In einem persönlichen Aufruf appellierte er an alle ehrenamtlichen Mitarbeiter bei der Rauschgiftbekämpfung: „Der Ernst der Zeit sollte es jedem deutschen Mann und jeder deutschen Frau verbieten, sich fragwürdigen Genüssen hinzugeben. Das persönliche Beispiel der Ablehnung von Rauschgiften ist in der heutigen Zeit mehr als zuvor notwendig und angebracht. […] Helfen auch Sie durch Ihre Arbeit mit, das deutsche Familienleben, wo es durch Rauschgiftgenuss bedroht ist, zu schützen und zu stärken. Sie steigern damit die innere Widerstandskraft unseres Volkes.“26 Im November 1939 stellte er Pervitin unter „jedesmaligen Rezeptzwang“27 und hielt wenige Wochen darauf im Berliner Rathaus eine Rede vor Mitgliedern des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes, warnte vor der „neuen, großen Gefahr, die uns wohl mit allen Begleiterscheinungen der Süchtigkeit nicht erspart bleiben wird“.28 Doch der Konsum stieg immer weiter an. Viele Apotheker hielten sich nur lax an die neue Verschreibungsregel und gaben an ihre Kunden auch ohne Rezept sogar Klinikpackungen aus. Noch immer war es kein Problem, sich pro Tag gleich mehrere Pervitin-Ampullen zur Injektion zu besorgen oder auf einen Schlag Hunderte von Pillen in Apotheken zu beziehen.29 Bei den Soldaten lief es ähnlich. Für sie galt die auf den zivilen Bereich beschränkte Rezeptpflicht ohnehin nicht. Es kam zu einem regelrechten Krieg um die

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Drogen vor dem Hintergrund des realen Krieges, als der Reichsgesundheitsführer die Wehrmacht aufforderte, bezüglich „Gebrauch und Mißbrauch und ev. Schäden“ Stellung zu nehmen, da er beobachtet habe, „dass unsere jungen Soldaten außerordentlich schlecht aussehen, oftmals geradezu grau und verfallen“. Doch Contis Reichsgesundheitsamt war eine zivile Behörde, und prompt verwahrte sich das Militär gegen die Einmischung: „Die Wehrmacht kann nicht darauf verzichten, auch durch Verwendung von Arzneimitteln […] eine vorübergehende Leistungssteigerung oder eine Durchbrechung der Ermüdung hervorzurufen“, schrieb Heeres-Sanitätsinspekteur Waldmann so kühl wie deutlich zurück.30 Die utopische Vorstellung einer sozialharmonischen, sich auf Überzeugungen stützenden Gemeinschaft, wie sie der Nationalsozialismus gerne propagierte, erwies sich angesichts des realen Wettstreits individueller wirtschaftlicher Interessen in einer modernen Leistungsgesellschaft als Trugbild. Methamphetamin überbrückte die entstehenden Bruchstellen, und die Dopingmentalität verbreitete sich bis in jeden Winkel des Reichs. Hier zeigte sich die Diskrepanz des völkischen Hangs zum Natürlichen und Ursprünglichen einerseits und des massenhaften Gebrauchs von Aufputschmitteln in Bevölkerung und Wehrmacht. Pervitin ermöglichte dem Einzelnen das Funktionieren in der Diktatur. Nationalsozialismus in Pillenform.

Norman Ohler

1 Verschreibungspflichtige Pharmaka auf Methamphetaminbasis gibt es zwar mitunter noch, zum Beispiel in den USA (als ADHS-Medikament Desoxyn). Trotzdem ist Methamphetamin in summa weltweit nach den Betäubungsmittelverordnungen reglementiert und meist nicht verschreibungsfähig, sondern lediglich „verkehrsfähig“, da es als Ausgangsstoff für die Arzneimittelherstellung dient. In Europa gibt es kein Pharmakon auf Methamphetaminbasis, nur die Analoga wie Methylphenidat und Dextroamphethamin. 2 Als „Rat der Götter“ bezeichnete sich ihr Aufsichtsrat. „Heute wie 1914 erscheint die deutsche politische und wirtschaftliche Lage – eine von der Welt belagerte Festung – eine rasche Kriegsentscheidung durch Vernichtungsschläge gleich zu Beginn der Feindseligkeiten zu verlangen“, äußerte der Vorstandsvorsitzender Carl Krauch programmatisch und nahm damit bereits die Konzeption des Blitzkrieges vorweg. Zitiert nach Karl Heinz Frieser, Die Blitzkrieg-Legende – der Westfeldzug 1940, München 2012, S. 11. 3 Nach dem Krieg wurde Hauschild zu einem der führenden Sportphysiologen der DDR und gab in den Fünfzigerjahren aus seinem Institut an der Universität Leipzig heraus Impulse zum DDR-Dopingprogramm, das den Arbeiter- und Bauernstaat zum sportlichen Riesen machte. 1957 erhielt der Erfinder des Pervitin den Nationalpreis der DDR. 4 Unter dem Markennamen Philopon/Hiropon war es dort im Handel und wurde später im Krieg auch von Kamikazepiloten eingesetzt. 5 Propiophenon, ein Abfallprodukt der Großchemie, wurde bromiert, dann durch Behandlung mit Methylamin und anschließende Reduktion in das Ephedrin überführt, aus dem durch Reduktion mit Iodwasserstoff und Phosphor das Methamphetamin entstand. Vgl. Hans P. Kaufmann, ArzneimittelSynthese, Heidelberg 1953, S. 193. 6 Reichspatentamt 1938: Patent Nr. 767.186, Klasse 12q, Gruppe 3, mit dem Titel „Verfahren zur Herstellung von Aminen“. Eine Tablette enthielt 3 mg Wirkstoff.

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7 LAB/A Rep. 250–02–09/Nr. 218, Werbedrucksachen ohne Datum. Vgl. auch Tilmann Holzer, Die Geburt der Drogenpolitik aus dem Geist der Rassenhygiene – Deutsche Drogenpolitik von 1933 bis 1972, Diss. Uni Mannheim 2006, S. 225. 8 Zitiert nach Werner Pieper, Nazis on Speed. Drogen im 3. Reich, Birkenau-Löhrbach 2002, S. 118f. Das sind sechs Milligramm Methamphetamin über den Tag verteilt – eine Dosierung, an die sich der Körper rasch gewöhnt, wodurch nach einigen Tagen der Anwendung die Wirkung nicht mehr wie zu Beginn verspürt wird. Diese Toleranzbildung führt zum sogenannten „Craving“, dem Verlangen nach einer Dosiserhöhung, um die angenehmen Effekte wiederzuerlangen. Gerät dabei das Konsumverhalten außer Kontrolle und kann das Pharmakon nicht mehr problemlos abgesetzt werden, kommt es zur Sucht. 9 C. Püllen, Bedeutung des Pervitins (1-Phenyl-2-methylamino-propan) für die Chirurgie, in: Chirurg 11(1939) 13, S. 485–492, 490 und 492. Vgl. auch Pieper, Nazis on Speed, S. 119. 10 Felix Haffner, Zur Pharmakologie und Praxis der Stimulantien, in: Klinische Wochenschrift 17 (1938) 38, S. 1311. Vgl. ebenfalls Pieper, Nazis on Speed, S. 119. 11 Stephen Snelders u.a., Speed in the Third Reich: Methamphetamine (Pervitin) Use and a Drug History from Below, in: Social History of Medicine Advance Access (2011). 12 Gerade bei dieser Berufsklasse ist Methamphetamin bis heute äußerst beliebt. Vgl. Hermann Müller-Bonn, Pervitin, ein neues Analepticum, in: Medizinische Welt(1939) 39, S. 1315- 1317. Zitiert nach Holzer, Die Geburt der Drogenpolitik, S. 230 und Pieper, Nazis on Speed, S. 115. 13 Vgl. W. Seifert, Wirkungen des 1-Phenyl-2-methylamino-propan (Pervitin) am Menschen, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 65 (1939) 23, S. 914f. 14 Erich Neumann, Bemerkungen über Pervitin, in: Münchener Medizinische Wochenschrift (1939) 33, S. 1266. 15 Fritz Eichholtz, Die zentralen Stimulantien der Adrenalin-Ephedrin-Gruppe, in: Über Stimulantien, Deutsche Medizinische Wochenschrift (1941), S. 1355–1358. Vgl. Reichsgesundheitsblatt 15, 296 (1940). Auf Veranlassung des Reichsgesundheitsamts wurde die Herstellung der hochdosierten Pralinen eingestellt. Die Firma Hildebrand brachte auch die koffeinhaltige „Scho-Ka-Kola“ auf den Markt, die es bis heute gibt. 16 Fritz Hauschild, Tierexperimentelles über eine peroral wirksame zentralanaleptische Substanz mit peripherer Kreislaufwirkung, in: Klinische Wochenschrift 17 (1938) 36, S. 1257–8, sowie in: Klinische Wochenschrift 17 (1938) 48, S. 1711. 17 Rudolf Schoen, Pharmakologie und spezielle Therapie des Kreislaufkollapses, in: Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung (1938), S. 80–112, 98. Zitiert nach Holzer, Die Geburt der Drogenpolitik, S. 219. 18 Dies ist in etwa die Menge, die bei einer typischen kontemporären Einnahme von Crystal Meth zur Anwendung kommt. Vgl. Otto Graf, Über den Einfluss von Pervitin auf einige psychische und psychomotorische Funktionen, in: Arbeitsphysiologie 10 (1939) 6, S. 692–705, 695. 19 Gerhard Lemmel/Jürgen Hartwig, Untersuchungen über die Wirkung von Pervitin und Benzedrin auf psychischem Gebiet, in: Deutsches Archiv für Klinische Medizin 185 (1940) 5/6, S. 626ff. 20 C. Püllen Erfahrungen mit Pervitin, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 86 (1939) 26, S. 1001–1004. 21 K. Wenzig, Allgemeine Hygiene des Dienstes, Berlin-Heidelberg 1936, S. 288–307. 22 Otto Ranke, Ärztliche Fragen der technischen Entwicklung, in: Veröff. a. d. Geb. d. Heeres-Sanitätswesens 109 (1939), S. 15. Vgl. auch BArch, RH 12–23/1882, Rankes Rede „Leistungssteigerung durch ärztliche Maßnahmen“ zum Stiftungsfest der MA vom 19.2.1939, S. 7f.: „Ganz besonders wichtig wird das Pervitin bei langdauernder, körperlich wenig anstrengender Tätigkeit wie der des Kraftfahrens und des Fliegens bei der Überwindung langer Strecken sein, bei der bisher der Schlaf der gefährliche Feind ist.“ 23 BArch, RH 12–23/1882, Rankes Bericht an die Heeres-Sanitätsinspektion vom 4.10.1938.

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24 Billig war es außerdem: Die militärische Durchschnittsdosis, so kalkulierte Ranke, betrug vier Tabletten pro Tag, was im Apothekeneinkaufspreis 16 Pfennig kostete, während Kaffee mit etwa 50 Pfennig pro Nacht zu Buche schlug: „Die Weckmittel sind also wirtschaftlicher.“ BArch, RH 12–23/ 1882, Rankes Vortrag über Weckmittel, Feb. 40, nicht gehalten, S. 6 sowie Rankes Bericht an die Lehrgruppe C über leistungssteigernde Mittel, 4.5.1939. 25 BArch, R22/1475, Bl. 395, Conti an Reichsjustizministerium vom 21.10.1939. Ebenso die beiden folgenden Zitate. 26 BArch, R36/1360, „An die ehrenamtlichen Mitglieder der früheren R.f.R.“ vom 19.10.1939. 27 Reichsgesetzblatt 1 (1939), S. 2176; Reichsgesundheitsblatt (1940), S. 9: „Phenylaminopropan und seine Salze (z.B. Benzedrin, Aktedron, Elastonon) und Phenylmethylaminopropan und seine Salze (z.B. Pervitin) sind durch die Polizeiverordnung des Reichsministeriums des Innern über die Abgabe von Leberpräparaten und anderen Arzneimitteln in den Apotheken dem jedesmaligen Rezeptzwang unterstellt.“ 28 Leonardo Conti, Vortrag des Reichsgesundheitsführers Dr. Conti vor dem NSD-Ärztebund, Gau Berlin, am 19. März 1940, im Berliner Rathaus, in: Deutsches Ärzteblatt 70 (1940) 13, S. 145–153, 150. 29 Ernst Speer, Das Pervitinproblem, in: Deutsches Ärzteblatt (1941) 1, S. 4–6, 15–19, 19. Vgl. auch Holzer, Die Geburt der Drogenpolitik, S. 238f. 30 BArch, RH 12–23/1575, Conti an Handloser vom 17.2.1940, sowie Antwortschreiben Handloser an Conti vom 26.2.1940.

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Volksforschung in der Slowakei Eine Nationalisierung der Wissenschaften begann in der Slowakei erst nach 1918. Zuvor bildeten sich die wenigen slowakischen Wissenschaftler oberungarischer Herkunft hauptsächlich in Österreich-Ungarn aus und waren Teil jenes Wissenschaftsraumes. So hatten nur einzelne, zumeist philologisch tätige Theologen unter dem Einfluss der deutschen und slawischen Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein slowakisches Selbstverständnis herausgebildet. In der Tschechoslowakischen Republik ab 1918 waren die anfangs wenigen slowakischen Wissenschaftler verglichen mit den tschechischen in einer schlechteren Position. In der neu gegründeten Komenský-Universität in Bratislava wurden überwiegend tschechische Professoren auf Lehrstühle berufen. Diese bestimmten die inhaltliche und ideologische Ausrichtung der Forschung. Auch die philologischen Fächer waren in tschechischen Händen. Aufgrund ihrer höheren Schulbildung auf Ungarisch und Studien in Budapest waren Slowaken anfänglich kaum in der Lage, solche Positionen einzunehmen. Da das tschechische Lehrpersonal die Universität dominierte – 1938 waren 55 Professoren Tschechen, das heisst 77,4 Prozent, nur 14 (17,7%) waren Slowaken1 –, war sie auch kein Ort, an dem die heimatkundliche Erforschung der Slowakei in einem slowakisch-nationalen Sinne Raum bekam. Die tschechischen Forscher versuchten, die Theorie von der kulturellen und politischen tschechoslowakischen Nation wissenschaftlich zu belegen und verfügten dabei rein zahlenmäßig über die Deutungshoheit. Der Philologe Albert Pražák diskreditierte öffentlich vielfach die von Ľudovit Štúr Mitte des 19. Jahrhunderts initiierte Kodifizierung des Slowakischen als feindseligen Akt gegenüber der tschechischen Sprache und Kultur. Als Reaktion auf die tschechische Unterrichts- und Publikationssprache an der Universität organisierten die slowakischen Studenten, mit Unterstützung von Einrichtungen der katholischen Kirche und Hlinkas slowakischer Volkspartei, diverse Protestaktionen in Bratislava.2 Die Staatsideologie des Tschechoslowakismus und die Angst der Tschechen vor einer deutschen Übermacht befeuerten die romantische Idee der slawischen Wechselseitigkeit sowie des Großmährischen Reichs als symbolische Grundlage des gemeinsamen Staates. Ein starker Widerstand gegen die zentralistische, unitaristische Staatskonzeption ging indes von den völkisch-nationalen Kreisen um die katholische Slowakische Volkspartei und dem ihr nahe stehenden katholischen Klerus sowie der kleineren evangelischen Nationalpartei aus. Da zum einen das romantische Volkskonzept der Slowaken im Wesentlichen auf denselben slawischen Ideen Ján Kollárs und Jozef Šafáriks beruhte wie jenes der tschechischen Nationalbewegung, zum anderen die vormalige Zugehörigkeit zum ungarischen Staat und dessen Kulturraum keine Option mehr für die Gegenwart bot, war es für die nationalistischen Slowaken schwierig, eigenständige Identitäten zu konstruieren. Es blieben dafür vor allem Lúdovit Štúrs philologische Abgrenzung des Slowakischen vom Tschechischen sowie die Betonung des Katholizismus gegen-

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über dem tschechischen Bezug auf den Hussitismus. Die slowakische Sprache wurde somit zur wichtigsten Waffe im Kampf der völkisch-national orientierten Slowaken um mehr Autonomie während der Zwischenkriegszeit. Das slowakisch-national orientierte Pendant zur Universität in Bratislava war die Kulturinstitution Matica slovenská. Sie war eine Gründung von 1863, die im Zuge der ungarischen Nationalisierungsmaßnahmen 1875 wieder geschlossen wurde. An diese knüpften die Slowaken mit der Wiedereröffnung 1919 an. Dem Selbstverständnis nach war die Matica slovenská die Repräsentantin der slowakischen Kultur. Ab 1919 bot sie slowakischen Akademikern ein wichtiges Betätigungsfeld, an dem diese in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen forschen und publizieren sowie Fachzeitschriften, literarische und wissenschaftliche Werke herausgeben konnten. Auch eine anstehende Rechtschreibreform des Slowakischen sollte hier umgesetzt werden, die von Präsident Masaryk persönlich finanziert wurde. Sie wurde unter die Aufsicht des Bildungsministeriums gestellt, so dass die Rechtschreibkommission von tschechischen Wissenschaftlern geleitet wurde. Ein erstes politisch wirksames Ereignis, bei dem Sprachforscher in Erscheinung traten, wurde durch den Streit um die slowakische Rechtschreibnorm ausgelöst. Slowakische Schriftsteller und Publizisten lehnten die Version der Rechtschreibkommission ab, da sie in vielen Details eine Annäherung des Slowakischen an das Tschechische vorsah. Die Vollversammlung der Matica slovenská bewirkte, dass die Kommission neu zusammengesetzt wurde. Ein differenzierter Vorschlag war vom katholischen Volksbildungsund Kulturverein Hl. Adalbert eingereicht worden, der personell eng mit Hlinkas slowakischer Volkspartei verflochten war. Oberstes Prinzip sollte die „Sauberkeit und Reinheit der slowakischen Sprache/Rede“ sein. Die lexikalischen Bestandteile sollten aus allen slowakischen Dialekten genommen werden, sofern sie das Zeichen reiner Slowakizität trugen.3 Der slowakisch-national motivierte Putsch richtete sich gegen die Definitionshoheit und Macht des Zentralstaates. Aus slowakischer Perspektive hatte er einen emanzipatorischen Charakter, da er die Autonomie der Slowaken stärkte. Zugleich bewirkte er eine öffentlich wahrnehmbare Spaltung zwischen tschechischer und slowakischer Elite. Folgenreich etablierte sich nicht zuletzt durch dieses Ereignis ein puristischer, völkischer Diskurs, der in verschiedene Gesellschaftsbereiche hineinwirkte. Aus Anlass der missglückten Rechtschreibreform gründete der Matica-Forscher Henrich Bartek die erste slowakische sprachwissenschaftliche Zeitschrift, die sich detailliert dem Problem der Kodifizierung des Slowakischen annahm, aber vor allem eine Purifizierung in Abgrenzung vom Tschechischen anstrebte. Als Hauptargument betonte Bartek den mündlichen Charakter der noch jungen slowakischen Schriftsprache, der eine Aufspaltung zwischen einer Schriftsprache der Gebildeten und einer vom Volk gesprochenen Sprache verhindert habe.4 Er argumentiert mit einem Volkskörper, der mit einer einheitlichen Stimme spricht.

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Der Putsch in der Matica slovenská sowie die Aktivitäten der slowakischen Sprachforscher heizten maßgeblich die antitschechische Stimmung in der slowakischen Gesellschaft an, in der sich Ressentiments gegenüber den Tschechen festgesetzt hatten, da diese einen wesentlichen Teil der neuen Beamtenschicht stellten. 1938 erhielten die slowakischen nationalistischen Politiker von der Zentralregierung, die unter dem Druck des Münchner Abkommens agierte, die vollständige Autonomie. Die knapp fünfmonatige Autonomiephase förderte das ganze autoritäre, interventionistische Potenzial der regierenden Hlinka-Partei zutage, die in kurzer Zeit eine Einparteiendiktatur etablierte. In weiten Teilen der slowakischen Öffentlichkeit versprachen sich Slowaken vom Abschieben der Tschechen eine bessere Beschäftigungssituation und die Lösung der ökonomischen Probleme. So sandte etwa der Verband der slowakischen akademischen Vereinigungen im Mai 1938 noch vor Erlangung der Autonomie ein Memorandum an Ministerpräsident Milan Hodža. Darin drohten die Verfasser der Regierung, dass die Stabilität der Slowakei und der Tschechoslowakischen Republik gefährdet sei, wenn nicht endlich die personalen Fragen in der Slowakei ausschliesslich in slowakische Hände gelegt würden und Slowaken bei der Besetzung von Stellen in der Slowakei stets den Vorzug bekämen.5 Mit der slowakischen Autonomie gerieten die Tschechen in der Slowakei in eine äusserst ungünstige Lage. In den Städten wurden sie trotz vertraglicher Remigrations- oder Bleiberegelungen wiederholt von Angehörigen der Hlinka-Garde terrorisiert. Zwischen dem Münchner Abkommen und der Staatsgründung wurden mindestens 9.000 tschechische Staatsangestellte entlassen. Bis zum 30. Juni 1939 hatten zusammen mit ihren Familienangehörigen auf Geheiss der Regierung etwa 50.000 Personen die Slowakei verlassen. Bis zum Ende des Weltkrieges blieben von den einst 120.000 Tschechen nur 30.000 in der Slowakei.6 Für die slowakischen Akademiker war diese Entwicklung von Vorteil, da nun manche die begehrten Lehrstühle an der Universität einnehmen konnten, etwa der Literaturwissenschaftler Andrej Mraz, aber auch radikale Nationalisten wie der Jurist und Politiker Ferdinand Ďurčanský oder der Pathologe und Schriftsteller Andrej Žarnov. Henrich Barteks Mitstreiter und Mitherausgeber der Zeitschrift Slovenská reč, die als eine Konsequenz aus dem Putsch in der Matica slovenská hervorgegangen war, war der Kulturaktivist Anton Prídavok. Prídavok bildete eine Brücke zu einem weiteren Bereich sprachlicher und politischer Aktivitäten. Als führendes Mitglied der Slovenská liga nahm er sich besonders der ethnischen Homogenisierung in den slowakischen Grenzgebieten sowie den beiden grossen Städten Bratislava und Košice an. Als ursprüngliche Gründung von Slowaken in den USA stand als Ziel der Slovenská liga im Vordergrund, die Ethnizität von Slowaken in einem fremden Umfeld zu erhalten. Mit diesem Ansatz war die Slovenská liga auch innerhalb der Tschechoslowakei aktiv. Prídavok war ein Vertreter des Sprachpurismus und konnte seine philologischen Ansichten mit Hilfe der Funktion in der Slovenská liga verwirklichen. Er bereiste die Grenzgebiete und half als Vertreter der Zentrale, lokale Ausschüsse zu gründen, die sich der Säuberung der Ostslowakei von magyaronischen

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Elementen annehmen sollten.7 Mit Reinigung/Säuberung bezog sich die Liga schwerpunktmässig auf die Slowakisierung des öffentlichen Raumes, etwa die Beschriftung von Strassen, Firmen und öffentlichen Gebäuden, aber auch Friedhöfen. Darüber hinaus sollte die Bevölkerung slowakisiert werden, etwa vermeintlich ungarisierte, aber auch eingedeutschte slowakische Familiennamen zurückverwandelt werden. Das „Magyaronentum“ bezeichnete Prídavok als Plage, die es auszurotten galt.8 Während des Zweiten Weltkrieges setzte die Liga ihren Homogenisierungskurs fort, wobei sie sich nun auf die ruthenisch und deutsch besiedelten Gebiete in der Rest-Slowakei konzentrierte. Ein Politikum war während der Zwischenkriegszeit die Einrichtung einer naturwissenschaftlichen Fakultät an der Komenský-Universität. Prag sah keinen Bedarf für die Verdopplung der Institutionen und gab deshalb kein Geld dafür. Eine geografische Forschung beispielsweise mit Slowakeibezug gab es praktisch nicht. Die wissenschaftliche Erforschung der Siedlungsgeschichte wurde hingegen in der tschechischen Forschung zu einer wichtigen Ressource für völkische Argumentationen. Der namhafte Geograf Viktor Dvorsky etablierte die Humangeographie in Prag, etwa mit grundsätzlichen Überlegungen zur Geographie des Menschen im Jahr 1915.9 In seinem späteren Werk Die Grundlagen der politischen Geografie und der Tschechoslowakische Staat bezieht er sich auf den Staatswissenschaftler und Geopolitiker Rudolf Kjellén. In dessen Sinne vom Staat als Lebensform sieht Dvorsky im Begriff Staat, Boden und Volk zu einer untrennbaren Einheit verwachsen.10 Seine Deutungen sind stark auf den historischen Kontext bezogen, indem sie etwa einen Nationalstaat legitimieren, der keine einheitliche Sprache haben müsse, jedoch ein integrales Territorium. Den Erfolg eines Volkes bemisst er an dessen Haltung gegenüber dem Boden. So seien die deutschen Kolonialisten in den Sudeten erfolgreich gewesen wegen ihrer größeren Wertschätzung gegenüber dem Boden. Dass die Tschechen dem Boden zu wenig Bedeutung zugeschrieben hatten, bezeichnete er als einen der gefährlichsten Züge des tschechischen Charakters. Dvorsky beschreibt die Rolle des Territoriums für den Staat in biologischen Metaphern. Das Großmährische Reich habe sich genetisch im Volk erhalten und wartete auf seine Erneuerung. Wiederholt benennt er die Funktion von Bergen als Rückgrat des Volkes. Generell benutzt er den biologischen Terminus „genetisch“ zur Bestimmung des Charakters von Staaten bedingt durch deren Topographie oder geographische Lage gegenüber anderen Staaten. Die analytische Verwendung des Begriffs „genetisch“ führt zur Anthropomorphologisierung des Staates. Dvorsky versuchte mit Mitteln der Geographie und der Staatswissenschaft die Integrität des Staates geographisch, historisch, nationalistisch zu legitimieren und vor der realen Drohkulisse zu verteidigen. Völkische Ideen fanden sich somit auch unter den liberalen Verhältnissen der Ersten Republik im wissenschaftlichen Argumentarium. Allein aufgrund der Machtverhältnisse im Land und der Verteilung der Forschungsmittel gab es in der Zwischenkriegszeit keine ernstzunehmenden antitschechischen geopolitischen Staatsdeutungen von slowakischer Seite. Die anthropogeo-

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grafischen Studien von Slowaken hatten etwa Siedlungsgeschichte und Alpwirtschaft zum Gegenstand.11 Die wissenschaftsbasierte Auseinandersetzung mit der tschechischen Dominanz fand zu dieser Zeit ausschließlich in der Sprachforschung statt. Nach der Ausrufung des Slowakischen Staates im März 1939 bestimmten die Slowaken selber über den Einsatz ihrer Mittel. Im Juli 1942 wurde die Slowakische Akademie der Wissenschaften und Künste (SAVU) gegründet und mit bescheidenen Mitteln ausgestattet. Von den bis zu zwölf wissenschaftlichen Mitarbeitern entfiel jeweils eine Stelle auf die historische und die geografische Abteilung. Das wichtigste Editionsprojekt wurde die sechsbändige „Slowakische Heimatkunde“12. Hier wurden eine erste geografische Darstellung aus slowakischer Sicht veröffentlicht wie auch zwei umfassende ethnografische Studien und die ersten völkisch ideologisierten anthropologischen Darstellungen: von Ľudovit Franek „Anthropologie“ und von Anton Jurovský „Der slowakische Nationalcharakter“. In seinem dem rassentheoretischen und völkerpsychologischen Diskurs zu verdankenden Kapitel zum slowakischen Nationalcharakter13 setzt sich der Psychologe Anton Jurovský wesentlich mit dem Lebensraum-Konzept auseinander. Das slowakische Volk bewohne seinen Lebensraum kontinuierlich seit über 1.000 Jahren, der Raum wirke auf es ein, um es geistig zu formen. Doch auch das Volk wirke auf den Raum ein, indem es mit dessen Hilfe seine Kultur und Zivilisation ausbilde. Den Lebensraum zählt Jurovský zu den äußeren Faktoren des Volkscharakters. Die Oberflächengestalt mit den zahlreichen abgetrennten Tälern habe zum Charakter der Slowaken beigetragen und sie vor der Entnationalisierung bewahrt. Die Landschaft sei allerdings nicht die Schöpferin des Charakters, sondern könne nur auf etwas bereits Angelegtes einwirken. Auch hier taucht die Idee eines genetisch codierten Volkscharakters auf. Jurovský stützt sich in seiner Argumentation auf diverse deutsche Rassenforscher, aber auch auf eine entwicklungspsychologische Studie von Josef Stavěl (1937), in der jener die Intelligenz von Tschechen und Slowaken vergleicht. Werke mit einer deutlich völkischen Prägung wurden vor allem im Umfeld der Matica slovenská verfasst. Die Institution war seit der Wiedereröffnung und besonders nach dem Putsch anlässlich der Rechtschreibreform zur slowakisch-nationalen Gegenspielerin der tschechoslowakisch ausgerichteten Forschung an der Universität in Bratislava geworden. Unter den Gesellschaftswissenschaften blieben auch hier die sprach- und literaturwissenschaftlichen Disziplinen bis zum Kriegsende führend. In der Historischen Abteilung erschienen Werke, die sich aus historischer und demografischer Sicht mit den aktuellen Grenzziehungen befassten. Die Mitarbeiter der Matica publizierten ab 1939 aber auch in der Slowakischen Gelehrten Gesellschaft an der Universität, die aus ideologischen Gründen nach der Staatsgründung neu organisiert wurde. Branislav Varsik veröffentlichte dort 1940 Die slowakisch-magyarische ethnische Grenze in den letzten zwei Jahrhunderten und 1943 Die Slowaken und ihr völkischer Lebensraum in der Vergangenheit. František Bokeš publizierte 1942 das thematisch ähnlich gelagerte Werk „Der slowakische Lebensraum in der Vergangenheit und heute“.

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Branislav Varsik wurde 1940 zum ordentlichen Professor für Geschichte berufen und profitierte so von den tschechischen Abgängen an der Universität. In seinem mit kräftig kolorierten Karten ausgestatteten Werk über das slowakisch-madjarische Grenzgebiet will Varsik beweisen, dass die politischen Grenzen keinesfalls entlang der ethnischen Grenzen gezogen wurden. Er benutzt die Metapher des Volkskörpers, um die verlorenen Gebiete einzufordern. Es seien Ungarn auch rein slowakische Gebiete zugesprochen worden, „die direkt vom geschlossenen slowakischen Volkskörper losgetrennt wurden“.14 Varsik kritisiert vor allem die ungarische Praxis der Volkszählung, die auch jene Befragten als Ungarn zählte, die nur einigermaßen ungarisch sprachen. Seine Beweisführung basiert auf Statistiken und historischen Schriftstücken, die widerlegen, dass einzelne Städte und Gemeinden seit langem als gemischtnational zu betrachten waren. Er versucht außerdem akribisch nachzuweisen, dass die tatsächliche Alltagssprache nicht identisch mit der ethnischen Zuordnung der Familiennamen gewesen war. Den Begriff „Volk“ operationalisiert Varsik vor allem historisch. Es habe keinen Sinn die Nationalitätenverhältnisse vor dem 19. Jahrhundert zu rekonstruieren, um das geltende völkische Prinzip durchzusetzen. Ungeachtet der historischen Argumentation liegt Varsiks Konzept vom „Volk“ die Vorstellung von reinen Rassen zugrunde, die sich nicht vermischen. Er erwägt keine Bevölkerungsveränderungen durch Assimilation, Durchmischung, wechselnde oder doppelte Identitäten. Das völkische Prinzip ist bei ihm eine anthropologische Größe. Er geht von einem ursprünglichen Lebensraum der Slowaken aus, aus dem diese im Verlauf der Geschichte in die Berge abgedrängt worden seien. In jeweils ruhigeren Zeiten seien sie jedoch wieder in die Donauniederung hinabgestiegen. Darin sieht Varsik den Grund, dass sich Nationalitätenverhältnisse entlang der slowakisch-magyarischen Sprachgrenze immer wieder verändert hätten. Durch die Gebietsabtrennungen vom November 1938 erfuhr gerade das Konzept des Auslandsslowakentums einen neuen Aufschwung. Die Slovenská liga richtete sogleich einen Revisionsausschuss sowie ein Dokumentationszentrum über die Flüchtlinge in den verlorenen Gebieten ein und förderte gezielt die wissenschaftliche Bearbeitung des Themas. Sie arbeitete eng mit der wissenschaftlichen Gesellschaft für Auslandsslowaken zusammen, mit der sie sich 1943 auch zusammenschloss. Der Autor und Herausgeber Ján Svetoň verfasste in diesem Zusammenhang unter anderem die ausführliche Studie „Slowaken in Ungarn. Beiträge zur Frage der statistischen Madjarisierung“15, in der er sich – ebenso wie Varsik – mit der ungarischen Demografie auseinandersetzt, die als Grundlage für die Gebietsabtrennungen zugunsten Ungarns beim Wiener Schiedsspruch gedient hatte. Sein Ziel ist es, auf der Basis des Gebrauchs der slowakischen Muttersprache die Verfälschung der ungarischen Statistik aufzuzeigen. Dabei kommt er zu dem für die Zeitgenossen sicher überraschenden Schluss, dass die Slowaken gar nicht wirklich madjarisiert worden seien „und dass weder ihre volksbiologische, noch ihre völkisch-kulturelle Kraft durch die Berührung mit den Madjaren gebrochen wurde“.16 Verringert habe sich

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die Zahl der Slowaken nur bei einem Teil der von ihrem Volkstum entfremdeten slowakischen Intelligenz in den Städten und der in den Süden und nach Übersee Ausgewanderten. Svetoň betrachtet das Volkstum als eine unveränderliche Größe, bei der die Sprache nur ein äußerliches Merkmal und deshalb veränderlich ist. Ein wichtigeres Kriterium für die genetisch verstandene Volkszugehörigkeit sind ihm die slowakische Vitalität, eine selbsterhaltende Widerstandsfähigkeit und der slowakische Volksboden. Er führt das Beispiel eines slowakischen Dorfes an, in dem sich ohne Verbindung mit dem „Mutterboden“ ein rein slowakischer Typus erhalten habe. Blonde und blauäugige Slowaken hätten sich mit dem madjarischen Element nicht vermischt, auch wenn ihre Sprache mit madjarischen Ausdrücken und Endungen „verderbt“ sei. „Sie fühlen ihre völkische Eigenart so sehr, dass sie sich auch heute nicht mit Madjaren verheiraten.“ Die bäuerliche Lebensweise führt er als Grund für die Erhaltung der „biologischen Reinheit“ an.17 In der Zwischenkriegszeit galt den völkischen Slowaken die Sprache als wesentliches Argument für das Recht auf Selbstbestimmung des slowakischen Volkes. In der veränderten historischen Situation und der Auseinandersetzung mit dem als Feind betrachteten ungarischen Nachbarn kommt der völkisch argumentierende Forscher Svetoň zu gegenteiligen Befunden. Ab 1943 war Svetoň Redakteur der wissenschaftlichen Zeitschrift Náš národ, in der Forschungsbeiträge aus allen „volkswissenschaftlichen Disziplinen“, wie es im Editorial der ersten Ausgabe heißt, zusammengestellt werden sollten. Die Zeitschrift wurde vom Sprachpuristen Henrich Bartek in der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Auslandsslowaken herausgegeben. Autoren der Zeitschrift waren neben Wissenschaftlern auch die Vertreter des radikalen Flügels der Hlinka-Partei und des Regimes Ferdinand Ďurčanský und Štefan Polakovič. Eine prominente Persönlichkeit in der Tschechslowakischen Republik war der Politiker und Soziologe Anton Štefánek, dessen wissenschaftliche Tätigkeit ab 1939 ebenfalls deutlich völkisch beeinflusst war. Er war von 1925 bis 1935 Parlamentarier und 1929 auch Minister. Von 1937 bis 1945 lehrte er als Professor für angewandte Soziologie an der Komenský-Universität und war von 1945 bis 1949 auch deren Rektor. Neben der umfangreichen Darstellung der „Grundlagen der slowakischen Soziografie“ in der „Slowakischen Heimatkunde“ publizierte er auch in anderen Schriften der Slowakischen Akademie der Wissenschaften. Einem Aufsatz über die Entwicklung des Bildungswesens18 stellt er vorgeblich kritische Überlegungen zu völkischen Wissenschaften voran. Die Welle anthropogeographischer und geopolitischer Werke in Deutschland sei vor allem propagandistischer und legitimierender Natur. Doch auch für Štefánek ist der Boden, auf dem ein Mensch lebe, die wichtigste Grundlage für die wissenschaftliche soziographische Erforschung. Er leitet von Kjellén ab, was Geopolitik und der darunter verstandene Drang nach Raum und Lebensraum bei einem kleinen, noch wenig industrialisierten Land im Gegensatz zu einem grossen und militärisch mächtigen Volke bedeuteten: Nicht den Instinkt zur Herrschaft über einen grösseren Raum, sondern zur Herrschaft über Märkte und fruchtbaren Boden.

