Grundriss der Encyklopädie der Theologie [Reprint 2019 ed.] 9783111460871, 9783111093697

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German Pages 149 [152] Year 1901

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichniss
Zusätze Und Verbesserungen
§ 1. Die Aufgabe Der Encyklopädie
Theil I . Der Begriff der Theologie, ihre Stellung in der Gesammtwissenschaft und die aus ihrem Begriff sich ergebenden Theildisciplinen
§ 2. Verschiedene Begriffsbestimmungen der Theologie
§ 3. Positive Bestimmung des Begriffs der Theologie
§ 4. Eintheilung der Theologie
§ 5. Das Verhältniss der Theologie zu den übrigen Wissenschaften
Theil II. Die einzelnen Disciplinen der Theologie
A. Die historische Theologie
§ 6. Der Umfang der historischen Theologie und ihre Voraussetzungen in der allgemeinen Religionsgeschichte
§ 7. Die Methode der historischen Theologie
1. Die exegetische Theologie
§ 8. Die Theile der exegetischen Theologie. (Neutestamentliche Zeitgeschichte, Exegese, kritische Literaturgeschichte der neutestamentlicben Schriften, Geschichte Jesu, Geschichte des apostolischen Zeitalters nach Seiten des religiössittlichen Lebens und der Lehre, neutestamentliche Theologie.)
§ 9. Die Methode der exegetischen Theologie. Hermeneutik und Kritik
2. Die historische Theologie von der Urzeit des Christenthums bis auf die Gegenwart
§ 10. Die diesen Abschnitt betreffenden Disciplinen. (Geschichte des christlichen Lebens und Geschichte des christlichen Bewusstseins, wovon Kirchen- und Dogmengeschichte nur Theile sind. Die Geschichte des christlichen Bewusstseins kann noch in Geschichte der Darstellung des Glaubensinhaltes und der Ethik zerfallen.)
3. Die historische Theologie als Schilderung der Gegenwart
§ 11. Die diesen Abschnitt betreffenden Disciplinen (christliche Confessionskunde, zerfällt in Darstellung des christlichen Bewusstseins, Symbolik, Dogmatik und des christlichen Lebens, Statistik)
§ 12. Uebergaug zu der speculativen Theologie
B. Die speculativen Theologie
§ 13. Die Aufgabe der specnlatiren Theologie
§ 14. Die Apologetik
§ 15. Die christliche Ethik
§ 16. Das Verhältniss der historischen und speculativen Theologie
§ 17. Aufgabe und Theile der praktischen Theologie
Anhang. Einige Bemerkungen über das theologische Studium
§ 18.
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Grundriss der Encyklopädie der Theologie [Reprint 2019 ed.]
 9783111460871, 9783111093697

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Grundriss der

Encyklopädie der Theologie von

D. Dr. A. Dorner.

Berlin. Druck and Verlag von Georg Reimer. 1901.

Vorwort. Dieser Versuch einer Encyklopädie der Theologie, welchen ich hiermit der Oeffentlichkeit übergebe, stellt es sich zur Aufgabe, von einem einheitlichen Begriff der Theologie aus die Theile und Ginzeldisciplinen nach ihrer Aufgabe und Methode zu bestimmen. Es liegt mir daran, streng die Grenzen dieser Aufgabe der Encyklopädie innezuhalten, durch die sie eine wichtige Disciplin der Theologie wird.

Ich lasse mich deshalb nicht auf den Inhalt

der einzelnen Disciplinen ein, sondern suche nur ihre Aufgabe zu

fixiren.

Gewöhnlich will man in der Theologie die praktisch-

kirchlichen und die wissenschaftlichen Rücksichten combiniren. Diese Combination halte ich für ausgeschlossen. Wie jede Wissenschaft, gerade wenn sie tief und selbstständig forscht, eo ipso praktische Früchte zeitigt, so kann auch die wissenschaftliche Theologie thatsächlich praktischen Zwecken dienen.

Aber eine

Disciplin, die von vorne herein nur für einen praktischen Zweck vorhanden ist, deren Erkennen nicht Selbstzweck ist,

sondern

n u r technisches Mittel für praktisches Können .— eine solche Disciplin hat nicht den Rang einer Wissenschaft.

Gerade weil

man das Erkennen so vielfach nicht mehr als Selbstzweck gelten lässt, halte ich es für nothwendig, den Begriff der Theologie als wissenschaftlicher zu iixiren.

Man wird vielleicht das pectus ver-

IV

Vorwort.

missen, das den Theologen ausmachen soll.

Mir scheint es eine

heillose Verwirrung hervorzurufen, wenn man in die wissenschaftliche Forschung das erbauliche Moment einfügt oder verlangt, dass die theologischen Untersuchungen d i r e c t e u Nutzen für irgend eine confessionelle Kirche abgeben sollen.

So wenig

die Kanzel ein Katheder ist, so wenig ist der Katheder eine Kanzel. Gerade eine möglichst allseitige, möglichst objective Erforschung der christlichen Religion, die die historischen Schwierigkeiten nicht verdeckt, sondern aufdeckt, die das Wesen des Christenthums auch nach der speculativen Seite unbefangen im Zusammenhang mit dem Wesen der Religion erforscht, kann allein das Vertrauen erwecken, dass die Theologie nicht von Interessen geleitet wird, die der rücksichtslosen Erforschung der Wahrheit fem liegen; nur so kann wirklich klar werden, dass das Christenthum vor dem Licht der Wissenschaft sich nicht scheut.

Je

mehr dagegen die Theologie auf vorgeschriebenem Wege gehen soll, je mehr sie von den Hauptansichten einer Confessionskirche abhängig gemacht wird, um so mehr wird das Vertrauen zu ihrer wissenschaftlichen Unbefangenheit schwinden. Da es mir darum zu thun ist, den streng wissenschaftlichen Charakter der Theologie zur Anschauung zu bringen, so verzichte ich darauf, mehr als den Begriff der Theologie, ihre Aufgabe und die mit dieser gegebenen Theilaufgaben darzustellen. Ich halte es auch nicht angebracht, die Encyklopädie zu einer Sammelstätte von Citaten der verschiedensten Werke aus den verschiedenen Gebieten der Theologie zu machen. gehören in die Einzeldisciplinen.

Diese Citate

Was ich von Büchercitaten

beigefügt habe, ist daher sehr wenig; es werden nur hervorragendere Bearbeitungen der Disciplinen in der Gegenwart erwähnt, um damit den Anfanger in den Stand zu setzen, sich über den gegenwärtigen Stand der Forschung zu orientiren.

V

Vorwort.

Gerade in der Gegenwart, welche an einem starken Prakticismus leidet und den Werth selbstständigen Erkennens missachtet, dagegen

überall die Bedeutung einer Erkenntniss

nach

ihrem praktischen Nutzen zu bemessen geneigt ist, scheint es mir doppelt nothwendig, darauf hinzuweisen, dass auch das theologische Erkennen eigenen Werth hat und dass die Wissenschaft nicht nach einem ihr fremden Maassstab irgendwelcher Nützlichkeit gemessen werden darf. gar

nur einer

Partialkirche

Nicht nur um der Kirche oder

willen, sondern

um ihrer

willen hat die theologische Forschung ihren Werth.

selbst

Die Freiheit

der Wissenschaft ist in ihrer Gesetzmässigkeit garantirt und nur, wenn sie als freigeborene dem eigenen Gesetze folgt, kann sie selbst gedeihen und das praktische Leben fördern. K ö n i g s b e r g , im December 1900. Der Verfasser.

Inhaltsverzeichniss. Seite §

1.

Die A u f g a b e der Encyklopädie

1

T h e i l I . Der Begriff der Theologie, ihre Stellung in der Gesammtwissenschaft u n d die a u s ihrem Begriff sich erg e b e n d e n Theildisciplinen § § § §

2. 3. 4. 5.

V e r s c h i e d e n e Begriffsbestimmungen der Theologie . . . P o s i t i v e B e s t i m m u n g des Begriffs der Theologie . . . . E i n t h e i l u n g der Theologie Das Yerhältniss der Theologie zu den ü b r i g e n W i s s e n schaften

T h e i l I I . Die einzelnen Disciplinen d e r Theologie . . . . I. Die s t r e n g wissenschaftliche Theologie

A. Die historische Theologie §

6.

§

7. 8.

§

9.

-24— 32 33—131 33—122

33— 4 3 43— 62 62— 8 0

Die T h e i l e der exegetischen Theologie. (Neutestamentliche Zeitgeschichte, Exegese, kritische Literaturgeschichte d e r n e u t e s t a m e n t l i c b e n Schriften, Geschichte J e s u , Geschichte d e s apostolischen Zeitalters nach Seiten des religiössittlichen L e b e n s u n d der Lehre, n e u t e s t a m e n t l i c h e Theologie.) Die Methode der exegetischen Theologie. Hermeneutik u n d Kritik 2. D i e h i s t o r i s c h e T h e o l o g i e v o n d e r

3— 15 15— 2 0 20— 2 3

33-102

Der U m f a n g der historischen Theologie u n d i h r e Vorauss e t z u n g e n i n der allgemeinen Religionsgeschichte . . . Die Methode der historischen Theologie 1. D i e e x e g e t i s c h e T h e o l o g i e

§

3— 3 2

62— 6i> 69— 8 0

Urzeit

des C h r i s t e n t h u m s bis auf die G e g e n w a r t .

80— 87

Inhaltsverzeichniss.

Vit Seite

§ 10.

§11.

§ 12.

Die d i e s e n Abschnitt betreffenden Disciplinen. (Geschichte des christlichen L e b e n s u n d Geschichte des christlichen B e w u s s t s e i n s , wovon Kirchen- u n d Dogmengeschichte n u r T h e i l e s i n d . Die Geschichte des christlichen B e w u s s t s e i n s k a n n noch in Geschichte d e r D a r s t e l l u n g des G l a u b e n s i n h a l t e s u n d der Ethik zerfallen.)

80— 87

3. D i e h i s t o r i s c h e T h e o l o g i e a l s S c h i l d e r u n g der Gegenwart

87—102

Die d i e s e n Abschnitt betreffenden Disciplinen (christliche C o n f e s s i o n s k u n d e , zerfällt in Darstellung des christlichen B e w u s s t s e i n s , Symbolik, Dogmatik u n d des christlichen L e b e n s , Statistik) U e b e r g a u g zu der speculativen Theologie

87— 98 99—102

B. Die specnlative Theologie

102—122

§ 13.

Die A u f g a b e der speculativen Theologie: Speculative Centraiwissenschaft. L e h r e v o m W e s e n d e s C h r i s t e n thums 102—107

§ 14.

Das W e s e n des Christenthums im Verhältniss zu a n d e r e n Religionen und Weltanschauungen: A p o l o g e t i k . . . 107—113 Das W e s e n des Christenthums im Verhältniss zu dem sittlichen H a n d e l n , insbesondere zu dem weltlich-sittlichen 113—118 Bandeln, c h r i s t l i c h e E t h i k Das Verhältniss der historischen u n d speculativen Theologie 1 1 8 — 1 2 2

§ 15.

§ 16.

II. Die praktische Theologie als technische Disciplin . . § 17.

122—131

A u f g a b e und Theile der praktischen Theologie. (Darstellende T h ä t i g k e i t : Theorie des Cultus (Homiletik und L i t u r g i k ) ; a u s breitende T h ä t i g k e i t :

kirchliche

Pädagogik

(Katechetik),

M i s s i o n s k u n d e ; reinigende T h ä t i g k e i t : Theorie der Kirchenzucht, K i r c h e n v e r b e s s e r u n g ; steigernde T h ä t i g k e i t : Steiger u n g des kirchlichen Lebens durch Seelsorge, innere Mission, L i e b e s t h ä t i g k e i t , S t e i g e r u n g der religiösen Intelligenz durch W i s s e n s c h a f t , L e h r i n s t i t u t e , populäre literarische keit; endlich Kirchenrecht.)

Theorie

der

kirchlichen

Thätig-

Organisation: 122—131

A n h a n g . Einige B e m e r k u n g e n ü b e r das theologische S t u d i u m . §18

131-142

Zusätze und Verbesserungen. .

4 Z. 7 v. u. streiche:

„thut"

Z. 6 v. u. streiche: „wieder". 23 Z. 15 v . u . s t a t t „modificirten" lies: „ c o n f e s s i o n e l l e n " . 26 Z. 2 v . o . s t a t t „ g r o s s e n " lies: „ g r o s s e " . 36 Z. 3 u. 4 v . o . statt „das christliche P r i n c i p in „die

seinem d u r c h " lies:

durch".

Z. 5 v . o . setze nach „ F o r m e n " h i n z u : „des christlichen P r i n c i p s " . Z. 8 f ü g e nach E n t w i c k e l u n g h i n z u : „dieses P r i n c i p s " zu sehen. 39 A n m . I Z. 4 v. u. setze nach Stade h i n z u : G u t h e , Winokler, Maybohm. Die

Entwickelung

des

israelitischen

Die E n t w i c k e l u n g des altisraelitischen

Prophetenthums. Priesterthums.

Z. 2 v. u . setze nach II. Schultz alttest. Theologie h i n z u : 4. A. Zu Anm. 2 setze h i n z u : Z e i t s c h r i f t e n : Revue de l'histoire des religions p a r Reville.

Revue des religions par Peisson (katholisch).

Vgl.

die L i t e r a t u r a n g a b o n im theol. J a h r e s b e r i c h t : Religionsgeschichte (von F u r i e r ) . 4 1 Z. 6 v. o. s t a t t „aus" lies:

„in".

Z. 13 v. o. setze hinzu nach „ o b " : „an dem christlichen P r i n c i p

ge-

messen". 42 Anm. Z. 4 v. o. statt Ulhorn lies: U h l h o r n . 7 0 Z. 7 v. o. setze

zu S y n t a x

hinzu:

Anm. 2.

Neutestamentl.

matik von B u t t m a n n , W i n e r (Schmiedel), von Bruder.

Blass.

Gram-

Concordanz

Lexikon Graecolatinum von Grimm, 5 A.

Cremer,

Biblisch-theologisches Wörterbuch der neutest. Gräcität, 8. A. Z. 18 v. o. setze zu Gleichnissen h i n z u : Anm. 3.

Jülicher, Gleichniss-

reden J e s u , 1. Thl. 1888, 2. Tbl. 1899. 82 A n m . 1 Z. 3 v. u. s t a t t Nippold, H a n d b . d. neuesten Ivirchengescbichte, 4. A., l i e s : 3. A. 84 Anm. 1 Z. 1 v. u.

Zu F . Nitzsch setze h i n z u : (leider nicht vollendet).

92 Z. 1 v . u . s t a t t „oder" l i e s : „ u n d " . 108 Anm. 1 Z. 8 v . u . s t a t t Pressene lies:

Pressense

und

setze

hinzu:

deutsch von Fabarius, 2. A. 118 Z. 1 v . o . statt

„stark" lies:

„stärker als

die A n k n ü p f u n g an

die-

selbe". 126 Z. 20 v . o . setze nach

„und"

hinzu:

„im

confessionellen

(vgl. o. S. 94. 96)". 136 Z. 12 v. o statt „ d e n s e l b e n " l i e s :

„dieselben".

Interesse

Kurzer Abriss der Encyklopädie der Theologie. § 1. Die Aufgabe der Encyklopädie. Die Encyklopädie soll nicht bloss eine Uebersicht über die verschiedenen theologischen Disciplinen geben und gewissermassen einen Extrakt der Theologie darstellen, wie das u. A. Räbiger 1 ) in seiner Encyklopädie gemacht hat. Gerade dann wird sie nicht einen streng wissenschaftlichen Charakter tragen können, weil sie im Grunde keine besondere Aufgabe hat, sondern das Wesentliche der gesammten Theologie schon enthält. Ihre Aufgabe wird vielmehr die sein, den Begriff der Theologie zu fixiren und aus diesem Begriff der Theologie die einzelnen Disciplinen derselben so abzuleiten, dass sie eine fest in sich abgegrenzte Aufgabe haben und zusammen ein in sich geschlossenes Ganze darstellen. Aber mehr wird sie nicht zu thun haben, als die Aufgaben der verschiedenen Disciplinen der Theologie zu fixiren und die Methoden zu beschreiben, wie diese Aufgaben zu lösen seien. Denn wenn die Aufgabe gestellt wird, muss auch die Methode ihrer Lösung beschrieben Averden. Der Inhalt der einzelnen Disciplinen selbst, d. h. die concrete Behandlung der ' ) „Sie ist die mit ihrem wesentlichen I n h a l t entwickelte u n d systematisch gegliederte Theologie selbst, sozusagen ein C o m p e n d i u m der Theologie, eine Theologie in n u c e " , § 10 S. 99. Aehnlich auch Rosenkranz, E n c y k l o p ä d i e der theol. W i s s e n s c h a f t e n . 1831, 1845. D o r n e r , Encyklop. d. Theo!. 1

2

§ 1. Die Aufgabe der Encyklop&die.

Aufgaben, die ihnen zukommen, gehört dagegen nicht mehr in die Encyklopädie. Man hat der Encyklopädie vielfach auch die Aufgabe gestellt, eine Anweisung zum Studium zu geben. Indess kann diese technische Aufgabe nicht der wissenschaftlichen Encyklopädie zugeschrieben werden. Für den Verständigen ergiebt sich von selbst, wie das Studium einzurichten ist, wenn er den Begriff der Theologie und die Eintheilung ihrer Disciplinen erfasst hat. Man hat darum auch nicht mit Unrecht gesagt, dass man die Encyklopädie an den Anfang des Studiums stellen mSsse. Andererseite wird es vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ebenso berechtigt sein, die Encyklopädie an den Schluss des Studiums zu stellen, insofern man erst einen vollen Begriff von dem reichen Inhalt der Theologie gewinnt, wenn man sie in ihren einzelnen Fächern kennen gelernt hat. Die wesentliche Aufgabe der Encyklopädie bleibt es also, den Begriff der Theologie festzustellen und aus diesem Begriff der Theologie die verschiedenen Disciplinen und ihre Methoden in genauer Abgrenzung zu fixiren. Demgemäss ergeben sich zwei Theile. Der erste Theil wird das Wesen, die Aufgabe der Theologie, ihre Stellung in der Gesammtheit der Wissenschaften zu behandeln haben. Denn wenn sie überhaupt eine Wissenschaft sein soll, so kann ihre spezielle Aufgabe nur im Verhältniss zu der gesammten Wissenschaft festgestellt werden. Sodann werden sich aus der Aufgabe der Theologie ihre Theile im Einzelnen ergeben. Der zweite Theil wird diese verschiedenen Einzeldisciplinen der Theologie zu behandeln und ihre Methoden zu erörtern haben.

§ 2.

3

Der Begriff der Theologie.

Theil I. Der Begriff der Theologie, ihre Stellung in der Gesammtwissenschaft und die aus ihrem Begriff sich ergebenden Theil disciplinen. § 2. Der Begriff der Theologie. Der Begriff der Theologie wird verschieden gefasst, je nachdem man sie mehr als eine bloss technischpraktische Disciplin oder als eine wirkliche Wissenschaft betrachtet. Schleiermacher hat die Aufgabe der Theologie als die einer technischen Disciplin, die einem praktischen Zwecke, der Kirchenleitung, dienen soll, bestimmt. Er war der Meinung, dass der gesammte Inhalt der Theologie in anderen Disciplinen untergebracht werden kann, und dass sie nur in ihren verschiedenen Zweigen als ein Ganzes sich zusammenhalten läs.st, wenn man ihre praktische Abzweckung im Sinne hat. Diese Beziehung der Theologie auf die Kirche ist seit Schleiermacher in gesteigertem Masse betont worden. Allein wenn die Theologie nur mit der Ansammlung des zur Kirchenleitung nöthigen Wissensstoffes es zu thun haben soll, dann kann man sie als Wissenschaft nicht gelten lassen. Sie würde dann nur eine technische Disciplin sein, die bei den einmal vorhandenen Kirchenspaltungen noch dazu im Grunde es mit Einer Partial-Kirche und deren Interessen zu thun hätte. Schleiermacher hatte allerdings noch die Voraussetzung gemacht, dass die Kirche wirklich objective Wissenschaft brauche, und hatte sogar von einer philosophischen Theologie gesprochen. Ihm lag der Gedanke fern, dass im Interesse kirchlicher Praxis die Erkenntniss mit gebundener Marschroute sich bewegen müsse. Aber wenn der Zweck der Theologie nur ist, Mittel für die Kirchen, leitung zu sein, so wird sich das schwerlich ganz ablehnen lassen, 1*

4

§ 2.

Der Begriff der Theologie.

dass die Aussagen selbst historischer Art durch das dogmatische Interesse der Confession gebunden sein müssen. Dass aber die Theologie nicht das Vertrauen erwecken kann, wissenschaftliche Unbefangenheit zu bewahren, wenn sie den confessionellen Standpunkt der gegebenen Kirche als den einzig richtigen festhalten soll, versteht sich von selbst Könnte man sich damit begnügen, wie Schleiermacher wollte, nur die Art und Weise der gegebenen Confession mit ihren individuellen Modificationen als thatsächliche Grösse und gegebenes Erfahrungsobject zu beschreiben, so würde darin noch ein wissenschaftliches Erkennen von psychologischen und Gemeinschaftsthatsachen gegeben sein; aber die Frage, ob dieser Inhalt wahr sei oder nicht, lässt sich doch nicht umgehen, wie auch Schleiermacher selbst die christliche Religion gelegentlich als die vollkommenste bezeichnete. Dazu kommt, dass wenn man nur das für die Kirchenleitung nöthige Wissen zusammenstellt, schliesslich nicht die Theologie, sondern die Kirchenleitung, eventuell die Kirche in ihrer Vertretung allein darüber entscheiden kann, was für diesen Zweck als Mittel nothwendig ist. Die Theologie fiele so gänzlich aus dem Rahmen der Wissenschaft im strengen Sinne heraus. In der That ist ja auch in der neueren und neuesten Zeit genugsam die Kirchlichkeit der Theologie gefordert worden. Sie ist an bestimmte Normen gebunden, die sie eo ipso anzuerkennen hat, und hat durchaus confessionellen Charakter. Wenn das der Fall ist, so hat man es jedenfalls nicht mehr mit einer Wissenschaft zu thun, sondern mit der Ueberlieferung der kirchlichen Lehre und Praxis, die als solche aeeeptirt, aber nicht geprüft wird. Wenn man aber, wie Schleiermacher doch wieder thut, schliesslich so weit geht, die Kirche selbst wieder abzuleiten und zwar aus dem in der philosophischen Ethik zu gewinnenden Begriffe der Religion, so ist damit doch über den Standpunkt hinausgegangen, der die Theologie in den Dienst der Kirche stellt. Denn hier wird die Kirche selbst und die Religion in ihrem Wesen objectiv untersucht. Wenn das zu dem für die Kirchen-

§ 2.

Der Begriff der Theologie.

5

leitung nothwendigen Wissen gehört, so ist die Kirche selbst in ihrer Beschaffenheit und der Art, wie sie gestaltet wird, von dem Wissen abhängig, das auch von der Kirchenleitung abgesehen in der Religionsphilosophie hervorgebracht wird und nach dem sich am Ende die Kirchenleitung richten müsste. Kurz, soll die Theologie einem praktischen Zwecke dienen, so ist die Frage, wer hat dann zu bestimmen, was zur Theologie gehört, die Theologie selbst oder die Kirche, der sie dient? Im ersten Falle würde die Theologie autonom und würde zwar a u c h der Praxis dienen, ihr Inhalt wäre aber im Wesentlichen wissenschaftlich; im letzten Falle wäre sie von der Kirche abhängig. Schleiermacher hat bald das Erste angenommen, bald hat er doch wieder das Letzte gewollt, wenn z. B. die Glaubenslehre die in der gegenwärtigen Partialkirche „ g e l t e n d e " Lehre darstellen soll. Kein Wunder, dass die, welche mit Schleiermacher den technischen Charakter der Theologie als kirchlicher Wissenschaft hervorheben, eben diesen kirchlichen Charakter mit aller Strenge betonten, damit aber freilich den wissenschaftlichen Charakter der Theologie gänzlich dem praktisch kirchlichen Interesse unterordneten, d. h. beseitigten. Im Gegensatz zu Schleiermacher haben Andere, z.B. Holsten 1 ) und Raebiger, den wissenschaftlichen Charakter der Theologie umsomehr herausgekehrt. Nach Holsten hat die Theologie sich philosophisch kritisch und historisch mit der Religion und speziell mit der christlichen Religion zu befassen, ohne dabei irgendwie Seitenblicke auf die Praxis zu werfen. Dass die Erforschung der Religion eine Aufgabe der Wissenschaft ist, wird wohl Niemand bestreiten, und wenn diese Forschung völlig frei ist, so wird auch nicht irgend ein kirchliches Interesse die Unbefangenheit der Erkenntniss aufheben. Freilich ist hier auf die Kirche oder die Confession in keiner Weise Rücksicht genommen, und man kann fragen, wodurch sich denn die so gefasste >) Ist Theologie Wissenschaft?

6

§ 2.

Der Begriff der Theologie.

Theologie noch von der Religionsphilosophie and Religionsgeschichte unterscheide. Andere haben deshalb die theoretische Bedeutung und die praktische Abzweckung der Theologie zu verbinden gesucht, bald mehr unter Anerkennung der Selbstständigkeit der Theologie als Wissenschaft, bald mehr unter stärkerer Betonung der praktischen Abzweckung. Spekulative Theologen stellen der Theologie die Aufgabe der Erkenntniss der Wahrheit des christlichen Inhalts in protestantischer Form und wollen damit den Dienst der Kirche seitens der Theologie verbinden. Die Folge davon ist aber in der Regel eine Connivenz gegen den kirchlichen Standpunkt, dessen Glaubensinhalt als wahr erwiesen wird, also eine Minderung des wissenschaftlichen Charakters auf der einen Seite und ein Umdeuten des kirchlich Fixirten im Interesse einer freieren Erkenntniss auf der anderen Seite, sodass weder die Wissenschaft noch die Kirche zu ihrem vollen Rechte kommt. Man kann nicht beides so verbinden, dass man eine kirchliche Wissenschaft herausbringt. Denn die Wissenschaft fordert rücksichtsloses Geltendmachen der Erkenntniss als Selbstzwecks. Wo das nicht geschehen darf, da ist die Wissenschaft gelähmt. Sie muss sich nach ihren eigenen Gesetzen richten. Andere haben nun aber zu zeigen gesucht, dass es ein theoretisches Erkennen der religiösen Wahrheit überhaupt nicht gebe und dass das Bedürfniss, das Wissen zu einer Weltanschauung auszudehnen, niemals durch die Philosophie, sondern nur durch die Religion, welche alles unter den letzten Zweck des Reiches Gottes stelle, befriedigt werden könne1)- Die Theologie also würde danach erst den Abschluss des Wissens geben, aber eines praktisch gerichteten Wissens, das auch in dem Dienst der Praxis steht und in sie ausmündet. Dieser Standpunkt wäre haltbar, wenn es wirklich kein philosophisches Wissen gäbe, das sich zu einer Weltanschauung erweitert. Da es aber ein ') So im Wesentlichen die Ritscbl'sche Schule.

§ 2.

Der Begriff der Theologie.

7

solches giebt, so kann man der Theologie auch nicht diese Aufgabe stellen, als brächte sie allein eine Weltanschauung zu Stande. Im Gegentheil wird ihr Versuch einer Weltanschauung, wenn er zugleich in den Dienst der Kirche gestellt werden soll, auch wieder der Unbefangenheit entbehren, welche die Wissenschaft fordern muss; es kehren dann dieselben Schwierigkeiten zurück, wie vorhin. Diese Wissenschaft der Theologie wird im Dienst der kirchlichen Praxis z. B. eine Offenbarung behaupten und die Kirche im Besitz derselben annehmen, andererseits aber doch wieder, sofern sie wissenschaftlich sein will, sich mit der Kritik mehr oder weniger befreunden müssen, dadurch aber die kirchlichen Tendenzen und den Oifenbarungsstandpunkt abschwächen. Um nun reine Bahn zu machen, sind Andere darauf gekommen, der Theologie freie wissenschaftliche Bewegung zu lassen, indem ihre Aufgabe die historischkritische und speculativkritische Erforschung des Chrislenthums sei. Sie haben aber gemeint, neben dieser Theologie müsse die Kirche in voller Selbstständigkeit hergehen, und es müsse ihr frei stehen, von den Resultaten dieser Wissenschaft Gebrauch zu machen oder nicht. Da würden zwei Standpunkte neben einander hergehen, der wissenschaftliche und der kirchliche 1 ). Mit Recht haben Andere darauf hingewiesen, dass dann doch die Kirche nicht ganz einer technischen Disciplin entbehren könne, die in ihren praktischen Diensten stehe, und haben demgemäsa eine doppelte Theologie, eine wissenschaftliche, von der in letzter Instanz doch alle Entscheidungen für den Entwickelungsgang des menschlichen Bewusstseins abhängen würden, und eine kirchliche sozusagen für den kirchlichen Hausbrauch 1 ). In diesem Standpunkt spricht sich nun aber geradezu ein Dualismus aus, eine An') So besonders Duhm vom historischen Standpunkt aus „Ueber Ziel und Methode der theologischen Wissenschaft* 1889. *) Dieser Dualismus ist neuerdings vielfach aufgetreten, z. B. bei Bernoulli, „Die wissenschaftliche und kirchliche Methode in der Theologie",

8

§ 2.

Dar Begriff der Theologie.

nähme der doppelten Wahrheit, da die kirchliche Theologie im praktischen Dienst steht und keine wissenschaftliche Freiheit hat, ihre Aussagen aber für die Partialkirche gelten sollen, während die wissenschaftliche Theologie den Standpunkt der kirchlichen kritisirt und theilweise desavouirt. Fragt man nach dem Grunde dieser Erscheinung, so liegt er theils in dem übermässigen Respect vor der Gegebenheit der kirchlichen Tradition, als wäre die Kirche unfehlbar; sonst würde man nicht ihr eine besondere praktisch orientirte Theologie zugestehen, sondern würde verlangen, dass die Kirche das wissenschaftlich unhaltbar Gewordene aufgebe und sich auch praktisch die ßathschläge der Wissenschaft zu Nutze zu machen suche. Theils zeigt sich dabei eine praktische Richtung, welche sich die Ziele nicht durch die wissenschaftliche Intelligenz vorschreiben lassen will. Dieses Betonen des praktischen Factors kennzeichnet durchweg unsere Zeit; und es ist nur natürlich, dass auch in dem religiösen Gebiet dieser praktischkirchliche Factor energisch hervorgehoben wird. Das Fatale ist nur, dass er dem theoretischen, wissenschaftlichen Factor entgegengesetzt wird, als ob nicht auch die Religion an sich zugleich ein theoretisches Interesse hätte. Dass man dieses ableugnet, ist mit ein Grund für den Dualismus zwischen der wissenschaftlichen Form der Theologie, welche objectiv die christliche Religion und ihre verschiedenen kirchlichen Erscheinungsformen betrachtet, und ihrer praktisch kirchlichen Form, welche Eine dieser kirchlichen Formen als Autorität anerkennen soll. Bei einiger Consequenz kann man nur entweder der Theologie den wissenschaftlichen Charakter absprechen und dann sie ganz in den Dienst der kirchlichen Praxis stellen, oder man hält ihren wissenschaftlichen Charakter aufrecht, kann dann aber nicht verlangen, dass sie der Praxis gegenüber connivent sei. Vielmehr wird sie dann mit dem Anspruch auftreten,

1897. Auch Troeltsch, Preussische Jahrbücher 1897 S. 416, „Cbristenthum und Religionsgeschichte'', hat sich in diesem Sinne ausgesprochen.

§ 2.

Der Begriff der Theologie.

9

dass man die aus ihrer Erkenntniss hervorgehenden Rathschläge in der Praxis berücksichtige. Das ist eben das schwierige Problem für die Bestimmung der Theologie, dass nicht nur die Praxis und Theorie zugleich befriedigt werden soll, was sich bei aller ächten Wissenschaft gerade dann am meisten bewährt, je mehr man die Erkenntniss als Selbstzweck behandelt hat, woraus denn auch für das praktische Leben fruchtbare Resultate sich ergeben, sondern dass die Theorie mit der bestimmten k i r c h l i c h e n Praxis und den praktischen Interessen einer b e s t i m m t e n Partial-Kirche harmoniren soll, die im Wesentlichen sich als eine fertige Grösse ansieht und deshalb aller „Neologie" der Wissenschaft sich widersetzt, während doch die Wissenschaft nichts ungeprüft passiren lassen kann. Die Schwierigkeit wird auch nicht dadurch gehoben, dass man der Theologie wesentlich nur historische und keine s e l b s t s t ä n d i g e n speculativsystematischen Aufgaben zuschreibt. Denn auch in der Geschichtsforschung, insbesondere der Urzeit wird das kritische Element nicht fehlen können, und wenn man die Forderung stellt, dass die mit den Mitteln historischer Kritik festgestellte Richtung der Urzeit für die folgenden Zeiten massgebend sein solle und so die Theologie in den Dienst der Praxis stellt, indem sie die praktisch gültige Norm der Urzeit mit kritischen Mitteln feststellen solle, so fragt sich wieder, warum die Theologie solche Autorität der Urzeit beimessen solle 1 ). Man könnte für diese Bestimmung der Aufgabe der Theologie das protestantische kirchlichreligiöse Interesse geltend machen. Dann soll, weil der Protestantismus sich an die Urzeit halten will, die Theologie wesentlich die Urzeit mit wissenschaftlichen Mitteln feststellen. So ist die Theologie doch durch die protestantische Voraussetzung von der absoluten Gültigkeit der Urzeit willkürlich in ihrem Forschen beschränkt, weil sie die Dieser S t a n d p u n k t ist der H a u p t s a c h e n a c h in Heinrici's klopädie vertreten. Vgl. S. 13 f.

Ency-

10

§ 2.

Der Begriff der Theologie.

Voraussetzung ohne weitere Prüfung zu machen hätte, im Urchristenthum die reine vollkommene Form des Christenthums zu besitzen, ganz abgesehen davon, dass es doch nur eine Utopie ist, wenn man nach den wissenschaftlich festgestellten Zuständen der Urzeit in der Gegenwart sich zu richten glaubt. Auch würde, wo die Urzeit als vollkommen angenommen wird, schwerlich eine unbefangene Prüfung derselben seitens der Theologie möglich sein; es würden Resultate der Forschung unliebsam sein, die die Benutzung der Urzeit für die Gegenwart erschwerten, wenn z. B. diese Urzeit selbst eine Entwickelung darstellt. Sollte aber die Behauptung, dass die christliche Urzeit eine so hervorragende Stellung einnehme, begründet werden, so führt das von selbst wieder über das reine historische Gebiet hinaus. Diese Annahme von der Vortrefflichkeit der Urzeit ist eine positive, die w i s s e n s c h a f t l i c h erst begründet werden müsste und entweder auf die eigene Erfahrung oder auf die Kirche begründet werden könnte. Beruft man sich aber auf die eigene Erfahrung, so ist die Urzeit für sich nicht massgebend, sondern das, was auch in ihr der eigenen Erfahrung zusagt, und man ist von der historischen zur psychologischen Begründung der Theologie übergegangen. Wenn man aber die Ansicht von der Vortrefflichkeit der Urzeit auf das Urtheil der Kirche begründet und dann doch wieder die rein historischkritische Forschung zur Eruirung des Urchristenthums anwendet, so kommt man an mehr als einer Stelle mit der kirchlichen Tradition in Conflict, und es ist nicht gerade wahrscheinlich, dass eine Kirche sich herbeilassen sollte, ihre Position den historischen Forschungsresultaten gemäss zu ändern, die der Theologie ihre Aufgabe zu stellen sich berechtigt hält, indem s i e die Aufgabe stellt, die Urzeit zu erforschen. Auch ist nicht zu sehen, w a r u m die Kirche in dem einen Punkte, der Verehrung der Urzeit und nicht auch im Uebrigen vertrauenswürdig sein sollte, ja warum die Urzeit der Kirche allein normativ sein soll.

§ 2.

11

Der Begriff der Theologie.

Der Dualismus zwischen der theoretischen Wissenschaft und dem praktischkirchlichen Interesse kann auch auf h i s t o r i s c h e m Wege n u r gehoben w e r d e n , w e n n e n t w e d e r d i e K i r c h e wissenschaftliche giebt,

sich

also

Geschichtsforschung von

historisch

wie

die

gänzlich

frei-

dogmatisch

vor-

g e f a s s t e n A n s i c h t e n , auch von dem G l a u b e n an die unb e d i n g t e n o r m a t i v e G ü l t i g k e i t d e r U r z e i t f r e i zu

halten

b e m ü h t ist, oder w e n n die W i s s e n s c h a f t auf m e h r weniger gebundener Marschroute

forschen soll,

s i e a u f h ö r e n w ü r d e , W i s s e n s c h a f t zu s e i n .

Dass dieser

Dualismus lange Zeit und für Viele u n b e m e r k t bleibt, seinen Grund darin, dass m a n

oder womit

eo ipso voraussetzt,

das hat dass die

wissenschaftliche Forschung die kirchlichen Positionen acceptiren und mit ihnen zusammenstimmen könne, dass Schrift, Kirchenlehre und Wissenschaft

eo ipso übereinstimmen.

