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German Pages 544 Year 2003
WOLFGANG M. SCHRÖDER
Grundrechtsdemokratie als Raison offener Staaten
ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Band 91
Grundrechtsdemokratie als Raison offener Staaten Verfassungspolitik im europäischen und im globalen Mehrebenensystem
Von Wolfgang M. Schröder
Duncker & Humblot . Berlin
Die Fakultät für Philosophie und Geschichte der Universität Tübingen hat diese Arbeit im WS 2001/02 als Dissertation angenommen. Im Jahre 2002 wurde sie mit dem Promotionspreis dieser Universität ausgezeichnet.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 3-428-11050-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97061§
A vant propos Die vorliegende Studie erörtert ein Kemproblem der normativen Theorie des Regierens in kompetenzrechtlich nicht mehr "geschlossenen" und insofern "offenen" Staaten. 1 Sie fragt nach der normativen ratio 2 des verfassungspolitischen Managements staatlicher Souveränitätsrechte und Kompetenzen im offenen Verfassungsraum. Eine Antwort hierauf entwickelt und begründet sie in Form eines politisch-philosophischen Verständigungsversuchs mit transdisziplinärem Problembewußtsein. Dieser Versuch hat eine analytische und eine synthetische Komponente. Ein analytischer Grundlegungsteil (Abschnitte A.-D.) stellt zunächst "grundrechtsstaatlich qualifizierte Demokratie,,3 als normatives Legitimitätsziel des Regierens heraus; sodann markiert er die Souveränitäts-, Kompetenz- und Politikverflechtungsstrukturen4 , die für entwickelte - d. h.: in ein ausdifferenziertes "Mehrebenensystem des Regierens"s eingebundene - offene Staaten kennzeichnend sind. Im Blick hierauf werden in einem synthetischen Anschlußteil (Abschnitte E.-I.) Grundbausteine zu einem Verfassungspolitikkonzept6 zusammengetragen, das im Sinne der fraglichen ratio ein normatives Regierungsziel von politikbereichsübergreifender aktueller Bedeutung leitend sein läßt: die Selbsterhaltung grundrechtsstaatlichdemokratisch verantwortlicher Gubernanz7 unter Rechts- und Politikbedingungen entwickelter offener Staatlichkeit. Auf diese Weise will unsere Stu1 Zum Begriff und zur Phänomenologie "offener Staaten" bzw. "offener Staatlichkeit" vgl. unten die Abschnitte A. III. und D., bes. D.VI. f. 2 Gemeint ist eine bestimmte, von praktischer Vernunft gebotene Verfahrensform staatspolitischer Urteilsbildung, die ihrerseits eine bestimmte politische Rationalität darstellt (vgl. dazu die Abschnitte H.-I.). 3 Wir klären diesen Begriff gleich eingangs von Abschnitt A. 4 Vgl. als Problemübersicht Scharpf(l978) und Di Fabio (1998; 2001). 5 Vgl. erläuternd hierzu den Abschnitt A. IV. der vorliegenden Studie. 6 Wenn "Verfassungen" die strukturelle Koppelung von Recht und Politik in einem Gemeinwesen herstellen (Verfassungsrecht formuliert die Bedingungen rechtmäßiger politischer Herrschaft), dann ist "Verfassungspolitik" ihrem allgemeinen Begriff nach diejenige Politik, die auf die Herstellung, Umsetzung, Wahrung oder Veränderung einer entsprechenden Koppelung zielt. Wo wir im Folgenden von "Verfassungspolitik" reden, ist im Regelfall der Bereich der Umsetzung und Wahrung bereits bestehender verfassungsmäßiger Koppelungen von Recht und Politik gemeint. Vgl. allgemein zum Verhältnis von demokratisch-rechtsstaatlicher Verfassung und Politik Grimm (2001), bes. S. 13-32 sowie 183-191.
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Avant propos
die die Auslegungs- und Übersetzungsaufgabe angehen, die in der Überschrift "Grundrechtsdemokratie als Raison offener Staaten"g durch das hermeneutische "als" gestellt ist. Programm und Systematik unserer Studie sind von den drei Hauptzielen gefordert, die sie sich setzt. Zunächst und grundsätzlich will sie erläutern, 1. daß die modernitätsgemäße normative Idee von Politik: grundrechts-
staatliche Demokratie, eine Entsprechung auf der Ebene strategisch9 -verfassungspolitischer Konzepte haben muß; ferner will sie darlegen,
2. wie diese Entsprechung aussehen kann. Sodann und spezifischer soll
3. der Sinn verdeutlicht werden, in welchem ein entsprechend entworfenes Verfassungspolitikkonzept als normative "Raison offener Staaten" angesprochen werden kann. Wie diese Ziele zu erreichen sind und welche Probleme sich damit verbinden, erläutert der Einleitungstei1. 1o Die Textgestalt vorliegender Studie ist eine für den Druck überarbeitete und auf den Stand der Literatur vom 31.10.02 gebrachte Form meiner Dissertation. Diese hat im WS 2001102 der Fakultät für Philosophie und Geschichte der Universität Tübingen vorgelegen und wurde mit dem Promotionspreis 2002 dieser Universität ausgezeichnet. Dankbar verbunden für vielfaltige Anregungen und Hilfe bin ich meiner Familie sowie meinen Tübinger akademischen Lehrern. Mein Doktorvater, Prof. Dr. Dr. h.c. Otfried Häffe, hat mich lernen lassen, was argumentative Politische Philosophie ist und was sie leisten kann; sein Denken hat mich 7 "Gubernanz" steht hier als Oberbegriff für Regierungstätigkeit im Sinne politischer Steuerung. Zu Aufstieg, Niedergang und aktueller Transformation der Theorie politischer Steuerung vgl. Mayntz (1995). 8 Nur aus stilistischen, nicht aus inhaltlichen Gründen verkürzen wir in dieser Kennzeichnung die sonst gebrauchte Formulierung "grundrechtsstaatliche Demokratie" in Anlehnung an den Titel von Stourzh (1989) zu "Grundrechtsdemokratie". 9 Der Strategiebegriff spielt hier auf das an, was O. Höffe "Strategien politischer Gerechtigkeit" nennt. Vgl. dazu Ders. (1987), S. 457 sowie in der vorliegenden Studie Abschnitt A. VII. \0 Vgl. unten Abschnitt A. Fragmente der Vorsokratiker werden nach der Sammlung und Numerierung von DielslKranz zitiert, andere antike Autoren in der Regel nach den Oxforder Textausgaben. Zitate von Kant und Hegel werden meist nach den jeweiligen Akademieausgaben wiedergegeben. Wo die Lesart anderer Editionen vorgezogen oder verglichen wird, ist es angegeben. Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft wird im allgemeinen nach der konsolidierten Fassung mit den Änderungen durch den Vertrag von Amsterdam zitiert. Den Vertrag über die Europäische Union zitieren wir regulär gemäß der neuen Numerierung laut Art. 12 des Vertrages von Amsterdam. Wo von dieser Regel abgewichen wird, ist es ebenfalls kenntlich gemacht.
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A vant propos
in jeder Weise gefordert und gefördert. Dem Zweitgutachter, Prof. Dr. Georg Wieland, verdanke ich nicht nur die Ermutigung zum Promotionsstudium; auch hat er mich stets mit wertvollem Rat begleitet. Prof. Dr. Johannes Brachtendorf und PD Dr. Helmut Gander bin ich für ihre freundliche Bereitschaft zur Erstellung der Summa-Gutachten verbunden. Dr. Christiane Tietz-Steiding hat mit Klarsicht die Stringenz und mit konstruktiver Kritik die Lesbarkeit der vorliegenden Arbeit befördert. Meinen Begriff vom Recht offener Staaten haben Prof. Dr. Dr. h. c. Wolfgang Graf Vitzthum und Prof. Dr. Dr. h.c. Thomas Oppermann geprägt, mein Verständnis vom Ort der Topik im Politischen indes Prof. Dr. Klaus Hartmann (t) und Prof. Dr. Günther Zuntz (t). Was ich im übrigen vom commercium exakter Phantasie und pünktlichem Denken weiß, verdanke ich meinem frühen Mentor Sir John C. Eccles (t) und Prof. Dr. Dr. h.c. Eberhard Jüngel D.D. Zwei Bischöfe der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Walter Card. Kasper und Dr. Gebhard Fürst, sowie Prälat Franz Glaser haben mir durch eine großzügige Freistellung das wissenschaftliche Arbeiten jenseits der Grenzen der Theologie ermöglicht. Der Diözese ist zudem ein Druckkostenzuschuß zu danken. Dem Verlag Duncker & Humblot sowie den Herausgebern der Reihe ,,Erfahrung und Denken" bin ich für die freundliche Aufnahme meiner Studie verbunden. Gewidmet ist sie indessen meinen Eltern. Sie waren mir immer Rückhalt und Vorbild beim "Bohren dicker Bretter" - im Leben wie im Arbeiten. Tübingen, im November 2002
Wolfgang M. Schröder
Inhalt A. Einleitendes und Methodisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Befunde. . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . 11. Fehlanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. III. Lückenschließungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Probleme.. . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. .. V. Ideen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . .. . . . .. . . . . .. . . . .. . . . . .. . . VI. Sujet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. VII. These . ...... . ... .. ... . . . ....... ... ........ .. .... ... ... ... . . .. . VIII. Erläuterungen............. . .................... . ............... IX. Programm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. X. Statt eines elaborierten Forschungsteils .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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B. Politische Legitimität. Zum normativen Maßstab des Regierens . . . . . . .. I. "Legitimität" als geltungstheoretische Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 11. "Legitimität" als sozialphilosophische Kategorie. . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Subsidiarität als basales Legitimitätskriterium. . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Subsidiarität als "situationsrechtliches" Prinzip . ... . . . . . . . . . . . . . III. "Legitimität" als politisch-philosophische Kategorie. . . . . . . . . . . . . . .. IV. "Legitimität" als Ziel des Regierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Zum Begriff des Regierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Ziele des Regierens in der politischen Modeme. . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Effektivität und Legitimität politischer Zie1verwirklichung . . . . . .. 4. Legitimität als normatives Regierungsziel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. V. Resümee: Politische Legitimität durch distributiv-kollektive Vorteilhaftigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Grundrechtsdemokratie: das normative Legitimitätsziel des Regierens . I. Zur Normativität staatsgewaltbindender Menschenrechte. . . . . . . . . . .. 1. Der modeme Menschenrechtsbegriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Moderner Geltungsanspruch der Menschenrechte. . . . . . . . . . . . . . . 3. Menschenrechte als moralisch-kategorisches Recht .. ... . ....... 4. "Tauschgerechtigkeit" der Menschenrechte. O. Höffes Modell . .. 5. Die politische Dimension der Menschenrechte .... .. ... ... .... . 6. Die Positivierungsbedürftigkeit der Menschenrechte. . . . . . . . . . . . 7. Positivierte Menschenrechte als "Grundrechte" ........... . . .. . 8. Funktionen der Grundrechte im Staat. ........................ 9. Probleme grundrechtsdogmatischer Normkonkretionen .......... 10. Fazit zur legitimatorischen Bedeutung von Grundrechten .. .. . . .
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Inhalt 11.
Zur Normativität demokratischer Herrschaftsorganisation ........... 1. Vorüberlegung.............................................. 2. Begriff und Konturen moderner Demokratie. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Legitimatorische Volkssouveränität und normative Demokratie.... 4. Unmittelbare und repräsentative Demokratie .................... 5. Demokratie und öffentliche Herrschaftskontrolle ................ 6. Herrschaftsausübende und herrschaftspartizipatorische Demokratie 7. Warum ist demokratische Herrschaftslegitimation normativ? ..... 8. Fazit zur Bedeutung demokratischer Legitimität ................ Grundrechtsdemokratie als normatives Legitimitätsziel des Regierens . Die Verwirklichung der Grundrechtsdemokratie .................... Ideale versus reale institutionelle Verwirklichungsbedingungen ....... Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
116 116 117 122 124 130 131 132 139 143 149 151 160
D. Staat und Staatsbild im Wandel . .................................... I. Der neuzeitliche Staatsbegriff und der Staatstyp der Moderne ........ 11. Staatssubstrate und das moderne Staatsprinzip ..................... III. Das idealtypische Staatsbild der Dreielemententheorie . . . . . . . . . . . . .. 1. Problemaufriß ......................................... . . . .. 2. Das territoriale Staatssubstrat: Staatsgebiet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Das personale Staatssubstrat: Staatsvolk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Das gubernative Staatssubstrat: Staatsgewalt. ................... 5. Resümee zur Sinnspitze des modernen Staatsprinzips ............ IV. Momente der idealtypischen Einheit des modernen Staates .......... 1. Der moderne Staat als Rechtseinheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Der moderne Staat als Friedenseinheit ......................... 3. Der moderne Staat als Entscheidungseinheit .................... 4. Der moderne Staat als Machteinheit ........................... 5. Fazit zum modernen Idealtypus politischer Einheit im Staat ...... V. Gegenwärtige Modifikationen moderner Staatlichkeit ............... 1. Stichwort "Staatsgebiet" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Stichwort "Staatsvolk" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Stichwort "Staatsgewalt" ..................................... VI. Gegenwartsmodell "offene Staatlichkeit" .......................... 1. Staats- und verfassungsrechtliche Strukturmerkmale ............. 2. Der offene Staat als "pouvoir intermediaire" (P. Saladin)? ....... 3. Hintergründe der Ausbildung offener Staatlichkeit. .............. 4. Gründe für die Selbstöffnung staatlicher Verfassungsräume ....... 5. Rechtlich-politische Wirkmuster offener Staatlichkeit. ........... 6. E.-O. Czempiels These von der Entwicklung der "Gesellschaftswelt" ...................................................... VII. Zwischenergebnis der Selbsttransformation moderner Staatlichkeit . . .
162 162 165 169 169 171 172 174 183 184 184 186 187 188 189 189 189 192 194 199 199 203 209 212 218
III. IV. V. VI.
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Inhalt
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E. Europäisches Regieren im EU-Mehrebenensystem ................. ... 231 I. 11. III. IV. V. VI. VII.