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Der Staat ist bei Štefánek ein kollektiver Organismus, den Elemente des Bodens und Elemente der Menschen bilden. Diese Überlegungen nimmt er als Ausgangspunkt für eine neue wissenschaftliche Herangehensweise, die auch unbewusste Einflüsse auf das Handeln von einflussreichen Persönlichkeiten berücksichtigt: „Der politische Staatsschöpfer arbeitet schon nicht mehr vollkommen frei, denn sein Wille und seine Art entstehen unter dem Druck einer irgendwie unsichtbaren Kraft, die aus den geo- und ethnopolitischen Tatsachen und Bedingungen hervorgehen.“19 Štefáneks Argumentation zielt auf die Unmöglichkeit von exakten politischen und völkischen Grenzen ab, da diese zum einen willkürlich seien und zum anderen assimiliatorische Vorgänge ihre Wirkung zeitigten. Dessen ungeachtet umreisst der Autor das slowakische Territorium durch eine natürliche Grenze, welche March, Karpatenbogen und Donau bilden sollen, womit auch der Soziologe die Revision des aktuellen Grenzverlaufs einfordert. Über den gesamten Zeitraum von 1918 bis 1945 betrachtet zeigt sich, dass völkische Ansätze in den Wissenschaften in der Slowakei eng mit den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten verknüpft waren. Verschiedene Faktoren begünstigten diese Entwicklungen: nach 1918 die nachholende, aber zugleich durch die tschechische Dominanz erschwerte Nationalisierung des Wissenschaftsbetriebs, identitäre und demografische Fragen, die den Fokus auf die Sprachwissenschaft lenkten sowie eine schlechte wirtschaftliche Lage, in der mit dem Feindbild der Tschechen mobilisiert werden konnte. Die Funktionalität völkischer Konzepte erwies sich deutlich nach dem politischen Umbruch von 1939. Der Forschungsgegenstand „reine Sprache“ trat in den Hintergrund. Stattdessen knüpften Wissenschaftler in der kritischen Auseinandersetzung mit den Bevölkerungs- und Gebietsabtretungen von 1938 an anthropogeographische und völkische Diskurse an. Indem sie mit Hilfe der Ideen des Volksbodens und genetischen Volkstums zentrale Argumente für künftige Grenzrevisionen entwickelten, dienten sie freilich den Interessen des Slowakischen Staates, nicht jenen der deutschen Schutzmacht.

Sabine Witt

1 Róbert Letz, Dejiny Slovenskej ligy na Slovensku 1920–1948 [Geschichte der Slowakischen Liga in der Slowakei 1920–1948], Martin 2000, S. 163 2 Slovenské študentstvo demonštruje [Die slowakische Studentenschaft demonstriert], in: Nástup 5 (1937) 21, S. 224. 3 Štefan Hanakovič, Dejiny Spolku sv. Vojtecha [Geschichte des Vereins hl. Adalbert], Trnava 2005, S. 294f. Der Begriff „reč“ (Sprache/Rede) meint die Äusserungen im Unterschied zum System der Sprache, was in etwa der terminologischen Unterscheidung von Ferdinand de Saussure in „langue“ und „parole“ entspricht. 4 Henrich Bartek, O správnosti jazykovej [Über sprachliche Richtigkeit], in: Slovenská reč 2 (1933– 34) 1, S. 1–16, 1. Bartek (1907–1986) wurde 1945 noch zum Universitätsprofessor ernannt, emigrierte jedoch im selben Jahr nach Deutschland.

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5 Valerián Bystrický, Vysťahovanie českých štátnych zamestnancov zo Slovenska v rokoch 1938– 1939. [Die Aussiedlung der tschechischen Staatsangestellten aus der Slowakei in den Jahren 1938– 1939], in: Historický časopis 45 (1997) 4, S. 596–611, 601 6 Bystrický 1997, S. 610f. 7 (Referát tajomníka) [Referat des Sekretärs]: Čo vykonala Slovenská liga [Was die Slowakische Liga vollbracht hat], in: Slovenská liga 5 (1928) 4, S. 63 8 Anton Prídavok, Slovenská Liga na východnom Slovensku [Die Slowakische Liga in der Ostslowakei], in: Slovenská liga 5 (1928) 5, S. 90. Ausführlich zu diesem Thema: Sabine Witt, Nationalistische Intellektuelle in der Slowakei 1918–1945. Kulturelle Praxis zwischen Sakralisierung und Säkularisierung, Berlin 2015, S. 203ff. Prídavok (1904–1945) beteiligte sich aktiv am slowakischen Nationalaufstand und wurde daraufhin von der Gestapo verhaftet, verhört und gefoltert, weshalb er kurz nach Kriegsende starb. 9 Viktor Dvorsky, Poznámky k zeměpisu člověka v Čechách. Sborník čs. Společnosti zeměpisné, Praha 1915. 10 Ders., Zaklady politcké geografie a Československy stat, Praha 1923, S. 18. 11 Auf den ab 1924 stattfindenden Kongressen der slawischen Geografen und Ethnologen dominierten anthropogeografische Themen. Auf dem ersten Kongress etwa wurde eine Arbeitsgruppe zur Erforschung der Hirtentätigkeit in den Karpaten gegründet. In deren Untersuchungen spielen die ethnischen Verhältnisse in der Alpwirtschaft eine zentrale Rolle. Zum Beispiel Vladimír Kubijoviyč, Účasť obyvateĺov Spiša v živote pastierskom [Der Anteil der Bewohner der Zips an der Hirtentätigkeit], in: Bratislava (1931) 6, S. 70–82 12 Slovenská vlastiveda, 5 zv., Slov. Akad. Vied a um. L’udovít Novák (Hg.), 1943–1948. 13 Anton Jurovský, Slovenská národná povaha, in: Rudolf Bednárik (Hg.), Slovenská vlastiveda. Duchovná kultúra slovenského ľudu, 3. zv., Bratislava 1943. Jurovský (1908–1985) veröffentlichte 1942 im Verlag der Hlinka-Garde einen psychologischen Essay über die Führerschaft: „Vodcovstvo a vodcovská osobnosť: So zreteľom na naše pomery“ [Führerschaft und die Führerpersönlichkeit: Mit Blick auf unsere Verhältnisse]. Nach Kriegsende war er als angesehener klinischer Psychologe und Autor von sozialpsycholgischen Grundlagenwerken tätig. 14 Branislav Varsik, Die slowakisch-magyarische ethnische Grenze in den letzten zwei Jahrhunderten, Bratislava 1940, S. 5. Varsik (1904–1994) war nach Kriegsende einer der führenden Historiker der Slowakei. Er leitete die Historische Abteilung der Akademie (SAVU) und war hier wie auch an der Komenský-Universität Redakteur und Herausgeber maßgeblicher historischer Fachzeitschriften. 15 Ján Svetoň, Slovaci v Madarsku. Prispevky k otazke statistickej madarizacie, o.O. 1942 (dt. 1943). Svetoň (1905–1966) war von 1937 bis 39 Sekretär des Tschechoslowakischen Auslandsamtes in Prag. Nachdem Tschechien Protektorat wurde, kehrte er in die Slowakei zurück und arbeitete in der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Auslandsslowaken bei der Slovenská Liga. Er war als führender Statistiker und Demograf der Slowakei 1946 Mitglied der Umsiedlungskommission in Ungarn und als Experte an der Pariser Friedenskonferenz sowie als Hochschullehrer und -professor tätig. 16 Svetoň, Slovaci v Madarsku, S. 63 17 Ebd., S. 140 18 Anton Stefanek [sic], Zur Soziographie der geistigen Kultur in der Slowakei, in: Ludovit Novak (Hg.), Carpatica Slovaca, Ćasopis slovenskej akademie vied a umeni, 1943/44, S. 379–433. Die Zeitschrift sollte das Ausland über die Ansprüche der Slowakei als Volk und Staat informieren. Štefánek (1877–1964) fiel, nachdem die kommunistische Regierung an die Macht gekommen war, in Ungnade und musste von seinem Amt als Universitätsrektor zurücktreten. 19 Ebd., S. 383

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Volksgemeinschaft Volksgemeinschaft hat sich in der historischen Erinnerung als ein politischer Begriff festgesetzt, der vor allem mit dem deutschen Nationalsozialismus verknüpft ist. Wenn es dafür auch gute Gründe gibt, so ist die Behauptung in einem zeitgenössischen maßgeblichen Werk zum nationalsozialistischen Staat doch irreführend, den Begriff Volksgemeinschaft habe es „im alten Deutschland nicht gegeben“, er sei erst „geprägt worden und der Geist, den dieses Wort in sich schließt, […] [sei erst] in die Hirne und Herzen der Deutschen geträufelt worden durch den Mann, der unser aller Führer ist: durch Adolf Hitler“. Vielmehr war der Begriff bereits zur Zeit der Weimarer Republik und zuvor gängig, und zwar keineswegs nur im nationalsozialistischen oder völkischen politischen Spektrum. Nach 1918 hatte es zeitweilig den Anschein, als könne die Idee der Volksgemeinschaft zu einem demokratischen Gründungsmythos des postmonarchistischen Deutschland werden. Der Umstand, dass es nicht gelang, den Begriff dauerhaft demokratisch zu besetzen, muss nicht bedeuten, dass der Versuch aussichtslos war oder notwendigerweise dem Nationalsozialismus in die Hände spielen musste. Zudem markiert nicht die sogenannte Stunde Null von 1945, sondern das Jahr 1968 die eigentliche Wende der politischen Begriffsverwendung. Erst seit dieser Zeit beschränkt sich die Rede von Volksgemeinschaft auf das rechtsextreme politische Spektrum.1 Der Begriff Volksgemeinschaft hatte seinen Platz, trotz des politischen Potentials und der faktischen Politisierung, keineswegs nur in der politischen, sondern gerade auch in der wissenschaftlichen Debatte. Dies gilt nicht nur als Quellenbegriff, in der er in der historischen Forschung zum Nationalsozialismus seit Mitte der 1970er Jahre einen zunehmend prominenten Stellenwert hat. Volksgemeinschaft war vielmehr von Anfang an ein wissenschaftlicher Begriff. Die früheste bekannte Verwendung entstammt der deutschen Übersetzung einer Schrift John Lockes von 1791. Der Theologe und Philosoph Gottlob August Tittel brachte mit Volksgemeinschaft die Wortfolge „in any [particular] place, generally“ auf den Punkt, verstand mit dem Begriff also eine politisch-territorial definierte Menschengesamtheit.2 Unser Wissen über die Begriffsverwendung im neunzehnten Jahrhundert ist zwar fragmentarisch, doch lässt sich sagen, dass der Begriff vor seiner allmählichen Politisierung in unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen gebraucht wurde. Er findet sich etwa bei dem romantischen Philosophen und protestantischen Theologen Friedrich Schleiermacher. Friedrich Carl von Savigny, Begründer der historischen Rechtsschule in Deutschland, formulierte mit seinem Verständnis der Volksgemeinschaft als geistiger Grundlage des modernen Staates das Thema, das im Folgenden häufig variiert wurde.3 Johann Caspar Bluntschli, Hermann Schulze, Wilhelm Dilthey, Wilhelm Wundt und Ferdinand Tönnies sind weitere Akademiker, die sich des Begriffs bereits im neunzehnten Jahrhundert bedienten. Der Bezug des Begriffs Volksgemeinschaft auf Staat und Demos in Verbindung mit dem Postulat der geistigen Einheit des Volkes weist auf den Ursprung im Um-

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feld von Aufklärung und Romantik hin. Der Begriff bietet dabei mehr als eine Addition seiner Bestandteile „Volk“ und „Gemeinschaft“. Mit der – wenn auch unterschiedlich ausgeprägten – Tendenz, das politische, seiner selbst bewusst gewordene Volk zu beschreiben und zu konkretisieren, erschließt er eine darüber hinaus reichende Bedeutungsfülle. Analog zur Unterscheidung der Klasse an sich und der Klasse für sich bezeichnet der Begriff Volksgemeinschaft „das Volk für sich“. Mit der Zusammenführung der gefühlsmäßig aufgeladenen Begriffe Volk und Gemeinschaft geht ein potenzierter Affektionswert einher, der ins Sakrale weist. Im Allgemeinen wird Volksgemeinschaft in der konkreten Ausprägung als eine deutsche Volksgemeinschaft gedacht, eine Tendenz, die in der Wissenschaft weniger ausgeprägt ist als in der Politik. Gelegentlich ist von anderen Ausprägungen die Rede, insbesondere von der jüdischen Volksgemeinschaft. Die Begriffsgeschichten von Volksgemeinschaft, Volk und Gemeinschaft sind eng miteinander verflochten, was sowohl der Überlappung und Schwammigkeit der Begrifflichkeiten als auch den gleichartigen geistesgeschichtlichen und politischen Rahmenbedingungen geschuldet ist. Mit Reinhart Koselleck ist davon auszugehen, dass Volksgemeinschaft wie andere zwischen Aufklärung und Romantik gestiftete bildungssprachliche Volkskomposita um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert in der semantischen Struktur festgeschrieben war und spätestens mit dem Ersten Weltkrieg auf ein im internationalen Wettstreit befindliches Handlungskollektiv verwies. Damit stand die Idee der Volksgemeinschaft der völkischen Ausdeutung offen. Wissenschaftler verstanden sie später auch als „tiefsten Ausdruck des Völkischen“.4 „Es giebt keine Volksgemeinschaft der Blauäugigen, der Blondhärigen oder der Dünnbeine und Plattköpfe“, hielt ein statistisches Werk zur deutschsprachigen Mehr- und Minderheitsbevölkerung in Europa in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts fest. In romantischer Tradition begriff es die Sprache als ausschlaggebendes identitätsstiftendes Kollektivmerkmal.5 Das Verständnis der Hinfälligkeit biologischer Konstituenten der Volksgemeinschaft wurde von der sich Ende des neunzehnten Jahrhunderts entwickelnden völkischen Publizistik und Wissenschaft aufgegeben. Der Begriff Volksgemeinschaft spielte gerade auch in der völkischen soziologischen und ethnographischen Diskussion deutschsprachiger Minderheiten jenseits der Reichsgrenzen eine zentrale Rolle, an die das politische, auf territoriale Expansion angelegte supranationale Volksgemeinschaftsverständnis der Nationalsozialisten anknüpfen konnte. Für die Volkswirtschaftslehre wurde vor diesem Hintergrund vorgeschlagen, sich vom Gegenstand der Volkswirtschaft zu lösen und stattdessen die übernationale „Volksgemeinschaftswirtschaft“ zum disziplinären Ausgangspunkt zu erheben.6 In der Philosophie, der Staats- und Rechtswissenschaft erlangte der Begriff der Volksgemeinschaft in der Zwischenkriegszeit eine prominente Stellung. Mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten bot er sich Neuerern in diesen und anderen Disziplinen an, einen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel

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gemäß der veränderten politischen und ideologischen Rahmenbedingungen zu proklamieren. Dabei geht die völkische Wissenschaft von blauäugigen und plattköpfigen Volksgemeinschaften aus, auch wenn sich der Stellenwert der Rasse in einzelnen Beiträgen unterscheidet, und sie mit der generellen Schwierigkeit kämpft, Rasse zu operationalisieren. Nicht alle Autoren verkürzen so stark wie der Erziehungswissenschaftler und Philosoph Ernst Krieck: „Rasse begründet Volksgemeinschaft“. Aber wenn ein anderer Autor schrieb, die Volkssoziologie werde immer von der Volksgemeinschaft ausgehen und auf Rassen erst in ihren weiteren Analysen stoßen, um deren Anteil an der „deutschen Substanz“ zu bestimmen, so verwehrt er sich gleichzeitig gegen eine „nicht ‚homogene‘“ Rassenvielfalt und „harte, sprunghafte Kreuzungen“ unterschiedlicher Rassen.7 Typischer noch ist die Auflösung des Rassebegriffs im vagen Verweis auf das Blut. Beispielhaft dafür steht einer der bekanntesten Vertreter der völkischen Wissenschaft, der Experte für das sogenannte Auslandsdeutschtum, →Max Hildebert Boehm. Über den ‚Volkswissenschaftlichen Arbeitskreis‘ unter Leitung des Historikers →Kleo Pleyer, dem neben Boehm auch →Werner Conze und →Theodor Schieder angehörten, bestehen Verbindungslinien zur nationalsozialistischen Volksgeschichte und zur bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung. Volksgemeinschaft sei ein im „Blut- und Geisterbe“ angelegtes Willensziel völkischer Politik, schreibt Boehm in seinem Fachlexikon zur Volkstumskunde. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der „bluthaften geschichtsträchtigen Volksgemeinschaft“ leistet Boehm insbesondere in seinem 1932 erschienenen Hauptwerk, „Das eigenständige Volk: Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaften“. Boehm spricht hier nicht nur vom Bluterbe, sondern deutet auch aktiven Blutschutz an: Die Volksgemeinschaft präge „dem einzelnen Volksgenossen eine bestimmte Haltung auf, die im völkischen Sinn auf Blut und Art hält“. Der romantischen Verengung auf Sprache hat Boehm immerhin die Erkenntnis voraus, dass unterschiedliche Völker ein und dieselbe Sprache sprechen können.8 Boehm macht zugleich deutlich, wie die völkische Wissenschaft die Volksgemeinschaft als säkularen Gottesersatz propagierte. Bei ihm ist die Volksgemeinschaft eine letzte regulative Idee, die nur annäherungsweise aus einer neuen Verknüpfung der Bereiche Herrschaft, Volkstum und Gläubigkeit verwirklicht werden könne. Sie stünde dem Wunder nahe, lebe im Dunkel des Mysteriums, scheue die Profanisierung und zittere vor der „verständlerischen“ Analyse. Andere Autoren sprechen von der Volksgemeinschaft schlichter als „Ziel und Endzweck“, wecken aber gleichfalls religiöse Assoziationen. Am symptomatischsten hat vielleicht der SS-nahe Rechtswissenschaftler und spätere bundesdeutsche Management-Vordenker Reinhard Höhn die Verwandlung des Volkes in das Opium der Religion beschrieben: „Denn wer in der gemeinsamen Zielrichtung geht und auch opfert und tut es nicht im Geist dieser Liebe für Volk und Volkstum, den hat der Geist der Volksgemeinschaft nicht ergriffen, er gleicht einem ‚tönenden Erz‘ und einer ‚klin-

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genden Schelle‘. So führt uns diese Arbeit für die Volksgemeinschaft und das Leben in der Volksgemeinschaft letzten Endes auf letzte innere Werte zurück und findet seine Begründung im Religiösen.“9 Die Dreifaltigkeit von Kirche, Staat und Volksgemeinschaft ist ein wiederkehrender Topos, wenn die beiden letzteren auch intensiver diskutiert wurden als ekklesiastische Fragen. Der Geschichtsphilosoph Georg Mehlis verstand die Volksgemeinschaft als die maßgebende Instanz der Sinnstiftung und Gesetzgebung des Dritten Reichs, während im Bismarckreich der Staat und im Alten Reich die Kirche diese Funktion erfüllt hätten. Das Schema baut auf dem Gedanken eines gesellschaftlichen Fortschritts hin zur Volksgemeinschaft auf. Für Boehm ist die Volksgemeinschaft neben Kirche und Staat die dritte übergreifende soziologische Kategorie. Dabei ist es die – eng mit dem Volkstum als kulturelle Manifestation verbundene – Volksgemeinschaft, die für die eigentliche Sinnstiftung zuständig ist.10 Bei Boehm ist Volksgemeinschaft die ausschlaggebende latente Variable hinter den Erscheinungen des praktischen Lebens, ein „Leistungsanspruch“ und Idealtyp, dem sich konkrete Gesellschaften allenfalls prozesshaft anzunähern vermögen, ohne dass er je innerweltlich erreichbar wäre. Max Weber schwingt – bei allen inhaltlichen Unterschieden – mit, nicht zuletzt, wenn Boehm das Wort „Volksvergemeinschaftung“ prägt.11 Der originär nationalsozialistische Standpunkt, der später vor allem geltend gemacht wurde, ist jedoch ein anderer: Mit ihm wurde der Anspruch erhoben, Volksgemeinschaft ständig und überall – gerade auch über nationalsozialistisch instrumentalisierte oder geschaffene Institutionen wie die Winterhilfe, den Arbeitsdienst, die Hitler-Jugend oder die Deutsche Arbeitsfront – zu verwirklichen. Die Volksgemeinschaft galt als die zeitliche Verwirklichung der Eigentümlichkeit des zeitlosen deutschen Volkes oder, in Anlehnung an die Begrifflichkeit Carl Schmitts, als höchste ‚konkrete Ordnung‘, die sich in vielfältige Teilordnungen wie die oben genannten Organisationen untergliedere und in diesen praktiziert werde. Neben gesellschaftlichen Organisationen dachte die völkische Wissenschaft auch der nachbarschaftlichen Lebenswelt die Aufgabe zu, „jedes einzelne Volksglied so einzuzellen, dass es ein Zuhause in der Volksgemeinschaft findet“. Ungeachtet der überwiegend konkreten Auffassung blieb Volksgemeinschaft auch nach nationalsozialistischem Verständnis zugleich als Ziel oder gar als ‚Hochziel‘ erhalten, nach dem die Gesellschaft und die als deren Glieder verstandenen Einzelnen zu streben angehalten waren.12 Insbesondere der völkischen Rechtswissenschaft fiel die Aufgabe zu, die volksgemeinschaftliche ‚Einzellung‘ zu definieren und über Rechtssetzung und Rechtsanwendung Verstöße zu sanktionieren. Bereits in Alfred Rosenbergs 1930 erschienenem Versuch einer rassenphilosophischen Grundlegung des Nationalsozialismus, im Mythus des 20. Jahrhunderts, erscheint der Begriff Volksgemeinschaft nicht als positive Sozialutopie, sondern im Zusammenhang mit „In-Achterklärung“ und rechtlicher Ungleichstellung. Hermann Göring vermeldete im Jahre 1935 in seinem

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Vortrag zur „Rechtssicherheit als Grundlage der Volksgemeinschaft“ vor der →Akademie für Deutsches Recht, der Nationalsozialismus habe dem Prinzip der Acht im Ausbürgerungsgesetz wieder im alten germanischen Sinne Gestalt gegeben. Rechtssicherheit hieß nach Göring, verhindern, „dass in einer Übersteigerung des Rechts eine Zerstörung des Rechtsempfindens des Volkes eintritt“.13 Die Worte Gemeinschaft und Volksgemeinschaft drangen nach 1933 aus der Sprache der nationalsozialistischen Propaganda in die Rechtssprache vor, ersteres als Oberbegriff insbesondere in allgemeine juristische Fachliteratur, letzteres vor allem in die staatsrechtliche Diskussion, in der es bereits zuvor gewisse Verbreitung gefunden hatte, und in die Sprache des Gesetzgebers. Im Reichsgesetzblatt kommt der Begriff Volksgemeinschaft zwischen 1933 und 1945 über hundertmal vor und liegt damit an der Spitze neuer Gemeinwohlbegriffe. Er diente dem Appell an den Einzelnen und der Rechtfertigung des Eingriffs in seine Rechte. Es standen sich dabei zumeist jüngere Juristen, die eine vage, politisch flexible Terminologie befürworteten und eher konservative Fachvertreter gegenüber, die die Aufweichung der Rechtsbegriffe skeptisch betrachteten. Da der Nationalsozialismus eine systematische Neufassung des Rechts unterließ und sich mit begrenzten Neuerungen, Reformen und Ergänzungen begnügte, war mehr noch als die Einführung des Begriffs in den Rechtsnormen die Methode von Bedeutung, die Rechtsordnung im Prisma des Gemeinschaftsgedankens zu brechen und aus den fortgeltenden Rechtstexten mit den üblichen Interpretationshilfen neue, gemeinschaftsethische Ergebnisse zu extrahieren.14 Der Bezugspunkt der Volksgemeinschaft stellte die Grundsätze der institutionell verankerten subjektiven Rechte des Einzelnen und des Staates als juristischer Person, die die bürgerliche Rechtsgemeinschaft ausmachten, zur Disposition. Da das Rechtssystem nicht grundsätzlich revolutioniert wurde, konnte der Begriff der Volksgemeinschaft als terminologische Anpassung zwar im Sinne des traditionellen Verständnisses der bürgerlichen Rechtsgemeinschaft gebraucht werden, er konnte aber auch dazu dienen, sich über die entsprechenden Prinzipien hinwegzusetzen. Radikalere Autoren verwarfen den Begriff der Rechtsgemeinschaft gänzlich, während andere ihn im Sinne einer Volksgemeinschaft umdeuteten, „die sich im Recht ihre Lebensform gibt“.15 Der prononcierteste Gegner des Rechtsgemeinschafts- und Vertreter des Volksgemeinschaftsgedankens war Reinhard Höhn. Die Idee der Volksgemeinschaft erschien ihm als die eigentliche Grundlage neuen wissenschaftlichen Denkens. Kritiker wiesen zwar darauf hin, er erläutere den Begriff der Volksgemeinschaft nicht näher, sondern behaupte nur, sie werde in den Ordnungen des Volkes gelebt und beschränke sich ansonsten darauf, auszuführen, was die Volksgemeinschaft nicht sei. Dies unterschied ihn jedoch nicht von anderen Theoretikern der Volksgemeinschaft einschließlich des besagten Kritikers, der das für die Zunft inhaltlich symptomatische Axiom formulierte: „Für unsern Begriff der Volksgemeinschaft gilt nicht

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das viel zitierte Wort des Franzosen E. Renan: ‚Lʼexistence dʼune nation est un plébiscite de tous les jours‘“.16 Höhn verwendet den Begriff Volksgemeinschaft als intellektuelles Brecheisen, um den liberalen bürgerlichen Individualismus, aber auch etatistische Vorstellungen auszuhebeln. Das bedeutet die Propagierung charismatischer Herrschaft: Volksgemeinschaft transportiert bei Höhn die totalitären Imperative eines Gemeinschaftsgeistes, die im Prinzip des Führens und Geführtwerdens verwirklicht werden und den einzelnen Menschen existentiell umfassen. Das Element bürokratischer Herrschaft wird klar nachgeordnet: Das geführte Volk werde nicht erst durch den Staat rechts- und handlungsfähig, sondern sei in sich selbst lebendig und aktionsfähig. Die Bedeutung des Staates beschränke sich auf seine Funktion im Dienste der Volksgemeinschaft. Für das Rechtssystem bedeutete dies, dass die Rechtsanwendung kein von der Rechtssetzung getrennter, einer eigenen Logik folgender Bereich sein konnte, sondern auf die Volksgemeinschaft zurückbezogen werden musste und damit politischen Opportunitätserwägungen unterlag.17 Die Diskussion der Volksgemeinschaft im Zusammenhang mit dem asymmetrischen Komplementärbegriff Führung war in unterschiedlichen Zweigen der völkischen Wissenschaft verbreitet. Nicht zuletzt der Doyen der begriffsgeschichtlichen Forschung, →Otto Brunner, bezeichnete beide – in der Phase seiner Karriere, in der er sich aktiv zum Nationalsozialismus bekannte – als die politischen Grundbegriffe des Dritten Reiches.18 Es ist deutlich geworden, dass der Gedanke der Volksgemeinschaft einen doppelten Interpretationsboden im Rechtssystem schuf. Er bot die Möglichkeit, sich vom Normenstaat zu verabschieden und legitimierte Maßnahmenstaat und Führerentscheidungen. Recht wurde so im nationalsozialistischen Sinne beliebig und instrumentalisierbar. Zwar legte das herkömmliche Rechtssystem mit seinen Eckpfeilern Individuum und Staat gegenüber dem Denken in ‚konkreten Gemeinschaftsordnungen‘, innerhalb derer sich das Dasein des Volkes vollziehe, Beharrungskraft an den Tag. Eine geschützte Sphäre vermochte es aber selbst innerhalb seines eigenen Rahmens nicht zu sichern. Aus universalem Recht wurde, wie es beispielsweise Wolfgang Siebert wenig verschleiert zum Ausdruck bringt, eine jederzeit einschränkbare Berechtigung: „Was vom individualistischen Standpunkt aus wesensfeindliche Beschränkung des Rechtsinhabers darstellte, wird also vom Gemeinschaftsgedanken her wesensnotwendige Gestaltung des Rechtsinhalts.“ Damit glaubte Siebert das ‚subjektive Recht‘ überwunden, an seine Stelle sei im Recht der Volksgemeinschaft die volksgenössische Berechtigung getreten.19 In die Praxis setzte insbesondere die Strafrechtsreform vom 28. Juni 1935 diese Einschränkung um, indem sie das sogenannte Analogieverbot aufhob und die Verurteilung nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach dem sogenannten gesunden Volksempfinden ermöglichte. Damit hatte der Nationalsozialismus den von Reinhart Höhn formulierten Grundsatz, vom Boden der konkreten Volksgemeinschaft aus das Recht über das Gesetz zu stellen, institutionalisiert.20 Mit den wissen-

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schaftlich erarbeiteten nationalsozialistischen Entwürfen eines ‚deutschen Rechts‘ rückte der Begriff Volksgemeinschaft auch explizit ins Zentrum übergreifender gesetzgeberischer Absichten. Bereits die „Nationalsozialistischen Leitsätze für ein neues deutsches Strafrecht“, die auf einer Arbeitstagung des Strafrechtsausschusses des Reichsrechtsamtes der NSDAP unter dem Reichsleiter und Reichsminister Hans Frank im Frühjahr 1935 erstellt worden waren, machten die Volksgemeinschaft im Haupttext und in den Erläuterungen neben dem Gedanken der ‚materiellen Gerechtigkeit‘, der einem liberalen Rechtsformalismus gegenübergestellt wurde, zum zentralen Motiv. Komprimiert kommt der Geist dieses Papiers in der Zielbestimmung zum Ausdruck: „Durch das Strafgesetz wird allen Volksgenossen bekundet, dass der Staat die vorbehaltlose Erfüllung der Treuepflichten zum Wohl der Volksgemeinschaft verlangt und dass den Treuelosen die gerechte Strafe treffen wird. Im Strafrecht soll der beherrschende Gedanke der Volksgemeinschaft, der Treue, der Pflicht, der Ehre und der gerechten Sühne, sowie der Übereinstimmung mit dem völkischen Rechts- und Sittlichkeitsgefühl in höchster Weise verpflichtenden Ausdruck finden.“ Strafrechtlich relevante Verfehlungen waren nach diesen Prinzipien Verrat und zogen den Verlust der „einen unteilbaren Mannesehre“, den Verlust des Rechts und die Aussonderung bis hin zur „völligen Auslöschung des Rechtsbrechers“ nach sich. Die Prügelstrafe galt als „nicht zumutbar für den, der sie vollziehen soll“. Auch dem Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuches, den das Reichsjustizministerium im Jahre 1939 vorlegte, galt der Schutz der Volksgemeinschaft als das höchste Rechtsgut.21 Im Teilentwurf eines „Volksgesetzbuchs der Deutschen“, das an die Stelle des Bürgerlichen Gesetzbuchs treten sollte, hatte, wie es an zentraler Stelle heißt, jeder Volksgenosse mit seiner Person und seinem Vermögen der Volksgemeinschaft das zu geben, was zu ihrem Bestande und Gedeihen nötig war. Als Grundregel sei erste Pflicht jedes Volksgenossen, seine Kräfte für die Volksgemeinschaft voll einzusetzen, und es seien alle Begriffe und Vorschriften so auszulegen und zu handhaben, dass sie einen möglichst hohen Lebenswert für die deutsche Volksgemeinschaft ergäben.22 Im gültigen bürgerlichen Recht war bereits mit dem „Gesetz zur Änderung des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten“ vom Oktober 1933 einzelnen Individualinteressen die „Rechtssicherheit des Volksganzen“ übergeordnet worden. Im Sommer 1941 wurde dies mit dem „Gesetz über die Mitwirkung des Staatsanwalts in bürgerlichen Rechtssachen“ institutionalisiert, durch das die Staatsanwälte befugt wurden, auch im zivilrechtlichen Bereich die vom Standpunkt der Volksgemeinschaft im Verfahren und bei der Entscheidung zu berücksichtigenden Umstände geltend zu machen.23 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Begriff Volksgemeinschaft für die Theorie und Praxis der nationalsozialistischen Gesellschaft von grundlegender Bedeutung war. Das abstammungsbezogene supranationale völkische und nationalso-

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zialistische Volksgemeinschaftsverständnis, dem die Grenzen des Deutschen Reichs widernatürlich erschienen, war eine wichtige Triebkraft für Aufrüstung, Kriegs- und Rassenpolitik, Bevölkerungsverschiebung und Massenmord. Der Begriff wurde von der völkischen Wissenschaft verwendet, um ein nationalsozialistisch erwecktes, geprägtes und geführtes Volk zu bezeichnen. Er fängt damit nicht nur den Erlebnischarakter des Nationalsozialismus ein, wie er in einer Vielzahl ‚konkreter Ordnungen‘ verwirklicht wurde, sondern hatte darüber hinaus eine sinnstiftende, quasi-religiöse Funktion. Eine besondere Bedeutung erlangte die Idee der Volksgemeinschaft in der Rechtswissenschaft und über diese in der nationalsozialistischen Rechtspraxis. Mit der Volksgemeinschaft wurde die Auflösung verbindlicher Rechtsnormen vollzogen und die vom nationalsozialistischen Maßnahmenstaat geforderte Willkür im Rechtssystem verankert. Über die hier beschriebenen Zusammenhänge sollte nicht übersehen werden, dass Volksgemeinschaft kein ausschließlicher Begriff der völkischen Wissenschaft ist, sondern vor 1933 und vereinzelt nach 1945 in einem anderen Sinne gebraucht wurde. Das Wort Volksgemeinschaft lässt sich bis auf eine zeitgenössische Übersetzung John Lockes zurückführen, und seine Verwendung ist kein hinreichendes Indiz für völkisches Gedankengut. Um eine solche Zuordnung vornehmen zu können, bedarf es vielmehr einer konkreten Analyse der Art und Weise der Begriffsverwendung und des Kontextes im Einzelfall.

Norbert Götz

1 Zitat: Fritz Reinhardt, Vom Wesen der Volksgemeinschaft, in: Hans-Heinrich Lammers/Hans Pfundtner (Hg.), Grundlagen, Aufbau und Wirtschaftsordnung des nationalsozialistischen Staates, Bd. 1, Berlin 1936, Beitrag 8, S. 1–17, 4; zum demokratischen Gründungsmythos: Gunther Mai, ‚Verteidigungskrieg‘ und ‚Volksgemeinschaft‘. Staatliche Selbstbehauptung, nationale Solidarität und soziale Befreiung in Deutschland in der Zeit des Ersten Weltkrieges (1900–1925), in: Wolfgang Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg: Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, S. 583–602, 593; vgl. allgemein, auch zu allen weiteren, was hier nicht ausführlich belegt werden kann: Norbert Götz, Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim, Baden-Baden 2001, oder die zusammenfassende Perspektivierung: Norbert Götz, Die nationalsozialistische Volksgemeinschaft im synchronen und diachronen Vergleich, in: Detlef Schmiechen-Ackermann (Hg.), ‚Volksgemeinschaft‘: Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im ‚Dritten Reich‘? Zwischenbilanz einer kontroversen Debatte, Paderborn 2012, S. 55–67. 2 John Locke, Vom menschlichen Verstande. Zu leichtem und fruchtbarem Gebrauch zergliedert und geordnet von Gottlob August Tittel, Mannheim 1791, S. 41f.; vgl. John Locke, Works, vol. 1, London 1751, S. 17. 3 Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, Berlin 1840. S. 22. 4 Zitat: Georg Mehlis, Führer und Volksgemeinschaft, Berlin 1941, S. 58; zur festgeschriebenen semantischen Struktur: Fritz Gschnitzer, Reinhart Koselleck, Bernd Schönemann und Karl Ferdinand Werner, Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7: Verw–Z, Stuttgart 1992, S. 141–431, 391.

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5 Richard Böckh, Der Deutschen Volkszahl und Sprachgebiet in den europäischen Staaten. Eine statistische Untersuchung, Berlin 1869, S. 5. 6 Zum supranationalen Volksgemeinschaftsverständnis: Norbert Götz, German-Speaking People and German Heritage. Nazi Germany and the Problem of Volksgemeinschaft, in: Krista O’Donnell/Renate Bridenthal/Nancy Reagin (Hg.), The Heimat Abroad. The Boundaries of Germanness, Ann Arbor 2005, S. 58–81; zur Volkswirtschaftslehre: Kurt Ammon, Volksgemeinschaftswirtschaft, in: Volksspiegel 2 (1935), S. 46–48. 7 Ernst Krieck, Völkisch-politische Anthropologie, Bd. 1: Die Wirklichkeit, Leipzig 1936, S. 74; Georg Weippert, Der soziologische Aufbau der Volksgemeinschaft, in: Der Volksspiegel 1 (1934), S. 62–67, 66f. 8 Max Hildebert Boehm, ABC der Volkstumskunde. Der Begriffsschatz der deutschen Volkslehre, Potsdam 1936, S. 85; ders., Das eigenständige Volk. Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaften, Göttingen 1932, Zitate S. 181, 38, zur Sprache: 235; zum ‚Volkswissenschaftlichen Arbeitskreis‘ siehe: Ulrich Prehn. ‚Volksgemeinschaft im Abwehrkampf‘: Zur Organisation und Politik des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA) in der Weimarer Republik. Magisterarbeit, Manuskript. Hamburg 1997, S. 24. 9 Boehm, Das eigenständige Volk, S. 185f.; Mehlis, Führer und Volksgemeinschaft, S. 84; Reinhard Höhn, Vom Wesen der Gemeinschaft. Vortrag gehalten auf der Landesführerschule II, Lobeda, und der Reichsführerschule des Deutschen Arbeitsdienstes, Berlin 1934, S. 33. 10 Mehlis, Führer und Volksgemeinschaft, S. 87, 101; Boehm, Das eigenständige Volk, S. 185f. 11 Boehm, Das eigenständige Volk, S. 161. 12 Herbert Lemmel, Die Volksgemeinschaft. Ihre Erfassung im werdenden Recht, Stuttgart 1941, S. 8; zur konkreten Ordnung explizit: Friedrich Kelter, Das Volk als Grundbegriff der Staatslehre. Bemühung um einen Beitrag zur nationalsozialistischen Staatswissenschaft, Lünen 1936, S. 85 (das Konzept geht zurück auf: Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934); zum Einzellen: Ernst Lehmann, Volksgemeinschaft aus Nachbarschaften. Eine Volkskunde des deutschen Nachbarschaftswesens, Prag 1944, S. 176. 13 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1934 (zuerst 1930), S. 591f., 595; Hermann Göring, Die Rechtssicherheit als Grundlage der Volksgemeinschaft, Hamburg 1935, S. 9. 14 Michael Stolleis, Gemeinschaft und Volksgemeinschaft. Zur juristischen Terminologie im Nationalsozialismus, in: VfZ 20 (1972), S. 16–38, 18–20, 27f., 31f. 15 Karl Larenz, Rechtsperson und subjektives Recht. Zur Wandlung der Rechtsgrundbegriffe, in: Georg Dahm u.a., Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, Berlin 1935, S. 225–260, 241, Anm. 27. 16 Reinhard Höhn, Volksgemeinschaft und Wissenschaft, in: Süddeutsche Monatshefte 32 (1934/ 35), S. 2–7; vgl. insbesondere auch das Ernst Krieck zugeeignete Werk: Reinhard Höhn, Rechtsgemeinschaft und Volksgemeinschaft, Hamburg, 1935, S. 7f., 49f., 72–80 sowie 71f. (zur Auseinandersetzung mit Larenz); der Kritiker Höhns: Kelter, Das Volk als Grundbegriff, S. 51 Anm. 1, 53 Anm. 1. 17 Reinhard Höhn, Volk, Staat und Recht, in: ders., Theodor Maunz/Ernst Swoboda, Grundfragen der Rechtsauffassung, München 1938, S. 1–27, 8, 16, 22. 18 Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, Baden 1939, S. 512; vgl. Günther Küchenhoff, Volksgemeinschaft und Reich (Gemeinschaftsgedanke und Staatsgestaltung), in: E. Volkmar (Hg.), Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd. 8, Berlin 1937, S. 773–794. 19 Wolfgang Siebert, Vom Wesen des Rechtsmissbrauchs. Über die konkrete Gestaltung der Rechte, in: Georg Dahm u.a., Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, Berlin 1935, S. 189–224, 201. 20 Höhn 1938:15; vgl. Wolfgang Naucke, Die Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbots 1935, in: NS-Recht in historischer Perspektive, München 1981, S. 71–108.