Sobald

aber

das Bewusstsein davon erwacht, dass eine unbefangene Forschung mindestens mit der Möglichkeit rechnen muss, dass Vieles, was die Kirche als historisch oder schriftgemäss a n n i m m t , fraglich wird, u n d dass auch nicht Alles, was schriftgemäss ist, absolute Geltung behaupten k a n n ,

so ist die Differenz vorhanden.

In

dieser Lage befindet sich gegenwärtig ganz besonders die protestantische Theologie. im Wesentlichen mit der

Schrift

Denn

einerseits

soll sie als kirchliche

der protestantischen Tradition

ü b e r e i n s t i m m e n , soll

den Inhalt

und

derselben

mit aner-

kennen, andererseits soll sie als Wissenschaft historisch-kritisch verfahren und die F u n d a m e n t e der protestantischen Form des Christenthums so eingehend u n t e r s u c h e n ,

dass

Punkten mindestens die M ö g l i c h k e i t

daraus sich an vielen von der Tradition

und

von der Schrift abweichender Resultate ergiebt, die die Kirche nicht

glaubt

anerkennen

zu

können.

Die Theologie steht in

dieser Beziehung, wenn m a n sie zugleich als kirchliche gelten lassen will,

zwischen

zwei Feuern und hat eine total andere

Stellung als jede andere Wissenschaft.

Man könnte die Juris-

prudenz als Parallele zuziehen wollen,

die ebenso durch

den

12

§ 2.

S t a a t in

Der Begriff der Theologie.

ihrer Forschung eingeschränkt sei, wie die Theologie

durch die Kirche.

Allein

der Vergleich

trifft

doch nicht zu,

denn die Jurisprudenz wird sich nicht darauf festnageln lassen, dass notwendigerweise

und Gesetzgebung

des

gegebenen Staates als die beste anerkannt werden müsse.

die Verfassung

Sie

setzt einerseits das thatsächliche Recht

fest und sucht es mit

wissenschaftlichen Hilfsmitteln zu interpretiren.

Sie behält sich

andererseits aber die Kritik an dem geltenden Recht vor und untersucht in der Rechtsphilosophie unbefangen die Grundlagen des Rechts,

ohne von

dem in

Recht sich irgendwie in

dem eigenen Staate

ihren Forschungen

geltenden

bestimmen

lassen

zu müssen, wie die Theologie durch das in der eigenen Kirche Geltende bestimmt werden

soll.

Kurz — sobald die naive un-

mittelbare Harmonie von kirchlicher Lehre wissenschaftlicher Betrachtung Lösung

der Schwierigkeit

und Sitte und von

geschwunden ist, so

nicht

mehr

kann eine

in der Weise gefunden

werden, dass man die Wissenschaft nach der Kirche orientirt, auch nicht nach der k i r c h l i c h e n Voraussetzung von der absoluten Vortrefflichkeit des Urchristenthums.

Das liegt übrigens

in der Natur der S a c h e , dass sobald die Wissenschaft sich auf sich

selbst

besinnt

und

ihre

Selbstständigkeit

in

Anspruch

nimmt, sie in keiner Weise mehr zugeben k a n n , nach Voraus* setzungen gemessen oder dirigirt sie nicht prüfen

kann.

zu werden, deren Richtigkeit

Die Kirche

andererseits

befindet sich

noch in dem Entwickelungsstadium, dass sie für ihre Angehörigen bestimmte historisch bedingte Lehren als auctoritätsmässig anzunehmende voraussetzt.

So lange das der Fall ist und die

Einsicht noch nicht allgemein geworden i s t , dass die Religion ihrem innersten Wesen nach

auf eigene Erfahrung

und eigene

Erkenntniss ausgeht, dass alle historischen Voraussetzungen nur Mittel zur Erreichung eigener Erfahrung und Erkenntniss sind, dass sie selbst ein Interesse an der Erkenntniss hat, dass man das Göttliche

auch in der Intelligenz,

der Phantasie oder im Willen oder gar

nicht bloss im Gefühl, nur in der Geschichte

§ 2.

13

Der Begriff der Theologie.

haben kann und soll und dass eine solche wirkliche Erkenntniss des

Göttlichen

nicht

eine historische

Erkenntniss,

nicht

ein

kirchlich fixirtes Lehrgesetz sein kann, sondern eine freie sein muss, deren i n n e r e Wahrheit und Nothwendigkeit sich zeigen lässt, solange wird der Zwiespalt zwischen der strengen Wissenschaft und der Kirche sich nicht lösen lassen 1 ). A n m e r k u n g . Die praktische F o l g e dieses Zwiespalts zeigt sich in den wissenschaftlichen Anstalten. Diese müssen für sich darauf halten, dass die Wissenschaft frei nach ihren eigenen Gesetzen forschen kann, und können nur solche Glieder brauchen, die dies anerkennen. Die theologischen Fakultäten als Glieder der Universität entsprechen schon durch ihren confessionellen Charakter nicht dieser Anforderung. Wenn sie aber vollends in den Dienst der Kirche gestellt und zu ancillae ecclesiae werden sollen, gehören sie absolut nicht in die Universität, falls man nicht die Universität selbst nur zu einer Anstalt degradirt, die für bestimmte praktische Zwecke die Hörer mit den für diese Zwecke nöthigen Kenntnissen auszurüsten hat, sondern ihr die A u f g a b e zuschreibt, die Wissenschaft primo loco um ihrer selbst willen zu pflegen. Als technische Disciplin, die einem bestimmten vorgeschriebenen praktischen Zwecke, dessen Berechtigung nicht untersucht werden darf, dienen soll, als confessionelle Disciplin kann die Theologie streng genommen nur in kirchlichen Seminarien behandelt werden. Soll sie Glied der W i s s e n s c h a f t sein, so muss ihr auch eine streng wissenschaftliche A u f g a b e gestellt werden, der sie rein nur im Interesse der Wahrheit der Forschung dienen kann. Der gegenwärtige Streit, der beständig zwischen einer kirchlich „ c o n s e r v a t i v e n " oder halbconservativen und einer „liberalen" Richtung in der WTeise ausgefochten wird, dass man, um Die

Meinung,

dass

das

Christenthum

eine

positive

historische

Religion sei, musste dahin führen, d a s s man die Theologie als eine positive Wissenschaft

ansah,

die

nicht

bloss

den historischen Thatbestand

fest-

stellen, sondern den historischen Glauben, d. h. den Glauben an den Heilswerth von Thatsachen wissenschaftlich erweisen sollte. Werthung

kann

Sie kann höchstens feststellen, sache

oder Person

Allein mit

es die historische Wissenschaft nicht

dass eine bestimmte Religion eine That-

als H e i l s b e d i n g u n g

werthe.

Die

Richtigkeit

Werthung ist nicht mehr Gegenstand historischer Untersuchung. es sich um ideale M a a s s s t ä b e , n a c h d e n e n richtig sind,

zu untersuchen,

dieser

zu thun haben.

gewerthet wird.

dieser

Da handelt Ob diese

ist Sache der Wissenschaft, welche es mit

dem I d e a l der Religion zu thun hat.

Hingegen ist die blosse B e h a u p t u n g

von Werthen nicht Sache der Wissenschaft.

14

.§ 2.

Der Begriff der Theologie.

dem kirchlichen Interesse gerecht zu werden, conservativa Theologen in die theologischen Fakultäten setzt und andererseits daneben einige liberale noch nothdürftig existiren lässt, um sie allmählich womöglich aussterben zu lassen — kann unmöglich auf diese Weise beigelegt werden. Denn abgesehen davon, dass man auf diese Weise die wissenschaftliche Forschung in das Bereich von kirchlichen Machtfragen hineinzöge und dadurch den wissenschaftlichen Prozess nicht rein zur Durchführung kommen Hesse, existirt für die Wissenschaft der Gegensatz von .conservativ" und „liberal" im k i r c h l i c h e n Sinne überhaupt nicht, sondern nur die Frage nach dem, was, sei es historisch, sei es erfabrungsmässig gegeben und wahr, oder welcher Erkenntnissinhalt als in sich wahr erkennbar sei oder nicht. Diese Frage kann aber nicht nach kirchlichen Massstäben entschieden werden. Auf die Dauer also dürften die gegenwärtigen theologischen Fakultäten an ihrer innerlich widerspruchsvollen Existenz zu Grunde gehen. Es würde dann nur eine Gruppe von Forschern der Universität zugeböreD, welche objectiv ohne kirchliche Rücksichten den Inhalt und die Fundamente des Christenthums allseitig durchforschen; dagegen müssen diejenigen theologischen Corporationen, welche nur das für die Kirchenleitung nothwendige Wissen ihren Schülern übermitteln sollen, streng kirchlichen Charakter tragen. Die günstigste Lösung wäre freilich die, wenn die Kirchen bereit wären, der wissenschaftlichen Forschung volle Freiheit zu lassen und die Resultate dieser freien Forschung nach Kräften, soweit sie sich als wissenschaftlich haltbar erwiesen habeii, für sich zu verwerthen, wenn die Kirchen so viel Vertrauen zu der Erforschung der Wahrheit hätten, dass sie selbst dieselbe wünschten. Soll

also

der Begriff der Theologie aufgestellt w e r d e n ,

so

wird n u r übrig b l e i b e n , entweder die T h e o l o g i e auf d i e Kirche a l s t e c h n i s c h e D i s c i p l i n zu beziehen.

D a n n wird sie aber nur

d i e T h e o l o g i e irgend einer Partialkirche sein k ö n n e n , die dem I n t e r e s s e dieser Partialkirche dient, w o m i t sie aber auf wissens c h a f t l i c h e n Charakter keinen Anspruch sie m u s s fangene

eine

nach

a l l e n Richtungen

wissenschaftliche

erheben k ö n n t e , h i n ausgedehnte,

Untersuchung

zunächst

oder unbe-

ohne

alle

R ü c k s i c h t a u f k i r c h l i c h e I n t e r e s s e n vollziehen

u n d kann

d a n n a u c h nicht

oder con-

den

fessionelle

Theologie

Confession

oder

wissenschaftlichen

Anspruch zu

das

sein.

kirchliche

erheben, kirchliche Denn

nicht

Interesse

Untersuchungen

das Interesse darf

irgendwie

sie

bei

der ihren

beeinflussen,

§ 3.

Der Begriff der Theologie.

Fortsetzung.

15

sondern nur das objective Interesse an der ErkenntnLss der Wahrheit.

§ 3.

Begriff der Theologie.

Fortsetzung.

Es kann wohl nicht zweifelhaft sein, dass wir in dem eben besprochenen Dilemma uns auf die Seite der Wissenschaft stellen und die Theologie als eine Wissenschaft zu verstehen suchen. Denn dass es eine Wissenschaft geben muss, die sich objeotiv mit der christlichen Religion befasst, wird wohl schwerlich Jemand leugnen. Soll aber die christliche Religion wissenschaftlich untersucht werden, so kann man nur eine objective Erkenntniss derselben anstreben. Hiernach würde es die Aufgabe der Theologie sein, das Christenthum nach allen Richtungen hin zu durchforschen. Man könnte die Frage stellen, ob eine solche Erforschung, die das Verständniss der christlichen Religion anstrebt, nicht aus dem Christenthum heraus gewonnen werden müsse, und ob eine solche Erforschung nicht ebenso im Interesse der Frömmigkeit als der Wissenschaft liege. Man wird diese Frage bejahen können, dass die christliche Religion über sich selbst klar werden will, und so könnte man in der Theologie das wissenschaftliche Selbstbewusstsein des Glaubens finden wollen, der sich über das Wesen der christlichen Religion und seinen Inhalt, kurz über sich selbst möglichst klare Rechenschaft geben will. Aber man wird doch die Theologie nicht ohne Weiteres mit dem wissenschaftlichen Selbstbewusstsein des Glaubens identificiren. Denn der Glaube ist gewöhnlich confessionell bestimmt. Das Klarwerden über den Glaubensinhalt würde also nicht über das Christenthum überhaupt Orientiren. Dazu kommt, dass das Klarwerden über den Glauben möglicherweise gänzlich von der Prüfung des Glaubensinhalts absieht und seinen Inhalt eo ipso acceptirt, über die Wahrheit desselben aber gar kein Urtheil abgiebt, sondern seinen Inhalt eo ipso entweder als psychologische Thatsache constatirt oder als wahr annimmt.

16

§ 3. Der Begriff der Theologie.

Tortsetzung.

Geht man von dem Interesse des Glaubens aus, so wird ferner die historische Untersuchung des Christenthums eine „gläubige" sein sollen. Der Glaube nimmt aber allerhand Historisches an, das vielleicht vor der Forschung nicht besteht. Es muss von vornherein constatirt werden, dass es eine gläubige Wissenschaft nicht geben kann. Die Wissenschaft ist weder gläubig noch ungläubig; sie hat es zu thun mit der Erforschung der Wahrheit. Daher wird man zu Miss verstand Dissen Anlass geben, wenn als die Aufgabe der Theologie das Selbstbewusstsein des Glaubens bezeichnet wird. Es soll nicht geleugnet werden, dass der Glaube auch ein Interesse an der Erkenntniss seines Inhaltes hat; aber die Wissenschaft kann nicht unter diesem subjectiven Impuls stehen, wenn sie das Wesen des Christenthums erforschen will, weil sonst die Untersuchung durch den eigenen Standpunkt eingeengt wird, der meist doch confessionell oder individuell bestimmt ist und der nicht zwischen diesen Bestimmtheiten und dem wesentlich Christlichen unterscheidet. Andererseits beruht gerade auf dieser Selbstständigkeit der wissenschaftlichen Forschung der Einiluss, den sie möglicherweise auf die concreto Ausgestaltung des Glaubens ausüben kann, indem sie kritisch Unhaltbares als solches erweist und so den Glauben davor bewahrt, blosse Phantasievorstelluugen als heilige Wahrheiten zu behaupten. Dieser Punkt ist für die ganze methodologische Frage von der höchsten Bedeutung. Wir sehen also als die Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie an, das Wesen des Christenthums allseitig zu untersuchen. Man könnte freilich hier die Frage stellen, wie man denn vom wissenschaftlichen Interesse darauf komme, bei der Untersuchung des Christenthums als einem besonderen Gegenstand wissenschaftlichen Forschens stehen zu bleiben. Im Interesse der Wissenschaft liege vielmehr die Erforschung der R e l i g i o n ü b e r h a u p t , ihrer Geschichte, ihres Wesens und da bilde die Untersuchung des Wesens des Christenthums nur einen Abschnitt. Dass man aber die Untersuchung des Christenthums zum Gegen-

§ 3.

Der Begriff der T h e o l o g i e .

Fortsetzung.

17

stand einer besonderen Wissenschaft machen wolle, habe nicht einen objectivwissenschaftlichen Grund, sondern einen subjectiven, nämlich den, dass wir das Christenthum vor den anderen Religionen bevorzugen, weil es unsere Religion sei. Es sei also auch diese Stellung der Aufgabe nicht einem rein wissenschaftlichen, sondern mindestens zugleich immer praktischen Interesse an dem Christenthum und der christlichen Kirche entsprungen. Solle die Theologie wirklich wissenschaftlich objectiven Charakter annehmen, so müsse sie mit der Erforschung der Religion in empirischer, d. h. historischer und psychologischer Hinsicht sowie auf speculative Weise sich befassen. Dann aber würde sie schliesslich mit Religionsphilosophie und Religionsgeschichte identisch, würde also Religionswissenschaft sein und die Aufgabe haben, das Wresen der Religion a l l s e i t i g zu erforschen, nicht aber mit dem Christenthum insbesondere sich abgeben. Dieser Einwand hat seine Berechtigung, w e n n das C h r i s t e n t h u m n i c h t d i e a b s o l u t e Religion ist; denn dann sieht man nicht ein, warum gerade die Beschäftigung mit ihm zu einem besonderen Wissenszweig aus w i s s e n s c h a f t l i c h e n Gründen gemacht werden soll. Ist aber das Christenthum die absolute Religion, so kann die historische und die speculative Erforschung der Religion überhaupt nur in der Erforschung des Christenthums ihr Ende finden, insofern dann der Gang der Religionsgeschichte erst in der Vollendung der Religion in der absoluten Religion zum Verständniss kommen kann und diese Religion als das klassische Beispiel aller Religion untersucht werden muss, zu der alle anderen Religionen gleichsam die Vorhalle bilden, in die sie aber alle einmünden, der sie ihr Bestes mittheilen, so dass man erst wahrhaft die Religion erkennt, wenn man die christliche Religion erkennt. Und wenn nun auch die historischen Erscheinungsformen des Christenthums unvollkommen sind, so würde doch der in ihnen sich kundgebende Kern eben den Charakter des Christenthums als der absoluten Religion darthun und es würde gerade die christliche Religion als die dem Ideal D o r n er, Encyklop. d. Theol.

2

18

§ 3. Der Begriff der Theologie. Fortsetzung.

der Religion entsprechende, als die rationale Religion wenigstens ihrem Wesen nach sich erweisen lassen, wodurch die Religionsphilosophie ihren Abschluss finden würde, weil hier die Religion als eine ihrem Wesen nach absolute Grösse erkannt wäre. Kurz: wenn das Christenthum als die absolute Religion gelten könnte, so würde es nicht unberechtigt sein, die Religionswissenschaft wesentlich in der Weise mit der Erforschung der christlichen Religion zu identificiren, dass die empirische Erforschung der allgemeinen Religionsgeschichte als die Vorgeschichte des Christenthums, gleichsam als das Piedestal der christlichen Religion in Betracht gezogen, die spéculative Erforschung der Religion aber das Wesen der Religion in dem W e s e n der christlichen Religion realisirt sähe, sofern eben das W e s e n der christlichen Religion als charakteristisches Merkmal hätte, rational allgemeingültig, dem Ideal der Religion entsprechend zu sein. Würde man also den Standpunkt rechtfertigen können, dass das Christenthum in diesem Sinne absolute Religion wäre, so würde die universale Erforschung des Wesens des Christenthums als die Aufgabe der Theologie angesehen werden können, ohne dass man dabei Voreingenommenheit für das Christenthum vorauszusetzen brauchte. Es ist freilich selbst in diesem Falle zuzugeben, dass daneben eine Religionsphilosophie und Religionsgeschichte bestehen könnte, welche mehr die allgemeinen Gesetze des religiösen Lebens und die spezielle Kunde der einzelnen Religionen betriebe. Aber das würde doch nicht hindern, dass die Theologie die christliche Religion zum Gegenstand ihrer Forschung macht, um auf diesem Wege das religiöse Leben in seiner absoluten Erscheinungsform im Zusammenhang mit seinen übrigen Entwickelungsformen zu betrachten. Dass aber das Christenthum die dem Ideal entsprechende Religion sei, das ist es eben, was zu beweisen wäre. Wenn also die Theologie diesen Beweis geben kann, so ist sie — von aller Beziehung auf die praktische Religiosität und Kirche abgesehen — deshalb

§ 3.

Der Begriff der Theologie.

19

Fortsetzung.

ein vollberechtigtes Glied der Wissenschaft, weil sie die Religion in

ihrer umfassendsten

Vollendung

des

und

religiösen

vollkommensten

Lebens

speculativ zu verstehen sucht.

Gestalt

überhaupt

als

historisch

die und

Nur dann würde die Theologie

mit ihrer Betrachtung der christlichen Religion sich von dem p r a k t i s c h e n Interesse an dem Christenthum wirklich parteiisch leiten lassen, wenn der w e s e n t l i c h e Inhalt des Christenthums nur der einer Religion unter anderen wäre.

Eben dies aber zu

widerlegen und den absoluten Charakter des Christcnthums zugleich zu erweisen, ist mit die Aufgabe der Theologie. W i r setzen hierbei freilich voraus, was die Theologie nur im Laufe ihrer Untersuchungen,

in

ihren

ciplinen als Wahrheit erweisen kann.

verschiedenen Dis-

Wollte man einwenden,

dass dieser Beweis unmöglich sei, weil es kein Ideal der Religion gebe, oder weil das Ideal doch immer nur eine Abstraction aus einer gegebenen Religion sei, das man aus dieser destillire, wo es dann Ideal

freilich

leicht

der Religion,

sei,

d. h.

diese gegebene Religion in Wahrheit

gegebenen Religion abstrahirten was aber

nur

dieser Einwand

Ideal

entsprechend zu

auf einem Cirkelschluss nur

als dem

als dem aus beruhe,

dadurch entkräftet werden

dieser finden,

— so würde können,

dass

man die Annahme eines Ideals der Religion als eine nothwendige Vernunftannahme erwiese, sodass man durchaus nicht etwa nur aus irgend einer gegebenen positiven Religion einige allgemeine Züge

abstrahirte,

Ideal aufstellte.

sondern

vielmehr

ein

allgemeingültiges

Dass dieses möglich ist, habe ich in meiner

Schrift „Das menschliche Erkennen" zu eiweisen gesucht 1 ). das Christenthum zwar n i c h t in einer seiner empirischen scheinungsformen, aber s e i n e m

Dass Er-

e w i g e n P r i n c i p nach diesem

Ideal entspreche, das zu erweisen wäre eben eine der Aufgaben der Theologie, sofern sie die Erkenntniss der christlichen Religion als der absoluten Religion zu ihrem Inhalt hat.

Seinem K e r n e

>) S. 216 f. 2*

20

§ 4.

E i n t h e i l u n g der Theologie.

nach wäre das Christenthum eben vernünftige Religion, Realisirung der religiösen Vernunft und es würde die

Untersuchung

der Religion sich wesentlich erschöpfen, indem man das Christenth um als

den Gipfel der religiösen Entwickelung zu verstehen

suchte und seine vielfach individuell modificirten positiven Erscheinungsformen

als

die

zeitlich,

individuell

bedingten

scheinungsformen seines rationalen Kernes verstünde. gabe der Theologie

besteht also

in der

Er-

Die Auf-

wissenschaftlichen Er-

kenntniss der christlichen Religion auf historischem und speculativem W e g e , das Letztere, um das Christenthum zugleich als die seinem Wesen nach dem Ideal der Religion

entsprechende,

den religiösen Process vollendende Religion zu erweisen. Anmerkung. Diese rein wissenschaftliche A u f g a b e ist d u r c h a u s nicht confessionell bestimmt. Vielmehr sind die Confessionen n u r b e s o n d e r e Modificationen des C h r i s t e n t h u m s , d a h e r der confessionelle S t a n d p u n k t f ü r die wissenschaftliche Theologie nicht h a l t b a r ist. W o l l t e m a n e i n w e n d e n , dass weder die römisch-katholische noch die griechische Theologie f ü r diese B e s t i m m u n g der Theologie R a u m habe, s o n d e r n h ö c h s t e n s der Prot e s t a n t i s m u s , d a s s also diese B e s t i m m u n g der A u f g a b e d e r Theologie protestantisch sei, so wäre d a r a n vielleicht soviel richtig, d a s s es dem P r o t e s t a n t e n leichter wird, sich auf d e n bezeichneten S t a n d p u n k t zu stellen, dass a b e r dieser S t a n d p u n k t doch nicht p r o t e s t a n t i s c h ist. D e n n er will von a l l e n spezifisch confessionellen I n t e r e s s e n a b s e h e n u n d das Christent h u m seinem W e s e n u n d seinen E r s c h e i n u n g s f o r m e n nach historisch u n d speculativ verstehen.

§ 4.

Eintheilung der Theologie.

W e n n die Aufgabe der Theologie in der wissenschaftlichen Erkenntniss des Christenthums besteht, so wird sie zweierlei zu t h u n h a b e n : einmal wird stehen müssen.

sie das Christenthum

historisch ver-

Das k a n n sie aber n u r , wenn sie dasselbe im

Zusammenhange mit der gesammten Religionsgeschichte versteht und nur, wenn sie die gesammte Geschichte des Christenthums, nicht

bloss

fasst.

Aber aus der gestellten Aufgabe geht schon hervor, dass

einen Theil

derselben,

etwa

die Urzeit ins Auge

§ 4.

Eintheilung der Theologie.

21

sie sich nicht damit begnügen kann, das Christenthum nur historisch zu fassen. Ist das Christenthum vielmehr der Gipfel der religiösen Entwickelung und giebt es auch im religiösen Gebiet eine Erkenntniss des Ideals der Religion, zu der auch die Erkennbarkeit und die Erkenntniss der Wahrheit ihres wesentlichen Kerns gehört, so muss es neben der historischen auch eine speculative Erkenntniss der christlichen Religion geben: die bloss historische Erkenntniss des Christenthums würde uns über die Bedeutung desselben noch nicht orientiren. Es muss zu den anderen Religionsformen in Beziehung gesetzt werden und zwar nicht bloss auf dem Wege empirischer Vergleichung, sondern in der Weise, dass man die verschiedenen Arten und Stufen der Religionen mittels allgemeiner Begriffe charakterisiren und nach dem festzustellenden Ideal der Religion werthen kann, um sie so mit dem Christenthum zu vergleichen. Es bedarf ferner, da die Religion auch Erkenntniss will, des Nachweises, dass der Inhalt des Kerns des Christenthums als Wahrheit sich erkennen lasse, was wieder nicht festgestellt werden kann ohne eine eingehende speculative Untersuchung. Mag immerhin die Art, wie das Dogma einzelner Kirchen diesen Inhalt zum Ausdruck bringt, phantasiemässig sein und vor einer strengeren Kritik nicht standhalten, auch durch individuelle Anschauungsform bedingt sein, es kann ein über diese phantasiemässigen Formen hinausgehendes Erkennen der Wahrheit des Inhalts des christlichen Princips geben. Historische und speculative Erkenntniss des Christenthums als der absoluten Religion wäre sonach die Aufgabe der Theologie, und sie hätte einen empirischen und einen speculativen Theil, die sich gegenseitig ergänzen. Denn sowenig die historische Betrachtung für sich die universellen Gesichtspunkte für die Erkenntniss des grossen Zusammenhanges besitzt, sowenig kann eine bloss speculative Betrachtung, die sich nicht auf die Geschichte der Religion zugleich stützt, haltbar sein. Beide in ihrer gegenseitigen Ergänzung können uns erst eine volle Ein-

22

§ 4. EintheUung der Theologié.

sieht ia das Wesen und die Bedeutung der christlichen Religion für die Menschheit gewähren. Es ist dies genau dasselbe, wie n u r die Naturwissenschaft und die Naturphilosophie zusammen, oder die historische Rechtskunde und die Rechtsphilosophie zusammen eine volle Erkenntniss der Natur oder des Rechts und nur Religionsgeschichte und Religionsphilosophie zusammen die völlige Erkenntniss der Religion gewähren. Das hat seinen letzten Grund in der Art menschlichen Erkennens, das nicht in unmittelbarer Einheit das Empirische und Principielle zusammenschaut, sondern einerseits die Principien speculativ erfasst, andererseits das empirische Material erkenntnissmässig durcharbeitet, wobei dann beide Betrachtungsweisen einander ergänzen. In diesem Sinne könnte man sagen, dass die Theologie die Selbsterkenntniss des religiösen Bewusstseins auf der höchsten Stufe sei, die mit der vollsten wissenschaftlichen Unbefangenheit zu vollziehen wäre. Man könnte fragen, ob hiermit die wissenschaftliche Aufgabe der Theologie erschöpft sei, oder ob noch wie gewöhnlich angenommen wird, die Theologie auch die Beziehung auf die Praxis zur Darstellung zu bringen habe. Zweifellos ist die rein wissenschaftliche Aufgabe mit den angegebenen Theilen erschöpft. Aber gerade so, wie sich an die Naturkunde die technischen Disciplinen anschliessen, welche die Naturbearbeitung und Naturbeherrschung auf Grund der Naturkunde zum Gegenstand haben, geradeso wie an die Jurisprudenz sich die praktische Discipliu der Politik anschliesst, so kann auch in einer theologischpraktischen Disciplin die Einsicht in das Wesen des Christenthums in praktischem Interesse verwerthet werden. Nur müsste diese praktische Disciplin etwas anders ausfallen, als sie gewöhnlich behandelt wird. Gewöhnlich hat die praktische Theologie die Aufgabe, irgendwie das kirchliche Handeln in einer bestimmten Kirche des Näheren zu beschreiben. Das könnte die Disciplin nicht thun, die hier in Betracht kommt. Sie müsste einen höheren Standpunkt einnehmen. Nachdem

§ 4.

Eiotheilung der Theologie.

23

das Wesen des Christenthums und seine verschiedenen Erscheinungsformen erkannt sind, könnte man die Frage stellen, wie dieses Wesen des Christenthums in den verschiedenen Erscheinungsformen am besten jedesmal nach deren Typus sich bethätige. Es würde das ähnlich der Aufgabe sein, die sich Aristoteles in seiner Politik gestellt hat, nicht etwa nur ein Ideal des Staatslebens aufzustellen, sondern für die verschiedenen wirklichen Staatsformen die Methoden ihrer politischen Bethätigung anzugeben, durch die sie sich am besten erhalten könnten. Ebenso würde hier die Aufgabe bestehen, zu zeigen, in welcher Weise die verschiedenen Grundformen des Christenthums am besten dem christlichen Princip und ihrer Eigenart als Besonderungen des christlichen Princips im praktischen Leben gerecht werden könnten. Das Verhältniss dieser praktischen Disciplin, die rein das religiös-christliche Leben in seinen verschiedenen Formen betreffen würde, wie es sich je nach den Hauptmodificationen des christlichen Princips in modificirten Formen zu gestalten hätte, zu der Ethik ist unten genauer zu erörtern. Dass aber eine solche praktische Disciplin für die verschiedenen Confessionen werthvoll sein kann, ist wohl nicht erst zu begründen. Ob die einzelnen Kirchen sich ihrer Rathschläge bedienen oder nicht, das ist in ihr Ermessen zu stellen. Es wäre auch nicht unmöglich, dass wenn eine spezifisch confessionelle kirchlich praktische Disciplin in einer Kirche schon bestünde, diese sich mit der praktischen Theologie in unserem Sinne in Beziehung setzen würde, um die von ihr ausgehenden Rathschläge für die eigene Kirche zu prüfen und fruchtbar zu machen. Jedenfalls aber ist die streng wissenschaftliche Theologie mit dem historischen und speculativen Theil erschöpft und nur als technische Disciplin kann die praktische Theologie im oben bezeichneten Sinne angeschlossen werden.

24

S 5.

D u YerhUtniw der Theologie z. d. anderen Wissenschaften.

§ 5. Das Yerhältniss der Theologie zu den anderen Wissenschaftenx). Die Theologie als Wissenschaft muss in der engsten Beziehung zu dem gesammten Complex der Wissenschaften stehen, wenn sie ein berechtigter Theil der Gesammtwissenschaft sein soll. Wenn die Theologie nur eine praktische Disciplin ist, ist sie überhaupt kein organischer Bestandteil der Wissenschaft; sie könnte dann ebenso gut fehlen; denn technische Disciplinen dienen der Verbindung von Wissenschaften mit praktischen Interessen. £ine wirkliche Wissenschaft muss sich aber als berechtigtes Glied der Gesammtwissenschaft eingliedern. Die Theologie gehört nun zweifellos den Geisteswissenschaften an, deren jede empirisch und speculativ zugleich ist. Die speculative Seite der Geisteswissenschaft umfasst alle Bethätigungen des Geistes auf speculative Weise, die empirische Seite der Geisteswissenschaft auf empirische, d. h. als Geschichte. Da die Geisteswissenschaften sämmtlich speculativ und empirisch zugleich sind, haben alle einen speculativen und einen empirischen Theil. Theilen wir die Bethätigungen des Geistes, so kommt es dabei auf die psychologischen Kräfte an, welche im Vordergrund stehen. Wir sind erkennende, anschauende, wollende, fühlende Wesen: Diese Geistesthätigkeiten sind nie absolut geschieden; aber es kann eine im Vordergrund stehen. Die erkennende Function producirt die Wissenschaft und ist selbst wieder Gegenstand der Erkenntniss in der Erkenntnisstheorie, kann aber auch die anderen Funktionen zum Gegenstand der Betrachtung machen. Die Thätigkeit, welche sich auf das Anschauen in Verbindung mit dem Gefühl bezieht, ist ästhetisch, die Thätigkeit des Willens ist ethisch. Nun giebt es aber eine Bethätigung des Einheitstriebes, welche H. Holtzmann, „Ueber Fortschritte und Rückschritte der Theologie unseres Jahrhunderts und über ihre Stellung zur Gesammtheit der Wissenschaften."

§ 5. Das VerhMtniss der Theologie z. d. anderen Wissenschaften.

25

in dem Göttlichen ausruht und alle Gegensätze des Bewusstseins in allen Functionen in demselben aufhebt. Diese religiöse Bethätigung bezieht sich nicht auf Eine Function, sondern auf alle. Aber sie ist nicht auf ein weltliches, sondern auf ein überempirisches Object, die Gottheit, gerichtet, wie diese immer auch vorgestellt werde. Es ist also berechtigt, die Religion als eine besondere Art der geistigen Bethätigung für sich zu betrachten, weil sie sich auf die Alles unter sich befassende Einheit bezieht. Das eben geschieht in der Religionsphilosophie. Neben ihr kommen die Ethik, die Aesthetik, die Erkenntnisstheorie oder Dialektik in Betracht. Aber alle diese Disciplinen haben auch eine empirische Seite: die Geschichte umfasst die ethische, die ästhetische, erkenntnissmässige Arbeit der Menschheit, nicht minder auch ihre religiöse Entwickelung. Man kann also auch die Aesthetik und Kunstgeschichte, die Dialectik und Geschichte der Erkenntniss, die Ethik und das geschichtliche Leben als ethisches und ebenso die Religion nach der speculativen und empirischen Seite betrachten. Die Betrachtung der Religion von der speculativen und empirischen Seite erreicht nun in der absoluten Religion den Höhepunkt, wo das höchste religiöse Princip in die Geschichte eingetreten ist. Die Wissenschaft, welche die Erkenntniss des Christenthums als den Gipfel der religiösen Entwickelung nach der speculativen und empirischen Seite umfasst, ist die Theologie. Hieraus mag sich nun ergeben, wie sich zu den anderen Disciplinen die Theologie stellen soll. Bevor wir das im Einzelnen noch etwas ausführen, müssen wir auch noch das Verhältniss des Wissens zur Natur ins Auge fassen. Es giebt neben den Geisteswissenschaften die Naturwissenschaft, die auch wieder in einen speculativen und empirischen Theil zerfällt, die gesammte empirische Naturwissenschaft und Naturphilosophie. Schliesslich werden auch die Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften auf eine Einheit zurückgeführt werden müssen. Diese Verbindung der Naturund Geisteswissenschaften ist einmal in der Psychologie und

26 § 5. Das Verhältniss der Theologie z. d. anderen Wissenschaften. Psychophysik gegeben. Sodann aber sacht die Metaphysik die letzten einheitlichen Principien für beide grossen Gruppen auf. Diese letzte Einheit kann nicht in der Empirie gefunden werden. Es ist also die Metaphysik selbstverständlich ebenso eine speculativé Disciplin, wie die Psychologie und die Psychophysik eine empirische. Wie steht nun die Theologie in diesem Complex der Wissenschaften? Es versteht sich zunächst von selbst, dass die Theologie nicht zu allen Disciplinen in ein gleich nahes Verhältniss tritt. Als Wissenschaft wird sie jedenfalls zu der E r k e n n t n i s s t h e o r i e und D i a l e k t i k in Beziehung treten müssen. Die Methoden der Erkenntniss müssen dem Theologen geläufig sein; die logischen Gesetze und die erkenntnisstheoretischen Grundsätze zur Bildung wissenschaftlicher Begriffe müssen ihm vertraut sein. Aber nicht minder wird die Theologie zu denjenigen Disciplinen im nächsten Verhältniss stehen, welche den Geistes- und Naturwissenschaften gemeinsam sind. Die psychologische Grundlage für das religiöse Phänomen, die psychologischen Modificationen im religiösen Leben, die psychophysisch und physiologisch nicht selten bedingt sind, fordern eine eingehende Kenntniss der P s y c h o l o g i e und P s y c h o p h y s i k . Und wenn sich als Resultat der Erforschung des religiösen Lebens ergiebt, dass es nicht psychologisch allein verstanden werden k a n n , dass es sich im religiösen Leben um die Beziehung zu einem hinter der Erscheinung liegenden Wesen handelt, so wird die Theologie auch ihre Beziehung zur M e t a p h y s i k nicht aufgeben können, die es j a mit diesem der Geistes- und Naturwelt zu Grunde liegenden Principe zu thun hat. Sie wird mit der Metaphysik und ihren verschiedenen Standpunkten Fühlung haben müssen. Man wird wohl nicht sagen können, dass die Theologie die Metaphysik ersetzen könne. Denn ihre Aufgabe ist nur auf die allseitige Erkenntniss der christlichen Religion gerichtet. Da ist ihr Inhalt erschöpft, wenn sie über die objective Grundlage des religiösen Lebens, Gott als die

§ 5.

Das Verhältniss der Theologie z. d. anderen Wissenschaften.