Die EU im europäischen Integrationsprozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der aktuelle politisch-rechtliche Status der EU ................... . Der aktuelle rechtlich-politische Aufbau der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staatliches Verfassungsrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht ... Wandel und Kontinuität der Staatlichkeit der EU-Mitgliedstaaten .... Die EU zwischen Intergouvernementalismus und Supranationalismus . Prinzipien der politischen Dynamik im EU-System . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dualismus zwischen Europarecht und europäischer Politik . . . . . . . 2. Das europarechtliche Subsidiaritätsprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die europäische "Politikverflechtungsfalle" (F.W. Scharpt) ....... VIII. Kompetenzverschiebungen zugunsten der Gemeinschaftsebene? ...... IX. Die Frage des rechtsstaatlichen Grundrechtsschutzes auf EU-Ebene .. X. Demos- und Demokratiedefizite der Gemeinschaftsebene .......... . XI. Wie das europäische Demokratiedefizit beheben? .................. XII. Fazit und Entwicklungsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
231 232 234 237 239 240 244 244 246 252 254 259 262 269 273
F. Zum normativen kriteriologischen Prinzip des Regierens offener Staaten ................................................................ 276 I. 11. III.
IV.
V. VI.
Die Kriterien-, die Prinzipien- und die Schließungsfrage . . . . . . . . . . . . Präzisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subsidiarität als Kriterium staatlicher und suprastaatlicher Kompetenz 1. Zur staatstheoretischen Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips . 2. Subsidiarität im politischen Mehrebenensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . Global-government-Optionen und Global-governance-Alternativen: Die Schließung offener Staatlichkeit auf globalem Niveau ......... . 1. Grundkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Global-government-Optionen und O. Höffes "Weltrepublik"-Entwurf ............... . ....................................... a) Kantische Prämissen: "Weltrepublik" als Rechtsgemeinschaftsbegriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Profil der vernunftgerechten "Weltrepublik" ..... . .... . .. c) Staatsaufgaben der vernunftgemäßen "Weltrepublik" ......... d) Der bleibende normative Kompetenzbereieh der Einzelstaaten . 3. Global-governance-Alternativen und W. Reinickes Konzept einer "global publie policy" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Transformation des public-poliey-Konzepts ................. b) Globale Finanzmärkte und Reinickes governanee-Begriff ..... c) Die politikstrategische Qualität der "global public policy" . . . . d) Subsidiarität in einer global-publie-policy-Struktur. . . . . . . . . . . e) Fazit: Horizontale Subsidiarität als clue der "global publie poliey" .................... . .............................. Übergang zur Klärung der kriteriologisehen Prinzipienfrage ......... Grundaufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
276 278 279 279 282 283 283 285 285 289 291 292 294 294 297 298 300 300 301 304
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Inhalt VII. Politische Verantwortlichkeitssicherung. P. Saladins Entwurf . . . . . . . . VIII. Kompetenztheoretische Grundunterscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Definitionen und analytische Schlußfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weiterführende Schlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Das "republikanische" und das "demokratische" Prinzip .... . ....... X. Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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G. Welche praktische Vernünftigkeit wahrt die Grundrechtsdemokratie? .. I. Systematische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Der Diskurs der "Staatsklugheitslehre" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Alternativen der Staatsklugheitsdiskussion: Achenwall und Kant . . . . . IV. Politiktheoretische Grundweichenstellungen der Staatsklugheitsdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zwischenbilanz: Die hervorgehobene Bedeutung des Phronesis-Konzepts ......... . ........... . ................. . .................. VI. Zur voraristotelischen Theorie der Phronesis .. ... ....... . . . .. ... ... VII. Aristotelische Phronesis: "De anima" und "Nikomachische Ethik" . .. VIII. Praktische Phronesis in der "Nikomachischen Ethik" . .. . .. ... . .. .. . IX. Die politische Dimension der praktischen Phronesis . . . . . . . . . . . . . . . . X. Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
331 331 334 336
H. Zur Methode der Wahrung der Grundrechtsdemokratie in offenen Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Systematische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemaufriß ....... . ...... . .......... ... ........ .. .. .. ... . 2. Die Klärungsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Forderungen ........... .. .......... . .............. . ......... 11. Erster Anknüpfungspunkt: Topik nach Aristotelischem Entwurf .. . . . . 1. Verweisungszusammenhänge .... . ...... .. ..... . ... . ... . ..... . 2. Topik als Argumentationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Entsprechungen .......... . .......................... .. ...... 4. Übergänge zwischen Topik und Rhetorik . . ................... . III. Zweiter Anknüpfungspunkt: Das Aristotelische Rhetorik-Modell . . ... 1. Grundriß .. . .. .. .. . ... .. ...... .. .. . ...... . ... . ....... . ..... 2. Der öUva!lL~-, der "tEXVf]- und der !lE8oöo~-Begriff der Rhetorik 3. Finden und Nutzen sach- und publikumsgemäßer Überzeugungsgründe ...... ............. . .......... .... ........ .. . .. ..... 4. Das Werk der Rhetorik und der Rhetoriker . . . . . .. .. .. .. .. . .... 5. Logos, Ethos und Pathos in der Argumentation . .. ... .. .. .. . ... 6. Das argumentationstheoretische Ziel der Aristotelischen Rhetorik 7. Rhetorik als "antistrophische Entsprechung" zur Dialektik . .... . 8. Rhetorik als Durchsetzungsrnittel des Wahren und Gerechten. . . . 9. Die normative politische Dimension der Aristotelischen Rhetorik 10. Bleibende politiktheoretische Relevanz .. . .. .. .. . ...... . .... . . 11. Fazit. .............. .... ... . ...... . ... ... ........ . . .. .. . ...
340 343 345 349 353 359 363 369 369 369 372 376 377 377 383 389 394 396 396 398 401 403 405 406 407 409 411 413 414
Inhalt
I. Zur Integrierbarkeit der drei dargestellten Momente normativer Verfassungspolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Sachlich-funktionale Integrierbarkeit ............. ... ...... .... . ... 11. Normative Gesichtspunkte ....................................... III. Politiktheoretisch-konzeptuelle Integrierbarkeit ..................... 1. Schwierigkeiten mit klassisch-modernen Politiktypenbegriffen .... 2. Alternative: Kreative Anknüpfung an Ciceros consilium-Begriff .. IV. Übergang zum ratio-Moment des dargelegten Verfassungspolitikkonzepts ... .. ........................... .. ........................
J. Grundrechtsstaatliche Demokratie als "Raison offener Staaten"? Zu-
spitzungen und Klarstellungen . .. .. ... .. ............................. I. Politeia und Verfassungswahrung bei Herodot, Thukydides und Aristoteles ... ....... . .............. .. ............................ 11. "Sophrosyne" als ratio Politie-bewahrender Politik ................. III. Fazit: ratio, consilium und verfassungspolitische Besonnenheit ...... IV. Verfassungspolitische ratio und machtstaatstheoretische Staatsraison .. V. Abgrenzungen gegenüber außenpolitischen Doktrinen ..............
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419 419 420 421 421 423 425 429 429 432 435 436 441
K. Summa summarum . ... . .......................................... .. 446 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Personen- und Sachregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530
Abkürzungsverzeichnis a.a.O. AAS abgk. AbI. Abs.
a.F. AöR Art.
aRV BAG BayrVerf BGBL. BulI.EG BVerfG BVerfGE bzw. ders. dies. DJT DöV DS DVBI. ebd. EEA EG EGen EGKS EGKSV
EGV EMRK EP erI. EU EuGH EuGRZ
am angegebenen Ort Acta Apostolicae Sedis abgekürzt Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Absatz alte Fassung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Verfassung des Deutschen Reichs vom 16.4.1871 Bundesarbeitsgericht Verfassung des Freistaates Bayern vom 2.12.1946 Bundesgesetzblatt Bulletin der Europäischen Gemeinschaften Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgerichtsentscheidung beziehungsweise derselbe dieselben Deutscher Juristentag Die öffentliche Verwaltung Denzinger-Schönmetzer Deutsches Verwaltungsblatt ebenda Einheitliche Europäische Akte vom 28.2.1986 Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaften Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18.4.1951 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 25.3.1957 Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950 Europäisches Parlament erläutert Europäische Union Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte-Zeitschrift
Abkürzungsverzeichnis EuR EuratomV
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Europarecht Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft vom 25.3.1957 Europäische Verteidigungsgemeinschaft EVG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom EWGV 25.3.1957 Europäischer Wirtschaftsraum EWR FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung Fn. Fußnote FS Festschrift Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.5.1949 GG ggf. gegebenenfalls Historien Hist. Hrsg. Herausgeber herausgegeben hrsg. HStR Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland IGH Internationaler Gerichtshof JöR - NF Jahrbuch des öffentlichen Rechts - Neue Folge Juristische Schulung JuS JZ Juristenzeitung KOM Komrnissionsmiueilung n.F. neue Fassung Neue Justiz NJ NJW Neue Juristische Wochenschrift RGBl. Reichsgesetzblatt Rn. Randnote Rnn. Randnoten Seite/Seiten; bei Verweisen auf Gesetzestexte: Satz S. Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Gerichts erSgl. ster Instanz Sp. Spalte st. Rspr. Ständige Rechtsprechung UN Vereinte Nationen UN-Charta Charta der Vereinten Nationen vom 26.6.1945 UNO United Nations Organization USA Vereinigte Staaten von Amerika VO Verordnung VVDStRL Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer WRV Verfassung des Deutschen Reichs vom 11.8.1919 WVRK Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23.5.1969 ZöRV Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht
A. Einleitendes und Methodisches I. Befunde Die politische Modeme kennt ein Herrschaftsorganisationsmodell, das die beiden kritischen Prinzipien neuzeitlicher Staatslegitimation: Menschenrechte und Volkssouveränität, in ausgezeichneter Weise zur Geltung bringt. Gemeint ist grundrechtsstaatliche Demokratie!, verstanden als menschenbzw. grundrechtlieh fundiertes, rechtsstaatlieh verfahrendes und insofern grundrechtsstaatliches2 "government of the people, by the people, for the people,,3. In der Staatenwelt der Gegenwart ist dieses Herrschaftsorganisationsmodell zwar weithin respektiert, aber noch längst nicht allgemein als normativ anerkannt. Auch fehlt ein allgemeiner Konsens darüber, welches die konstitutiven Bestandteile und unabdingbaren Institutionen grundrechtsstaatlicher Demokratie sind. Zwei staatssoziologische Tatsachen verdeutlichen dies. Zunächst fällt eine noch immer stattliche Zahl von Staaten auf, die nicht oder noch nicht in dem möglichen und, aus normativer Sicht, gebotenen Umfang als grundrechtsstaatliche Demokratien organisiert sind. Ferner I Ähnlich sprechen G. Stourzh abkürzend von "Grundrechtsdemokratie" (vgl. Ders. [1989)) und O. Höffe von "qualifizierter Demokratie" (vgl. Ders. [1999b)). Schon die antike athenische Demokratie mit ihrem konstitutiven Moment der politischen Gleichheit vor dem Gesetz und Gleichheit im Recht (laovoJlta) der (Voll-) Bürger (vgl. dazu Thukydides, Hist. H, 37, 1) hatte eine "grundrechtsstaatliche" Dimension, wenngleich in eingeschränktem Sinn. Denn die politische Gleichheit im Recht und die politische Freiheit (eAev(}e(![a) in der antiken Polis waren auf einen bestimmten Kreis von Menschen in der Polis beschränkt - was dem ausgebildeten modernen Menschen- und Grundrechtsverständnis widerspricht. Zum Spannungsverhältnis zwischen der laovoJlta-Idee und der attischen Demokratie vgl. Herodot, Hist. III, 80 f.; V, 37. Zum altgriechischen Rechtsgedanken vgl. Ehrenberg (1921); zum Recht im Horizont des v6Jlo~ äy(!af/Jo~, der als ethische Maßgabe kraft Übereinstimmung aller ehrfürchtig geachtet wird (vgl. Thukydides, Hist. H, 37, 3), vgl. Wolf (1999), S. 86. 2 Eine allgemein verbindliche eindeutige Definition des Rechtsstaatsprinzips fehlt (vgl. dazu Kunig [1986)). Insofern kann unklar sein, ob Geltung und Schutz von Grundrechten konstitutive Momente dieses Prinzips sind oder ob Rechtsstaatlichkeit zur Geltung und zum Schutz von Grundrechten hinzutritt - gleichsam als weiteres Instrument zur Sicherung der einzelnen vor illegitimen Zugriffen der öffentlichen Gewalt. Unsere Kennzeichnung "grundrechtsstaatlich" entscheidet diese Frage im Sinne der erstgenannten Alternative. 3 So die berühmte Demokratiedefinition aus A. Lincolns "Gettysburg Address".