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21 Reichsrechtsamt der NSDAP (Hg.), Nationalsozialistische Leitsätze für ein neues deutsches Strafrecht, 1. Teil, Berlin 1935, S. 11, 16, 23, 37, 42f.; zum Entwurf von 1939: Hans-Ludwig Schreiber, Die Strafgesetzgebung im ‚Dritten Reich‘, in: Ralf Dreier und Wolfgang Sellert (Hg.), Recht und Justiz im ‚Dritten Reich‘, Frankfurt a.M. 1989, S. 151–179, 159. 22 Justus Wilhelm Hedemann/Heinrich Lehmann/Wolfgang Siebert, Volksgesetzbuch. Grundregeln und Buch I: Entwurf und Erläuterungen, in: Werner Schubert (Hg.), Akademie für Deutsches Recht 1933–1945. Protokolle und Ausschüsse, Bd. III, 1: Volksgesetzbuch, Teilentwürfe, Arbeitsberichte und sonstige Materialien, Berlin 1988 (zuerst 1942), S. 511–621, 515, 517, 519. 23 Reichsgesetzblatt I (1933), S. 780–788; ebd. (1941), S. 383f.

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Volkskunde Dass das heutige Vielnamenfach Volkskunde (Europäische Ethnologie, Empirische Kulturwissenschaft, Kulturanthropologie) erst bei der Neuauflage des Handbuchs der völkischen Wissenschaften zur Ehre eines eigenen Artikels kommt, lässt – trotz des einschlägigen Namens – seine Marginalität im Kanon der Kulturwissenschaften erahnen.1 Das gilt freilich nicht für seine mit dem Völkischen vielfältig verzweigten Inhalte. In den sich nationalisierenden Gesellschaften des 19. Jahrhunderts war „Volk“ als Bezugspunkt einer Herkunftsgeschichte des Eigenen wichtig geworden. Um die Wende zum 20. Jahrhundert dann hatte Volkskunde ihren Ort vor allem in wissenschaftlichen Gesellschaften, war Volkskultur als Begriff geprägt worden. Die bürgerlichen Vereinigungen, getragen von Akademikern und ambitionierten Laien, breit interessiert und zumeist regional ausgerichtet, hatten eigene Publikationsorgane (Hessische Blätter für Volkskunde, Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde). In Berlin war 1891 mit der Zeitschrift des Verbands für Volkskunde (heute Zeitschrift für Volkskunde) ein zentrales Fachorgan entstanden. Der 1904 gegründete Gesamtverband, der Verband der Vereine für Volkskunde, sollte die Arbeit des Fachs koordinieren und dem Fach Anerkennung in Form eigener Lehrstühle erwirken. Otto Lauffer war 1919 an der Universität Hamburg Inhaber des ersten Lehrstuhls für Volkskunde in Deutschland geworden. Lauffer, seit 1922 zugleich Gründungsdirektor des Museums für Hamburgische Geschichte, steht für die Eckpunkte des Fachs in dieser Zeit, die Sammlung und Vermittlung volkskundlichen Wissens. Ähnliches lässt sich von Adolf Hauffen sagen, der zur gleichen Zeit Professor für deutsche Volkskunde, Sprache und Literatur an der (deutschen) Karl-Ferdinands-Universität in Prag geworden war und dessen Aktivitäten zwischen Dokumentation und Popularisierung, etwa des Volkslieds, lagen. Bis Anfang der 1930er Jahre gelang es nicht, Volkskunde wirklich an den Universitäten zu etablieren. Das Fach war dort vor allem von Germanisten nebenamtlich wahrgenommen und in vielen Fällen deren Venia um Volkskunde erweitert worden. Überhaupt waren es vielfach andere Wissenschaften, deren Mittun dem Fach allmählich zu Konturen verhalf, so dass die Orientierung an der „richtigen“, vollen Professur vordergründig bleibt. Vor allem volkskundliche Aktivitäten wie die Gründung von Volksliedarchiven (Wien 1904) und Großprojekte, wie das schweizerisch-deutsche Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens (1927–1942), seit 1917 die Volkskundliche Bibliographie oder später der Atlas der Deutschen Volkskunde2, formten das Bild von Volkskunde. Der Atlas, der Kulturraumforschung verpflichtet, war 1928 von einer Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, der Vorgängerin der →Deutschen Forschungsgemeinschaft, finanziert worden. Das Fach wurde an Lehrerbildungsanstalten unterrichtet und verblieb vielfach im Bereich von Lehrerschaft und Heimatkunde. Eduard Sprangers Büchlein vom

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„Bildungswert der Heimatkunde“ akzentuiert das damalige Interesse und markiert mit dem pädagogischen Akzent zugleich einen wichtigen Aspekt des argumentativen Umfelds.3 Volkskunde als Heimatkunde meinte das Bescheidene, eine Aufmerksamkeit für das Nahe, forderte und förderte eine „Andacht zum Unbedeutenden“ mit Verweis auf die Brüder Grimm. Heimatliches als Andachtsgegenstand verband sich mit einer kulturpessimistischen Haltung gegenüber modernen Lebensformen, wie sie Gebildete und viele Intellektuelle als Entfremdung wahrgenommen hatten und wie sie sich auch in der Literatur als Ausdruck der Zeit abbildete und alt-neue Gemeinschaftsbilder formierte. Die Lehrerschaft war es auch, die für Umfragen herangezogen wurde und sich auch über die Gegenstände des Fachs, da häufig vor Ort, Ansehen verschaffte. Die Zwischenkriegszeit lässt sich als die hohe Zeit des Völkischen fassen. Nach Großmachtgestus und verlorenem Krieg gab es ein Milieu, in dem ein Rekurs auf das Einfache, Lokale, den Bezug auf den „Mutterboden“ das Denken bestimmte. In diese Grundstimmung fügte sich eine Vorstellung vom Eigenen, das es zu entdecken und zu bewahren gelte. Erziehung, genauer noch Volkserziehung, war eine zwar nicht immer beredete, hintergründig aber immer mitgedachte Anwendung von Volkskunde. Lange bevor der Begriff der „angewandten Volkskunde“ in den 1930ern (Viktor von Geramb) geprägt worden war, sahen sich Institutionen und Verbände dieser Idee verpflichtet und suchten sie in einer Erneuerung der Volkskultur durch Heimatbildung. Erst in den 1930er Jahren hatte die „Deutsche Volkskunde“ universitär ihre Position stabilisieren können. Ordentliche Professuren waren in Deutschland – ausgenommen die Hamburger Lösung von Professur und Museumsdirektion – erst in der NS-Zeit eingerichtet worden. Nun erschienen mehrbändige Handbücher.4 Eine volkserzieherische und dabei rassistische Ausrichtung wurde zwar nicht überall dominierend, doch verlor das Fach vielerorts den Kontakt zur Wissenschaftlichkeit durch seine Kontinuitätsprämisse und die Vorstellung eines sich dauerhaft durchhaltenden und im Lebensraum verwurzelten Stammes- und Nationalcharakters. In diesen Kreisen wurden die Thesen aus der Schule von Rudolf Much5 und der österreichischen Volkskunde geschätzt, wie dies eine von Eugen Fehrle 1930 besorgte Festschrift für Much dokumentiert.6 Aus dessen Schule stammte auch der Volkskundler und in den 1950er Jahren als Altgermanist in Wien hochgeehrte Otto Höfler7, Hauptvertreter einer Theorie germanischer Männerbünde, deren Wesen sich bis in die Gegenwart in kultureller Kontinuität durchgehalten habe.8 Höfler, nach seinem Weggang aus Kiel von 1938–1945 Inhaber eines Lehrstuhls für germanische Philologie und Volkskunde in München, wollte mit seiner Männerbundtheorie das Fach vom „Katalog der Harmlosigkeiten“ lösen und mit der großen, „politischen“ Geschichte verknüpfen.9 Seinen altgermanischen Männerbünden sprach er identitätsstiftende Wirkung auf die zeitgenössische deutsche Kultur zu, was insbesondere bei der SS Anklang fand, wo diese sich als Orden verstand. Mit Höfler befreundet war Richard Wolfram, der sich 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deut-

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sche Reich als früher „Illegaler“, als Nationalsozialist (seit 1932) offenbart hatte (die NSDAP war im austrofaschistischen Ständestaat seit 19. Juni 1933 verboten). Wolfram war später in der Forschungs- und Lehrgemeinschaft „→Ahnenerbe“ Heinrich Himmlers tätig; der hatte eine Volkskunde auf rassischer Grundlage gefordert und gefördert. In den 1920er Jahren kann man von einer Konkurrenz um das Präfix „Volk“ reden. Eine Fülle von Institutionen führte „Volk“ im Namen. Volkstum, der von →Ernst Moritz Arndt (1803) geprägte Begriff, wurde zur Kampfformel für Belange innerhalb und mehr noch außerhalb Deutschlands. Deutschsprachige Ansiedlungen vor allem in Ost- und Südosteuropa aber auch in Übersee wurden von völkischen Gruppierungen wie den Lehrergilden, aber auch bündischen Gruppen, auch in ihnen war die Lehrerschaft wichtig, oft mit Klampfe und Fidel aufgesucht. Ziel war es einerseits, dort das alte Volkstum aufzufinden, das sich in „Sprachinseln“ rein erhalten habe, zugleich sollte dieses Volkstum in der Ferne in seinem Bestand gestärkt werden.10 Akademische Dozentenlager in diesen Gebieten wurden von Wien oder Tübingen aus organisiert. Oft fiel in diesem Zusammenhang der Begriff des Vorpostens. In nahezu allen Unterrichtsfächern, vor allem aber in Deutsch, Geschichte und Erdkunde wurde in den 1920er Jahren das „Grenz- und Auslandsdeutschtum“ thematisiert.11 Hierhin gehören Begriff und Vorstellung der Sprachinsel (→Walter Kuhn 1934). Adolf Hauffen hatte den Begriff schon 1895 in seiner Studie über die Gottschee verwendet.12 Nun aber erhielt der Begriff politische Brisanz und (ver-)führte zur Vorstellung von der Höherwertigkeit der germanischen Kultur, wie das etwa der sudetendeutsche Volkskundler →Bruno Schier mit seiner These vom „west-östlichen Kulturgefälle“ formuliert und der daran eine „kulturbringende Sendung“ der Deutschen im Osten geknüpft hatte.13 Die deutsche Besetzung der böhmischen Länder erhöhte nicht nur dort die Position der „Volksforschung“. Dabei verschwammen die Grenzen zu rassekundlich angelegten Einrichtungen. Das 1917 gegründete Institut für Auslandsdeutschtum in Stuttgart, 1945 als belastet kassiert und 1949 als Institut für Auslandsbeziehungen neu gegründet, gehört in diese Reihe und hatte lange noch völkische Texte publiziert. Erinnert sei hier an die erneuten Auflagen der Dissertation von →Karl Stumpp aus den späten 1920er Jahren.14 Das Institut hat Stumpp, der sich auch als Volkskundler15 bezeichnet hatte, 1975 mit seiner Verdienstmedaille ausgezeichnet. Die →Leipziger Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung (1926) nahm mit Boden und Volk zwei zentrale Begriffe der Zeit auf. Kirchlich orientierte Vereine und Institute wie der Deutsche Verband für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege des Schriftstellers Heinrich Sohnrey und seiner Zeitschrift „Die Dorfkirche“ sind zu nennen.16 Der Prälat und Münsteraner Professor für Kirchengeschichte Georg Schreiber, 1935 aus dem Amt entfernt, vertrat eigene Positionen zum „Auslandsdeutschtum als Kulturfrage“ (1929) und zu Volkstum und Kulturpolitik, die eine Heilung der gesellschaftlichen Spaltung mit einer Erneuerung des Volkstums verknüpfen sollten. Auslandsdeutschtum versprach Reliktforschung,

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suggerierte, in den Sprachinseln sei „nicht selten altes Volksgut in der ursprünglichsten Form“ zu finden. Man sprach vom „Sprachinselmenschen“ wie von einer eigenen Gattung und definierte als Aufgabe dieser Sprachinselvolkskunde, die „geistig-seelische, zum Teil auch körperliche Eigenart des Sprachinselmenschen“ zu erforschen.17 Mit dem Satz von Christa Wolf „… aber wann beginnt der Vorkrieg?“ hatte Hermann Strobach auf die lange Inkubationszeit des Völkischen hingewiesen.18 Die Volkskunde hat schon weit vor der NS-Zeit eine lange und in andere Disziplinen diffundierende Vorgeschichte. Schon im 19. Jahrhundert und dann vermehrt in den 1920er Jahren hatten sich um Volk und Volkstum Fächer und Institutionen formiert, Abbild der Vielfalt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen in Deutschland und Österreich. In deren Verlauf war aus der scheinbar harmlosen Eindeutschung des Wortes ‚national‘ in ‚völkisch‘ explosionsartig das Kürzel für eine Geisteshaltung geworden.19 Wissenschaften wie Geographie und Sozialforschung, Germanistik, allerlei Geschichtswissenschaften wie auch Kunstwissenschaften hatten sich der Idee dieser Territorialisierung verschrieben und dann auch ihrer Unterfütterung mit Blut und Rasse bemächtigt, so dass eine Grenzziehung schwer zu vollziehen ist. Als eines der vielen Institute unter dem Raumgedanken wären →Karl-Alexander von Müller und sein Südostinstitut in München zu nennen. Auch der Geograph →Friedrich Metz, zeitlebens der badischen Volkskunde anverwandt (dies vor allem in der Person Johannes Künzigs) und sein auch später in NS-Netzen befangenes →Alemannisches Institut lassen sich für eine völkische Wissenschaft unterm Raumgedanken anführen. Wilhelm Heinrich Riehl und seine „Wissenschaft vom Volke“ wurden in der Zwischenkriegszeit vermehrt in die Fachgeschichte eingespielt und seine „vier großen S, der Grund alles lebendigen Lebens, ein Urgrund“, als ein „durch Stamm, Sprache, Sitte und Siedelung verbundenes Ganzes“, aktualisiert. Metz konnte Anfang der 1950er-Jahre seine Professur wieder einnehmen und auch das Alemannische Institut wieder leiten. Johannes Künzig hatte sich bereits in den 1930er Jahren mit dem Auslandsdeutschtum befasst. Dieses Interesse brachte er um 1950 in die von ihm gegründete „Forschungsstelle für die Volkskunde der Heimatvertriebenen“ ein.20 Man kann von einer gleitenden, weitgehend reibungslosen Anschlussfähigkeit eines Fachs reden, das sich immer wieder auf der abschüssigen Bahn zum Völkischen befand. Völkisch, lange oszillierend und nicht weit entfernt vom auch positiv besetzten Begriff des Volkstümlichen, gehörte zu einem Fach, das lange als eine Liebhaberwissenschaft Gebildeter auch Außenseitern zugänglich gewesen war. Der Gegenstand „Volk“ versprach, Akteure und Agenturen zu nobilitieren und half, die Absolventen der Lehrerbildungsanstalten wenigstens symbolisch zu akademisieren.21 Lehrstühle in Göttingen (der Theologe Eugen Mattiat, ohne Promotion und Habilitation berufen) oder in Heidelberg (der Altphilologe Eugen Fehrle) lassen sich als rein politisch kennzeichnen.

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Ursprungsmythen und Sinnbildforschung wurden zentrale Themen, verwiesen die Volkskunde in die Urgeschichte. Laien wie Karl Theodor Weigel22 sammelten und publizierten fleißig. „Lebendige Vorzeit rechts und links der Landstraße“ (1934) war ein Ergebnis solcher Sammeltätigkeit und verwies zugleich auf deren Beschränkung. →Hans F. K. Günther, der „Rasse-Günther“, wurde vom Wiener Verein für Volkskunde heimlich bereits Anfang der 1930er Jahre zum korrespondierenden Mitglied gewählt. Öffentlich konnte dies erst nach dem „Anschluss“ gesagt werden, den der Verein in seiner Zeitschrift hymnisch bejubelte. Dass auch Günther in den Kreis der Volkskunde aufgenommen worden war, macht deutlich, dass mit Volkskunde oft eher eine Haltung und weniger ein disziplinär gefasster Gegenstand gemeint war. Man kann als ein Beispiel für die Vielfalt völkischer Orientierungen die Zeitschrift „Germanien – Monatshefte für Germanenkunde“ nennen, in der etwa der Benediktinerpater Romuald Pramberger publizierte: „Aus der Landschaft: Auf Wodans Spuren im steierischen Berglande“.23 Pramberger ist auch für die von Richard Wolfram geleitete Lehr- und Forschungsstätte für germanisch-deutsche Volkskunde des SS-Ahnenerbes in Salzburg tätig gewesen. Für die Sinnbilder taugte damals insbesondere das Fachwerk der Häuser, über das wilde Überlegungen angestellt wurden24, die heute noch oder wieder gewusst werden – einfach, weil sie plausibel scheinen.25 Weigel gehörte in das völkisch bewegte Umfeld der Wandervögel. Andere völkisch Infizierte, wie Guido von List, Burgherr im niederösterreichischen Waldviertel mit seiner Lehre vom Wuotanimus, der Ariosoph Jörg Lanz von Liebenfels und Franz Xaver Kießling (1859–1940), der die Überlegenheit der arischen Rasse postulierte, schrieben Texte zwischen Raunen und Aggression. Kießling war mit Georg Ritter von Schönerer und Guido von List befreundet, und war beides, Heimatforscher und Museumsgründer und zugleich völkisch-deutschnationaler Agitator und Funktionär der Turnbewegung. Als eine Neuauflage dieser Ideen einer esoterischen Rechten hat jüngst der ins Ökologische eingemischte Artamanen-Orden in Brandenburg von sich reden gemacht.26 In der späteren Bundesrepublik waren Professuren nach und nach wieder eingerichtet worden – bis auf die Heidelberger Professur, aus der man den explizit völkisch-nationalsozialistischen Eugen Fehrle entfernt hatte.27 In Marburg entspann sich eine Diskussion mit dem Ziel, das Fach abzuschaffen und es in die Soziologie einzugliedern.28 In der späteren DDR galt deutsche Volkskunde nachhaltig als diskreditiert. Unter der Leitung von Adolf Spamer wurde zwar noch im November 1945 das Institut für Volkskunst und Volksbrauch gegründet und 1947 als Institut für Volkskunde der Pädagogischen Fakultät der TU Dresden angegliedert. Doch erst seit 1951 war in Berlin der Finno-Ugrist Wolfgang Steinitz dabei, die völkische deutsche Volkskunde als eine „deutsche Volkskunde demokratischen Charakters“ zu neu zu positionieren. Dem Volk attestierte er schöpferisches Potential, in Anlehnung an jene Produktionstheorie, die sich von den Thesen Hans Naumanns und seiner Rezeptionstheorie so deutlich absetzte.29 Auch suchte Steinitz Volks- und Völkerkunde in den 1950er Jahren in einem gemeinsamen Universitätsinstitut in Berlin zu verbin-

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den. Daneben, oder genauer vor allem, wurde Volkskunde in der Akademie der Wissenschaften der DDR und dessen Außenstellen in den Bezirken betrieben. Die damals von der Akademie als interdisziplinär angelegten Komplexuntersuchungen sind bis heute unterbewertet geblieben.30 In Österreich war Richard Wolfram, Professor seit 1940 und dann in der →Südtirol-Kommission des SS-Ahnenerbes führend tätig, zentrale Figur nicht nur der Kommission, sondern auch des Fachs in der „Ostmark“. Die Kommission sollte das Kulturgut der Südtiroler dokumentieren, um dann den umgesiedelten Südtirolern in ihren neuen Siedlungsgebieten im großen „Reich“ gereinigt wieder zur Verfügung zu stehen.31 Prekärerweise ist diese Aktion im Zusammenhang mit der „Option“, eine Folge des Hitler-Mussolini-Abkommens von 1939, immer wieder als die größte Feldforschungsaktion des Fachs apostrophiert worden. Wolfram wurde 1954 die venia legendi wieder zuerkannt, er wurde 1961 Ordinarius und später Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.32 Gemeinsam mit anderen NS-belasteten Volkskundlern wie →Adolf Helbok – der benannte 1933 die „völkische Blutsgemeinschaft“ als Subjekt der Geschichte und übernahm 1939 an der „Deutschen AlpenUniversität“ Innsbruck den neu eingerichteten „Lehrstuhl für Volkskunde und Volkstumsgeschichte“ – oder Ernst Burgstaller, Spezialist für Felsbilder und als Leiter des „Instituts für Landeskunde“ in Oberösterreich Autorität im Fach, nahmen sie seit den 1950er Jahren außeruniversitäre Positionen wahr, übernahmen auch universitäre Lehraufträge. Diese Positionen hatten sich in Österreich nach langen Vorarbeiten in der 1955 gegründeten „Gesellschaft für den Volkskundeatlas in Österreich“ eröffnet, die dann als Projekt der Akademie der Wissenschaften etatisiert wurde. Andere hatten in Museen einen Arbeitsplatz gefunden (Karl Haiding in Stainz/Stmk.) Als bis heute populäres Bildungswissen hat sich die zu Anfang der 1920er Jahre formulierte These Hans Naumanns, Volkskultur sei „gesunkenes Kulturgut“, abgelagert.33 Mit seiner Behauptung, Kulturgut werde in der Oberschicht gemacht, einer Variante der Zwei-Schichten-Lehre, blieb Naumann im Fachdiskurs ebenso isoliert wie im Nationalsozialismus, dem er sich anzudienen suchte. Publizistisch taten sich Verlage hervor, hier besonders der Verlag von Eugen Diederichs, der nicht nur wissenschaftliche Texte publizierte und einen Lehrauftrag für Hans Naumann in Jena finanziert hatte, sondern auch mit seinen Märchen-Editionen hervorgetreten war. Mit seiner populären Thule-Reihe hatte er der nordischen Gestimmtheit ein Forum geboten.34 Lange hatte sich nach 1945 die Legende von den zwei Volkskunden gehalten, die besonders in der ersten Zusammenfassung der Erträge als eine Rechtfertigung zum Weitermachen von Will-Erich Peuckert und Otto Lauffer tradiert wurde.35 Es war die Rede von einer kontaminierten Volkskunde, die den Namen nicht verdient habe und einem guten Strang des Fachs, der still und leise auf den klassischen Feldern konsequent weiter gearbeitet habe.36 Die „Volkskunde der Schweiz“ von Ri-

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chard Weiß37 trug mit der Betonung von Gemeinschaft und Tradition als Pfeiler der Volkskultur dazu bei, ältere Ansätze nur wenig modifiziert weiterzuführen. Dem wurde in einer Tübinger Ringvorlesung 1966 entschieden widersprochen. Als Kritik des Völkischen hatte 1964 Hermann Bausinger über „Volksideologie und Volksforschung“ die nationalsozialistische Volkskunde und ihre Verstrickung in die völkische Denkwelt behandelt38, Wolfgang Emmerich hatte 1968 die „Volksforschung im Dritten Reich“ als „germanistische Volkstumsideologie“ benannt und Utz Jeggle hatte in seiner Studie über „Judendörfer in Württemberg“39 gezeigt, was durch die praktizierte Ideologie des Völkischen verloren gegangen war. In diese Verlustgeschichte gehört auch das Abbrechen der jüdischen Volkskunde.40 Volkskunde und Nationalsozialismus wurden auf einer Tagung 1986 diskutiert.41 Als Standardwerk zur Volkskunde im Nationalsozialismus gilt der voluminöse Band „Völkische Wissenschaft“42, der das Fach mit einem starken österreichischen Akzent als völkisch markierte. Inzwischen haben wohl alle Universitäten Dokumentationen auf den Weg gebracht, die das Fach, sofern es existierte, behandeln.43 Konkurrierende kulturpolitische NS-Organisationen hatten sich einer dienstbaren Volkskunde bemächtigt. Die Rivalität der Gruppierungen wirkte sich auch auf Karrieren aus, je nachdem, welche Richtung in diesem Chaos (Michael Kater) gerade dominierte. Eine volkserzieherische Volkskunde, Vorstellungen eines dauerhaften, in Rasse und Lebensraum wurzelnden National- und Stammescharakters dominierten; Volkskunde war eine Wissenschaft des Stationären. Staatlich organisierte Brauchtumspflege, Wissen über traditionelle Feste, bäuerliches Bauen, Maibaum und Sonnenwendfeiern hielten Einzug im Sport, in Verbänden und Schulen und Museen. Viele Maibaumbräuche in Deutschland und Österreich verdanken ihre Lebendigkeit dieser Zeit. In Kiel war das Fach erst seit Mitte der 1960er Jahre mit einem Lehrstuhl und als Institut eingerichtet worden. Die Webseite des Instituts zeigt, wie sehr das Fach durch andere Disziplinen konstituiert wurde. In die Genealogie der Fachgeschichte zählt man Germanisten wie Otto Mensing, Gustav Friedrich Meyer, Otto Höfler, Kurt Ranke und Walther Steller, dazu kommen der Jurist Eugen Wohlhaupter und die Kunsthistoriker Ernst Schlee und Alfred Kamphausen, wie auch der Geograph Hans Schwalm. Viele Volkskundler (bis dahin eine Männerwissenschaft!) hatten sich von der Wahrnehmung ihrer Themenfelder (Gemeinschaft, der verbalen Favorisierung des Bauerntums und dem Lobpreis der Vielfalt von Tracht und Brauch, der Volkstumspflege) angesprochen gefühlt. Einige dienten sich den herrschenden Personen und Institutionen an, in denen sie sich, sprachlich verwandt, aufgehoben fühlten. Manche arrangierten sich, andere zogen sich auf wenig spektakuläre Forschungsgebiete zurück. So bleiben die Biografien von Personen und Institutionen wichtig, denn das Bild von den zwei Volkskunden hat sich lange gehalten, weil es einer heil gebliebenen Volkskunde bedurfte, um weiter zu machen. Auf der anderen Seite waren in

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das Völkische des Fachs mehr Menschen verwickelt, als es der erste Augenschein vermuten ließ.44 Personelle Kontinuitäten waren in Deutschland und Österreich gewöhnlich. Manche Ordinarien haben große Projekte auf den Weg gebracht, wie etwa Kurt Ranke mit der Enzyklopädie des Märchens (1960–2009), die als bestes Nachschlagewerk zum Fach gelten kann. Rankes Zugehörigkeit zur SA war unbekannt geblieben und offenbar agierte er auch 1964 in der Société Internationale d’Ethnologie et de Folklore (SIEF), der internationalen Wissenschaftsorganisation des Fachs, wie gehabt.45 Volkskunde als völkische Wissenschaft lässt sich als eine Aktion der Antimoderne verstehen, als eine Form der Reaktion auf eine sich liberalisierende, unverstandene und ungeliebte Moderne. Ihre Begrifflichkeiten waren an Werten orientiert, die der Moderne scheinbar zuwiderlaufen und doch so sehr zu ihr gehören: Gemeinschaft und Tradition, historische Kontinuitäten als kulturelle Linien, auch eine Irrationalität des Mythos, der als Rationalität ausgewiesen wird. Nachsatz: Das Wort völkisch soll, weil es ein „zugehöriges Attribut“ zu „Volk“ sei, recht unverfroren rehabilitiert werden: Man habe dem Wort durch einen „negativen Kontext“ 70 Jahre lang Unrecht getan.46 Das Wort war der Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts geläufig, als im bürgerlichen Wandervogel zivilisationskritische, reformpädagogische und romantische Ideen diskutiert oder auch als homoerotisch-männlich gelebt wurden. Heute ist es angefüllt mit einer Wurzelmetaphorik, die Menschen und Völker dort belassen will, wo sie ‚wurzeln‘, sesshaft sind, und gehört so zur Vorstellung vom eigenen Boden, als dem „geschichtlich gewachsenen Gebiet“. Heimat, immer wieder der Volkskunde zugeordnet, erlebt eine Renaissance.47 Völkische Phantasien sind dabei nicht aus der Welt und lassen sich mit dem Fundus alt-volkskundlicher Wissensbestände immer wieder anfüllen.

Konrad Köstlin

1 Ingo Haar (Hg. u.a.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, München 2008. Im Handbuch taucht das Fach lediglich im Verweisregister auf, figuriert dort aber auffallend prominent. 2 Friedemann Schmoll, Die Vermessung der Kultur. Der „Atlas der deutschen Volkskunde“ und die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1928–1980, Stuttgart 2009. 3 Eduard Spranger, Vom Bildungswert der Heimatkunde, Stuttgart 1922. 4 Wilhelm Peßler (Hg.), Handbuch der Deutschen Volkskunde. 3 Bde, Potsdam 1935; Adolf Spamer (Hg.), Die deutsche Volkskunde, 2 Bde, Berlin 1934 und 1935. 5 Much war seit 1926 Förderer des Akademischen Vereins der Germanisten in Wien. Der Studentenverein schloss Frauen von der Mitgliedschaft aus und hatte einen Arierparagraphen. Muchs Büste steht im Arkadenhof der Wiener Universität. 6 Eugen Fehrle (Hg), Ernte aus dem Gebiete der Volkskunde, als Festgabe dem verehrten Meister Rudolf Much zum 70. Geburtstag am 7. Oktober 1932, dargebracht von reichsdeutschen Mitforschern, Bühl 1932. 7 Harm-Peer Zimmermann, Höfler, Otto Eduard Gottfried Ernst. Pseudonym: Hugin und Munin, in: Christoph König (Hg.), Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, Berlin u.a. 2003, S. 763–766.

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8 Otto Höfler, Kultische Geheimbünde der Germanen, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1934 (mehr nicht erschienen; (=Habilitationsschrift, Wien 1931, Titel: „Totenheer – Kultbund – Fastnachtsspiel“). 9 Hierzu auch die Kontroverse zwischen Otto Höfler, Volkskunde und politische Geschichte, in: HZ 162 (1940), S. 1–18 und Fritz Rörig, Volkskunde, Hanse und materialistische Geschichtsschreibung, in: Historische Zeitschrift 163 (1941), S. 490–502. Während Rörig den ökonomischen Zweckverband sah, betonte Höfler den Primat der Gemeinschaftskräfte und der geübten Rituale. 10 Petr Luzoviuk, Interethnik im Wissenschaftsprozess. Deutschsprachige Volkskunde in Böhmen und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen, Leipzig 2008. 11 Rudolf Jaworski, Die „Kunde vom Grenz- und Auslandsdeutschtum“ im Schulunterricht der Weimarer Republik, in: Cornelia Eisler, Silke Göttisch-Eltern (Hg.), Minderheiten in Europa der Zwischenkriegszeit. Wissenschaftliche Konzeptionen, mediale Vermittlung, politische Funktion, Münster/New York 2017, S. 117–132.. 12 Adolf Hauffen, Die deutsche Sprachinsel Gottschee, Graz 1895. 13 Bruno Schier, Hauslandschaften und Kulturbewegungen im östlichen Mitteleuropa, Reichenberg 1932. 14 Karl Stumpp, Die Auswanderung aus Deutschland nach Rußland in den Jahren 1763 bis 1862, 20099 (=Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland). 15 Die Bezeichnung Volkskundler ist nicht geschützt, sie ist frei oder durch Zuspruch verfügbar. 16 Angela Treiber, Volkskunde und evangelische Theologie: die Dorfkirchenbewegung 1907–1945, Köln u.a. 2004. 17 Gustav Jungbauer, Deutsche Volkskunde mit besonderer Berücksichtigung der Sudetendeutschen, Brünn u.a. 1936, S. 22. 18 Hermann Strobach, „…aber wann beginnt der Vorkrieg“. Anmerkung zum Thema Volkskunde und Faschismus (vor und um 1933), in: Helge Gerndt (Hg.), Volkskunde und Nationalsozialismus, München 1987, S. 23–38. 19 Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache-Rasse-Religion, Darmstadt 2001. 20 Diese trug das später den Namen „Johannes-Künzig-Institut für ostdeutsche Volkskunde“. Der nunmehrige Name der vom Land Baden-Württemberg getragenen Einrichtung lautet „Institut für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa (IVDE)“. 21 Jörn Christiansen, Die „Heimat“. Analyse einer regionalen Zeitschrift und ihres Umfeldes, Neumünster 1980. 22 Ulrich Nußbeck, Karl Theodor Weigel und das Göttinger Sinnbildarchiv. Eine Karriere im Dritten Reich. Beiträge zur Volkskunde in Niedersachsen 7 (1993). 23 1 (1940). 24 https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/mitt-dgamn/article/viewFile/17133/10950 (20.12.2016). 25 http://www.parzifal-ev.de/?id=480 (10.12.2016). Die Seite des Parzival e.V. bietet „Alles Wissenswerte zur europäischen Frühgeschichte – Mythologie und verborgenem Wissen der Gegenwart!“ 26 https://www.antifainfoblatt.de/artikel/von-%C3%B6kobauern-und-artamanen (31.12.2016). 27 Peter Assion, Was Mythos unseres Volkes ist. Zum Werden und Wirken des NS-Volkskundlers Eugen Fehrle, in: Zeitschrift für Volkskunde 1985, S. 220–244; Eugen Fehrle, Badische Volkskunde, Frankfurt a.M. 1979 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1924). 28 Heinz Maus, Zur Situation der deutschen Volkskunde, in: Die Umschau 1/2 (1946/47), S. 349– 359. 29 Wolfgang Steinitz, Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten. Bd. 1, Berlin 1954, Einleitung. 30 Ute Mohrmann, Die Volkskunde des Neubeginns während der fünfziger Jahre in der DDR im Kontext damaliger Kulturpolitik, in: Zeitschrift für Volkskunde 87 (1991), S. 196–206; Konrad Köst-

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lin, DDR-Volkskunde: die Entdeckung einer fernen Welt, in: Zeitschrift für Volkskunde 87 (1991), S. 225–243. 31 Petr Lozoviuk, Die Fersentaler in Südböhmen. Zum Hintergrund einer gescheiterten Umsiedlung, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LVI/105 (2002), S. 149–167. 32 Konrad Köstlin, Erinnerungsorte? Südtirol, die „Kulturkommission“ und Richard Wolfram, in: Herbert Nikitsch (Hg. u.a.), Hanuschgasse 3. 50 Jahre Institut für Europäische Ethnologie. Wien 2014, S. 8–25. 33 Hans Naumann, Primitive Gemeinschaftskultur. Beiträge zur Volkskunde und Mythologie, Jena 1921. 34 Christa Niem, Eugen Diederichs und die Volkskunde. Ein Verleger und seine Bedeutung für die Wissenschaftsentwicklung, Münster u.a. 2015. 35 Will-Erich Peuckert/Otto Lauffer, Volkskunde. Quellen und Forschungen seit 1930, Bern 1951. 36 Reinhard Bollmus, Zwei Volkskunden im Dritten Reich. Überlegungen eines Historikers, in: Gerndt, S. 49–60. 37 Richard Weiss, Volkskunde der Schweiz. Ein Grundriss, Erlenbach-Zürich 1946, S. 11. 38 Hermann Bausinger, Volksideologie und Volksforschung, in: Zeitschrift für Volkskunde 61 (1965), S. 177–204. 39 Utz Jeggle, Judendörfer in Württemberg, Tübingen 1969. 40 Christoph Daxelmüller, Jüdische Volkskunde in Deutschland zwischen Assimilation und neuer Identität. Anmerkungen zum gesellschaftlichen Bezug einer vergessenen Wissenschaft, in: Wolfgang Jacobeit (Hg. u.a.), Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien u.a. 1994, S. 87–114. 41 Helge Gerndt (Hg.), Volkskunde und Nationalsozialismus. Referate und Diskussionen einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 1986, München 1987. 42 Jacobeit (Hg. u.a.), Völkische Wissenschaft. 43 Hartmut Lehmann (Hg. u.a.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften: Fächer, Milieus, Karrieren, Göttingen 2004; Harm-Peer Zimmermann, Vom Schlaf der Vernunft. Deutsche Volkskunde an der Kieler Universität 1933–1945, in: Hans-Werner Prahl (Hg.): Uni-Formierung des Geistes. Universität Kiel im Nationalsozialismus, Bd. 1. Kiel 1995, S. 171–274; Mitchell G. Ash (Hg. u.a.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus: das Beispiel der Universität Wien, Wien 2014. 44 Claus Leggewie, Von Schneider zu Schwerte, München 1998. 45 Bjame Rogan, When the Folklorists Won the Battle but Lost the War. The Cumbersome (Re-)Birth of SIEF in 1964, in: Cultural Analysis 13 (2014), S. 23–50. 46 https://www.welt.de/politik/deutschland/article158049092/Petry-will-den-Begriff-voelkisch-positiv-besetzen.html (1.1.2017) 47 Im Wahlkampf um die österreichische Bundespräsidentschaft 2015/2016 haben sich sowohl der linksliberale Kandidat Van der Bellen wie der Kandidat der FPÖ Hofer mit ‚Heimat‘ ins Bild bringen lassen.