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letzte, Alles umfassende Einheit sich äussert. Freilich gehört auch dazu die Vorstellung davon, wie diese einheitliche letzte Ursache in der Welt sich bethätige, besonders in den frommen Menschen; da aber Letzteres nur durch Anregungen von aussen sich vermittelt, kommt auch die Frage nach der göttlichen Wirksamkeit überhaupt in Frage. Hier stösst also die theologische Metaphysik mit der philosophischen zusammen. Indes wird doch die Theologie hier von der philosophischen Metaphysik sich unterscheiden, sofern die erste vor Allem mit der letzten Ursache sich beschäftigt, auf die letzte Einheit zurückgeht, während die philosophische Metaphysik, von der Vielheit der Welt ausgehend, die ihr zu Grunde liegenden Ursachen untersucht und von da erst zy der Einheit aufzusteigen versucht. Die Meinung aber, dass die christliche Religion keine Metaphysik brauchen könne, ist im höchsten Maasse verfehlt und beruht auf dem Vorurtheil, dass die Metaphysik nur Metaphysik der Natur sein könne, oder nur auf eine Einheit zurückkomme, welche die Indifferenz von Natur und Geist sei, was dem ethischen Charakter des Christenthums widerspreche. Warum soll es denn nicht eine Metaphysik geben können, welche ebenso Metaphysik des Geistes wie der Natur ist und beiden Factoren gerecht zu werden sucht? In keinem Falle kann die Theologie die Beziehung zu der Erkenntnisstheorie, Psychologie und Metaphysik missen. Was schliesslich die Beziehung der Theologie zur Religionsphilosophie, Ethik, Aesthetik angeht, so könnte man fragen, ob nicht die Theologie als speculative mit der R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e zusammenfalle. Denn wenn sie das Wesen der christlichen Religion als wahrer Religion, deren Kern auch als Wahrheit erkannt werden soll, erforscht, so kann sie das nicht ohne Psychologie, Metaphysik der Religion, nicht ohne das Wesen der Religion, auch das Ideal der Religion eingehend zu untersuchen. Was anders thut die Religionsphilosophie? Zweifellos ist die Theologie als speculative das, was man eine Philosophie des Christenthums als absoluter Religion genannt hat,

28 § 5. DM Verh<niaa der Theologie z. d. anderen Wissenschaften. und selbst Schleiermacher schreibt der Theologie einen Theil zu, den er philosophische Theologie nennt, der einen Abschnitt ans der Religionsphilosophie darstellt. Aber man kann trotzdem zugeben, dass neben der Theologie die Religionsphilosophie bestehe, so gut wie neben ihr die Religionsgeschichte bestehen kann. Die Religionsphilosophie wird mehr die allgemeinen Grundlagen des religiösen Lebens, die Gesetze seiner Bethätigung und seiner Entwickelung, das allgemeine Ideal der Religion als Vernunftideal aufstellen, kurz die allgemeinen Züge des religiösen Lebens ins Auge fassen. Die Theologie wird die Betrachtang der absoluten Religion in den Mittelpunkt stellen und von ihr aus, um sie zu verstehen, auf die Betrachtung der Religion überhaupt zurückgehen. Beide Betrachtungsweisen brauchen sich nicht zu widersprechen, sondern können sich gegenseitig ergänzen, zumal die Religionsphilosophie dos Problem des Verständnisses der Religion von den verschiedensten Seiten aufnimmt und die mannigfaltigsten Standpunkte in ihr vertreten sind, während bei der Theologie die Annahme besteht, dass es eine absolute Religion gebe und diese ihrem Kern nach im Christenthum vertreten sei. Die Kantsche, die Hegeische Religionsphilosophie waren in diesem Sinne theologisch. Diese Annahme der Absolutheit des Christenthums braucht ja nicht eine unerwiesene Voraussetzung zu sein; im Gegentheil: sie soll wissenschaftlich sich erweisen lassen. Sonst wäre die Theologie keine strenge Wissenschaft. Die Religionsphilosophie kann dagegen den Versuch machen, andere Seiten stärker hervorzukehren, z. B. dem individuellen Charakter der Religion nachzugehen, ihrem Zusammenhang mit Volksthum, mit der psychophysischen, physiologischen Basis, die wieder in der Umgebung der Natur begründet ist. Solche Untersuchungen würden dann auch für die theologische Erkenntniss des Christenthums von Bedeutung werden, indem man so auch hier erst lernt zwischen dem Allgemeingültigen und Individuellen zu unterscheiden. Wollte man als Charakteristicum der Theologie dagegen im Unterschiede von der Religionsphilo-

§ 5.

Das Verhältniss der Theologie z. d. anderen Wissenschaften.

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sophie ihren p o s i t i v e n Charakter geltend machen, so würde das der Wissenschaftlichkeit der Theologie zwar dann nicht zuwider sein, wenn man damit nichts Anderes sagen wollte, als dass die Theologie zugleich auf den h i s t o r i s c h e n Charakter des Christenthums zu sehen hat, um aus ihm sein Wesen, seinen Kern ebenfalls zu erkennen; wie ja doch auch die Religionsphilosophie die Religionsgeschichte ihren Untersuchungen zu Grunde legen muss. Soll aber unter dem positiven Charakter der Theologie ihr spezifischer Offen barungscharakter verstanden werden, so kann der hier so wenig für die wissenschaftliche Betrachtung in Rechnung kommen wie,bei anderen Religionen, insbesondere Buchreligionen, welche ebenfalls von sich den Offenbarungscharakter behaupten. Der Massstab, nach dem man eine Religion zu messen hat, ist nicht der, dass s i e von s i c h den f o r m a l e n Offenbarungscharakter behauptet, sondern dass sie dem Ideal der Religion entspricht oder nicht. Auch zu der philosophischen E t h i k hat die Theologie die engsten Beziehungen, schon deshalb, weil das Christenthum ethische Religion ist. Ihr Verhältniss zu der philosophischen Ethik wird das sein, dass sie dieselbe voraussetzen muss, da aus der Religion für sich das concrete sittliche Handeln in den weltlichen Gebieten nicht abgeleitet werden kann. Die Theologie kann also nur untersuchen, inwieweit die in der christlichen Religion gegebene Anregung für den Willen und die in der christlichen Religion gegebene Grundidee des Reiches Gottes modificirend auf die weltliche Ethik einwirke, deren Selbstständigkeit aber zugleich anerkannt werden muss. Mögen immerhin die ethischen Standpunkte der philosophischen Ethiker verschiedene sein, sicherlich wird auf diesem philosophischen Wrege das ethische Leben am vielseitigsten untersucht. Die Theologie kann nur noch das hinzufügen, was aus dem Gesichtspunkte der absoluten Religion für die Ethik in Betracht kommt. Dabei ist es aber selbstverständlich, dass eine Religion oder eine Auffassung der christlichen Religion, welche das sittliche Handeln

3 0 § 5.

Das Verhältniss der Theologie z. d. anderen Wissenschaften.

im Interesse eines weltabgezogenen Verkehrs* mit Gott entw e r t e t e , nicht dem Ideal der Religion entsprechen könnte. Auch zu der A e s t h e t i k wird die Theologie insofern Stellung zu nehmen haben, als einmal die Aesthetik trotz ihrer eigenen Gesetze doch nicht dem Sittlichen widersprechen soll, also auch hier die christliche Modification der Ethik der Aesthetik gegenüber zur Geltung kommt, sodann aber sofern die christliche Weltanschauung der Aesthetik und Kunst eineFülle von Problemen gestellt hat, dadurch, dass sie die gewichtigsten Gegensätze vertieft und doch versöhnt hat, ferner sofern es eine spezifisch religiöse Kunst giebt und die Frage über das Verhältniss der religiösen zu der weltlichen Kunst und ihrer Selbstständigkeit, die doch wieder sittlich bedingt ist, nicht umgangen werden kann, endlich insofern die Religion die Phantasieanschauung überhaupt für sich in Anspruch nimmt und hier Probleme sich ergeben, die den symbolischen Charakter der religiösen Darstellungen (z. B. der Sacramente) auch im Verhältniss zu der religiösen Erkenntniss und die Abhängigkeit dieser symbolischen Formen von der Entwickelung des ästhetischenGeschmacks betreffen. Was ferner das Verhältniss der Theologie zu der G e s c h i c h t e betrifft, so. versteht es sich nach ihrem Begriffe von selbst, dass sie die gesammte Religionsgeschichte zum historischen Verständniss des Christenthums zuziehen muss, und nicht bloss bei der Geschichte des Christenthums stehen bleiben kann. Aber ebenso versteht es sich von selbst, dass die Theologie auch die Geschichte des Christenthums nur im Zusammenhang mit der gesammten Weltgeschichte begreifen kann. Denn das Christenthum hat in seiner Geschichte die mannigfaltigsten Beziehungen zu der Entwickelung der weltlichen Dinge. Sodann aber wird die Theologie auch methodisch von der Geschichtsforschung abhängen. Denn die Methode, welche für die Geschichtsforschung ausgebildet ist, wird auch für die historische Erforschung des Christenthums ihre Stelle behaupten. Davon wird unten nooh mehr die Rede sein.

§ 5.

Das Verhältniss der Theologie z. d. anderen Wissenschaften.

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Was endlich das Verhältniss zu der N a t u r f o r s c h u n g in speculativer und historischer Form angeht, so ist hier die Theologie durch ihre Aufgabe nicht genöthigt, zu den e m p i r i s c h e n N a t u r w i s s e n s c h a f t e n in Verhältniss zu treten. Die frühere Meinung, dass die Theologie auf Grund insbesondere alttestamentlicher Urkunden sich auch auf die Entstehungsgeschichte der Welt einlassen müsse oder dass sie ein Interesse daran habe, die Versuche, zu stören, den Naturzusammenhang mit Hülfe der secundaren Causalitäten und mit Ausschaltung der absoluten Ursache zu verstehen, ist von der Theologie meist aufgegeben worden, seit sie es gelernt hat, auf ihre eigene Aufgabe sich zu beschränken. Denn der Versuch, aus dem Mechanismus der Natur die Naturvorgänge zu erklären, muss gemacht werden und hat die überraschendsten Kenntnisse und Entdeckungen zu Tage gefördert. Die Theologie kann es mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln nicht unternehmen, sich in diese Untersuchungen einzumengen. Es ist so wenig die Aufgabe der empirischen Naturwissenschaft, mit der letzten Ursache alles Naturgeschehens sich abzugeben, als es die Aufgabe der Theologie ist, die secundaren Causalitäten im Naturgebiete zu erforschen. Eher hat die N a t u r p h i l o s o p h i e - B e z i e h u n g e n zu der Theologie, besonders dann, wenn sie sich zu einer allgemeinen Metaphysik erweitern will. In diesem Falle aber geht sie über ihre Grenze hinaus. Hingegen macht sie im Gebiete der Natur allerdings Voraussetzungen über den Naturzusammenhang und die Unverbrüchlichkeit der Naturgesetze, auf die die Theologie Rücksicht zu nehmen hat. In diesem Sinne hat schon Schleiermacher darauf hingewiesen, dass mit der Annahme eines stricten Naturzusammenhanges sich Frömmigkeit sehr wohl vertrage. Gerade hier wird es darauf ankommen, einzusehen, dass das W e s e n des Christenthums nicht durch die Frage berührt wird, ob Gott durch die gesetzmässige Wirksamkeit der secundären Causalitäten sich bethätige oder rein für sich einzelne supernaturale Akte vollziehe. Das Interesse, das die Theologie mit

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§ 5.

Das Verhiltniss der Theologie i. d. anderen Wissenschaften.

einer vernünftigen Philosophie gemeinsam hier zu vertreten hat, ist die Würde and Thatkraft des Geistes im Unterschiede von der Natnr und die Erhabenheit Gottes über die einzelnen Naturerscheinungen. Das hindert aber durchaus nicht die Anerkennung der Unverbrüchlichkeit der Naturgesetze, da Gottes Erhabenheit vollkommen gewahrt ist, wenn er als Grund des gesammten Naturzusammenhanges und seiner Gesetzmässigkeit aufgefasst wird. Die einzige Schwierigkeit, die sich hier erheben kann, liegt in dem Yerhältniss der Theologie zu den heiligen Urkunden. Da diese indess einer wissenschaftlichen Kritik doch zu unterwerfen sind und überhaupt nur den Standpunkt ihrer Zeit in Bezug auf diese Fragen theilen, so ist auch hier eine ernstliche Schwierigkeit für diejenige Theologie nicht vorhanden, die es gerade als eine wesentliche Aufgabe anerkennen muss, das christliche Princip, sein sozusagen überzeitliches Wesen von seinen zeitlichen Erscheinungsformen, auch derjenigen, in der das Princip zuerst in der Welt sich geltend machte, zu unterscheiden. A n m e r k u n g . Aus dem Gesagten geht hervor, dass nur derjenige die Theologie gründlich betreiben kann, der im Gebiete der Philosophie zu Hause ist und die Profangeschichte kennt. Naturwissenschaftliche Kenntnisse hängen nicht so enge mit dem Studium der Theologie zusammen. Aber eine klare Vorstellung von den Aufgaben der Naturwissenschaft ist immerhin auch für den Theologen erforderlich, wenn er im Verhältniss zu diesen Disciplinen keine Blossen sich geben und der Grenzen der Theologie sich bewusst bleiben soll.

§ 6.

33

Der Umfang der historischen Theologie.

Theil II. Die einzelnen Disciplinen der Theologie. A. Die historische Theologie.

§ 6. Der Umfang der historischen Theologie und ihre Voraussetzungen in der allgemeinen Religionsgeschichte. Es ist hier der U m f a n g und die M e t h o d e der historischen Theologie zunächst zu erörtern. Was den U m f a n g der historischen Theologie angeht, so sei hier bemerkt, dass die vielfach beliebte Eintheilung in exegetische, historische, systematische und praktische Theologie nur von einem bestimmten Standpunkt aus berechtigt ist, nämlich von dem, dass die Sammlung kanonischer Schriften eine besondere Grösse sei, deren autoritative Stellung und absoluter Inspirationscharakter berechtige, die Beschäftigung mit ihr nicht nur der historischen Theologie zu unterstellen. Allein der Grund, weshalb man der exegetischen Theologie eine solche Stellung geben soll, ist ein rein dogmatischer. Sieht man von dieser dogmatischen Position ab, die die Kirche in Bezug auf das neue Testament erst einnehmen konnte, als es eins gab, in Bezug auf das alte Testament aber nur unter der Bedingung einer Umdeutung der jüdischen Literatur im christlichen Sinne, so kann man für die Schriftensammlung des neuen Testaments nur den historischen Anspruch erheben, die Quelle für die Geschichte des Urchristenthums und den Stifter der christlichen Religion zu sein, und wissenschaftlich angesehen wird es erst eine Aufgabe sein, zu prüfen, welche Schriften und in welchem Maasse dieselben diesen Anspruch historisch rechtfertigen können. Hingegen die exegetische TheoDo m e r , Encyklop. d. Theol.

3

34

.§ 6. Der Umfang der historischen Theologie.

logie deshalb zu einem Haupttheil zu machen, weil die Bibel eo ipso göttlich geoffenbart sei, ist eine dogmatische Voreingenommenheit, die die späteren Christen gegenüber diesen Schriftstellern zu Christen zweiten Grades degradirt, als gäbe es in der weiteren christlichen Geschichte keine Bezeugung des göttlichen Geistes, d. h. in diesem Sinne keine Offenbarung mehr. Wenn man nun auch die exegetische Theologie einfach als denjenigen T h e i l der historischen Theologie auffasst, der es mit dem Urchristenthum zu thun hat, so könnte man doch auch aus diesem Gesichtspunkte den Anspruch erheben wollen, die exegetische Theologie als die Beschäftigung mit der Urkunde des Urchristenthums besonders auszuzeichnen und von der übrigen historischen Theologie abzuscheiden. Allein die ursprüngliche Position des Protestantismus, der auf das Urchristenthum gegenüber der weiteren geschichtlichen Entwickelung zurückgehen wollte, weil in dem Urchristenthum die reinste Form des Christenthums gegeben sei, liess sich im weiteren Verlauf seiner Geschichte nicht mehr voll aufrecht erhalten. Man sah ein, dass das christliche Princip im Urchristenthum in einer durch die Zeit desselben gegebenen Modification sich darstellte, die in dieser concreten Form nicht wiederkehren konnte, dass was es vielleicht an Intensität der Erfassung des christlichen Princips voraushatte, durch den Mangel an extensiver Ausgestaltung und manche ethische und lehrhafte Einseitigkeiten wettgemacht wurde. Die Cousequenzen des christlichen Princips, durch die dieses selbst wieder eigenthümlich beleuchtet wird, konnten in der Urzeit noch gar nicht allseitig zu Tage treten. Kurz, wenn es die Aufgabe der historischen Theologie ist, das Wesen des Christenthums in seinen mannigfachen Erscheinungsformen zu erkennen, so kann die exegetische Theologie, die es nur mit der Kenntniss des Urchristenthums zu thun hat, nur ein Theil der historischen Theologie sein, die zu ihrem Zwecke die ganze Entwickelung des Christenthums von der Urzeit bis auf die Gegenwart zu ßathe ziehen muss. Die e x e g e t i s c h e

§ 6.

Der Umfaug der historischen Theologie.

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Theologie, die es mit der Geschichte des Urchristenthums zu thun hat, ist also nicht als der h i s t o r i s c h e n Theologie ebenbürtig aufzufassen, das umsoweniger, als einerseits die urchristliche Zeit in vieler Beziehung nur Ansätze der späteren Entwickelungen in Lehre und Leben enthält, andererseits ihre eigenartige Bestimmtheit des Bewusstseins und Lebens durch Zeitverhältnisse stark modificirt ist, endlich auch das Urchristenthum selbst schon eine Entwickelungsgeschichte aufweist, die es ausschliesst, die Schriften des neuen Testaments promiscue 'als Auctorität für Lehre und Leben späterer Zeiten hinzustellen. In jedem Falle ist aber dieser letztere Zweck ein praktischer, der dem Interesse einer bestimmten Kirche dienen mag. Die Theologie als historische Wissenschaft hat die Aufgabe, die historische Ausgestaltung des Christenthums von seinen Anfängen bis auf die Gegenwart mit den zu Gebote stehenden Mitteln historischer Forschung zu untersuchen. Da kann die exegetische Theologie, die sich mit der Urzeit beschäftigt, natürlich nur als ein T h e i l der historischen Theologie behandelt werden. Es sei hier gleich noch beigefügt, dass auch die Auffassung des historischen Processes, welche die Urzeit als die Normalzeit des Christenthums betrachtet und in der weiteren Entwickelung nur Abfall und Verderbniss des Ursprünglichen sieht, bis schliesslich wieder zu der Urzeit die Rückkehr erfolgt sei, zwar der reformatorischen Geschichtsbetrachtung durch ihren Gegensatz gegen den Verfall der mittelalterlichen Kirche eigen war, aber doch schon von Calixt nicht consequent durchgeführt wurde, wenn er den Consensus quinquesaecularis als berechtigt anerkannte, (wogegen übrigens die Reformatoren schwerlich selbst etwas hätten einwenden können, da auch sie die ökumenischen Synodal-Entscheidungen der trinitarischen und christologischen Streitigkeiten anerkannten). Es ist der neuesten Schule in dieser Hinsicht vorbehalten geblieben, den Rückgang auf das Urchristenthum^ eigentlich auf Christi Offenbarung selbst und auf diese auch nur in der durch die eigene Ansicht beschnittenen Gestalt als 3*

36

§ 6.

Der Umfang der historischen Theologie.

das Resultat des bald zweitausendjährigen geschichtlichen Processes zu proklamiren. Eine gerechtere und objectivere Betrachtung der Geschichte wird den Versuch machen, das christliche Princip in seinen durch die jedesmaligen Zeitverhältnisse bedingten Formen aus dem jeweiligen Zeitzusammenhang zu verstehen und in dem gesammten Process bis auf die Gegenwart eine sei es auch nur in der Spirale fortschreitende Entwickelung zu sehen. Es ist ferner eine Frage, ob man mit der Geschichte des Urchristenthums die historische Untersuchung zu beginnen habe oder ob man die G e s c h i c h t e d e r j ü d i s c h e n R e l i g i o n zu dem Verständniss desselben zuziehen soll, oder ob d i e g a n z e R e l i g i o n s g e s c h i c h t e zugezogen werden soll, um das Christenthum auch von der historischen Seite als den Gipfel der religiösen Entwickelung zu erkennen. Einerseits sagt man: Das Christenthum ist absolut neu; zu seinem Verständniss braucht man die früheren Religionen nicht. Weil es neu in die Welt getreten ist, muss es völlig aus sich selbst verstanden werden. Dieser Standpunkt, der von Zeit zu Zeit in der christlichen Geschichte sich geltend gemacht hat, seit Marcions Zeiten, ist kein historischer, sondern ein dogmatischer Standpunkt; er enthält die Vorstellung, dass das Christenthum abrupt supernatural geoffenbart sei, eine Vorstellung, die mit der historischen Forschung nur insofern zu thun hat, als sie von vornherein die Nachforschung des Zusammenhanges der Religionsgeschichte im vermeintlichen Interesse der Absolutheit des Christenthums abschneidet. Aber in keinem Falle kann die Auffassung des Christenthums als absoluter Religion durch eine solche abrupte Betrachtungsweise gestützt werden, da die absolute Religion weder die secundaren Causalitäten ausser Kraft setzen, noch in d«r Weise die menschliche Natur überragen kann, dass sie ihr gänzlich fremden Inhalt offenbart, der ihr nicht zugänglich wäre. Jedenfalls aber haben wir h i s t o r i s c h nicht das Recht, das Christenthum ausser Zusammenhang mit der vorchristlichen Welt

§ 6.

37

Der Umfang der historischen Theologie.

zu betrachten.

Die christlichen Quellen selbst weisen auf diesen

Zusammenhang insbesondere mit dem Judenthum hin.

Daher

haben Andere die jüdische Religion als die Wurzel der christlichen aufgefasst und einen continuirlichen Zusammenhang der Geschichte von Adam bis Christus unter Ausschluss der „heidnischen" ßeligionsgeschichte angestrebt. So hat sich die Meinung gebildet,

dass

die

jüdische

und

christliche

Religion

als

die

„Offenbarungsreligionen" von den anderen Religionen zu unterscheiden seien, und dass zum Verständniss des Christenthums die Zuziehung des Judenthums vollauf genüge. trachtungsweise

hat

es sogar

dahin

J a , diese Be-

gebracht,

dass man das

Judenthum ebensogut als Offenbarungsreligion behandelte wie das Christenthum

und

deshalb

das historische

Studium

der

alt-

testamentlichen Religionsgeschichte als integrirenden Bestandtheil des theologischen

Studiums

betrachtet.

Dazu

hat das

neue

Testament zweifellos insofern Anlass gegeben, als es selbst die jüdischen Quellen als Auctorität behandelt, freilich unter der Bedingung der Umdeutung derselben im christlichen Sinne. Allein

auch

ausschliesslichen

dieser Standpunkt, der das Christenthum historischen Zusammenhang

thum stellt, ist nicht haltbar.

mit

in

dem Juden-

Einmal wird zum Verständniss

des Christenthums weit wichtiger als der alttestamentliche Kanon die jüdische neutestamentliche Zeitgeschichte sein, weil hier die Formen des Judenthums vorliegen, zu welchen unmittelbar das Christenthum

in

Beziehung

trat.

Denn

wenn

Christus

auch

wirklich in dem Masse, wie es gegenwärtig vielfach

behauptet

wird, an die alttestamentliche Prophetie

hätte, so

angeknüpft

hat doch jedenfalls auch für ihn die apokalyptische Form des Judenthums grosse Bedeutung gehabt. das Judenthum,

wie es in

hunderten sich entwickelt

den

hatte,

Dazu kommt aber, dass

vorchristlichen selbst

„heidnischen" Ginflüssen geblieben war.

nicht

letzten Jahr-

mehr rein von

Das Christenthum aber

hat entschieden auch schon in der neutestamentlichen Zeit hellenische Einflüsse verspürt.

So wird es gar nicht angehen, bei den

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§ 6.

Der Umfang der historischen Theologie.

jüdischen Quellen allein zu bleiben, zumal die Ansicht, dass nur Judenthum und Christenthum göttliche Offenbarung besitzen, insofern wenigstens widerlegt wird, als auch anderen Religionen der Begriff göttlicher Offenbarung nicht fremd ist. So wird nichts übrig bleiben, als dass man die gesammte ausserchristliche Religionsgeschichte heranzieht, wenn man historisch das Verhältniss des Christenthums zu der vorchristlichen Welt verstehen und insbesondere das Christenthum seinem Princip nach als die Religion begreifen will, in welche die verschiedenen grossen Ströme der Religionsgeschichte einmünden. Es ist dabei eine besondere Frage, ob man das Christenthum glaubt aus dem Confluxus dieser Ströme als eine höhere Einheit der in den vorchristlichen Religionen vorhandenen einseitigen Strömungen ableiten zu können, oder ob man in ihm gegenüber allen bisherigen Entwickelungen ein Neues glaubt constatiren zu können, das sich aus der vorhergehenden Geschichte für sich noch nicht völlig erklärt. In jedem Fall wird die Geschichte des Christenthums durch die allgemeine Religionsgeschichte, insbesondere die Geschichte der Religionsformen, welche auf das Christenthum von Einfluss waren, mit denen es sich auseinandergesetzt hat, eingeleitet werden müssen. Wenn hiebei das Judenthum und seine Geschichte besondere Rücksicht erfahrt, so geschieht es, weil das g e l e h r t e Verständniss der christlichen Quellen die Eenntniss der jüdischen Geschichte, insbesondere aber der ncutestamentlichen Zeitgeschichte voraussetzt. Aber darum darf man die anderen Religionen, insbesondere der arischen Linie, nicht vernachlässigen, und man wird schliesslich in Bezug auf die v o r c h r i s t l i c h e R e l i g i o n s g e s c h i c h t e sagen müssen, dass sie als unentbehrliche H ü l f s W i s s e n s c h a f t zum Verständniss des Drchristenthums herangezogen werden muss. Unter den vorchristlichen Religionen wird die jüdische Religion von besonderer Bedeutung sein, nicht weil das Christenthum als die Frucht des Judenthums anzusehen wäre — es ist unendlich viel mehr für eine wirklich genetische Geschichtsbetrachtung —, sondern weil die Quellen des Urchristen-

§ 6.

39

Der Umfang der historischen Theologie.

t h u m s sich v i e l f a c h auf das J u d e n t h u m

beziehen.

Aber

mehr

a l s H ö l f s w i s s e n s c h a f t für die E r k e n n t n i s s des C h r i s t e n t h u m s k a n n die

alttestamentliche Wissenschaft1)

n i c h t s e i n , und

müsste durch die a l l g e m e i n e R e l i g i o n s g e s c h i c h t e * ) ,

sie

insbe-

sondere die Geschichte der griechischen u n d römischen R e l i g i o n u n d die n e u t e s t a m e n t l i c h e

Zeitgeschichte3),

die eben die

religiösen Z u s t ä n d e zur Zeit der E n t s t e h u n g des Christenthums ganz besonders ins A u g e fasst, ergänzt w e r d e n . A u f der anderen Seite fragt es sich,

ob

der U m f a n g

des

historischen Gebietes sich bis auf die G e g e n w a r t ausdehne oder nicht.

Dagegen könnte man einwenden,

dass m a n

die Gegen-

wart, in der noch A l l e s i m F l u s s sei, n i c h t historisch betrachten könne, w e i l der Streit der Parteien d i e U n b e f a n g e n h e i t der B e trachtung

verbiete.

sagen, dass es von

Allein man kann

a u c h gerade

umgekehrt

besonderem w i s s e n s c h a f t l i c h e n W e r t h e

und nicht m i n d e r i m Interesse

sei

einer o b j e c t i v e n W e r t h u n g der

>) Ich gehe daher auch nicht näher auf die alttestamentlichen Disciplinen ein. Auf Exegese der alttestamentlichen Schriften ruht die alttestamentliche Literaturgeschichte; daran schliesst sich die Geschichte des alttestamentlichen Lebens, nach der äusseren Seite die Archäologie, die Geschichte des Volkes Israel — und die Geschichte des alttestamentlichen Bewusstseins, alttestamentliche Theologie. Die hebräische Grammatik ist von Gesenius (Kautzsch), Ewald, Stade bearbeitet. Lexika von Gesenius (Mühlau u. Yoltz), Siegfried und Stade 1893. Fuerst Concordanz. Einleitung in das alte Testament von Vatke ed. Preiss 1886, Bleeck (Wellbausen), Reuss, Geschichte d. alt. Test., Cornill, Einleitung in d. a. T., König, Einleitung in d. a. T. 1893. Ewald, Die Alterthümer d. V. Israel. Keil, Biblische Archäologie. Baehr, Symbolik d. mosaischen Cultus. Robertson Smith, Religion of the Semits (deutsch von Kautsch). Geschichte Israels von Ewald, Hitzig, Wellhausen, Stade. — Vatke, bibl. Theologie. O e hl e r , Theologie d. alt. Test. u. seine Prolegomena. Kayser, Theo), d. alt. Test. ed. Reuss. H. Schultz, Alttest Theologie. Duhm, Theol. d. Propheten. Cornil), Der Prophetismus. *) Die Allgemeine Religionsgeschichte ist von Chantepie de la Saussay 2. A. und Orelli bearbeitet. Für die griechische Religionsgeschicbte E. Rohde, Psyche. Preller, Griechische Mythologie, herausgeg. v. Robert. Preller, Römische Mythologie, herausg. v. Jordan. Zeller, Die Philosophie d. Griechen. *) Von H a u s r a t h und S c h ü r e r besonders bearbeitet.

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§ 6. Der Umfang der historischen Theologie.

gegenwärtigen Vorgänge sine ira et studio liege, sie rein historisch im Zusammenhang mit der bisherigen Entwickelung zu betrachten, auf jede der vorhandenen Strömungen so einzugehen, dass man sie aus ihren historischen Antecedenzien zu verstehen und ihrer Tendenz durch objectives sich in ihren Standpunkt Hineinversetzen gerecht zu werden sucht. Gerade das ist im religiösen Gebiet, wo der Affect so stark mitspielt, doppelt werth. Es scheint auch für die Gegenwart um so mehr nöthig, je mehr man es heutzutage als eine Tugend ansieht, wenn Einer „warm für seine Kirche oder Partei eintritt", worunter nicht bloss verstanden wird, dass er seiner wohl erworbenen Ueberzeugung treu bleiben, sondern dass er ein so einseitiger Anhänger der erwählten praktischen Richtung sein soll, dass er selbst darüber den Anderen gerecht zu werden unterlässt. Gerade je stärker der „ p r a k t i s c h e " Zug in der Gegenwart ist, um so mehr ist es nothwendig, dass diesem Prakticismus eine unbefangene wissenschaftliche Betrachtung zur Seite geht, die vor falschem Affect und Einseitigkeit behütet; denn es bleibt nun einmal wahr, dass das auf das praktische Handeln gerichtete Leben nothwendig zu Enge und Bornirtheit hinneigen muss. weil es in lauter Einzelinteressen sich bewegt, wenn nicht die objective unbefangene theoretische Betrachtung ihm zur Seite geht. Das pflegt man in praktischem Uebereifer freilich zu übersehen, dass eine solche unbefangene Betrachtung auch für die Praxis die Bethätigung einer wahrhaft toleranten Gesinnung zur Folge hat. Dass also auch die Gegenwart und gerade sie einer historischen Erforschung bedarf, ist einleuchtend; die historische Theologie hat also a u c h d i e G e g e n w a r t in den Bereich ihrer Betrachtung zu ziehen. Der so mächtig gewordene Sinn für Geschichte fordert auch eine historische Erforschung der Gegenwart, indem sie als das Resultat der Vergangenheit begriffen wird. Ob hier, wo die Gegenwart in die Zukunft übergeht, nicht mit der historischen Ueberschau ein Ausblick in die Zukunft in der Form zu verbinden ist, dass zugleich an der

§ 6.

Der Umfang der historischen Theologie.

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in all ihren Strömungen objectiv erfassten Gegenwart eine Kritik geübt wird, die den Werth der verschiedenen Strömungen zu messen sucht, das ist eine Frage, die unten genauer behandelt wird. Hier nur soviel, dass an diesem Punkte, wo die Geschichtsbetrachtung aufhört, der Zusammenhang mit der speculativen Betrachtungsweise einsetzen wird, wenigstens insoweit, dass aus dem Gesammtverlauf der Geschichte, wie er in der Gegenwart ausmündet, das christliche Princip erkannt werden soll, das doch ohne die Zuziehung der Speculation schwerlich klar eruirt werden kann. Dazu wird aber der Uebergang gemacht, wenn man durch Vergleichung der verschiedenen Strömungen theils das ihnen Gemeinsame zu erkennen, theils das Verschiedene als gegenseitig sich ergänzend zu verstehen sucht und endlich fragt, ob eine der vorhandenen Strömungen vor den anderen den Vorzug verdiene. Noch einen Punkt muss ich in Bezug auf den Umfang des Stoffs erwähnen, den die historische Theologie in ihr Bereich ziehen muss, ihr V e r h ä l t n i s s zu d e r P r o f a n g e s c h i c h t e . Man kann das Christenthum nicht als eine isolirte Grösse betrachten. Nur dann kommt seine Geschichte zur vollen Klarheit, wenn es im Verhältniss zu der gesammten Weltentwickelung dargestellt wird. Es tritt hier eine Wechselwirkung ein, die verschiedene Stadien durchläuft, und die jeweilige Gestalt, die das Christenthum annimmt, mit bestimmt. Denn es gehört zu dieser Religion, dass sie zugleich erziehlich auf den ganzen Culturstand der Völker hat wirken wollen. Wollte man dagegen auf die Weltfremdheit des Urchristenthums und das weltfremde Ideal mittelalterlicher religiosi verweisen, so würde damit doch nur eine Seite in der Geschichte des Christenthums einseitig hervorgehoben. Weder der christliche Cult in seinen ausgestalteten Formen, um mit dem eigentümlich Religiösen anzufangen, noch die Ausbildung der christlichen Lehre, vollends die Verfassung der Kirche kann verstanden werden, ohne dass man die Beziehungen zu der profanen Kunst, Wissenschaft, Cultur, Staat zuzieht. Aber auch der Einfluss, den die christ-

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§ 6.

Der Umfang der historischen Theologie.

liehe Religion auf die gesammte Cultur, Wissenschaft, Kunst, Staat, sociales Leben, Ehe und Familie, auf die Bildung der Persönlichkeit, der Phantasie, und vor Allem des Gemüths ausgeübt hat, gehört wesentlich mit zu der Geschichte des Christenthums und ist für sein Verständniss sicherlich bedeutsamer als die Kirchengeschichte im engeren Sinne, in der leider oft genug kleinliche Streitereien und Eifersüchteleien hoher Prälaten und weltliche Händel, die mit dem Geiste des Christenthums wenig zu thun hatten, eine nur zu grosse Rolle spielen. Man kann getrost sagen, dass der segensreiche Einfluss des Christenthums sich oft gerade im Gegensatz gegen die Kirche durchgesetzt hat und dass dieser nur voll verstanden wird, wenn man den oft sehr tief liegenden verborgenen Fäden nachgeht, welche das Christenthum und die jeweilige Cultur verbinden 1 ). So hat also die historische Theologie die Aufgabe, das Christenthum in seiner ganzen Entwickelung von seinen Vorbereitungen und Ursprüngen bis zu der Gegenwart zur Anschauung zu bringen, damit wir so ein möglichst objectives Bild von demselben gewinnen und der Blick für das, was sein gleichbleibendes Wesen ist, durch unbefangene Würdigung aller seiner Stadien sich schärft zugleich mit der Fähigkeit, den verschiedenen Zuständen undlndividualitäten gerecht zu werden. Sie zerfällt nach dem Gesagten im Wesentlichen in d r e i Abschnitte: der e r s t e behandelt die urchristliche Zeit, der z w e i t e die Zeit von dem Urchristenthum bis auf die Gegenwart, der d r i t t e die Gegenwart, ]

) In dieser Hinsicht sind Schriften zu beachten, wie: Ranke's Weltgeschichte, deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Mommsen, Römische Geschichte. Zellers Philosophie der Griechen. L. Schmidt, Die Ethik der alten Griechen. Friedländer, Sittengeschichte Roms. Ulhorn, Kampf des Christenthums mit dem Heidenthum, 1879. Hatch, Griechenthum und Christenthum. Neumann, Der römische Staat und die allgemeine Kirche. Réville, la religion a Rome sous les Sévères, van Eicken, Geschichte und Systeme der mittelalterlichen Weltanschauung, v. Betzold, Geschichte der Reformation. Burckhart, Cultur der Renaissance in Italien. Geschichte d. Ren. in Italien.

§ 7.

Die Methode der historischen Theologie.

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und dem Ganzen ist die Religionsgeschichte, insbesondere die Geschichte des Judenthums und der zur Urzeit des Christenthums blühenden Religionen, die die Höhenentwickelung des vorchristlichen religiösen Bewusstseins repräsentiren, sowie überhaupt die neutestamentliche Zeitgeschichte voranzuschicken. Das Ziel dieser ganzen Betrachtung muss dahin gerichtet sein, das Wesen des Christenthums in seinen verschiedenen historischen Erscheinungen zu erfassen. Diese historische Erforschung des Christenthums erfordert aber eine feste historische Methode. Von dieser muss nun noch die Rede sein. Der historischen Theologie muss die Historik als methodische Disciplin zur Seite gehen, und es fragt sich nur, ob sich die Theologie mit den allgemeinen Grundsätzen der Historik begnügen kann, oder ob sie um ihres besonderen Inhalts willen noch einer besonderen t h e o l o g i s c h e n Methodenlehre bedarf.