2 Schröder
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sticht die Unterschiedlichkeit von Demokratie- und Rechtsstaatskonzeptionen auf internationaler Ebene ins Auge. 4 Indes zeigt sich noch ein weiteres Phänomen. Es scheint, daß kulturenübergreifend (wenngleich kaum schon wirklich global) eine Sensibilität für die besondere freiheitsfunktionale, integrative und legitimatorische Kraft von Herrschaftsstrukturen besteht, die auf die Gewährleistung von Grundrechtsstaatlichkeit und Demokratie zielen. Hierfür sprechen drei staatssoziologische Tatsachen: - An erster Stelle ist die inzwischen ansehnliche Zahl von Staaten zu nennen, die kraft entsprechender verfassungsrechtlicher Staatszielbestimmungen zumindest nominell als grundrechtsstaatliche Demokratien organisiert sind. - Sodann ist festzustellen, daß auch Staatenverbindungen sich entsprechende staatszielanaloge Richtlinien geben. Was Verbindungen zwischen grundrechtsstaatlichen Demokratien angeht, so hat hier die EG/EU weltweit Modellcharakter. 5 Bei multinationalen zwischenstaatlichen Einrichtungen, bei denen auch nicht-demokratische organisierte Staaten mitwirken, finden sich immerhin häufig verbindliche Festschreibungen menschenrechtlicher Forderungen und zudem Elemente einer zwischenstaatlichen Friedensordnung (Beispiel: UN06 ). Entsprechende Bestimmungen finden sich auch in zwischenstaatlichen Abkommen. 7 In diesen Festschreibungen ist zumindest implizit (von der zu Ende gedachten Logik der Sache her) auch eine Favorisierung rechts staatlich-demokratischer Herrschaftsorganisation enthalten. 8 4 Überhaupt ist in bezug auf den modemen Rechtsstaat zu betonen, daß dessen Verwirklichung - wie die konstitutionellen Monarchien des 19. Jahrhunderts gezeigt haben - nicht notwendig an die Demokratie gebunden ist. Umgekehrt gilt, daß "nicht jede Demokratie bereits aus sich rechtsstaatliche, sogenannte konstitutionelle Demokratie" ist; inwiefern sie letzteres ist, hängt von der Art und vom Ausmaß der rechtsstaatlichen Bindungen und Grenzen ab, in denen sie "lebt" (Böckenförde [1991], S. 366). Zur Frage, inwiefern die (konstitutionelle) Demokratie eine Kultur (nur) des Westens ist, vgl. Greven (Hrsg.) (1998). 5 In Art. F EUV (Maastricht) werden Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit als "allgemeine Grundsätze" der Europäischen Union aufgeführt. 6 Vgl. dazu die Präambel sowie die Art. 1, 2, 55 und 56 der UN-Charta. 7 Vgl. dazu die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" und den "Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte". 8 Die Präambel des "Dokuments des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die Menschliche Dimension der KSZE" vom 29.6.1990 wird sogar deutlich: Dort erkennen die Teilnehmerstaaten an, "daß pluralistische Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wesentlich sind für die Gewährleistung und Achtung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten". Vgl. das Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1990, Nr. 88/S. 757 f. Vgl. auch die "Charta von Paris für ein neues Europa" vom 21.9.1990, Abschnitt I.1. (a.a.O., Nr. 137/S. 1409).
I. Befunde
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- Und schließlich ist ein weiterer Sachverhalt nicht zu übersehen: Wir meinen die große Zahl politischer Gemeinwesen in Osteuropa, Afrika und Lateinamerika, deren reformerische grundrechtsstaatlich-demokratische Entwicklung von innen und außen politisch betrieben wird. 9 Mit dieser Auflistung sind zugleich die drei Grunderscheinungsformen angedeutet, in denen grundrechtsstaatliche Demokratie gegenwärtig als Herrschaftsorganisations- und Herrschaftslegitimationsprinzip konkret begegnet. Die eine, staatsrechtliche Form ist diejenige einer verbindlichen rechtlich-politischen Grundweichenstellung vom Rang einer Verfassungsentscheidung. Die andere, völker- oder gemeinschaftsrechtliche Gestalt ist die von klausel- oder prinzipienförrnigen Normierungen im Rahmen multilateraler Verträge oder Abkommen auf der Ebene des internationalen Rechts. Die letzte hier zu nennende Form ist die einer dynamischen innerstaatlichen oder internationalen Menschenrechts- und Demokratiepolitik im Sinne eines Verfassungsreformprojekts. Wo gegenwärtig eine Favorisierung grundrechtsstaatlicher Demokratie auftritt, reflektiert sie typischerweise zwei politische Grunderfahrungen sowie ein Herrschafts- bzw. Staatsideal vormoderner und moderner Gesellschaften: - Von den besagten Grunderfahrungen betrifft die eine die Häufung und Routinisierung von Menschenrechtsverletzungen in totalitären Staaten, die andere die in jedem großen Herrschaftsverband drohende politische Bevormundung der breiten Masse durch autokratische Eliten. Ex negativo zeichnen beide Erfahrungen normative Güter aus. Genauerhin geben sie zu verstehen, wie politische Herrschaft organisiert und ausgeübt werden muß, um für die jeweils zu Beherrschenden im Prinzip rational zustimmbar und insofern akzeptabel und legitim zu sein. - Die fraglichen Güter sind subjektiv-öffentliche Schutz-, Freiheits- und Verfahrensgarantierechte der einzelnen gegenüber der staatlichen Gewalt sowie gemeinsame politische Selbstbestimmung der einzelnen im Staat. In bezug auf diese normativen Güter bestimmt sich das angesprochene Staatsideal. Dessen inhaltlicher Kern ist die Vorstellung von einer politischen Gesellschafts- und Herrschaftsorganisation, mit der sich jeder einzelne von den Auswirkungen dieser Organisation Betroffene im Prinzip identifizieren kann. Inwiefern grundrechtsstaatliche Demokratie in ausgezeichneter Weise dazu geeignet ist, die genannten normativen Güter zur Geltung zu bringen 9 Zum Systemwechsel in üsteuropa vgl. Lijphart (1992) und Beyme (1994), zum Demokratisierungsprozeß in Lateinamerika und Afrika vgl. Huntington (1991), Lijphart (1990), NohlenlThibaut (1994) und LinzlStepan (1996). 2*
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und das skizzierte Staatsideal zu verwirklichen, legen wir später ausführlich dar lO • Bis dahin dürfen wir unterstellen, daß die eingangs gegebene Definition grundrechtsstaatlicher Demokratie weitgehend für sich selbst sprechen kann.
11. Fehlanzeige Ob und wie grundrechtsstaatliche Demokratie in einem politischen Gemeinwesen zugleich sachgerecht und effektiv verwirklicht werden kann, hängt erfahrungsgemäß von vielen (teilweise auch kontextspezifisch variierenden) Faktoren ab. 11 Stets aber hat sich zweierlei als grundlegend erwiesen. Gemeint sind einerseits ein entsprechend eingerichtetes und angewandtes Veifassungs- und Verwaltungsrecht, andererseits eine politische Führung {"Regierung,,)I2, die im Sinne einer herrschaftsausübenden grundrechtsstaatlichen Demokratie 13 ausgestaltet ist. Die politische Theoriedebatte hat letzterem Befund bislang kaum in vollem Umfang Rechnung getragen. Zwar ist es wahr: Der verfassungsrechtsbezogene Aspekt der Verwirklichung grundrechtsstaatlicher Demokratie ist in der Theoriebildung kaum je zu kurz gekommen. Die Studien über grundrechtsstaatliche Demokratie als vernunftrechtlich-normatives, verfassungsrechtlich zu positivierendes und so in seiner Normativität zu effektivierendes Struktur- und Legitimationsprinzip moderner Verfassungsstaaten sind Legion. Hinreichend erörtert sind auch die möglichen gesetzgebungsbezogenen und verwaltungstechnischen Implikationen, die eine verfassungsrechtliche Festschreibung grundrechtsstaatlicher Demokratie als grundlegender Staatszielbestimmung hat. 14 Indes fehlte etwas anderes Zentrales, zumindest allzu oft: Abgesehen von allgemeinen Debatten über Konsolidierungsmöglichkeiten der Demokratie in postautoritären Gesellschaften 15 ist in der besagten Theoriedebatte ein S. u. Abschnitt C. Zum Themenkomplex "Making Democracy Work" vgl. Putnam (1993) und Schmitter (1994). 12 Vgl. zur "politischen Führung" im Sinne des "Regierens" unten Abschnitt B. IV. 13 Zur Unterscheidung des Demokratieprinzips in die Einzelaspekte Herrschaftslegitimation, Herrschaftsausübung und Herrschaftspartizipation vgl. Höffe (1999b), 10
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S.I07-120.
14 Vgl. etwa zur Diskussion der Frage, ob Staatszielbestimmungen per se Gesetzgebungsaufträge implizieren, MaunzlZippelius (1991), S. 42 f. 15 Wichtige Beiträge hierzu sind Garz6n-Valdes (1988), Diamond (1994), Merkel (1995), DiamandouroslPuhlelGunther (Hrsg.) (1995), LinzlStepan (1996), Anselml FreytaglMarschitzlMarte (Hrsg.) (1999) sowie BrunkhorstlKettner (Hrsg.) (2000).
11. Fehlanzeige
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dezidiert regierungstheoretischer Problemzugang lange Zeit weitgehend ausgefallen. 16 Das muß überraschen - angesichts der oben angedeuteten grundlegenden Bedeutung der Regierungsebene für die Verwirklichung grundrechtsstaatlicher Demokratie. Warum der genannte Wegfall aus systematischer Sicht ein gravierendes Manko darstellt, ist im Folgenden kurz zu erläutern. Als verfassungstheoretisch ausgezeichnetes und oft auch verfassungsrechtlich festgeschriebenes Strukturprinzip moderner politischer Gemeinwesen hat grundrechtsstaatliche Demokratie den Status eines prinzipiell, permanent und bereichsübergreiJend gesteckten Ziels staatlichen Seins und Handeins. In diesem Sinn kommt ihr der Rang eines (wenn nicht verfassungsrechtlich, dann doch verfassungstheoretisch) normativen Grundstaatsziels zu. So gesehen, fallt grundrechtsstaatliche Demokratie unter die Kategorie der basalen Staatszwecke - worunter sonst nur noch fraglos kollektive Interessen wie "Gemeinwohl" (als umfassende politische Integrationsformel) und "Sicherheit" (als elementarste Ausprägungsform des Gemeinwohls) zu fassen sind. Wenn nun schon zum verfassungstheoretischen wie zum verfassungsrechtlichen Begriff des Staatsziels das Moment des Anspruchs auf Bindungswirkung konstitutiv hinzugehört 17 , so bindet die Setzung eines Grundstaatsziel das Handeln der Staatsorgane offenkundig auf besonders nachdrückliche und umfassende Weise. Das Grundstaatsziel verpflichtet seinem allgemeinen Begriff nach alle Staats(führungs)gewalt - Legislative, Exekutive und Judikative - mit Nachdruck (im Fall von verfassungsmäßig festgeschriebenen Grundstaatszielbestimmungen auch rechtsverbindlich) auf die Verfolgung eines bestimmten politischen Zwecks l8 . Zumal die verfassungsrechtliche Form dieser Verpflichtung impliziert, daß es nicht im Ennessen der Träger der Staatsgewalt liegen kann, "zu entscheiden, wann die Verpflichtung zur Zielverwirklichung greifen S0l1,,19. Im Gegenteil: Kraft ihres normativen Geltungsanspruchs üben Staatszielbestimmungen einen unmittelbaren Zwang zur politischen Befassung und Entscheidung aus. Genauerhin formulieren sie die finalprogrammatischen Maßgaben, die beim Regieren (traditionell verstanden als Tätigkeit der Durchsetzung staatlicher Zwecke durch Gesetzgebung und Verwaltung 20) nie vernachlässigt und durch Regieren bestmöglich umgesetzt werden sollen. 16 Vgl. dazu den Überblick über die neuere Theoriebildung unten in Abschnitt A. X. 17 Denn: Eine nonnierende Zielsetzung ohne Anspruch auf Bindungswirkung für die Zielsetzungsadressaten hätte offenkundig von vornherein keinen Sinn. 18 Zur Bindungswirkung von Staatszielen vgl. Sommermann (1997), S. 377-398. 19 S.379. 20 Vgl. zu dieser Definition des Regierens Hennis (1968), S. 85.
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Wenn grundrechts staatliche Demokratie im gekennzeichneten Sinn ein Grundstaatsziel darstellt, dann beschreibt sie auch ein Grundziel des Regierens. Mehr noch: Vor dem skizzierten Hintergrund muß das politische Steuerungshandeln der Staatsorgane als zweite, spezifischere Ebene neben der Ebene der allgemeinen staatlichen Verwaltungstätigkeit gelten, auf der sich die Verwirklichung grundrechtsstaatlicher Demokratie recht eigentlich entscheidet. Nun lehrt die Staaten- und Politikgeschichte, daß sich die volle (oder zumindest optimale) regierungspraktische Umsetzung des Regierungsziels "grundrechts staatliche Demokratie" kaum von selbst versteht. Damit liegen sowohl ein klares Motiv zur Verständigung und Theoriebildung über entsprechende normative Zielverwirklichungsmodelle vor als auch ein Index der sachlichen Bedeutsamkeit einer entsprechenden Theoriedebatte. Lange Zeit hat man die fragliche regierungstheoretische Verständigung versäumt. Einseitig verfassungs- oder verwaltungstheoretische Erwägungen herrschten vor. Dadurch klaffte nicht nur einfach irgendeine Lücke im politisch-theoretischen Diskurs über Grundrechtsstaatlichkeit und Demokratie. Vielmehr erscheint besagtes Versäumnis als Indiz dafür, daß in dem genannten Diskurs lange Zeit kein hinreichend umfassendes Problembewußtsein von den in Rede stehenden Materien ausgebildet war.