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Volksnomostheologie In der jüdisch-christlichen Geschichte wurden die im Zusammenhang mit der Volksnomoslehre relevanten systematisch-theologischen Fragen seit jeher kontrovers diskutiert. Es waren dies vor allem die Frage nach der Gottesoffenbarung, genauer: ob beziehungsweise inwiefern Gott sich auch außerhalb seines Wortes im eigentlichen Sinne (Bibel Alten und Neuen Testamentes als die Heilige Schrift und Jesus Christus als das fleischgewordene Wort Gottes) offenbart hat beziehungsweise noch offenbart, ferner die Frage nach Form, Inhalt und Bedeutung beziehungsweise rechtem Gebrauch (usus) des göttlichen Gesetzes und schließlich die Frage nach der Unterscheidung und rechten Zuordnung von Gesetz und Evangelium. Schon im Alten Testament stößt man auf das Problem, ob die Tora exklusive Bedeutung für das Volk Israel oder vielmehr auch universale Bedeutung hat (etwa Jesaja 2). Im Neuen Testament wird intensiv die Frage nach der bleibenden Bedeutung des jüdischen Gesetzes und seiner rechten Auslegung für die Anhänger Jesu verhandelt (die Bergpredigt, Matthäus 5–7). Mit Beginn der Heidenmission tauchte das Problem der Hellenisierung der christlichen Botschaft auf,1 später dann, mit dem Beginn des abendländischen Mittelalters, das der Germanisierung.2 Hinzuweisen ist ferner auf das vor allem durch den „Doctor ecclesiae“ Thomas von Aquin (1225–1274) geprägte Naturrechts-Denken der römisch-katholischen Kirche, aber auch auf die altprotestantische Lehre von der „revelatio generalis“. Im Zeitalter der Aufklärung wurde weithin die Möglichkeit einer Theologie aus natürlichem Vermögen, also ohne die Notwendigkeit einer auf die Bibel sich berufenden übernatürlichen Offenbarung, behauptet. Die angedeuteten Tendenzen waren sicher noch keine hinreichenden Voraussetzungen für das Entstehen der Volksnomostheologie. Dazu bedurfte es erst des spezifischen nationalistischen Denkens des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.3 Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, zur Zeit der Befreiungskriege, entwickelte sich in Deutschland eine religiös legitimierte national-patriotische Gesinnung. In Volk und Volkstum erblickte man einen unbedingten Geschichtswillen Gottes, der neben die Christus-Offenbarung trat. Hier sind unter anderem der politische Schriftsteller →Ernst Moritz Arndt (1769–1860) und der evangelische Theologe Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) zu nennen. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erlangte der Nationalismus mit dem Aufkommen des Imperialismus, der Rassenlehre und des →Antisemitismus eine neue Qualität. Wie die Beispiele des zum Katholizismus konvertierten Kulturphilosophen Friedrich von Schlegel (1772–1829) oder des katholischen Publizisten Joseph von Görres (1776–1848) zeigen, hatte die national-patriotische Gesinnung der Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts durchaus auch in katholischen Kreisen Verbreitung gefunden. Demgegenüber standen sich deutscher Nationalismus und Katholizismus im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend fremd gegenüber. Gründe hierfür waren die Verdrängung nationalkirchlicher Tendenzen durch den Ultramontanismus innerhalb des Katholi-

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zismus sowie die heftigen Zusammenstöße zwischen der den (entstehenden) deutschen Nationalstaat dominierenden protestantisch-preußischen Obrigkeit und der katholischen Kirche während der sogenannten „Kölner Wirren“ in den 1830er Jahren und während des „Kulturkampfes“ in den 1870er Jahren. Der Protestantismus dagegen war schon wegen seiner Verfassung (landesherrliches Kirchenregiment) eng mit der Obrigkeit des neuen deutschen Nationalstaates verbunden: Der preußische König und deutsche Kaiser war in Personalunion oberster Bischof (summus episcopus) der weitaus größten deutschen evangelischen Landeskirche, der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union. Zudem schloss sich der überwiegende Teil der evangelischen Kirche im sogenannten Nationalprotestantismus auch inhaltlich den nationalistischen Tendenzen an, vor allem wohl in der Hoffnung, auf diese Weise den gesellschaftlichen Relevanzverlust auffangen zu können. Den christlichtheologischen Substanzverlust nahm man dabei in Kauf; er wurde durch politisches Engagement kompensiert. Die Öffnung des Protestantismus gegenüber neuen kulturellen und geistigen Entwicklungen – im Unterschied zur antimodernistischen „Abschottung“ der katholischen Kirche – förderte zweifellos diese Entwicklung.4 Höhepunkte der geradezu symbiotischen Verbindung zwischen preußisch-deutschem „Thron“ und protestantischem „Altar“ waren die Predigten der sogenannten „Kriegstheologen“ im Ersten Weltkrieg, deren Gedankengut auch noch in den 1920er Jahren die kirchliche Szene stark bestimmte.5 Die Kriegsniederlage und der Umschwung 1918, der ja auch ein Ende des landesherrlichen Summepiskopats bedeutete, wurden von vielen Vertretern der evangelischen Kirche als Katastrophe empfunden. So äußerte beispielsweise der Berliner Hofprediger Bruno Doehring (1879–1961) Ende 1918 in einer Predigt: „Das Königtum in Preußen ist uns Evangelischen tausendmal mehr als eine politische Frage, es ist uns Glaubensfrage.“6 An die Stelle der Formel „Thron und Altar“ trat jetzt vielfach die Ersatzformel „Nation und Altar“. Während sich der deutsche Katholizismus nach dem Ende des Kulturkampfes insgesamt rasch mit den neuen Verhältnissen der Republik von Weimar arrangierte und mit dem Zentrum sogar über eine staatstragende politische Partei verfügte, tat sich der deutsche Protestantismus mit der neuen Demokratie schwer. Offiziell gab sich die evangelische Kirche zwar neutral, tatsächlich aber sympathisierten viele Pfarrer mehr oder weniger offen mit den rechtskonservativ-nationalistischen, antidemokratischen, reaktionär-revanchistischen Kräften.7 1930 wurde unter der Parole „Christentum und Deutschtum“ die „Christlichdeutsche Bewegung“ gegründet. Führende Vertreter waren der oben bereits erwähnte ehemalige Hofprediger Doehring, der Landesbischof von MecklenburgSchwerin Heinrich Rendtorff (1888–1960) sowie die renommierten Universitätstheologen Paul Althaus (1888–1966), Heinrich Bornkamm (1901–1977) und Emanuel Hirsch (1888–1972). Dabei handelte es sich um eine im Grunde kirchlich-konservative Gruppierung, der es um eine Durchdringung des Deutschtums mit den Kräften des Evangeliums, also um eine Christianisierung der nationalen Bewegung ging.

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Das folgende Zitat aus den „Richtlinien“ der „Christlich-deutschen Bewegung“ von 1932 macht diese Stoßrichtung besonders deutlich: „Wir glauben, daß die deutsche Freiheitsbewegung [= die nationalistische Bewegung] mißraten muß, wenn sie nicht […] Gott als den Herrn anerkennt, sich seinem unerbittlichen Gericht unterwirft, sich seinem Willen zur Verfügung stellt. […] Darum rufen wir die Menschen in der deutschen Freiheitsbewegung zum christlichen Glauben.“ Zwar findet sich in diesen „Richtlinien“ auch ein klares Bekenntnis zu einer Geschichts- und Ordnungstheologie („Gott redet vernehmlich zu uns durch die Geschichte. […] Gehorsam gegen den Ruf unseres Volkes ist uns Gehorsam gegen Gott […]“), jedoch wird auf der anderen Seite nicht minder deutlich vor einer religiösen Überhöhung des Volkstums gewarnt: „Wir lernten in harter Schule, daß […] weder der Glaube an die Rasse noch an den guten Willen des deutschen Menschen ausreichen, das deutsche Volk zu erretten. […] Vom Glauben her können wir nur einen Herrn anerkennen, den lebendigen Gott. Alles Menschentum hat nur so weit Recht, als es ihm dient. Auch das deutsche Volk und Reich sind nicht Selbstzweck, nicht letzter Wert.“8 Eine deutlich andere, wesentlich radikalere Zielsetzung als die „Christlich-deutsche Bewegung“ verfolgte der 1921 gegründete „Bund für deutsche Kirche“, auch „Deutschkirchler“ genannt.9 Ziel dieser von dem Denken des völkisch-rassistischen Schriftstellers →Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) geprägten Gruppierung war nicht die Christianisierung der nationalistischen Bewegung, sondern vielmehr umgekehrt die Germanisierung des Christentums. In seinem große Wirkung erzielenden Buch „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“ von 1899 versuchte Chamberlain den Nachweis zu erbringen, „dass Christus kein Jude war, daß er keinen Tropfen echt jüdischen Blutes in den Adern hatte“. Das Christentum der germanischen Rasse unterscheide sich, so Chamberlain, auf Grund der tief im germanischen Volkscharakter eingewurzelten heldisch-nordischen „religiösen Rasseninstinkte“ „von Hause aus wesentlich“ von dem Christentum anderer Rassen: „Es handelt sich gleichsam um Falten des Gehirns: was auch hineingelegt wird, es muß sich nach ihnen biegen und schmiegen. Gleichwie ein Boot, dem scheinbar einförmigen Elemente des Ozeans anvertraut, weit abweichende Wege wandern wird, je nachdem der eine Strom oder der andere es ergreift, ebenso legen die selben Ideen in verschiedenen Köpfen verschiedene Bahnen zurück und geraten unter Himmelsstriche, die wenig Gemeinsames miteinander haben.“10 Der Schritt von einem solchen Denken hin zu einer gänzlichen Preisgabe jeglicher Bezugnahme auf das Christentum bzw. hin zu einer dezidiert antichristlichen Religiosität, wie sie etwa bei der „Deutschen Glaubensbewegung“11 um den Religionswissenschaftler →Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962) oder auch in dem Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts des im Rufe eines nationalsozialistischen „Chefideologen“ stehenden Alfred Rosenberg (1893–1946) zu finden ist, ist natürlich sehr klein.12 Der Begriff Volksnomos wurde von dem Publizisten →Wilhelm Stapel (1882– 1954) geprägt13, der auch als Begründer der Volksnomostheologie gilt, wenngleich die Inhalte dieser Lehre nicht eigentlich neu waren. Stapel war von 1918 bis 1938

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Schriftleiter des „Deutschen Volkstums“, der führenden Kampfschrift des konservativ-völkischen Nationalismus. Bereits 1915 hatte Stapel in der Christlichen Welt, dem Organ des theologischen Liberalismus, einen Aufsatz mit dem Titel „Warum ich nicht zu Gott, sondern zum deutschen Gott bete.“ veröffentlicht, in dem es unter anderem heißt: „Gott hat […] gewollt, dass ich deutsch sei […] Ich kann mich dem Wesen, in das mich Gott schuf, nicht aus eigner Kraft entziehen. Ich gäbe ja damit den größten Teil meiner selbst auf; nämlich all die tausend Jahre meines Lebens, die ich vor dem Erwachen des Bewusstseins meiner besonderen Seele lebte.“14 Volk ist für Stapel ein biologischer Begriff („[…] es ist ein Blut […]“), der „seine wichtige metaphysische Verankerung in der Annahme eines göttlichen Ursprungs des Volkes“ erhält; die „Verleugnung des biologisch-geschichtlichen Zusammenhangs“ des Volkes ist deshalb zugleich eine Entfremdung von Gott, also Sünde, für Stapel sogar die eigentliche Sünde des Menschen. Statt einer universalen „christlichen Ethik“, die es gar nicht geben könne, lehrte Stapel „die geschichtliche Forderung der Volkheit als sittliche Verpflichtung für den einzelnen“. Unter „Volkheit“ verstand er „den wahren Volkswillen“, das nicht demokratisch abgestimmte, sondern vielmehr intuitiv erfasste „Gesetzmäßige einer Volksseele“. Aus der „Volkheit“ deduzierte Stapel das Volksgesetz, das Stapel grundsätzlich mit dem Gottesgesetz gleichsetzte15. Vor allem drei Konsequenzen ergaben sich aus dieser Lehre: Erstens die Legitimation des Führerprinzips, was die Ablehnung des demokratischen Parlamentarismus, einschließlich der kirchlichen Synodalordnung, implizierte. Der von Gott gesandte Führer repräsentiert hierin die „Volkheit“ und setzte den Volksnomos in die Tat um. Hieraus folgte zweitens die strikte Trennung von Judentum und Deutschtum, wobei allerdings Stapel, der sich von ideologischem Judenhaß frühzeitig distanzierte, den Zionismus als Bundesgenossen anerkennen konnte. Hinzu kam drittens die Zurückweisung beziehungsweise die völkische Uminterpretation der Forderungen Jesu, wie sie vor allem in der Bergpredigt zu finden sind, und die Deutung des jüdisch-alttestamentlichen Gesetzes als nationaljüdisches Volksgesetz. Wilhelm Stapel hat sich – konsequenterweise – durchaus die Frage gestellt, ob die Christianisierung der Germanen nicht überhaupt ein geschichtlicher Irrweg gewesen sei, der wieder rückgängig gemacht werden müsse; ob nicht die Rückkehr zu einer heidnischen Religion und die Wiedereinführung altgermanischer Bräuche geboten seien. Stapel verstand sich jedoch selbst als bewusst lutherischer Christ, dem an der grundlegenden Verbindung von Christentum und Deutschtum gelegen war. Den Begriff „Nomos“ übernahm Stapel von Hans Bogner (1895–1948), der in seinem Buch Die verwirklichte Demokratie von 1930 den Nomos als die staatsbegründende und staatserhaltende göttliche Macht der griechischen Polis bezeichnet hatte. Eine systematische Darstellung der Volksnomoslehre liegt in Stapels Buch Der christliche Staatsmann von 1932 vor. Dabei handelt es sich um die überarbeitete Zusammenfassung von Beiträgen Stapels für das „Deutsche Volkstum“ aus den Jahren ab etwa 1925. Stapels Ziel war es, dem universal-katholischen Reichsgedanken eine national-lutherische Reichslehre entgegenzusetzen. Den neuen Volksnomosbegriff defi-

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nierte er wie folgt: „Jedes Volk wird zusammengehalten durch ein Gesetz des Lebens, das entsprechend seiner Natur seine innere und äußere Form, seinen Kult, sein Ethos, seine Verfassung und sein Recht bestimmt: durch den Nomos.“ Den Volksnomos konnte Stapel auch als „Artgesetz“ bezeichnen. Die Volksnomoi waren für Stapel Gnadenakte göttlicher Schöpfungsgüte, denn durch sie habe Gott die Menschen vor einem Völkerchaos bewahrt. Die Volksnomoslehre setzt die Christusoffenbarung nicht voraus und kommt im Prinzip ohne einen Bezug hierauf aus. Stapel versuchte, vor allem unter Berufung auf Matthäus 5, 17 („Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen.“), dennoch einen solchen Bezug herzustellen, tatsächlich aber fallen bei ihm Schöpfung und Offenbarung, erster und zweiter Artikel des Glaubensbekenntnisses in eins, so dass unter theologischem Aspekt aus der gefallenen Schöpfung ein forderndes Gottesgesetz wird. Nach Stapel wird überall da, wo zu Gott gebetet wird, auch ohne Christus der wahre Gott angebetet; alle Völker beten in ihren Nationalgottheiten den wahren Schöpfergott an. Die heidnischen Nomosgötter und ihre Volksreligionen konnte Stapel als die Krypta bezeichnen, die den christlichen „Dom“ trägt: „Bräche die Krypta zusammen, so bräche auch der Dom zusammen […] Christus setzt (also) die Nationalgötter voraus.“ Inhaltlich identifizierte Stapel den Volksnomos der Deutschen im Wesentlichen mit den „altgermanischen Tugenden von Ruhm, Heldenmut und Treue“; das deutsche Volk habe auf Grund seiner „Ehrenordnung“ das Recht auf „die Schirmherrschaft über andere Völker“.16 Vor allem die „Deutschen Christen“ (DC) haben Stapels Volksnomoslehre als zentralen Inhalt ihrer Botschaft aufgegriffen, verbreitet und schließlich wegen ihrer großen Nähe zum Nationalsozialismus gründlich desavouiert. Die 1932 auf Reichsebene gegründete Glaubensbewegung Deutsche Christen17 verstand sich als eine Art nationalsozialistische evangelische „Kirchenpartei“, die zunächst vor allem das kirchenpolitische Ziel einer „Gleichschaltung“ der evangelischen Landeskirchen verfolgte. Dieses Ziel einte Richtungen unterschiedlicher weltanschaulich-theologischer Provenienz, bzw. die theologische Reflexion blieb hinter dem kirchenpolitischen Engagement zurück. Nachdem im Sommer 1933 eine einheitliche Reichskirche (Deutsche Evangelische Kirche) geschaffen worden war und der „Schirmherr“ der DC Ludwig Müller (1883–1945) mit massiver Unterstützung der Nationalsozialisten entgegen dem ursprünglichen Willen der Landeskirchenvertreter, die sich im Mai 1933 mit großer Mehrheit gegen Müller entschieden hatten, deren Führer (Reichsbischof) geworden war18, zersplitterten die nur kurzfristig als eine Massenbewegung auf Reichsebene geeinten DC (mit ca. 1 Million Mitglieder, darunter etwa ein Drittel der evangelischen Pfarrer in Deutschland) sehr bald wieder, vor allem nach der Berliner DC-Sportpalastkundgebung im November 1933, deren radikale Forderungen etwa nach Abschaffung des Alten Testamentes das Kirchenvolk verschreckte und die kirchliche Opposition mobilisierte. Hinzu kam, dass die nationalsozialistische Führung Ende 1933 ihre offene Parteinahme und direkte Unterstützung der DC aufgab und sich, zumindest offiziell, wieder auf einen religiösen Neut-

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ralitätskurs zurückzog zum einen, um nicht mit in den sogenannten evangelischen „Kirchenkampf“ hineingezogen zu werden, zum anderen aus Rücksichtnahme auf die Katholiken und die weltanschaulichen Distanzierungskräfte gegenüber Christentum und Kirchen in den eigenen Reihen (unter anderem um Rosenberg)19. Wenn es angesichts des diffusen Konglomerats von Lehren, Ideen und Programmen innerhalb der DC-Bewegung, deren Vertreter und Sympathisanten aus so unterschiedlichen Lagern wie der ostwestfälischen Erweckungsbewegung (zum Beispiel Ludwig Müller20) oder dem extrem liberalen Protestantismus beziehungsweise dem freien, dogmenlosen Christentum (zum Beispiel Johannes Müller-Elmau, 1864–194921) oder dem konfessionellen Luthertum (zum Beispiel Emanuel Hirsch22) kamen, einen gemeinsamen lehrmäßigen Nenner neben der meist dominierenden nationalsozialistischen politischen Gesinnung gab, dann war es die Volksnomostheologie bzw. eine politische Theologie der Schöpfungsordnungen. Bereits in den ersten „Richtlinien“ der DC von 1932 heißt es: „Wir bekennen uns zu einem bejahenden artgemäßen Christusglauben, wie er deutschem Luthergeist und heldischer Frömmigkeit entspricht. […] Wir sehen in Rasse, Volkstum und Nation uns von Gott geschenkte und anvertraute Lebensordnungen, für deren Erhaltung zu sorgen, uns Gottes Gesetz ist. Daher ist der Rassenmischung entgegenzutreten.“ Auch in den aus taktischen Gründen sehr viel moderater formulierten „Richtlinien“ von 1933 wird dieser Ansatz prinzipiell nicht revidiert, wenn es dort heißt: „[…] eine deutsche Kirche neben dem deutschen Volke ist nichts als eine leere Institution. Christliche Kirche im deutschen Volk ist sie nur, wenn sie Kirche für das deutsche Volk ist, wenn sie dem deutschen Volke in selbstlosem Dienst dazu hilft, daß es den von Gott ihm aufgetragenen Beruf erkennen und erfüllen kann. […] In der Anerkennung der Verschiedenheit der Völker und Rassen als einer von Gott gewollten Ordnung für diese Welt fordern wir […]“.23 Eine besonders große Bedeutung hatte die Volksnomoslehre bei den „Deutschkirchlern“ nahestehenden radikalen Teilen der DC-Bewegung, die nach der Zersplitterung der DC als reichseinheitliche Bewegung im Gegensatz zu den gemäßigteren Teilen noch über einen gewissen Zulauf und Einfluss verfügten. Hierzu gehörten vor allem die Thüringer DC24, die Bremer DC25 und die DC-Bewegung um den ehemaligen DC-Reichsleiter Joachim Hossenfelder (1899–1976)26, die sich 1937/38 zur „Nationalkirchlichen Bewegung bzw. Einigung DC“ zusammenschlossen. Auch Ludwig Müller, der seit 1935 zwar faktisch entmachtet war, aber nominell bis 1945 Reichsbischof blieb, schloss sich dieser Richtung an. Müller, dessen Inkompetenz mit zu der Zersplitterung der DC beigetragen hatte, versuchte, durch eine Aufsehen erregende „Verdeutschung“ (nicht Übersetzung) der Bergpredigt wieder zu mehr Einfluss zu gelangen. Er griff damit ein Anliegen Stapels auf (vgl. oben), der umgekehrt Müllers Publikation gegen Kritik verteidigte.27 In einem Nachwort begründete Müller seine Bergpredigt-„Verdeutschung“ wie folgt: „Alles deutet darauf hin, daß wir in eine Zeit hineinwachsen, in der die einzelnen Völker aus ihrem ureigensten Volksempfinden heraus die religiö-

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sen Werte und Wahrheiten so fassen und gestalten werden, wie es ihrer volklichen Eigenart entspricht.“ Konsequenterweise ersetzte Müller alttestamentliche Bezüge in der Bergpredigt durch Bezüge auf den Volksnomos der Deutschen. So wurde etwa aus Matthäus 5, 33f.: „Ihr habt weiter gehört, daß zu den Alten gesagt ist: ‚Du sollst keinen falschen Eid tun […]‘ [3. Mose 19, 12; 4. Mose 30, 3] Ich aber sage euch, daß ihr überhaupt nicht schwören sollt […]“ (Luther-Übersetzung, Revision 1911) bei Müller: „Weiter habt ihr als Volksgesetz die heilige Überlieferung, daß ihr einen geschworenen Eid halten müßt […] Ich sage euch: Ihr müßt Gottes Ehre, eures Volkes und eure eigene Ehre so hoch und so heilig halten, daß ihr nicht bei jeder Kleinigkeit schwört.“ Das Vergeltungsverbot (Matthäus 5, 38f.) „verdeutschte“ Müller wie folgt: „Im Volksmund heißt es immer noch: ‚Wie du mir, so ich dir‘ oder: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.‘ […] Ich sage euch: Es ist besser, mit den Volksgenossen so zu leben, daß ihr miteinander gut auskommt. →Volksgemeinschaft ist ein hohes und heiliges Gut, dem ihr Opfer bringen müßt. […] Wenn dein Kamerad in seiner Erregung dir ins Gesicht schlägt, ist es nicht immer richtig, gleich wieder zu schlagen. Es ist mannhafter, überlegene Ruhe zu bewahren. Wahrscheinlich wird dein Kamerad sich dann schämen.“28 Müllers Bergpredigt-„Verdeutschung“, die bereits von zahlreichen Zeitgenossen zutreffend als „Verballhornung“ charakterisiert wurde, ist ein besonders markantes Beispiel für die praktische Umsetzung der Volksnomostheologie. In systematischer Weise bemühte sich das 1939 gegründete Institut zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben in Eisenach um eine Anpassung von Bibel, Gesangbuch und Bekenntnis an das nationalsozialistische Lebensgefühl bzw. den Volksnomos der Deutschen.29 Frühzeitig und in nicht zu übertreffender Klarheit und Schärfe wandte sich Karl Barth (1886–1968) – seit 1930 bis zu seiner zwangsweisen Versetzung in den Ruhestand 1935 Professor für Systematische Theologie in Bonn – mit seiner grundsätzlichen Ablehnung jeglicher natürlichen Theologie gegen die Volksnomoslehre.30 Zwar haben auch zahlreiche andere zeitgenössische Theologen die Volksnomoslehre, vor allem wegen der theologisch unzulässigen Gleichsetzung des völkischen Schöpfungsgesetzes mit dem christologischen Offenbarungsgesetz und wegen des Fehlens eines klaren Sünden- und Kirchenbegriffs, heftig kritisiert31, jedoch gilt die maßgeblich von Karl Barth – mit Hans Asmussen (1898–1968) und Thomas Breit (1880–1966) – verfasste „Barmer Theologische Erklärung“ von 193432, die „Magna Charta“ der Bekennenden Kirche, als die „entscheidende kirchlich-theologische Korrektur am deutsch-christlichen Denken und […] auch gegenüber der […] Volksnomoslehre“.33 Die berühmte erste These der „Barmer Theologischen Erklärung“ lautet: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Of-

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fenbarung anerkennen.“34 In dem von Martin Niemöller (1892–1984) herausgegebenen „Betheler Bekenntnis“ von 1933, das als ein Vorläufer der „Barmer Theologischen Erklärung“ gilt, war die Volksnomoslehre sogar bereits ausdrücklich verworfen worden: „Wir verwerfen die Irrlehre, daß die Ordnungen Gottes in den Nomoi der Völker mit dem Gesetz Gottes eins seien […].“35 Kritik an der „Barmer Theologischen Erklärung“ wurde nicht nur von Seiten der Deutschen Christen laut, sondern etwa auch von Seiten der Erlanger Theologieprofessoren Paul Althaus und Werner Elert (1885–1954), die Vertreter eines konfessionellen Luthertums waren und sich frühzeitig von den DC distanziert hatten. Während Althaus und Elert im „Ansbacher Ratschlag“ vom 11. Juni 1934 die „Barmer Theologische Erklärung“ vor allem deshalb kritisierten,36 weil sie grundsätzlich an einer Theologie der Schöpfungsordnungen festhalten wollten37, behauptete der sächsische DC-Bischof Friedrich Coch (1887–1945) in seiner „Erklärung an das evangelische Sachsenvolk“ vom 15. Juni 1934 sogar, die gegenwärtigen Geschehnisse in Deutschland seien „nicht neue Offenbarungen neben Christus“, sondern vielmehr selbst (neue) Christusoffenbarungen.38

Thomas Martin Schneider

1 Vgl. hierzu die Auseinandersetzungen um die altkirchlichen Dogmenbildungen. 2 Vgl. etwa die altsächsische Evangelienharmonie „Heliand“ aus dem 9. Jahrhundert. 3 Wolfgang Tilgner, Volksnomostheologie und Schöpfungsglaube. Ein Beitrag zur Geschichte des Kirchenkampfes, Göttingen 1966, S. 36–87. 4 Vgl. hierzu den sogenannten Kulturprotestantismus. 5 Wilhelm Pressel, Die Kriegspredigt 1914–1918 in der evangelischen Kirche Deutschlands, Göttingen 1967. 6 Zitiert nach Erwin Iserloh/Klaus Scholder, Die Kirchen im 20. Jahrhundert – vom ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, in: Raymund Kottje (Hg. u.a.), Ökumenische Kirchengeschichte, Bd. 3, Mainz 19894, S. 248. 7 Vgl. Karl-Wilhelm Dahm, Pfarrer und Politik. Soziale Position und politische Mentalität des deutschen evangelischen Pfarrerstandes zwischen 1918 und 1933, Köln 1965, und Kurt Nowak, Evangelische Kirche und Weimarer Republik, Göttingen 19882. 8 Zitate nach Christoph Weiling, Die „Christlich-deutsche Bewegung“. Eine Studie zum konservativen Protestantismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1998, S. 334ff. 9 Vgl. Hans-Joachim Sonne, Die politische Theologie der Deutschen Christen. Einheit und Vielfalt deutsch-christlichen Denkens, dargestellt anhand des Bundes für deutsche Kirche, der Thüringer Kirchenbewegung „Deutsche Christen“ und der Christlich-deutschen Bewegung, Göttingen 1982, S. 30–55. 10 Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, o.O. 19035, S. 219, 623f. 11 Kurt Nowak, Deutschgläubige Bewegungen, in: Theologische Realenzyklopädie 8 (1981), S. 554– 559. 12 Raimund Baumgärtner, Weltanschauungskampf im Dritten Reich. Die Auseinandersetzung der Kirchen mit Alfred Rosenberg, Mainz 1977. 13 Vgl. Tilgner, Volksnomostheologie und Schöpfungsglaube, S. 89–130.

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14 Die Christliche Welt 4 (1915), Sp. 27. 15 Zitate nach Tilgner, Volksnomostheologie und Schöpfungsglaube, S. 99–114. 16 Wilhelm Stapel, Der christliche Staatsmann. Eine Theologie des Nationalismus, Hamburg 1932, S. 174, 184, 218ff. 17 Vgl. Kurt Meier, Die Deutschen Christen, Göttingen 19763; ders., Deutsche Christen, in: Theologische Realenzyklopädie 8 (1981), S. 552ff., und Heiner Faulenbach, Deutsche Christen, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 2 (19994), Sp. 698–702. 18 Vgl. Thomas Martin Schneider, Reichsbischof Ludwig Müller. Eine Untersuchung zu Leben, Werk und Persönlichkeit, Göttingen 1993. 19 Zum sogenannten „Kirchenkampf“ vgl. Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, 2 Bde., Frankfurt a.M. 20003; Gerhard Besier, Die Kirchen und das Dritte Reich. Spaltungen und Abwehrkämpfe 1934–1937, Berlin 2001, und Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf, 3 Bde., Göttingen 19842. 20 Vgl. Thomas Martin Schneider, Zwischen Erweckungsbewegung und Nationalsozialismus. Zur Entwicklung von Ludwig Müllers Denken, in: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 43 (1994), S. 261–272. 21 Ders., Müller, Johannes, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 18, Berlin 1997, S. 426ff. 22 Heinrich Assel, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance – Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910–1935), Göttingen 1994. 23 Zitiert nach Martin Greschat (Hg. u.a.), Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd. 5, Neukirchen-Vluyn 1999, S. 81f. 24 Hans-Joachim Sonne, Die politische Theologie der Deutschen Christen, S. 56–100, und Anja Rinnen, Kirchenmann und Nationalsozialist. Siegfried Lefflers ideelle Verschmelzung von Kirche und Drittem Reich, Weinheim 1995. 25 Vgl. Reijo E. Heinonen, Anpassung und Identität. Theologie und Kirchenpolitik der Bremer Deutschen Christen 1933–1945, Göttingen 1978. 26 Joachim G. Vehse, Leben und Wirken des ersten Reichsleiters der Deutschen Christen, Joachim Hossenfelder, in: Schriften des Vereins für schleswig-holsteinische Kirchengeschichte 38 (1982), S. 73–123. 27 Wilhelm Stapel, Die Bergpredigt des Reichsbischofs, in: Deutsches Volkstum (1936), S. 476–478. 28 Ludwig Müller, Deutsche Gottesworte, Weimar 1936, S. 36, 15f. Vgl. Schneider, Reichsbischof Ludwig Müller, S. 250–273. 29 Vgl. Oliver Arnold, „Entjudung“. Kirche im Abgrund, 2 Bde., Berlin 2010. 30 Karl Barth, Theologische Existenz heute! München 1933. 31 Tilgner, Volksnomostheologie und Schöpfungsglaube, S. 233–249. 32 Vgl. Carsten Nicolaisen, Der Weg nach Barmen. Die Entstehungsgeschichte der Theologischen Erklärung von 1934, Neukirchen-Vluyn 1984. 33 Tilgner, Volksnomostheologie und Schöpfungsglaube, S. 251. 34 Zitiert nach Martin Greschat (Hg. u.a.), Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, S. 110. 35 Zitiert nach Tilgner, Volksnomostheologie und Schöpfungsglaube, S. 231. 36 Vgl. Günther van Norden (Hg. u.a.), Wir verwerfen die falsche Lehre. Arbeits- und Lesebuch zur Barmer Theologischen Erklärung und zum Kirchenkampf, Wuppertal 1984, S. 80–82. 37 Vgl. Paul Althaus, Theologie der Ordnungen, Gütersloh 1934. Zur unterschiedlichen Bewertung der „Barmer Erklärung“ im deutschen Luthertum vgl. Wolf-Dieter Hauschild (Hg. u.a.), Die lutherischen Kirchen und die Bekenntnissynode von Barmen, Göttingen 1984. 38 Die Erklärung ist abgedruckt bei Günther van Norden (Hg. u.a.), Wir verwerfen die falsche Lehre, S. 82–86.

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Wald und Baum Das Projekt „Wald und Baum in der arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte“ war neben dem „Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung“ eines der Hauptprojekte des →Ahnenerbes, der Wissenschaftsorganisation der SS.1 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte sich aus der allgemeinen Naturliebe der Romantik im Bereich der deutschsprachigen Länder ein besonderes Verhältnis zum Wald. Als Gegenbewegung zur Französischen Revolution von 1789 mit ihren Gedanken von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurden dem Wald immer mehr nationale Funktionen nahegelegt. Diese verklärten sich quasi zu einem Mythos. Es entwickelte sich eine Einheit von „nordischem“ und deutschem Lebensund Seelengefühl. Parallel dazu wurde die eigene Geschichte verherrlicht und zugleich wurden die benachbarten Völker wie die Franzosen sowie die Slawen abgewertet. Zusätzlich gab es zu dieser Zeit einen starken →Antisemitismus. Von diesem Zeitpunkt an sahen sich zahlreiche Deutsche als die Nachkommen der Germanen. Diese seien kriegerische Waldbewohner und freie Menschen gewesen. Durch ihre Lebensumstände seien sie in der Lage gewesen, unter Arminius eine ganze römische Legion zu vernichten. Das Symbol des Deutschen Waldes, der „germanischen Waldfreiheit“ diente nach der antifranzösischen Ausrichtung zur Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon in den Jahrzehnten bis 1870 als Symbol der deutschen Einigung. Damit gab es ein Symbol, unter dem sich die zur Einheit bewegenden völkischen Kräfte sammeln konnten. Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 verknüpften sich immer mehr Elemente des Militärischen mit der idealisierten Sichtweise der Germanen als kriegerische Waldbewohner. 2 Nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Ende der Monarchie in Deutschland manifestierte sich im →Deutschen Wald für das deutschnationale bis völkische politische Spektrum die fassbare Ablehnung der Versailler Verträge sowie der Weimarer Republik. Es entstand eine Gegenbewegung von rechts, bei der Wald und Volk eine Einheit bildeten. Einen weiteren Ansatz bot der österreichische Naturphilosoph Raoul Heinrich Francé (1874–1943), der 1923 schrieb über die „tiefgründige Lehre von der harmonischen Lebensgemeinschaft der Bäume, unter denen es den Individualismus mit dem Willen zur Macht ebenso wenig gebe wie den Sozialismus mit seiner öden Gleichmacherei. Den Weg zur Rettung verweise der ewige Wald. Aber ist der denn in der Tat so friedlich, wie es scheint? Entsteht er nicht aus einem gnadenlosen Kampf ums Licht, bei dem erstickt was sich nicht durchsetzt? Das rührt unser Mitleid nicht, denn Pflanzen sterben schweigend und geben Humus.“ Auf dieser Grundlage bot sich für die Nationalsozialisten die Möglichkeit an, glaubhaft zu machen, dass nur sie in der Lage seien, den deutschen Wald vor dem Verfall zu retten und zugleich im Gedanken der Nachhaltigkeit die kapitalistische Ausbeutung im Wald zu stoppen. Pointiert führte diesen Gedanken Hermann Göring, der seit 1934 als „Reichsjägermeister“ und „Reichsforstmeister“ der oberste staatliche Repräsentant von Jagd und Forst im Dritten Reich war, auf einer Hubertusfeier aus:

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„Wir haben uns jetzt daran gewöhnt, das deutsche Volk als ewig zu sehen. Es gibt kein besseres Bild dafür als den Wald, der ewig war und bleiben wird. Ewiger Wald und ewiges Volk, sie gehören zusammen.“3 Auf Grundlage solcher Wald-Ideologie, gleichsam der deutsch-germanischen „Weltanschauung“, bot sich die Chance, das Thema Wald und Forst NS-ideologisch zu besetzen. Das „Forschungswerk Wald und Baum in der arisch-germanischen Kulturgeschichte“ sollte diesem Zweck dienen. In einer Denkschrift des Ahnenerbes von 1939 heißt es, dass seit „den Urzeiten unseres Volkes des Deutschen seelische Heimat, die Heimat von Sage und Märchen“ im starken „Wurzelwerk völkischen Wesens“ liege. Der „treue Hüter deutscher Art, von alters der Spender fast aller Werkstoffe für den Lebenskampf der Deutschen, steht uns auch heute im Kampfe um die Selbstständigkeit unserer wirtschaftlichen Lebensgrundlagen zur Seite. Der wesenhaften Wechselbeziehung zwischen Wald und Baum und dem germanischen Menschen nachzugehen, ist die Aufgabe des Forschungswerkes ‚Wald und Baum in der arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte‘.“4 Das Projekt Wald und Baum hatte für die Jahre 1937–39 einen Etat von 200.000 RM und war somit das größte finanzielle Einzelprojekt im Ahnenerbe. Ebenso war es das größte einem Thema gewidmete geistesgeschichtliche Forschungsvorhaben im Dritten Reich. Es begann 1937, wurde in den ersten zwei Kriegsjahren 1939–42 unterbrochen und lebte 1942 bis 1945 wieder auf. Ideengeber des Projektes war das Reichsforstamt. Neben dem Ahnenerbe waren das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft unter Himmlers damaligem Freund Richard Walther Darré (1895–1953) aufgrund seiner ähnlichen Zielsetzung (Blut- und Bodenideologie) sowie der →Reichsforschungsrat als Geldgeber weitere Partner des Projektes. Ziel war es alles zu erfassen, was es zu „Wald und Baum“ in der völkischen Ideologie zum Germanentum gab. Es war geplant, dass über 60 wissenschaftliche Monographien entstehen sollten. Die Arbeiten sollten enzyklopädisch in einer Buchreihe „Wald und Baum“ erscheinen.5 Am 25. Oktober 1937 wurde das Projekt in Berlin offiziell aus der Taufe gehoben. Vom Ahnenerbe waren u.a. der Münchner Professor für indogermanische Sprachwissenschaft →Walther Wüst (1901–1993), der Reichsgeschäftsführer des Ahnenerbes →Wolfram Sievers (1905–1948) sowie der spätere erste Leiter von „Wald und Baum“ Karl Konrad Ruppel (1880–1968) beteiligt. Das Reichsforstamt schickte den promovierten Forstmann Johann Albrecht von Monroy (1900–1964) vom Ausschuss für Technik in der Forstwirtschaft (ATF) sowie Monroys Mitarbeiter Kronhausen. Ein Vertreter des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft war nicht unter den Gründungsmitgliedern des Projektes. Die Schirmherrschaft über „Wald und Baum“ übernahmen Göring und Himmler. Das Ahnenerbe übernahm die praktische Durchführung. Ursprünglich waren für das Projekt Wald und Baum mit einem Etat von 120.000 RM zwei bis drei Jahre Laufzeit vorgesehen. Die Finanzmittel sollten zu gleichen Teilen vom Reichsforstamt, dem Reichsforschungsrat sowie dem Reichsministerium für Ernährung und