§ 7. Die Methode der historischen Theologie. Ob die Methode der historischen Theologie anders beschaffen sei als die Methode der Geschichtsforschung überhaupt, ist eine Frage, die von den Theologen vielfach mit Ja beantwortet wird. Zwar das geben Alle zu, dass die theologische Geschichtsforschung auch die Regeln der historischen Methode, die zuletzt in der Logik begründet ist, sich zu Nutze machen muss. Nur soll die Eigentümlichkeit des Stoffes hier noch besondere Modificationen nothwendig machetf. Zunächst wollen wir die allg e m e i n g ü l t i g e historische Methode') betrachten. Die historische Forschung bedarf zunächst der inductiven Methode, wie alle empirischen Wissenschaften. Aber die inductive Methode ist auch verschieden. Es giebt keine Universalmethode für alle Vgl. hier die vortreffliche Historik von D r o y s e n und die mehr ins Einzelne gehende Arbeit von B e r n h e i m , Lehrbuch der historischen Methode 2. A. Die Frage nach der Methode ist gegenwärtig eifrig ventilirt. Vgl. u. A. S y b e i , Ueber den Stand der neueren deutschen Geschichtsschreibung, kl. Schriften Bd. 1. L o r e n z , Die Geschichtswissenschaft in

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§ 7.

Die Methode der historischen Theologie.

empirischen Wissenschaften. Die Naturwissenschaften haben eine andere indnctive Methode als die Geschichtswissenschaften. Freilich behaupten die, welche die Geschichte auch nur als Naturprocess betrachten wollen, dass die Methode mechanischer Naturforschung auch auf die Geschichte anwendbar sei. Danach würde man die sämmtlichen Vorgänge in der Geschichte aus einem äusseren Aufeinanderwirken der verschiedenen Factoren zu verstehen suchen, aus einem Bestreben des Ausgleichs der verschiedenen Kräfte auf mechanischem Wege. Die selbstständigen ethischen Factoren würden in der Geschichte nicht in Betracht kommen, alle Vorgänge Hessen sich n u r auf dem Wege mechanischen Aufeinanderwirkens erklären. Hiernach würden die Völker vor Allem abhängen von ihrem Boden, ihrem Klima, ihren äusseren Lebensbedingungen, und alle geschichtlichen Erscheinungen würden theils aus diesen äusseren Einflüssen, insbesondere den nationalökonomischen, theils aus dem mechanischen Austausch der menschlichen Kräfte, der Triebe, Affecte, Gefühle erklärt werden. Die Basis für diese Forschung wäre das Feststellen der Thatsachen. Denn das würde der naturwissenschaftlichen Analyse entsprechen. Die Exactheit derEruirung der Thatsachen hängt aber in der Geschichte von den Quellen ab. Es würde also zunächst darauf ankommen, die Quellen genau zu fixiren, zu prüfen, zu vergleichen, um die äusseren Thatsachen feststellen zu können. Quellenkunde, Textkritik und höhere Kritik, die Frage nach der Zuverlässigkeit der Quellen, die Vergleichung der verschiedenen Berichte und die hierauf beruhende Analyse der Thatsachen würden Hauptrichtungen und Aufgaben. L a m p r e c h t , Was ist Culturgeschichte? Beitrag zu der empirischen Historik, Deutsche Zeitschrift f. G. W. N. F. Bd. 1. Alte und neue Richtungen in der Geschichtsschreibung 1896. Vgl. auch N i t z s c h , Deutsche Geschichte I, die Einleitung, der in der Wechselwirkung der individuellen Kräfte und der natürlichen Bewegungen das Geheimniss der historischen Entwickelung findet, und Frutz, Preussische Geschichte I, S. 17 f. „Das persönliche Moment in der Geschichte". Vgl. auch Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften S . A . Herausg. t. Klussmann, besonders S. 207f., '255f.

§ 7.

Die Methode der historischen Theologie.

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in der Geschichte das vertreten, was in der Naturwissenschaft die Analyse einer Erscheinung, ihre Zerlegung in ihre Elemente bedeutet, deren Zweck es ist, die Thatsächlichkeit natürlicher Vorgänge klar zu fixiren. Diese eruirten Thatsachen würden nun im Zusammenhang zu verstehen sein; es käme also darauf an, die Daten der Geschichte zu combiniren. Das würde nun nur so versucht werden, dass man die mechanische Verknüpfung aufsuchte, die einzelnen Facta mosaikartig aneinanderreihte. Wenn man z. B. das Leben eines hervorragenden Mannes erforschen wollte, würde man alle einzelnen Facta seines Lebens, die damit zusammenhängenden Facta in Bezug auf Zeit, Ort, Umgebung auf das Genaueste analysiren, allen einzelnen Umständen nachgehen, sein Zusammentreffen mit anderen Mächten, seine Beeinflussung durch seine Umgebung auf das Genaueste untersuchen, und wenn man nacheinander all diese Dinge mit grossester Exaktheit herausgebracht hätte, würde man sie aneinanderreihen und aus der mechanischen Wechselwirkung mit seiner gesammten Umgebung, wie sie in seinem Leben verlaufen ist, ein Bild dieses Lebens zusammenzimmern, das gewiss alle Daten, alles Faktische im äusserlichen Sinn auf das Präciseste darstellt, das aber doch höchst mangelhaft wäre, weil wir von dem eigentlich treibenden Factor nichts erführen, von dem inneren Kern seiner Persönlichkeit. Im besten Falle bekämen wir ein mosaikartiges Bild, das aber keinen einheitlichen Eindruck machen würde. Sollten grössere Zusammenhänge in der Geschichte verstanden werden, so würde man da auch Alles auf das äussere Zusammenwirken vorhandener Factoren zurückführen, die sich mechanisch ausgleichen. So könnte man z. B. die Verfassungsgeschichte der Staaten, die socialen Kämpfe als mechanische Ausgleichsversuche verstehen, welche den Kampf der verschiedenen Stände, die wieder ihrer verschiedenen Beziehung zu der Natur ihre Unterschiede hauptsächlich verdanken, schliesslich in einem labilen Gleichgewicht zur Ruhe kommen lassen. Die Geschichte der Menschheit wird hier rein auf

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§ 7. Die Methode der historischen Theologie.

mechanischem Wege verstanden. Die materialistische Geschichtsauffassung, welche selbst die religiösen Bewegungen und Interessen auf wirtschaftliche Faktoren zurückführt, die Auffassung der Geschichte von Herbert Spencer, der überall zunächst eine Integration wahrnimmt, die mit Individualisirung Hand in Hand geht und zu dem labilen Gleichgewicht der verschiedenen Theile eines Conglomerates fortschreitet, bis in diesem die Erstarrung und dann die Desintegration der Theile eintritt, sind Beispiele für die realistisch naturwissenschaftliche Betrachtung der Geschichte, ähnlich Iherings Vorstellungen über das Entstehen des Rechts. Hier werden alle Fragen der Geschichte zu Machtfragen, und die Macht ist das Entscheidende. Dieser inductiv realistischen Methode steht die teleologische Methode gegenüber. .Während es sich bei der inductiv realistischen Methode um scharfe Analyse, Auflösung aller zusammengesetzten Erscheinungen in ihre Theile oder Zurückführung auf ihre Elemente und dann wieder eine Synthese mechanischer Art in der Weise des äusseren Aufeinanderwirkens der Theile, die nur mechanisch zusammengefügt sind, handelt, so kommt hier die Vorstellung zur Geltung, dass eine leitende Idee als einheitlicher Mittelpunkt bei einer historischen Persönlichkeit oder einer grossen Staatsaktion massgebend gewesen sei, welche alle einzelnen Handlungen als Mittel zum Zweck benutzte. Hier würde das Einzelne aus dem Gesichtspunkt des Ganzen verstanden und als Glied des Ganzen aufgefasst, nicht als Atom, das sich mechanisch anderen Atomen zugesellt. Diese teleologische Methode kann sehr einseitig und äusserlich behandelt werden. Sie kann, je nachdem die einzelnen Subjecte der Geschichte ihre subjectiven Zwecke') unterlegen, tendenziös werden und zur Verfälschung der Thatsachen führen. Aber das ist nur dann der Fall, wenn man von aussen gleichsam von einem subjectiv be') Vgl. hierüber die trefflichen Ausführungen bei Prutz, Preussische Geschichte I, Einleitung.

§ 7.

Die Methode der historischen Theologie.

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schränkten Standpunkt aus der Geschichte Zwecke unterlegt und so die Geschichte meistert. Aber dieser Auswuchs ist nicht nothwendig. Er tritt nur da hervor, wo man insgeheim noch praktische, z. B. patriotische Zwecke mit der Geschichtsschreibung verbindet. Wenn man aber sich dessen enthält, diese Zwecke selbst in die Geschichte hineinzulegen, so kommt durch diese Methode ein Moment zur Geltung, das für die Geschichte Berücksichtigung fordert. Es handelt sich hier um ßealisirung von Gedanken, und wenn sicherlich auch nicht immer diese Ideen vollbewusst hervortreten, so wirken sie doch in minder bewusster Gestalt. In der Geschichte eines Staatswesens ist doch eine geistige Macht wirksam, die der Grund seines Aufblühens, seiner Fortschritte ist. Es ist eine leitende Idee vorhanden, die sich in den Staatsleitern verkörpert, z. B. die Einigung der Theile einer zerrissenen Nation. Es ist oft auch der Fall, dass zuerst in Form einer Theorie ausgesprochen wird, was nachher sich realisirt. Das ist das Geheimniss alles Prophetischen. Man ahnt das Ziel, dem ein Gemeinwesen zusteuert. Gewöhnlich vollziehen sich die Fortschritte in der Geschichte in allen Gebieten durch grosse Persönlichkeiten; diese kann man aber nur verstehen, wenn man das in ihnen erkennt, was für sie das Centrum ihres Interesses ist, die sie leitende Grundidee, die für die Gestaltung ihres Lebens massgebend war, von der aus ihre einzelnen Handlungen Zusammenhang und Sinn gewinnen. Da wird es gerade von dem höchsten Interesse sein, zu sehen, wie sie in ihrer Umgebung diese Idee vertreten, wie sie die ihnen entgegentretenden Hemmnisse überwinden, wie sie selbst nachgeben, um das Wichtigste zu retten, u. s. w. Ebenso wird es bei einer Erscheinung wie das Christenthum darauf ankommen, nicht bloss seine Geschichte als eine christliche Chronik aneinanderzureihen, auch nicht von irgend einem subjectiven Massstabe aus den christlichen Entwickelungsprocess zu beurtheileu, sondern die diese Religion bestimmende Grundidee zu verstehen und die Geschichte als die mannigfaltige Darstellung und Er-

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§ 7. Die Methode der historischen Theologie.

scheinung dieser Grundidee aufzufassen.

Ein blosses Registriren

und Aneinanderreihen von Thatsachen genügt d a so wenig, wie der Versuch, die Werthurtheile über einzelne Erscheinungen zu den Thatsachen

als

subjective

Urtheile

hinzuzufügen.

Vielmehr

k o m m t es darauf an, die im Christenthum die Geister beherrschende Grundidee herauszufinden und die Erscheinungsformen des Christenthums

als Erscheinungsformen

verstehen, das ihnen i m m a n e n t ist.

dieses

Princips

zu

In diesem Sinn kann von

einer teleologischen Geschichtsschreibung die Rede sein oder von einer V e r n u n f t in der Geschichte.

Die Methode, welche dieses

Moment hervorhebt, wird darauf ausgeheu müssen, dieses einheitliche Princip in einer Persönlichkeit, in der Geschichte einer staatlichen

oder

religiösen Gemeinschaft,

das

charakteristische

Moment einer Periode, das f ü r dieselbe bestimmend ist, zu erfassen. Hier kommt nicht sowohl die Analyse im Einzelnen in Betracht als das Erschauen des herrschenden Princips in einer zusammengehörigen Gruppe von Erscheinungen (in dem Leben einer grossen Persönlichkeit, dem Christenthum u. s. w.). tellectuelle Anschauung zugezogen man

werden

Hier wird die inmüssen,

ein solches Princip herauszuschauen vermag.

durch

die

Diese A n -

schauung soll aber nicht ein Hineinlegen fremder Ideen iu die Geschichte sein, sondern sie soll sich ergeben als das Resultat eines

objectiven

Process.

Sichhineinversetzens

in

den

geschichtlichen

Diese Anschauung muss sich d e n n auch dadurch be-

währen, dass aus dem Princip wirklich der Zusammenhang des geschichtlichen Grösse

deutlich

Erscheinungscomplexes wird, z. B. das Leben

als

einer

einer

einheitlichen

grossen Persön-

lichkeit oder das Charakteristische der Epoche, die, von dieser Persönlichkeit inaugurirt, den Stempel derselben an sich trügt. Freilich, solche intellectuelle Anschauung kann auch willkürlich sein, u n d es wird deshalb darauf ankommen, dass m a n durch exacte Forschung nachweist, dass das vermuthete Princip, der v e r m u t h e t e Grundgedanke wirklich im Stande sei, den wesentlichen GaDg der betreffenden Periode oder des betreffenden Lebens verständlich zu

§ 7.

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Die Methode der historischen Theologie.

machen, ohne dass man irgendwie die Thatsachen im Interesse der Idee umgestaltet. Man könnte einwenden, dass eine solche Einheit der bunten Mannigfaltigkeit der Erscheinungen des Lebens gar nicht zu Grunde liege, z. B. dass das Leben eines Menschen gar nicht aus Einem Princip zu erklären sei, dass es das Resultat der mannigfachsten Einwirkungen sei, die hier zusammenstossen, und das gelte von allen geschichtlichen Erscheinungen. Zweifellos ist an diesem Einwände etwas Wahres. Es wird schwerlich gelingen, alle Einzelheiten aus dem einheitlichen Princip zu erklären. Dieses ist vielmehr nur die gestaltende Kraft, die bald energischer, bald weniger energisch sich in den mannigfachen Bedingungen der geschichtlichen Erscheinung durchsetzt. Die teleologische Auffassung in diesem Sinne wird deshalb doch durch die genannte realistische Induction ergänzt werden müssen. Denn gerade so wie es einen psycho physischen Mechanismus giebt, so giebt es auch eine Fülle von Naturbedingungen, welche auf das geschichtliche Leben einwirken, und es wird durchaus nothwendig sein, diesen nachzugehen und ihre modificirenden Wirkungen zu untersuchen. Aber das hindert nicht, dass nicht doch einheitliche Ideen im Hintergrunde wirken, die diesen ganzen Apparat in ihrem Interesse mehr oder weniger umgestalten, sozusagen in ihren Dienst nehmen, freilich so, dass die physischen und psychophysischen sowie die psychologischen und völkerpsychologischen, ethnologischen Grundlagen dabei gewahrt bleiben und sich gesetzmässig bethätigen. Man wird also die Methode historischer Forschung nicht mehr als eine einfache, sondern als eine zusammengesetzte ansehen müssen und es werden die Einen vielleicht mehr begabt sein, die eine, die anderen mehr die andere Seite auszubilden. Es wird also zunächst darauf ankommen, die realistische und die teleologische Methode zu verknüpfen, aber so, dass jede für diejenige Seite der Forschung in Betracht kommt, für die sie geeignet ist. Zunächst müssen auf exacte Weise die Thatsachen erforscht D o r n e r , Encyklop. d. Theo!.

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§ 7. Die Methode der historischen Theologie.

werden und muss das, was zur Erforschung derselben n o t wendig ist, die Prüfung (eventuell Richtigstellung des Textes) der Quellen und ihr Studium vollzogen werden. Sodann ist die Bedeutung der Thatsachen zu eruiren, was übrigens keineswegs identisch ist mit der Werthung der Thatsachen. Man kann eine Handlung verschieden beurtheilen, indem man einen verschiedenen Massstab zur Beurtheilung ihres Werthes anlegt. Darum handelt es sich bei einer historischen Erkenntniss nicht. Es kommt hier vielmehr darauf an, zu erkennen, welche Bedeutung eine Thatsache im Zusammenhang der geschichtlichen Entwickelung hat, ob sie eventuell den Abschluss einer Reihe darstellt, oder welche Folgen von ihr ausgegangen sind. In der religiösen Geschichte speciell werden Thatsachen religiös gedeutet, z. B. der Tod Jesu. Da sind Viele noch der Meinung, dass die religiöse Deutung der Thatsache mit der Thatsache selbst identificirt werden könne. So ist sie dann Heilsthatsache. Allein die Deutung der Thatsache, wenn sie erfolgt ist, z. B. die Deutung des Todes Christi seitens seiner Jünger oder seitens der späteren Dogmatik ist zwar ebenfalls eine Thatsache. Aber daraus folgt noch nicht, dass die religiöse Deutung selbst, z. B Christi Tod sei Versölinungstod, als Thatsache anerkannt werden muss; man muss hier auch nicht sogleich den Glauben einmischen und sagen, die Deutung entziehe sich völlig der historischen Beurtheilung, die religiöse Beurtheilung sei eine Sache für sich. Was für das profane Auge nackte Thatsache sei, sei für den Glauben Heilsthatsache. Die Geschichtsforschung wird vielmehr die Aufgabe haben, die Bedeutung einer Thatsache in ihrem historischen Zusammenhang zu würdigen und weder dogmatisch oder religiös eine Thatsache deuten, noch nach einem nicht in der Sache selbst liegenden Massstab, der von aussen herangebracht ist, sie werthen. Da wird man eine solche Thatsache-im Leben einer Person nicht für sich ins Auge fassen, sondern im ganzen Zusammenhang der Lebensgeschichte, man wird überhaupt eine Thatsache eben in ihrer

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Die Methode der historischen Theologie.

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h i s t o r i s c h e n Bedeutung würdigen müssen. Man wird, um eine Persönlichkeit zu verstehen, die Quellen möglichst exakt durchforschen, ihren äusseren Lebensgang feststellen, ihre Wechselwirkung mit ihrer Umgebung und ihre einzelnen Thaten so viel wie möglich klarlegen müssen. Und das setzt die eingehendsten Einzelstudien voraus. Aber wenn man auch all das Material hat, so wird man es doch in den rechten Zusammenhang bringen, in das rechte Licht rücken müssen und hier setzt nun die vernunftmässige Betrachtung ein mittels intellektueller Anschauung und dem Versuche, von dem einheitlichen Princip aus die Einzelheiten in Zusammenhang zu bringen. Alle Einflüsse von aussen, alle Modificationen des Lebensganges durch äussere Eingrifl'e, diese gesammte Wechselwirkung wird nicht geleugnet, aber sie wird unter einen leitenden Gesichtspunkt gestellt, unter das Moment, das für diese Persönlichkeit der Mittelpunkt ihrer Bestrebungen war, das sie nach den Umständen bald so, bald so zu verwirklichen sucht. Man wird hier das vor Allem herausheben , was charakteristisch, neu, e i g e n t ü m l i c h in der betreffenden Person war. Was dann weiter den Zusammenhang der Thatsachen in grösseren Abschnitten angeht, so wird mau da auch nicht blos mit der Causalmethode auskommen. Es ist zwar wahr, dass, wie in dem psychologischen Verlauf oft ein causaler Zusammenhang nachzuweisen ist, auch in der geschichtlichen Entwickelung die Ursachen ihre Folgen hervorbringen. Aber mit dieser Betrachtung für sich kommt man hier doch nicht aus, weil es sich um Handlungen von Menschen handelt, die auf das mannigfaltigste motivirt sein können, wo eine Wechselwirkung der verschiedensten Motive und Factoren in Betracht kommt. Vor Allem aber sind die grossen Persönlichkeiten keineswegs bloss Producle ihrer Umgebung. In ihnen hat die Vernunft eine e i g e n t ü m l i c h e Erscheinungsform und sie setzen Neues in den Zusammenhang. Man mag bei einer bedeutenden historischen Persönlichkeit zeigen, dass sie von Vorgängern beeinflusst ist, dass sie Combinationen von solchen An4*

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Die Methode der historischen Theologie.

sichten oder Handlungsweisen vollzogen hat, die von Vorgängern einseitig vertreten waren. Die Art der (Kombination und der Durchführung des Princips, von dem eine Persönlichkeit ergriffen ist, bleibt doch ihr Eigenthum. Es giebt Persönlichkeiten, die ein Princip eingeführt und durchgeführt haben, das für eine lange Zeit herrschend wird. Da kommt es darauf an, eine solche Person nicht nur im Einzelnen in ihren mannigfaltigen Beziehungen zu kennen, sondern sie historisch zu würdigen, indem man das heraushebt, wodurch sie epochemachend geworden ist, und von hier aus sie zu verstehen sucht. Man muss anerkennen, dass in der Geschichte der Fortschritt durch Thaten vollzogen wird, seien dies Thaten im politischen oder religiösen, im ästhetischen oder wissenschaftlichen, im socialen Gebiete oder im Gebiete der Naturbeherrschung. Solche Thaten können epochemachend sein. Man wird dann zwar nicht a b s o l u t Neues finden, aber doch eine neue Grösse entstehen sehen, die vorher in dieser Bestimmtheit nicht da war, die das Frühere, wie es vielleicht in zerstreuter Form vorhanden war, zu einer neuen kräftigen Einheit zusammenfasst, welche nun das Leitmotiv für lange Zeit bildet. Gegenüber solchen epochemachenden Persönlichkeiten, die eine neue Zeit inauguriren, tritt dann eine Entwickelung ein, welche das Neue verarbeitet, das Princip nach allen Seiten ausgestaltet und ausbaut. Hier ist die Entwickelung eine ruhige. Der Fortschritt zeigt sich hier nicht in epochemachenden Thaten, sondern darin, dass das eine Periode bestimmende Princip sich nach den verschiedensten Seiten hin in der Ausgestaltung der concreten Verhältnisse unter concreten Bedingungen bethätigt. Da tritt mehr das sociale Element hervor gegenüber den epochemachenden Persönlichkeiten. Es werden Durchschnittsstandpunkte zu Tage treten; im religiösen Leben, in der Sitte werden mehr die socialen Mächte hervortreten, die organisirten Gemeinschaften, welche von dem die Periode leitenden Princip erfasst sind; das Neue, das zuerst neu war, wird nun zur Tradition und geht so in den gesicherten

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Die Methode der historischen Theologie.

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Besitz über, freilich nicht ohne an Frische und Originalität einzubüssen. Aber auch hier wird es bei aller Exaktheit der Einzelforschung darauf ankommen, den allgemeinen Typus, die leitenden Grundideen, die sich in dem vielverzweigten Leben darstellen, auszuscheiden und dadurch erst den Zusammenhang einer Periode, ihr Charakteristisches zu erkennen und als das leitende Moment der Periode zu erweisen. In der Regel wird es so sein, dass, was hervorragende Personen inaugurirt haben, den Typus für die nun eintretende Periode kennzeichnet, so dass diese Persönlichkeiten im Gruade genommen Dur das herausgehoben haben, was in der Gesammtheit schon angelegt war und nun von ihr acceptirt wird, nachdem es bewusst und klar hervorgetreten ist. Aber eben das ist der vorhergehenden Zeit gegenüber das Neue, dass die zerstreuten Elemente in einem neuem Brennpunkt auf originelle Weise geeint sind und nun ein höheres umfassendes Princip vorhanden ist; der Fortschritt in, der Geschichte geht von dem einseitigen, das zuerst vertreten ist, zu der Combination der Gegensätze in neuen höheren Einheiten, welche als umfassendere Grössen auch wieder eine Fülle neuer Probleme im Schoosse tragen, die eben in den an das Epochemachende anstossenden Perioden sich entfalten, wie sie durch die massgebende Richtung der Zeit bestimmt werden. Denn alle diese Probleme stehen unter dem Grundtypus und dieser wird, nachdem er zuerst in neuer, mehr schöpferischer Gestalt aufgetreten ist, zur Tradition werden und so sich verfestigen. Uebrigens wird die Entwickelung in den einzelnen Gebieten je nach ihrer Art verschieden verlaufen und man wird methodisch deshalb auch nicht alle Gebiete über einen Kamm scheeren können: Eine Literaturgeschichte und Kunstgeschichte wird nicht so behandelt werden können wie eine politische Geschichte oder wie die Religionsgeschichte; wenn auch die allgemeinen Grundsätze überall gelten, dass die exakte Forschung, die von dem Einzelnen ausgeht, sich zu combiniren hat mit der teleologischen Betrachtungsweise, die die mass-

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gebenden Ideen,

Die Methode der historischen Theologie.

die Grundrichtung zu erschauen und im Ein-

zelnen zu verificiren h a t , so wird doch die Anwendung dieser Grundsätze j e nach dem historischen Object verschieden ausfallen. Da es sich für uns um die Religionsgeschichte und speziell um die Geschichte des Christenthums

handelt, so kommt hier

die Frage zunächst in Betracht, ob die Offenbarung, welche die christliche Religion

zu haben

behauptet,

eine Modification in

der Methode der geschichtlichen Forschung hervorrufen könne'). Man hat behauptet, dass hinter der historischen Methode immer die Weltanschauung stehe,

entweder die religiöse des Glaubens

oder die nichtreligiöse des immanenten Erklärens. Ansicht

trifft nicht zu,

da die Constatirung

Allein diese

der

Thatsachen

nicht von der Weltanschauung, sondern von der exakten Prüfung der Urkunden abhängt und der Zusammenhang der Thatsachen ebenfalls nach dem Gesichtspunkt des causalen und teleologischen Verständnisses erfolgen muss.

Nur die W e r t h u n g der That-

sachen kann vom Glauben ausgehen, hat aber nichts, mit dem historischen Verständniss zu thun, das die Erscheinungen objectiv im Zusammenhang ihrer Zeit und Umgebung zu verstehen hat. Die Werthung der Thatsachen kann nach einem allgemein anerkannten geschehen.

Massstabe oder nach

einem

subjectiven

Massstabe

Ist das Letztere der Fall, so hat sie wissenschaftlich

keine Bedeutung; soll also die Werthung des Glaubens wissenschaftliche Bedeutung gewinnen, so muss man zeigen, dass sie einen allgemein gültigen Massstab zu Grunde gelegt hat. Wenn

in

der religiösen Geschichte von besonderem Ein-

greifen Gottes die Rede ist,

von Thaten Gottes, so wird hier

allerdings ein der Geschichte sonst fremder Massstab angewendet. Indess dürfte nicht schwer

einzusehen

sein, dass

es Thaten

Gottes an sich nicht giebt, die nur Gott ex abrupto thun würde und

die nicht durch Vermittelung

der endlichen Causalitäten

') Diese Frage ist in der letzten Zeit in der Theologie vielfach ventilirt worden, besonders in der ßitschl'schen Schule, ebenso von Kahler, Cremer u. A.

§ 7.

Die Methode der historischen Theologie.

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geschehen. Die Thaten Gottes laufen am Ende in dem Gebiete der Religioasgeschichte darauf hinaus, dass Personen auftreten, welche eine neue Weise, die Gottesgemeinschaft zu besitzen und zu bethätigen, die schon in der Luft liegt, zum Ausdruck bringen und eben deshalb von ihren Anhängern als Träger der Offenbarung angesehen werden. Inwiefern aber hieraus eine Abänderung für die Methode historischer Forschung sich ergeben soll, ist nicht zu sehen. Denn hier gelten dieselben Gesetze, die für das Erkennen historischer Persönlichkeiten überhaupt gelten. Nur wenn man die Vorstellung hat, dass die christliche Religion auf einer unfehlbaren Urkunde als Buchreligion ruhe, wird man es selbstverständlich finden, dass hier die kritischen Untersuchungen und die Prüfung der Quellen der Geschichte wegfallen müssen. Allein diese Ansicht ist selbst eine dogmatische, die später aufgetreten ist, als die Entstehung der Schriften. Man kann aber die Geschichte nicht dogmatisch meistern. Wenn man sagt, dass die Erkenntnis der Geschichte des Christenthums sich nur dem Glauben erschliesse und deshalb von einer gläubigen Geschichtsforschung oder Kritik redet, so verwechselt man auch hier das Urtheil über den historischen Thatbestand und das Werthurtheil. Es muss möglich sein, historisch festzustellen, was z. B. Buddha gewollt hat, ohne dass man Buddhist ist; ebenso muss man historisch feststellen können, soweit es die Quellen erlauben, was Christus und die Urzeit gewollt hat, ohne dass man über diesen Inhalt ein W e r t h u r t h e i l fällt. Man hat freilich auch die historische Forschung in die Apologetik hineingezogen, indem man die Glaubensthatsachen als historische zu beweisen sucht. Indess ist hier ein Irrthum. Das Christenthum ist keine Religion, deren Bestand von einzelnen Thatsachen oder deren Deutung abhängt, da sein Princip ewig ist und seine erste Erscheinungsform eben eine zeitliche Erscheinungsform dieses Princips ist. Wenn man geschichtliche Apologetik treiben will, so bezieht sich diese höchstens auf das Werthurtheil über geschichtliche Erscheinungen. Damit hat die Geschichtsforschung

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Die Methode der historischen Theologie.

nichts zu thun. Sie hat nur die Aufgabe, die Thatsachen zu eruiren und die einzelnen Erscheinungen in ihrem Zusammenhang zu verstehen. Die Meinung, dass, um dies zu leisten, die Geschichtsforschung in der Theologie andere Methoden als alle Geschichtsforschung anzuwenden hätte, ist ein grosser Irrthum. Wollte man einwenden, dass die religiöse Werthung der Geschichte doch eine nicht abzuweisende Aufgabe der Theologie 6ei, so ist sie jedenfalls nicht die Aufgabe der historischen Theologie. Die religiöse Werthung der Geschichte ist entweder völlig subjectiv oder Parteisache, d. h. Sache einer Kirchenpartei, oder sie muss wieder von allgemeineren Principien, einem allgemein gültigen Massstab, dem I d e a l der Religion aus geschehen, um auf Allgemeingültigkeit Anspruch machen zu können. In k e i n e m Falle aber kann diese religiöse W e r t h u n g die Geschichtsforschung selbst, die Feststellung der Thatsachen und ihres Zusammenhangs beeinflussen. Eine „gläubige" Geschichtsforschung ist meist im Sinne einer bestimmten Gläubigkeit parteiisch und gänzlich ausser Stande, den historischen Grössen wirklich gerecht zu werden. Dieser Grundsatz, dass die theologische Geschichtsforschung keine andere Methode beanspruchen kann als alle Geschichtsforschung, ist auf die gesammte Geschichte des Christenthums gleichmässig anzuwenden, auf das Urchristenthum wie die späteren Zeiten, auf die Lehrgeschichte wie die Geschichte des christlichen Lebens. Ueberall hat sich der Historiker nicht nur von dem Standpunkt der eigenen Kirchenpartei unabhängig zu machen und nur zu erforschen, was die Tendenz der Haupterscheinungen des Christenthums ist, sondern er muss auch von besonderen religiösen Voraussetzungen, der Unfehlbarkeit der Schrifturkunden, dem kritiklosen Festhalten der urchristlichen Ueberlieferung sich frei halten. Dagegen erfordert die Unbefangenheit nicht, dass man im Einzelforschen stecken bleibt und es ablehnt, die Geschichte des Christenthums in ihrem Zusammenhange zu erfassen. Um das zu können, wird man nicht nur die verschiedenen Er-

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Scheidungen in ihrem Aufeinanderwirken betrachten, sondern die Einzelerscheinungen als Formen des Wesens des Christenthums zu verstehen suchen. Um aber das Wesentliche des Christenthums zu erkennen, darf man nicht bloss das allen Richtungen Gemeinsame herausheben; denn es kann auch Unbedeutendes Allen gemeinsam sein. Sondern man muss das allen Richtungen gemeinsame Princip heraussuchen, und das kann man nicht bloss durch Vergleichung der verschiedenen Richtungen des Christenthums, sondern erst völlig durch Hinzufügung der Vergleichung des Christenthums mit anderen Religionen herausfinden. Denn eben durch das Letztere wird erst deutlich, was im Christenthum das S p e z i f i s c h e ist, und was es mit anderen Religionen gemein hat; z. B. die Vorstellung, dass es eine geoifenbarte Religion sei, ist nichts spezifisch Christliches. Um das Wesentliche herauszufinden, kommt hier die oben berührte intellectuelle Anschauung in Betracht, welche das Allgemeine, Principielle im Einzelnen erschaut. Uebrigens ist auch wohl nicht in Abrede zu stellen, dass die intellectuelle Anschauung, überhaupt die historische Untersuchung hier durch die religionsphilosophische oder speculative Betrachtung ergänzt wird, welcher die allgemeinen Gesichtspunkte zu entnehmen sind, nach denen man die verschiedenen Arten der Religionen unterscheiden kann. Das ist nicht so gemeint, als ob die Geschichte aus diesen allgemeinen Gesichtspunkten heraus construirt werden könnte oder sollte, sondern nur so, dass die empirischen Thatsachen durch das Princip des Christenthums als eine zusammenhängende Entwickelungsreihe begriffen werden können, welche verschiedene Erscheinungsformen dieses Princips darstellt, ohne dass natürlich diese Einzelerscheinungen irgendwie anders als sie sind aufgefasst und gedeutet werden. Wenn also dieses Princip nur zugleich speculativ erkannt werden kann, so kann die Richtigkeit dieser Erkenntniss doch wiederum nur dadurch sich erweisen, dass die verschiedenen Erscheinungsformen u n g e z w u n g e n als Modifi-

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cationen desselben verstanden werden können. Es wird gerade hier sich die Combination des Historischen mit dem Speculativen darin zeigen, dass man einmal den historischen concreten Formen gerecht wird, indem man sich objectiv ihrem Eindruck hingiebt, sie objectiv zu verstehen sucht, indem man ihre concreten Eigentümlichkeiten in dem gegebenen Zusammenhang der zeitlichen und räumlichen, sowie der individuellen Verhältnisse zu begreifen sucht, und dass man doch über diesem Verständniss der concreten gegebenen Erscheinung ihre Stellung in der Gesammtentwickelung des Christenthums nicht übersieht und sie als eine besondere Erscheinungsform des allgemeinen christlichen Princips betrachtet. Diese Ansicht steht sowohl der gegenüber, welche den geschichtlichen Process nur auf allmähliche Uebergänge reduciren will und überall nur allmähliche Veränderungen sieht, ohne den Zusammenhang der Entwickelung des Christenthums aus dem christlichen Princip zu begreifen, die das Christenthum nur als eine beständig sich verändernde Grösse auffasst, ohne sich um den ihr zu Grunde liegenden einheitlichen Kern zu kümmern, als auch der, welche nur in einer bestimmten historischen Zeit, z. B. der Urzeit das wahre Christenthum zu sehen glaubt und die nachfolgende Entwickelung nur danach beurtheilt, ob sie dem Massstab der Urzeit genügt oder nicht, also dieselbe, sofern sie über die Urzeit hinausgeht, als Verfallsperiode ansieht, die erst wieder mit der bewussten Anlehnung an die Urzeit aufhört. Während die erste Ansicht über der Fülle des Stoffs im Einzelnen stecken bleibt und die Entwickelung des christlichen Princips nicht erkennt, wie es sich unter den verschiedenen Bedingungen ausgestaltet hat und zu immer kräftigerer, umfassenderer, reicherer Darstellung durch manche Einseitigkeiten hindurch gekommen ist, so vermag die zweite Ansicht dem Unterschiede der Zeiten, der zeitlichen Bedingungen und Entwickelungsformen nicht gerecht zu werden, indem sie in abstracter Weise Eine Form für die absolute erklärt, die anderen

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Die Methode der historischen Theologie.