Iß. Lückenschließungsansätze Der neueste politiktheoretische Diskurs zeigt sich bestrebt, das Versäumte nachzuholen?1 Systematisch kann er sich dabei von zwei politischen Erfahrungseinsichten leiten lassen. Die eine konnte man schon zu Zeiten traditioneller Staatlichkeit als souverän in sich "geschlossener" rechtlich-politischer Einheit haben. Denn: Obgleich sie gegenwartsbezogen ist, ja in gewisser Hinsicht sogar "aktualistisch" anmuten kann, ist sie nicht gegenwartsspezifisch. Gemeint ist die Erkenntnis, daß die dauerhafte legitimatorische Wirkung grundrechtsstaatlieh-demokratischer Herrschaftsorganisation und Herrschaftsausübung nicht nur abstrakt eine Frage ihres erwartungsgemäßen Funktionierens ist. Vielmehr erscheint sie in hohem Maße auch als eine Frage des konkret erkennbaren dauerhaften Selbsterhaltungswillens und der konkret erkennbaren effektiven Selbsterhaltungsfähigkeit politisch verantwortlichen (d.h.: öffentlich kontrollierbaren und personell wie richtungsmäßig korrigierbaren22) Vgl. dazu exemplarisch die Beiträge in Kohler-Koch (Hrsg.) (1998). Es geht bei der fraglichen Verantwortlichkeit um ein politisch-forensisches Moment, um "Rechenschaftsverantwortung" und letztlich um die Herstellung politischer Haftung. Zur Differenzierung des politischen Verantwortungsbegriffs vgl. 21
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III. Lückenschließungsansätze
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Regierens. Angesichts einer Regierungspraxis, der beide letztgenannten Momente fehlen, ist das legitimitätsstiftende bzw. legitimitätsbekräftigende Vertrauen der Bürger3 in die tatsächliche Geltungskraft verfassungsrechtlicher Bestimmungen zumindest tendenziell aufs Spiel gesetzt. Das fragliche Vertrauen kann hier, nüchtern auf seine Gerechtfertigtheit hin betrachtet, als "Luftbuchung" erscheinen. Und: Wo Bürgervertrauen in der Tat schwindet, da drohen Staats- und Politikverdrossenheit sowie, im Zusammenhang damit, die Legitimitätserosion der Institutionen des staatlichen Gemeinwesens. 24 Die andere Erkenntnis, die die erstgenannte ergänzt und präzisiert, ist in der Tat in spezifischer Weise gegenwartsbezogen. Sie setzt politische Erfahrungsdaten voraus, die so wohl erst auf der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates möglich geworden sind. Die fragliche Stufe ist die der entwickelten (d. h.: der institutionell weitgehend ausdifferenzierten) "offenen" - durch eine maximenartige 25 Verfassungsentscheidung für internationale Kooperation und suprastaatliche Kompetenz 26 "geöffneten" Staatlichkeit. 27 Die im Blick hierauf zu gewinnende regierungstheoretische Einsicht betrifft die Bedeutung der suprastaatlichen Problemdimension der zuvor genannten Selbsterhaltungsthematik. Was ist gemeint? Höffe (1993), S. 20-33, bes. 20 f. Zur Auslegung von "Verantwortung als Staatsprinzip" vgl. Saladin (1985). Zur philosophischen Idee einer "Verantwortungspolitik" vgl. Jaspers (1958), S. 321. Zur staatstheoretischen Frage der "Verantwortungsteilung" vgl. Hoffmann-Riem (2000), bes. S. 56-61. 23 Zum legitimitätstheoretischen Zusammenhang von politischer Partizipation und Vertrauen vgl. Waschkuhn (1984). 24 Vgl. dazu auch unten Abschnitt D. VI. 5. 25 Vgl. Vogel (1964), 47. 26 Unter "suprastaatlicher Kompetenz" verstehen wir allgemein die Kompetenz Supranationaler Organisationen. Die synonyme Verwendung von "suprastaatlich" und "supranational" behalten wir im Folgenden bei. Wo die Nicht-Staatlichkeit der Verfassung einer bestimmten politischen Kompetenz, Institution oder Handlungsebene betont werden soll, geben wir der Kennzeichnung "suprastaatlich" den Vorrang vor der Kennzeichnung "supranational". 27 Die "Offenheit" offener Staaten meint ein genuin rechtliches Merkmal, nicht eine sozialethische oder sozialpsychologische Struktur, wie sie etwa in Bergsons Unterscheidung zwischen der "societe elose" und der "sodete ouverte" sowie mit Poppers Begriff der "open society" thematisch wird. Auch ist nicht in erster Linie ein Gegenentwurf zu Fichtes Idee des "geschlossenen Handelsstaates" gemeint; vgl. hierzu Vogel (1964), S. 33 f. Da "offene Staatlichkeit" in unserem Erörterungszusammenhang stets den per Verfassungsentscheidung geöffneten Verfassungsraum eines Staates meint (vgl. dazu Vogel, S. 6 f.; 30 f.; 34 ff.; 42 f.), reden wir im Folgenden statt von "offenen Verfassungsstaaten" kürzer und doch synonym von "offenen Staaten". Vgl. zur Kontur und normativen Theorie offener Staatlichkeit unter rechtswissenschaftlichem Aspekt Vogel (1964), S. 30 f.; 33 ff., Tomusehat (1992) und Di Fabio (1998; 2000), unter verwaltungswissenschaftlichem Gesichtspunkt Wesseis (2000).
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IV. Probleme Wie wir noch näher sehen werden 28 , hat entwickelte offene Staatlichkeit aus regierungstheoretischer Sicht ein Grundmerkrnal: Sie ist gekennzeichnet durch die institutionell-formelle und informelle politische Einbindung der staatlichen Regierungsebene in ein staatsüberwölbendes "Mehrebenensystem" des Regierens?9 Dieses System entsteht aus der Integration staatlicher und suprastaatlicher politischer Entscheidungsebenen im Rahmen formeller oder informeller Politiknetzwerke (auch im Sinne "zwischenstaatlicher Verwaltungsstränge,,30). Positiv ergibt sich die Einbindung von Staaten in das fragliche System aus der verfassungsmäßigen Selbstöffnung von Staaten für eine internationale Kooperations- und eine suprastaatliche Kompetenzebene. Negativ gesprochen, kommt sie einerseits durch entsprechende hoheitsrechtliehe Selbstbeschränkungen von Staaten zustande, andererseits durch die Zustimmung zu einer rechtlich-politischen Durchgriffswirkung von Entscheidungen suprastaatlicher Kompetenzebenen hinunter auf die Ebene des offenen Staates. Damit ist die Regierungsstruktur, die durch die Einbindung von Staaten in ein überwölbendes Mehrebenensystem möglich wird, in ihren Eckpunkten umrissen. Der Optionscharakter dieser Struktur ist sowohl in pragmatischer als auch in normativer politiktheoretischer Hinsicht interessant. Aus pragmatischer Sicht stellt die skizzierte Einbindungsmöglichkeit ein bedenkenswertes Angebot an alle Staaten dar, die punktuell oder auf Dauer aus politikbereichs- oder rechtsspezifischen Gründen mit der völlig selbständigen Erledigung eines Teils ihrer politischen Aufgaben überfordert sind. Aus normativer Sicht indes kommt die zitierte Einbindungsmöglichkeit einer politischen Vernunftforderung entgegen. Gemeint ist die Forderung nach geordneter, dauerhafter und effektiver friedlicher Staatenkooperation zur Verfolgung von Staatengemeinschaftsinteressen. Implizit liegt in dieser Forderung der Auftrag zur institutionellen Eindämmung und zum Abbau international konfliktträchtiger nationaler Egoismen. Es scheint, daß ein entsprechend ausgestaltetes staatenüberwölbendes Mehrebenensystem des Regierens durchaus dazu geeignet sein könnte, wichtige Rahmenbedingungen zur Verwirklichung dieses Auftrags zu schaffen. Indessen täusche man sich nicht: Wo eine entsprechende Staateneinbindung in der Tat erfolgt (ist), kann die staatliche Regierungspraxis sowohl in
s. u. Abschnitt D. VI. Zu Begriff und Theorie des "Mehrebenensystems des Regierens" im Hinblick auf die Institutionenarchitektur der EU vgl. die Beiträge in lachtenfuchslKohlerKoch (Hrsg.) (1996). Zum älteren Konzept der "Polyarchie" vgl. Dahl (1971). 30 Wessels (2000), S. 18. 28 29
IV. Probleme
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pragmatischer wie in legitimitätstheoretischer Hinsicht wiederum auf Probleme stoßen. Vor allem droht in einem Mehrebenensystem des Regierens die Gefahr von Kompetenzverjlechtungen (als Gegenbegriff zur "Kompetenzentrennung,,)?l Im ungünstigsten Fall können diese sich sogar zu einer "Politikverflechtungsfalle,,32 auswachsen, also zu einer - mindestens bereichsspezifisch auftretenden - Selbstblockade politischen HandeIns angesichts praktisch unaufhebbarer dilemmatischer Handlungsoptionen. 33 Näher betrachten wollen wir im Zuge unserer Erörterung nur den legitimitätstheoretischen Aspekt der Problematik eines Regierens in Staaten, die für suprastaatliche Kompetenz geöffnet sind. Es scheint, daß sich legitimitätstheoretische Probleme hier in besonderer - weil besonders potenzierter Weise in dem Fall ergeben, daß drei Momente zusammenkommen: nämlich (1) grundrechts staatlich-demokratisch verfaßte Staatswesen, die sich (2) in ein Mehrebenensystem des Regierens einbinden, das (3) auf überstaatlicher Regierungsebene ein im Verhältnis zum einzelstaatlichen Grundrechtsschutz partiell niedrigeres Grundrechtsschutzniveau bietet sowie ferner strukturell bedingte Defizite an herrschaftslegitimierender Demokratie aufweist. Unter solchen Voraussetzungen stellt sich die Selbsterhaltungsfrage grundrechtsstaatlich-demokratisch verantwortlichen Regierens, und zwar in drei Grundhinsichten. Zunächst stellt sie sich im Hinblick auf eine zweischneidige Delegationsoption. Typischerweise ist den politischen Entscheidungsträgern34 offener Staaten verfassungsrechtlich die Möglichkeit eingeräumt, Kompetenzen zur Ausübung staatlicher Hoheitsrechte - darunter auch Rechtsetzungs- bzw. Regelungskompetenzen - auf zwischenstaatlich-suprastaatliche Einrichtungen zu übertragen. Dabei kann der Verzicht der staatlichen Regierungsebene auf ihr Kompetenzausübungsrecht bedingt oder unbedingt, zeitlich befristet oder unbefristet sein. Wo der legitime Umfang der fraglichen Übertragungsmöglichkeit verfassungsrechtlich nicht eindeutig festgelegt ist35 , besteht ein erheblicher Ennessensspielraum und damit in der Regel Vgl. dazu Scharpf(l985), S. 225 f. Vgl. S. 350, ferner 334-338 und 346-350. Als Fallstudie zu Politikverflechtungen in der europäischen Technik- und Forschungspolitik vgl. Grande (1994). Zur grundSätzlichen Problemlösungsfähigkeit der EU vgl. Grande (Hrsg.) (2000). 33 Zu "Politikblockaden" in bundesstaatlichen Mehrebenensystemen des Regierens vgl. Grimm (2001), S. 139-150. 34 Im Fall des Bundesstaates: den politischen Entscheidungsträgern mit gesamtstaatlicher Entscheidungskompetenz. 35 Vgl. dazu exemplarisch für entsprechende Regelungen in den Verfassungen offener Staaten Art. 23 und 24 GG. Vergleichbare Regelungen wie im Bonner Grundgesetz finden sich etwa in allen Verfassungen der EU-Staaten außer in derjenigen Belgiens, die keinen Transfer von Kompetenzen erlaubt. Art und Umfang des erlaubten Transfers sind hier jedoch unterschiedlich bzw. unterschiedlich klar be31
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eine verantwortungsvolle Einschätzungsprärogative der staatlichen Kompetenzträger. Allerdings kann eine entsprechend zuständige Verfassungsgerichtsbarkeit auch allgemeine Maßgaben für die politische Ausgestaltung des fraglichen Ermessensspielraums machen. Wie bereits angedeutet, erscheint die besagte Kompetenzübertragungsmöglichkeit aus normativer Sicht im Prinzip als politisch wünschenswert und rechtfertigbar. Dies zumal deshalb, weil staatsübergreifende staatliche Integrations- und Mitwirkungsinteressen, die etwa auch als Staatsziele verfassungsrechtlich festgeschrieben und somit normativiert sein können 36, nur durch bzw. nicht ohne die Selbstbeschränkung einzelstaatlicher Souveränität verwirklicht werden können - und dies wiederum nur durch bzw. nicht ohne die Übertragung von staatlichen Kompetenzausübungsrechten an zwischenstaatlich-suprastaatliche Einrichtungen. Überhaupt sind die Schaffung und der weitere Ausbau von Institutionen des letztgenannten Typs nur durch entsprechende staatliche Kompetenzverzichte möglich?7 Gleichwohl wird eine grundrechtsstaatlich-demokratisch verantwortliche Staatsregierung mit möglichen Kompetenzübertragungen auf suprastaatliche Ebenen behutsam und verantwortungsbewußt umgehen müssen. Das ist, wie bereits angedeutet, zumal dann und insofern geboten, wenn und insoweit der Grundrechtsschutz- und Rechtsstaatlichkeitsstandard sowie die demokratische Legitimation und Kontrolle der fraglichen suprastaatlichen Kompetenzausübungs- und Aufgabenerledigungsebenen gemessen am nationalstaatlich verbindlichen und erreichbaren Niveau strukturell defizitär oder zumindest in ihrem Umfang unklar erscheinen. Zwar ist es richtig, daß auch in grundrechtsstaatlichen repräsentativen 38 Demokratien nicht ausnahmslos jede Art politisch-rechtlicher Kompetenzausübung auf eine unmittelbare demokratische Legitimation angewiesen ist. Das gilt am offensichtlichsten im Hinblick auf reine Repräsentationsaufgastimmt. Eine ausdrückliche Regelung der Übertragung nationalstaatlicher Kompetenzen findet sich in den Verfassungen Dänemarks (Art. 20), Griechenlands (Art. 28), Irlands (Art. 29.3/4), Italiens (Art. 11), der Niederlande (Art. 92), Portugals (Art. 8,3) und Spaniens (Art. 93). In einigen Staaten beziehen sich die entsprechenden Artikel nur auf Teilbereiche der Transferierung (prozedurale Bestimmungen in Frankreich, nur vorübergehende Transfers in Luxemburg), in einigen anderen Staaten indes fehlt eine Regelung der Kompetenzübertragung gänzlich. Vgl. Pfetsch (1997), S. 126 f. 36 Vgl. dazu exemplarisch die Präambel des Bonner Grundgesetzes sowie Art. 23 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 2 GG. Wir kommen auf diese Artikel unten in Abschnitt D. VI. 4 ausführlich zurück. 37 V gl. dazu unten Abschnitt D. VI. 4 f. 38 Zur Typologie der "herrschaftsausübenden Demokratie" und speziell zur Unterscheidung von repräsentativer und direkter Demokratie vgl. unten den Abschnitt C. 11. 4.