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Landwirtschaft aufgebracht werden. Im Ahnenerbe bildete „Wald und Baum“ eine eigene Abteilung. Erster Leiter von „Wald und Baum“ wurde der schon erwähnte Privatgelehrte und Fachmann für Hausmarken6 Karl Konrad Ruppel. Im Jahre 1938 wurde er durch den österreichischen Vor- und Frühgeschichtler Gilbert Trathnigg (1911–1970) abgelöst.7 Im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde haben sich drei Bearbeiter- und Themenlisten zum Projekt „Wald und Baum“ erhalten. Die ersten beiden Listen von 1937 und 1938 waren stark von der völkischen und indogermanischen sowie von der vor- und frühgeschichtlichen Ideenwelt des Nationalsozialismus geprägt. Als Urheber bzw. Ideengeber dieser Liste ist aufgrund der Themenauswahl der nationalsozialistische Kulturwissenschaftler und wissenschaftliche Leiter des Ahnenerbes Walther Wüst anzusehen. Die Einzelthemen orientierten sich an der „arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte“ sowie an Beiträgen, die in der Ahnenerbe Zeitschrift Germanien erschienen waren. Das Spektrum des „Wald und Baum“-Projektes reichte vom Volksglauben, über Religion, Kult und Recht bis zur germanischen Weltanschauung. Ebenso tauchten Themen aus der vorkapitalistischen archaischen Wirtschaft auf. Hierdurch sollte der Mythengehalt der gesamten Liste gesteigert werden. Es gab darin eine Reihe rein NS-ideologischer Themen, aber es ist zu konzedieren, dass andere Teilprojekte weniger weltanschaulich, dafür sozialoder wirtschaftshistorisch ausgerichtet waren. Die Listen von 1937 und 1938 unterschieden sich vor allem im Umfang. In der Liste von 1938 gab es eine Veränderung im Zusammenhang mit religiösen sowie rechtlichen Themen. Die ursprünglichen religiösen Themen, die sich mit Christentum und Wald und Baum befassten, erschienen dem Verständnis der SS nicht angemessen und wurden gestrichen. Nach der SS-Ideologie hätte sich der Glaube der Germanen aus der eigenen Kraft entwickelt. Rechtliche Themen wurden soweit angepasst, dass sie gemäß der Rassenlehre der SS einen Bezug zur Gegenwart hatten. In der 1939 entstandenen Liste erkennen wir eine Schwerpunktverlagerung, zu der es maßgeblich unter dem Einfluss des Reichsforstamtes gekommen war. Auf einer Besprechung im November 1937 war eine Umorientierung von „Wald und Baum“ von der völkisch-geisteswissenschaftlichen Richtung zu Aspekten der Verwertbarkeit beschlossen worden. Es wurde vermehrt der Schwerpunkt auf Naturwissenschaft und die Praxisrelevanz gelegt. So wurden zum Beispiel Themen zur Verwendung von Waldpflanzen und Waldfrüchten als menschliche und tierische Nahrungsmittel sowie über die Heilpflanzen des Waldes in der Heilkunde neu aufgenommen. Die Liste von 1939 enthält elf neue Themen, darunter vier mit neuen Praxisbezügen. Die Bearbeitung dieser Themen war ohne naturwissenschaftlichen Sachverstand nicht möglich. Die teilweise Wandlung des Vorhabens auf Aspekte der Praxisrelevanz illustriert die Abordnung zweier weiterer Mitarbeiter Johann Albrechts von Monroy vom Reichsforstamt an das Ahnenerbe im März 1937. Durch diese Aktion sollte der Kontakt zwischen „Wald und Baum“ und dem Reichsforstamt dauerhaft

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gehalten werden. Die Mitarbeiter Monroys waren zudem beauftragt, das Reichsforstamt fortlaufend über Einzelheiten der Projektrealisierung zu unterrichten. Die Schwerpunktverlagerung des Projektes stand vermutlich im Zusammenhang mit dem Vierjahresplan zur wirtschaftlichen Kriegsvorbereitung. Für diesen Bereich war Göring seit Oktober 1936 als Beauftragter zuständig.8 Am 20. November 1937 begann das Projekt offiziell. Es wurde von zwei auf die Dauer von vier Jahre bis 1942 heraufgesetzt. Das Budget sollte sich während dieser Zeit auf 250.000 RM mehr als verdoppeln. 100.000 RM waren bereits im ersten Jahr von den Projektbeteiligten aufzubringen, also dem Reichsforstamt, dem Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft sowie dem Reichsforschungsrat. Im zweiten und dritten Jahr waren alle Beteiligten unter Ausnahme des Ahnenerbes verpflichtet, jeweils die Hälfte der verbleibenden 150.000 RM beizusteuern. Im Frühjahr 1938 kam es unter den Beteiligten zum Konflikt: Im Unterschied zum Reichsforstamt war das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft unter Darré in das Projekt Wald und Baum nicht personell eingebunden. Der Grund war eine ideologische Konkurrenz zwischen dem Ahnenerbe und Darré. Der Reichsbauernführer und Minister forderte einen maßgeblichen Einfluss auf „Wald und Baum“. Auch war seine Bereitschaft, Zahlungsverpflichtungen zu übernehmen, nicht groß. Eine persönliche Intervention Himmlers änderte daran nichts. Schließlich entschied der Reichsführer SS, dass „Wald und Baum“ ohne Darrés Mitwirkung weiterzuführen sei. Der Vorsitzende des für „Wald und Baum“ gebildeten Projektausschuss war Walther Wüst, von 1937–1939 Präsident des Ahnenerbes und ab 1939 dessen wissenschaftlicher Kurator. Als Beisitzer fungierten Wolfram Sievers, jeweils ein Vertreter des Reichsforstamtes sowie des Reichsbauernführers. Zusätzlich waren der Freiburger Forstprofessor und Begründer der neueren deutschen Forstgeschichte Hans Hausrath (1866–1945), der Hallenser Geograph und Begründer der deutschen Siedlungsgeographie Otto Schlüter (1872–1959), der Breslauer Historiker →Hermann Aubin (1885–1969), der später in der Bundesrepublik sehr einflussreich war, der Königsberger Volkskundler Heinrich Harmjanz (1904–1994) sowie der bereits erwähnte Gilbert Trathnigg als Leiter von „Wald und Baum“ Mitglieder des Projektausschusses.9 Die ersten Bewerbungen gingen beim Ahnenerbe nach einer Ausschreibung in der Fachpresse sowie der parteinahen Presse im Mai 1938 ein. Ein Jahr darauf im Mai 1939 endete die Bewerbungsfrist. Für zwei Drittel der einzelnen Themen gab es bis zu zehn Bewerbungen. Die endgültige Auswahl der Bearbeiter traf Walther Wüst. Als Hilfsmittel für seine Entscheidung nutzte er Dossiers des SD über die einzelnen Kandidaten. Es wurde Wert darauf gelegt, dass diese auf der weltanschaulichen Linie des Nationalsozialismus lagen. Auch die Parteizugehörigkeit zur NSDAP spielte eine Rolle. Insgesamt wurden bis 1939 sechzig Themen an festgelegte Bearbeiter vergeben. Darunter gab es eine Frau. Jeder Bearbeiter musste einen strengen „Verpflichtungsplan“ unterschreiben. Diese Verpflichtung gab dem Ahnenerbe das

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Recht, sämtliche Texte im Sinne der NS-Ideologie verändern zu können. Jeder Bearbeiter musste, auf Weisung des Ahnenerbes „Verbesserungen und Änderungen“ vornehmen. Himmler als Präsident des Ahnenerbes konnte einem Bearbeiter das Thema entziehen, wenn die Anweisungen nicht befolgt wurden. In diesem Fall mussten bereits gezahlte Forschungsbeihilfen zurückgezahlt werden. Diese Beihilfen betrugen im Normalfall 100 RM pro Monat. In der zweiten Jahreshälfte 1938 begann die Auszahlung der ersten Beihilfen. Bis Oktober 1939 waren bereits 58.000 RM ausgezahlt. Im Herbst 1939 wurde beschlossen, dass das Projekt Wald und Baum, da es nicht als kriegswichtig erachtet wurde, bis Kriegsende ruhen sollte. Ab 1. November 1939 wurden die Beihilfen nicht mehr ausgezahlt.10 1942 lebte „Wald und Baum“ wieder auf. Aufgrund der Aktivitäten von Wolfram Sievers sowie dem Germanisten und SD-Mann Hans Rößner (1910–1997) wurde „Wald und Baum“ nun Teil der „Aktion Ritterbusch“ des Kriegseinsatzes der Deutschen Geisteswissenschaften.11 Somit war das Projekt vorerst gesichert. Im Frühjahr 1942 wurden die Mitarbeiter von „Wald und Baum“ befragt, ob sie wieder an ihren Themen arbeiten wollten. Von 54 Befragten bekundeten 30 ihr Interesse, weiterzuarbeiten. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft sowie der Reichsforstmeister stellten sofort 3.000 RM monatlich für das Projekt zur Verfügung. Auch das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft bewilligte eine Einmalzahlung von 12.320 RM. Ab März 1943 wurden wieder Forschungsbeihilfen gezahlt.12 Unter den Bearbeitern im Forschungsprojekt „Wald und Baum“ finden sich zahlreiche Vertreter der völkischen Bewegung im Dritten Reich. Zu nennen wären hier unter anderen: der schon erwähnte Heinrich Harmjanz mit dem Thema „Der Zeidelwald: Recht und Brauch“13, der Indologe →Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962) mit dem Thema „Die Irminsäule14 in der indogermanischen Überlieferung“, der Religionswissenschaftler →Otto Huth (1906–1998) mit dem Thema „Der Lichterbaum“, der Literarturwissenschaftler Hans Ernst Schneider alias Hans Schwerte (1909–1999)15 mit dem Thema „Tanz um den Baum“, der Germanist und Schriftleiter der Ahnenerbe-Zeitschrift Germanien Joseph Otto Plaßmann (1895–1964) mit dem Thema „Die Irminsäule in der germanischen Überlieferung“ 16, Karl Konrad Ruppel mit dem Thema „Die Holzzeichen“.17 der Botaniker, Naturschützer und Leiter der Reichsnaturschutzstelle sowie einer der Begründer der späteren bundesdeutschen Naturschutzbewegung Walther Schoenichen (1876–1956) mit dem Thema „Die alten Hudewälder“18 der Althistoriker Franz Altheim (1898–1976) sowie seine Mitarbeiterin und Lebensgefährtin Erika Trautmann (1897–1968) mit dem Thema „Die Tiere des Waldes (Hirsch)“.19 Im Laufe der Kriegsentwicklung nach Stalingrad wurde deutlich, dass das Deutsche Reich den Krieg nicht gewinnen konnte. Großstädte wie Berlin wurden weitgehend zerstört. Im August 1943 wurde aufgrund des Bombenkrieges der Sitz des Ahnenerbes und somit auch von „Wald und Baum“ von Berlin nach Waischenfeld in Oberfranken verlegt. Einige Projektmitarbeiter blieben bis 1945 tätig. Nach 1945 konnten sich Wissenschaftler auf ihre Ergebnisse, die sie im Rahmen von „Wald

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und Baum“ erarbeitet hatten, stützen.20 Als prominentes Beispiel ist der Historiker Karl Bosl (1908–1993) zu nennen. Dieser prägte nach 1945 als Mediävist sowie als Sozial- und Wirtschaftshistoriker ganz entscheidend die Entwicklung der Bayerischen Landesgeschichte an der Universität München. 1933 war er der NSDAP beigetreten. Der SD hatte ihn bei seiner Bewerbung für „Wald und Baum“ positiv beurteilt. Als Schüler des Münchner Historikers und entschiedenen Nationalsozialisten →Karl Alexander von Müller (1882–1964) eröffnete sich für Bosl schnell die Möglichkeit einer Mitarbeit bei „Wald und Baum.“ Vermutlich schien ihm dies als Möglichkeit, nach seiner Dissertation im nationalsozialistischen Wissenschaftsbetrieb im Gespräch zu bleiben. Bosl bewarb sich aufgrund der Ausschreibung für zwei Themen: „Geschichte der Reichsforsten von Nürnberg“ sowie „Lehns- und Holzrechte im Berchtesgadener Land.“ Letzteres Thema wurde ihm als Bearbeiter zugewiesen. In der zweiten Phase von „Wald und Baum“ nach 1942 wandte er sich an das Ahnenerbe mit der Bitte, ob es seine Habilitation veröffentlichen könnte. Sievers lehnte dies ab und verwies Bosl stattdessen auf die „Aktion Ritterbusch.“ In einem Aufsatz von 1949 zum Thema der Forsthoheit als Grundlage der Landeshoheit im Bayern des Hochmittelalters hat Bosl wahrscheinlich zahlreiche Ergebnisse verwertet, die er bereits zuvor für sein „Wald und Baum“ Thema erarbeitet hatte. In diesem Aufsatz äußert sich Bosl wie folgt über den Zusammenhang von Wald, Rodung und Volk: „Neben anderen Ursachen hat also der Wald- und Rodungscharakter unseres Landes entscheidend die verfassungsgeschichtliche Entwicklung der Deutschen beeinflusst, er hat aber auch irgendwie den Typ unseres Volkstum geprägt, indem er den freien Rodungsbauer entstehen ließ, ein kerniges Waldbauerntum, abgehärtet, gesund, kinderreich, aber auch frei, ja eigenbrötlerisch in seiner Gesinnung, stolz auf sein altes, hergekommenes Recht und unerbittlich zäh, ja halsstarrig im Kampf um dasselbe“ .Aus diesen Äußerungen entsteht der Eindruck, dass Bosl auch inhaltlich manche Ansätze aus „Wald und Baum“ nach 1945 in einer nunmehr abgemilderten Diktion weiterverwendet hat.21 „Wald und Baum“ war bis 1945 nicht abgeschlossen. Als einzige Publikation lag 1945 die deutsche Waldkarte Otto Schlüters vor. Somit kann die nationalsozialistische Wald-Ideologie anhand von „Wald und Baum“ nicht dargestellt werden, wohl aber das nationalsozialistische Forschungsdesign in den Geisteswissenschaften. Es kann in fünf Punkten zusammengefasst werden: Die Geisteswissenschaften sollten anwendungsorientiert und sozusagen praxisrelevant sein. Gegner dieser kämpfenden Geisteswissenschaften waren der Positivismus, der gesellschafts- und praxisferne so genannte ‚Elfenbeinturm‘, der Liberalismus sowie der Katholizismus. Gegen eine voraussetzungslose Wissenschaft wurde polemisiert. Wissenschaftliche Gegner wurden ausgeschlossen. Die Methode war insgesamt deduktiv und entsprach nicht den wissenschaftlichen Standards, die seit dem 19. Jahrhundert entwickelt worden waren. Mithilfe dieses Forschungsdesigns sollte das Arisch-Völkisch-Germanische in die →Volkskunde, die Germanenforschung sowie im die Vor-, Früh-, Rechts-, Kunst-, und Forstgeschichte fest implementiert werden. Ziel war es, die Geisteswis-

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senschaften nationalsozialistisch zu fundieren und in ideologische Kampfbatallione umzuformen. Dieses Ziel wurde in der NS-Zeit streckenweise erreicht. Somit standen die Geisteswissenschaften in einer gewissen Form direkt im Zusammenhang mit der Kriegs-, Eroberungs-und Unterdrückungspolitik des Regimes.22 Zusammenfassend lässt sich zu Wald und Baum folgendes sagen: Die ursprüngliche Zielsetzung bestand darin, jungen, ambitionierten völkischen Wissenschaftlern eine Möglichkeit zur wissenschaftliche Reputation zu verschaffen. Dieses Ziel erfüllte „Wald und Baum“ nur sehr eingeschränkt. Wenn man sich die Listen der Bearbeiter für Themen des Projektes im Bundesarchiv darauf anschaut, finden sich einige etablierte und bekannte Autoren und Wissenschaftler der völkisch nationalsozialistischen wissenschaftlichen Szene wieder. Für junge im nationalsozialistischen Geist geprägte Wissenschaftler, an die sich das Projekt ursprünglich auch gewandt hat, scheint es nur wenig Platz gegeben zu haben. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass zahlreiche Kandidaten dem Entscheidungsgremium als unzuverlässig erschienen. Auf der anderen Seite sollte die Reputation von „Wald und Baum“ sowie dem Ahnenerbe gehoben werden, indem bekannte Namen hier publizierten.

Ulrich Fugger

1 Den aktuellen Forschungsstand zum Ahnenerbe bietet Julien Reitzenstein, Himmlers Forscher – Wehrwissenschaft und Medizinverbrechen im „Ahnenerbe“ der SS, Paderborn 2014, S. 25–38 zur Gründung des Ahnenerbes, S. 57f. zur Überführung des Ahnenerbes in das Amt A des Hauptamtes Persönlicher Stab Reichsführer SS; vgl. Michael H. Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, München 20064, S. 11–72. 2 Johannes Zechner, Der Deutsche Wald. Eine Ideengeschichte, Darmstadt 2016, S. 62–82, 128–159. 3 Alexander Demandt, Der Baum Eine Kulturgeschichte, Köln 20142, S. 319; Bernd-A. Rusinek, „Wald und Baum in der arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte.“ Ein Forschungsprojekt des „Ahnenerbes“ der SS 1937–1945, In Albrecht Lehmann (Hg. u.a.), Der Wald – Ein deutscher Mythos. Perspektiven eines Kulturthemas, Hamburg 2000, S. 267–363; im Folgenden zitiert nach: Internetdokument: http://www.rusinek.eu/wp-content/uploads/2012/02/Wald-und-Baum-in-derarisch-germanischen-Kultur-und-Geistesgeschichte-Langfassung.pdf 2012, S. 4; Der Text von France wurde nach Demandt, Wald, S. 319 zitiert; Der Ausschnitt der Rede von Göring wurde zitiert nach Erich Gritzbach, Hermann Göring. Werk und Mensch München 193820 S. 111. 4 BArch, NS 21/666, Denkschrift „Die Forschungs- und Lehrgemeinschaft „Das Ahnenerbe“ Werden, Wachsen und Wirken“ vom 1.1.1939. 5 Rusinek, Wald, S. 4–6, 13; BArch, NS 21/336, Aufstellung Budget Wald und Baum 1938/39 und 1939/40; ebd., Wüst an Reichsforstamt vom 20.11.1937 über Besprechung zu Wald und Baum. 6 Hausmarken sind Eigentums- und Sippenzeichen, die außen an Häusern, Gebäuden und Gegenständen angebracht sind. In ihrem Kern lassen sie sich bis in die vorheraldische und vorgeschichtliche Zeit zurückverfolgen. 7 BArch, NS 21/720, Wüst an v. Monroy vom 25.10.1937; Rusinek, Wald, S. 13f.; ebd., NS 21/598 Schreiben von Wüst an Reichsforstamt vom 20.1.1937 über Besprechung Wald und Baum; ebd., NS 21/599, Sievers an Trathnigg vom 21.1.1938. 8 Rusinek, Wald, S. 14–21.

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9 BArch, NS 21/720, Wüst an das Reichsforstamt vom 20.11.1937; Rusinek Wald S. 22–24; Zum Konflikt Himmler-Darré vgl. Reitzenstein, Forscher S. 52. 10 Rusinek, Wald, S. 6, 26, 27, 28, 33, 37, 38; BArch NS 21/336 „Wald und Baum in der arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte.“ Mitarbeiter und Themenliste, undat. (Erstes Halbjahr 1939). 11 Zu den wissenschaftlichen Aktivitäten des Ahnenerbes vgl. Malte Gasche, Der „Germanische Wissenschaftseinsatz“ des „Ahnenerbes“ der SS 1942–1945, Bonn 2014. 12 Rusinek, Wald, S. 38–40. 13 Ein Zeidelwald ist ein Wald aus Linden, Salweiden, Tannen und Kiefern zur Erzeugung von Honig und Bienenwachs. Seit dem Mittelalter leiteten sich daraus die Rechte zur Bienenzucht ab. 14 Die Irminsäule war der Überlieferung nach ein frühmittelalterliches vorchristliches Heiligtum der Sachsen, das im Jahr 772 auf Veranlassung von Karl dem Großen zerstört wurde. Außerdem war sie Emblem des Ahnenerbes. 15 Hans Ernst Schneider war von seiner Ausbildung her Literaturwissenschaftler. 1937 wurde er Mitglied der NSDAP und der SS. Anschließend arbeitete er für das Ahnenerbe. Nach 1940 war in den besetzten Niederlanden für die SS und ab 1942 dort für den „germanischen Wissenschaftseinsatz“ des Ahnenerbes tätig. 1945 änderte Schneider seinen Nachnamen in Schwerte um. Unter diesem Nachnamen durchlief er erneut die wissenschaftliche Laufbahn. Diese führte ihn von 1970 bis 1973 zum Rektor der RWTH in Aachen. Als angesehener Wissenschaftler wurde er 1979 emeritiert. 1992 kam es zu seiner Enttarnung: vgl. Bernd-A. Rusinek, Von Schneider zu Schwerte: Anatomie einer Wandlung, in: Wilfried Loth (Hg. u.a.), Verwandlungspolitik: NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, S. 143–180; Gasche, Wissenschaftseinsatz, S. 11–14, 72–101. 16 Vgl. Anm. 14. 17 Diese dürften in diesem Zusammenhang eine ähnliche Bedeutung wie Hausmarken gehabt haben. Vgl. Anm. 6. 18 Als Hudewald wird ein Wald bezeichnet, der als Weide für Nutzvieh genutzt wird. Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit war dies eine weit verbreitete Waldnutzung. 19 BArch, NS 21/336. 20 Rusinek, Wald, S. 40. 21 Rusinek, Wald, S. 69–74. 22 Rusinek, Wald, S. 40ff., 46, 69–74.

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Westforschung Westforschung war deutsche wissenschaftliche Forschung über Westdeutschland und die westlichen Nachbarn in politischer Intention. Im Kontext der volkstumsideologisch motivierten Wissenschaften bezeichnet der Begriff Westforschung einen Komplex wissenschaftlicher Diskurse, Institutionen und Handlungen, die sich Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer spezifischen Weise mit dem Westen des Deutschen Reiches, der Westgrenze beziehungsweise den westlich angrenzenden Nachbarstaaten beschäftigten. Hierbei stellte sie – auch in ihrem Selbstverständnis – ein Gegenstück zu Forschungen über andere Abschnitte der Grenze, insbesondere zur →Ostforschung, dar. Wie diese, legitimierte die Westforschung die kulturelle, wirtschaftliche, geographische oder politische Zugehörigkeit nichtdeutscher Regionen, Staaten beziehungsweise Staatengruppen zum deutschen Staat, zum deutschen „Volkstum“ oder einem von Deutschland dominierten Mitteleuropa und hatte partiell Anteil an den besatzungs- und bevölkerungspolitischen Praktiken beider Weltkriege. In einem allgemeinen Sinne lassen sich vier Perspektiven mit je spezifischen Raumkonzepten unterscheiden. Westforschung konnte sein: a) eine Forschung über den Westen in einem übertragenen Sinne als Synonym für Aufklärung, Liberalismus, Demokratie, Etatismus und Kosmopolitismus („westlicher Geist“), wobei Frankreich als pars pro toto des ganzen Westens stand; b) eine Forschung über die kontinentalen westlichen Kriegsgegner aus dem Ersten Weltkrieg beziehungsweise über Westeuropa als Ganzes; c) eine Forschung über die Westgrenze, die deutschen Grenzgebiete und die durch das Rheinlandabkommen, den Versailler Frieden und die Ruhrbesetzung betroffenen Regionen oder d) eine eng mit den unter a) bis c) genannten Perspektiven verbundene Forschung über einen von den tatsächlichen Grenzen unabhängigen „Westraum“ (auch: Westland) des Reiches. Der Westraum war bei der volksdeutschen Forschung definiert als die Schweiz und „alle rheinischen Lande einschl[ießlich] Luxemburgs, Belgiens, Niederlande und Frankreich[s]“.1 Als Gegenstand der Westforschung bildete der „Westraum“ kein durch aktuelle oder frühere Staats-, Sprach- oder Provinzgrenzen a priori definiertes Gebiet. Er stellte vielmehr ein Raumkonstrukt dar, das sich erst im völkisch-nationalen Diskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sukzessive durchgesetzt hatte. Dieser Diskurs zielte auf eine Erschließung, Vereinigung und Neuordnung der westlichen Regionen gemäß der politischen, ökonomischen, militärischen und kulturellen Interessen des Deutschen Reiches. Die neutralen Staaten Niederlande, Belgien, →Luxemburg und die Schweiz wurden, wie auch die früheren Feudalterritorien Lothringen, Burgund und Savoyen, als historische Resultate einer Auseinandersetzung zwischen Deutschland und dem von Frankreich repräsentierten Westen gedeutet und in das Westraum-Konzept integriert. Gleichzeitig wurde der „Westraum“ als Kampf-

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raum des „Deutschtums“ gegenüber der romanischen Kultur beziehungsweise der französischen Republik ideologisch aufgeladen. Die Themen der deutschen Westforschung waren vorwiegend historischer, bevölkerungswissenschaftlicher und geographischer Natur. Historisch beschäftigte man sich in der Ur- und Frühgeschichte mit dem Verhältnis der Germanen zu den Römern und Kelten; in der mittelalterlichen Geschichte interessierte die Vereinigung des lotharingischen Mittelreichs mit dem Ostreich und das Verhältnis des Heiligen Römischen Reichs zum Königreich Frankreich; in der Frühen Neuzeit befasste man sich mit der zunehmenden Ostexpansion Frankreichs, seinem Einfluss auf die inneren Angelegenheiten des Reichs während der Religionskriege und mit den Reunionen Ludwigs XIV.; die Forschung über die beginnende Moderne war geprägt von den weit reichenden Annexionen der Französischen Revolution und Napoleons I.; im 19. Jahrhundert habe Frankreich versucht, die Schaffung des deutschen Nationalstaates zu hintertreiben, um endlich, nachdem dieser Versuch gescheitert sei, den Ersten Weltkrieg mit dem Ziel der Vernichtung Deutschlands zu beginnen. Die westeuropäische Geschichte wurde als ewiger Kampf gelesen, in dem Frankreich das Reich und Deutschland zu schwächen und zu zerschlagen trachtete, direkt durch militärische Überfälle und territoriale Eingliederungen, indirekt durch die Gründung der genannten Zwischenstaaten auf Kosten des Reichs sowie durch Interventionen und Infiltrationen in Gebiete des Reichs (zum Beispiel auf Seiten der Separatistenbewegung in den linksrheinischen Gebieten und durch die Ruhrbesetzung). Die bevölkerungswissenschaftliche Interpretation sollte der deutschen Politik Anknüpfungspunkte für eine politische, wirtschaftliche beziehungsweise kulturelle Anbindung der westlichen Zwischenstaaten liefern und helfen, den gegenwärtigen westlichen Feind besser zu verstehen, um seine im Versailler Frieden festgeschriebene Vorherrschaft zu brechen. Mit Genugtuung blickten die deutschen Bevölkerungswissenschaften auf den Geburtenrückgang des westlichen Nachbarn. Die Franzosen galten als ein dekadentes, aussterbendes Volk. Die Unterschiede in der Bevölkerungsdichte Deutschlands und Frankreichs ließ die deutsche Westforschung auf einen Endsieg im Kampf ums Dasein der europäischen Nationen hoffen, darüber hinaus lieferte die wenig ausgelastete französische Nutzung des Bodens Argumente für einen Anspruch des deutschen Volkes auf zusätzlichen Lebensraum im Westen.2 Wesentliche historische Bezugspunkte des Westraum-Konzepts waren die fränkischen und alemannischen „Landnahmen“ sowie die gotischen und burgundischen Wanderungen am Ende der Antike, die Etablierung und Teilung des Karolingerreiches, die Angliederung des lotharingischen Mittelreiches an das Ostreich, die Integration Westflanderns in das Heilige Römische Reich, die burgundischen Souveränitätsbestrebungen, die habsburgischen Erwerbungen an der Westgrenze, die antinapoleonischen Kriege und die Annexion Elsaß-Lothringens im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Die angenommene westliche Siedlungsgrenze der germanischen Stämme, die germanisch-romanische Sprachgrenze, die mittelalterlichen

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Reichsgrenzen sowie die Westfront des Ersten Weltkrieges bezeichneten mögliche deutsche Expansionslinien, während die Grenzziehung des Wiener Kongresses als unzureichend und die Grenzziehung sowie die militärischen Besetzungen des Versailler Friedens als aufgezwungen und die Existenz Deutschlands bedrohend abgelehnt wurden. Geographische Ansätze hoben die landschaftliche Einheit des „Westraums“ oder seiner Teilgebiete diesseits und jenseits der Reichsgrenze hervor, stellten Informationen über die wirtschafts- und militärgeographische Lage zur Verfügung und lieferten das methodische Rüstzeug zur Delegitimation der bestehenden Grenzen. Diese Konzepte betonten die Bedeutung des Stromgebietes des Rheins (einschließlich der als Nebenströme dargestellten Maas und Schelde) sowie der Gebirgszüge der Ardennen, Argonnen und Vogesen oder stellten die westliche Ausdehnung der hoch-, mittel- und niederdeutschen Landschafts- und Siedlungsformen als Indikatoren einer „objektiven“ Westgrenze dar. Ein zentrales Motiv bildete das seit dem frühen 19. Jahrhundert nachweisbare Bild von einer mittelalterlichen „Westmark“ als einer Festung, die aus einer nördlichen (Niederlande, Flandern) und einer südlichen „Bastion“ (Schweiz), einem frühzeitig verlorenen Vorland (Burgund) sowie einem angegriffenen Zentrum (Elsaß, Lothringen, Luxemburg, Pfalz) bestünde. Dieses Motiv konstituierte die Vorstellung einer Dreiteilung des „Westraumes“ in einen nördlichen, mittleren und südlichen Abschnitt mit je spezifischen strategischen Funktionen; zugleich wirkte es in dem Sinne handlungsleitend, dass allein die Wiederherstellung der Bollwerke die Westgrenze sichern könnte.3 Die Zuordnung der genannten Regionen zu einem homogenen deutschen Raum jenseits der Westgrenze findet sich erstmals bei Wolfgang Menzel, der in seinem unter dem Eindruck der Rheinkrise veröffentlichten Essay „Die westliche Grenzfrage“ (1841) nicht allein die von →Ernst Moritz Arndt erhobene Forderung nach einer Grenzziehung entlang der Sprachgrenze wiederholte, sondern darüber hinaus ein Recht der Deutschen auf die frankophonen Territorien des mittelalterlichen Reiches proklamierte. Nach der zunächst als Lösung der westlichen Grenzfrage aufgefassten Annexion Elsaß-Lothringens plädierten vor allem Autoren der alldeutschen Bewegung für eine neuerliche Verschiebung der Westgrenze. Große Bedeutung erlangte Kurd von Strantz’ seit 1886 mehrfach erweiterte Schrift „Das verwelschte Deutschtum jenseits der Westmarken des Reiches“, in der er die Forderung nach einer Annexion Westflanderns, Lothringens und Burgunds unter Verweis auf germanische Toponymie begründete. In Anlehnung an die Politische Geographie Friedrich Ratzels definierte der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, Ernst Hasse, die Regionen zwischen der Rhein- und Rhonemündung 1905 als „Zwischenland“, das es zwischen Deutschland und Frankreich aufzuteilen, nach habsburgischem Vorbild als Militärgrenze einzurichten und durch die Ansiedlung deutscher Siedler zu germanisieren gelte. Um 1900 radikalisierte sich der alldeutsche Diskurs, indem die gegenläufige demographische Entwicklung in Deutschland und Frankreich großflächige Verschiebungen von französischer und wallonischer Bevölkerung legitimieren sollte. Damit verbunden war die Behauptung einer rassischen Minderwertigkeit der

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Franzosen durch den Rasseforscher Karl Felix Wolff. Dieser Radikalisierungsprozess mündet in die Kriegszieldenkschrift des alldeutschen Verbandsvorsitzenden →Heinrich Claß mit ihrer Kernforderung einer Annexion französischer Gebiete „frei von Menschen“.4 Die alldeutsche Propaganda erwies sich nach der militärischen Niederlage im Ersten Weltkrieg als nicht anschlussfähig und verlor in der völkischen und jungkonservativen Westpolitik an Bedeutung.5 Wesentlichen Einfluss auf die Etablierung einer völkisch orientierten Forschung über die umstrittenen Gebiete, aber auch auf den vorgelagerten „Volks- und Kulturboden“, nahm der im Mai 1919 als völkische und landsmannschaftliche Dachorganisation gegründete Deutsche Schutzbund (DSB). Konzentrierte man sich zunächst auf die Volksabstimmungen in Oberschlesien, Kärnten, West- und Ostpreußen, wandte sich der DSB, der bereits seit 1920 über ein Westreferat verfügte, im „Ruhrkampf“ 1923 verstärkt dem Westen zu und führte 1925 in Münster und 1928 in Essen seine Bundestagungen mit westpolitischem Schwerpunkt durch. Seit Januar 1922 führte der DSB gezielt Wissenschaftler mit Vertretern der Mitgliedsbünde und mit ideologischen Vordenkern wie →Max Hildebert Boehm, →Karl Christian von Loesch, Hermann Ullmann, Friedrich Lange und Friedrich König zusammen. Er förderte durch Tagungen, Publikationen und Ausschüsse die Volkstums- und Minderheitenforschung, integrierte über die von Friedrich Heiß geleitete Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit (1925) und ihre in der Generation der Weltkriegsjugend einflussreiche Zeitschrift →Volk und Reich eine Vielzahl grenzlandpolitisch aktiver Jugend- und Studentenbünde und bezog zunehmend wirtschaftliche, wirtschaftsgeographische und bevölkerungspolitische Aspekte in seine Arbeit ein. Auf der Flensburger Bundestagung 1923 stellte König Flandern, Luxemburg, Elsaß-Lothringen und die Schweiz in programmatischer Weise als Teile eines umfassenderen, von Rhein, Maas, Schelde und Rhone gebildeten Grenzraumes vor. „Volk und Reich“ widmete sich zwischen 1927 und 1930 auf der Basis der Geopolitk Karl Haushofers, der Reichsideologie Martin Spahns und der Volksbodentheorie →Wilhelm Volz’ und Albrecht Pencks schwerpunktmäßig dem „Kampf ums Westland“.6 Einen eigenständigen Beitrag zur Etablierung des Westraum-Konzepts lieferte die aufstrebende Geopolitik. In Anlehnung an eine 1917 vom Schweizer Geographen Gustav Braun vorgelegte Konzeption der „mitteleuropäischen Grenzmarken“ schlug Walther Wütschke 1924 im ersten Jahrgang der Zeitschrift für Geopolitik das Modell eines „arelatisch-lotharingischen Grenzsaumes“ vor. →Karl Haushofer griff Wütschkes Konzept auf und stellte es als westliches Pendant des östlichen Grenzraumes vor. Auf dieser Grundlage legte Haushofer 1928 bis 1931 gemeinsam mit →Paul Wentzcke die ersten Bände des Sammelwerks „Der Rhein. Sein Lebensraum, sein Schicksal“ vor, das unter Beteiligung von 17 Fachwissenschaftlern die geographische, wirtschaftliche, infrastrukturelle, kulturelle und geopolitische Einheit dieses Raumes darlegen sollte, jedoch unvollendet blieb.7