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dagegen als Abfall von dieser absoluten Form. Man wird vielmehr auch in der historischen Erforschung des Christenthums die empirische Methode exacter Erforschung des Concreten mit der teleologischen, welche die der Entwickelung des Christenthums zu Grunde liegende Idee ins Auge fasst, combiniren müssen. Dagegen ist es nicht nöthig, die Methode deshalb zu ändern, weil die Quellen hier als feste Auctoritäten anzuerkennen seien. Denn die historische Zuverlässigkeit dieser Auctoritäten ist eben zu prüfen. Die Exactheit der Forschung nuiss hier ebenso zur Geltung kommen wie überall in der Geschichte, und das ideale Moment desgleichen. An der Forderung, dass das religiöse Gebiet besondere Modifícationen der Methode mit sich bringe, ist nur soviel berechtigt, dass man dem r e l i g i ö s e n Standpunkt der historischen Gestalten o b j c c t i v gerecht werde. Hingegen kann man nicht verlangen, dass man selbst den religiösen Standpunkt der Erscheinungen theile, die man verstehen will. Es genügt, und das wird allerdings verlangt werden müssen, dass man sich gänzlich in den religiösen Standpunkt und die Lage der historischen Persönlichkeiten einlebe, die man verstehen will, und von dem subjectiven Werthurtheile zu Gunsten des historischen Verständnisses abstrahire. Ob wir den religiösen Standpunkt einer historischen Persönlichkeit theilen oder nicht, kann für die Geschichtsbetrachtung nicht in Betracht kommen. Weder polemische noch apologetische Interessen können hier Platz greifen. Man muss auch bei abweichendem persönlichen Standpunkt die historische Persönlichkeit aus sich selbst in ihrer Zeit zu verstehen suchen. Es ist freilich wahr, dass zu d i e s e m Verständniss nur der sich aufschwingen kann, der in dem Gebiet der Religionsforschung einigermassen zu Hause ist und Studien gemacht hat, um die Eigenart des religiösen Lebens im Unterschiede von anderen Gebieten zu kennen. Aber sowenig der, welcher die Literaturgeschichte erforscht, selbst Dichter zu sein braucht, sondern nur die dichterische Art

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§ 7. Die Hethode der historischen Theologie.

verstehen muss, sowenig braucht der Forscher im theologischen Gebiet mehr zu besitzen als die Fähigkeit, die Eigenart des religiösen Lebens zu verstehen, die er dadurch erreicht, dass er sich ganz an die Gestalten hingiebt, die er erforscht. Die Fähigkeit, sich in Andere hineinzuversetzen und zugleich grosse Zusammenhänge zu überschauen, das Einzelne im Zusammenhange zu erfassen und doch auch für sich exact zu fixiren, den feinen Nuancen des religiösen Leben nachzugehen und sie nachzufühlen oder die religiösen Gedanken nachzuconstruiren, kurz eine gewisse Congenialität mit dem Objecto des Forschens ist die Grundbedingung für das Gelingen. Aber diese Congenialität ist noch nicht identisch mit „Glauben", d. h. mit dem Anerkennen der gegebenen historischen Erscheinung als einer wahren, durchweg mustergültigen, da im Gegentheil das „Glauben" eher den Forscher in einem bestimmten Standpunkt befangen erhält, von dem er in seiner historischen Forschung absehen muss, da er sonst geneigt wird, entweder das historische Object im Sinne seines eigenen Glaubens zu deuten oder dasselbe von seinem Glaubensstandpunkt aus zu werthen, statt es historisch in s e i n e r Zeit zu würdigen und zu verstehen. In der religiösen Geschichte ist das nun aber schwieriger als in anderen Gebieten. Denn weDn es auch schon im politischen Gebiete schwer ist, von Parteirücksichten und Vorliebe in der historischen Forschung sich frei zu halten, so ist das in der Geschichte der eigenen Religion doppelt schwer. Denn das eigene Interesse an dem religiösen Object kann leicht der objectiven Erkenntniss hinderlich werden. Eben daher kann man auch der intellectuellen Anschauung für sich nicht völlig trauen, weil sie leicht subjectiv tingirt sein könnte, und muss sie durch exacte Controlle und durch a l l g e m e i n g ü l t i g e speculative Gesichtspunkte ergänzen, das Erste, um den historischen Thatbestand genau zu fixiren, das Zweite, um den Zusammenhang der geschichtlichen Entwickelung teleologisch zu begreifen. Dazu kommt, dass besonders in religiös aufgeregten Zeiten die Quellen meist trübe

§ 7.

Die Methode der historischen Theologie.

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fliessen und durch Parteinahme voreingenommen sind. Absichtliche Tendenz religiöser Richtungen macht ebenso häufig die Objectivität der Berichte verdächtig wie die unabsichtliche Phantasiethätigkeit, die z. B. die Vergangenheit der eigenen Religion, ihre Urzeit und ihren Stifter insbesondere in die denkbar günstigste, j a völlig überirdische Beleuchtung rückt, sodass die Thatsachen selbst zu eruiren viele Kritik und eindringende Mühe erfordert, die noch obendrein von den Frommen meist schlecht gelohnt wifd, weil ihre Phantasiegestalten in nüchterne historische Beleuchtung gestellt werden und dadurch vielfach von dem ihnen traditionell angedichteten Nimbus einbüssen. Wie schwierig ist es da, in diesem Phantasiegarten Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden! Und doch muss die historische Forschung gerade hier in aller Schärfe vorgehen, selbst auf die Gefahr hin, den Nimbus der Tradition zu zerstören und ungläubig gescholten zu werden. Denn der geschichtlichen Erkenntniss kann es nicht auf Phantasiegestalten ankommen. Es ist allerdings nicht zu leugnen, dass an diesem Punkte die historische Theologie mit dem Glauben einer bestimmten Kirche, sofern zu ihm historische Dogmen gehören, in Collision kommen kann. Aber diese Collision lässt sich nicht dadurch beseitigen, dass man die Geschichte dogmatisirt, sondern nur dadurch, dass die dogmatischen Vorstellungen den gefestigten Resultaten der Geschichtsforschung gemäss umgestaltet werden. Will eine Kirche darauf nicht eingehen, so ist die Collision nicht zu lösen. Denn mag man immerhin zugeben, dass diese Kirche unter der scheinbar historischen Form phantasiemässig ihr religiöses Ideal anschaut, so wird das doch nicht dazu berechtigen, ein historisch nicht zutreffendes Bild von Zeiten und Personen als historische Wahrheit zu behandeln, weil es in Anschauungsform eine Wahrheit idealer Art enthalte. Eine Einheit zwischen der Phantasieanschauung und der historischen Forschung Hesse sich nur herstellen, wenn man sich solcher Anschauungsformen bedienen würde, die nicht z u g l e i c h

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§ 3.

Die Theile der exegetischen Theologie.

Anspruch auf Geschichtlichkeit machen, ohne diesen Anspruch rechtfertigen zu können. In der Gegenwart wird vielfach dieser Dualismus zwischen geschichtlicher Wissenschaft und religiöser Beurtheilung festgehalten. Man lässt der Geschichte kritische Freiheit und trennt von den Resultaten solcher Forschung die Art der concreten Anschauung religiöser Wahrheiten in scheinbar historischer Forin. Ebenso ist in der Gegenwart die Einzelforschung mit ihrer Exactheit ausserordentlich begünstigt, Kleinarbeit und Detailwissen herrscht vor. Weniger legt man Gewicht auf den Zusammenhang der Geschichte und auf die h i s t o r i s c h e Bedeutung einer Erscheinung. Man sammelt alle Einzelheiten einer Lebensgeschichte, vermag aber nicht die dieses Leben beherrschende Grundidee als solche zu erfassen und in diesem Lichte das Einzelne in seiner Bedeutung zu erkennen. So geht der Sinn für das, was wichtig und unwichtig ist, über der Detailarbeit vielfach verloren, und es thut dringend noth, die inductivo Einzelforschung durch zusammenfassende Betrachtungen zu ergänzen, um so die einzelnen Thatsachen in ihrer h i s t o r i s c h e n Bedeutung im Zusammenhange der Entwickelung zu verstehen. 1. D i e e x e g e t i s c h e

Theologie.

§ 8. Die Theile der exegetischen Theologie. In der exegetischen Theologie handelt es sich um die historische Erkenntniss des Urchristenthums. Wenn man den Theil der historischen Theologie, der sich mit dem Urchristenthum beschäftigt, als exegetische Theologie bezeichnet, so hat das seinen Grund darin, dass man als die Grundlage dieses Theils die Interpretation des Kanon ansieht, den man als die Urkunde über das Urchristenthum betrachtet. Dass der Kanon im praktisch-kirchlichen Interesse noch eine andere, nämlich dogmatische Werthung erfährt, dass man nach ihm das Christliche über-

§ 8.

Die Theile der exegetischen Theologie.

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haupt bemessen will, kann für die Erforschung der Geschichte ausser Betracht bleiben. Um nun die Quellen historisch zu nützen, ist zweierlei nöthig: einmal müssen sie allseitig untersucht, geprüft, wenn verdorben womöglich emendirt, sodann müssen sie interpretirt werden. Es handelt sich hier also um zwei methodische Disciplinen, die H e r m e n e u t i k und die K r i t i k . Sehen wir auf das Ziel, welches sich die exegetische Theologie stecken muss, so ist dieses die völlige Kenntniss des Urchristenthums. Als HülfsWissenschaft wird hier die n e u t e s t a m e n t l i c h e Z e i t g e s c h i c h t e 1 ) die Aufgabe haben, alles das, was zum Verständniss der urchristlichen Zeit aus der gesammten Sphäre, innerhalb deren das Christenthum entstand, beigebracht werden kann, zusammenzufassen. Sodann wird, um über den gesammten Bestand der Literatur der Urzeit allseitig orientirt zu sein, eine L i t e r a t u r g e s c h i c h t e 2 ) des Urchristenthums nothweudig sein. Diese hat die Aufgabe, den gesammten Bestand der Literatur dieser Zeit durchzumustern, nicht auf ihr kanonisches Ansehen hin, ob mit Recht die einzelnen Schriften zum Kanon gehören, die ihm zugeschrieben sind, ob nicht andere Schriften ihm eventuell auch zugehören. Die Geschichte des Kanon gehört in die Kirchen- und Dogmengeschichte, hat aber in der Geschichte des Urchristenthums keine Stelle, weil es damals gar keinen Kanon gab. Ob eine Schrift h e u t e als kanonisch zu beurtheilen sei, ist eine dogmatische Frage, weil die Kriterien des Begriffs Kanon von der Dogmatik festgestellt werden. Die Frage, wie ') Vgl. die Werke von Schneckenburger, Hausrath, Schürer. Ueber Hellenismus J. Bernays gesammelte Abhandlungen. Siegfried über Philo. Langen, Das Judenthum in Palästina zur Zeit Christi. Wellhausen, Die Pharisäer und Sadducäer. Weber, System der altsynagogalen palästinensischen Theologie. 2 ) Die Arbeiten über Einleitung sind seit der Wirksamkeit von Baur in beständigem Flusse. Einleitungen von Hilgenfeld, B. Weiss, H. Holtzmann, Jülicher, Zahn, daneben die Arbeiten von Hilgenfeld, Weisse, Volckmar, Weizsäcker, Holsten, Pfleiderer, Loman, Steck, ebenso Ritsehl, altkatbolische Kirche, Harnack u. A.

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§ 8.

Die Tbeile der exegetischen Theologie.

der Kanon gebildet sei, nach welchen Grandsätzen die K i r c h e bei seiner Bildung verfahren sei, ist eine kirchen- and dogmengeschichtliche Frage. Die Literaturgeschichte hat nur die Aufgabe, die Schriften zusammenzustellen, welche geeignet sind, als Quellen über das Urchristenthum zu gelten und sie nach ihrer formalen Beschaffenheit hinsichtlich der örtlichen und zeitlichen Verhältnisse, hinsichtlich ihrer Verfasser, ihrer historischen Zuverlässigkeit, ihrer äusseren Schicksale zu beschreiben. Die Literaturgeschichte hat also in vollkommenerem Masse das zu leisten, was man der „Einleitung" zuschrieb. Die Einleitung war eine Disciplin, in der man die einleitenden Fragen zu jeder Schrift zusammenfasste, ohne dass irgend ein einheitlicher Begriff diese Disciplin fest abgegrenzt hätte. Was bei jeder e i n z e l n e n Schrift einleitend zu sagen war, wurde hier noch e i n m a l für alle übersichtlich zusammengestellt. Die Literaturgeschichte dagegen hat eine abgegrenzte Aufgabe; sie hat uns über die Literatur der urchristlichen Zeit nach ihrer eigentümlichen Beschaffenheit und über die einzelnen Producte dieser Literatur in ihrem Verhältniss zu einander eine Uebersicht zu geben, die verschiedenen Zweige dieser Literatur und den eigenthümlichen Charakter dieser Schriftstellerei zu kennzeichnen, wozu auch natürlich die Entscheidung darüber gehört, ob eine Schrift der urchristlichen Zeit zugehöre, die bisher dafür gegolten hat, eventuell auch ob eine solche, die nicht für urchristlich galt, weil nicht für kanonisch, nicht doch als Quelle für die Geschichte des Urchristenthums zu verwerthen ist. Dieser mehr formalen und äusserlichen Betrachtungsweise geht eine Disciplin parallel, welche auf Grund dieser Literaturkenntniss uns das Urchristenthum in seiner i n h a l t l i c h e n Bestimmtheit und in seiner Entwickelung zur Darstellung bringt. Auch hier kommt es darauf an, durchaus historisch diese Disciplin zu gestalten und gänzlich davon abzusehen, ob dieser Inhalt normativ sein soll oder nicht. Denn diese Rücksicht könnte leicht dazu führen, das Eindringen in den faktischen

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Die Tbeile der exegetischen Theologie.

Bestand durch vorgefasste Meinungen zu erschweren, wie z. B. schon die Thatsache der Entwickelung der urchristlichen Zeit ihren normativen Charakter bedeutend abschwächt, also die Neigung bestehen muss, um letzteren zu halten, erstere zu leugnen. D i e G e s c h i c h t e d e s U r c h r i s t e n t h u m s zerfällt wieder in zwei Disciplinen. Man kann die Geschichte des urchristlichen Lebens und die Geschichte des urchristlichen Bewusstseins, wie es sich in den urchristlichen Schriften darstellt, trennen. Das Letztere würde der Gegenstand n e u t e s t a m e n t l i c h e r T h e o l o g i e 1 ) sein. Es ist selbstverständlich, dass Beide mit einander in Beziehung stehen, daher es auch Werke giebt, die beide Seiten umfassen'). Die Geschichte des u r c h r i s t l i c h e n L e b e n s hat die Entwickelung des urchristlichen Gemeindelebens in Cultus, Sitte, Verfassung 3 ) ebenso zu beschreiben, wie die Bethätigung des Einzelnen in seinem religiösethischen Leben. Es würde verkehrt sein und dem historischen Thatbestaud nicht entsprechen, wenn man nicht gerade die Bedeutung des Einzelnen in der urchristlichen Zeit neben der Gemeindegestaltung zur Geltung brächte. Die n e u t e s t a m e n t l i c h e T h e o l o g i e hat es mit der Darstellung des Bewusstseinsinhalts des Urchristenthums zu thun, wie er in den urchristlichen Documenten vorliegt, mit der Darstellung der religiösethischen Lehre. Denn das ist ein charakteristisches Merkmal der christlichen Religion, ') Neutest. Theologie von Baur, Schmid, herausg. v. Weizsäcker, R. Weiss, Beyschlag 2. A. 1896, H. Holtzmann. 0 Weizsäcker, Das apostolische Zeitalter. Pfleiderer, Das Urchristenthum (Lipsius, Die apokryphen Apostelgeschichten). Lechler, Das apost. und nachapost. Zeitalter. Renan, Les apotres. Noesgen, Geschichte der neutest. Offenbarung. ') Rothe, Anfänge d. christl. Kirche u. ihrer Verfassung. Ueber die Verfassung Meyer-Heinrici Comment II Eor. 1890. Anhang. Vgl. auch Eeinrici's Abhandlungen in der Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie 1876, IV; 1877, I. Hatcb, Die Gesellschaftsverfassung der ehr. Kirchen im Alterthum. Weizsäcker, Paulus und die Gemeinde in Korinth, Jahrb. f. deutsche Theol. 1876 S. 604 f. Ritscbl, Entstehung der altkatholischen Kirche 2 A. D o r Ii e r, Encyklop. d. Theol.

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Die Tbeile der exegetischen Theologie.

in ihrem ersten Stadium ganz besonders, dass das religiöse und ethische Moment untrennbar verbunden ist. Man hat neuerdings den Versuch mehrfach gemacht, weil überhaupt die ethische Seite des Christenthums stärker hervorgehoben wird, die ethische Lehre auch im Urchristenthum gesondert darzustellen'). Allein der Erfolg scheint nur bis jetzt gezeigt zu haben, dass die Ausbildung der Lehre in der urchristlichen Zeit noch nicht in dem Masse fortgeschritten ist, dass man genügend Grund hätte, Beides auseinanderzuhalten. Im Gegentheil scheint gerade im Urchristenthum Ethisches und Glaubensbewusstsein so untrennbar verbunden, dass der neutestamentliche Ethiker alle Fragen, die die Darstellung des Glaubens angehen, ebenfalls mit behandeln muss und umgekehrt zum Ausdruck des Glaubens auch eo ipso die Ethik gehört. Es ist Beides noch nicht so auseinandergetreten, dass man es in einer w i r k l i c h h i s t o r i s c h e n Darstellung trennen könnte. Die biblische Theologie hat beides in Einheit darzustellen. Aber auch diese Darstellung des religiösethischen Bewusstseins muss h i s t o r i s c h e n Charakter tragen, d. h. man muss dieser Schriftstellerei gerecht werden, welche noch nicht — von einzelnen Partien einzelner Schriftsteller abgesehen — wirklich präcise Lehre in lehrhaftem Zusammenhange darstellt, sondern der Form nach eine mehr phantasieund gefühlsmässige Darstellung des christlichen Bewusstseins ist. Ebendaher muss man nicht von einer biblischen Dogmatik reden, die es nicht giebt, muss überhaupt nicht diesen Inhalt in fremde spätere dogmatische Schablonen pressen, sondern ganz aus sich selbst und aus dem Zeitbewusstsein verstehen und demgemäss darstellen, sodass in den Vordergrund tritt, was in jenem Bewusstsein hervortritt. Ebenso wird man den Differenzen der Schriftsteller unter einander gerecht werden müssen und zu fragen haben, in welchem Verhältniss sie zu einander stehen, ob nur verschiedene Individualitäten neben einander sich aus') Am umfassendsten die neutestamentl. Ethik von Jakoby.

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Die Tbeile der exegetischen Theologie.

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sprechen oder ob eine Entwickelung auch in der urchristlichen Zeitspanne zu constatiren ist, endlich wird man den Versuch machen, den g e m e i n s a m e n T y p u s des urchristlichen Bewusstseins in den mannigfaltigen Erscheinungsformen herauszufinden. Es ist noch eine Frage bei der Aufgabe der Darstellung des Urchristenthums in Rechnung zu nehmen, ob nämlich die bisher beschriebene Darstellung des Urchristenthums genügt, oder ob man die Geschichte desselben, z e i t l i c h angesehen, in zwei Disciplinen zu theilen hat, in die D a r s t e l l u n g d e r Ges c h i c h t e d e s S t i f t e r s d e r c h r i s t l i c h e n R e l i g i o n und in die des apostolischen Zeitalters. Ob man Christus selbst, sein Leben oder seine Lehre oder sein Selbstbewusstsein oder dies Alles zusammen zum Gegenstand einer besonderen Disciplin machen soll, diese Frage ist bis in die neueste Zeit verschieden beantwortet worden. Diejenigen, welche eine dogmatische Vorstellung von der Gottheit Christi haben, die über das menschliche Maass hinausgeht, sind der Meinung, dass eine historische Forschung, welche in Christus eine Entwickelung, einen Wechsel seiner Ansichten und Achnliches constatiren würde, mit der dogmatischen Vorstellung von ihm collidiren müsste. Umgekehrt haben Andere gemeint, dass die Quellen nicht ausreichen, um ein wirkliches Leben Jesu zu geben, und dass man besser thäte, bei der Geschichte der Vorstellungen von ihm, wie sie sich in den Schriften des apostolischen Zeitalters wiederspiegeln, zu bleiben, was dann einen Theil der christlichen Lehre jener Zeit ausmachte. Dem gegenüber ist aber immer wieder der Versuch gemacht worden, ein L e b e n J e s u 1 ) zu Stande zu bringen, die Lehre Jesu zu fixiren, das Selbstbewusstsein Jesu nachzuconstruiren. So mannigfaltig und theilweise widersprechend diese ') Vgl. „Leben Jesu" von Strauss, Renan, Hase, Keim, B. Weiss, Beyschlag. Wen dt, Lehre Jesu. Grau, Selbstbewusstsein Jesu. Baldensperger, Das Selbstbewusstsein Jesu im Lichte der messianiscben Hoffnungen seiner Z e i t Barth, Hauptprobleme des Lebens Jesu. P. Schmidt, Die Geschichte Jesu, 2. A. 1899. 5*

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Versuche auch ausgefallen sind, so sind doch viele Theologen der Meinung, dass gerade die Klarstellung des historischen Bildes Christi auch die religiöse ethische Wirksamkeit des historischen Christus für die Gegenwart nur steigern könne. Diese letztere Frage, die ebenso dogmatisch ist wie die Meinung, dass Christus zu hoch stehe, als dass man sein Leben wie das eines anderen Menschen beschreiben könne, kommt für uns hier nicht in Betracht, wo es sich um das historische Forschen handelt. Für uns ist die Frage nur, ob die Quellen ausreichen, uns ein einigermassen zuverlässiges Bild von Christus zu geben. Diese Frage kann aber in der Encyklopadie nicht entschieden werden, da sie eine eingehende Prüfung der zur Verfügung stehenden Quellen voraussetzt. Wir können hier deshalb nur soviel sagen: Für Denjenigen, der mit den vorhandenen Quellen die Aufgabe des „ L e b e n s J e s u " lösen zu können glaubt, wird diese Disciplin von der tieschichte des a p o s t o l i s c h e n Z e i t a l t e r s (welche die G e s c h i c h t e des u r c h r i s t l i c h e n L e b e n s und der u r c h r i s t l i c h e n Bewusstseinsdarstellung umfasst) unterschieden werden müssen. Wird aber diese Disciplin abgesondert, so gilt hier ganz besonders das, was oben über geschichtliche Methode gesagt ist, dass es durchaus nicht genügen kann, alle Einzelheiten und Aeusserlichkeiten dieser Geschichte Jesu mit Virtuosität zu behandeln, sondern dass es vor Allem darauf ankommt, ein klares Bild von dem centralen Wesen dieser Persönlichkeit zu gewinnen, welches seine einzelnen Handlungen und Aeusserungen — natürlich unter Berücksichtigung der jeweiligen Umgebung — erst völlig begreiflich macht. Jedenfalls wird aber gerade hier kritische Vorsicht auch insofern am Platze sein, als das neue Testament selbst eine Entwickelung der Christologie, eine Steigerung der Aussagen über Christus aufweist, also die Aufgabe besteht, die ursprüngliche Schicht von den späteren Schichten abzugrenzen. Die Schwierigkeit einer objectiven Forschung wird dadurch vermehrt, dass Christus Gegenstand des Glaubens ist, und jeder kritische Versuch seine

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Die Methode der exegetischen Theologie.

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historische Persönlichkeit von dem Idealbilde des Glaubens zu unterscheiden und in ihrer concreten Geschichtlichkeit in ihrer Zeit und Umgebung zu erfassen von dem Glauben als verdächtig, ungläubig angesehen wird. Indess zeigt ein Blick auf die geschichtliche Entwickelung, dass das Bild von Christus in den verschiedenen Zeiten verschieden gestaltet und idealisirt worden ist, und dass eine »von dogmatischen und Glaubensinteressen unabhängige methodische Forschung allein dahin führen kann, uns über den historischen Charakter Jesu und sein Leben aufzuklären. Hiermit ist der Umkreis der i n h a l t l i c h e n exegetischen Disciplinen umschrieben. Abgesehen von der Hülfswissenschaft der neutestamentlichen Zeitgeschichte') ist die Exegese die Grundlage, deren Zweck ist, die Schriftsteller der urchristlichen Zeit verständlich zu machen. Hieran schliesst sich eine kritische Literaturgeschichte, d. h. eine Geschichte des neutestamentlichen Schriftthums, und eine Geschichte des Urchristenthums nach Seiten des Lebens und der Lehre, die in eine Geschichte Jesu und eine Geschichte des apostolischen Zeitalters mit ihren beiden Zweigen der Geschichte des religiössittlichen Lebens und der religiösethischen Lehre (neutestamentlicher Theologie) zerfallt. Es erübrigt nun noch, die methodische Seite der exegetischen Theologie etwas genauer zu betrachten.

§ 9. Die Methode der exegetischen Theologie. Hermenentik und Kritik. Hermeneutik und Kritik sind natürlich die Voraussetzung für das Verständniss und die Beurtheilung historischer Dokumente überhaupt; besonders davon zu reden, ist aber gerade bei ') Dass die Geschichte des Judenthums und die allgemeine Religionsgeschichte die Vorbedingung für ein volles Verständniss des Christenthums, insbesondere auch des Urchristenthums sei, ist schon gesagt.

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Die Methode der exegetischen Theologie,

der exegetischen Theologie Veranlassung, weil die Interpretation und die Kritik neutestamentlicher Schriften besondere Schwierigkeiten bietet. Was zunächst die H e r m e n e u t i k 1 ) angeht, so ist schon die Sprache des neuen Testamentes schwierig, theils weil das Griechische des neuen Testamentes theilweise hebräisirend ist, jedenfalls einem eigenthümlichen Dialect angehört. Das Lexikalische wie die Syntax ist hier modificirt. Der Wortschatz der neutestamentlichen Schriften ist dadurch charakterisirt, dass oft ein neuer Inhalt in Worten ausgedrückt wird, welche traditionell einen anderen Sinn haben. Dadurch kommt häufig in dieAusdrucksweise etwas Unbestimmtes, und man muss fragen, ob an einer Stelle der alte oder der neue Sinn des Wortes gilt. Ueberhaupt aber ist die Schriftstellerei des neuen Testamentes meist nicht von Männern vollzogen, welche auf präcise Ausdrucksweise, vollends wissenschaftliche Präcision ausgehen. Die Denkweise ist mehr in den phantasiemässigen und populären Formen zum Ausdruck gebracht, auch die Gedanken selbst sind oft mehr symbolischer Natur; in Gleichnissen wird oft geredet; all dás erschwert die Interpretation nicht bloss einzelner Worte, die man je nach dem Zusammenhang verschieden deuten muss, sondern auch ganze Sätze bieten hier besondere Aufgaben. Man hat von grossen Dichtwerken gesagt, dass sie mehr enthalten, als der Dichter bewusst zum Ausdruck gebracht hat. Aehnliches Hesse sich vielleicht auch von mancher neutestamentlichen Stelle sagen. Die Interpretation hat hier freilich zunächst immer die Aufgabe, auf das zu sehen, was der Schriftsteller gewollt hat, und nicht auf das, was sich auch noch nebenbei an Beziehungen auftreiben Hesse. Aber das wird im neuen Testament nicht immer leicht sein herauszubringen. Man hat in dieser Hinsicht hervorgehoben, dass die grammatisch-historische Interl

) Ueber Hermeneutik vgl. die Hermeneutik und Kritik von Schleiermacher, auch Boeckh, Encyklopädie u. Methodologie der philologischen Wissenschaften 2. A., S. 79 f., 169 f., Hermeneutik von Immer, Hofmann, herausg. v. Volck. Farrar, history of the interpretation 1886.

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pretation auf einen einfachen Schriftsinn aaszugehen habe, und hat demgemäss die frühere Vorstellung von einem mehrfachen Schriftsinn ausgeschlossen. Diese letztere Meinung stützte sich offenbar auf den Gedanken, dass die Schrift das Werk des heiligen Geistes selbst sei und deshalb jede Stelle eine tiefere Bedeutung haben müsse, wobei vielleicht auch der Gedanke mitspielte, dass eine solche Schrift zugleich in mannigfachster Weise praktisch angewendet werden könne. Endlich aber — und das ist ein wesentliches Motiv dieser Theorie vom mehrfachen Schriftsinn — nöthigte zu dieser Annahme der Gedanke, dass der Schriftinhalt absolute Auctorität sei. Denn wenn man nicht ganz auf eigene Ansicht verzichten und doch die Auctorität anerkennen wollte, so interpretirte man einfach allegorisch in eine Stelle die eigene Meinung hinein. Ebenso konnte man auf diese Weise einander widersprechende Stellen auf das Beste in Einklang bringen. Wenn man in der neueren Zeit nur den einfachen Schriftsinn mit grammatisch historischer Interpretation anerkannte, so setzte das voraus, dass man eine Collision zwischen der Schrift und der eigenen Ansicht nicht fürchtete, sei es, weil man bereit war, sich der Schrift unbedingt zu unterwerfen, sei es, weil man sich nicht scheute, von ihr abzuweichen. Jedenfalls ist diese Ansicht von dem einfachen Schriftsinn insofern berechtigt, als man doch für gewöhnlich zunächst annehmen muss, dass der betreffende Schriftsteller jedesmal einen bestimmten Gedanken hat aussprechen wollen. Allein die bloss grammatisch-historische Interpretation genügt doch nicht völlig. Denn wenn man auch den Sprachsinn von etwaigen Zweideutigkeiten durch Rücksicht auf den Zusammenhang, durch Zuziehung paralleler Stellen bei demselben Schriftsteller, durch Berücksichtigung aller in Frage kommenden historischen Verhältnisse zu eruiren sucht, so hat man damit noch nicht die Schwierigkeiten beseitigt. In den einzelnen Sätzen, ebenso in der Combination der Sätze soll zwar die Logik massgebend sein, und man müsste unter historisch-grammatischer Interpretation

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§ 9. Die Methode der exegetischen Theologie.

eine solche verstehen, welche zugleich die logischen Gesetze zum Verständniss anwendet. Denn im Wesentlichen sollen doch die in der Schrift niedergelegten Gedanken logisch verstanden werden, wenn sie logisch gedacht sind. Denn eben hierauf ruht die Möglichkeit des Verständnisses, dass die Combination der Worte und Sätze nach logischen allgemeingültigen Gesetzen vor sich geht. Sollten Verstösse gegen die Logik vorkommen, so ist das Verständniss bedeutend erschwert. Die Methode, die in abstracto möglichen Interpretationen einer dunkleren Stelle dadurch bis auf eine einzuschränken, dass man die anderen für unmöglich erklärt, beruht hierauf. Allein die rein logische Interpretation genügt hier doch nicht. Wie die Sprache keineswegs bloss Organ logischer Gedanken, sondern auch Ausdruck der Phantasie und der Gefühle ist, so gilt von derjenigen religiösen Schriftstellerei, die nicht einen ganz besonders lehrhaften Charakter trägt, im vollsten Maasse, dass in ihr weit mehr als die formale Logik das Gefühl, die combinatorische Phantasie zur Geltung kommt. Wollte man nur logisch interpretiren, so würde man hier in den Sinn nicht eindringen. Daher hat Schleiermacher schon in seiner Hermeneutik darauf hingewiesen, dass das psychologische Verständniss in Betracht gezogen werden müsse. Dies tritt ganz besonders hervor, wenn es sich nicht mehr nur um einen einzelnen Satz, sondern um Combination von Sätzen und um ganze Partieen eines Schriftstückes handelt. Die Schriftsteller haben ihre Individualität und sind unter einander ungleich. Die Art religiöser Schriftstellerei bringt es vollends mit sich, dass gar nicht in derselben Weise ein bestimmter Plan durchgeführt wird, wie in wissenschaftlichen Werken. Wenn man hier nur den logischen Zusammenhang betont, so kommt man nicht zum Ziel. Man wird hier der psychologischen Eigentümlichkeit des religiösen Vorstellungsverlaufes, der Eigenthümlichkeit jedes einzelnen Schriftstellers gerecht werden müssen. Gerade hier ist die Gefahr einer willkürlichen Interpretation gross. Es kommt hier darauf an, dass

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man sich ganz objectiv an die Geistesart dieses betreffenden Schriftstellers versetzt und ihn aus ihm selbst heraus zu verstehen sucht. Das wird für den Interpreten nicht in allen Fällen gleich leicht sein. Es kann eine psychologische Congenialität mit einem Schriftsteller geben, die nicht jeder hat. Es ist z. B. nicht leicht, für den, der Paulus gut versteht, Johanneische Schriftstellerei gleich gut zu verstehen. Es ist hier ein psychologisches Imponderabile, das mit in Betracht kommt. Nur bei der grossesten Objectivität kann hier Missverstand vermieden werden. Besonders wichtig, aber nicht allein ausreichend ist das, was Rothe das quantitative Verständniss nennt, d. h. die Rücksichtnahme auf das Gewicht, welches eiuem Gedanken in dem ganzen Zusammenhang zukommt, welche Gefühlsnüancen, welche Anschauungen den Mittelpunkt der schriftstellerischen Production bilden. Auch die Manier, in welcher in bestimmten Kreisen gedacht und geredet wird, ist zu beobachten. Es ist insbesondere deshalb schwer, ein objectives Verständniss zu erreichen, weil man absolut von dem eigenen Ideeenkreis, von dem, was man etwa zu lesen wünscht, absehen muss, indem man sich eben psychologisch in den Ideeenkreis des Schriftstellers hineinversetzt und so ein Gefühl dafür gewinnt, was der Verfasser kann sagen wollen und was seiner ganzen Art nach unwahrscheinlich ist. Die Exegese ist demgemäss eine Aufgabe, die nicht immer absolut exact gelöst werden kann. In der psychologischen Methode ist auch das Berechtigte davon enthalten, was man unter gläubiger Exegese versteht. Man hat gemeint, dass die Schrift, welche von dem heiligen Geist inspirirt sei, nur mit Hülfe desselben Geistes, den man nur im Glauben gewinne, verstanden werden könne. Indess wird man von einem Schriftsteller erwarten müssen, dass er sich so klar ausdrückt, dass man ihn mit der Kunst der Interpretation verstehen kann. Nur wenn übernatürliche Wahrheiten hier mitgetheilt wären, welche nur mit Hülfe übernatürlicher Inspiration zu verstehen wären, könnte es anders sein. Aber solche Ge-

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heimschriften wollen die christlichen Urschriften nicht sein. Man wird auch hier unterscheiden müssen, ob man den Inhalt einer Schrift werthet oder nur interpretirt. Um ihn zu verstehen, d. h. zu erkennen, was der Schriftsteller meint, gehört nur die Fähigkeit, sich in sein Denken, Fühlen, Anschauen zu versetzen, also ein solches Interesse an dem Inhalt, dass man sich demselben hingiebt und gänzlich in ihn sich hineinversetzt. Aber es gehört nicht dazu, dass man diesen Inhalt selbst für wahr hält, oder in jeder Hinsicht billigt. Die sogenannte gläubige Exegese bringt sehr häufig ein sehr mangelhaftes Verständniss zu Stande, weil man den Standpunkt des eigenen Glaubens und den des Schriftstellers zu identificiren geneigt ist. Gerade die Perioden gläubiger Exegese haben oft ihre Texte gründlich missverstanden, wenn man z. B. die Schrift als Norm für die Lehre ansah und aus einzelnen Stellen Beweise für eine Lehre herauslas, die Andere mit dem besten Willen nicht entdecken konnten. Um einen Schriftsteller richtig zu verstehen, muss man von dem subjectiven Standpunkt gänzlich absehen und bloss feststellen, was der Schriftsteller gemeint hat, sich aber, gerade weil man sich objectiv in ihn hineinversetzt, gänzlich des Urtheils darüber enthalten, ob das, was er sagt, richtig sei oder nicht. Die Einmischung des eigenen Standpunktes und Urtheiles ist der Tod jeder vernünftigen Interpretation. Fordert man, der Interpret müsse religiös sein, so ist das schon zu viel verlangt; er muss nur so viel Interesse für Religion haben und in der religiösen Schriftstellerei so zu Hause soin, dass er im Stande ist, sich in den Standpunkt eines religiösen Schriftstellers psychologisch zu versetzen. Die Exegese muss also grammatischhistorisch-psychologisch sein. Die Voraussetzung dieser Methode ist aber die Ansicht von der Schrift, dass sie als historisches Dokument des Urchristenthums zu beurtheilen und zu verstehen ist. Wenn man die Schrift als Glaubensnorm auffasst und ihr die Unfehlbarkeit der Hauptsache nach zuschreibt, so wird man in der Interpretation gehemmt sein, schon weil dann die Schrift

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Die Methode der exegetischen Theologie.

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leicht als Gin einheitliches Product des h. Geistes ohne alle individuelle Färbung angesehen wird. Dass sie dann schliesslich den Inhalt haben muss, welcher der in einer Kirche angenommenen Lehre entspricht, versteht sich f ü r den von selbst, für den die Schriftauctorität und die Kirchenauctorität zusammenstimmen müssen. Kurz, wenn die Schrift als ein extraordinäres Product des h. Geistes mit unfehlbarer Auctorität angesehen wird, dann ist die Interpretation nicht mehr die Interpretation einer historischen Urkunde, sondern eines a u t o r i t a t i v e n Schriftstücks, das nur mit Hülfe desselben Geistes verstanden werden kann, dem es entstammen soll. In diesem Sinne hat noch ein Beck in unseren Tagen pneumatische Interpretation aus der Voraussetzung gefordert, dass die Schrift im Wesentlichen ein einheitlicher inspirirter Organismus sei. Allein dieser ganze Standpunkt ist nicht historisch, sondern dogmatisch, wie denn auch Beck im Wesentlichen sein System in der Schrift fand. Man könnte einwenden, dass es ein völlig objectives Verständniss überhaupt nicht gebe, dass Jeder unwillkürlich von seinen Voraussetzungen aus interpretire, und dass wir selbst oben bemerkt haben, dass zum vollen Verständniss des Christenthums die Speculation nöthig sei. Allein die unwillkürlichen Einmischungen der Subjectivität in die Interpretation können doch dadurch eliminirt werden, dass die verschiedenen Interpreten einander in dieser Beziehung corrigiren. Was aber die Speculation angeht, so soll diese nicht in die Einzelforschung, namentlich nicht in die Exegese eingemischt werden, sondern sie kommt erst in Betracht, wenn man für die gesammte Geschichte des Christenthums das Princip aufsucht, das diese Mannigfaltigkeit zusammenhält. A n m e r k u n g . Uan hat es öfter als einen Vorzug auch der wissenschaftlichen Exegese angesehen, dass sie erbaulich sei. Das kann man aber nicht von ihr verlangen. Ihre Aufgabe ist nicht, zu erbauen, sondern den Inhalt des Urchristenthums klarzulegen. Wenn n e b e n b e i dieser Inhalt einen fesselnden und erbaulichen Eindruck macht, so ist das in dem inneren Werth desselben begründet. Aber das darf durchaus nicht die Tendenz der Exegese sein. Man kann vielmehr sagen, wenn die ganz ob-

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Di® Methode der exegetischen Theologie.

jective Interpretation zugleich einen grossen Eindruck hervorruft, so ist das ein Zeichen für den reichen Gehalt einer Schrift Aber mit dem Verständniss selbst hat das nichts zu thun. Würde man fordern, dass man die Schrift, um sie zu verstehen, als Offenbarung anerkennen müsse, so würde eine solche supernaturale Voraussetzung eher ein Hinderniss für das rechte Verständniss sein können. Hat doch auch die anfängliche Predigt nicht daraufhin Anklang gefunden, dass sie als Offenbarung anerkannt wurde, sondern dass ihr Inhalt z u n ä c h s t v e r s t a n d e n und erst dann gewerthet wurde. Der Inhalt einer Schrift muss ohne besondere dogmatische Voraussetzungen, wenn man nur die der Schrift zu Grunde liegenden örtlichen und zeitlichen Voraussetzungen, ihre Atmosphäre kennt, verstanden werden können; sonst würde die Schrift als eine unklare, uns nicht zugängliche bei Seite gelegt werden müssen. Uan wird eben streng die W e r t h u n g , die subjectiv ist, von dem objectiven Verständniss unterscheiden müssen. Die Reformation hat diesen Unterschied noch nicht gekannt und stellte den Besitz des Geistes als Forderung des wahren Verständnisses auf. Das religiöse Interesse und das historische Interesse ist aber zweierlei, und Beide dürfen nicht ohne Weiteres bei der historischen Forschung vermischt werden. Was die p r a k t i s c h e E x e g e s e angeht, so heisst sie mit Unrecht Exegese. Denn da handelt es sich darum, die Gedankeu eines Textes im erbaulichen Interesse für die Gegenwart zu verwenden. Soll diese Anwendung nicht willkürlich sein, so wird der Praktiker die historische Interpretation zu Grunde legen und aus dem historisch gegebenen Inhalt diejenigen Grundsätze herausheben, welche unter veränderten Umständen für die Gegenwart noch anwendbar sein sollen. Aber dessen muss er sich bewusst bleiben; sonst verdirbt er den Sinn für historisches Verständniss, für objectives Verständniss, der gerade auch in dem Volke sollte verbreitet werden. Zu auch

der

in

Hermeneutik

ihren

kommt

bescheidensten Formen

das neue Testament nicht für absolut hält und hält.

dass

Denn

man

dasselbe

nicht

Urtext

bis auf kann

Die

setzt voraus, unfehlbar

für

die

und inspirirt

unbedingte Auctorität con-

So lange man den biblischen

alttestamentliche Vocalisation

natürlich von Kritik

Kritik

dass m a n

w e n n Letzteres geschieht, so ist die Kritik

s e q u e n t e r w e i s e unberechtigt. hält,

Kritik1).

die

nicht

die Rede

für inspirirt sein.