IV. Probleme
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ben von Mitgliedern der Exekutive. Ferner mag es richtig sein, daß ein Mehrebenensystem des Regierens mehrere unterschiedliche Legitimationsquellen (eventuell auch solche, die auf reinen Effektivitätsgesichtspunkten von Politik39 beruhen) haben kann, von denen Grundrechtsschutz und herrschaftslegitimierende Demokratie eben nur zwei - wenngleich die zwei wichtigsten aus normativer Sicht! - darstellen. Gleichwohl lassen sich ohne weiteres staatliche Aufgaben und Hoheitsrechte denken, bei denen die grundrechts staatlich-demokratische Art und Weise ihrer Erledigung und Ausübung nicht hinter dem Aspekt ihrer effektiven Erledigung und Ausübung zurücktreten darf. Dem Typus nach wären hier solche staatlichen Aufgaben und Hoheitsrechte angesprochen, bei denen es inhaltlich unmittelbar um die Bewahrung und den Schutz der menschenrechtlichen Würde und der demokratischen Selbstregierung der Staatsbürger geht. Neuere prominente Beispiele für entsprechende Aufgaben und Befugnisse sind die falligen rechtlichen Regelungen bioethischer und verbraucherschutzpolitischer Fragen. In bezug auf diese oder vergleichbare Regelungsbelange kann es aus normativer Sicht nicht gleichgültig sein, ob und in welchem Maß eine Übertragung entsprechender staatlicher Zuständigkeiten auf suprastaatliche Ebenen auf eine Legitimationsschwächung politischer Aufgabenerledigung hinausläuft. Vielmehr muß man sehen, daß die Verlagerung der Ausübung entsprechender Kompetenzen in einen Bereich verminderter Rechtssicherheit und geringer öffentlicher Kontrollmöglichkeiten der Idee grundrechtsstaatlich-demokratischer Herrschaftslegitimation und -organisation diametral zuwiderliefe. Halten wir fest: Wo staatliche Zuständigkeiten von grundrechtsstaatlichen Demokratien an suprastaatliche Ebenen übertragen werden, mag dies durchaus in dem Bewußtsein geschehen, so dem Interesse effektiver politischer Aufgabenerledigung zu dienen. Dessen unbeschadet, besteht im Interesse der Verwirklichung und Sicherung grundrechts staatlicher Demokratie hier eine Prüfungspflicht. Sie gilt für die politisch verantwortlichen Entschei39 Den Unterschied zwischen Effektivität und Legitimität in politiktheoretischer Hinsicht kann man mit S.M. Lipset wie folgt definieren: Effektivität (effectiveness) ist "the actual performance, the extent to which it [scil. the political system; W.M.S.] satisfies the basic functions of govemment as defined by the expectations of most members of a society" (Ders. [1960], S. 85). Legitimität indessen ist der Inbegriff für die "capacity of a political system to engender and maintain the belief that existing political institutions are the most appropriate or proper ones for the society" (Ebd.) Graf Kielmansegg gibt im Blick auf diese Unterscheidung zu bedenken: "Ist die Effizienz eines politischen Systems eine objektive Größe? Heißt über Effizienz urteilen nicht Leistungen am Maßstab bestimmter Leistungserwartungen zu messen? Und sind Leistungserwartungen, die sich auf ein politisches System richten, nicht notwendigerweise jedenfalls mitgeprägt von jenen Geltungsvorstellungen, auf die das System sich gründet?" (Ders. [1971], S. 391).
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dungsträger offener grundrechtsstaatlicher Demokratien. Inhaltlich betrifft sie ein Zweifaches. Einerseits ist (zumindest abschätzungsweise) das Maß zu prüfen, in dem die in Betracht gezogenen Übertragungen jeweils auf Kosten des grundrechts staatlich-demokratischen Legitirnitätsniveaus der Kompetenzausübung gehen. Andererseits ist auszumachen, welche Minirnierungsmöglichkeiten drohender Legitimitätsverluste rechtlich oder politisch in die jeweils in Frage stehende Zuständigkeitsübertragung einzubauen sind. Auf die fragliche Prüfungspflicht kommen wir gleich noch zurück. Zunächst gehen wir auf die Frage der Minimierungsmöglichkeiten ein. Als solche kommen hier vor allem Festschreibungen bestimmter formaler oder materialer Geltungsvorbehalte für legitimitätstheoretisch heikle Kompetenzübertragungen in Frage. Denkbar sind aber auch andere Beschränkungen wie etwa die durch Kompetenzübertragungen geschaffene Rechtslage der "konkurrierenden" oder "parallelen" Zuständigkeit40 zweier Ebenen (anstatt der ausschließlichen Zuständigkeit einer Ebene). Mindestens im Sinne der skizzierten Prüfungspflicht ist hier der Selbsterhaltungswille der herrschaftsausübenden Ebene grundrechtsstaatlicher Demokratie, repräsentiert durch die Träger staatlicher Regierungskompetenz, herausgefordert. Zwei weitere Aspekte sind zu nennen, unter denen die skizzierte Einbindung grundrechtsstaatlicher Demokratien aus politisch-Iegitirnitätstheoretischer Sicht problembehaftet sein kann. Wir meinen die Möglichkeit von und den Umgang mit Kompetenzunklarheiten und Kompetenzstreitigkeiten, die in einem staatsüberwölbenden Mehrebenensystem des Regierens zwischen suprastaatlicher und staatlicher Ebene auftreten können. Wir denken hier vor allem an unklare oder strittige Rechtsetzungskompetenzen im Sinne von Norm- bzw. Normkonkretisierungskonflikten41 , weniger an Fragen außenpolitischer (völkerrechtlicher), verwaltungsmäßiger und gerichtlicher Zuständigkeiten. Betrachten wir zunächst den genannten "Möglichkeitsaspekt" . Kompetenzklärungsschwierigkeiten können einerseits in dem Gemeinschaftsrecht (vor-)programrniert sein, das ein Mehrebenensystem des Regierens als differenzierte rechtlich-politische Einheit begründet und ordnet. So etwa dadurch, daß für wichtige politische Materien keine oder keine hinreichend eindeutigen42 konsentierten festen Kompetenzverteilungsprinzipien und Kompetenznormen bestehen, die ausschließliche und konkurrierende Zuständigkeiten klar regeln. Unter solchen Umständen sind unterschiedVgl. dazu Merten (Hrsg.) (1993), S. 117 f. und Zuleeg (1997), S. 216, Rn. 6. Mit R. Stettner (vgl. Ders. [1983], S. 375) kann man zwei Grundtypen von Kompetenzkonflikten unterscheiden: einerseits "echte Kompetenzkonflikte", die durch einen Normwiderspruch ausgelöst werden; und andererseits "Normanwendungskonflikte" , d. h. Interpretationsstreitigkeiten, die bei der Normauslegung auftreten können, die aber auch auslegungsweise zu lösen sind. 40 41
IV. Probleme
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lichen Rechtsauffassungen Tor und Tür geöffnet - was Konflikte fönnlich provoziert. Der "Königsweg" zu einer fairen Konfliktbeilegung scheint hier offensichtlich der Gang zu einem unparteiischen Dritten zu sein: Man überläßt die autoritative Entscheidung über Nonnauslegungs- und Normkonkretisierungsfragen, die zwischen staatlicher und suprastaatlicher Kompetenzebene strittig sind, einer entsprechend ennächtigten überstaatlichen Verfassungsoder Schiedsgerichtsbarkeit. Dieser Weg kann in der Tat zielführend sein. Vorausgesetzt ist dabei aber, daß die fragliche überstaatliche Verfassungsoder Schiedsgerichtsbarkeit in ihrer Rechtsauslegung ihrerseits hinreichend klaren, vernünftigerweise unstrittigen, rechtsstaatlieh sachgemäßen und unparteiischen Prinzipien folgt. Vor allem muß ausgeschlossen werden können, daß sich ihre Judikatur einseitig nach rechtlichen Integrations- und Kohärenzinteressen der suprastaatlichen Ebene ausrichtet. Andernfalls würde dem Urteils spruch der fraglichen Verfassungs- oder Schiedsgerichtsbarkeit offenkundig eine allgemeingültige Akzeptanzgrundlage fehlen - und damit auch die effektiv konfliktlösende Wirkung. Das gilt zumal dann, wenn das erwähnte Gericht nur eine Anweisungsbefugnis hat. Wir sehen: Auch der "Königsweg" zur gerechten Regelung von Zwischen-Ebenen-Verhältnissen ist nicht ohne Vorbedingungen gangbar. Kommen wir nochmals auf die beiden ursprünglichen Sachprobleme zurück: auf die Möglichkeit von und den Umgang mit Kompetenzunklarheiten und Kompetenzstreitigkeiten in einem staatsüberwölbenden Mehrebenensystem des Regierens. Neben (inner-)rechtlichen Gründen für das Auftreten solcher Schwierigkeiten kann es auch vOlTechtliche geben. Denn auch aus vorrechtlichen Gründen kann es - sogar durchaus legitimerweise! - zu unterschiedlichen Kompetenz(vorrangs)vennutungen konkurrierender Kompetenzausübungsebenen kommen. So kann es etwa sein, daß sich eine Zuständigkeitsfrage im Hinblick auf die Lösung eines politischen oder rechtlichen Problems stellt, bei welchem die Sache selbst, genauer: der sachliche Problemkern, unterschiedliche analytische Zugangs- und Deutungsweisen duldet. In diesem Fall liegt es in der Natur der Sache, daß unterschiedliche Problembewertungen und Ansichten über Problemlösungsvoraussetzungen möglich sind. Infolgedessen kann es hier auch zu unterschiedlichen Einschätzungen zum Gegebensein von "Kompetenzen kraft Sachzusammenhangs" kommen. Halten wir fest: Auf jede der genannten Weisen können Kompetenz(vorrangs)verhältnisse in einem staatsüberwölbenden Mehrebenensystem 42
Zu Grundsatzfragen der Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache vgl.
Kirchhof (1987). Zu Gewißheitsverlusten im juristischen Denken und zur "politisehen" Funktion der juristischen Methode vgl. Haverkate (1977).
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des Regierens unklar oder strittig sein. Und auf mindestens ebensoviele Weisen kann für Träger von Regierungskompetenz die effektive Wahrung legitimer Zuständigkeiten im Konfliktfall problematisch sein. Wirkliche Lösungen scheinen hier überhaupt nur dann möglich, wenn eine einheitliche und eindeutige Kriteriologie sowie ein konsentiertes Verfahren zur Stelle sind, mittels deren legitime bzw. vorrangige Kompetenzausübungsebenen von illegitimen bzw. nachrangigen verbindlich unterschieden werden können. Ohne allseitig verbindliche und unparteiisch ausgelegte Maßstäbe kann es nicht gelingen, im Fall kollidierender Kompetenz(vorrangs)vermutungen Kompetenzverschiebungen und Kompetenzanmaßungen "objektiv" verbindlich als solche auszuweisen. Damit sind wir bei dem "Umgangsaspekt" unseres Kompetenzenklärungsproblems angekommen. Dieser ist kürzer abzuhandeln, weil wir an schon Dargelegtes anknüpfen können. Auch hier ist aus normativer Sicht auf eine Prüfungspflicht zu verweisen, die für die politisch verantwortlichen Entscheidungsträger im offenen Verfassungsraum besteht. Gegenstände dieser Prüfungspflicht sind im gekennzeichneten Kontext die positive Rechtslage und deren sinngerechte Auslegung gemäß den positivrechtlichen Vorgaben und in Orientierung an rational zustimmbaren Maßstäben politischer Gerechtigkeit. Dabei ist der Orientierungsbegriff hier analog zu seinem ursprünglichen Wortsinn zu verstehen, den Kant in Erinnerung gerufen hat: "Sich orientieren heißt in der eigentlichen Bedeutung des Wortes: aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont einteilen) die übrigen, namentlich den Anfang zu finden. ,,43
*
Die bis hierhin umrissene Problematik ist, wie bereits angedeutet, kein bloßes theoretisches Konstrukt. Sie ist im Blick auf das gegenwärtige internationale System rekonstruiert. Namentlich das Beispiel des europäischen Mehrebenensystems der EG in den 1970er und 1980er Jahren zeigt, daß Kompetenzverschiebungs- und Kompetenzanmaßungspotentiale44 und Kompetenzanmaßungsversuche auf suprastaatlicher Ebene in praxi gar nicht so selten sind. Mitunter - wenn auch nur vereinzelt und meist wenig erfolgreich - ist es in dem angesprochenen System auch zu Kompetenzanmaßungsversuchen von staatlichen Institutionen gegenüber suprastaatlichen Institutionen gekommen. Wie auch immer: Wo die besagten Verschiebungsansinnen und Anmaßungsfälle auftreten, haben sie typischerweise zwei Grundmotive. Für Kant, AA VIII, 134. Exemplarisch hierfür ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Zu dessen Aufgabe vgl. unten Abschnitt E. VII. 43
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V. Ideen
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"Kompetenzimperialismus" auf suprastaatlicher Ebene ist zumeist das Motiv zentralistischer Vereinheitlichungs- und Steuerungsinteressen bestimmend (eventuell kaschiert hinter einer scheinbar rein sachbezogenen Rechtsauslegungsmaxime wie der des effet utile 45 ). Das Pendant hierzu auf einzelstaatlicher Ebene ist das Motiv des nationalen Egoismus (eventuell "begründet" durch innenpolitischen Profilierungsdruck der staatlichen Kompetenzträger). Zweifellos begründet keines der genannten Motive einen normativen Vorrangsanspruch. Vielmehr disqualifizieren sie sich aus normativer Sicht durch ihre jeweilige politische Tendenz. Das erstgenannte suprastaatliche Motiv zentralistischer Vereinheitlichungs- und Steuerungsinteressen verletzt das legitime Selbstbestimmungsrecht der jeweils übervorteilten staatlichen Ebene. Indessen beschädigt das zweitgenannte einzelstaatliche Motiv des nationalen Egoismus das legitime Durchgriffsrecht der jeweils übervorteilten suprastaatlichen Instanz. Aus normativ-Iegitimitätstheoretischer Sicht sind daher sowohl die Vermeidung von Kompetenzverschiebungen und Kompetenzanmaßungen als auch die Abwehr von Kompetenzanmaßungsversuchen geboten. Was die genannte Autonomieverletzung im Fall der Übervorteilung der staatlichen Ebene betrifft, so steht diese in diametralem Gegensatz zu dem, was das Herrschaftslegitimationsprinzip "grundrechts staatliche Demokratie" im fraglichen Fall fordern würde. Bei besagter Autonomieverletzung übervorteilt nämlich eine vergleichsweise weniger klar legitimierte Regierungsebene eine relativ klarer legitimierte. Diese legitimitäts theoretische Schieflage muß schon dem common-sense-mäßigen Rechtsempfinden fragwürdig genug erscheinen. Indes kann sie erst recht nicht im Sinne der Idee der Selbsterhaltung grundrechts staatlich-demokratisch verantwortlichen Regierens sein. Daher läuft der gekennzeichnete potentiell autonomieverletzende Übervorteilungsfall ebenfalls auf eine regierungsethische, nicht nur regierungstechnische Herausforderung hinaus. Näherhin stellt er nicht nur eine Herausforderung des Selbsterhaltungswillens dar. Vielmehr ist er offenkundig auch eine Herausforderung der potentiellen Selbsterhaltungsfähigkeit herrschaftsausübender grundrechtsstaatlicher Demokratie.
v. Ideen Zweifellos verlangt das legitimitätstheoretische Problempotential, das in der Einbindung grundrechtsstaatlicher Demokratien in ein Mehrebenensystem des Regierens liegt, nach einer Bewältigungsstrategie. Indes wird man 45 Die Maxime des effet utile, die der französischen juristischen Tradition entstammt, sieht vor, daß zur Erzielung der "nützlichen Wirksamkeit" der fraglichen Vorschriften jeweils deren "voller Sinn" zu entfalten ist.