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Einen gewissen Einfluss auf die Westforschung übte der seit den 1890er Jahren von Seiten der Alldeutschen unterstützte flämische Nationalismus aus. Während des Ersten Weltkrieges hatte die deutsche Besatzungsverwaltung die kulturelle Kollaboration flämischer Nationalisten gefördert, die unter anderem in der „Flamisierung“ der Universität Gent und der Gründung des „Raad van Vlaanderen“, der im Dezember 1917 die Unabhängigkeit von Belgien proklamierte, ihre Höhepunkte fand. Nach rigiden Urteilen belgischer Gerichte bei Kriegsende reorganisierte sich der flämische Nationalismus teils im deutschen Exil, teils in verjüngten und radikalisierten flämischen Organisationen, deren Entwicklung von studentischen deutschen Grenzlandaktivisten organisatorisch, publizistisch und ideologisch unterstützt wurde. Die Vorstellung des Westraumes als dreigeteilte Kampfzone ließ es zu, die innerbelgischen Auseinandersetzungen als einen Kampf um das nördliche Bollwerk der deutschen „Westlande“ zu interpretieren, von dessen Ausgang das Schicksal der gesamten Westgrenze abhänge. Untermauert wurde diese Vorstellung durch das verkehrs- und wirtschaftsgeographische Argument, dass die Verfügung über das Mündungsdelta von Rhein, Maas und Schelde entscheidend für die Realisierung des ökonomischen Potenzials des rheinisch-westfälischen Industriegebietes und damit indirekt entscheidend für die Hegemonie über den „Westraum“ sei. Diese auch von der Schwerindustrie des rheinisch-westfälischen Industriebezirks geförderte Konzentration auf das Mündungsdelta wurde von Robert Holthöfer durch die Gründung der Stiftung „Volk und Reich“ forciert. Seitens der Westforschung hielt der in beiden Weltkriegen in kulturpolitischen Funktionen der deutschen Besatzungsverwaltung tätige und in der Zwischenkriegszeit für die Verwaltung der Flandern-Akten des Reichsarchivs verantwortliche Historiker Robert Paul Oszwald die Verbindungen zu flämischen Exilanten aufrecht und spitzte die Vorstellung eines nördlichen Bollwerks des Westraum zum Konzept eines „Nordwestraumes“ zu.8 In der vom Deutschen Schutzbund mitinitiierten →Leipziger Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung und deren Vorgängereinrichtungen kamen ab 1922 Wissenschaftler und Politiker zusammen, um gemeinsam über den nationalpolitischen Einsatz von Wissenschaften zu entscheiden. Die alliierte Untermauerung politischer Forderungen durch Expertenteams bei den Friedensverhandlungen in Versailles hatte in deutschnationalen Wissenschaftskreisen eigene Versäumnisse aufgezeigt. In der Leipziger Stiftung wurde das wissenschaftliche Konzept des deutschen „Volks- und Kulturbodens“ entwickelt, nach dem alle jemals von Deutschen besiedelten Gebiete auf der Welt vom Deutschtum geprägt seien. Der deutsche Staat habe eine besondere Verantwortung und Kompetenz für diese Gebiete. Zu den Problemen der an Belgien und Frankreich abgetretenen Grenzgebiete, der deutschen Minderheiten, des Saargebietes und allgemein des „westdeutschen Volksbodens“ trafen sich die Mitglieder der Leipziger Stiftung zu fünf von Volz und Penck geleiteten Tagungen (1. bis 3. März 1924 in Witzenhausen: Westdeutscher Volksboden, 5. bis 7. Oktober 1924 in Heppenheim: Westdeuscher Volksboden, 12. bis 14. April 1926 in Meersburg: Alemannischer Kulturraum, 30. September bis 2. Oktober 1926 in

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Freyersbach: Kulturgeschichte Elsaß-Lothringens, 19. bis 21. April 1928 in Kleve: Niederlande, Belgien, Eupen-Malmedy, Luxemburg). Das „Deutschtum“ im Saargebiet war für die Leipziger Stiftung leicht zu belegen, hier drehte sich die Diskussion vielmehr um die wissenschaftliche Vorbereitung des vom Versailler Frieden vorgesehenen Plebiszits (1935). Großen Raum nahm die Frage der Gebietsverluste von Eupen-Malmedy an Belgien und von Elsaß-Lothringen an Frankreich ein, da es hier galt, die Behauptungen belgischer und französischer Wissenschaftler vom keltischromanischen „Volkstum“ dieser Territorien zu entkräften. Für den Oberrhein stellte der Geograph →Friedrich Metz, der Assistent der Leipziger Stiftung, die These von der Einheitlichkeit des elsässischen und des badischen Ufers auf. Mit ihrer Behauptung vom „Deutschtum“ in den westlichen Nachbarstaaten lieferte die Leipziger Stiftung die Hauptthese einer ihrer Nachfolgeeinrichtungen, der →Westdeutschen Forschungsgemeinschaft (WFG). Diese 1931 in Bingen gegründete Organisation bildete den Rahmen für die überwiegende Zahl der in der Westforschung involvierten Institute, Personen und Aktivitäten vor und während des Zweiten Weltkriegs.9 Den paradigmatischen Kern der unter dem Dach der WFG zunehmend professionalisierten Westforschung bildete indes →Franz Steinbachs Habilitationsschrift „Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte“ von 1925. Sie wendete die in der binnendeutschen Kulturraumforschung entwickelte Theorie von der dialektgeographischen Dynamik auf die Sprachgrenze zwischen Germano- und Frankophonie an. An toponymischen Aufnahmen, gestützt durch Gräberfunde der Archäologie in Belgien und Nordfrankreich, stellte er die These auf, dass sich „germanische Siedler in größerer Zahl“ weit über die mittelalterliche Sprachgrenze hinaus im Inneren Frankreichs niedergelassen hätten. Die existierende Sprachgrenze bezeichnete er als „eine Rückzugslinie des in der Völkerwanderung weit nach Westen getragenen germanischen Volkstums“. In enger Verbindung mit dem Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande (IGL) legte Steinbachs Schüler →Franz Petri 1937 seine viel beachtete Habilitationsschrift „Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich“ vor, in der er mit Hilfe archäologischer und sprachgeschichtlicher Befunde den Nachweis einer weit ins Zentrum Frankreichs ausgreifenden breiten germanischen Volkssiedlung versuchte.10 Nach den Siegen im Westfeldzug im Frühjahr 1940 stand für die deutsche Westforschung eine großzügige Westerweiterung des Deutschen Reiches fest. Die Annexion von Eupen-Malmedy, dem früheren Neutral-Moresnet sowie der altbelgischen Gebiete von Montzen und Arlon, von Luxemburg und von Elsaß-Lothringen war die geringste Forderung der Westforscher an die Politik. Man wünschte die mittelalterliche Reichsgrenze wiederherzustellen und von den Niederlanden über Belgien und Nordostfrankreich bis hin zu den französischen Regionen Lothringen, FrancheComté und großen Teilen Burgunds alle jemals zum Heiligen Römischen Reich gehörigen Gebiete Deutschland einzugliedern. Hierzu nahm die WFG „vor allem landesund wirtschaftskundliche Arbeiten vom Artois bis zur Freigrafschaft in Angriff“.11 Die von der Westforschung legitimierte neue Ostgrenze Frankreichs entsprach in et-

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wa der „Nordostlinie“ oder „Führer-Linie“, die im Juni 1940 von der Wehrmacht gegen jegliche Rückwanderung der zu Kriegsbeginn aus den von Kampfhandlungen bedrohten Gebieten nach Westfrankreich evakuierten Bevölkerung abgesperrt wurde. In einer von Wilhelm Stuckart für Hitler erstellten Denkschrift über die neue Grenze war eine weitgehende Germanisierung französischer Gebiete durch deutsche Siedler vorgesehen. Diese wurde von der Ostdeutschen Landbewirtschaftungsgesellschaft (später auch „Reichsland“ oder „Westland“) durchgeführt. Ein zentrales Argument für diese Bevölkerungspolitik lieferte die von Loesch und →Hans Harmsen aus dem alldeutschen Diskurs aktualisierte These von der „volklichen Schwäche“ Frankreichs: Die Zahl der Franzosen sei wesentlich geringer, als es die französischen Bevölkerungsstatistiken auswiesen, da diese nicht nach völkischen Kriterien differenzierten. Dieser Rückgang der französischen Bevölkerung habe eine Verödung französischer Landstriche zur Folge, so daß eine territoriale Verkleinerung Frankreichs lediglich eine Anpassung an die demographische Entwicklung darstelle. In die gleiche Kerbe schlug Metz in seiner an das Reichsinnenministerium gerichteten Denkschrift über die neue deutsche Westgrenze, worin die Deportation von circa 500.000 französischsprachigen Menschen implizit inbegriffen war.12 Ein besonderes Objekt der Westforschung auf französischem Boden war Burgund. Die Burgundforschung befasste sich nicht nur mit der heutigen Bourgogne, sondern mit Burgund in einem aus dem Mittelalter übertragenen Sinn, vor allem mit der Franche-Comté, der so genannten Freigrafschaft Burgund, dazu mit Teilen der heutigen französischen Region Bourgogne und der Region Rhône-Alpes. Sie spielte zwar in der deutschen Westforschung keine zentrale Rolle, wurde aber von der SS für ihre westpolitischen Ziele instrumentalisiert. Wie die allgemeine Westforschung wollte auch die Burgundforschung die germanischen Grundlagen französischer Gebiete aufzeigen. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg beobachtete das →Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums den Regionalismus des „alten reichsromanischen Gebiete[s] der Freigrafschaft Burgund“. Namentlich →Kleo Pleyer behauptete eine landschaftliche Stammes- und Volksgruppenbewegung in der Bourgogne und Franche-Comté. Die WFG-Tagungen in St. Märgen von 1936 und in Schönau von 1938 befassten sich ausdrücklich mit burgundischen Themen. Rassenforscher wie →Hans F. K. Günther postulierten die nordische Rasse der Burgunder. Im Zweiten Weltkrieg wurde die deutsche archäologische und ur- und frühgeschichtliche Forschung in Burgund aktiv. Die deutsche Germanistik und Romanistik bestätigten den Anteil germanischer Worte an den burgundischen Ortsnamen. Aus dem Umkreis der SS wurde die Burgundpropaganda wissenschaftlich unterstützt. Der Freiburger Oberbürgermeister, SS-Obersturmbannführer Franz Kerber, gab Anfang 1942 ein Burgundbuch mit Beiträgen namhafter deutscher Wissenschaftler heraus. Auch Max Hildebert Boehm führte seine Forschungen mit Rückendeckung des SS-Brigadeführers Werner Best durch und konstruierte in seinem Burgundbuch eine metapolitische und metahistorische Ethnie der Burgunder. Für das →SS-Ahnenerbe stellte Erich Röhr den Verfall und die „Volksschwäche“ eines burgundischen Dorfes

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fest und legitimierte damit die von SS-Oberführer →Konrad Meyer für die FrancheComté und Burgund entwickelten SS-Bevölkerungsplanungen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1940 sollten die Südtiroler Optanten (AdO) die Franche-Comté und Teile der Bourgogne erhalten, wozu die gesamte französische Bevölkerung vertrieben werden sollte. Die konkreten Umsiedlungsplanungen für die Südtiroler wurden Anfang 1941 aufgegeben, aber nicht das Ziel Himmlers, in Burgund einen eigenen SSStaat zu errichten.13 Neben der in der WFG betriebenen Westforschung entstanden weitere Westraum-Forschungsprogramme, die Wissenschaftler und politische Akteure überregional zusammenfassten. So koordinierte die 1936 am →Deutschen Ausland-Institut (DAI) in Stuttgart und der Münchener Deutschen Akademie eingerichtete Arbeitsstelle für auslandsdeutsche Volksforschung unter der Leitung von →Hans Joachim Beyer einen „Plan über die wissenschaftliche Arbeit im Westraum“. In Abgrenzung zur WFG, der Beyer mangelnde Orientierung an der nationalsozialistischen Rassenideologie vorwarf, umfasste der Plan im April 1938 für Elsaß-Lothringen 16, für Eupen-Malmedy 9 und für die Benelux-Staaten 31 Themen, deren Bearbeitung Beyer in Abstimmung mit politischen Stellen der nationalsozialistischen Grenzlandpolitik auf eine Vielzahl westdeutscher Institute sowie die →Deutsche Studentenschaft verteilte. Im Zentrum des Programms standen kleinere regional-, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Themen des 20. Jahrhunderts, denen Beyer eine besondere politische, planerische oder propagandistische Relevanz zumaß. Im unmittelbaren Vorfeld des deutschen Einmarschs in die westlichen Nachbarstaaten organisierte Ernst Anrich in Koordination mit Robert Ernst im Rahmen des VDA einen Wissenschaftlichen Weststab als weiteres Gremium der Westforschung. Anrich verfolgte das Ziel, der politischen Führung kurzfristige Materialzusammenstellungen an die Hand zu geben, eine optimale Grenzziehung zu entwickeln sowie volkstumspolitische Grundsatzfragen für eine Neuordnung der westlichen Nachbarstaaten zu klären.14 In der Nachkriegszeit gelang es, die tragenden Institutionen der Westforschung fortzuführen. Dies gilt zum einen für Personen wie Aubin, Petri, Steinbach, die den Ansatz einer Volks- und Kulturbodenforschung im Sinne einer historischen Landeskunde oder eine Wirtschafts- und Sozialgeschichte variierten, als auch für Institute wie das IGL und das →Alemannische Institut (AI); selbst das →Elsaß-Lothringische Institut (ELI) wurde als Erwin von Steinbach-Stiftung fortgesetzt. Als Nachfolgeeinrichtung der WFG entstand 1950 unter der Ägide Petris die Arbeitsgemeinschaft für westdeutsche Landes- und Volksforschung mit dem ausdrücklichen Ziel, im Rahmen der „europäischen Notwendigkeiten“ die „früheren Wissenschaftsbeziehungen über die westlichen Grenzen wieder [zu] knüpfen“. Die Westforschung stand nun im Kontext der Westintegration der Bonner Republik, der beginnenden europäischen Integration und Herausbildung eines deutsch-französischen Integrationskerns unter Einbeziehung der Benelux-Staaten. Hierbei wurden Beziehungsressourcen aus der Okkupationszeit von deutschen Westforschern genutzt, um Leumundszeugnisse von den nicht-deutschen Mitarbeitern aus den früheren besetzten Gebieten zu erlan-

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gen, die sich auf diese Weise ihrerseits von einem möglichen Kollaborationsverdacht befreiten und ein Klima gegenseitigen Verständnisses auf der Basis gemeinsamer, vorgeblich sachbezogener und unpolitischer Arbeit begründeten.15

Thomas Müller, Wolfgang Freund

1 PA, R 60274, Auswärtiges Amt und VDA an Emil Meynen vom 7.11.1935. Thomas Müller, Imaginierter Westen. Das Konzept des „deutschen Westraums“ im völkischen Diskurs zwischen Politischer Romantik und Nationalsoziallismus, Bielefeld 2009. 2 Vgl. Friedrich Heiß (Hg.), Deutschland und der Westraum, Berlin 1941; Karl C. von Loesch, Die Westmark. Wort und Inhalt, in: Die Westmark 5 (1937/38), S. 103–108; ders., Die Westmark im Umbruch der Zeit, in: Die Westmark 8 (1940/41), S. 61–72; Hans Schrepfer, Der Westraum und seine Landschaften, in: Westland 1 (1943/44), S. 4–10; Franz Petri, Die geschichtliche Stellung der germanisch-romanischen Grenzlande im Westen, in: Westland 1 (1943/44), S. 66–71; Karsten Jedlitschka, Wissenschaft und Politik, Berlin 2006, S. 212; Matthias Weipert, Mehrung der Volkskraft, Paderborn 2006, S. 66; Petra Overath, Zwischen Krisendeutung und Kriegsszenarien. Bevölkerungspolitische Vorstellungen in Deutschland und Frankreich (1870–1918), in: Comparativ 3 (2003), S. 65–79; dies., Transfer als Verengung? Zur internationalen Diskussion über den Geburtenrückgang in Frankreich in Texten von Fernand Boverat, Roderich von Ungern-Sternberg; Joseph John Spengler in den späten 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, in: Alain Chatriot (Hg. u.a.), Figurationen des Staates in Deutschland und Frankreich, 1870–1945, München 2006, S. 185–211. 3 Der Kampf ums Westland. Eine Rückschau und Zusammenfassung aus drei Jahren Westarbeit von „Volk und Reich“, in: Volk und Reich 5 (1929), S. 608–730. 4 Ernst Moritz Arndt, Der Rhein. Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Grenze, in: Wilhelm Steffens (Hg.), Arndts Werke. Auswahl in 12 Teilen, Berlin o. J., 11. Teil, S. 37–83; ders., Über Preußens Rheinische Mark und über Bundesfestungen, in: ebd., S. 143–199; Wolfgang Menzel, Die westliche Grenzfrage, in: Deutsche Vierteljahrs Schrift (1841) 2, S. 25–69 (die Schrift wird fälschlich Helmuth von Moltke zugeschrieben); Kurd von Strantz, Das verwelschte Deutschtum jenseits der Westmarken des Reiches. Antwort auf das französische Rachegeschrei, Leipzig 19032 (Erstaufl. 1886); ders., Unser völkisches Kriegsziel. Die Wiederherstellung der alten geschichtlichen Reichs- und Volksgrenzen im Osten, Süden und Westen, sowie die künftige deutsche Übersee, Leipzig 1918; Ernst Hasse, Deutsche Politik, München 1905/06, Bd. 1, Heft 2: Die Besiedlung des deutschen Volksbodens, und Heft 3: Grenzpolitik; Josef Ludwig Reimer, Ein pangermanisches Deutschland, Berlin 1905; Karl Felix Wolff, Frankreich und die älteste europäische Kultur. Eine kultur- und rassengeschichtliche Betrachtung, in: Alldeutsche Blätter 25 (1915), S. 50ff., 58ff., 60f.; Heinrich Claß, Denkschrift betreffend die national-, wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele des deutschen Volkes im gegenwärtigen Kriege, Sept. 1914, in: Reinhart Opitz (Hg.), Europastrategien des deutschen Kapitals 1900–1945, Köln 1977, S. 226–266. 5 Paul Rohrbach (Hg.), Chauvinismus und Weltkrieg, Bd. 2. Die Alldeutschen, Berlin 1919, S. 245– 260. 6 10 Jahre Deutscher Schutzbund 1919–1929, hrsg. vom Deutschen Schutzbund, Berlin 1929; Die 4. Bundestagung des Deutschen Schutzbundes Sylt – Flensburg – Hamburg, Juni 1923, hrsg. vom Deutschen Schutzbund, Berlin 1923, S. 26ff.; Berthold Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen „Ring“-Kreises 1918–1933, Berlin 2000; Karl Haushofer, Rheinische Geopolitik, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 477–491; ders./Martin Spahn, Der Rhein, das Reich und Preußen, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 1–22. 7 Gustav Braun, Mitteleuropa und seine Grenzmarken. Ein Hilfsbuch für geographische Studien und Exkursionen, Leipzig 1917; Walter Wütschke, Ein geopolitisches Grundgesetz in der Entwick-

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lung der französischen Politik, in: ZfG 1 (1924), S. 271–276; K. Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, Berlin 1927; ders., P. Wentzcke, Der Rhein. Sein Lebensraum, sein Schicksal, Bd. I. Erdraum und Erdkräfte. Der natürliche Lebensraum, hg. von K. Haushofer; Bd. II. Landschaft und Menschheit. Der Ausbau durch die Gesellschaft, hg. von Kurt Wiedenfeld; Bd. III. Der Mensch und sein Geist. Kulturpolitik des Rheins, hg. von P. Wentzcke in Verbindung mit Hermann Oncken, Berlin 1928–1931. 8 Stefan Laux, Flandern im Spiegel der „wirklichen Volksgeschichte“. Robert Paul Oszwald (1883– 1945), in: Burkhard Dietz (Hg. u.a.), Griff nach dem Westen. Die Westforschung der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919–1960), Münster 2003, S. 247–290; Winfried Dolderer/Robert P. Oszwald, in: Nieuwe Encyclopedie van de Vlaamse Beweging, Tielt 1990, S. 23–64; R.P. Oszwald, Nordwesteuropa, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 530–562. 9 Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung Leipzig. Die Tagungen der Jahre 1923– 1929, hrsg. vom Verwaltungsrat der Stiftung für deutsche Volks und Kulturbodenforschung, Langensalza 1929, S. 25f., 34ff., 91–101, 226ff., 533f.; Michael Fahlbusch, „Wo der deutsche … ist, ist Deutschland!“ Die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920–1933, Bochum 1994, S. 272f.; Wilhelm Volz (Hg.), Der westdeutsche Volksboden. Aufsätze zu den Fragen des Westens, Breslau 1925; Friedrich Metz, Die Oberrheinlande, Breslau 1925; Vanessa Conze, Die Grenzen der Niederlage. Kriegsniederlagen und territoriale Verluste im Grenz-Diskurs in Deutschland (1918–1970), in: Horst Carl (Hg. u.a.), Kriegsniederlagen, Berlin 2004, S. 163–184, 168ff. 10 Franz Steinbach, Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte, Jena 1926 (Nachdruck Darmstadt 1962), S. 177–78; Franz Petri, Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich. Die fränkische Landnahme in Frankreich und den Niederlanden und die Bildung der westlichen Sprachgrenze, Bonn 1937; Wolfgang Haubrichs, Germania submersa. Zu Fragen der Quantität und Dauer germanischer Siedlungsinseln im romanischen Lothringen und Südbelgien, in: Harald Burger (Hg. u.a.), Verborum amor, Berlin 1992, S. 633–66, 640ff. 11 HStA Wiesbaden, 1150, 1, Sante an Zipfel vom 27.6.1940, S. 3; PA, R 60294, E063259, Theodor Mayer, WFG-Tätigkeitsbericht 1937/38; PA, R 60270, E061459, Ammann, RFG-Tagung in Bingen vom 27./28.6.1931; vgl. Hans Steinacher, Bundesleiter des VDA 1933–1937, hrsg. von Hans-Adolf Jacobsen, Boppard/Rh. 1970, S. 318, Steinacher an Friedrich Stieve (AA) vom 18.7.1935; Fahlbusch, Wissenschaft, S. 353; Schöttler, Historische Westforschung, S. 210–13. 12 PA, R 105124, Leiter der Reichsstelle für Raumforschung, Raumplanerische Möglichkeiten einer Grenzziehung und Einteilung der Grenzräume im Westen vom 15.7.1940, S. 10–19; Peter Schöttler, Eine Art „Generalplan West“. Die Stuckart-Denkschrift vom 14. Juni 1940 und die Planungen für eine neue deutsch-französische Grenze im Zweiten Weltkrieg, in: Sozial.Geschichte 18 (2003), S. 83–130; ders., La „Westforschung“ allemande des années 1930–1940, in: Christian Baechler (Hg.), Les Reichsuniversitäten de Strasbourg et de Poznan et les résistances universitaires 1941– 1944, Strasbourg 2005, S. 35–46; Fahlbusch, Wissenschaft, S. 473f., 706–09; GStA PK, Rep. 178/ VII, 3A5, I, Bl. 142r, Zipfel, Aktenvermerk über Besprechung mit Metz in Freiburg am 15.10.1940 vom 23.10.1940; vgl. Schöttler, Von der rheinischen Landesgeschichte zur nazistischen Volksgeschichte oder Die „unhörbare Stimme des Blutes“, in: Winfried Schulze (Hg. u.a.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt 1999, S. 89–113, S. 100f.; Robert Specklin, La frontière franco-allemande dans les projets d’Adolf Hitler, in: Recherches géographiques à Strasbourg, 24 (1983), S. 12f.; Hans Umbreit, Der Militärbefehlshaber in Frankreich (1940–1944), Boppard 1968, S. 72–77; ders., Die deutsche Herrschaft in den besetzten Gebieten, 1942–1945, in: ders. (Hg. u.a.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Stuttgart 1999, Bd. 5/2, S. 1–272, S. 22, 24; Hans Harmsen, Bevölkerungsprobleme Frankreichs, in: Karl C. von Loesch (Hg.), Volk unter Völkern, Breslau 1925, S. 339–349; ders., Frankreichs volkliche Schwäche, in: Volk und Reich 16 (1940), S. 398–410. 13 Vgl. den Artikel Frankreich, insbesondere „Die politische Struktur des modernen Frankreich“ mit der Rubrik „Die Fremdvölkischen im französischen Staat und die Selbständigkeitsbewegungen

Westforschung  1315

der französischen Landschaften (Regionalismus)“, in: Carl Petersen (Hg. u.a.), Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums, Breslau 1937, S. 536–38; Kleo Pleyer, Die Landschaft im neuen Frankreich: Stammes- und Volksgruppenbewegung im Frankreich des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1935, S. 284f.; H. F. K. Günther, Herkunft und Rassengeschichte der Germanen, München 1935, S. 105; BayHStA, MA 108049, Deutsche Mittelstelle, Tagung in Heppenheim vom 5. bis zum 7.10.1924, S. 3ff.; Th. Mayer, Ein Rückblick, in: ders., Mittelalterliche Studien. Gesammelte Aufsätze, Sigmaringen 19722, S. 463–503, 476; STAK, NL Mayer, 17, Bl. 163, 187, 193, Mayer an Hans Rheinfelder vom 5.7.1949, Mayer an F. L. Ganshof vom 13.8.1950, Mayer an Heinz von Ficker vom 23.5.1950; Franz Kerber (Hg.), Burgund, Straßburg 1942; M.H. Boehm, Geheimnisvolles Burgund, München 1944, S. vii.; AN, AJ40 570/2, Bl. 96f., Boehm an A. Toepfer vom 8.5.1941; AN, AJ40 570/3, Bl. 21f., 94f., 97: Ernst Wermke an Boehm vom 24.5. und 10.6.1941, Wermke an W. Best vom 20.5.1941; Boehm an Wermke vom 16.6.1941; Ernst Gamillscheg, Romania Germanica. Sprachund Siedlungsgeschichte der Germanen auf dem Boden des alten Römerreichs. Bd. 3. Die Burgunder, Berlin 1936, S. 197–201; Erich Röhr, Montigny: Bevölkerung und Volkstum eines burgundischen Dorfes im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1942; Karl Stuhlpfarrer, Umsiedlung Südtirol 1939–1940, Wien 1985, S. 649–69; W. Freund, NS-Volksforschung im Nibelungenland, in: Gerold Bönnen (Hg. u. a.), Die Nibelungen in Burgund, Worms 2001, S. 138–59; Ruthardt Oehme, Die Freigrafschaft, in: DALV 5 (1941), S. 482–505. 14 Thomas Müller, Formierung des Grenzraums. Das westpolitische Netzwerk des Reichsinspekteurs und Landeshauptmanns Haake, in: Dietz (Hg), Griff nach dem Westen, S. 763–790, 788; Katja Gesche, Kultur als Instrument der Außenpolitik totalitärer Staaten. Das Deutsche Ausland-Institut 1933–1945, Köln 2006; Ernst Ritter, Das Deutsche Ausland-Institut in Stuttgart 1917–1945, Wiesbaden 1976; ALVR, VDA 4585, Ernst Anrich, Erster Entwurf für die Arbeitsrichtung des wissenschaftlichen Weststabs; GLAK, 449, 67, Metz an Stenzel vom 6.5.1940. 15 Vgl. den Nachkriegsbriefwechsel zwischen Georg Wilhelm Sante und dem belgischen Generalarchivar Camille Tihon bei Els Herrebout, Georg Sante und der deutsche Archivschutz in Belgien während des Zweiten Weltkrieges, in: Robert Kretzschmar (Hg.), Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus, Essen 2007, S. 208–16; Franz Petri, Belgien, Niederlande, Luxemburg vom Ende des I. Weltkriegs bis zur Politik der europäischen Integration 1918–1970, in: Theodor Schieder (Hg.), Handbuch der europäischen Geschichte, Stuttgart 1979, S. 699–728, 712–716, 719f.; Karl Ditt, Die Kulturraumforschung zwischen Wissenschaft und Politik. Das Beispiel Franz Petri (1903–1993), in: Westfälische Forschungen 46 (1996), S. 73–176, 148.

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Akademie für Deutsches Recht Die Akademie für Deutsches Recht ist ein Projekt des damaligen Reichskommissars für die Gleichschaltung der Justiz in den Ländern, des bayerischen Justizministers und späteren Reichsministers ohne Geschäftsbereich, Hans Frank, gewesen, mit der er seinen schwindenden Einfluss auf die Justiz- und Rechtsgestaltung des NS kompensieren wollte. Die Akademie, in der sich vor allem die Rechtsexpertise der politisch zuverlässigen Professorenschaft Deutschlands zusammenfand, sollte Frank eine eigene politische Hausmacht gegenüber den Ministerien des NS verschaffen. Seine hochfliegenden Pläne, die sowohl die Machtstrukturen des NS als auch den tatsächlichen Verlauf nationalsozialistischer Rechtssetzung vernachlässigten, veranlassten ihn, die Akademie als eine obligatorisch in den Gesetzgebungsprozess des NS einzuschaltende Institution zu planen. Sie sollte die fehlenden parlamentarischen Beratungen in der Rechtsgestaltung ersetzen und für ein handwerklich gutes neues Recht sorgen. Die Mitglieder der Akademie glaubten an die nationalsozialistische Rechtsrevolution und den „Rechtsstaat“ Hitlerscher Prägung, mit denen das tote römische Juristenrecht, dem das Volk entfremdet worden sei, zurück auf den Boden des Volksempfindens geholt würde. Die Akademie sollte Rechtspolitik machen. Hitlers Widerwille, seine Willkür durch Rechtsregeln und Juristen einschränken zu lassen, der Unwille der Ministerien, die eigene Macht teilen zu müssen, die oftmals eilige und fragmentarische Bedarfsrechtssetzung auf manchen Rechtsgebieten und der fehlende Wille des nationalsozialistischen Staates, dort große Rechtsreformen in Angriff zu nehmen, wo sich die nationalsozialistische Weltanschauung durch Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe oder schnelle Pinselstriche wie im Zivilrecht und im Strafrecht ohnehin zur Geltung brachte, schufen kein optimales Klima für die Akademie. Ihr Erfolg ist deshalb schwer messbar. In ihrer Anfangszeit, die mit der Appeasementpolitik Hitlers gegenüber dem Ausland zusammenfiel, bewährte sie sich als Propagandamittel für die Außenrepräsentation des Reichs, das sich mit dem Schein von Rechtsstaatlichkeit umgab. Der Anteil ihrer Ausschüsse an der Rechtssetzung war dagegen durchwachsen, obwohl sich die Gesetzesblätter mit Rechtserneuerungen füllten. Einigen Ausschüssen der Akademie gelang es, mit ihren Gutachten und Denkschriften Einfluss auf die Rechtsgestaltung zu nehmen. Hier mag vor allem der Ausschuss für Nationalitätenrecht hervorzuheben sein, der die „rassenpolitische“ Vereinheitlichung der Rechtssprache im Reichsbürgerrecht sowie die Expansionspolitik des nationalsozialistischen Staates in Mittel- und Osteuropa gutachterlich begleitete.1 Andere Ausschüsse scheiterten, obwohl sich die Ministerien zumindest vordergründig zu einer Zusammenarbeit oftmals bereit zeigten. Die Gründung der Akademie fand am 26. Juni 1933 im bayerischen Justizministerium statt und wurde zunächst durch ein bayerisches Landesgesetz vom 22. September 1933 besiegelt.2 Frank ging schnell ans Werk. Schon auf dem Deutschen Juristentag in Leipzig im Oktober 1933 proklamierte er die Einrichtung der Akademie https://doi.org/10.1515/9783110429893-005

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und kündete ihre Mitwirkung am Aufbau der völkischen und rassenverwurzelten neuen Rechtsordnung an.3 Auf der ersten Vollsitzung der Akademie, die bereits am 3. November 1933 stattfand, tummelten sich die Größen der NS-Politik. Die folgenden, pompös inszenierten Vollsitzungen schafften vollendete Tatsachen: Hitler kam nicht mehr umhin, der Akademie sein Wohlwollen zu bekunden. Durch Reichsgesetz vom 11. Juli 1934 wurde sie als Reichskörperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt.4 Die Akademie wurde mit ihrer Verreichlichung der Aufsicht der Ministerien für Justiz und Inneres unterstellt. Der Sitz der Akademie blieb zwar in München, ihre Geschäftsstelle wurde aber nach Berlin verlegt. Die Akademie glänzte zunächst mehr durch feierliche Tagungen, deren spektakuläre Programme mit hohem Aufwand finanziert wurden, als durch wissenschaftliche Arbeit. Die eingesetzten Ausschüsse waren lange damit beschäftigt, ihre Aufgabengebiete abzustecken, obwohl sie an die vielen unerledigten Reformprojekte aus der Weimarer Republik anknüpfen konnten. Ergebnisse von Forschungsaufträgen, die die Akademie an führende Wissenschaftler vergab, um lohnende Aufgaben zu finden, tröpfelten nur ganz spärlich ein und auch ein hochdotiertes Preisausschreiben fruchtete wenig. Die Ambitionen des Gründers der Akademie spiegelten sich stattdessen im Kauf eines großen Patrizierhauses als Dienstsitz in Berlin, in dessen Zimmern neben jedem Portrait Hitlers eines von Hans Frank aufgehängt wurde,5 und in dem Bau eines „Hauses des Rechts“ in München, das mit der größten rechtswissenschaftlichen Bibliothek Deutschlands ausgestattet werden sollte. Diese und weitere Extravaganzen wie der Unterhalt für ein Motorboot, hohe Gehälter, hohe Reisekosten der Mitglieder und mangelnde Transparenz in der Buchführung beschäftigten regelmäßig den Reichsrechnungshof und brachten die Akademie, die sich anfangs noch aus großzügigen Spenden selbst finanziert hatte, bereits vor dem Krieg auch in die finanzielle Abhängigkeit vom Dritten Reich. Der Aufbau der Akademie war hierarchisch nach dem Führerprinzip organisiert. An der Spitze der Akademie stand bis 1942 ihr erster Präsident, Hans Frank. Mit dessen Ausscheiden kam 1942 der neue Justizminister, Otto Thierack, ins Amt des Präsidenten. Stellvertretender Präsident war bis 1937 der Münchener Zivilrechtsprofessor Wilhelm Kisch gewesen. Kisch, ein angesehener Ordinarius der Münchener Universität, deren rechtswissenschaftliche Fakultät als erste im Juli 1933 der Akademie geschlossen beigetreten war, fungierte als Aushängeschild für den wissenschaftlichen Anspruch der Akademie. Ihm folgte der Berliner Professor für Rechtsphilosophie, der seit 1931 Mitglied der NSDAP war, Carl August Emge, im Amte des Vizepräsidenten nach.6 Die rechtsgestaltenden Aufgaben der Akademie waren recht unbestimmt. Nach § 3 des Akademiegesetzes sollte die Akademie dafür zuständig sein, die Neugestaltung des deutschen Rechtslebens zu fördern und in enger dauernder Verbindung mit den gesetzgebenden Stellen das nationalsozialistische Programm auf dem gesamten Gebiet des Rechts zu verwirklichen. Ihre Satzung präzisierte den Wirkungskreis. Hiernach hatte die Akademie auf dem Gebiet der Rechtssetzung ein Initiativ-

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recht, sollte bei der Vorbereitung und Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen beteiligt werden und diese durch Begutachtung verbessern. Unter Anwendung bewährter wissenschaftlicher Methoden, so die professorenfangende Satzung der Akademie, war es aber ihr eigentliches Ziel, ihrem Gründer, Hans Frank, zu ermöglichen, mit der Akademie die Art von effizienter Rechtspolitik zu machen, die Hitler ihm mit seiner Übergehung bei der Besetzung des Justizministeriums versagt hatte. Frank selbst gab später an, er habe mit der Akademie einen Kampf ums Recht und gegen „die Raschheit schnell fabrizierter Augenblicksgesetze“ führen wollen.7 Aus diesem Grund wurden neben den Professoren auch Praktiker aus Wirtschaft, Verwaltung und Ministerialbürokratie sowie Funktionäre der NSDAP zu Mitgliedern berufen, die in ihrer ersten Vollsitzung per Grußbotschaft Hitler treueste Gefolgschaft gelobten.8 Zu Vorsitzenden der zunächst wichtig erscheinenden Ausschüsse berief Frank linientreue Juristen wie Roland Freisler im Strafrecht und →Carl Schmitt im Öffentlichen Recht. Diese und andere Anbiederungsversuche, wie die Verwissenschaftlichung der „Liebe zum Führer“ als Rechtsbegriff,9 fruchteten nicht sonderlich. Spätestens mit den Nürnberger Rassengesetzen 1935 wurde deutlich, dass das Standing der Akademie in der Rechtsgestaltung gering war. Frank und seine Experten waren an diesen wichtigen Gesetzen nicht beteiligt worden. Gebraucht wurde die Akademie nicht, da die gut funktionierende Ministerialbürokratie ausreichte, um das Programm der NSDAP in Rechtsformen zu gießen. Den anschließenden Kampf um mehr Macht durch eine auf Führerbefehl fußende obligatorische Beteiligung an der Gesetzgebung verlor Frank. Der damalige Justizminister, Franz Gürtner, ließ im Einverständnis mit Hitler einen Erlass aufsetzen, der es dem Ermessen der Ministerien überließ, ob und in welcher Form die Akademie bei Rechtsetzungsvorhaben zu beteiligen sei. Gleichwohl fragten die Ministerien, insbesondere auch das Justizministerium, die Expertise der Akademie regelmäßig ab, indem sie Gesetzesentwürfe zur gutachterlichen Stellungnahme übersandten, Denkschriften erbaten und auch entgegennahmen.10 Die Akademie war aber im Wesentlichen auf Vorarbeiten und Anfragen aus den Ministerien angewiesen. Ihr Initiativrecht stand nur auf dem Papier. Von der Anfangseuphorie, dass man dem „Gesetzgeber den Weg weisen“ und als Vorkämpferin eines arteigenen und volksnahen Rechts dienen wolle,11 blieb in den fortwährenden Reibereien mit dem Justizministerium nicht allzu viel übrig. Warum sich aus der Professorenschaft auch viele Ordinarien, die keine strammen Parteimitglieder waren, an der Akademiearbeit beteiligten, wird unterschiedlich beurteilt. Zum einen mögen finanzielle Gründe eine Rolle gespielt haben, weil sich über die Akademie Dienstreisen und Zusammenkünfte der Kollegen leichter finanzieren ließen als über die Universitäten. Zum anderen mögen sie in Zeiten des drohenden Bedeutungsverlustes nach Kompensation gesucht haben und gingen geradezu regelungseuphorisch ans Werk. Vielleicht wollte man aber auch zumindest an der Hülle eines Rechtsstaats festhalten und an der Illusion von Rechtsbindung mitwirken, um die eigene Zukunft zu sichern.