Selbst

die Differenz der Lesarten müsste hier beseitigt werden, da der ') Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Boeck a. a. 0 . S. 169f.

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Die Methode der exegetischen Theologie.

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unfehlbar wirkende heilige Geist nur einen authentischen Text hervorbringen kann, wie etwa die Vulgata nach dem Urtheil der römischen Kirche die authentische Uebersetzung der Bibel ist. Aber auch da, wo zugegeben wird, dass die Schrift als kanonische Sammlung nicht absolut in der Zusammensetzung feststehe, in der sie kirchlich überliefert und seiner Zeit durch kirchliche Entscheidung festgesetzt ist, kann eine Kritik geübt werden, die für uns nicht in Betracht kommt, die Kritik, welche den kanonischen Werth einer Schrift an einem dogmatischen oder religiösen Maassstab messen will, wie das z. B. der Fall ist in Luthers Kritik. Denn darauf kommt es der historischen Theologie gar nicht an, über den kanonischen Werth oder den W e r t h einer Schrift zu entscheiden, da dieser nur durch einen über der Geschichte liegenden Maassstab gemessen werden könnte, wenn es überhaupt darauf ankommen sollte, einen Kanon zu haben, was eine Frage systematischer, nicht historischer Theologie ist. Die Kritik hat nur die Aufgabe, die historischen Dokumente nach jeder Hinsicht im Interesse der historischen Forschung zu prüfen. Dazu gehört, die Texte dieser Dokumente zu fixiren, sodann ihre Glaubwürdigkeit zu prüfen, verschiedene Nachrichten ihrem Werthe nach unter einander zu vergleichen, endlich auch die Berichte von den Thatsachen selbst darauf hin zu prüfen, ob man ihre Thatsächlichkeit festhalten kann und in welchem Sinne. Man unterscheidet hienach die niedere und die höhero Kritik. Die n i e d e r e K r i t i k 1 ) hat es mit der Feststellung der Texte und Dokumente zu thun. Da kommen die verschiedenen Textüberlieferungen der Codices mit ihren verschiedenen Lesarten in Betracht. Um die richtigen zu gewinnen, dazu bedarf es eines methodischen Vorgehens. Zunächst kommt es auf den Werth der Codices an, die man in Gruppen nach ihrem verschiedenen Ursprung theilen kann. Im Ganzen

') Ueber Textkritik: Ruegg, Die neutestamentliche Textkritik Lachmann. Westcott and Hort, the N. Test. Bd. 2.

seit

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§ 9-

Die Methode der exegetischen Theologie.

verdienen die älteren den Vorzug, wenn nicht im einzelnen Falle vielleicht ein besonderer Grund gegen die Lesart einer Stelle in älteren Codices vorliegt, der sie verdächtig macht. Wo der Text verdorben ist, wird man ihn durch Conjecturen wieder herzustellen suchen, die möglichst aus dem Geist und Sprachgebrauch des Schriftstellers heraus gemacht werden müssen. Wo Glossen in den Text aufgenommen sind, sind sie zu beseitigen. Man hat als Regel gelten lassen, dass gewöhnlich die schwerere Lesart zu bevorzugen sei. Jedenfalls wird aber die Beschaffenheit der Codices dabei entscheidend sein. Die h ö h e r e K r i t i k hat die Aufgabe, den historischen Werth der Schriften und Dokumente, sowie die Bezeugung der Thatsachen zu prüfen. Da kommt es zunächst darauf an, die Zeit und den Ort der Abfassung, die Verfasser der Schriften zu prüfen, wobei alle Zustände, die in der Schrift vorausgesetzt sind, die Geistesart der einzelnen Schriftstücke, die Beschaffenheit der Adressaten eines Briefes u. dgl. zu berücksichtigen sind. Ferner muss das Urtheil über den historischen Werth der Documente und über die Zuverlässigkeit ihrer Berichte sich daraus ergeben, ob sie einen Parteistandpunkt, eine Tendenz vertreten oder unbefangen sind u. dgl. Man kann hier die äussere und die innere Kritik unterscheiden. Die ä u s s e r e Kritik beschäftigt sich hauptsächlich mit der Beurtheilung der Aechtheit einer Schrift nach den äusseren Zeugnissen gleichzeitiger oder späterer Schriftsteller; diese genügt aber nicht, weil diese äusseren Zeugnisse sehr oft nicht zuverlässig sind. Die i n n e r e Kritik hat man nun freilich vielfach für sehr willkürlich und subjectiv gehalten. Allein das trifft meist nur da zu, wo das Urtheil ein subjectives ist, d. h. durch Wünsche oder vorgefasste Meinungen bestimmt ist, Werthurtheil über eine Schrift ist. Aber das kommt hier nicht in Betracht. Es handelt sich nur um innere Kriterien für die Aechtheit einer Schrift oder die Thatsächlichkeit eines Berichtes. Da ist der Sprachgebrauch, der Stil, die Art der Gedankenverbindung,

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die schriftstellerische Individualität massgebend. Je präciser man dies Alles erforscht hat, um so sicherer kann man sagen, ob eine fragliche Schrift die Kriterien der Aechtheit trägt. Dazu kommt die Frage, ob der Inhalt nicht solche Dinge enthält, welche auf eine spätere als die traditionell angenommene Abfassungszeit hinweisen, z. B. Thatsachen, die später geschehen sind, Ansichten, die erst zu einer späteren Zeit sich zeigen u. A. Aus diesen kritischen Untersuchungen ergiebt sich zuletzt auch noch die Kritik der berichteten Thatsachen, z. B. dass man eine Thatsache von der traditionellen Annahme der Bedeutung dieser Thatsache, z. B. die Thatsache des Todes Jesu von der Deutung des Todes Jesu, die selbst häufig als Thatsache genommen wird, unterscheidet, dass man die verschiedenen Quellen danach prüft, welche Stellung sie zu einer Thatsache einnehmen, ob sie unparteiisch sind oder nicht, welcher Quelle der Tradition sie angehören u. s. w. Auf diese Weise wird mit Hülfe der Kritik die historische Wahrheit immer mehr an den Tag gebracht. Die Bedeutung dieser Kritik ist natürlich nur die eines Mittels zur Eruirung der Thatsachen. Diesem Zweck entsprechend muss sie absolut unparteiisch nur mit der Tendenz geübt werden, die Thatsachen ans Licht zu bringen. Man hat von gläubiger und ungläubiger Kritik geredet und hat die Kritik ungläubig gescholten, wenn sie die traditionellen Annahmen nicht bestätigte, namentlich die Aechtheit bestimmter Schriften, die Thatsächlichkeitgewisser Heilsthatsachen anzweifelte. Man hat die Theologen je nach den Resultaten, die sie gewinnen, in positive und negative getheilt. Das Alles kann nur geschehen, wenn man die Theologie in den Dienst eines bestimmten kirchlichen Systems stellt. Denn die Kritik kann weder gläubig noch ungläubig sein, oder vielmehr sie ist in g e w i s s e m S i n n immer ungläubig, d. h. sie hat kein blindes und unbedingtes Vertrauen zu den Quellen. Sonst würde sie gar nicht dasein. Wenn der historische Thatbestand eruirt werden soll, kann die Kritik durch dogmatische Lehren und Positionen

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sich nicht aus dem Felde schlagen lassen. Es ist in der Theologie, sowohl der römischen als der protestantischen immer noch nicht allgemein anerkannt, dass das Dogma nicht die Geschichte corrigiren oder bestimmen kann, sondern das Dogma sich nach den gesicherten Resultaten historischer Forschung zu richten hat, wenn es sich überhaupt auf das geschichtliche Gebiet einlässt. Denn es ist unrichtig, dass das Yerständniss der Geschichte von dem Glauben abhänge, da das objective Verständniss und die Werthung des historischen wohl zu unterscheiden sind. So gut wir, ohne Buddhisten zu sein, die buddhistischen Quellen verstehen können, so gut können wir auch die urchristlichen Quellen verstehen, ohne ihren Inhalt subjectiv zu werthen. Die Frage kann nur sein: was hat dieser Schriftsteller gemeint und sind diese Thatsachen historisch haltbar? Diese Fragen sind an der Hand der sorgsam geprüften Quellen ohne alle Rücksicht darauf, welchen Werth für uns diese Ansichten oder Thatsachen haben, zu beantworten. Wenn der Glaube seinen Inhalt in der Schrift bestätigt findet, oder denselben aus ihr schöpft, so ist das ein ganz anderer Vorgang, der auf die historische Untersuchung keinen Einfluss ausüben darf. Uebrigens ist diese objective historische Forschung gerade deshalb auch für die Religion werthvoll, weil sie eine Fülle von Vorstellungen, die traditionell und auctoritativ geworden sind, erschüttert und das theologische Denken zwingt, d a s f ü r d e n G l a u b e n W e s e n t l i c h e v o n d e m U n w e s e n t l i c h e n zu u n t e r s c h e i d e n , insofern das historisch Strittige, nicht Feststellbare oder Unhaltbare auch für den Glauben nicht wesentlich sein kann, wenn er nicht mit Phantomen zu thun haben will.

§ 10. Die Disciplinen d. zweiten Abschnitts d. historischen Theologie, g l

2. D i e h i s t o r i s c h e T h e o l o g i e v o n d e r U r z e i t b i s auf die G e g e n w a r t .

§ 10. Die diesen Abschnitt betreffenden Disciplinen. Das Urchristenthum lässt sich nicht schroff von der weiteren Entwickelung trennen. Die Uebergänge von der neutestamentlichen Zeit zu den apostolischen Vätern sind oft unmerklich. Manche Schriften, die man zu den apostolischen Vätern zählt, tragen einen ähnlichen Charakter, wie manche Schriften des neuen Testamentes und dass die spätesten Schriften des Urchristenthums schon zu dem Typus der apostolischen Väter überleiten, wird man nicht leugnen können. Der vorliegende Stoff kann entweder so gegliedert werden, dass man ihn nach Epochen und Perioden eintheilt, wofür die Anhaltspunkte in den massgebenden Persönlichkeiten, welche typisch eine Epoche einleiten, und in den gemeinsamen Kennzeichen einer Periode gegeben sind, welche dieselbe charakterisiren. Man kann aber auch die Eintheilung nach den Hauptobjecten machen, die zur Verhandlung kommen. AVenn die Geschichte des Christenthuma beschrieben werden soll, so kann die Geschichte des c h r i s t l i c h e n L e b e n s , oder die G e s c h i c h t e d e s c h r i s t l i c h e n B e w u s s t s e i n s zur Darstellung gebracht werden. Das Erste wird gewöhnlich unter der Kirchengeschichte, das Zweite unter der Dogmengeschichte, der neuerdings die Geschichte der christlichen Ethik zugefügt wird, befasst. Man könnte nun entweder Kirchengeschichte, Dogmengeschichte, Geschichte der christlichen Ethik z u s a m m e n jedesmal epochen- und periodenweise darstellen, wobei man in einer allgemeinen Charakteristik zuerst den gemeinsamen Typus einer Zeit fixiren und ihn dann nach seinen einzelnen Erscheinungsformen im kirchlichen Leben, in der Lehre verfolgen und so ein einheitliches Bild von jeder Epoche und Periode geben würde. Oder man kann, was geD o r n c r , Kncyklop. d. Theol.

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8 2 § 10. Die Disciplinen d. zweiten Abschnitts d. historischen Theologie.

wohnlich geschieht, die Eirchengeschichte, Dogmengeschichte, Geschichte der Ethik vom Ende des Urchristenthums bis auf die Gegenwart gesondert darstellen. Die letztere Behandlungsweise würde sich der m o n o g r a p h i s c h e n nähern, die in diesem reichen Gebiete durch Theilung der Arbeit geübt wird, wenn die Entwickelung eines einzelnen Dogmas, oder eines Zweiges der Eirchengeschichte, z. B. der Mission, durch die Jahrhunderte bis zur Gegenwart verfolgt wird. Das Richtigste wäre vielleicht, wenn beide Behandlungsweisen neben einander hergingen, die eine, welche mehr die grossen Zusammenhänge der Gesammtentwickelung des christlichen Princips in den Epochen und Perioden durch alle Bethätigungen des christlichen Geistes hindurch in einheitlicher Uebersicht verfolgte und so am meisten dazu diente, die U e b e r s i c h t über die verschiedenen Erscheinungsformen des christlichen Princips zu gewinnen, und die andere, welche mehr in das Einzelne gehend sei es das Leben, sei es die Lehre für sich verfolgte, wobei natürlich auch für diese mehr monographischeu Darstellungen die Epochen und Perioden in Bezug auf die leitenden Principien des Lebens oder der Lehre charakterisirt werden müssten. Diese letztere Behandlungsweise insbesondere ist zu empfehlen, weil gegenüber der urchristlichen Zeit, in der die Functionen noch mehr vereint waren, nun das Auseinandergehen in eine grosse Mannigfaltigkeit der Functionen, eine präcisere Unterscheidung der Lehrfunction von dem Leben, eine eingehendere Ausgestaltung der einzelnen Lebenszweige, z. B. der Verfassung, eine präcisere mit wissenschaftlichen Mitteln betriebene Ausbildung der Lehre vollzogen wird. Was zunächst die E i r c h e n g e s c h i c h t e 1 ) angeht, so wird sie besser als die G e s c h i c h t e des c h r i s t l i c h e n L e b e n s be') Vgl. die Lehrbücher der Eirchengeschichte yon Hase, Kurtz, Möller, K. Müller, Sohm. Nippold, Handbuch der neuesten Kirchengeschichte, 4. A. Zeittafeln von Weingarten. Rothe's Kirchengeschichte ed. Weingarten. Vgl. auch die älteren grundgelehrten Werke von Schröckb, Gieseler, Neander.

§ 10. Die Disciplinen d. zweiten Abschnitts d. historischen Theologie.

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zeichnet. Denn wenn man meint, mit der Geschichte der Kirche, die übrigens zu einer Geschichte der Kirchen und kleineren Denominationen wird, den Lebensgehalt des Christenthums zu erschöpfen, so legt man auf die äussere Organisation ein ganz ungebührliches Gewicht. Eine römischkatholische Geschichtsschreibung würde Alles um die kirchliche Organisation gruppireu. Aber die Geschichte des Christenthums wird nicht richtig gezeichnet, wenn man Alles um die organisirte Kirche gruppirt. Am ehesten ginge es noch in der mittelalterlichen Periode; doch regten sich auch da gerade selbstständige Factoren, welche der officiellen Kirche sich nicht anschlössen. Man würde noch besser von der Geschichte des Reiches Gottes reden, weil dieses in Wahrheit die Entwickelung des gesammten christlichen Lebens umfasste; nur würde dazu auch die Entwickelung des Bewusstseins, wie es in der Lehre Ausdruck findet, gehören. Will man also sondern, so würde es besser sein von der „Geschichte des christlichen Lebens" zu reden. Man hat es dann ja immer in der Hand, in den jeder Periode und Epoche vorauszuschickenden allgemeinen Charakteristiken, die das Princip dieser Periode darzustellen haben, und in der Gruppirung der einzelnen Abtheilungen dieser Disciplin das jedesmal hervorzuheben, was den Mittelpunkt der Bewegung ausmacht, also auch, da wo die kirchliche Organisation das Alles Bestimmende ist, ihr diese Stellung zu geben, wie z. B. im Mittelalter. Die Geschichte des christlichen Lebens wird aber nicht nur die Kirche mit ihrer Verfassung und in ihrem Verhältniss zum Staate, die etwaigen Kirchenspaltungen zu schildern haben, womit man überdies keinen übermässig vortheilhaften Eindruck von der christlichen Geschichte gewinnen würde. Sondern man hätte neben der Geschichte des Cultus und der Sitte, die Erziehung und Mission, die Liebesthätigkeit in f r e i e r und organisirter Weise, ferner den umgestaltenden Einfluss des Christenthums auf das staatliche, sociale, culturelle, auf das persönliche insbesonderedasGemüthslebenzu berücksichtigen. Geradedieseletzten 6*

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§ 10. Die Disciplinen d. zweiten Abschnitts d. historischen Theologie.

Untersuchungen, welche es mit der Umgestaltung der Gesinnung, der Gemüths- und Phantasiewelt and mit den in dem politischen, socialen, überhaupt dem ethischen Leben durch den christlichen Einfluss meist still und unvermerkt vor sich gehenden Veränderungen zu thun haben, gehören zu den wichtigsten der ganzen Geschichte des christlichen Lebens. Dass für dieselben die Kenntniss der Profan-Geschichte, insbesondere auch der Culturgeschichte, nothwendig ist, wird man nicht in Abrede stellen können. Was sodann die D o g m e n g e s c h i c h t e 1 ) angeht, so habe ich in meiner Uogmengeschichte den Standpunkt vertreten, dass auch diese Bezeichnung zu einseitig kirchlich orientirt sei und dasjenige in den Mittelpunkt stelle, was wirklich Dogma geworden ist. J e mehr sich aber zeigt, dass das kirchliche Dogma nur einen Durchgangspunkt in der Entwickelung der christlichen Lehre darstellt, und dass auch in den Zeiten unbedingter Herrschaft des Dogmas doch das Bedeutendste nicht die formulirten Dogmen, die immer etwas Gerippeartiges an sich tragen, sondern die Versuche sind, die christliche Weltanschauung einheitlich mit den jeweiligen Mitteln auszugestalten, wird man statt des christlichen Dogmas die christliche Lehrentwickelung in den Mittelpunkt stellen. Die G e s c h i c h t e d i e s e r L e h r b i l d u n g e n wird aber alle Versuche, den Inhalt des Christenthums zu begreifen, klarlegen müssen und kann nur nebenbei — oder j e nachdem das Interesse an der kirchlichen Fixirung mehr oder weniger in den Vordergrund tritt, mehr oder weniger das Dogma mit in Rechnung ziehen. Es wird hier hauptsächlich darauf ankommen, die Versuche einer christlichen Weltanschauung seitens der Männer, die epochemachend gewesen sind, im Zusammenhang zu zeichnen, sowie über das Durchschnittsbewusstsein einer Periode, wie es sich in der Lehre darstellt, nicht etwa nach einer fertigen ') Dogmengeschichte von Neander, Hagenbach (Benrath); Baur, Schmid, Thomasius, F. Nitzscb, Harnack, Loofs; meine Dogmengeschichte.

§ 10. Die Disciplioen d. zweiten Abschnitts d. historischen Theologie.

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dogmatischen Schablone, sondern in einer solchen Anordnung des Stoffes zu berichten, wie sie der Bedeutung der einzelnen Lehrobjecte für das betreffende Zeitbewusstsein entspricht. Dass die Dogmen immer im Fluss geblieben sind, wenn man auf den gesaiijmten geschichtlichen Process sieht, wird sich nicht in Abrede stellen lassen. Es ist nicht so, dass ein fiir allemal die Trinitätslehre vom Nicaenoconstantinopolitanum, die Christologie vom C'halcedonense, die Gnadenlehre von Augustin u. s. w. festgesetzt wären. Vielmehr sind diese Lehren in beständiger Erörterung geblieben; die Gotteslehre hat im Mittelalter nach der Seite der Erfassung der göttlichen Subjectivität bedeutende Fortschritte gemacht, die Christologie ist in der neueren Zeit wieder in Fluss gekommen, besonders auch im Zusammenhang mit der streng historischen Forschung. Man wird auch bei der Entwickelung der Lehre die gesammte Geistesentwickelung, die wissenschaftliche Begriffsbilduug insbesondere, die Eigenthümlichkeit der verschiedenen Nationen, kurz, die zeitlichen Bedingungen, unter denen sie sich gestaltet, immer mit berücksichtigen müssen. Ebenso ist es durchaus selbstverständlich, dass man von der Vorliebe für die eigene Ansicht und den eigenen Standpunkt auch hier absieht und sich bemüht, jede Erscheinung aus sich selbst unter Zuziehung ihrer zeitlichen Bedingungen zu verstehen, sich in sie hineinzuversetzen, nicht aber sie von einem ihr fremden Standpunkt aus zu meistern. Der Protestantismus hat die Geschichtsauffassung von der Entwickelung des Christenthums gehabt, dass es seit der Urzeit verfallen und wiederherstellungsbedürftig geworden sei. Er hat die Urzeit als absolut normal hingestellt. Hierin lag aber nicht ein historisches, sondern ein religiöses oder dogmatisches Urtheil. Der Historiker kann nicht eine Zeit als absolut normal gegen andere Zeiten gelten lassen, sondern er muss sich bemühen, zu verstehen, wie die Erscheinungen geworden sind. Zunächst hat er nur das Thatsächliche zu eruiren und jeden Standpunkt in seiner Zeit zu fixiren. Wenn es sich aber um das Verständniss

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§ 10. Die Disciplinen d. zweiten Abschnitts d. historischen Theologie.

der gesammten Entwickelung des Christenthums handelt, so hat er das den verschiedenen Erscheinungsformen desselben immanente Princip aufzusuchen und die verschiedenen Erscheinungsformen als zeitlich bedingte Modificationen, concrete Ausgestaltungen dieses Princips anzusehen. Dass er die letzte Aufgabe nur mit Hülfe der Speculation vollenden kann, dass er bei dieser eine Anleihe machen muss, ist schon oben bemerkt worden. Jedenfalls wird sich die Annahme dieses christlichen Princips dadurch rechtfertigen müssen, dass es wirklich gelingt, die verschiedenen Phasen des Christenthums ohne Verdrehung der Thatsachen als bestimmte, zeitlich bedingte Erscheinungsformen dieses Princips zu verstehen. Die Geschichte des christlichen Bewusstseins in Lehrform hat man noch in eine Geschichte der Glaubens- und der Sittenlehre gespalten. Es entspricht die Selbstständigkeit der Geschichte der christlichen Ethik durchaus der Thatsache, dass die ethische Seite des Christenthums in der neueren Zeit sich weit energischer entfaltet hat und dass die Ethik selbstständig neben die Glaubenslehre getreten ist. An sich kann j a freilich auch die Geschichte der christlichen Lehre den ethischen Stoff mit in sich aufnehmen und nimmt auch thatsächlich viel ethischen E r k e n n t n i s s s t o f f in sich auf, wie die Geschichte des christlichen Lebens auch das christlich e t h i s c h e L e b e n geschichtlich betrachtet. Eine absolute Nothwendigkeit einer besonderen Geschichte der christlichen Ethik liegt also nicht vor. Indes kann man doch sagen, dass wie die Entwickelung des Christenthums überhaupt sich dadurch kennzeichnet, dass das, was im Anfang noch mehr ungeschieden ist, sich in der reicheren concreten Ausgestaltung des christlichen Princips mehr von einander sondert, so auch das ethische Moment in fortschreitendem Masse in der christlichen Geschichte selbstständige Bedeutung gewinnt, je mehr sich das Christenthum mit der weltlichen Ethik und ihren Gebilden auseinanderzusetzen hat. So kann man es denn nicht als unberechtigt ansehen, wenn sich d i e G e s c h i c h t e d e r

§ 11.

Die bistoriscbe Theologie als Schilderung der Gegenwart.

87

c h r i s t l i c h e n E t h i k abzweigt; n u r wird man darauf bestehen müssen, dass sie als Geschichte der ethischen Theorie theils mit der Geschichte des christlichen Lebens, besonders der ethischen Seite desselben, theils mit der Geschichte des christlichen Glaubensbewusstseins, wie es in der Lehre sich darstellt, theils mit der Geschichte der weltlichen Ethik in enger Fühlung bleibt.

3. D i e h i s t o r i s c h e T h e o l o g i e a l s S c h i l d e r u n g der Gegenwart.

§ 11. Die diesen Abschnitt betreffenden Disciplinen. Die gegenwärtige Beschaffenheit des Christenthums ist darzustellen in der c h r i s t l i c h e n C o n f e s s i o n s k u n d e 1 ) . Sie hat die Aufgabe, das gesammte gegenwärtige christliche Leben und die Aeusserungsformen des christlichen Bewusstseins in der Lehre mit möglichster historischer Objectivität zu zeichnen und so einen Ueberblick über das gesammte christliche Dasein der Gegenwart zu geben. W e n n diese Darstellung den Namen der Confessionskunde hat, so kommt das daher, weil die Christenheit in eine Reihe von Confessionen, d. h. kleinere Partialgemeinschaften gespalten ist, denen diese Darstellung objectiv gerecht werden muss, wozu aber noch die in den einzelnen Confessionen in der Gegenwart vorhandenen verschiedenen Strömungen im Leben und in der Lehre ebenfalls kommen müssen. Da dieses Gebiet ein sehr umfassendes ist, so empfiehlt sich auch hier die Theilung der Confessionskunde in eine D a r s t e l l u n g d e s c h r i s t l i c h e n L e b o n s d e r G e g e n w a r t in seinen mannigfachen Verzweigungen, womit es die S t a t i s t i k zu thun hätte, und der c h r i s t l i c h e n L e h r e in d e r G e g e n w a r t , wpmit es die Symbolik zu thun hat. Die S y m b o l i k 3 ) hat ursprünglich

eine andere Bedeutung

') Kattenbusch, Lehrbuch der vergleichenden Confessionskunde. ) Symbolik von Möhler, Öhler, H. Schmidt, E. F. Carl Möller, Gass,

J

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§11.

Die Symbolik.

gehabt. Sie ging aus der Polemik hervor und war zunächst eine Darstellung der eigenen Confession, wie sie sich in den Glaubenssymbolen festgelegt hatte, mit polemischem Charakter: dann wurde sie eine Vergleichung der verschiedenen Confessionen vom historischen Standpunkte aus, indem man die einzelnen Confessionen als „zufällige Erscheinungsformen" oder „individuell bestimmte Modificationen" des christlichen Princips ansah oder sie auch unter den Gesichtspunkt verschiedener Entwickelungsstufen des christlichen Princips stellte, welch Letzteres freilich eine Werthung ist, die über den historischen Charakter deshalb hinausgeht, weil hier ein Massstab der Werthung vorausgesetzt ist, der selbst nicht mehr historisch ist. So lange man überwiegend auf die Lehre sah, glaubte man im Wesentlichen die Confessionsunterschiede in der Lehre erschöpft zu haben. Aber durch Stäudlin, Marheinecke und Schleiermacher insbesondere ist die Forderung gestellt, der Symbolik die Statistik, die es mit dem Leben zu thun hat, zur Seite zu stellen. Die Aufgabe der Symbolik ist eine complicirte. Sie ist heutzutage jedenfalls zunächst als eine h i s t o r i s c h e Diseiplin anzusehen, die die gegenwärtige Lehre nach Seiten des Glaubens und der Ethik darzustellen hat. Da die Gegenwart aber nur im Zusammenhang mit der Vergangenheit völlig zu verstehen ist, so ist es die Aufgabe, diese Disciplin als den Ausläufer der Lehrgeschichte in der Gegenwart zu behandeln, die die Resultate der Gegenwart, welche der geschichtliche Process gezeitigt hat, zeichnen muss. Diese Gegenwart ist nun aber in Confessionen gespalten; da ist es also die Aufgabe diese Confessionen zu schildern. Je mehr man nun dieselben nur unter dem Gesichtspunkt betrachtet, dass sie o r g a n i s i r t e Symbolik der griechischen Kirche. Polemik von Hase, Tscliackert (mehr populär). Quellen: Hahn, Bibliothek dei Symbole. Schaff, Bibliotheca Symb. 3 Bde. Ausgaben d. symbol. Bücher d. luther. Kirche von Hase, J . T. Müller, der reformirten von Niemeyer, der römischen von Streitwolf und Klener, des Tridentinum von Richter, der griechischen von Kimmel und Weissenborn.

§11.

Die Symbolik

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Kircheogemeinschaften seien, um so mehr wird man auch hier nur das berücksichtigen, was officielle Lehre geworden ist, und sich auf die Documente beschränken, welche diese geltende Lehre darstellen, das heisst, auf die Bekenntnisse der verschiedenen Confessionen, die vielleicht in weit älterer Zeit abgefasst, noch officielle Geltung haben. Diese Methode würde aber hier noch weniger zum Ziele führen, als wenn man die Geschichte der christlichen Lehre zur Dogmengeschichte verengte. Mag es immerhin der Fall sein, dass bestimmte Lehren in manchen Kirchen fest fixirt sind und dass sie sich traditionell verfestigt, um nicht zu sagen versteinert haben, das ist jedenfalls nicht in allen Kirchen und in keiner absolut der Fall. Nicht das, was kirchlich „gilt", sondern was in dem Bewusstsein der Gegenwart wirklich l e b t , soll zur Darstellung kommen. Daher müssen insbesondere im Protestantismus, ebenso aber auch in geringerem Maasse in der griechischen Kirche, am wenigsten vielleicht in der römischen Kirche diejenigen Documente zugezogen werden, welche die gegenwärtigen Auffassungen des Christenthums am besten charakterisiren; das sind aber nicht die meistens früheren Zeiten angehörigen Bekenntnisse, überhaupt nicht nur die officiell kirchlichen Aeusserungen, die nur die augenblicklich das Uebergewicht habende oder wenigstens in der officiellen Vertretung der Kirche herrschende Meinung darstellen, sondern das ist die gesammte dogmatische und christlich-ethische Literatur der Gegenwart. Um ferner den verschiedenen confessionellen Typen gerecht zu werden, welche in modificirten concreten Gestalten in der Gegenwart vertreten sind, wird man versuchen müssen, das, was das charakteristische Wesen einer confessionellen Richtung ausmacht, die eigenthümliche p r i n c i p i e l l e Modification des christlichen Princips. die in einer Confession vorliegt, herauszuheben, um dann wieder die in dieser Confession in der Gegenwart vorhandenen verschiedenen Strömungen als Sondererscheinungen dieser principiellen Modification des christlichen Princips zu begreifen. Der Protestantismus insbesondere

90

§11.

Die Symbolik.

kann nicht als Eine kirchliche Confession oder als eine Samme von solchen,sondernmussals eine in mannigfachenindividuellenFormen der Lehre sich darlebende charakteristische R i c h t u n g des christlichen Princips angesehen werden, die gar nicht auf eine einheitliche Kirche hinsteuert, sondern die mannigfaltigsten, bald loser, bald straffer organisirten, bald grössere, bald kleinere Kreise umfassenden Gestalten annimmt. Nach alledem ist die Darstellung der christlichen Gegenwart zwar an die confessionellen Unterschiede gebunden; aber doch nur in dem Masse, als sie wirklich sich geltend machen, und zugleich unter Berücksichtigung der verschiedenen Richtungen in den Confessionen. Eine Symbolik dagegen, welche nur die officiell-kirchlichen Lehren vergliche, würde weder historisch sein, noch erschöpfend. Sie würde die abstracte Vorstellung von Kirchen bilden, welche eine Reihe von Lehren auctoritativ festhalten, und damit von der christlichen Religion und dem christlichen Bewusstsein der Gegenwart ein völlig falsches Bild geben. Unsere Disciplin hat aber rein historische Bedeutung;, sie soll deshalb auch die confessionellen Modificationen des Christenthums in der Gegenwart mit ihren verschiedenen Richtungen ebenso als Erscheinungsformen des christlichen Princips verstehen, wie die Geschichte der Vergangenheit die hauptsächlichen Lebens- und Lehrformen der Vergangenheit als Erscheinungsformen des christlichen Princips betrachtet. Diese Betrachtung soll sine ira et studio vollzogen werden. Gerade in der Gegenwart, wo die verschiedenen Confessionen im Streit sind, ist eine solche objective wissenschaftliche Betrachtung durchaus am Platze. Hier kommt es darauf an, dass man sich in die Eigenart eines jeden dieser Gebilde hineinversetze, um ein ganz objectives Bild von ihnen als Modificationen des christlichen Princips in der Gegenwart geben zu können. Man könnte fragen, ob die Symbolik nicht zu vergleichen hätte, und zwar nicht bloss in dem Sinne, dass sie die Verschiedenheiten cODstatirte und sie aus der verschiedenen Grund-

§ 11.

Die Symbolik.

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auffassang des allen gemeinsamen christlichen Princips verstünde, sondern auch in dem Sinne, dass sie diese verschiedenen Formen werthete. Sollte das Letztere auf wissenschaftliche Weise geschehen, so müsste man einen a l l g e m e i n a n e r k a n n t e n Masss t a b haben, nach dem man misst. Wenn es diesen gäbe, so würden die verschiedenen Formen in dem Masse werthvoller sein, als sie diesem Massstabe näher oder ferner stünden, wobei übrigens aber auch zu beachten bleibt, dass ein grosser Theil der Modificationen dem allgemein gültigen Werthurtheile sich entzöge, weil sie auf die Individualität zurückzuführen wären, man aber nicht sagen kann, dass die eine individuelle Form der anderen vorzuziehen sei — ohne selbst ein individuelles Urtheil zu fällen. Das Mass aber, an dem man messen müsste, könnte doch nichts anderes als das christliche Princip selbst sein. Nur insofern also, als man nachweisen könnte, dass das christliche Princip von einer Form consequenter, vollkommener, allseitiger, reiner dargestellt werde, könnte man ihr den Vorzug geben. Aber dieses Werthurtheil würde ü b e r das h i s t o r i s c h e G e b i e t h i n a u s g e h e n , und damit es nicht rein s u b j e c t i v e s Werthurtheil wäre, das schliesslich keinen allgemeinen Werth hat, müssto es von der Erkenntniss des Wesens des Christenthums bedingt sein, die nur auf speculative Weise allgemeingültig gewonnen werden kann. Auch die Frage, ob die Lehre zu bessern wäre und wie, könnte nur von diesem iibergeschichtlichen Massstabe aus so beantwortet werden, dass man für die gegebenen concreten Gestalten der Gegenwart fragte, wie unter diesen gegebenen Verhältnissen dieser Confession eine Verbesserung oder Fortschreitung möglich sei, was denn in das Gebiet der praktischen Theologie überführte, wovon unten. Wenn nun aber die verschiedenen Confessionen der Gegenwart mit ihren lehrhaften Darstellungen des Glaubensbewusstseins in der Symbolik zusammengefasst werden sollen, so ist dafür die Voraussetzung, dass solche lehrhafte Darstellungen in den einzelnen Confessionen vorhanden sind, und zwar, wie wir

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§11.