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bei nüchterner Einschätzung der Lage nicht damit rechnen, daß das strukturelle Defizit suprastaatlicher politischer Handlungsebenen an grundrechtsstaatlicher Demokratie unproblematisch, schnell und vollständig behoben werden kann. Aus heutiger Sicht ist dieses Behebungsanliegen, sofern es überhaupt vollständig umsetzbar ist, ein langfristiges Ziel, kein kurz- oder mittelfristig abzuschließendes Projekt. Dennoch: Wer gegen utopisches Denken unvoreingenommen ist, wird sich nicht scheuen, dieses langfristige Ziel programmatisch auszubuchstabieren; womöglich gar in Form eines entsprechenden politisch-philosophischen Gesamtentwurfs. Der Skeptiker indes wird sich mit schlüssigen Defizitminimierungstheorien mittlerer Reichweite zufriedengeben. Überhaupt wird er Radikallösungen von vornherein ausschließen: namentlich den völligen Verzicht sowohl auf die weitere Einrichtung als auch auf die weitere aushilfsweise Nutzung funktionaler suprastaatlicher Handlungsebenen. Dieser doppelte Verzicht wäre offenkundig töricht und unverantwortlich - angesichts der klaren Überforderung einzelstaatlicher Handlungsmöglichkeiten mit der Gewährleistung wichtiger Staatsaufgaben wie allgemeine Sicherheit und Wohlfahrt der Bürger. Der Pragmatiker schließlich wird fragen, ob und wie die in Rede stehende Problematik überhaupt zu optimieren ist. Inhaltlich dürften weder der utopiefreundliche Denker noch der skeptische und auch nicht der pragmatische an einer Frage vorbeikommen, die, wie es scheint, den systematischen Kern des gekennzeichneten legitimitätstheoretischen Problempotentials zur Sprache bringt. Wir meinen die Frage, wie die Praxis (1) der Übertragung von staatlichen Kompetenzausübungsrechten und (2) des Umgangs mit kollidierenden Kompetenz(vorrangs)vermutungen innerhalb eines Mehrebenensystems des Regierens normativ zu modellieren ist. Betrachten wir zunächst die unter (2) genannte Problematik. Der Umriß eines normativen Handlungsmodells im besagten Kollisionsfall entsteht, wenn man die Grundlinien einer einfachen Erkenntnis auszieht. Letztere betrifft die Tatsache, daß es präferentielle und nachrangige Möglichkeiten zur autoritativen Auflösung der Kollision staatlicher und suprastaatlicher Kompetenz(vorrangs)vermutungen gibt. Gerechterweise kann und muß eine solche Auflösung in letzter Instanz durch eine allseitig akzeptierte unparteiische überstaatliche Gerichtsbarkeit nach Recht und Gesetz erfolgen. Vorausgesetzt ist dabei zweierlei. Zunächst muß die umstrittene Kompetenzenfrage überhaupt justiziabel sein; sie darf also nicht eine rein politische Materie im Sinne der political-question-Doktrin des Supreme-Court der USA46 darstellen, für deren Entscheidung die Judikative nicht wirklich zu46 Gemäß dieser Doktrin ist der Verfassungs gerichtsbarkeit bei der Bearbeitung einer Verfassungsklage im Zweifelsfall eine Nichteinmischung in den politischen
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ständig ist. Sodann muß ein entsprechender gerichtlicher Urteilsspruch nennenswerte Konsequenzen haben. Daß dies in praxi keineswegs selbstverständlich ist, zeigen beispielhaft die geringen rechtlichen Folgen, mit denen man rechnen muß, wenn der Europäische Gerichtshof eine Verletzung des europarechtlichen Subsidiaritätsprinzips feststellt47. Wie auch immer: Aus normativer Sicht sind "letzte Instanzen" kompetenziell immer relativ nachrangige, subsidiäre Instanzen. Insofern ist auch ihre Einschaltung in einen Streit um Kompetenzen nicht die erste (präferentielle), sondern die letzte (ultimative) vernünftige Option der Kontrahenten. Im Prinzip hindert nichts, daß die fragliche Kollisionsauflösung bereits "erstinstanzlich", auf politischem Verhandlungsweg nämlich, erreicht werden kann, kraft einer allseitigen Verständigung auf die sachliche Prüfung und faire Akzeptanz der besseren Argumente. Zugegeben: Diese Möglichkeit entspricht typischerweise nicht den kurzfristigen, durchaus jedoch den wohlverstandenen langfristigen Image-, Akzeptanz- und Machtinteressen staatlicher wie suprastaatlicher politischer Entscheidungsträger. Davon unabhängig bleibt es dabei: Der zitierten erstinstanzlichen Option gebührt aus normativer Sicht der Vorzug gegenüber der genannten letztinstanzlichen Kollisionsauflösung. Neben der politischen Verantwortung von Trägem hoheitlicher Rollen gibt es, allgemeiner noch, die Verantwortung der Politik für den ihr zugedachten Aufgabenbereich der Herstellung und Durchsetzung allgemein verbindlicher Entscheidungen. Es wäre unredlich und zudem ein selbst ausgestelltes Armutszeugnis der Politik, wenn diese Verantwortung ohne Not auf andere Instanzen abgewälzt würde. Wo zentrale politische Fragen zunehmend von Gerichten statt von Politikern entschieden werden, geraten die Kompetenz der Politik und die Selbstdisziplin der Gerichte unnötigerweise in Mißkredit. Welche Antwort ergibt sich aus diesen Überlegungen auf die Frage, wie sich der Umgang mit kollidierenden Kompetenzvermutungen innerhalb eines Mehrebenensystems des Regierens in normativer Hinsicht modellieren läßt? Wir beschränken uns auf die Skizzierung eines normativen Minimalmodells. Diesem zufolge sollte der fragliche Umgang in der Weise erfolgen, daß die betroffenen Ebenen für die erstinstanzliehe Überprüfung der Begründungen der strittigen Kompetenz(vorrangs)vermutungen auf Kompetenzanmaßungsmotive offen sind und im Fall positiver Befunde erstere selbst korrigieren. Auf diese Weise kann das genuin politische Konfliktlösungspotential voll ausgeschöpft werden; und der letztinstanzliehe Gang Prozeß geboten. Es gilt hier also die Pflicht zu einer juristischen Selbstbeschränkung Gudicial self-restraint). 47 Womöglich hat es hier mit einer Rüge sein Bewenden. Vgl. dazu Jarass (1994), S. 32-43. 3 Schröder
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zum Verfassungs gericht bleibt als Option für die Fälle aufgespart, in denen die Politik in der Tat überfordert ist. Wo eine bisherige Kollisionsauflösungspraxis in der Regel anders abläuft, kann das umrissene normative Minimalmodell eine (grundsätzlichste) Maßgabe für eine entsprechende Praxisoptimierung sein. Kommen wir nun auf die unter (1) genannte Problematik, die normative Modellierung der Übertragung von staatlichen Kompetenzausübungsrechten, zurück. Hier gilt es, in der Frage nach einem sachgerechten systematischen Ausgangspunkt weder zu hoch noch zu kurz zu greifen. Angemessen dürfte ein Ansetzen mit der Annahme sein, das Mindeste, was man im Blick auf die besagte Kompetenzenübertragung aus normativer Sicht fordern könne, sei eine rationale und gewissenhafte Erwägung der Effektivitäts- und Legitimitätsgesichtspunkte einer jeden projektierten Übertragung. Sofern diese Erwägung auf normative Handlungsorientierung hin angelegt ist, kann sie nicht eine schlichte Abwägung von Effektivitäts- und Legitimitätsgesichtspunkten sein. Denn nicht nur würde hierbei problematischerweise qualitativ Ungleiches miteinander verglichen. Auch würde eine politiktheoretisch bedeutsame Asymmetrie der betreffenden Faktoren übersehen48 • Und schließlich bliebe außer acht, daß ohne weiteres politiktheoretische Konstellationen denkbar sind, bei denen die Frage nach der normativen Begründbarkeit politischer Institutionen und politischen Handeins das "Schema Leistungserwartung-Leistungserfüllung" durchstößt. 49 Überhaupt ist zu betonen, daß die fragliche Erwägung auf normative Handlungsorientierung in Verteilungs- und Verortungsfragen (nämlich in Fragen der normativen Verteilung und Verortung von Kompetenzausübungsrechten) ausgerichtet ist. Sie zielt also im Kern auf die Lösung einer normativen Zuordnungsproblematik, nicht, wie im Fall einer Alternativenabwägung (etwa im Sinne des rational-choice-Konzepts), bloß auf die Auszeichnung rationaler Präferenzen, die gegebenenfalls Zuordnungsempfehlungen gemäß den jeweils angesetzten Rationalitätskonzepten implizieren. Damit steht fest: In der Hauptsache ist es eine deliberative Verortungsleistung, die der fraglichen Erwägung zuzudenken und abzuverlangen ist. Es geht um normative politisch-rechtliche Handlungsorientierung im Sinne einer kompe48 Graf Kielmansegg hat in Anlehnung an S.M. Lipset die fragliche Asymmetrie am Beispiel der Stabilitätsbedingungen demokratischer Systeme herausgestellt: Während politische Legitimität einen Mangel an politischer Effizienz bis zu einem gewissen Grad zu kompensieren vermag (und somit besonders wichtig sein dürfte für die Stabilisierung demokratischer Systeme in Zeiten gravierender politischer Leistungsstörungen), kann das Zusammentreffen eines Mangels an Legitimität mit nachhaltiger Ineffizienz "eine gefährliche, wenn nicht tödliche Krise heraufbeschwören [... ]. Das Beispiel der Weimarer Republik liegt nahe, auch das der französischen IV. Republik [... ]." (Graf Kielmansegg [1971], S. 392). 49 Vgl. dazu S. 395.
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tenzrechtlichen Verortungsanweisung. Letztlich also geht es, wenn man so will, um die Theorie eines normativ orientierenden "topologischen" Urteils. Auch hier stellt sich die Frage nach dem Minimum an normativer Modellierung, dessen diese Verortungsleistung bedarf. Da die normative Problematik der letzteren im Kern "entscheidungstechnischer" Art ist, wird auch das fragliche Minimum sinnvollerweise als entscheidungstechnische Forderung zu formulieren sein - und zwar etwa wie folgt: Über die Übertragung von Hoheitsrechten grundrechtsstaatlicher Demokratien auf suprastaatliche Einrichtungen ist im Rahmen einer Analyse der legitimitätstheoretisch relevanten Aspekte der fraglichen Delegationen zu entscheiden. Denn so kann normative "gubernative" (d. h.: die Träger von Regierungskompetenz betreffende) Handlungsorientierung entstehen in Form eines abgewogenen Urteils über die normative Zuordnungsebene der zur Disposition stehenden Kompetenzausübungsrechte. Die Adresse dieser Forderung liegt auf der Hand: Angesprochen sind die entsprechenden staatlichen Kompetenzträger. Ohne Zweifel sind die unter (1) und (2) umrissenen normativen Minimalpositionen nicht mehr als bloße Skizzen, die, um ein präzises Bild von ihrer Sache geben zu können, in vielfältiger Weise der Vervollständigung bedürfen. Dabei bietet jede der beiden Positionsskizzen bereits genügend Stoff für umfängliche staats-, rechts- und politikwissenschaftliche Einzelstudien. Allerdings ist auch nicht zu übersehen, daß die beiden angesprochenen Positionen eine Schnittmenge an grundlegenden systematischen Aspekten aufweisen. Beide sind offenkundig auf ein einheitliches Grundproblem hin entworfen: Beide kreisen um die Frage der normativen Orientierung politischer Entscheidungsträger in einem offenen staatlichen Verfassungsraum. Auch hinsichtlich ihrer sonstigen formalen Ausrichtungen sind die zitierten Minimalpositionen einander recht ähnlich. Klarerweise geht es beiden Positionen zentral um die Lösung kriteriologischer und verfahrensmäßiger Probleme bei der sachgerechten Abgrenzung und Selbstbehauptung legitimer staatlicher Kompetenzen gegenüber suprastaatlichen Kompetenzansprüchen. In beiden Fällen sind es also im Kern deliberations-, entscheidungs- und begründungstheoretische Maßgaben, die als minimale normative Anforderungen an die regierungstechnische Bewältigung der fraglichen Probleme formuliert werden sollen. Und allesamt betreffen diese Maßgaben Momente, die aus systematischer Sicht als die minimalen subjektiven Voraussetzungen kompetenten und verantwortlichen Regierungshandelns im genannten Kontext erscheinen. Hierbei sind mit "subjektiven" Voraussetzungen solche gemeint, die auf seiten der Subjekte des Regierens, auf seiten der Regierenden, aufzusuchen und zu erfüllen sind. Das schließt nicht aus, sondern ein, daß diese subjektiven Voraussetzungen objektive politische Bedeutung haben können. 3*
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Die Elemente, die die genannten beiden Minimalpositionen von vornherein systematisch miteinander verbinden, kann man formal noch präziser fassen. Man muß nur auf die Tatsache achten, daß beide Positionen grundlegend von der Verfolgung dreier systematisch-politiktheoretischer Interessen geprägt sind, die je auf ihre Weise für die Herstellung und Anwendung normativer Handlungsorientierung in den genannten Kompetenzverteilungsund Kompetenzverortungsfragen als grundlegend erscheinen. Allgemein gesprochen, handelt es sich hierbei um ein Erschließbarkeits- bzw. Klärungsinteresse, ein Verwirklichungs- und Wahrungsinteresse sowie um ein Erläuterbarkeits- und Bekräftigungsinteresse im Hinblick auf grundrechtsstaatlieh-demokratisch verantwortliches Regieren unter den charakteristischen Rechts- und Politikbedingungen offener Staatlichkeit. Für die Erörterung der grundlegenden Momente dieser systematisch-politiktheoretischen Interessen ist wohl keine wissenschaftliche Disziplin eher zuständig als die denkende Betrachtung der Anfangsgründe vernunftgemäßer Politik: die Politische Philosophie. In diesem Sinne ist die Frage, wie die zitierten Interessen in theoria zu begründen und in praxi auszugestalten sind, eine Anfrage an das argumentative Aufklärungsvermögen der Politischen Philosophie. Unsere Studie will sich im Folgenden dieser Anfrage auf ihre Weise stellen. In welchem Sinn, sei kurz umrissen.