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Die Akademie wurde im Laufe der Zeit immer weiter aufgebläht und bürokratisiert. Nach dem das bayerische Projekt in seiner Satzung zunächst eine Obergrenze von 200 Mitgliedern vorgesehen hatte, erweiterte die Satzung vom 11. Juli 1934 die Obergrenze auf 300 Mitglieder. Die Parteizugehörigkeit war bei Erwerb der Mitgliedschaft keine Voraussetzung, doch wurde eine zumindest weltanschauliche Verbundenheit mit dem Programm der NSDAP verlangt.12 Die Arbeitsausschüsse der Akademie wurden in zwei Abteilungen unterteilt. Eine Abteilung, der die meisten Ausschüsse zugeordnet waren, nahm weiter die Aufgaben der Rechtsgestaltung wahr. Eine neu hinzukommende Abteilung diente der Rechtsforschung. Ihre nach dem traditionellen Akademieprinzip „Klassen“ genannten Ausschüsse sollten den rechtsgestaltenden Ausschüssen die Grundlagenforschung zuliefern. Ausschüsse und Unterausschüsse bildeten sich auf allen erdenklichen Gebieten des Rechts. Waren es 1937 noch etwa 59 Ausschüsse, hatte sich ihre Zahl bis zur Übernahme der Akademie durch Thierack auf 76 Ausschüsse und elf Unterausschüsse in der Abteilung für Rechtsgestaltung und zehn Klassen in der Abteilung für Rechtsforschung erhöht. Die innere Struktur der Akademie fand ihren Abschluss mit einer Verwaltungsanordnung vom 1. April 1937.13 Dem Präsidenten der Akademie oblag die Personalpolitik, vor allem die Berufung von Mitgliedern und Ausschussvorsitzenden. Die Ausschüsse selbst wurden ebenfalls nach dem Führerprinzip organisiert. In der Gestaltung der Ausschussarbeit waren die Vorsitzenden aber erstaunlich frei. Ihre Freiheit betraf sowohl die Themenauswahl als auch die Arbeitsmethoden und das Arbeitstempo.14 In den Ausschüssen wurde nach herkömmlichen Methoden wissenschaftlich gearbeitet. Es fand ein recht offener Meinungsaustausch statt, der Raum für Kritik ließ – „freilich immer im Rahmen der einheitlichen nationalsozialistischen Weltanschauung“.15 Eine gute Chance auf Gehör in den Ministerien hatten diejenigen Ausschüsse, an deren Spitze Mitarbeiter der Ministerialbürokratie oder Funktionäre der NS-Institutionen standen. Aus einigen der Ausschussprotokolle lässt sich aber auch herauslesen, dass sich gerade die Professoren in wissenschaftlichen Details verzettelten und angetrieben werden mussten, um sich nicht in gelehrten Traumwelten zu verlieren.16 Die Arbeit der Akademie stockte jedoch auch deswegen, weil sich die Ausschüsse untereinander nicht austauschten. Für eine strukturierte Koordination fehlte der Akademie das Personal.17 Die öffentlich-rechtlichen Ausschüsse haben von einigen Ausnahmen wie dem Ausschuss für Beamtenrecht, der Ausschüsse für Gemeinderecht, Wasser- und Bodenrecht oder dem Nationalitätenrechtlichen Ausschuss abgesehen, ein Schattendasein gefristet. Carl Schmitt, der dem „Führer“ den Rat der Ausschüsse zunächst noch für die großen politischen Grundentscheidungen des NS zur Verfügung gestellt hatte, ruderte schnell zurück und warnte vor einer unerlaubten Einmischung der Akademie.18 Verfassungsfragen wurden nach 1935 nicht mehr diskutiert und eine Verwaltungsrechtsreform kam nicht zum Abschluss. Auch die völkerrechtlichen Ausschüsse profilierten sich nicht in der Rechtsgestaltung, da größere Gesetzge-

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bungsarbeiten nicht anstanden, sondern eher um die Rolle des neuen Völkerrechts gerungen wurde. Zu Beginn ihrer Tätigkeit zählten die strafrechtlichen Ausschüsse unter dem Vorsitz von Roland Freisler zu den wichtigsten und schnellsten. Sogar im Krieg wurden neue Ausschüsse eingerichtet, um über ein internationales oder ausländisches Strafrecht zu debattieren. Da sich die avisierte große Strafrechts- und Strafvollstreckungsrechtsreform zunächst aber im Kleinklein weniger Gesetzesänderungen verlor, und am Ende des Krieges nicht mehr abgeschlossen wurde, konnte die Akademie hier nicht großflächig punkten.19 Der Schwerpunkt der Ausschusstätigkeiten verlagerte sich ins Zivilrecht. Mit dem „Anschluss“ Österreichs an das Reich tat sich 1938 für die Akademie eine neue Chance auf. Das Recht musste vereinheitlicht werden und die Zeit schien reif, eines der bereits in Weimar aufgeworfenen Reformprojekte in Angriff zu nehmen, nämlich das als liberales und römisches Recht bekämpfte bürgerliche Recht in einem lebensnahen und volkstümlichen Volksgesetzbuch zu kodifizieren. Gegen die Ansicht des Reichsjustizministeriums, das gesamte Zivilrecht mit je Einzelgesetzen peu à peu zu reformieren, setzten sich Frank und seine Kodifikationsidee durch. Obwohl man unter dem Vorsitz von Justus Wilhelm Hedemann seit 1939 alles neu und anders machen wollte, richtete sich die Einrichtung unzähliger neuer Ausschüsse zur Beratung des Volksgesetzbuchs an den Büchern des alten BGB aus. Die Liste der Vorsitzenden und Mitglieder dieser Ausschüsse liest sich wie das „Who Is Who“ der das Zivilrecht der Nachkriegszeit dominierenden Wissenschaftler. Der Elan, mit dem sie an ihre Arbeit gingen, war nicht von Erfolg gekrönt. Das Projekt Volksgesetzbuch wurde nicht fertig, die Arbeit an ihm 1943 auf Befehl Thieracks eingestellt.20 Bemerkenswert und symptomatisch für das nationalsozialistische Rechtsverständnis blieben die wenigen volkstümlich-prosaischen Grundregeln, die der Kodifikation vorangestellt wurden, und die vor allem die seit der Machtergreifung praktizierte Elastizität der Justiz positivieren sollten: Der Richter habe bei der Auslegung des Rechts nicht an den Buchstaben der Gesetze zu kleben, sondern müsse dieses notfalls auch gegen seinen Wortlaut interpretieren, um die nationalsozialistische Weltanschauung zur Geltung zu bringen. Das Recht forderte vom Richter keinen Gehorsam mehr, schützte seine Unabhängigkeit aber auch nicht länger.21 Als Sprachrohr der Akademie entwickelte sich ihr bald ebenfalls chronisch unterfinanziertes Publikationsorgan, die Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht, die zwei Mal monatlich bis 1944 erschien. 1939 wurde der Akademie die bis 1942 erscheinende Zeitschrift Deutsche Rechtswissenschaft angegliedert.22 Neben der Zeitschrift übernahm das von 1933/34 bis 1940 erscheinende Jahrbuch der Akademie für Deutsches Recht die Propaganda- und Berichtstätigkeit. Die Bevölkerung nahm die Akademie als Appellationsinstanz und Ombudsinstitution wahr. Die Akademie erreichten zahlreiche Eingaben mit unterschiedlichsten rechtlichen und moralischen Anliegen der Bürger, deren Erledigung durch die Akademie zum Teil zu Querelen mit der Justiz führten.23 Die Juristenausbildung und die Besetzung der Staats-

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und Rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten wollte die Akademie ebenfalls unter ihr Dach bringen, scheiterte hier jedoch an ihrem eigenen Arbeitstempo und dem Widerstand der Bürokratie. Ihre Pläne, besonders geeignete „Rechtswahrer“ zu Führern des deutschen Rechtslebens auszubilden, scheiterten. Mit dem Aufbau freundschaftlicher Beziehungen zum Ausland war die eigens geschaffene Auslandsabteilung der Akademie beauftragt. In mühevoller Kleinarbeit suchte sie Kontakte zu Wissenschaftlern, die der nationalsozialistischen Rechtsrevolution objektiv genug gegenüberstanden, wenn nicht gar wohlgesonnen waren. Auf den Jahrestagungen und Vollsitzungen wurde viel Aufhebens um die ausländischen Gäste gemacht, die regelmäßig vortrugen, und die sich schließlich 1935 in der „Arbeitsgemeinschaft der ausländischen Freunde der Akademie für Deutsches Recht“ zusammenschlossen. Die Arbeitsgemeinschaft zählte im Jahre 1938 Vertreter aus 28 Staaten zu den Freunden der Akademie. Die Wissenschaftler der Akademie zeigten durchaus ein Interesse an der Rechtsvergleichung, um geeignete Rechtsgestaltungen des Auslands gegebenenfalls für die eigene Rechtsrevolution fruchtbar machen zu können. Den ausländischen Freunden konnte deswegen nicht nur die korrespondierende Mitgliedschaft in der Akademie angetragen werden, sie erhielten vielmehr auch Gelegenheit, in der Zeitschrift der Akademie in einer eigens für ausländisches Recht eingerichteten Abteilung zu publizieren. Es wurden bilaterale Arbeitsgemeinschaften eingerichtet, eine erste mit Polen, die mit Kriegsausbruch endete, eine weitere mit Italien, dessen faschistische Rechtsrevolution für das nationalsozialistische (Zivil-)Recht zunächst interessant schien, und noch während des Krieges etwa mit Bulgarien. Die Tätigkeiten dieser Arbeitskreise werden insgesamt als zu vernachlässigen eingestuft.24 Obwohl Stimmen aus dem Justizministerium mit Kriegsausbruch die Arbeit der Akademie infrage stellten und Hitler in den Erinnerungen von Frank die Akademie für überflüssig und zeitraubend hielt,25 lief die Arbeit der Ausschüsse zunächst auch im Krieg in ihren gewohnten Bahnen, wurde sogar durch neue Aufgaben im Kriegsrecht und bei der Gestaltung des Lebensraums im Osten noch intensiviert.26 Die letzte Jahrestagung der Akademie fand vom 22. bis 24. November 1940 statt. Ihr Präsident Frank wurde zwar als Generalgouverneur nach Polen versetzt, doch blieb er zunächst in seinem Amt. Erst in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit einer offenen Kritik Franks am Rechtsverständnis Hitlers, der kurz zuvor vom Reichstag zum obersten Gerichtsherrn ohne Rechtsbindung gekürt worden war, wurde Frank aller seiner rechtspolitischen Ämter enthoben und im August 1942 der neue Justizminister, Otto Thierack, zum Präsidenten der Akademie benannt. Da Thierack gleichzeitig auch die Führung des NS-Rechtswahrerbundes übernahm, waren damit alle Rechtsinstitutionen des Reiches gleichgeschaltet. Thierack machte den Mitgliedern der Akademie zügig klar, dass ihre Arbeiten künftig ausschließlich auf die Zielsetzungen der politischen Führung auszurichten seien.27 Das betraf vor allem den Plan der großen Justizreform, mit dem die Unabhängigkeit der Richter gänzlich abgeschafft werden sollte. Hinter diesem Vorhaben hatte alle andere Geset-

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zesarbeit, vor allem die am Volksgesetzbuch, zurückzustehen. Thierack erhielt von Hitler die Vollmacht, zum Aufbau der nationalsozialistischen Rechtspflege vom bestehenden Recht abweichen zu dürfen.28 Mit Neufassung von Satzung und Verwaltungsanordnung der Akademie vom 9. Juni 1943 setzte er fest,29 dass Ausschussarbeiten vor ihrer Veröffentlichung durch seine Hände zu laufen hatten. Politische Risiken für seine Person wollte Thierack ferner dadurch vermeiden, dass er den Ausschussmitgliedern Zurückhaltung in der Öffentlichkeit diktierte. Kriegsunwichtige Ausschüsse wurden geschlossen, soweit sie nicht der Justizreform dienten. Die Auflösung der Akademie war nur noch eine Frage der Zeit: Mit Schreiben an den Chef der Staatskanzlei vom 12. August 1944 beendete Thierack endgültig alle Akademiearbeiten.30

Kathrin Groh

1 Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik, Baden-Baden 1999, S. 102ff. 2 BayGVBl. 1933 S. 277. 3 Hans Frank, Rede zur Proklamation der Akademie des Deutschen Rechts, in: JbAkDR 1 (1933/34), S. 24–32. 4 RGBl. I 1934 S. 605. 5 Kreß, Das Haus der Akademie für Deutsches Recht, in: JbAkDR 2 (1935), S. 176–183. 6 Ein zeitlicher Überblick bei Walter Werhan/Elsa Fensch, Bestand R 61, Akademie für Deutsches Recht, Findbücher zu den Beständen des Bundesarchivs, Bd. 9, Koblenz 19762, I-XXIV. 7 Hans Frank, Im Angesicht des Galgens, Neuhaus 1955, S. 166f. 8 Volltext bei Hans-Rainer Pichinot, Die Akademie für Deutsches Recht. Aufbau und Entwicklung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft des Dritten Reichs, Kiel 1981, S. 15f. 9 Hans Frank, Ohne Titel, in: ZAkDR 2 (1935), S. 491. 10 Einen Überblick, an welchen Gesetzen die Akademie beteiligt war, bei Otto Thierack, Zehn Jahre Akademie für Deutsches Recht, in: ZAkDR 10 (1943), S. 121–122. 11 Goetze, Die Akademie für Deutsches Recht, ihre Aufgaben und ihre Bedeutung, in: Deutsche Justiz 96 (1934), S. 586–587; Karl Lasch, Die Akademie für Deutsches Recht, in: Hans Frank (Hrsg.), Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung, München 1934, S. 1572–1580, 1574. 12 Susanne Adlberger, Nützliche Kooperation – Die juristische Fakultät der Ludwigs-MaximiliansUniversität und die Akademie für Deutsches Recht, in: Elisabeth Kraus (Hg.), Die Universität München im Dritten Reich, Teil I, München 2006, S. 405–430. 13 Verwaltungsanordnung der Akademie für Deutsches Recht, abgedr. in: ZAkDR 4 (1937), S. 405– 406. 14 Die auffindbaren Protokolle der Ausschüsse sind ediert und eingeleitet von Werner Schubert (Hg.), Akademie für Deutsches Recht 1933–1945. Protokolle der Ausschüsse, Bände I-XXII, Frankfurt a.M. 1986–2015. 15 Hans Frank, Dritte Jahrestagung der Akademie für Deutsches Recht, in: ZAkDR 3 (1936), S. 951– 972, 951f. 16 Vgl. Rundschreiben Hedemann vom 7. Januar 1941, in: Schubert, Akademie für Deutsches Recht, Bd. III/1, Frankfurt a.M. 1988, S. 324ff. 17 Ein Beispiel bei Schubert, Akademie für Deutsches Recht, Bd. XIV, Frankfurt a.M. 2002, S. 589.

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18 Konrad Meyer, Die Akademie für Deutsches Recht, in: DJZ 38 (1933), Sp. 1528–1534; Carl Schmitt, Ausschußbericht Staats- und Verwaltungsrecht, in: JbAkDR 1 (1934), S. 207–211. 19 Näher Schubert, (vgl. Anm. 14), Band VIII, Frankfurt a.M. 1999, S. XIIff. 20 Schubert, (vgl. Anm. 14), Band III/1, Frankfurt a.M. 1988. 21 Hans Hattenhauer, Das NS-Volksgesetzbuch, in: Arno Buschmann (Hg.), FS Rudolf Gmür, Bielefeld 1983, S. 255–279, 261. 22 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, München 1999, S. 308. 23 Illustre Beispiele bei Pichinot, (vgl. Anm. 8), S. 65ff.; Wilhelm Kisch, Die Arbeiten der Akademie für Deutsches Recht, Berlin 1936, S. 16ff. 24 W. Gaeb, Tätigkeitsbericht der Auslandsabteilung für die Jahre 1934–1935, in: JbAkDR 2 (1935), S. 172–175. 25 Frank, Im Angesicht des Galgens, S. 171. 26 Carl August Emge, Die rechtspolitische Arbeit der Akademie für Deutsches Recht im Kriege, in: ZAkDR 6 (1939), S. 661–664. 27 Otto Thierack, Die Kriegsaufgaben der Akademie für Deutsches Recht, in: ZAkDR 10 (1943), S. 1– 3, 2. 28 RGBl. I 1942 S. 535. 29 RGBl. I 1943, S. 368. 30 Hans Hattenhauer, Die Akademie für Deutsches Recht 1933–1944, in: JuS 1986, S. 680–684; Dennis Leroy Anderson, The Academy for German Law 1933–1944, New York 1987.

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Alemannisches Institut Das Alemannische Institut wurde 1931 auf Initiative des Reichsinnenministers Joseph Wirth (Zentrumspartei) in Freiburg von einem Gremium von 19 Wissenschaftlern, Stadthonoratioren, Kulturfunktionären und Landesbeamten gegründet.1 Der in Freiburg geborene ehemalige Reichskanzler Wirth, der sich auf diese Weise für die Erforschung seiner Heimatregion einsetzen wollte, stellte die einmalige Summe von 40.000 RM aus dem Etat des Reichsinnenministeriums als „finanziellen Grundstock“ zur Verfügung.2 „Geistiger Vater“ des Alemannischen Instituts – so dessen späterer langjähriger Vorsitzender →Friedrich Metz – war der Freiburger Professor für christliche Archäologie und Kunstgeschichte, Joseph Sauer.3 Die Stadt Freiburg übernahm die Trägerschaft des Instituts, die oberste Leitung wurde einem Kuratorium unter dem Vorsitz des Oberbürgermeisters übertragen, das wiederum zur Bestimmung des Arbeitsprogramms und zur Mittelvergabe einen fünfköpfigen Arbeitsausschuss bildete, der aus den Universitätsprofessoren John Meier (→Volkskunde), Joseph Sauer und Wilhelm Deecke (Geologie), dem Direktor der Universitätsbibliothek, Josef Rest, und dem Leiter der städtischen Sammlungen, Werner Noack, bestand. Vorbild des Alemannischen Instituts war das 1920 von →Hermann Aubin gegründete Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande in Bonn.4 Die Verbundenheit der Bevölkerung mit ihrer engeren Heimat wurde von Aubin als der „Ursprung des nationalen Denkens und Fühlens“ angesehen,5 eine Vorstellung, die auch hinter der Gründung des Alemannischen Instituts stand. In der ersten Satzung des Alemannischen Instituts von 1931/32 wurde deutlich herausgestellt, dass es nicht nur um die Erforschung, sondern auch um die Pflege des „alemannischen Volkstums“ und damit um die Stärkung der „Heimatliebe“ gehe. Das Institut hat es sich bis heute zur Aufgabe gemacht, die Arbeit der Heimat- und Geschichtsvereine zu koordinieren, Projekte zur Erforschung zur Geschichte und Landeskunde des alemannischen Kulturraums durchzuführen und zu fördern, sowie Vorträge, Exkursionen und Kolloquien zu veranstalten. Mehrere Fächer waren an dieser Forschungsarbeit beteiligt, so die Geschichte, die Geographie, die Geologie, die Vor- und Frühgeschichte, die Sprachgeschichte, die Kirchengeschichte, die Recht- und Kunstgeschichte sowie die Volkskunde.6 Das Untersuchungsgebiet des Alemannischen Instituts ging über die deutschen Staatsgrenzen hinaus, und schloss – so die wörtliche Formulierung in der ersten Satzung – das „gesamte alemannische Gebiet im Sinne der schwäbisch-alemannischen Stammesgemeinschaft“ ein.7 Darunter fielen die alemannisch geprägten Regionen Badens und Württembergs, des Elsass, der Deutschschweiz, Vorarlbergs, Bayerns und der Pfalz. In den ersten Jahren bis Anfang 1935 lag der wissenschaftliche Schwerpunkt des Alemannischen Instituts auf der Ur- und Frühgeschichte, was wohl darauf zurückzuführen war, dass im Kuratorium mit Wilhelm Deecke, Georg Kraft, Robert Lais und Werner Noack gleich vier Spezialisten für die Ur- und Frühgeschichte ver-

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treten waren. Gefördert wurden Ausgrabungen im frühmittelalterlichen Gräberfeld von Mengen auf Antrag des Privatdozenten Georg Kraft, der von dem Anthropologen Eugen Fischer unterstützt wurde.8 Im Zuge der nationalsozialistischen „Gleichschaltung“ wurde im März 1934 das Kuratorium aufgelöst und das Institut bis zur Umstrukturierung der alleinigen Verantwortung des nationalsozialistischen Oberbürgermeisters Franz Kerber unterstellt. Nach Vorschlägen von →Hektor Ammann, Werner Noack und dem Oberbürgermeister war Anfang 1935 auch im Alemannischen Institut eine Art „Führerprinzip“ etabliert worden: Kuratorium und Arbeitsausschuss fanden in der neuen Satzung keine Erwähnung mehr,9 der „wissenschaftliche Leiter“ – zum ersten Mal war von einem solchen die Rede – war allein dem Oberbürgermeister verantwortlich. Dieser war allein zuständig für die Festlegung des Arbeitsprogramms. Das Institut bezog nun das erste Mal eigene Räumlichkeiten – im damaligen Freiburger Stadtarchiv – und konnte eigene Mitarbeiter beschäftigen. Der erste wissenschaftliche Leiter, →Theodor Mayer, arbeitete über Themen der frühmittelalterlichen Landesgeschichte und bestimmte seit seiner Ernennung am 18. März 1935 den wissenschaftlichen Schwerpunkt des Alemannischen Instituts. So entstanden beispielsweise Karten über die alemannischen Besitzverhältnisse im Frühmittelalter (Martin Wellmer), Arbeiten über die Geschichte der elsässischen Klöster und die politische Erschließung der Vogesen und Lothringens (Heinrich Büttner) und über die schweizerische Geschichte (Marcel Beck). Theodor Mayer gelang es aufgrund seiner gleichzeitigen Leitungsfunktionen in der Badischen Historischen Kommission10 (1935–1938) und der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft (WFG) das Alemannische Institut mit anderen wissenschaftlichen Organisationen zu vernetzen. Ein Höhepunkt in der Institutsarbeit war eine dreitätige Tagung dieser Vertreter der →Westforschung gegen Ende März 1936 in St. Märgen über den burgundisch-alemannischen Raum. Hier berichteten →Theodor Mayer über die Staatenbildung am Oberrhein, →Kleo Pleyer über den Regionalismus in Frankreich, Ernst Gamillscheg über den Einfluss der Burgunder in Frankreich und in der Westschweiz und Heinrich Büttner über die politische Erschließung der westlichen Vogesen.11 Das Alemannische Institut war innerhalb der →Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften der WFG angegliedert. Mayer hielt die wissenschaftliche Arbeit für unvereinbar mit der Kulturpropaganda: Das Alemannische Institut sollte nicht den Eindruck erwecken, als wolle es für die Angliederung des Elsass an das Deutsche Reich eintreten. Wegen seines Namens und seiner „grenzübergreifenden“ Aufgabenstellungen war das Alemannische Institut nämlich im benachbarten Ausland nicht unumstritten. Mayer berichtete dem Reichsinnenministerium im Januar 1936, dass die von der Stadt Freiburg veranstaltete „Alemannische Kulturtagung“ im Oktober 1935 in der Schweizer Presse auf „scharfe Kritik“ gestoßen sei, so dass Schweizer Gelehrte es sich anscheinend nicht leisten könnten, mit einer Institution, die sich „alemannisch“ nennt, „in Verbindung zu treten“.12 Auf sein Betreiben wurde das Institut umbenannt und hieß von

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1936 bis 1938 Oberrheinisches Institut für geschichtliche Landeskunde. Bereits 1934 hatte Hektor Ammann einen ähnlichen Namensvorschlag unterbreitet,13 entsprechend der Taktik der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften, nach außen hin den Anschein zu erwecken, man betreibe keine Kulturpropaganda. Mayer hatte folgerichtig die Beteiligung des Alemannischen Instituts an den jährlich stattfindenden Alemannischen Kulturtagungen verhindert. Dies und sein angeblich autokratischer Führungsstil – er beteiligte weder die Stadt noch die Universität an der konzeptionellen Arbeit – brachten den Oberbürgermeister dazu, ab 1937 vehement die Absetzung von Mayer zu betreiben.14 Friedrich Metz unterstützte Kerbers Kritik und wies darauf hin, dass durch die im Jahr 1935 institutionalisierte Raumforschung neue „landschaftsgebundene Aufgaben“ auf die Hochschulen zukämen, die das Alemannische Institut mit seiner historisch-wissenschaftlichen Orientierung nicht erfüllen könne.15 Als Theodor Mayer zum Wintersemester 1938/1939 einen Ruf nach Marburg erhielt, war der Weg für den vielleicht besten Kenner der alemannischen Landeskunde, Friedrich Metz, frei: Bereits seit 1936 leitete er die Hochschularbeitsgemeinschaft der Universität Freiburg der Reichsstelle für Raumforschung und fungierte seit 1938 als Senator der Universität für die „alemannischen Belange“ und verfügte so über gute Kontakte. Da das Reichsinnenministerium an der historischen Ausrichtung des Alemannischen Instituts festhalten wollte, erfolgte die Ernennung von Metz jedoch nur kommissarisch. Die Nachfolger von Mayer auf dem Freiburger Mittelalter-Lehrstuhl erwiesen sich jedoch in dieser Hinsicht wegen ihrer nicht-alemannischen Herkunft als wenig geeignet, und so blieb Metz wissenschaftlicher Leiter bis zum Ende des Zweitens Weltkriegs – allerdings ohne endgültige Ernennung aufgrund eines Vetos des Rektors. Unter der Leitung von Friedrich Metz wurde der historische Schwerpunkt zugunsten eines größeren Themenspektrums aufgegeben und das Institut legte nun Wert darauf, bei Vorträgen, Exkursionen, Führungen und Publikationen breite Bevölkerungsschichten anzusprechen. Die zahlreichen Exkursionen in die Schweiz und vor allem ins Elsass sollten in erster Linie der Kontaktpflege zu den Volkstumsexperten dienen. So kam die wissenschaftliche Komponente häufig zu kurz, der Vorwurf der „Oberflächlichkeit“ wurde mehrfach erhoben.16 Auf Metz’ Betreiben hieß das Institut ab 1938 wieder Alemannisches Institut. Es entstanden eine umfassende landeskundliche Beschreibung des Kaiserstuhls,17 Monographien über die badischen Eisenbahnen,18 eine Landeskunde des elsässischen Münstertals19 und eine rassenkundliche Untersuchung, die im Kontext der frühgeschichtlichen Besiedlung des Hotzenwaldes und der Umsiedlungspläne der Volksdeutschen Mittelstelle gesehen werden muss.20 Ein umfassendes Werk über Vorarlberg, das die Zugehörigkeit dieser Region zum alemannischen Kulturraum belegen sollte, um die drohende Angliederung an den Gau Tirol zu verhindern, war unter Mitarbeit des aus Innsbruck ans Institut geholten Karl Ilg anscheinend 1938 fast fertig, durfte aber nicht veröffentlicht werden.21

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Ein zentrales Anliegen von Metz und auch ein Schwerpunkt der Institutsarbeit war die Kontaktpflege mit deutschfreundlichen Wissenschaftlern in der Schweiz. Dies wurde häufig durch pauschale Angriffe gegen die Schweiz im Freiburger NSDAP-Kampfblatt Der Alemanne erschwert. Nach Protesten von Metz beim Auswärtigen Amt erging ein Erlass des Reichspropagandaministeriums, die Angriffe einzustellen. Noch 1942 veranstaltete die Westdeutsche Forschungsgemeinschaft – unter wesentlicher Beteiligung von Mitgliedern des Alemannischen Instituts – eine große landeskundliche deutsch-schweizerische Tagung in Ermatingen (Schweiz). Neben Friedrich Metz nahmen von deutscher Seite die Freiburger Professoren Clemens Bauer (Geschichte), der gegen den Willen des Reichserziehungsministeriums in die Schweiz reiste, und Franz Beyerle (Rechtsgeschichte), sowie der Heidelberger Historiker Willy Andreas, der Erlanger Geograph Robert Gradmann und aus der Schweiz Hektor Ammann und der Rechtshistoriker Hans Fehr teil. Die Tagung diente der „Vertiefung einer deutschzentrierten Auffassung über Kulturräume“ und der „Förderung von Kontakten zu Kollaborateuren in der Schweiz“.22 Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs kamen auf das Alemannische Institut „große und neue Aufgaben“ zu.23 Friedrich Metz hielt es für notwendig, „daß das Alemannische Institut sofort auf den Plan“ trete, „nachdem über dem Elsaß wieder die deutsche Fahne“ wehe.24 In dieser Zeit flossen auch zusätzliche Geldmittel an das Institut für „dessen besondere grenzpolitische Aufgaben“, so beispielsweise 2.000 RM vom Chef der Zivilverwaltung des Elsass im Jahr 1941.25 Reichsinnenminister Wilhelm Frick, der die Arbeit des Alemannischen Instituts sehr schätzte und sich durch die Verleihung der Ehrensenatorenwürde der Freiburger Universität im März 1940 mit dieser Region verbunden fühlte,26 hatte für 1940 4.000 RM überweisen lassen, in dieser Zeit sicherlich nicht, ohne besondere Kriegsaufgaben des Instituts im Auge zu haben. Eine Beteiligung des Alemannischen Instituts an den Umsiedlungsplanungen der →Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung nach der Annexion Elsass-Lothringens im Juni 1940 ist wahrscheinlich.27 Die nahezu unangefochtene Stellung von Metz in der Landeskunde und Raumforschung in Freiburg und Südbaden weckte bald Begehrlichkeiten. 1939 rief der örtliche NS-Dozentenbund einen „Alemannischen Arbeitskreis“ ins Leben. Friedrich Metz protestierte Ende März 1940 bei der Volksdeutschen Mittelstelle dagegen. Da dieser Arbeitskreis sich dieselben Aufgaben wie das Alemannische Institut gestellt habe und auf dieselben Mitarbeiter zurückgreifen müsse, befürchtete Metz, dass „unnötig Doppelarbeit“ geleistet werde. Er forderte die Volksdeutsche Mittelstelle auf, die Arbeit des „Alemannischen Arbeitskreises“ zu unterbinden, und zwar im Sinne einer „Zusammenfassung der Kräfte“.28 Auch der Freiburger Rektor Wilhelm Süss sah seinen „totale[n] Machtanspruch“ durch Metz’ Monopolstellung gefährdet.29 Seit 1941 versuchte er unter maßgeblicher Unterstützung des Germanisten Friedrich Maurer, das Alemannische Institut institutionell enger an die Universität zu binden, um damit die Kontrolle über die Grenzlandarbeit im Südbadischen zu erhalten. Gegenüber dem Oberbürgermeister und

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den Ministerien wurde das inhaltlich so begründet, dass Metz fast „ausschließlichen Wert“ auf die „politische Grenzlandkunde“ legen würde, sich zu sehr auf die Schweiz konzentriere und damit die wissenschaftliche und kulturpolitische Betreuung des Elsass der 1941 eröffneten →Reichsuniversität Straßburg überlassen wolle.30 Außerdem würden die Fächer mittelalterliche Geschichte und Germanistik in der Arbeit des Alemannischen Instituts zu kurz kommen.31 Maurer und Süss schlugen vor, anstelle des alleinigen wissenschaftlichen Leiters drei gleichberechtigte Leiter (für Geschichte, Sprachwissenschaft und Landeskunde) zu ernennen. Die Dreiteilung entsprach der Organisationsform des Erlanger Instituts für fränkische Landesund Volksforschung, wo Metz und Maurer 1934/35 für kurze Zeit, zusammen mit dem Historiker Bernhard Schmeidler, den Vorsitz führten. Inzwischen war Metz längst von dem – 1938 von ihm selbst noch favorisierten32 – „Dreiteilungsplan“ abgerückt. Die Verhandlungen zwischen ihm und der Universitätsleitung scheiterten endgültig Ende 1941. Oberbürgermeister Kerber hatte nach anfänglichen Vermittlungsversuchen erkannt, dass Metz nicht kompromissbereit war. Als die Gründung eines von der Stadt unabhängigen Universitätsinstituts zur alemannischen Landeskunde als „Drohung“ im Raum stand, setzte er Metz am 11. April 1942 unter Überschreitung seiner Kompetenzen als Vorsitzenden des Alemannischen Instituts ab und ernannte den Leiter der Städtischen Sammlungen, Werner Noack, zu seinem Nachfolger. Das Reichsinnenministerium stellte sich in der Folgezeit jedoch voll hinter Metz, setzte ihn als Leiter wieder ein und widersprach jeglichem Ansinnen der Universität, das Alemannische Institut enger an sich zu binden.33 Schließlich hatte auch das Auswärtige Amt „ein ganz besonderes Interesse“ an der Arbeit von Metz, da sein „Bodensee-Buch“ in der Schweiz ein großer Erfolg war.34 Die Arbeitsgruppe um Maurer und Süss machte indes ihre „Drohungen“ wahr und gründete 1942 das Institut für geschichtliche Landeskunde an der Freiburger Universität. Dieses Institut erlangte keine größere Bedeutung und konnte so zu keiner echten Konkurrenz des Alemannischen Instituts werden: 1942 war lediglich eine Publikation entstanden.35 Schon im Juli 1945, wenige Monate nach der Kapitulation des Deutschen Reichs, plante Metz, das Institut weiterzuführen, „als ob nichts gewesen sei“.36 Metz, der auch von den Franzosen mit dem Alemannischen Institut identifiziert wurde, hatte anfangs allen Grund, zuversichtlich zu sein, denn kurz nach der Kapitulation verfügte er über gute Kontakte zu den französischen Besatzungsoffizieren37 und versicherte diesen, dass sich das Alemannische Institut niemals politisch betätigt habe. Nach seiner Suspendierung als Professor durch die französischen Behörden im Oktober 1945 war an eine offizielle Wiederaufnahme der Institutsarbeit vorerst nicht zu denken. Informell hatte das Alemannische Institut jedoch nie aufgehört zu existierten, im Gasthaus „Freiburger Hof“ fanden weiterhin Sitzungen und Vorträge statt.38 Am 15. Februar 1951 wurde das Alemannische Institut als „eingetragener Verein“, unabhängig von Stadt und Universität Freiburg, finanziert aus Landesmitteln, offiziell wiedergegründet. Um das Institut nicht durch sein Engagement im Abstim-

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mungskampf um die Gründung eines Südweststaats zu belasten, begnügte sich Metz mit dem Amt des Geschäftsführers und überließ dem Theologen Arthur Allgeier den Posten des Vorsitzenden.39 Nach dessen Tod übernahm Metz im März 1952 die Leitung des Instituts als geschäftsführender Vorsitzender. Nachdem ihm zum Sommersemester 1953 der Lehrstuhl für „Geographie und Landeskunde“ zugesprochen wurde und er eigene Räumlichkeiten bezog, konnte das Alemannische Institut ebenfalls dort untergebracht werden (Mozartstraße 30).40 Nach seiner Emeritierung zum Ende des Sommersemesters 1958 lief das Alemannische Institut Gefahr, die Räumlichkeiten zu verlieren. Metz setzte alle Hebel in Bewegung, schrieb sogar Bundespräsident Theodor Heuss an und erreichte schließlich 1962, dass das Alemannische Institut bleiben konnte und das Geographische Institut neue Räumlichkeiten bekam. Im gleichen Jahr legte Metz den Vorsitz des Alemannischen Instituts aus gesundheitlichen Gründen nieder. Der Kirchenhistoriker Wolfgang Müller wurde 1963 von der Mitgliederversammlung zum neuen Vorsitzenden gewählt, nachdem Hermann Aubin, der vom Freiburger Historiker Clemens Bauer vorgeschlagen wurde, abgelehnt hatte.41 Von 1983 bis 2001 hatte der Kulturgeograph Wolf-Dieter Sick und von 2001 bis zu seinem Tod 2014 der Archäologe Hans-Ulrich Nuber den Vorsitz inne. Der derzeitige Vorsitzende ist Werner Konold, der Freiburger Lehrstuhlinhaber für Landespflege.42 Seit 1965 verfügt das Alemannische Institut über eine Außenstelle in Tübingen, die aus einer landesgeschichtlichen Arbeitsgruppe an der Universität hervorging. Das heute noch existierende Alemannische Institut trat vor allem durch das seit 1953 erscheinende Alemannische Jahrbuch, durch eine Vielzahl von Buchpublikationsreihen, regelmäßige öffentliche Vortragsreihen, Exkursionen und Fachsitzungen in Erscheinung. Von 1970 bis etwa 1993 vergab das Alemannische Institut zur Unterstützung von landeskundlichen Arbeiten „Prof. Dr. Friedrich-Metz-Stipendien“, die von →Alfred C. Toepfer und seiner →Stiftung FVS zum Andenken an den 1969 verstorbenen Metz bereitgestellt wurden. Seit 1977 geschah die Verleihung durch eine weitere Tochterstiftung, der Johann Wolfgang von Goethe-Stiftung in Basel, im Zusammenhang mit den Oberrheinischen Kulturpreisen. Die Entscheidung über die Preisträger verblieb beim Alemannischen Institut.43

Bernd Grün

1 Am 27.1.1931 wurde das Gremium zur Vorbereitung der Gründung einberufen, am 10.12.1931 fand die konstituierende Kuratoriumssitzung statt, die die erste Satzung verabschiedete. Vgl. Franz Quarthal, Das Alemannische Institut von seiner Gründung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Alemannisches Institut. 50 Jahre landeskundliche Arbeit 1931–1981, S. 9–49, 11. Dieser Aufsatz wurde in erweiterter Form noch einmal veröffentlicht, in: Das Alemannische Institut. 75 Jahre grenzüberschreitende Kommunikation und Forschung (1931–2006), hg. vom Alemannischen Institut Freiburg i. Br. e.V., Freiburg 2007, S. 47–96. Zuletzt hat sich Mario Seiler in seiner Dissertation mit dem Alemannischen Institut auseinandergesetzt: Mario Seiler, Uneindeutige Grenzen und die Idee der

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Ordnung. Der Grenzlanddiskurs an der Universität Freiburg im Zeitalter der beiden Weltkriege, Freiburg i.Brg. u.a. 2015, S. 185–213. 2 Franz Quarthal, Das Alemannische Institut, S. 11. Nach diesem (S. 22) erhielt das Alemannische Institut von 1938 bis 1945 jährlich weitere 10.000 RM vom RMI. Fahlbusch spricht von insgesamt 75.000 RM, die vom RMI und vom Reichsministerium für die besetzten Gebiete bezahlt wurden. Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Baden-Baden 1999, S. 371. 3 Vgl. Claus Arnold, Katholizismus als Kulturmacht: der Freiburger Theologe Joseph Sauer (1872– 1949) und das Erbe des Franz Xaver Kraus, Paderborn 1999, S. 359, Anm. 203. 4 Franziska Wein, Deutschlands Strom – Frankreichs Grenze. Geschichte und Propaganda am Rhein 1919–1930, Essen 1992, S. 114ff. Auch das 1932/33 gegründete Institut für fränkische Landeskunde nahm sich das Bonner Institut zum Vorbild. 5 Wein, Deutschlands Strom, S. 117. 6 Nach einer Aufzählung bei Quarthal, Das Alemannische Institut, S. 9. 7 Ebd., Alemannisches Institut, S. 11. 8 Vgl. Hubert Fehr, Ur- und Frühgeschichte, in: Eckhard Wirbelauer (Hg.), Die Freiburger Philosophische Fakultät 1920–1960. Mitglieder – Strukturen – Vernetzungen, Freiburg i. Br. 2006, S. 532– 556, 538. 9 Vgl. den Entwurf der neuen Satzung von Theodor Mayer (1934): Quarthal, Das Alemannische Institut, S. 44f. 10 Meinrad Schaab, Die südwestdeutsche Landesgeschichte seit 1918 im Spannungsfeld zwischen staatlicher Förderung, Zeitströmungen und wissenschaftlicher Unabhängigkeit, in: ders. (Hg.), Staatliche Förderung und wissenschaftliche Unabhängigkeit der Landesgeschichte. Beiträge zur Geschichte der Historischen Kommissionen im deutschen Südwesten, Stuttgart 1995, S. 1–56, 6. 11 Vgl. Fahlbusch, Wissenschaft, S. 391–393. 12 STAF, C 4/X/19/10, Theodor Mayer an das Reichsinnenministerium vom 9.1.1936. 13 Quarthal, Das Alemannische Institut, S. 15. Ammann schlug „Institut für Landes- und Volkskunde des Oberrheingebiets“ vor. 14 STAF, C 4/X/19/10, Kerber (OB Freiburg) an Mangold (Freiburger Rektor) vom 30.4.1938. 15 Ebd., Metz an Kerber vom 19.2.1937. 16 Ebd., Werner Noack, Stellungnahme zu einem Bericht von Metz an das Reichsinnenministerium vom 9.12.1941. „Es wurde auch vielerlei geboten, wobei das Einzelne aber vollkommen an der Oberfläche bleiben mußte.“ Ähnlich die entsprechende Stellungnahme vom Freiburger Stadtarchivar Friedrich Hefele: Er vermisste Einheitlichkeit und Systematik, es wäre zu keiner fruchtbaren wissenschaftlichen Auseinandersetzung gekommen. 17 Alemannische Institut (Hg.), Der Kaiserstuhl, Landschaft und Volkstum, Freiburg 1939. Ein ausführliches Schriftenverzeichnis in: Alemannisches Institut, 50 Jahre landeskundliche Arbeit 1931– 1981, Bühl 1981, S. 66–86. 18 Albert Kuntzemüller, Die badischen Eisenbahnen 1840–1940, Freiburg i. Brg. u.a. 1940. Fahlbusch weist auf das Erscheinen des Buches rechtzeitig zu Beginn des Frankreichfeldzugs hin; ders., Wissenschaft, S. 373. 19 Gabriele Chavoen, Das elsässische Münstertal. Eine Landeskunde, Freiburg 1940. 20 Johannes Schaeuble, Eine rassenbiologische Untersuchung an Schwarzwäldern aus Hotzenwald und rumänischem Banat, Freiburg 1941. Fahlbusch betont bei dieser Untersuchung den Zusammenhang mit der Umsiedlungsaktion der Volksdeutschen Mittelstelle (VoMi); Metz war in der entsprechenden Planungskommission der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung; ders., Wissenschaft, S. 373. 21 Karl Ilg, Friedrich Metz, in: Montfort. Vierteljahresschrift für Geschichte und Gegenwartskunde Vorarlbergs 22 (1970), S. 81–86, 85.