Die Dogmatik.

gesehen haben, nicht bloss in officiellen Bekenntnissen, sondern in Glaubenslehren, welche den verschiedenen Strömungen in den einzelnen Confessionen zugleich Ausdruck geben. Hier wird also im Interesse der historischen Betrachtung des gegenwärtigen christlichen Bewusstseins die D a r s t e l l u n g d e r G l a u b e n s l e h r e 1 ) der einzelnen Confessionen gefordert. Diese können nun aber ursprünglich doch nur die A n h ä n g e r der betreffenden Confession selbst geben. An diesem P u n k t e scheint also der objectiv historische Charakter der Theologie in einen confessionellen Typus der Theologie übergehen zu müssen, wodurch die Theologie einen confessionellen Charakter bekommen würde. Auf diese Schwierigkeit ist zu bemerken: Gewiss wird es in einer Confession immer sozusagen naive, unmittelbare Aeusserungen des confessionellen Typus geben. Aber so lange sie diesen naiven Typus tragen, sind es keine wissenschaftlichen Werke im strengen Sinne des Wortes. Es kann auch sein, dass das kirchliche Interesse solche Darstellungen fordert, die den eigenen confessionellen Standpunkt möglichst im kirchlichen Geiste der Partialkirche darstellen. Derartige Producte haben aber keinen streng wissenschaftlichen Charakter, weder historischen noch speculativen, sie sind nur ein mehr oder weniger präciser Ausdruck des kirchlichen oder subjectiven Empfindens, ] ) Meine Auffassung von der Glaubenslehre kommt am nächsten der Schleiermachers und Rothes Dogmatik. Kirchlich lutherisch: Kahnis, Philippi, Lutbardts Compendium. v. Oettingen, Hase's Huterus redivivus. Reformirt: Heppe, AI. Schweizer, Glaubenslehre der reformirten Kirche. AnSchleiermacher anschliessend AI. Schweizer, Christi. Glaubenslehre nach protestantischen Grundsätzen. Lipsius, Dogmatik. Speculativ: J . A. Dorner, Martensen, Weisse, Biedermann, 0 . Pfleiderer, Glaubens- und Sittenlehre. Biblisch: Hofmann, Schriftbeweis, Beck, Christi. Lehrwissenschaft. — Franck, System der christl. Gewissheit, System der christl. Wahrheit. Kahler, Wissenschaft der christl. Lehre. Ritsehl, Unterricht in der christl. Religiou. Kaftan, Dogmatik. Schultz, Grundriss der Dogmatik. F. Nitzsch, Lehrbuch der ev. Dogmatik, 2. A. Katholische Dogmatiker: Dieringer, Klee, Staudenmeier, speculative Theologie von Sengler; Günther, Leop. Schmid; jesuitisch Perrone, Praelectiones tlieol., nachvaticanisch Heinrich, Dogmatische Theologie.

§11.

Die Dogmatik.

93

in der Regel ohDe diejenige umfassende Bildung und Weite des Blicks, welche der wissenschaftliche Charakter fordern würde. Es muss daher gefordert werden, dass es auch gelinge, die e i g e n e Confession m i t den v e r s c h i e d e n e n S t r ö m u n g e n in i h r o b j e c t i v zu schildern, ihre Gegenwart h i s t o r i s c h zu beschreiben. Dazu gehört freilich eine grosse Objectivität. Wie wir aber von dem Symboliker verlangen, dass er sich nicht durch seinen confessionellen Standpunkt das Verständniss der anderen Confessionen verschliesst, so müssen wir auch von dem Schilderer der Glaubenslehre der eigenen Confession verlangen, dass er die Strömung, welche er selbst vertritt, mit derselben Objectivität wie die anderen Strömungen darstellt. J a es muss im Interesse wissenschaftlicher Erkenntniss des gegenwärtigen Christenthums gefordert werden, dass es eine Disciplin giebt, welche die G l a u b e n s l e h r e d e r e i g e n e n C o n f e s s i o n in i h r e r g e g e n w ä r t i g e n B e s c h a f f e n h e i t schildert, die v e r s c h i e d e n e n S t r ö m u n g e n als Erscheinungsformen des eigenen confessionellen Princips und zugleich als Resultat des geschichtlichen Processes zu begreifen sucht und ihrer Mannigfaltigkeit gerecht wird. Diese Disciplin ist nicht in dem Sinn confessionell, dass sie unwissenschaftlich wäre, da sie vielmehr nur den Zustand der eigenen Confession in der Gegenwart o b j e c t i v verstehen will. Sie trägt das Ihre zur Kenntniss des gesammteu gegenwärtigen Christenthums bei. Man kann diese Disciplin D o g m a t i k nennen. Die Dogmatik würde also formell angesehen ein Theil der Symbolik sein; aber sie würde doch zugleich insofern die Voraussetzung der Symbolik sein, als diese ohne die Kenntniss des Glaubensstandes der einzelnen Confessionen nicht zu Staude zu bringen ist. Allein man wird hier einwenden, eine derartig objective Theologie, die auch die eigene Confession, selbst den eigenen Standpunkt in dieser Confession nur als ein historisches Factum betrachte, löse doch im Grunde jede eigene Ueberzeugung auf. Ich kann hier nur mit J a und Nein antworten. Versteht m a n

94

§ 11. Die Dognjatik.

unter eigener Ueberzeugnng das unbedingte naive Festhalten an den ererbten confessionellen Traditionen, die man sich als eigene ohne alle Originalität aneignet, so ist allerdings nicht zu leugnen, dass die Theologie als Wissenschaft dazu da ist, einen solchen blinden Confessionalismus in seiner „Ueberzeugung" zu erschüttern. Versteht man unter eigener Ueberzeugung die mit eigener Denkarbeit errungene Ueberzeugung, welche immer zugleich ein eigentümliches Gepräge trägt, so wird man wohl schwerlich behaupten können, dass diese dadurch skeptisch behandelt wird, dass sie mit anderen Strömungen der eigenen Confession historisch als eine Erscheinungsform des Princips der eigenen Confession angesehen wird. Denn wenn b e i d i e s e n F o r m e n doch sehr in den concreten Ausgestaltungen das i n d i v i d u e l l e Princip mitspielt, so kann man, o h n e d i e eigene i n d i v i d u e l l e c o n f e s s i o n e l l e M o d i f i c a t i o n des christlichen Princips und die eigenen individuellen Nüancen der Glaubensdarstellung zu d e s a v o u i r e n , dochauch dieanderen aisgleichberechtigte individuelle Färbungen des christlichen Princips anerkennen. Soweit könnte also immer noch die rein historische Betrachtung der Darstellung des eigenen Glaubens reichen. Und wenn man auch diese verschiedenen Formen werthen wollte, so würde man immer noch sagen können: ich für meine Person halte zwar meine Ansicht für die m i r , d. h. meiner Individualität zusagende, erwarte dasselbe aber auch von den anderen Dogmatikern in Bezug auf ihre Ansicht. Erst wo die Frage gestellt würde, ob nicht die consequentere, vollere, reinere Darstellung des c o n f e s s i o n e l l e n Princips vor den anderen vorzuziehen sei, würde man allerdings den h i s t o r i s c h e n Boden verlassen und ein Werthurtheil fällen. Würde man unter den vorhandenen Strömungen der reineren Darstellung des conf e s s i o n e l l e n Princips den Vorzug geben oder selbst eine solche anstreben, so wäre das der Uebergang in die praktische Theologie. Ausserdem wäre aber zu erwägen, dass das confessionelle Princip selbst j a nur eine Erscheinungsform des christlichen Princips ist und der absolute Massstab gar nicht das

§11.

Die Dogmatik.

95

confessionelle, sondern nur das christliche Princip sein kann, wenn es sich um die Werthschätzung eines Standpunktes, auch dessen, den man selbst augenblicklich einnimmt, handelt. Dieses christliche Princip selbst aber ist als allgemeingültiges zugleich rationales Princip, und es ist erst die Frage, i n w i e w e i t man die z e i t l i c h und räumlich sowie individuell und durch historische Tradition bedingten Erscheinungsformen desselben überhaupt an dem a b s o l u t e n Charakter des Princips betheiligen kanD. Die Meinung, welche man früher hatte, dass die Dogmatik der eigenen Confession absolute Wahrheit sei und die anderen Formen unwahr, dass es schlechthin reine Lehre nur in der eigenen Confession gebe, diese Meinung ist ein für allemal unhaltbar geworden. Will man die Erkenntniss der Wahrheit als allgemeingültiger gewinnen, so muss man sich von den einzelnen empirischen Formen des Christenthums zu der Betrachtung seines allgemeingültigen Wesens erheben und dessen Inhalt als Wahrheit zu erkennen suchen. Das ist die Aufgabe der thetischen Theologie. Dagegen ist es uicht zu verlangen, dass Jemand den confessionellen Standpunkt der eigenen Confession, wie er sich in Glaubenslehren darstellt, als absolute Wahrheit oder als den absolut adäquaten Ausdruck des christlichen Princips ansehe, was schon deshalb nicht geht, weil er immer individuell und zeitlich bedingt ist. Dabei ist es ja durchaus natürlich, dass Jeder das seiner Individualität am meisten Zusagende für sich acceptire, ohne es deshalb für absolut zu erklären, sowenig er seine Individualität für die einzig Berechtigte ansehen kann. Dass man davon sehr wohl das Allgemeingültige, ewige Princip des Christenthums unterscheiden kann, ist doch wohl einleuchtend. So ist also auch ohne Skepsis g e g e n ü b e r d e r W a h r h e i t des a l l g e m e i n g ü l t i g e n c h r i s t l i c h e n P r i n c i p s eine objectiv historische Darstellung der Glaubenslehre der eigenen Confession in ihren verschiedenen Strömungen möglich, die ein Stück der Geschichte der Gegenwart ist. Man hat nun freilich vielfach die Glaubenslehre zugleich

96

§ 11. Die Dogmatik.

als eine speculative Wissenschaft hingestellt; man hat den historischen und speculativen Charakter in ihr verbunden, soviel ich sehe, zum Schaden beider. Denn indem man die eigene Ansicht zugleich als d i e Wahrheit und als historisch durch das Urchristenthum und die Bekenntnisse der eigenen Confession bestätigt darstellen wollte, wurde man weder der Speculation vollkommen gerecht, weil man vieles, was doch nur in der eigenen Confession oder gar nur für die eigene und ihr verwandte Individualitäten Geltung beanspruchen könnte, mit dem absoluten Charakter versah, noch der Geschichte gerecht, weil man vielfach den historischen Stoff umdeutete, um ihn dem speculativen Standpunkt anzunähern. Noch anders wurde die Dogmatik aufgefasst, wenn man ihr die Aufgabe stellte, die christliche Wahrheit in einer den praktischen Bedürfnissen angemessenen Form darzustellen. Da gab man ihren streng wissenschaftlichen Charakter überhaupt auf, indem man sich der sinnlich symbolischen phantasiemässigen Darstellungsweise der Praxis anschloss, um auf diese Weise den Kern der christlichen Wahrheit in einer dem Volksbedürfniss angepassten siunlichsymbolischeu Schale mitzutheilen. Wenn eine solche Disciplin überhaupt berechtigt ist, so gehört sie jedenfalls nicht in die streng wissenschaftliche Theologie, sondern hat nur praktische Abzweckung. Man könnte nun der Glaubenslehre und Symbolik, die zu einander gehören, noch die E t h i k zur Seite stellen wollen, d. h. die Darstellung sämmtlicher iu der gegenwärtigen Christenheit vorhandener ethischer Theorieen. Auch hier würde die Aufgabe bestehen, dieselben auf ihr Gemeinsames undi ihre Differenzen hin zu prüfen und sie ebenfalls als Erscheinungsformen der ethischen Seite des christlichen Princips zu beträchten. Würde die Ethik in diesem Sinne für sich behandelt, so wäre sie als das gegenwärtige Resultat der Entwickelung der christlichen Ethik das Ende der Geschichte der christlichen Ethik. Allein so würde es doch kaum angängig sein, sie zu

§11.

97

Die Statistik.

einer besonderen Disciplin zu machen, weil die Ethik

als be-

sondere Disciplin doch nicht damit erschöpft ist, nur die gegenwärtigen ethischen Ansichten zu die Anweisung giebt, wie nicht

als

bloss

Schilderung

man

historische

beschreiben,

sondern zugleich

handeln soll.

Die Ethik kann

Disciplin

der gegenwärtigen

aufgefasst

werden.

Die

ethischen Theorieen wird

also

entweder als der Schluss der Geschichte der Ethik zu behandeln sein, oder sie wird in die Symbolik und das ist

insofern natürlich,

mit aufgenommen werden

als das christliche Bewusstsein

immer zugleich ethisch bestimmt ist, ein völlig klares Bild von den Lehren

der verschiedenen Confessionen

vorhandenen ohne

Strömungen

dass auch

wird.

die

also

ethische

nicht Seite

und der in ihnen

gegeben der Lehre

Dass im Uebrigen die Ethik nicht

werden

kann,

berücksichtigt

b l o s s als historische

Disciplin wie die Dogmatik behandelt werden kann, hat seinen Grund darin, dass die Dogmatik

nur

wusstsein des Glaubens der Gegenwart

das t h a t s ä c h l i c h e Bedarstellt,

die Ethik da-

gegen zugleich zu sagen hat, wie man handeln soll. Ethik

der

thetischen

gerade so wie

oder

speculativen

die Darstellung

Daher die

Theologie

zugehört,

des christlichen Princips,

das

zugleich a l s W a h r h e i t nicht bloss als historische Gegebenheit erkannt werden soll. Neben der Symbolik und Dogmatik geht die S t a t i s t i k ' ) her, die zu beschreiben hat, wie das christliche Leben in der Gegenwart allseitig in den verschiedenen confessionellen Gruppen sich bethätigt.

Sie

hat

die thatsächlichen Lebensentfaltungen der

verschiedenen Confessiönen in ihren verschiedenen Zweigen darzustellen und womöglich die Verschiedenheiten aus dem Wesen der Confessionen zu begreifen. hinaus

über

die Sammlung

Diese Disciplin von

statistischen

geht also weit äusserlichen

Angaben aus den verschiedenen Gebieten des religiösen Lebens, ' ) Nach Schleiermacher, „Darstellung des gesellschaftlichen Zustandes der K i r c h e in einem gegebenen M o m e n t " , v. O e t t i a g e n , Moralstatistik, P i e p e r , kirchliche Statistik

Deutschlands.

D o r n e r, Eucyklop. d. Theol.

7

98

§ 11.

Die Statistik.

die sich in Zahlen fixiren lassen, obgleich auch das hierher gehört. Aber sie hat ebenso wie die Ausdehnung und die geographische Ausbreitung der Confessionen, auch deren Verhältniss zu einander in ihrer gegenseitigen Beurtheilung, ihrem Gegeneinander- und Miteinanderwirken zu constatiren, ihre Bethätigung inCultus, Sitte,Erziehung, Liebesthätigkeit, Mission, Verfassung, freien Vereinen, die Stellung der Einzelnen, der Familien zu den Kirchen, das Verhältniss der confessionellen Gruppen zum Staat, zur Wissenschaft, Kunst, überhaupt zur Cultur zu beschreiben, so dass man eine volle Uebersicht über das gesammte L e b e n der Christenheit in der Gegenwart hat. Der Name Statistik für diese Disciplin ist Schleiermacher und Rothe entnommen. Zweifellos wird eine solche Disciplin von dem grossesten VVerthe sein, nicht nur zum Zwecke der theoretischen Erkenntniss des Christenthums, sondern auch im praktischen Interesse, weil nur eine solche Uebersicht der faktischen Zustände zeigt, wo die bessernde Hand anzulegen ist. Dazu wird gerade die Erkenntniss des Zustandes der g e s a m m t e n Christenheit, je unbefangener und objectiver sie gewonnen wird, umsomehr dienen, während ein Stehenbleiben bei den Zuständen der nächsten Kreise, oder der eigenen Coufession den Blick nicht genugsam erweitert. A n m e r k u n g . Es wäre im höchsten Grade wünschenswert!), dass das geschichtliche Studium der Gegenwart durch eingehende Kenntniss fremder Zustände in a n d e r e n Ländern durch eigene Anschauung auf Reisen ergänzt würde. Daher Mittel für derartige Studienreisen zur E r g ä n z u n g des Studiums durch eigene Anschauung fremder Zustände f ü r Solche stets bereitgehalten werden sollten, die ihre theoretischen Studien mit gutem Erfolg vorläufig abgeschlossen haben.

§ 12.

Uebergang zur speculativen oder thetischen Theologie.

99

§ 12. Uebergang zur speculativen oder thetischen Theologie. Wir haben nun die Disciplinen der historischen Theologie durchlaufen. Wenn man sie auch alle durchstudirt hat, so scheint es doch, dass man noch keine wirkliche Einsicht in das gewonnen hat, was im Christenthum wesentlich ist. Zwar ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass man die Geschichte des Christenthums als die Entwickelung des christlichen Princips auffassen muss. Aber gerade hier wird die Geschichte eine Anleihe bei der Speculation machen müssen. Wohl sind die Disciplinen, welche einen zusammenfassenden Ueberblick über den geschichtlichen Process geben, und insbesondere auch über das Bewusstsein des Christenthums von sich selbst orientiren, wie die biblische Theologie, die Geschichte der christlichen Lehrbildungen, die Symbolik, geeignet, für diese Frage Material zu liefern. Allein es dürfte doch für diese Disciplinen schwer sein, aus sich selbst heraus, aus der bloss geschichtlichen Betrachtung die Frage nach dem Wesen des Christenthums zu beantworten. Denn hier kommt es darauf an, das Wesentliche von dem Unwesentlichen zu unterscheiden. Dafür muss man aber einen Massstab haben, den die bloss empirischhistorische Betrachtung nicht giebt. Wir haben bei den verschiedenen Disciplinen darauf hingewiesen, dass sie dadurch allein den geschichtlichen Process oder die gleichzeitigen Erscheinungen als zusammengehörig und einheitlich verstehen, dass sie das christliche Princip zu Grunde legen. Aber woher weiss man von diesem Princip? Man giebt wohl zur Antwort: aus der Geschichte selbst. Gegenwärtig ist die Autarkie der Geschichte überall auf der Tagesordnung, die Speculation zurückgedrängt. Harnack sagt: Vor sechzig Jahren würde man durch Speculation einen Allgemeinbegriff von Religion und Christenthum gewonnen haben. Heute heisse es: latet dolus in generalibus'). Er will das Wesen des ') Das Wesen des Christenthums S. 6. 7*

100

§ 12. Uebergang zur speculativen oder thetiscben Theologie.

Christenthums auf geschichtlichem W e g e feststellen. muss

auch

er

Und doch

zugeben, dass keine geschichtliche Erscheinung

das christliche

Princip

in

absoluter

Form

darstelle.

Daraus

folgt, dass man zwischen dem Princip und seinen geschichtlichen Erscheinungen unterscheiden muss, u n d wenn m a n das Princip in dem

gesammten

geschichtlichen Process als das denselben

leitende e r k e n n e n will, muss man es zuvor von allen einzelnen Erscheinungsformen loslösen.

Hat m a n es dann auf diesem Wege

gewonnen, so k a n n man natürlich auch den geschichtlichen Process m i t Hülfe dieses Princips suchen.

als einen

einheitlichen

zu verstehen

Aber wie kann man diese Loslösung vollziehen?

Genügt

nicht die intellectuelle Anschauung, in der man das Prinzip in den mannigfaltigen Erscheinungen erschaut?

Gewiss ist die intellectu-

elle Anschauung an sich berechtigt, n u r k a n n sie auch irren.

Und

wenn man auch ihr Resultat an der Geschichte zu verificiren suchte, so würde f ü r die wissenschaftliche Betrachtung das allein nicht genügen.

Das

in

den

concreten

Erscheinungen

angeschaute

allgemeine Princip muss eben f ü r s i c h bestimmt herausgehoben, begrifflich

fixirt werden.

Und

das k a n n

nicht

geschehen,

indem m a n bei den einzelnen Erscheinungen, in denen es enthalten ist, aber

in

ist, stehen bleibt. Aufgabe,

enthalten

keiner der genannten Disciplinen gelöst w i r d ; mit concreten mannigfaltigen Erscheinungen

Diese begriffliche Fixirung ist Sache der Speculation.

N u r dadurch,

dass m a n die bestimmten Merkmale heraushebt,

welche hier in Betracht kommen, Bestimmung Vollends

bestimmten Form

Diese begriffliche Fixirung ist eine besondere

die in

sie haben es alle zu thun.

einer zeitlich

des

kann

Wesens

kann

man der begrifflichen

des Christenthums

m a n ein wissenschaftlich

näher

kommen.

begründetes W e r t h -

u r t h e i l über die christliche Religion n u r fällen, wenn m a n ein Ideal der Religion

anerkennt, an

dem

verschiedenen Religionen messen kann. T h e o l o g i e k a n n nicht entbehrt werden.

als Massstab man die Kurz, die s p e c u l a t i v e Die Geschichte f ü r sich

lehrt uns n u r Thatsachen, n u r den thatsächlichen Verlauf.

§ 12. Uebergang zar specuíativen oder thetischen Theologie.

101

Es ist ein allgemeiner Satz der Erkenntnisstheorie, dass uns die blosse Geschichte nicht das Wesentliche von dem Unwesentlichen klar unterscheiden lehrt, wir können dem bunten Gewühl der Thatsachen nicht ansehen, was in ihm wesentlich ist. Dieses Wesentliche, die Principien liegen in gewisser A r t über der Zeit, in dem ewigen Wesen der Vernunft, nicht als ob die Vernunft eine von Anfang an fertige Erkenntniss von diesem Wesentlichen h ä t t e , als ob sie immer gleich entwickelt gewesen wäre, aber so, dass wenn sie einmal durch ihre von den äusseren Eindrücken angeregte Thätigkeit ihrer Principien mächtig geworden ist, sie dieselben allgemeingültig erfassen, für sich fixiren und auf die Geschichte anwenden kann. Diese allgemeinen Grundsätze der Erkenntnisstheorie nöthigen uns, auch im Gebiete der Theologie neben der historischen die speculative Theologie anzuerkennen, die mit Hülfe des specuíativen Denkens auf eine Reihe von Fragen die Antwort geben muss, wo die empirisch geschichtliche Betrachtung für sich versagt. Wer das nicht zugiebt, und dieGeschichte für autarkisch hält, der verlegt eben thatsächlich seine specuíativen Principien in dieGeschichte, freilich ohne zeigen zu können, dass gerade das, was er für wesentlich und principiell, für das „Entscheidende" erklärt, wirklich principiell, wirklich „entscheidend" sei. Zweifellos kann er mit einem gewissen Scheine diese Autarkie aufrecht erhalten, weil eben thatsächlich Principien, Vernunft in derGeschichte sich realisirt. Aber sie realisirt sich in concreten Formen und deshalb ist es nöthig, bewusst und methodisch das Principielle von diesen concreten Formen loszulösen, die nicht dieselbe Ewigkeit, wie die Principien beanspruchen können. Das aber ist eben die Aufgabe der Speculation und in unserem Falle der specuíativen Theologie, zu der ich nun übergehe. Anmerkung. Man könnte denken, dass nicbt die Speculation, sondern die Heilserfahrung dieses christliche Princip enthält, also die psychologische Untersuchung der Erfahrung die geschichtliche Betrachtung ergänzen rnüsste. Allein so richtig es ist, dass die Religion auch Heilserfabrung ist, so ist doch aus dieser empirischen Hcilserfahrung des Ein-

102

§ 13.

Die Aufgabe der speculativen Theologie.

zelnen noch weit weniger als aus der Geschichte, die ja die mannigfaltigsten Formen der Heilserfahrung aufweist, das allgemeingültige christliche Princip zu eruiren, da dieses in der Erfahrung des Einzelnen erst recht mit subjectiven Zuthaten und individuellen Modificationen verbunden ist, die erst von dem Princip loszulösen wären.

B. Die thetisohe oder speculative Theologie.

§ 13. Die Aufgabe der specnlatiren Theologie. W i r haben eben gesehen, dass wir eine Disciplin brauchen, welche das Wesen des Christenthums für sich fixirt und zwar nicht bloss auf historischem Wege, sondern auf dem Wege der mit der tieschichte combinirtenSpeculation. Diese Disciplin kann nicht irgend wie den Typus einer bestimmten Form des Christenthums tragen, sie kann ebensowenig confessionellbeeinflusst sein als die historische Theologie. Denn sie hat es nicht mit concreten Lehrgestaltungen zu thun, die in einer bestimmten Kirche Geltung haben. Sie hat vielmehr das über den Confessionen stehende Wesen des Christenthums zu ergründen, wie es in ihnen allen in verschiedenen Modificationen sich darstellt. Fragt man nach der Methode, welche diese Disciplin anwenden muss, so hat sie freilich davon auszugehen, dass das Christenthum eine gegebene Religion ist; aber um uns über sein allgemeines Wesen zu orientiren, müssen wir die verschiedenen Arten der Religion und die Frage nach dem Ideal der Religion berücksichtigen. Die Theologie muss also hier entweder bei der Religionsphilosophie Anleihen machen oder von sich aus das Wesen der Religion und insbesondere die verschiedenen allgemeinen Formen des religiösen Lebens sowie das Ideal der Religion untersuchen. Man hat zwar bezweifelt, dass es allgemeine Merkmale der Religion, vollends dass es ein Ideal der Religion gebe. Allein diese Skepsis beruht lediglich auf sensualistischen Principien. Wer nicht die allgemeinen Begriffe als blosse Abstractionen aus den Sinnes-

§ 13.

Die Aufgabe der speculativen Theologie.

103

eindrücken ansieht, sondern zugiebt, dass es eine selbstständig denkende Vernunft giebt, der wird auch die Thätigkeit dieser Vernunft im Gebiete des religiösen Erkennens, sowohl insofern sie die allgemeinen Typen religiösen Lebens begrifflich bestimmt, als insofern sie ein Ideal der Religion bildet, anerkennen'). Es wird also hier die Aufgabe bestehen, dem Christenthum seine Stellung unter diesen verschiedenen Typen anzuweisen und sein Verhältniss zu dem Ideal der Religion zu beschreiben. So wird mittels dieser allgemeinen Gesichtspunkte einmal die Stelle dem Christenthum angewiesen, die es unter den Religionen einnimmt, und es werden die ihm eigenthümlichen Merkmale erkannt. Wenn man den historischen Charakter des Christenthums hervorhebt, so fehlt eben bei der bloss historischen Betrachtung der Blick für das, was für das Christenthum wesentlich ist, im Unterschiede von den mannigfachen Erscheinungen, wie es gerade das Charakteristische des confessionellen Standpunktes ist, das E i g e n t ü m l i c h e der eigenen Confession mit dem allgemein Christlichen zu identificiren und wie es auch denen, die im Urchristenthum das normale Christenthum sehen, gewöhnlich begegnet, Merkmale des historischen Urchristenthums dem Christenthum überhaupt zuzuschreiben, wie endlich die, welche aus der gesammten christlichen Geschichte das Gemeinsame herausheben wollen, sehr häufig das als wesentlich ansehen, was alle empirisch gemeinsam haben, einzelne historische Thatsachen, allen Confessionen officiell gemeinsame Lehren, die doch nicht das Wesen der christlichen Religion ausmachen können. Geistige Grössen wie Religionen, die eine lange Entwickelung haben, sind sehr schwierig zu beurtheilen. Es sind nicht bloss die zeitlichen Veränderungen, denen sie unterliegen, indem sie neuen Verhältnissen gegenüber sich modificiren, sondern es ist auch die Frage, da sie zugleich ethisch bestimmte Gebilde sind, ob sie nicht degeneriren. Aber gerade für degenerirende Religionen

') V g l . meine Schrift: „Das menschliche Erkennen" S. 2 1 6 f .

104

§ 13. Die Aufgabe der speculativen Tbeolegie.

ist es charakteristisch, dass sie an dem haften, was traditionell ist, was äusserlich hervortritt in Cultus, Verfassung u. s. w. und so in falscher Weise nicht den Geist der Religion, sondern ihre Form conserviren. Um so nöthiger ist es, das Wesentliche von dem Unwesentlichen zu unterscheiden und das Ideal der Religion als Massstab zu verwenden. Dieses Ideal ist auch nicht abstract; es kann und soll vielmehr concrete Gestalt annehmen. Z. B. zum Ideal der Religion gehört es, die Gegensätze im Leben und Bewusstsein durch das göttliche Princip zu beruhigen und auszugleichen. Ob das eine concrete Religion zu Stande bringt, danach ist sie u. A. zu beurtheilen. In diesem Sinne wird es die Aufgabe der speculativen Theologie sein, einmal das Wesen des Christenthums zu erfassen, sodann dieses Wesen zu dem Ideal der Religion in Beziehung zu bringen. Dabei werden natürlich nicht die einzelnen Erscheinungsformen des Christenthums alle dem Ideal entsprechend sich erweisen, sondern das Wesen des Christenthums, das christliche Princip. Das Bewusstsein, das das Christenthum von sich selbst hat, absolute Religion zu sein, muss in der speculativen Theologie zu einem wissenschaftlichen Ausdruck kommen, indem das christliche Princip mit dem Ideal der Religion in Beziehung gesetzt wird: das christliche Princip, nicht das empirische Christenthum mit seinen concreten Formen, da diese Formen nicht immer der genuine und nothwendige Ausdruck des Princips sind. Noch ein drittes Moment kommt hinzu. Da» Christenthum rechnet als zu seinem Wesen gehörig, bewusste, über sich selbst klare Religion zu sein, die Erkenntniss nicht nur von ihrem Glaubensinhalt, sondern auch von der Wahrheit desselben haben will. Man mag sich in Bezug auf diese Erkenntniss darüber streiten, ob sie mehr theoretisch oder mehr praktisch orientirt sei — mir scheint beides gleichmässig der Fall zu sein —, das kann man nicht abstreiten, dass die Erkenntniss der Wahrheit des wesentlichen Inhalts des Christenthums ebenfalls eine Aufgabe der speculativen Theologie ist.

§ 13.

Die Aufgabe der speculativen Theologie.

105

Nicht in dem Sinne, als ob irgend ein gegebenes dogmatisches System als Wahrheit

erwiesen werden müsste — in

concreto

giebt es viele individuelle Modificationen des christlichen Princips,

die sich auch in individuellen Lehrformen

aussprechen,

deren

allgemeingültige

Wahrheit

und Dogmen eben

deshalb

nicht erwiesen werden kann, weil sie nur einen partiellen individuellen Typus der christlichen Wahrheit darstellen.

Viel-

mehr kann es sich hier nur um diejenigen Wahrheiten handeln, welche das christliche Princip enthält setzt.

und nothwendig voraus-

Diese Wahrheiten können auch nur als solche erkannt

werden, wenn sie wirklich allgemeingültig sind, d. h. rational. Historische Thatsachen können hier in keinem anderen Sinne in Betracht kommen als in dem, dass sie eben die historische Erscheinungsform des religiös Vernünftigen sind, dass der Stifter der christlichen Religion insbesondere Vertreter der Religion

ist,

historische

die Jeder

Einzelgestalt

sich aneignen mit

ihren

soll,

dass

zeitlichen

rationalen Dicht seine

Modificationen,

sondern sein Geist, d. h. das von seiner Person vertretene Princip Allgemeingültigkeit hat,

das man zwar

auch in ihm anschauen

kann, wenn man die zeitlichen Modificationen setzt, das aber Jeder an

sich

selbst

ausser Rechnung

erfahren

und in seiner

Wahrheit selbst erkennen soll. Endlich wird diese principielle Erkenntniss den Schlüssel zu d^m Verständniss

des geschichtlichen

Prozesses

des

Christen-

thums, j a des religionsgeschichtlichen Prozesses der Menschheit insofern geben, als man die Haupterscheinungen des Christenthums jeweils

als Modificationen gegebenen

Religionsgeschichte

des

historischen

christlichen Princips unter Bedinguugen

erfasst

und

den die

der Menschheit in ihrer Entwickelung zum

Christenthum hin erkennt, insofern die beengteren Formen der Religion immer mehr umfassenden Formen Platz

machen und

die in der vorchristlichen Welt vorhandenen einseitigen religiösen Strömungen

im

Christenthum

zum

gegenseitigen

Ausgleich

kommen, sofern dasselbe mit seinem universalen allgemeingültigen

106 §

Die Lehre vom Wesen des Christenthums als Hauptdisciplin.

Princip alles Werthvolle der vorchristlichen Religionen zu umfassen vermag, kurz gesagt, insofern die ßeligionsgeschichte in der Realisirung des Ideals der Religion ausmündet, das wenigstens dem Prinzip nach im Christenthum erschienen ist. So weist die speculative Theologie wieder auf die historische zurück und erschliesst ihr volles Verständniss. Man könnte hiermit die speculative Theologie abschliessen, die es in dem beschriebenen Sinne mit der E r k e n n t n i s des Wesens des Christenthums als der dem Ideal entsprechenden Religion und als Wahrheit zu thun hat. Eine genauere Ueberlegung zeigt, dass diese Disciplin doch wieder in mehrere Theildisciplinen getheilt werden kann und besser auch getheilt wird. Zwar soll diese L e h r e v o m W e s e n d e s C h r i s t e u t h u m s zunächst als eigene Disciplin und zwar als s p e c u l a t i v e H a u p t d i s c i p l i n festgehalten werden. Als besonders wichtigen Grund dafür möchte ich geltend machen, dass es Eine Disciplin geben muss, welche uns die Einfachheit, die innere Einheit und Geschlossenheit des christlichen Princips zum Bewusstsein bringt. Denn gerade in der inneren Einheitlichkeit und Geschlossenheit des christlichen Princips zeigt sich sein rationaler Charakter, zeigt sich, dass es der Idee der Religion entspricht, zeigt sich aber auch seine Ueberlegenheit iiber andere Religionen. Diese Geschlossenheit kommt aber in der Geschichte nirgends zum vollen Ausdruck, weil das Princip immer in die concrete Mannigfaltigkeit verwickelt ist. Zweifellos giebt es einige Höhepunkte, wo auch in der Geschichte die innere Einheit des christlichen Princips sich offenbart, so in dem Stifter, aber doch nicht ohne dass, was in sehr weiten Kreisen zugestanden wird, diese Einheitlichkeit durch Hereinziehen jüdischer Vorstellungen an manchen Orten unterbrochen wird. Dieses Princip in seiner vollen Geschlossenheit darzustellen, das eben ist die Aufgabe dieser Hauptdisciplin der thetischen Theologie. Auch darin wird sich diese Geschlossenheit zu zeigen habeu, dass hier die in dem Christenthum erst vollkommen vollzogene Synthese von Religion

§ 14.

107

Die Apologetik.

und Sittlichkeit zur Darstellung kommt, dass man sieht, es giebt keinen christlichen Glauben, der nicht ethisch bestimmt ist, und keine christliche Ethik, die nicht im Glauben wurzelt, weil die von Gott erfüllte Persönlichkeit von Gottes ethischem Geiste bestimmt ist und die christliche Persönlichkeit in einer Einheit mit Gott ist, die nicht auf die Persönlichkeit absorptiv, sondern bestätigend und erhebend wirkt, so dass Freiheit und Frömmigkeit hier untrennbar verbunden sind. Eben dies aber zum Bewusstsein zu bringen, ist von der höchsten Wichtigkeit, um so mehr, als man oft genug auch im Christenthum wieder von Thaten Gottes redete, nicht in den Menschen, sondern möglichst ohne die Vermittelung der ethischen That der Menschen und von Thaten der Menschen, die auch bei Gott wieder verdienen sollten'). Wo aber diese Trennung eintritt, da ist gerade die christliche Grundidee der Einheit Gottes und des Menschen, in der der Mensch sich als ein ethisch bestimmtes, also freies Wesen zugleich gehoben fühlt, noch nicht zum vollkommenen Ausdruck gekommen.

§ 14. Die Apologetik. Wenn der einheitliche Charakter des Christenthums in dieser speculativeu Hauptisciplin zur Klarheit gekommen ist, weshalb sie auch alle breiteren Ausführungen im Interesse der Geschlossenheit ihrer Darstellung meiden soll, so kann nun ergänzend eine weitere Ausführung nach zwei Seiten hin versucht werden, woraus sich zwei Theildisciplinen ergeben. Einmal kann ') W e n n man diese Betonung der Einheit von Gott und Mensch confessionell protestantisch finden wollte, so wäre zu entgegnen, dass auch im Protestantismus oft g e n u g von T h a t e n Gottes die Rede ist, die die secundaren Causalitäten ausschliessen sollen, und dass im Mittelalter Mystiker u n a n gefochten auf die drangen haben.

unmittelbare

Einheit

Gottes

und

des

Menschen

ge=

108

§ 14.

man e i n g e h e n d die

Voraussetzungen

der

gegenwärtigen

Beziehung in

zu zeigen suchen, wie die Grundposition und

erkenntnisstheoretischen,

ethischen in

Die Apologetik.

den

stehen,

Zeit

wie

Princip

christlichen

herrschenden

sie

ausserchristlichen

dos christliche

psychologischen, des

theils

in

metaphysischen, Princips

zu

den

Weltansichten

der Philosophie,

Religionen

vertreten

sind.

absolute Bedeutung hat,

Untersuchuug gemacht werden müssen.

in

theils Wenn

so wird diese

W e n n m a n diese Auf-

gabe aus der Centraiwissenschaft heraushebt, so hat das seinen Grund darin, dass die Centraiwissenschaft,

der

es

darauf

an-

k o m m t , das christliche Princip in seiner geschlossenen Einheitlichkeit vorzuführen, nicht wohl auf die c o n c r e t o Auseinandersetzung

mit

den

einzelnen Religionen

sich einlassen kann, dialogisch

das

Rationalität

christliche

Princip

(Allgemeingültigkeil),

A p o l o g e t i k 1 ) dagegen nach den genannten ihre Aufgabe

of

Seiten

begrenzt.

religion.

Christianity natural.

and

Flint,

harmonized. religion.

Wahrheit

Sie

hat

Positivism.

The

Damit

nicht

darstellt.

Die

Betrachtungen ist

aber

auch

historische

F a i r b a i r n , S t u d y s in t h e P h i l o of

Supernatural

Antitheistic Theorys.

oder

Einheitlichkeit,

irgend eine

Philosophy

the

infinite.