VI. Sujet Die nachstehende politisch-philosophische Erörterung verfolgt ein fünffaches systematisches Erkenntnisinteresse. Sie fragt 1. nach dem normativen kriteriologischen Prinzip grundrechtsstaatlich-demokratisch verantwortlichen Regierens unter Rechts- und Politikbedingungen entwickelter offener Staatlichkeit; 2. nach dem Umriß der praktischen Vernünftigkeit, die angesichts des normativen Anliegens der Selbsterhaltung grundrechtsstaatlich-demokratisch verantwortlichen Regierens im genannten Kontext zu einer wohlberatenen politischen Handhabung des fraglichen kriteriologischen Prinzips anleiten kann; 3. nach einer rationalen Argumentationsmethode, die die politischen Positionen und Handlungsentschlüsse, die nach dem gewissenhaft angewandten zitierten Prinzip zustande gekommen sind, in argumentations bestimmten politischen Kommunikations- und Entscheidungsforen (also etwa in Parlamenten und in politischen Verhandlungen) auch gegen Einwände - gerade gegen solche von suprastaatlicher Ebene - schlüssig begründbar bzw. kontradiktionsfahig machen kann;
VI. Sujet
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4. nach dem systematischen Zusammenhang der unter 1. bis 3. genannten Momente und schließlich 5. nach der Integrierbarkeit dieser Momente zu einem normativen Konzept von Verfassungspolitik im offenen Verfassungsraum grundrechtsstaatlicher Demokratien. Damit macht unsere Erörterung unter 1. das zuvor genannte Erschließbarkeits- bzw. Klärungsinteresse, unter 2. das Verwirklichungs- und Wahrungsinteresse und unter 3. das Erläuterungs- und Bekräftigungsinteresse im Hinblick auf grundrechts staatlich-demokratisch verantwortliches Regieren im offenen Verfassungsraum thematisch. Sie ordnet diese Interessen als Probleme teils einer normativen Staatstheorie, teils (und hauptsächlich) einer systematischen Regierungslehreso ein und diskutiert sie als minimale subjektive Voraussetzungen kompetenten und verantwortlichen Regierungshandelns im genannten Kontext. Unter 4. und 5. wird dann zusätzlich die Frage der Synthese der genannten politiktheoretischen Interessen angesprochen. Kaum ihrem Erkenntnisinteresse nach, wohl aber durch ihr Abzielen auf ein bestimmtes PolitikkonzeptS1 sprengt unsere Erörterung den Zuständigkeitsrahmen einer politisch-ethischen Grundlagenreflexion im engen Sinn. Gleichwohl bleiben unsere Überlegungen stets auf grundlegende Einsichten rechts- und staatsethischer Prinzipienkunde positiv bezogen. Sind Rubrizierungen erwünscht, so kann man unsere Erörterung ihrem Gesamtanliegen nach einer "sittlich-politischen Pragmatik"s2 einordnen, die fragt, wie Grundforderungen politischer Ethik im Horizont aktueller regierungstheoretischer Problemstellungen zur Geltung zu bringen sind. Aktuell ist der Gegenstand unserer Erörterung zweifellos zunächst in europapolitischer Hinsicht, genauerhin im Kontext des Mehrebenensystems des Regierens, das die Europäische Union darstellt. Um hierfür nur die neuesten Belege zu nennen, verweisen wir auf das "Weißbuch" der EUKommission zur "European Govemance" sowie auf die anhaltende Debatte um die (wohl auf der Regierungskonferenz von 2004 zu entscheidende) sachlich und verfahrensmäßig adäquate Aufgaben- und Kompetenzabgrenzung zwischen einzelstaatlicher und suprastaatlicher Ebene innerhalb der Europäischen Union. Indessen wird man kaum bestreiten können, daß die in Rede stehende Thematik auch eine über die europäische Tagespolitik hinaus bedeutsame Herausforderung an politisch-philosophische Theoriebildung darstellt. Der 50 Als klassischen Entwurf der Kontur und der Aufgaben einer modemen Regierungslehre vgl. Hennis (1968), S. 81-103. 51 Vgl. dazu unten Abschnitt A. VII. 52 Vgl. zu diesem Begriff Höffe (1987), S. 457.
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Grundriß des offenen Staates kommt ja schon jetzt nicht allein in Europa, sondern auch in der restlichen westlichen Welt vor. Im übrigen besitzt dieser Grundriß mittel- und langfristig Entwicklungschancen über den Rahmen des politischen Westens hinaus. Gleichwohl steht eines fest: Am weitesten entwickelt ist der offene Staat bislang tatsächlich in Europa, genauerhin im Kontext des EU-Mehrebenensystems, einer "differenzierten Verfassungsgemeinschaft,,53 und "WandelVerfassung,,54 einzigartigen, sonst (noch) nicht existierenden Typs. Vor diesem Hintergrund kommt dem EU-Mehrebenensystem als Entfaltungsrahmen offener Staatlichkeit bis auf weiteres eine hervorragende politische und politikanalytische Bedeutsamkeit zu. Denn als Prototyp einer - nicht in allen, aber doch in vielen Bereichen - gelungenen regionalen Integration offener Staaten hat dieses System de facto eine Modell- und Pionierfunktion für andere aktuelle oder noch erst "angedachte" Staatenintegrationsprozesse im internationalen System. 55 Infolgedessen dürfte auch die Analyse der Institutionenarchitektur des EU-Mehrebenensystems von besonderem Interesse sein für eine wirklichkeitsnahe Verfassungs- und Regierungstheorie entwikkelter Staatlichkeit. Dies gilt zumindest insoweit, als man an der EU-Institutionenarchitektur beispielhaft die legitimitätstheoretischen Grundprobleme studieren kann, mit denen ein grundrechts staatlich-demokratisch verantwortliches Regieren in entwickelten offenen Staaten rechnen und gegebenenfalls auch umgehen muß. In bezug auf das mit dem Amsterdamer Vertrag erreichte Integrationsniveau der EU sind die im EU-Mehrebenensystem des Regierens angelegten legitimitätstheoretischen Probleme in sieben Schritten zu umreißen. Ein unproblematischer Ausgangspunkt ist hierbei die Auffassung dieses Systems als rechtlich integrierten Verbund offener parlamentarisch-demokratischer Rechtsstaaten. Dieser Verbund zeigt sich 1. in bezug auf seine maßgeblichen politischen Entscheidungsstrukturen durch formelle oder informelle Politiknetzwerke (auch im Sinne "zwischenstaatlicher Verwaltungsstränge,,56) gekennzeichnet, wobei hier ein Schwerpunkt auf intergouvernementalen Verhandlungsmechanismen liegt. Dadurch erweitern und "verflechten" sich 2. die politischen Handlungsmöglichkeiten der in dieses Mehrebenensystem eingebundenen Träger der Regierungskompetenz offener Staaten. Vgl. dazu Häberle (1999), S. 84-112. Vgl. dazu Calliess (1999), S. 14, Rn. 26. 55 Wir denken hier vor allem an die zunächst als reine Freihandelszone projektierte und bis 2005 angestrebte "Integration der Amerikas" nach dem Motto: "Freihandel als Lohn für Demokratie". 56 Wesseis (2000), S. 18. 53
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VI. Sujet
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Hiermit ist aber nicht automatisch auch eine entsprechende Erweiterung der politischen Willens bildungs- und Kontrollmöglichkeiten des Demos (als der einzelstaatlichen Öffentlichkeit) verbunden, in deren Namen und Auftrag besagte staatliche Kompetenzträger agieren sollen. 3. Das damit angedeutete Mißverhältnis zwischen politischen Handlungsmöglichkeiten staatlicher Kompetenzträger und Politikkontrollmöglichkeiten des Demos kann sich in der Weise "institutionalisieren" und zuspitzen, daß sich für die genannten Kompetenzträger im Rahmen des Regierens im staatsüberwölbenden Mehrebenensystem eine fragwürdige Alternative ergeben kann: die zwischen effektivem (output-orientiertem) und legitimem (input-orientiertem) Regierungshandeln57 • Nimmt man nun 4. an, daß politische Partizipation ein naturwüchsiges Grundrecht der Regierten ist und daß grundrechts staatlich-demokratische Herrschaftsorganisation den ausgezeichneten allgemeinen Sicherungsmodus dieses Grundrechts darstellt, so ergibt sich daraus offenkundig 5. eine politisch-moralische Verpflichtung der Regierungskompetenzträger offener Staaten, die sich spezifisch auf das aufgabenverteilende und kompetenzenklärende Regierungshandeln in dem gekennzeichneten Systernkontext bezieht. Die fragliche Verpflichtung besteht aus normativer Sicht 6. vor allem gegenüber dem Demos, in dessen Namen und treuhänderisehern Auftrag ("trust" im Sinne von J. Lockes govemment-Theorie 58 ) besagte Kompetenzträger handeln59 , aber auch - wenn man so will gegenüber der demokratischen Idee der gemeinwohlorientierten politischen Selbstbestimmung der im Staat Vergemeinschafteten. 7. Inhaltlich besteht die fragliche Verpflichtung in dem grundrechts staatlieh-demokratischen Imperativ zu einer durch die Regierenden zu leistenden Optimierung der politischen Partizipations- und Kontrollmöglichkeiten der Regierten. Letzterer Imperativ setzt geltungstheoretisch einen normativen Begriff herrschaftsausübender und herrschaftspartizipatorischer Demokratie voraus, wie ihn etwa Th. Pogge formuliert, wenn er sagt: Demokratie bzw. "the fundamental idea of democracy" 57 Zur Unterscheidung zwischen der Legitimität und der Effizienz politischen HandeIns innerhalb eines bestimmten politischen Systems vgl. Scharpf (1999). 58 Vgl. dazu J. Lockes "Two Treatises of Government. Second Treatise", Kap. VII, bes. § 89 und Kap. XIX zur "political society" und zur Einsetzung einer Regierung; zur Gesetzesförmigkeit der Regierungstätigkeit vgl. §§ 131, 134, 136, 142; zum Treuhandverhältnis zwischen Legislative und Exekutive vgl. §§ 149, 151153, 155. 59 Als Beispiel einer Betonung des Amtscharakters aller Staatsgewalt vgl. Art. 1 Abs. 1 GG.
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A. Einleitendes und Methodisches
sei letztlich "the moral imperative that political institutions should maximize and equalize citizens' ability to shape the social context in which they live,,6o. Vor allem der letztgenannte Punkt deutet im Sinne einer Formalanzeige an, wie eine Entschärfung der skizzierten legitimitätstheoretischen Grundprobleme im Prinzip erreicht werden kann. Wir formulieren dazu eine dreiteilige These.