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22 Vgl. Fahlbusch, Wissenschaft, S. 685, Anm. 512. 23 STAF, C 4/X/19/10, Vorläufiger Tätigkeitsbericht von Metz für das Alemannische Institut vom 22.7.1940. 24 Ebd., Metz an Kerber vom 26.6.1940. 25 Ebd., Metz an Kerber vom 5.3.1941. 26 Dieter Speck, „Grenzlanduniversität“ im Nationalsozialismus. Die Verleihung der Ehrensenatorenwürde an Reichsminister Dr. Frick in der Aula des Universitätsgebäudes, in: Freiburger Universitätsblätter 122 (1993), S. 149–164. 27 Fahlbusch, Wissenschaft, S. 712. 28 STAF, C 4/X/19/10, Friedrich Metz an die Volksdeutsche Mittelstelle vom 29.3.1940. 29 Quarthal, Das Alemannische Institut, S. 35. 30 STAF, C 4/X/19/10, Süss (Freiburger Rektor) an Maurer (Prorektor Freiburg) vom 17.6.1941. 31 BArch, R 21, 10170, Süss an das badische Kultusministerium vom 29.11.1941. 32 STAF, C 4/X/19/10, Maurer an Kerber vom 24.2.1941. 33 Quarthal, Alemannisches Institut, S. 36. 34 BArch, R 58, 101, Protokoll der Kuratoriumssitzung, Bericht von SS-Standartenführer Ehlich vom 3.8.1944, Bl. 118f.; Fahlbusch, Wissenschaft, S. 770. 35 Friedrich Maurer, Oberrheiner, Schwaben, Südalemannen. Räume und Kräfte im geschichtlichen Aufbau des deutschen Südwestens, Straßburg 1942. Neben Maurer steuerten Georg Kraft, Karl Siegfried Bader, Hans-Walter Klewitz und Johannes Schaeuble Aufsätze bei. Dieses Institut stellte eine Art ‚Keimzelle‘ der heutigen „Abteilung Landesgeschichte“ des Historischen Seminars der Freiburger Universität dar. 36 Tagebuch von Karl. S. Bader Juli 1945 bis Juni 1946, in: Paul Ludwig Weinacht (Hg.u.a.), Gelbrot-gelbe Regierungsjahre. Badische Politik nach 1945. Gedenkschrift zum 100. Geburtstag Leo Wohlebs (1888–1955), Sigmaringendorf 1988, S. 33–88, 37. 37 Joseph Sauer berichtet in seinem Tagebuch, er habe mit Metz und Colonel Schneider Anfang Mai 1945 beratschlagt, „was werden soll.“ Vgl. Dieter Speck, Die Freiburger Universität am Kriegsende, in: ZGO, S. 385–441, 399. 38 Registraturakten des Alemannischen Instituts, Ordner 1, Tagebücher von Joseph Sauer 1945– 1948, dem Alemannischen Institut bereitgestellt von Hugo Ott, siehe auch UAF, C 67. 39 Konrad Sonntag, Zur Geschichte des Alemannischen Instituts seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in: Alemannisches Institut. 50 Jahre landeskundliche Arbeit 1931–1981, S. 50–63. 40 Ebd., S. 54. Seit September 2006 befindet sich das Institut in der Bertoldstr. 45. 41 Ebd., S. 56f. 42 Einen guten Überblick über die Geschichte und die aktuelle Organisationsstruktur des Alemannischen Instituts bietet der Text der aktuellen Geschäftsführerin Johanna Regnath, veröffentlicht in: Badische Heimat (2008) 3, S. 470–473 und auf der Institutshomepage: http://www.alemannischesinstitut.de/cms/website.php?id=geschichte/aufsatz.htm (Zugriff: 7.6.2016). 43 Sonntag, Zur Geschichte des Alemannischen Instituts, S.60. Zudem mündliche Informationen des Alemannischen Instituts vom 1.4.2004.

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Anstalt für Germanische Volks- und Rassenkunde in Hannover Mitten im Krieg – zu einer Zeit, in der alle nicht kriegswichtigen Betriebe geschlossen wurden – schritt die Stadtverwaltung Hannover zur Neugründung einer Anstalt für Germanische Volks- und Rassenkunde in der Gauhauptstadt. Die Vorgeschichte der Anstalt begann im Oktober 1940, als das Rassenpolitische Amt der NSDAP beim Gau Südhannover-Braunschweig in Hannover eine Gautagung zum Thema „Rassenpolitik im Krieg“ durchgeführt hatte. Dabei war betont worden, dass der „Niedersachsengau“ als „Hüter des nordisch-fälischen Rassekerns“ besonders aufgerufen sei, angesichts der Verluste durch den Krieg und der Gefährdung durch die wachsende Zahl der Fremdarbeiter schon während des Krieges verstärkt eine „rassenpolitisch ausgerichtete Volkstumspolitik“ zu betreiben.1 Der neue Gauleiter Hartmann Lauterbacher, der im Dezember 1940 seinen Dienst in Hannover antrat, griff diese Ideen auf. Er ließ sich von Himmler für deinen Gau einen „besonderen germanischen Auftrag“ übertragen, zu dem er im Frühjahr 1942 einen eigenen Plan dazu ausarbeiten ließ. Im Rahmen dieses Plans konnte Lauterbacher im Mai 1943 fast zeitgleich mit der Eröffnung der städtischen Rassenanstalt ein „Germanisches Haus“ für die „Pflege und Betreuung des Germanischen Volkstums außerdetscher Länder“ dem SS-Gruppenführer und Komm. General des Germanistischen SS-Panzerkorps Felix Steiner feierlich übergeben. (HAZ 14.5.1943). In diesem Kontext ist auch die Rassenanstalt zu sehen. Der eigentliche Schöpfer und Planer der Anstalt war der junge Jurist Walter Kopp, ein Spezialist für die neue nationalsozialistische Erb- und Rassengesetzgebung.2 Er war seit 1938 als Leiter der Abteilung Erb- und Rassenpflege im städtischen Gesundheitsamt angestellt, 1940 wurde er zum Städtischen Verwaltungsrat ernannt. Seit Februar 1940 leitete er zugleich das Rassenpolitische Amt beim Gau Südhannover-Braunschweig, bei dem er seit seinem Eintritt in die NSDAP im Frühjahr 1933 mitgearbeitet hatte. Walter Kopp hatte nicht nur im April 1942 für Lauterbacher den ersten Plan für die Anstalt entwickelt, sondern auch in der zweiten Jahreshälfte 1942 die entscheidenden Verhandlungen zur Gründung der Anstalt geführt. Zu dieser Zeit war er schon nicht mehr in der Stadtverwaltung tätig, da er durch einen – vertuschten – Skandal (er hatte als Nichtmediziner junge Frauen „erbbiologisch“ untersucht) auf Vorschlag des Reichsgesundheitsführers Leonardo Conti für ein Medizinstudium in Göttingen beurlaubt worden war. Im Februar 1943 wurde er schließlich als Sanitäter zur Wehrmacht eingezogen. Am 15. Januar 1943 bestimmte der kommissarische Oberbürgermeister Ludwig Hoffmeister den Gesundheitsdezernenten Busse zum zuständigen Dezernenten für die Anstalt. Zwei Wochen später fiel Stalingrad, und weder Busse, noch Kopp oder Hoffmeister wollten in dieser Situation die Verantwortung für die Errichtung einer

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neuen Behörde übernehmen. Erst als Gauleiter Hartmann Lauterbacher Mitte Februar noch einmal ausdrücklich entschied, dass die Anstalt „kriegswichtig“ sei, wurde mit dem Aufbau begonnen. Mitte Mai 1943 nahm die Anstalt schließlich in einer repräsentativen Villa in Kleefeld, einer der vornehmsten Wohngegenden Hannovers, ihre Arbeit auf. Als Leiter der Anstalt war von Anfang an der Biologe Ferdinand Roßner vorgesehen gewesen. Roßner, Jahrgang 1900, Mitglied der NSDAP seit 1932, war seit 1934 Dozent für Biologie, Rassenkunde und Vererbungslehre an der Hochschule für Lehrerinnenbildung in Hannover; 1939 war er zum Professor ernannt worden. Roßner entwickelte eine rege Publikationstätigkeit, die vor allem Aufsätze in Fachzeitschriften, Schulbücher und Lehrerhandbücher für den Biologieunterricht umfasste. Dabei standen Rassenkunde und Vererbungslehre im Mittelpunkt. Seit 1936 arbeitete er auch beim Rassenpolitischen Gauamt mit. Bei der Gautagung im Oktober 1940 hielt er den zentralen Vortrag über „Rasse als Lebensgesetz“, in dem er sich zu den rassistischen und antichristlichen Positionen Alfred Rosenbergs bekannte und die Bedeutung von „Auslese- und Ausmerzevorgänge[n] im Volkskörper“ betonte.3 In der Schriftenreihe des Gauamts veröffentlichte er 1942 eine Schrift mit dem Titel „Rasse und Religion“, in der er die christlichen Kirchen als Träger jüdischen Gedankenguts und „artfremde[r] Weltanschauungen“ angriff. Dagegen propagierte er eine „artgemäße“ Rassereligion, die es als „deutsches Evangelium“ in „Herz und Hirn“ einzuprägen gelte. Auf dieser Grundlage betrieb Roßner eine Art psychologische Aufrüstung für den totalen Krieg: In sozialdarwinistischer Manier führt er gegen den „christlichen Mitleidkomplex“ den „harten Kampf ums Dasein“ als „Lebensgesetz“ in Natur und Gesellschaft ins Feld. „Wer nicht kämpfen will auf der Erde, hat kein Recht zum Leben!“ Den aktuellen Krieg sieht er als Krieg gegen „artfremde Weltanschauungen“, in dem es – wie bei allem rassischen Denken und Handeln – keine Bindung an einen „artfremden Sittlichkeitsbegriff“ geben könne. Für Roßner waren „Rasse“ und „Volk“ die einzigen ethischen Werte, das „Blut“ wurde ihm zur neuen Religion.4 Im Mai 1943 bezog Roßner die Dienstwohnung im 1. Stock der Villa in Kleefeld und nahm die Arbeit auf. Kurz zuvor war er als Nachfolger Kopps Leiter des Rassenpolitischen Gauamts geworden. Im Juli 1944 übernahm er auch noch die kommissarische Leitung des Gauschulungsamtes. Alle diese Ämter wurden schließlich ebenfalls in der Villa in Kleefeld untergebracht. Roßner selber nannte Anfang 1943 drei Aufgabenbereiche der Anstalt:5 Die Anstalt sollte erstens die Struktur und die Entwicklung der Bevölkerung Niedersachsens unter rassenpolitischen Gesichtspunkten erforschen und dabei besonders die durch das „Fremdvolkproblem entstandenen Gefahren“ beachten. Das dabei zusammengetragene Material sollte vor allem Staat und Partei als Entscheidungsgrundlage dienen, aber auch zu Propagandazwecken verwendet werden. Die Anstalt sollte zweitens im Rahmen der „großgermanischen Aufgabe“ des Gaus SüdhannoverBraunschweig junge Männer aus „germanischen“ Ländern und Regionen wie Nor-

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wegen und Flandern für einige Zeit zur Mitarbeit in der Anstalt nach Hannover holen, um sie in die Gedankengänge und Methoden der nationalsozialistischen Bevölkerungs- und Rassenpolitik einzuführen. Zur Vermittlung dieser Männer nahm Roßner Verbindung mit dem SS-„Ahnenerbe“ auf.6 Drittens schließlich sollte die Anstalt auch den „Einfluss des Judentums in unserem Lebensraum“ erforschen, „bevor die letzten Juden, die darüber aus eigener Anschauung unterrichtet sind, abgeschoben wurden.“ Offenbar beteiligte sie sich in Zusammenarbeit mit der Gestapo am Aufbau einer Mischlingskartei, die möglicherweise sogar in der Kleefelder Villa untergebracht war. Roßner begann mit der Arbeit im Frühjahr 1943 mit viel Elan. Aber alle Initiativen endeten im Bombenhagel der zweiten Jahreshälfte von 1943. Zwar wurde die Villa selbst nicht getroffen, aber die Anstalt verlor durch Abordnungen ihr ganzes Personal und durch Einquartierungen anderer Ämter ihre Räume. So scheint die Arbeit der Anstalt über einige Ansätze nicht hinaus gekommen zu sein. Roßner wurde wenige Tage nach der Besetzung Hannovers durch die Alliierten am 22. Mai 1945 in der Villa in Kleefeld verhaftet. Bis Oktober 1947 saß er in Internierungshaft. Im Entnazifizierungsverfahren wurde er schließlich in die Kategorie IV („Mitläufer“) eingestuft. Dadurch wurde es ihm möglich, wieder Gymnasiallehrer zu werden. Die Akten der Anstalt müssen als verloren gelten.

Hans-Dieter Schmid

1 Walter Kopp (Hg.), Rassenpolitik im Kriege. Eine Gemeinschaftsarbeit aus Forschung und Praxis, Hannover 1941, Vorwort. Eine ausführlichere Darstellung der hannoverschen Anstalt findet sich bei Wolf-Dieter Mechler (Hg. u.a.), Schreibtischtäter? Einblicke in die Stadtverwaltung Hannover 1933 bis 1945, Hannover 2000, S. 57–63. 2 Walter Kopp, Gesetzliche Unfruchtbarmachung. Die Sterilisationsgesetzgebung in den skandinavischen Ländern und der Schweiz und ihre praktischen Ergebnisse, unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Gesetzes vom 14. Juli 1934, Kiel 1934. 3 Ferdinand Roßner, Rasse als Lebensgesetz, in: Walter Kopp (Hg.), Rassenpolitik im Kriege, Hannover 1941, S. 64–82, 77. 4 Ferdinand Roßner, Rasse und Religion, Hannover 1941, S. 42, 78f., 89, 98. 5 Stadtarchiv Hannover, HR 2, 821, Roßner an Gesundheitsdezernent Busse vom 29.1.1943. 6 Ebd., Aktenvermerk Roßner vom 18.3.1943; BArch, BDC, Ahnenerbe, Aktenvermerk Sievers vom 5.4.1943, und Sievers an Lauterbacher vom 5.4.1943.

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Arbeitswissenschaftliches Institut Das am 10. April 1935 gegründete Arbeitswissenschaftliche Institut (AWI) der Deutschen Arbeitsfront (DAF)1 war, entgegen der Namensgebung, kein im engeren Sinne „arbeitswissenschaftliches“ Institut, das sich in erster Linie tayloristischen Bewegungsstudien, Industrieller Psychotechnik oder auch der Invalidenrehabilitierung von Industriearbeitern gewidmet hätte.2 Als „einer der wichtigsten Pfeiler der Deutschen Arbeitsfront“3 und Brain Trust der mit schließlich mehr als 25 Mio. Mitgliedern stärksten und vom NSDAP-Reichsorganisationsleiter Robert Ley gelenkten NSMassenorganisation sollte das Institut der DAF-Führung vielmehr Analysen zu allen grundlegenden Fragen liefern und strategische Optionen entwickeln. Gebunden war das AWI dabei an den weitgefassten Auftrag, den Hitler in seiner Verordnung vom 24. Oktober 1934 an die Arbeitsfront adressiert hatte. Nach dieser Verordnung, de facto eine Art Ermächtigungsgesetz für die Ley’sche Organisation, hatte die DAF alle Deutschen zu einer „wirklichen Volks- und Leistungsgemeinschaft“ zusammenzuführen. Geleitet wurde das AWI seit seiner Gründung bis zum Ende der NS-Diktatur von Wolfgang Pohl (1897–1962). Politisches Gewicht besaß der 1921 promovierte Politologe Pohl vor allem aufgrund seiner weitreichenden Vernetzungen. Anfang der zwanziger Jahre war er leitender Angestellter in der Sozialpolitischen Abteilung der AEG, anschließend von 1922 bis 1927 Redakteur der Deutschen Allgemeinen Zeitung. Danach, 1927 bis Mitte 1933, stieg er zum einflussreichen Pressereferenten im Reichswirtschaftsministerium auf. Noch in der Gründungsphase der Arbeitsfront war Ley auf ihn aufmerksam geworden. Seit Ende 1933 fungierte Pohl als sozialpolitischer Referent innerhalb des Hauptorganisationsamtes der NSDAP-Reichsorganisationsleitung. Er war enger Vertrauter Leys und gehörte zu dessen wenigen Duzfreunden. Gleichzeitig blieb Pohl Verbindungsmann zu den beiden, für die Tätigkeitsfelder der DAF wichtigsten Ministerien, dem Reichsarbeits- und dem Reichswirtschaftsministerium; als Ministerialdirektor respektive Ministerialdirigent übte er in beiden Ministerien bis in die Vorkriegsjahre gleichfalls nominell hohe Funktionen aus. Pohl war nicht nur allseits beliebt und anerkannt; zusätzlich verfügte er über vorzügliche Kenntnisse im Bereich des Arbeitsrechts, die er 1933/34 federführend in die Ausarbeitung des „Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit“ einbrachte. Ein gutes Jahr nach seiner Gründung beschäftigte das AWI insgesamt 83 Mitarbeiter. Bis September 1940 hatte sich diese Zahl auf 544 erhöht, nicht eingeschlossen die Wissenschaftler, die über Honorarverträge an das Institut gebunden waren.4 Von ihnen wurden laut „friedensmäßigem Organisationsplan“ in der Bibliothek sowie im Archiv 156 und in der Statistischen Zentralstelle 112 Angestellte und Arbeiter beschäftigt. Die eigentliche, gleichfalls von Pohl geleitete Forschungsstelle, der produktive Kern des Instituts, beschäftigte ein Jahr nach Kriegsbeginn 197, weitere

Arbeitswissenschaftliches Institut  1339

Dienststellen des AWI, ein Tarifarchiv, ein Firmenarchiv (über das nichts bekannt ist) sowie technische Service-Einrichtungen, zusammen 79 Mitarbeiter. Der Grundstock des am 28. September 1935 gegründeten Zentralarchivs des AWI und ebenso der am 19. Juni 1936 aus dem Zentralarchiv ausgegliederten Zentralbibliothek basierte auf hemmungslosem Raub. Nach der Zerschlagung der Gewerkschaften war die Masse der angeeigneten Bücher in den größeren Städten und bezirklichen Verwaltungszentren mehrere Jahre unsortiert und unverzeichnet eingelagert worden. Gleiches galt für die umfänglichen archivalischen Bestände der organisierten Arbeiterbewegung. Ab 1937 gingen diese ungeordneten Bestände – von kleineren Teilen abgesehen, die vor allem SD und Gestapo übernahmen – in den Besitz des AWI über, das den umfänglichen Buchbestand umgehend ordnete und katalogisierte.5 Der „Anschluss“ Österreichs und jede weitere Annexion verschaffte Bibliothek und Archiv einen „Plünderungsschub“. In welchen Dimensionen sich allein das Zentralarchiv Aktenkonvolute aneignete, geht aus einem Bericht vom Mai 1944 hervor: Danach verfügte es zu diesem Zeitpunkt über ungefähr dreihunderttausend Bände; aneinandergereiht waren das 8,7 Kilometer.6 Während das Archiv „durch den täglichen Eingang von neuem Material“ vor allem seitens der verschiedenen DAF-Dienststellen zu einem „Registrierapparat der wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen“ wurde,7 sammelte die Bibliothek sämtliche neu erscheinenden Publikationen zur Sozialpolitik im weitesten Sinne sowie zahlreiche Periodika aus allen größeren europäischen und außereuropäischen Ländern. Darüber hinaus werteten Zentralarchiv und -bibliothek die Presse laufend aus und legten eine Zeitungsausschnittssammlung an, die während des Dritten Reiches ihresgleichen suchte. Bereits 1937 wurden achtzig Tageszeitungen und knapp tausend Zeitschriften systematisch gesichtet und allein in diesem Jahr ungefähr „250.000 Ausschnitte in die Archivschränke eingelegt“8 – mit in den Folgejahren steigender Tendenz. Infolgedessen war diese Presseausschnittssammlung für Funktionsträger der NSDAP und ihrer Vorfeldorganisationen eine gern und häufig genutzte, überaus reichhaltige Quelle (auf die sich auch heute noch viele NS-Historiker stützen).9 Daneben verwaltete das AWI-Zentralarchiv das „Reichsbezugsquellenarchiv der Deutschen Arbeitsfront“. Hinter diesem unverfänglichen Namen verbarg sich ein antisemitisches Archiv mit knapp zweihunderttausend Firmenakten, die Auskunft über „arische und nicht-arische Strukturen“ von Handelsfirmen und Gewerbebetrieben gaben. Der Grundstock dieses Archivs war von der nationalsozialistischen Mittelstandsorganisation NS-Hago in der Endphase der Weimarer Republik zusammengestellt worden. Um die Verfolgung jüdischer Unternehmer und kleiner Selbständiger möglichst lückenlos zu gestalten, erweiterte und vervollständigte die DAF dieses antisemitische Archiv sukzessive, auch durch reichsweite Fragebogenaktionen. Am 10. Oktober 1935 machte das AWI das Reichsbezugsquellenarchiv zu einer öffentlichen Einrichtung; für Anfragen von Unternehmen und Behörden war es förmlich zugänglich. Neben antisemitischen Denkschriften stellte das AWI bis Anfang 1943

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ein „Verzeichnis jüdischer Sozialwissenschaftler“ zusammen, das „ähnliche Veröffentlichungen durch den Grad seiner Zuverlässigkeit übertr[o]ffen“ habe.10 Die Statistische Zentralstelle war die dritte große Abteilung des AWI. Sie übte mehr als nur eine ‚hilfswissenschaftliche‘ Funktionen aus. Zum einen konzentrierte sie sich auf die quantitative Seite empirischer Beobachtung und die Auswertung andernorts erstellter Statistiken nicht nur des Dritten Reiches, sondern aller Länder letztlich des gesamten Globus. Diese wurden in einem zweiten Schritt zu einer „Internationalen Sozialstatistik“ zusammengestellt, die ihrerseits Eingang in die Publikationen und Memoranden des AWI fand.11 Darüber hinaus forcierten Statistiker des AWI die mikroanalytische Ausdifferenzierung statistischer Erhebungsverfahren immer weiter. Dies sollte nicht nur die Identifizierung noch unbekannter Leistungspotenziale für die Kriegswirtschaft erleichtern, sondern ebenso etwa die politischen Risiken der vor dem Hintergrund der Aufrüstung durchgeführten Konsumbeschränkungen – die Gefahr größerer Sozialproteste – empirisch valide eruieren. Das AWI war maßgeblich mitverantwortlich dafür, dass der bereits in der Weimarer Republik hochschlagende Statistical Turn, das Bemühen wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher, aber auch demographischer oder anthropologischer Institute und Forschergruppen, Thesen und Theorien durch eine elaborierte Quantifizierung abzusichern, nach 1933 nicht abbrach, sondern im Gegenteil einen weiteren Schub erhielt. Die Forschungsabteilung des AWI im engeren Sinne war Mitte 1936 in folgende sechs „Arbeitsbereiche“ (den Abteilungen in modernen sozialwissenschaftlichen Instituten vergleichbar) untergliedert: „Geschichte der Arbeit“, „Sozialwissenschaft“, „Volkswirtschaftslehre“, „Arbeitsrecht“, „Statistik“ (Bearbeitung des vom Archiv zusammengetragenen Datenmaterials), „Wirtschaftspsychologie“ und „Arbeitshygiene“. Von den Arbeitsbereichen zu unterscheiden waren insgesamt zwölf Arbeitsfelder. Sie waren größeren ‚Projektclustern‘ vergleichbar und sollten flexibel den verschiedenen Arbeitsbereichen zuarbeiten, sich jeweils der „Beobachtung“ der Wirtschaft, der Arbeitsrechtsprechung oder auch den Gliederungen und Vorfeldorganisationen der in sich ja ziemlich heterogenen NSDAP und ihren Protagonisten widmen, soweit diese auf dem weiten Feld der „Sozialpolitik“ aktiv waren. Mit dem Ausbau des Instituts in den Vorkriegsjahren und im Spätsommer 1940 wurde die Zahl der Arbeitsbereiche oder Abteilungen auf 14 erweitert. Die Kriegswende ab Herbst 1941 und mit ‚Stalingrad‘ ließ die Zahl der Arbeitsbereiche des Instituts auf schließlich neun schrumpfen. Spätestens seit Anfang 1943 wurden auch die Mitarbeiter des AWI von „Auskämmaktionen“ erfasst, durch die Soldaten für die vor allem im Osten einbrechenden Fronten rekrutiert wurden.12 Der Produktivität des AWI tat dies freilich kaum Abbruch. Bis 1944 ebbte die Flut an Denkschriften des Instituts kaum ab. Welchem Selbstverständnis folgte das Institut und dessen Forschungsabteilung? Das AWI war kein sozialwissenschaftliches Institut im üblichen Sinne, das Experten versammelte, die sich der ‚Politik‘ im engeren Sinne fernhielten. Es fungierte vielmehr als strategischer Kopf der Arbeitsfront, der der DAF-Führung in zahllosen

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Denkschriften Analysen vorlegte, Optionen für kurzfristiges Handeln wie langfristige Perspektiven bot und dabei Diagnosen mit Prognosen verknüpfte. Zwar sei es „nicht die Aufgabe der wissenschaftlichen Forschung, das politische Geschehen zu bestimmen“. Die „Entscheidung über das, was zu geschehen hat und wann es zu geschehen hat, [obliege] in jedem Fall der politischen Führung“. Die „reine Theorie“, welche sich um ihre praktischen Folgen nicht kümmere, sei jedoch „fruchtlos“. Nicht „Theorie [im] überlieferten Bildungssinne“ wolle das AWI liefern, sondern Elemente eines „Generalstabsplans“, die der DAF und anderen NS-Herrschaftsträgern „den Weg aus der unzulänglichen Gegenwart in die programmatisch erstrebte Zukunft weise und öffne“. Erst empirisch abgesicherte Diagnosen und wissenschaftsbasierte Strategien, wie sie das AWI entwickele, machten es möglich, „eine Verwirklichung des Wunschbildes in absehbarer Zeit [zu] ermöglichen“, innerhalb überschaubarer Zeiträume und „mit möglichst geringem Reibungsverlust“.13 Ziel des AWI war mithin, die faschistisch-rassistische Utopie des Nationalsozialismus zu erden, nämlich in realisierbare Teilschritte zu zerlegen. Daneben bot das AWI den bei Kriegsbeginn knapp 50.000 hauptamtlichen DAF-Funktionären Handreichungen für die konkrete Praxis. Obwohl sich das Institut bewusst von den „Tagesaufgaben der Sozialpolitik möglichst fern“ hielt, galt der Grundsatz: „Die Schwierigkeiten und Probleme der laufenden Arbeit sind der Ausgangspunkt aller Untersuchungen im Arbeitswissenschaftlichen Institut.“ 14 Daneben lieferte das AWI der DAF-Presse Stichworte für Kampagnen, so Anfang 1940, als es das „Alterversorgungswerk“ der DAF konzipierte und politisch-ideologisch gezielt mit den Bismarck’schen Traditionen verknüpfte.15 Charakteristisch für das AWI war das weit gespannte Spektrum der Fachgebiete, aus denen das Institut zum Zweck „solider wissenschaftlicher Gesamtbetrachtung“16 seine wissenschaftlichen Mitarbeiter rekrutierte. Es reichte von den Rechts-, Staats- und Wirtschaftswissenschaften (Betriebswirtschaft und Nationalökonomie) und den Arbeitswissenschaften über die Ethnologie, Demographie, Geographie, Soziologie, Politologie, Germanistik, Publizistik, Philosophie, Mathematik, Pädagogik und Kulturwissenschaften bis hin zur Psychologie, Theologie, zu den Archiv- und Bibliothekswissenschaften und schließlich zur Geschichte. So wie eine ausgeprägte Interdisziplinarität die Wissenschaftskultur des AWI prägte, war eine bewusste Anonymisierung der Verfasser der meisten AWI-Memoranden typisch für Publikationspraxis des Instituts. Für die einzelnen Mitarbeiter war es von großem Vorteil, sich hinter einer anonymen Verfasserschaft und damit dem Arbeitswissenschaftlichen Institut, dessen Renommee unter NS-Funktionsträgern unbestritten war, verschanzen zu können. Manche Mitarbeiter des AWI galten als Querdenker,17 deren fachliche Expertise zwar geschätzt wurde, die dennoch – wenn sie namentlich bekannt geworden wären – leicht zum Objekt von Angriffen verärgerter NS-Funktionsträger hätten werden können. Aus der Anonymität heraus war es zudem leichter, Kritik auch an der Politik der DAF – deren führende Protagonisten sehr empfindlich und übelnehmerisch reagieren konnten – selbst zu äußern.

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Nicht zufällig weisen die zahlreichen Untersuchungen und Memoranden des AWI Ähnlichkeiten mit modernen Area Studies18 auf. Dass das AWI ganz Europa und schließlich alle Kontinente zum wirtschafts-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand machte, ist auf die Gründung des „Internationalen Zentralbüros Freude und Arbeit“ Ende Juli 1936 in Berlin zurückzuführen. Diesem Internationalen Zentralbüro, das als faschistisches Gegenstück zur International Labor Organisation in Genf (ILO) konzipiert war, sollte ein „Internationales Forschungs-Institut“ angegliedert werden. Diese Aufgabe übertrug Ley wenig später dem Arbeitswissenschaftlichen Institut der DAF. Zwischen 1938 und 1940 wurden innerhalb des AWI zu diesem Zweck drei Abteilungen aufgebaut: für „Ausländische Sozial- und Wirtschaftspolitik“, für „Koloniale Sozialpolitik“ sowie für „Sonderaufgaben“. Sie waren Teile einer umfassenden „auslandswissenschaftlichen Abteilung“.19 Mit dem Ziel, den Untersuchungen dieser Abteilung im Ausland eine breite Publizität zu verschaffen, gab das AWI ab 1941 die Neue Internationale Rundschau der Arbeit (NIRA) heraus. Diese Zeitschrift, als ‚Ersatz‘ der „Internationalen Rundschau“ des ILO – das 1941 nach Kanada auswich – konzipiert, erschien in mehreren europäischen Sprachen. Vordergründige Prämisse aller Arbeiten zu europäischen Regionen war, dass „die Völker Europas eine Schicksalsgemeinschaft“ bildeten. Ziel der Untersuchungen sei es, so heißt es in einer publizierten programmatischen Denkschrift über die „Auslandsforschung“ des AWI aus dem Jahre 1942, „die Unterschiede im kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungsstand“, aber auch die transnationale „Verflechtung des Handels, des Verkehrs, des Kredits, der Wissenschaft und Bildung sowie des Arbeitseinsatzes“ herauszuarbeiten sowie die „Ströme von Menschen […] über alle Grenzen“ hinweg, also die binneneuropäischen Migrationsbewegungen, empirisch-analytisch zu verfolgen. Um hier zu, für die NS-Diktatur funktionalen, ‚flächendeckenden‘ Lösungen zu kommen, die „richtungsweisend für die politische Praxis“ würden, seien „Rassenkunde, Völkerpsychologie und Wirtschaftsgeschichte“ sowie „Sozialgeographie“ und eine „Sozialmorphologie“, welche die „völkischen Gegebenheiten“ besonders berücksichtige, als Kerndisziplinen in den Dienst einer auf das „Neue Europa“ fokussierten Auslandswissenschaft zu stellen.20 Zwar gaben sich die meisten Analysen der Auslandsforschung des AWI neutral und beschränkten sich meist auf scheinbar unideologische, mit Statistiken und sonstigen Fakten garnierte Analysen. Der genauere Blick auf sprachlichen Duktus und Handlungsvorschläge zeigt jedoch, dass die Auslandswissenschaften des AWI einem rassistisch aufgeladenen Metropole-Peripherie-Modell sowie einem Konzept des ‚rassistischen Raumes‘ als Richtschnur folgten, wie es generell für die wirtschaftliche und ebenso für die wissenschaftliche Expansion der Unternehmen und Forschungseinrichtungen des „Altreichs“ ab 1938 galt: Die ost- und südosteuropäischen Länder, die von ‚Völkern‘ besiedelt waren, die in der rassistischen Hierarchie der Nationalsozialisten als minderwertig galten, dienten lediglich als Rohstoff- und Agrarbasis des NS-beherrschten Europas.21 Ökonomisch wie wissenschaftlich privi-

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legierter war die Stellung der nord- und westeuropäischen Staaten konzipiert. Im Tenor sachlich-positiv fielen die Untersuchungen über die sozialen Konstellationen, Arbeitsverhältnisse und Arbeitsrecht, die Ökonomie oder auch die Sozialverfassungen der verbündeten Staaten – Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Slowakei, Kroatien, Spanien, Portugal und (bis Juli 1943) selbstverständlich Italien sowie der neutralen Länder (Schweiz, Schweden sowie Finnland) aus. Relativ zahlreich waren außerdem die Studien insbesondere zur Sozialpolitik der europäischen ‚Feindmächte‘ der NS-Diktatur Frankreich und vor allem Großbritannien sowie Überblicksdarstellungen zur gesamteuropäischen Entwicklung. Darüber hinaus entwickelte die Auslandspolitische Abteilung des AWI einen globalen Blick; sie nahm insbesondere in dieser Hinsicht die späteren, vor allem US-amerikanischen Area Studies vorweg. Ähnlich wie die Area studies, die in der Hochzeit des Kalten Krieges ihr Theorien-Paradigma in antikommunistischen Modernisierungstheorien und einem darauf basierenden, stark teleologischen Entwicklungs-Stufenmodell besaßen, waren auch die Arbeiten der Auslandswissenschaftlichen Abteilung des AWI hochgradig politisiert. Überblickt man das umfängliche Konvolut an Denkschriften und Memoranden über Regionen und Staaten außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches, die hier zwischen 1938 und 1944 entstanden, drängt sich der Eindruck auf, dass diese gleichfalls ein, allerdings NS-überformtes, ‚Modernisierungs‘-Konzept spiegelten. Von westlichen Modernisierungstheorien, die den Bevölkerungen aller Weltregionen jedenfalls nominell grundsätzlich gleiche Entwicklungschancen einräumen, unterschied sich die des DAF-Instituts durch ihre starke rassistische Aufladung. In der Perspektive der Protagonisten des AWI waren insbesondere weite osteuropäische Regionen nur begrenzt ‚entwicklungsfähig‘. Ihnen war qua Rasse ein Helotendasein zugedacht, unter Aufsicht des „deutsch-arischen Herrenvolkes“ sowie „rassisch verwandter“ nord- und westeuropäischer Nationen. Einen weiteren Unterschied der Auslandswissenschaften des AWI zu den modernen Area Studies markiert der Tatbestand, dass letztere in komplexe Studiengänge und Wissenschaftsfelder an Hochschulen und auß