T h e seth o f a u c t o r i t y .

McCosh,

in t h e r e v e l a t i o n

Martineau, A s t u d y Kedney,

to

the

of r e l i g i o n

its

Christian

doctrine

A b b o t , T h e way o u t of agnosticism or t h e philosophy o f free

Adams, T h e

continuous

creation.

Ladd, T h e t h e o r y

F i s h e r , T h e s u p e r n a t u r a l O r i g i n of C h r i s t i a n i t y . lation.

als polemisch

seiner

vollziehen.

Calderwood,

s o u r c e s and c o n t e n t s .

in

kann diese eingehenden

' ) H. B . S m i t h , F a i t h and P h i l o s o p h y . sophy

und Weltanschauungen

sondern mehr positiv

Guizot,

La

religion

P r e s s e n e , Die U r s p r ü n g e , feuchter, Christenthum

moderne Weltanschauung.

Kaftan,

Das W e s e n der c h r i s t l . R e l i g i o n . Steude, Baumstarck.

Meditations

sur

la

v. Oosterzee, apologetische Z e i t s t i m m e n .

und

und Naturwissenschaft.

chrétienne.

of r e a l i t y .

Mead, S u p e r n a t u r a l

Die W a h r h e i t

der

reve-

rel.

chr.

Ehren-

Zoekler, Theologie

christlichen

Religion.

Apologetik v o n D e l i t z s c h , E b r a r d , Z e z s c h w i t z ,

G r u n d r i s s d e r Apologethik von H. S c h u l t z .

Vgl. auch

die R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e von 0 . Pfleiderer, 3 . A., u n d von S e y d e l , h e r a u s g e g . v. Schmiedel.

R. Schmid,

D i e Darwinschen T h e o r i e n

Philosophie, R e l i g i o n und Moral.

u n d ihre S t e l l u n g

zur

§ 14.

Die Apologetik.

109

Erscheinungsform desG'hristenthums, sondern daschristlichePrincip zu den vorhandenen Religionen, d. h. zu dem Grundprincip der verschiedenen Religionen und zu den Weltanschauungen in Yerhältniss zu setzen, und zwar nicht bloss im polemischen Sinne, sondern in der Weise, dass sie den verschiedenen Wahrheitsmomenten der Religionen und Weltanschauungen Gerechtigkeit widerfahren lässt. Das Christenthum hat sich mit sehr verschiedenen philosophischen Systemen verbunden. Man hat gemeint, es solle sich seine eigene besondere erkenntnisstheoretische und metaphysisch-ethische Begriffswelt bilden. Das Letztere ist wohl eine Forderung, die über das Vermögen der Theologie hinausgeht, die immer an die kunstmässige Ausgestaltung der Begriffe in der Philosophie mehr oder weniger gebunden ist. Die natürliche Beschaffenheit unseres Erkenntnissvermögens, die Logik und Erkenntnisstheorie untersuchen, kann die Theologie nicht ändern. Es wird vollständig genügen, wenn derartige Ansichten, welche sich mit den unbedingten Voraussetzungen des christlichen Princips nicht vertragen, als in sich unhaltbar erwiesen werden, während das christliche Princip selbst mit einer ganzen Reihe von Systemen sich vertragen hat und noch heute verträgt, welche vielleicht die eine oder andere Seite einseitig hervorheben, aber doch dem Grundprinzip des Christenthums nicht widersprechen. Ja, es ist nicht zu leugnen, dass die tiefere Forschung der Philosophie erst dazu geführt hat, bestimmte Seiten des christlichen Princips schärfer zu fixiren, so z. B. in der neueren Zeit, die Probleme der Gotteslehre energischer in Angriff zu nehmen, die Bedeutung der Psychologie für die Religion und das Christenthum mehr zu beachten, den naturgesetzlichen Zusammenhang respectvoller zu behandeln u. dgl. mehr. Kurz, es soll das christliche Princip in ein positives Verhältniss zu dem gesammten ausserchristlichen und weltlichen Denken gesetzt werden, natürlich nur insoweit die r e l i g i ö s s i t t l i c h e n Principien und Voraussetzungen in Betracht kommen.

110

§ 14.

Die Apologetik.

Die p o p u l ä r e kirchliche A p o l o g e t i k ' ) ist freilich von der so begrenzten Aufgabe sehr verschieden; sie will das Christenthum meist in einer confessionell dogmatischen Gestalt und besonders die historischen Heilsthatsachen vertheidigen. möglich ist, versteht sich von selbst.

Dass Letzteres un-

Hier tritt

an die Stelle

der Apologetik die historische Theologie mit ihrer methodischen Erforschung der Geschichte.

Die geschichtliche Forschung kann

aber niemals apologetischen Charakter annehmen,

weil sie nur

die geschichtlichen Erscheinungen, wie sie gewesen sind, sine ira et studio zu erkennen bat. dogmatische Lehre kann

Aber auch eine concret ausgestaltete nicht von der Apologetik

vertheidigt

werden, da diese Lehrformen das Allgemeingültige theils in individueller Bestimmtheit, Begriffen, bringen. thums

die

die nicht allgemeingültig ist, theils in

dem Wandel

unterworfen

sind,

zum

Ausdruck

Dazu kommt, dass eine V e r t h e i d i g u n g des Christenmeist

schon

als

solche

polemischen,

ja

parteiischen

Charakter annimmt und von dem Gegner insofern abhängt, als sie seine A n g r i f f e abwehrt. Diese Angriffe aber sind meist vereinzelt, und so ist eine solche Apologetik nichts wissenschaftlich Brauchbares. Man muss, um dieser Disciplin den wissenschaftlichen Charakter zu wahren, von dem einfachen einheitlichen

christlichen

Princip ausgehen und dieses nach der religiössittlichen Seite zu den herrschenden

Weltanschauungen

und

Systemen

in

Beziehung

setzen, nicht aber einzelne Dogmen, die jeweils am meisten angegriffen

sind, — ohne auch

liche Princip abzumessen —

nur ihren Werth für das christblindlings vertheidigen.

Die Apo-

logetik muss sich ihrer Grenzen bewusst bleiben, sie muss bei der christlichen Grundposition aussetzungen stehen bleiben; Anspruch

erheben,

im

und deren unentbehrlichen sie

Einzelnen

kann über

daher

Vor-

auch nicht den

naturwissenschaftliche

Specialuntersuchungen zu reden oder über psychologische Lehren zu entscheiden. ') Beiträge.

Luthardt,

Es genügt ihr, wenn die Bedingungen Apologetische

Vorträge.

Christlieb, Moderne Zweifel.

Steinmeyer,

grund-

Apologetische

§ 14.

Die Apologetik.

111

sätzlich zugestanden werden, ohne die das christliche Princip nicht zu halten ist, z. B. die schöpferische Aktion Gottes und die selbstständige Existenz des Geistes. Es kommt darauf an, das Centrum des christlichen Bewusstseins zu dem ausserchristlichen religiösen Bewusstsein und zu der weltlichen Erkenntniss, s o w e i t sie sich auf das r e l i g i ö s s i t t l i c h e Gebiet erstreckt, in Beziehung zu setzen. Man hat gegen die Apologetik überhaupt als Beweis des Christentums oder seines Princips das Bedenken geltend gemacht, dass sie durchaus überflüssig und darum schädlich sei. Glauben sei kein Wissen. Das christliche Princip habe sein Centrum im Glauben. Der Glaubensinhalt müsse geglaubt, könne aber nicht andemonstrirt werden. Schleiermacher hat daher der Apologetik nur die Aufgabe gestellt, das Wesen des Christenthums im Unterschied von anderen Religionen zu c o n s t a t i r e n . Allein wenn der Inhalt des Christenthums doch zugleich — wenigstens dem Wesentlichen nach — Wahrheit ist, wenn das Christenthum seinem Wesen nach dem Ideal der Religion entspricht, so kann man wohl in diesem doppelten Sinne den Versuch machen, das Christenthum, d. h. das christliche Princip zu den anderen Religionen und Weltanschauungen in Beziehung zu setzen, um seine Haltbarkeit zu constatiren, und zugleich seine Elasticität zur Anschauung zu bringen, insofern sein Princip durchaus nicht hindert, das W a h r e in anderen Religionen, dio wissenschaftlich feststehenden Resultate und das B e r e c h t i g t e in solchcn Weltanschauungen anzuerkennen, die ihm fremdartig sind. Fragt man n u n nach einem bestimmten Beweis für das Christenthum, so verweist mau einmal auf den historischen Beweis. Dieser ist aber kein Beweis; denn die historische Ausbreitung des Christenthums kann nicht als Beweis gelten, da andere Religionen ebenso ausgebreitet sind; die Kulturherrschaft der europäischen Völker ebenfalls nicht, da diese nicht direkt auf dem Christenthum ruht und an sich noch kein

112

§ 14.

Die Apologetik.

Beweis für die Wahrheit der Religion ist, die mit ihr verbunden ist. Wollte man aber sagen, der historische Beweis sei der, dass das Christenthum die in der vorchristlichen Welt einseitigen Richtungen in der Religion zu einer höheren Einheit gebracht und dadurch sich als die höhere Religion erwiesen habe, so ist hier zweierlei zu unterscheiden. Die allgemeine Religionsgeschichte muss ja als Hilfswissenschaft zur historischen Erkenntniss des Zusammenhanges des Christenthums mit seinen Vorgängern verwerthet werden. Aber die Einsicht, dass das Christenthum die vorchristliehen Richtungen in der Religion combinirt hat, würde doch noch keinen Beweis für die Wahrheit oder Vorzüglichkeit des Christenthums geben. Der Nachweis jenes Zusammenhanges dient dem historischen Yerständniss des Christenthums. Ein Beweis könnte hieraus doch erst werden, wenn man nachweisen könnte, dass die Religion höher steht, welche das Wahre in verschiedenen religiösen Strömungen combinirt. Das ist aber ein Satz der erst zu beweisen wäre. Man wird hier doch auf das rationale I d e a l der Religion zurückgehen und nach diesem das Christenthum messen und nach diesem Massstabe dasselbe mit anderen Religionen vergleichen müssen. Das ginge aber über einen reinhistorischen Beweis weit hinaus. Bei jedem Beweise wird immer ein allgemein anerkannter Satz vorausgesetzt, der nicht historisch ist. Der Beweis kann also nur entweder so versucht werden, dass man zeigt, an dem a l l g e m e i n a n e r k a n n t e n Massstab gemessen, der nicht historisch ist, besteht das christliche Princip am besten die Probe, oder dass man den wesentlichen Inhalt des Christenthums als Wahrheit dadurch zu erweisen sucht, dass derselbe den Kriterien entspricht, welche erkenntnisstheoretisch bei der Erkenntniss der Wahrheit in Anwendung zu bringen sind. Aber wie schon angedeutet, ist ein solcher directer Beweis weniger die Aufgabe der Apologetik, als eine positive Auseinandersetzung mit den verschiedenen Weltanschauungen und Religionen, welche

$ 15.

113

Die christliche Ethik.

auch auf die Erkenntniss des Wesens des Christenthums selbst « ein neues Licht in mancher Hinsicht zu werfen geeignet ist. A n m e r k u n g . Die Ansicht, dass die P o l e m i k eine besondere Disciplin sei, ist schwerlich haltbar, da ihr wesentlicher Inhalt, soweit er positiv historisch ist, schon in der CoDfessionskunde dargestellt wird; soll die Polemik sich auf den Streit der christlichen Confessionen beziehen, so hat sie praktische Abzweckung und confessionellen Charakter, gehört also nicht in die wissenschaftliche Theologie; soll sie sich auf ausserchristlicbe Standpunkte beziehen, so fällt sie mit der Apologetik zusammen, die sich mit diesen auf objectiv wissenschaftliche Weise auseinandersetzt. Soll sie sich endlich auf die Bekämpfung von Mängeln innerhalb des Christenthums beziehen, so fällt sie unter die praktische Theologie (reinigendes Bandeln).

§ 15. Die christliche £thik. Eine z w e i t e Disciplin, die von der speculativen Grundwissenschaft abgezweigt werden kann, würde sich die Aufgabe zu stellen haben, wie das christliche Princip sich nach der Seite des e t h i s c h e n Lebens und der e t h i s c h e n E r k e n n t n i s s zur Humanität und Kultur, die die weltliche Sittlichkeit umspannen, in Verhältniss zu setzen hat. Dass das christliche Princip zugleich ethisch bestimmt ist, ist schon gesagt. Aber in der speculativen Centraiwissenschaft kommt das ethische Moment nicht zu concreter Ausführung. In den historischen Disciplinen wird zwar auch die Geschichte der Ethik bis zu der Gegenwart fortgeführt; aber es wird nicht gesagt, was das christliche Princip für Forderungen an das sittliche Leben stellt, wie es sich mit der Kultur und Humanität, mit der weltlichen Ethik in Beziehung zu setzen habe. Das Sittliche enthält immer ein Soll, ein Ideal, beschreibt eine Aufgabe für den Willen und ist nicht mit der Beschreibung der thatsächlichen sittlichen Zustände erschöpft. Auch Schleiermacher, der die Ethik als descriptivo, nicht als imperativische Disciplin bestimmen wollte, hat schliesslich die philosophische Ethik doch als speculative Wissenschaft anerkannt, welche die Principien des Handelns, — wir würden D o r n e r , Encyklop. d. Theo].

8

114

§ 15.

Die christliche Ethik.

sagen: das Ideal des Handelns, — beschreibt, und wenn er auch damit recht hat, dass die christliche Ethik den christlichen Geist als ethisch w i r k s a m e Potenz anerkennen muss und nicht bloss eine Forderung darstellen darf, so ist es doch auch wichtig, hervorzuheben, dass diese christliche Kraft des Geistes dasjenige betreibt, was der Forderung entspricht. Wo dies nicht zum Bewusstsein gebracht wird, kann die Ethik den Schein nicht vermeiden, als beschreibe sie einen Zustand, der für einen bestimmten Kreis gilt, aber nicht Allgemeingültigkeit hat. Wir bedürfen also einer Disciplin, welche die ethische Gesinnung, wie sie in dem christlichen Princip enthalten ist, ausführlicher darstellt, die Mittel ihrer Bildung in privater und gemeinschaftlicher Form untersucht und dieselbe mit der weltlichen Ethik, wie sie in der philosophischen Ethik vertreten ist und in der Cultur und Humanität Ausdruck findet, in Beziehung setzt. Diese Aufgabe ist parallel der Aufgabe der Apologetik. Wie diese das christliche Princip zu den Weltanschauungen in Verhältniss setzt, so die christliche E t h i k ' ) zu den Vorschriften der rationalen Ethik und der ihr entsprechenden Durchschnittssittlichkeit, Die Religion wird aus sich heraus nicht die Familie, den Staat, die Wissenschaft, Kunst, das sociale Leben erzeugen können. Auch das sittliche Lebeu der ') Die Ethik ist in Schleiermacher, v. Hofmann,

der neueren Zeit e i n g e h e n d

Christliche

Schmicl

Sitte.

Ethiken

(Heller), Wuttke,

von

Culmann,

Dorner, Jul. Köstlin, Luthardt, Compendium Ethik von H. Schultz, W. Herrmann 1901.

bearbeitet w o r d e n :

R. R o t h e , Harless,

der Ethik.

Martensen,

Franck,

macher, Herbart, Hegel's Rechtsphilosophie,

wusstseins. Meine

der

Moral.

Hartmann,

J. G. Fichte.

Phänomenologie

Sigwart, Vorfragen der Ethik.

philos. Ethik.

Uoderne

des

Paulsen,

Ethik Salter,

sittlichen

System

der

Be-

Ethik.

Geschichte der Ethik von Ziegler, Jodl, der christl.

Ethik von Gass, Bestmann. Hirscher, Christi. Moral.

der

Philosophische Ethik von Schleier-

von Comte, Spencer, St. Mill, Gizycki, Baumann, Hoeffding, Wundt. Die R e l i g i o n

J. A.

Grundrisse

Katholische Ethik: Sailer, Handbuch der Moral.

Klee, System der katli. Moral.

Gioberti, Grundriss,

Werner, S y s t e m d. ehr. Ethik.

Neuerdings herrscht die jesuitische Ethik vor,

z. B. Moraltheologie von Gury.

Ligorii theologia moralis.

Lehmkuhl, Ethik.

§ 15.

Die christliche Ethik.

115

Einzelnen hat eine rationale Grundlage, die ebenfalls ausserhalb des Christenthums schon bis auf einen gewissen Grad entwickelt ist. All diese Gebiete bestehen schon vor dem Christent h u m . Man kann also nur fragen, in welcher Weise werden sie durch das christliche Princip modificirt? Es wird hier darauf ankommen zu zeigen, wie das christliche Princip in keiner Weise das sittliche Leben in seinen natürlichen Grundlagen aufhebt, sondern kräftigt und mit seinem universalen Geiste durchdringt, ohne deshalb den individuellen Factor aufzuheben. Es wird darauf ankommen zu zeigen, wie die christliche Gesinnung das ethische Handeln in der Welt, das durch die psychologischen, physiologischen Gesetze und durch die in den einzelnen sittlichen Gebieten herrschenden technischen Gesetze begrenzt ist, beurtheilt, eventuell modificirt. W e n n das christliche Princip wirklich als rationales, dem Ideal der Religion entsprechendes, also auch ethisch-religiöses Universalprincip sich erweist, das die ethische Gesinnung des Christen principiell bestimmt, so kann liier nur die Frage sein, welche Modificationen in diesen weltlichen Gebieten durch diese Gesinnung gefordert werden; und zwar ist die Ethik stets auf das Handeln unter gegenwärtig gegebenen Verhältnissen gerichtet. Die Frage ist also näher die, wie zu dem gegenwärtigen Zustand der Cultur und Humanität sich die christliche Gesinnung stellen, wie sie ihn beurtheilen, wie sie die Lösung der vorliegenden Aufgaben gegenüber der rationalen Ethik modificiren würde, wie sie das gesammte sittliche Handeln einheitlich von ihrem Gesichtspunkt aus zusammenfassen würde. Man könnte hier zweierlei Bedenken haben, einmal das, dass entweder so die philosophische Ethik überflüssig würde, sofern die christliche Ethik sie nach ihren doch auch rationalen Gesichtspunkten ersetzte, oder dass die christliche Ethik überflüssig würde, falls die rationale Ethik ebenfalls schon allgemeingültige Grundsätze aufstellte, die doch nicht geändert werden könnten. Kurz, wenn das christliche Princip selbst rational, s*

116

§15.

Die christliche Ethik.

allgemeingültig sei, müsse es m i t der rationalen Ethik stimmen, falls überhaupt die Vernunft m i t sich selbst in Einklang bleibe. Beide Formen,

die christliche

und rationale,

können also

Inhalt, wenigstens in ihrer Vollendung n i c h t differiren.

im

Allein

dieses Bedenken ist doch nicht begründet, da die Religion aus sich die Gebilde der Ethik nicht construiren k a n n , die aus dem Wirken des ethisch vernünftig bestimmten Willens auf die menschliche u n d aussermenschliche N a t u r

hervorgehen.

Sie muss also die

weltliche Ethik voraussetzen.

Andererseits wird sie aber doch

nicht überflüssig, wenn sie die Grundsätze einer

vollkommenen

rationalen Ethik, — die wir aber noch nicht in vollkommener Weise haben — inhaltlich auch

vollkommen

D e n n die christliche Gesinnung,

welche

die

billigen

d e n ethisch bestimmten göttlichen Geist besitzt, h a t m i t eine Kraft, welche postuliren kann.

die rationale

Ethik

im

besten

Wie nun diese K r a f t wirkt und

des Wollens, da j a

der

die Gesinnung

Intelligenz und ethischem Willen ebenso in dem Gebiet des

durch

eben

und zwar

ethischen Erkenntniss die

ist.

Einheit Ihr

reinigenden

daFalle

wirken soll,

das ist es eben, was die christliche Ethik beschreibt ebensowohl in der Befruchtung

müsste.

Beseelung

von

ethischer

Einfluss zeigt

Handelns

wie

Steigerung und Erhöhung aller Güter, und in der

als

in

sich der

Zusammen-

fassung des Mannigfaltigen unter eine harmonische Einheit im Begriff des Reiches Gottes, und zwar ist dieser Einfluss immer m i t Bezug auf die gegenwärtigen

ethischen Probleme

zu

die die gegenwärtige Lage der ethischen Wissenschaft

erörtern, und d e r

Cultur mit sich bringt. Das zweite Bedenken

ist

dies,

dass

eine so

bestimmte

christliche Ethik gerade wenn sie auf die Gegenwart ihr Augenmerk

richten

soll,

vermeiden kann, da

schwerlich

Erscheinungsformen hat. auf

den

confessionellen

das christliche Princip

Allgemeingültigkeit

Eine speculative Anspruch

machen

specifisch confessionellen Charakter tragen.

eben

Disciplin und

Charakter

verschiedene aber

kann

soll nicht

Nun ist es freilich

§ 15.

Die christliche Ethik.

117

wahr, dass die christliche Ethik gewöhnlich den confessionellen Charakter trägt und selbst, wenn sie allgemeingültige Ethik sein wollte, würde sie doch als religiös bestimmte unwillkürlich und unvermerkt an DifTerenzpunkten der Confessionen confessionellen Charakter annehmen. Das scheint um so mehr der Fall, als die Ethik es mit den concreten Aufgaben der Gegenwart zu thun hat, in der das Christenthum nur in confessioneller Gestalt repräsentirt ist. Trotzdem wird man die Ethik als speculative Disciplin nicht confessionell gestalten dürfen. Es kann sein, dass bei einzelnen ethischen Fragen die confessionelle Differenz in Betracht kommt. Das hindert aber nicht, dass sie der Hauptsache nach die Frage zu beantworten sucht, welche ethische Consequenzen aus dem allgemeingültigen christlichen Princip zu ziehen seien. Kommen dann Punkte in Betracht, wo die confessionelle Auffassung des christlichen Princips für die Beantwortung einer ethischen Frage ins Gewicht fallen würde, so ist zunächst auch hier das, was das c h r i s t l i c h e P r i n c i p fordert, hervorzuheben, dann aber zu bemerken, dass die concretere Ausgestaltung des christlichethischen Grundsatzes vom katholischen Standpunkt so, vom protestantischen so vollzogen werden würde, und dass d i e s e Ausführungen mehr der technischen Discipliu der praktischen Theologie zukommen. Wollte man einwenden, dass die confessionellen Differenzen auf allen Punkten hervortreten und sich gar nicht beseitigen lassen, so würde man damit zugleich behaupten, dass das Christenthum keine einheitliche Grösse mehr sei. Es mag z. B. sein, dass die katholische Ethik g r u n d s ä t z l i c h die weltlichen ethischen Aufgaben als minderwerthig ansieht, der Protestantismus sie voll werthet, und doch kann man sagen, dass in diesem Gegensatze nur fixirt ist, was von Anfang an im Christenthum als different hervortrat, Weltabkehr und Anerkennung der Welt. Dieser Gegensatz ist nicht bloss confessionell; es hängt mit der geschichtlichen Entwickelung des Christenthums zusammen, dass zuerst die Weltabkehr im Gegensatz zu der verdorbenen Welt'

118 §

Das VerbÜtniss d. historischen u. specnlativen Theologie.

stark hervortrat, dann mehr die positive Durchdringung der Welt. Und immer noch ist auch im Protestantismus dieser Gegensatz. Tritt ethischer Verfall der Cultur ein, so wird die Ethik rigoristisch und weltfremd auch im Protestantismus (Pietismus). W o es sich vollends n u r um die Frage handelt, ob das christliche Princip consequenter oder weniger consequent durchgeführt werde, da kann das confessionelle Moment nicht mit Recht hervorgehoben werden, da die b e r e c h t i g t e n confessionellen Differenzen auch hier sich nur auf individuelle Nüancen zurückführen lassen. Die christliche Ethik soll ihrem Grundtypus nach das gemeinsam Christliche, das im christlichen Princip Begründete zur Geltung bringen, nicht die confessionellen Differenzen, die höchstens in untergeordneter Weise in der A r t berücksichtigt werden können, dass man erwähnt, wo die confessionellen Modificationen des allgemeinen Grundsatzes beginnen. Eine so gestaltete Ethik wird nicht so abstract aussehen, wie man vielleicht fürchtet, was sich sofort zeigen würde, wenn man sie mit einer von einer anderen Religion, z. B. dem Buddhismus oder Muhamedanismus bestimmten Ethik oder mit der althellenischen Ethik vergliche. Mit diesen drei Disciplinen ist die thetische Theologie erschöpft, in denen das christliche Princip an sich, in seinem Yerhältniss zu anderen Religionen und Weltanschauungen, endlich im Verhältniss zu der weltlichen Cultur und Humanität erörtert wird. So ist das christliche Princip von der speculativen Seite allseitig beleuchtet,

§ 16. Das Verhältnis*! der historischen und specnlativen Theologie. Wie schon erwähnt, bedarf die Geschichtsforschung zur Erkenntniss der Entwickelung der christlichen Religion der wissenschaftlichen Erfassung des christlichen Princips. Mit Hülfe dieses Princips kann dann die Geschichte des Christenthums besser

§ 16.

Das Verhältniss d. historischen u. speculativen Theologie. 1 1 9

verstanden werden, wie andererseits auch das Princip in den concreten christlichen Gestalten sich erst in seinem concreten Reichthum, in seiner universalen Umfassungskraft offenbart und seine richtige Bestimmung sich darin bewährt, dass mit Hilfe dieses Princips der historische Process des Christenthums ohne Verdrehung der Thatsaohen in seinem Zusammenhange begriffen wird. Wenn die Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie die Erkenntniss des Christenthums ist, so wird sie in der Vereinigung der historischen und speculativen Theologie gelöst, da nur so da» christliche Princip in seinen mannigfaltigen Erscheinungen und die concreten geschichtlichen Gestalten als Erscheinungsformen des Princips erkannt werden. Um aber diese Durchdringung der speculativen und historischempirischen Erkenntniss des Christenthums zu ermöglichen, ist es nothwendig, dass die principielle speculative Betrachtung von der historischen unterschieden wird, damit dann beide wieder vereinigt werden können. So wird man sich erst bewusst, dass das christliche Princip der Vernunft, d. h. dem Vernunftideal entsprechend, allgemeingültig ist, aber eben damit auch in vielen concreten Formen erscheinen kann, die als solche auf Gemeingültigkeit keinen Anspruch haben. Damit ist die w i s s e n s c h a f t l i c h e Aufgabe der Theologie gelöst und d i e T h e o l o g i e a l s W i s s e n schaft abgeschlossen. Man wird freilich beklagen, dass eine solche theils speculativ abstracte theils rein objectiv historische Betrachtungsweise für den praktischen Zweck der Kirche wenig leiste, weil man hier gänzlich von der gemüthvollen Betrachtung des Christenthums absehe, die historische Forschung die Vorgänge bis ins Einzelne unter das Secirmesser nehme, die speculative dagegen mit vagen Abstractionen sich beschäftige, die man als christliches Princip bezeichne. Eine solche Theologie, die so von jeder confessionellen Bestimmtheit der Hauptsache nach absehen solle, sei gänzlich ausser Stande, den confessionellen Kirchen zu dienen. Ihr fehle das pectus, die Wärme, sie

120 § 16- Dm Verhältniss d. historischen u. speculativen Theologie. schwebe auf übermenschlichen Höhen bald historischer bald speculativer Abstraction, da sie sich aller Parteinahme enthalten solle. Die Kirchen brauchen, wenn sie Wissenschaft brauchen, eine solche, die für den kirchlichen Inhalt eintritt, nicht aber an Stelle ihrer reichen Entfaltung ein abstractes Princip setzt. Ob dem wirklich so ist? Ob es jemals Aufgabe der Wissenschaft sein kann, mit Affecten verbunden zu sein? Der einzige Affect darf hier die leidenschaftliche Liebe der Wahrheit sein. Im übrigen fragt sich erst, ob nicht gerade diese objective Wissenschaft auch den praktischen Interessen am besten dienen kann. Wer das Wesen des Ghristenthums kennt und sich von der Wahrheit seines Princips überzeugt hat, und wer die Geschichte des Christenthums kennt und weiss, wie sich bisher das christliche Princip in ihr dargestellt hat, der ist auch im Stande, zu erkennen, wie das christliche Princip unter gegebenen Modificationen am consequentesten und gründlichsten durchgeführt wird. Es kann also im recht verstandenen Interesse der Kirchen nur sein, dass die wissenschaftliche Forschung möglichst unbefangen vollzogen wird. Aber allerdings wird man hinzusetzen müssen, die wissenschaftliche Forschung hat auch ihren Werth in sich. Die Erkenntniss ist nicht bloss Mittel für praktische Zwecke, sondern sie ist selbst ein Gut. Die Theologie hat also auch, abgesehen von ihrem etwaigen praktischen Nutzen, als Glied der Wissenschaft eigenen Werth. Es ist an sich werthvoll, über das religiöse Leben der Menschheit, wie es im Christenthum seinen Gipfel erreicht hat, klar zu werden, gerade so wie die Wissenschaft der Religionsphilosophie auch zunächst die Tendenz hat, das Wesen der Religion zu erkennen. Die wissenschaftliche Kenntniss des Christenthums ist mit der historischen und speculatiyen Theologie, die sich gegenseitig ergänzen, abgeschlossen, und es ist kaum möglich, das Wesen des Christenthums anders als auf combinirtem historisch-speculativen Wege kennen zu lernen. Man könnte noch den psychologischen Weg vorschlagen; allein einerseits kann man das

§ 16.

Das Verh<niss d. historischen u. spcculativen Theologie.

121

Wesen des Christenthums aus der psychologischen subjectiven Erfahrung des Einzelnen nicht genügend erkennen; andererseits ist die psychologische Untersuchung in der Speculation mit eingeschlossen. Denn dass das Christenthum wie die Religion überhaupt auch ein psychologischer Vorgang ist und auch psychologisch verstanden werden muss, versteht sich von selbst. Nur reicht die psychologische Untersuchung für sich nicht aus, schon deshalb nicht, weil in der Religion alle Seelenfunctionen gleichmassig betheiligt sind, und es keine Function giebt, die als die specifisch religiöse bezeichnet werden könnte'), das Charakteristische der Religion also nicht in der psychologischen Function sondern in der Richtung des Subjects auf die Gottheit gegeben ist, die sich bald in dieser bald in jener psychologischen Function überwiegend Ausdruck geben kann, je nachdem das einzelne Subject nach der einen oder anderen Seite mehr begabt ist, die eine oder andere Function lebhafter wirksam ist. Aber die psychologische Betrachtung reicht auch nicht aus, weil die Gottheit nicht bloss eine subjective Vorstellung ist. Das psychologische Moment ist also in die speculative Untersuchung des Wesens des Christenthums mit aufzunehmen. Wenn nun aber auch feststeht, dass das theologische Erkennen Selbstzweck und nicht bloss Mittel ist, so schliesst das durchaus nicht aus, dass die Resultate der Erkenntniss auch dem praktischen Leben dienlich sein können, wie in der That jede Vertiefung der Erkenntniss auf irgend welche Weise auch dem praktischen Leben wieder zu Gute kommt. Eben daher können wir nun auch der wissenschaftlichen Theologie eine praktische Erörterung hinzufügen, welche die Aufgabe hat, die Einsicht, welche durch die historisch-speculative Forschung über das Christenthum gewonnen ist, zu verwenden, um unter den ') Vgl. meinen Aufsatz in der Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie N. F. VIII, 4. S. 497 f. Einige Bemerkungen zu neueren Ansichten über das Wesen der Religion, und in den Studien und Kritiken über das Wesen der Religion 1883 H. 2 S. 217 f.

§ 17.

122

D i e praktische Theologie.

gegebenen c o n f e s s i o n e l l v e r s c h i e d e n e n Verhältnissen Rathschläge für das praktische Leben als Consequenzen der gewonnenen Erkenntniss zu ertheilen, wobei es freilich Sache der einzelnen Confessionen ist, wie sie sich zu diesen Rathschlägen verhalten wollen. Dass sie die Rathschläge prüfen, wird man aber jedenfalls fordern müssen. Der w i s s e n s c h a f t l i c h e n Theologie ist also noch die p r a k t i s c h e T h e o l o g i e beizufügen.

Die technische Disciplin der praktischen Theologie.

§ 17. Aufgabe und Theile der praktischen Theologie. Die praktische Theologie 1 ) wird es damit zu thun haben, die theologischen Erkenntnisse für das e m p i r i s c h g e g e b e n e p r a k t i s c h e Leben, wie es sich in den C o n f e s s i o n e n darstellt, zu verwenden. Sie ist eine technische Disciplin, welche für das praktische Leben der Confessionen Anweisungen zu geben hat, welche keine Allgemeingültigkeit in Anspruch nehmen können, sondern nur unter den jeweiligen gegebenen confessionellen und ins Concrete ausgestalteten kirchlichen Verhältnissen gelten. Diese Anweisungen kann sie natürlich nur geben, insofern sie die durch die Theologie gewonnene Erkenntniss des christlichen Princips auf die concreten, individuell bestimmten Verhältnisse anwendet. Die praktische Theologie stellt als technische Disciplin auf praktische Weise die Verbindung zwischen den mannigfach geschiedenen Formen des Christenthums, den partialkirchlichen Denominationen und der wissenschaftlichen Er') Tb. Hamack, Einleitung und Grundlegung der logie.

Kleinert,

S. 2 7 3 f., 1882.

Zur praktischen Theologie, Studien

praktischen Theo-

und Kritiken,

1S80

Seyerlen, System der praktischen Theologie in ihren Grund-

z ü g e n , Zeitschr. f. pr. Th. 1883.

Praktische Theologie von Schleiermacher;

Vinet, Harms, Pastoraltheologie, Th. Hamack, J. Nitzsch, Oosterzee, Krauss, Achelis,

Zezschwitz,

Knocke.

Zeitschrift

für praktische

Bassermann und Ehlers, für Pastoraltheologie von Sachsse.

Theologie

von

§ 17.

Die praktische Theologie.

123

kenntniss des Christenthums her. Sie kann das um so mehr, als j a die wissenschaftliche Theologie selbst die verschiedenen Denominationen der Gegenwart als Resultat der Entwickelung des christlichen Lebens und als Modificationen des christlichen Princips betrachtet. Eben weil die Theologie die Einsicht in den gegenwärtigen Zustand der Christenheit, auch den Zustand jeder Denomination gewährt, jeder als einer Erscheinungsform des christlichen Princips historisch gerecht zu werden sucht, darum kann sie auch technische Rathschläge ertheilen, wie die verschiedenen Confessionen zu handeln haben, um sowohl ihre E i g e n t ü m l i c h keit als auch das christliche Princip in der ihnen gemässen individuellen Modification zu fördern. Die praktische Theologie könnte hiernach in ebensoviel Theile zerfallen als es Denominationen giebt, da sie für jede besonders geartete Anweisungen darüber zu geben hat, wie jede mit ihrer Eigenart das christliche Princip am vollkommensten und consequentesten darstellt, wobei natürlich auch gelegentlich die Kritik vorhandener Uebelstände nicht fehlen dürfte, welche dem christlichen Princip widersprechen oder der betreffenden Individualität nicht eonform sind. Populär könnte man vielleicht diese Anweisungen darin zusammenfassen, dass die praktische Theologie einer jeden Confession zu zeigen hätte, wie sie von ihrer Eigentümlichkeit aus am besten die christliche Gesinnung und das Reich Gottes fördern könne, und wie die verschiedenen Denominationen mit ihren e i g e n t ü m l i c h e n Gaben einander ergänzen können, u m diesem gemeinsamen Ziele zu dienen. Das kann natürlich am besten geschehen, wenn man gleichmässig durch die historische Theologie über die E i g e n t ü m l i c h k e i t jeder Confession und durch die speculative über das Wesen des Christenthums orientirt ist. Aus dem Gesagten geht deutlich hervor, dass die praktische Theologie d u r c h a u s c o n f e s s i o n e l l ist. Denn wenn sie auch die i i b e r c o n f e s s i o n e l l e n Einsichten der Theologie voraussetzt, sowendet sie dieselben doch auf die confessionellen Verhältnisse an. Eben daher ist sie auch als t e c h n i s c h e Disciplin von der

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§ 17.

streng

Die praktische Theologie.

wissenschaftlichen

Theologie

unterschieden.

nun entweder so durchgeführt werden,

Sie

kann

dass man versucht, für

alle Denominationen praktische Rathschläge zu geben, oder dass man bei einer Confession stehen bleibt, deren praktisches Interesse

man

besonders

im

Auge hat.

In

der Regel

wird das

Letztere der Fall sein. Was die c o n c r e t o Ausgestaltung dieser technischen Disciplin betrifft, so wird es nicht nöthig sein, in dieselbe grosse historische Erörterungen holungen aus der kann

sich

einzuflechten,

da diese doch

historischen Theologie

vielmehr

auf

die

nur Wieder-

sein könnten.

betreffenden

Theile

Man

derselben

zurückbeziehen.

Das schliesst

natürlich

Jemand

eine

praktische Frage monographisch

irgend

behandeln sammeln handeln

will, und

er

einzelne auch

verwenden

ist, wird nach

historischen kann.

nicht aus, Stoff

dass wenn

speziellster

Art

Der Stoff, der hier zu be-

seinem Gewichte sehr verschieden

in