VII. These Deren erster Teil lautet: Notwendige subjektive Bedingung der in Rede stehenden Entschärfung ist die Orientierung der Regierungskompetenzträger offener Staaten an einem Konzept von Verfassungspolitik, das - letztlich als eine "Beurteilungsstrategie politischer Gerechtigkeit" in O. Höffes Sinn61 - auf die Selbsterhaltung grundrechts staatlich-demokratischen Regierens im offenen Verfassungsraum zielt. Der zweite Teil der These lautet so: Konstitutive Momente dieses Verfassungspolitikkonzepts sind die im vorigen Abschnitt A. VI unter 1. bis 3. genannten Erkenntnisgegenstände unserer Erörterung, nämlich das fragliche normative kriteriologische Prinzip, die fragliche praktische Vernünftigkeit und die fragliche rationale Argumentationsmethode. In einer bestimmten Zusammenstellung ergeben die drei genannten Elemente einen "consiliumBegriff' von Verfassungspolitik62 , welcher Träger staatlicher RegierungsPogge (1998), S. 181. Vgl. Höffe (1987), S. 457: "Die vielfältigen ,Methoden': die Wege, Kräfte und Verfahren, um die öffentlichen Gewalten soweit wie möglich an die Gerechtigkeit zu binden, nenne ich Strategien politischer Gerechtigkeit. Systematisch gesehen haben sie eine doppelte, eine voluntative und eine kognitive Seite; jene betrifft die Anerkennungsaufgabe, diese die Bestimmtheitsaufgabe der öffentlichen Rechtsmacht. Entsprechend gibt es zwei einander ergänzende Typen von Gerechtigkeitsstrategien. Mit Hilfe von Positivierungsstrategien finden die Gerechtigkeitsprinzipien ihre geschichtlich konkrete Anerkennung; mit Hilfe von Beuneilungsstrategien werden die anzuerkennenden Rechtsgestalten immer wieder neu bestimmt." Ausdrucklicher jedoch als Höffe konturieren wir die fragliche "Beurteilungsstrategie politischer Gerechtigkeit" als "Strategie politischer Besonnenheit" - anknüpfend an die nahezu synonyme inhaltliche Bestimmung von aw(}f]v bzw. r/>(}tVf~) vermutete. 65 Die erkenntnisformende Grundbewegung solcher urteilenden Denkungsart wurde typischerweise als aufsteigender Übergang gedacht, genauerhin als Übergang von schlichter Empfindung (ara()f]at~) in das reflexionstheoretisch höherstufige Beobachten und unterscheidende Denken (r/>(}OVfLV).66 Das so verstandene Phronesis-förmige Vermögen des unterscheidenden Denkens umfaßt jedwedes so oder so gesinnte Verstehen, jeden verständigen Sinn überhaupt. 67 "Phronesis" in diesem ursprünglichen, weiten Sinn steht demnach inbegrifflich für ein Denken, in dem schon das ursprüngliche Sich-selbst-Verstehen, das Selbst-Bewußtsein im emphatischen Sinn, gründet - und das sich dann ferner auf theoretische und praktische Gegenstände beziehen kann. In explizit philosophischem Zusammenhang wird der Phronesis-Begriff seit vorsokratischer Zeit thematisiert. Hier erscheint er zunächst als Inbegriff eines empfindungs- und anschauungsbezogenen 68 und insofern erfahrungsbasierten richtigen Denkens. "Phronesis" meint dann soviel wie "rechte Einsicht", und zwar in bezug auf Fragen des praktischen Verhaltens des Menschen, namentlich im Sinne eines Erkenntnisvermögens für das Werdende, Sich-im-Fluß-Befindende (r/>o(}a~ "at (JdV V61Jat~)69, ohne ursprüngliche Frontstellung der Phronesis zum theoretischen Denken. Eine So Jaeger (1955), S. 397. Vgl. als Überblick Aubenque (1983). 65 Vgl. dazu Snell (1978), S. 53 ff. Zuweilen wurde der fragliche Sitz aber auch im Blut, in der Luft, im Feuer oder im Gehirn vermutet. Vgl. dazu den Bericht über die vorsokratische Diskussion dieser Frage in Platons Phaid. 96 b. Vgl. allgemein zur frühen griechischen Bedeutung des Phronesis-Begriffs Snell (1978), S. 53-90. 66 Bei Parmenides bedeutet "ifJeovflv" einfachhin "beobachten" im Sinne eines Gegensatzes zum spezifisch logischen Denken und Urteilen des "VOflV". Vgl. Hirschberger (1932), S. 140, Anm. 682. 67 Vgl. dazu Theunissen (2000), S. 171. 68 Namentlich Empedokles hat den engen Bezug zwischen ifJeoV'YJat; und a'ta{}fJat; herausgestellt. Für ihn sind beide dasselbe oder nahezu dasselbe (~ mvrov ~ naeanAfJawv OV rfJ ala{}fJafL riJv ifJeOVl}atv) (vgl. Ders., Frg. B 107). In Platons "Phaidon" wird später aus epistemologischen Gründen der Verweisungszusammenhang von ifJeovl}at; und a'ta{}fJat; eingeschränkt; vgl. Phaid. 75 b-e und 79 c; ferner 73 c-d; 74 b-c; 75 a-b; 76 a. Für Aristoteles schließlich ist in "De anima" klar, daß ifJeOVl}at; und a'ta{}fJat; nicht dasselbe sind; denn an der a'ta{}fJat; haben alle Lebewesen teil, an der ifJeOVl}at; jedoch nur wenige (De an. r, 427 b 5-8). Damit ist die Gegenthese zur Behauptung des Empedokles formuliert, daß alles ifJeOVl}at; habe (vgl. Ders. , Frg. B 110). 69 Vgl. dazu Platon, Crat. 411 d. 63
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VI. Zur voraristotelischen Theorie der Phronesis
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klare Unterscheidung der "Tätigkeitsformen" der Phronesis in eine theoretische und eine praktische ist wohl erst bei Piaton70 nachweisbar. Im engeren Sinn einer durch Übung erreichbaren Bestheitsform (aeen]) des Einschätzungsvermögens - zumal der praktischen Urteilskraft - wird der Phronesis-Begriff anscheinend erst bei Aristoteles diskutiert; namentlich in der ,,Nikomachischen Ethik". Dabei arbeitet Aristoteles klar heraus, daß der praktische Phronesis-Begriff nicht eigentlich auf eine Naturbegabung zum Klugsein anspielt. Dieser bezeichnet vielmehr eine erst mit der Zeit zu erwerbende, "trainingsbedürftige", vornehmlich praxisbezogene und praxisdienliche Urteilsfahigkeit. Für Aristoteles gilt überhaupt: Urteilskräftig im Sinne der praktischen Phronesis kann nur der durch Erfahrung einsichtsreich (ifJe6vl#O~) Gewordene sein - also derjenige, der über eine auf Grund gedeuteter Erfahrung "erarbeitete" Vernunftbegabung (voVv exelv) verfügt. 71 Diese Einschätzung ist denn auch der Hintergrund, vor dem sich bei Aristoteles die Auffassung ausbilden konnte, der Phronetiker (ifJe6vl#o~ av~e) sei der Typos des sittlich vollkommenen Menschen. 72 Doch bleiben wir zunächst noch bei der vorsokratischen Theoriebildung. In dieser wird ein Bezug der Phronesis nicht nur zur Praxis, sondern auch zur Poiesis (d. h. zum herstellenden Tun) angedeutet. Anaxagoras läßt diesen zumindest indirekt anklingen, wenn er (Aristoteles zufolge) behauptet, der Mensch sei das verständigste (ifJeovlflorrarov) aller Lebewesen, weil er Hände habe (oui TO XeLea~ exetv).73 Die Phronesis wird aber auch selbst als ein hervorbringendes, "gebärendes" Vermögen gedacht. So etwa bei Demokrit. Dieser bringt sie mit "Athena der ,Dreigeborenen'" (TelroYEVeta i] Ji(}1Jvu) in Verbindung und 70 Exemplarisch nennen wir hier Platons "Phaidon". In diesem Dialog wird einer theoretisch orientierten Phronesis (als idealer Erkenntnisform, in der die Wahrheit liegt und durch die die metaphysische Wirklichkeit erfaßt wird) eine praktische gegenübergestellt. Letztere wird als eine Phronesis gedacht, die die Tugend (eovfJOet~) gebraucht, und zwar einerseits im Zuge einer Differenzierung der Formen der Phronesis (vgl. dazu Symp. 209 a 6 ff., wo awif>eoavvrj und otxawavvrj gemeinsam als ,,lroJ..v [ ... ] xai xaJ..J..tm:rj 'fiJ~ if>eovr,aew~" bezeichnet werden), andererseits im Zuge einer Differenzierung möglicher Inhalte der Phronesis (vgl. dazu Phileb. 63 a 9; Legg. 645 e 1, ferner 665 d 2; Tim. 90 b 6; ähnlich ist bei Aristoteles davon die Rede, daß "Phronesis" dem Inhalt nach Astronomie, Physik oder Geometrie sein kann; vgl. EE A 5, 1216 b 12 f.) und im Zusammenhang mit einer faktischen Synonymisierung der Begriffe "if>e6vrjaL~' und "e:mmr,llrj". Letztere findet sich ähnlich auch bei Aristoteles (vgl. Met N 4, 1078 b 15). 71 Vgl. Platon, Phaid. 62 e 3; 93 b 9 f. 72 Vgl. 62 d 4. 73 Vgl. Aristoteles, Part. an. ~ 10, 687 a 7 f.
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G. Welche praktische Vernünftigkeit wahrt die Grundrechtsdemokratie?
merkt erläuternd an, daß aus der Phronesis dreierlei gemeinsam hervorgeht (avp,ßaivel): das gute Überlegen (ro e-o ).,oyi~ea(}aL), das gute Sagen (ro e-o Atyelv) und das Tun des Erforderlichen (ro Jr(!cirUlV ä oel).74 Recht besehen, ist damit eine Trias von Eigenschaften aufgestellt, die nicht nur in der Antike als Grundmerkmale - oder besser: Grundfähigkeiten - eines guten Politikers gegolten haben dürften?5 Von der skizzierten phänomenologisch-ursprünglichen Bestimmung der Funktionalität der Phronesis sei hier nur ein Aspekt hervorgehoben. Er betrifft die Einsichtsart, die der Phronesis-Begriff bezeichnet. Diese steht hinsichtlich ihrer Hervorbringungen und somit auch hinsichtlich ihrer Funktion offenbar in engem Bezug zu den beiden Grunddimensionen und zur Grundfunktion des griechisch begriffenen Logos. Die gemeinten Grunddimensionen sind: sprachliche Verständigung ().,oyo~ als Sprachvermögen bzw. als Rede) und verhältnisbestimmende Überlegung ().,oyo~ als Reflexionsvermögen bzw. als Geist). Die fragliche Grundfunktion dagegen ist die des sprachlichen Vorliegenlassens bzw. des denkerischen In-den-Blick-Bringens des Richtigen, Stimmigen, rational Geforderten. Aristoteles wird später sagen, die Phronesis sei eine Einsicht, die nicht bloß dem Logos gemäß ("ara )"oyov), sondern den Logos unmittelbar einbeziehend (fiera ).,oyov) iSt. 76 Fragen wir nun spezifischer nach der politischen Dimension der Phronesis. Diese ist klassisch reflektiert im Buch Z der ,,Nikomachischen Ethik" des Aristoteles. Dort gewinnt die Phronesis zentrale Bedeutung für die Theorie der Politik. Selbstverständlich ist dies nicht - angesichts des Facettenreichtums, den der Phronesis-Begriff bei Aristoteles insgesamt besitzt. 77 Was ist der Hintergrund, vor dem Aristoteles den "praktischen" PhronesisBegriff als das praktisch-politische Einsichtsvermögen par excellence beschreibt? Sehen wir genauer zu.
74 Vgl. Demokrit, Frg. B 2. Nach einer anderen auf Demokrit Bezug nehmenden Überlieferung (Tzetzes, Exeg. In Iliad A 194, S. 45, 3 f. Lolos) besteht die fragliche Trias aus dem guten Sich-Beraten (ßOVAfVftV xaAW~), dem gewandten Handeln (nearmv Of~[{J)~) und dem richtigen Urteilen (xe[VftV 6e(}w~). Später - im Peripatos - wird die Phronesis in ethischem Kontext selbst als Teil einer Trias genannt. Letztere umfaßt ct>eOV1]at~, aefr:fJ und ~oovfJ. Vgl. dazu Aristoteles, EE A 1, 1214 b 2-4, ferner B 1, 1218 b 34 f. Dem Sinn nach erinnert die Rede von der ct>eOV1]at~ etr:oyiVfLa an ~in m. E. ähnlich formuliertes Lob des Logos als Funktion des aya(}o~ und des fV ct>(Jovwv, das sich bei dem Rhetoriker Isokrates findet (vgl. Isokr. 3,7 = 15, 255). 75 Vgl. dazu Wolf (1999), S. 96 sowie Hentig (1975) . 76 Zu dieser Unterscheidung, die an die Phronesisdefinition der "Nikomachischen Ethik" des Aristoteles anknüpft, vgl. Elm (1996), 187-196. 77 Vgl. dazu Aubenque (1993).
VII. Aristotelische Phronesis
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VII. Aristotelische Phronesis: "De anima" und "Nikomachische Ethik" Wie Aristoteles die praktische Phronesis als kognitive Instanz versteht, legt er am ausführlichsten im Buch Z der ,.Nikomaehisehen Ethik" und im Buch r von ,,De anima" dar?8 An bei den [oei classici wird die phronetisehe Einsichtsfähigkeit zunächst als ein Seelenvermögen vorausgesetzt. Auf dieser Grundlage wird sie sodann in ihren Grundbezügen zur vernehmenden Vernunft (..V60~,,79 nach der älteren, ..VoV~,,80 nach der jüngeren griechischen Schreibweise) und zum durchdenkenden Verstand (oulVOta) gekennzeichnet. Dabei leitet namentlich im Erörterungszusammenhang der ,.Nikomaehisehen Ethik" die Absicht, das spezifische Einsichtsvermögens der (praktischen) Phronesis als Ausdifferenzierungsform des allgemeinen kognitiven 78
Wichtig, indes weniger ausführlich ist die Kennzeichnung der Phronesis in der
,.Rhetorik" des Aristoteles. Dort (Rhet. A 9, 1366 b 20-22), im Rahmen der Epidei-
xis-Abhandlung, wird die Phronesis als Verstandestugend definiert, die das Vennögen der Wohlberatenheit über Zuträgliches und Abträgliches im Hinblick auf die Eudaimonie bestimmt. Auf diese Phronesis-Definition wird später - im Zusammenhang mit der Klärung der politischen Dimension des phronetischen Einsichtsvennögens - noch zurückzukommen sein. 79 Bei Homer ist der voo~ der "Geist, sofern er klare Vorstellungen hat, also das Organ der Ein-Sicht" (SneIl [1986], S. 22); vgl. 11. 16, 688; 24, 294. Heraklit hebt hervor, daß solches Einsichtsvennögen keineswegs als Frucht der Vielwisserei zu denken ist (vgl. Frg. B 40: "noAvp,a(}{rJ voov fXOV ov btbaa"at"). Platon nennt den voo