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German Pages 280 [284] Year 2009
Ralf Konersmann (Hg.)
Grundlagentexte Kulturphilosopie Benjamin, Blumenberg, Cassirer, Foucault, Lévi-Strauss, Simmel, Valéry u. a.
Meiner
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1925-1
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Inhalt
ralf konersmann Kultur der Philosophie und Kulturphilosophie. Zur Einführung . . . . . . . . . . .
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lucius annaeus seneca Briefe an Lucilius. Neunzigster Brief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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jean-jacques Rousseau Abhandlung über die Frage: Hat der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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georg simmel Der Begriff und die Tragödie der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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paul valéry Die Krise des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
walter benjamin Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
ernst cassirer Die »Tragödie der Kultur« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ernst cassirer Zur Erkenntnistheorie der Kulturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Claude Lévi-Strauss Rasse und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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hans blumenberg ›Nachahmung der Natur‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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arnold gehlen Über kulturelle Kristallisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
233
Michel foucault Was ist Aufklärung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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inhalt
Herbert Schnädelbach Plädoyer für eine kritische Kulturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Auswahlbibliographie zur Philosophie der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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RALF KONERSMANN
Kultur der Philosophie und Kulturphilosophie Zur Einführung
Das Interesse an kulturphilosophischen Fragen ist in den letzten Jahren deutlich gewachsen. Der Reiz dieser Fragen ergibt sich daraus, daß sie brisante wissenschaftspolitische und systematische Sachverhalte aufgreifen und mit der Kultur ein lange Zeit verkanntes Problemfeld erschließen. Dabei hat sich gezeigt, daß die Berührungsflächen zwischen Philosophie und Kultur nicht nur vielfältig sind, sondern auch in aufschlußreicher Weise spannungsgeladen. In einer ersten Annäherung können wir sagen: Kulturphilosophie ist die verstehende Auseinandersetzung mit der endlichen, von Menschen gemachten Welt. Die Ansicht, »Kultur« sei im wesentlichen ein Ort festtäglicher Abgehobenheit und entfalte sich im Beisein von Großschriftstellern, auf glamourösen Festivals oder in temperierten Galerieräumen, ist damit bereits verabschiedet – sie greift ohnehin zu kurz. Zu kurz greifen auch all die Ökonomismen und Soziologismen, die aus dieser verengten Perspektive hervorgegangen und nach wie vor verbreitet sind: Kultur als Ressort, Kultur als Branche, Kultur als Standortfaktor, Kultur als Mittel sozialer Distinktion. Im Unterschied zu all diesen Reduktionismen, die Kultur aus etwas ihr Äußerlichem ableiten und darin ihre wahre Zweckbestimmung ausgemacht haben wollen, anerkennt die Kulturphilosophie ihren Gegenstand als das, was er ist. Die Kulturphilosophie – das wäre ihr Haupt- und Grundsatz – erfaßt Kultur als eigenständigen Problembereich und läßt ihre Phänomene gelten. Dabei ist allerdings zu beachten, daß gerade auch dieser Anspruch voraussetzungsreich ist. Er erfaßt die Kultur nicht substantialistisch, nicht als einen Seinsbereich neben anderen, sondern funktionalistisch: als ein Ensemble von Wechselwirkungen, dem auch die Art und Weise zugehört, wie wir Gegenstände in den Blick nehmen und sie als Kulturgegenstände erkennen, um nicht zu sagen: immer schon angenommen haben. Die Spezifik dieser Umstellung auf die funktionalistische Perspektive prägt das Selbstverständnis der Kulturphilosophie und ebenso den namengebenden Begriff. Die funktionalistisch verstandene Kultur manifestiert sich indirekt und in jenen Kulturtatsachen, jenen faits culturels, deren Bedeutsamkeit von jeder Gegenwart aufs neue erschlossen und bestimmt sein will.
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1 Die philosophische Herausforderung Schon diese wenigen Andeutungen genügen, um auch im Blick auf die Kulturphilosophie die Erfahrung bestätigt zu finden, daß jedes Teilgebiet der Philosophie auf den Allgemeinbegriff dieses Faches zurückwirkt und ihn modifiziert. Wie die Sprachphilosophie, die Geschichtsphilosophie und andere Disziplinen vor ihr hat auch die überhaupt erst Ende des 19. Jahrhunderts unter ihrem Begriff auftretende Kulturphilosophie verändert, was Georg Simmel, mit einer durchaus terminologisch gemeinten Formulierung, als »Kultur der Philosophie« bezeichnet hat. Was das im einzelnen bedeutet und wie tief die Wende zur Kultur das philosophische Denken veränderte, hat ebenfalls Simmel ausformuliert: Die herkömmliche »Metaphysik als Dogma« weiche einer »Metaphysik des Diesseits«, die weder als Prinzipienlehre noch als fertige, auf beliebige Gegenstände anwendbare Methode verstanden werden dürfe, sondern als geistiges Weltverhalten und als ein bestimmter, auf »Sinn u. Verknüpftheit« der »unmittelbaren Erscheinungen« gerichteter Blick.1 Simmels kritischer Vorstoß aus dem Jahr 1911, sein Plädoyer für einen Neuanfang in der Theorie und im Verstehen der Kultur, steht nicht allein. Er muß, wie das historische Auftreten der Kulturphilosophie überhaupt, aus der Verlegenheit heraus verstanden werden, in die das philosophische Denken nach der imposanten Vollendung des Systems durch Hegel geraten war. Speziell war es die aus der Sicht Hegels nur folgerichtige, besonders eindrucksvoll in den 1821 veröffentlichten Grundlinien der Philosophie des Rechts vorgetragene Proklamation der verwirklichten Vernunft, die schon die unmittelbar nachfolgende Philosophengeneration in Verlegenheit stürzen mußte und sie vor die Alternative stellte, sich entweder (althegelianisch) in die Rolle von Epigonen zu fügen oder aber (junghegelianisch) aufzubegehren und dieses ganze mit dem Namen Hegels verbundene Projekt, dieses Projekt der Apotheose des Geistes und der absoluten Philosophie, zurückzuweisen und seinerseits zu durchkreuzen. Diese Linie, die Linie der Zurückweisung und des antiidealistischen Protests, beginnt, wenige Jahre nach Hegels Tod im November 1831, mit Ludwig Feuerbach. Es ist Feuerbach gewesen, der die Philosophie erstmals in der charakteristischen Position der Posteriorität wahrgenommen hat – als Philosophie nach der Philosophie.2 Georg Simmel, Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 14, hg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1996, S. 159–459, hier S. 165; s. a. Simmels Brief an Friedrich Gundolf vom 18. November 1910 (Briefe, in: ebd., Bd. 22, S. 872 f.). 2 Bereits 1842 erläutert Feuerbach seine eigene Philosophie als »die sich selbst verleugnende Philosophie«, als eine »Philosophie, der man es nicht ansieht, daß sie Philosophie ist« (»Zur Beurteilung der Schrift ›Das Wesen des Christentums‹«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 9, hg. v. Werner Schuffenhauer, Berlin 1970, S. 229–242, hier S. 238). Ein Jahr später – im Jahr 1843 – verhandelt Marx dasselbe Problem in seiner Abhandlung »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphi1
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Wer nach den philosophischen Veranlassungen und Hintergründen der Kulturphilosophie fragt, findet in dieser dann noch bei Simmel spürbaren Emphase des ebenso kritischen wie nachdrücklichen Neubeginns den entscheidenden Hinweis. Wie andere fachliche Neugründungen der Epoche: die Geschichtsphilosophie (in der hegelkritischen Pointierung Diltheys) oder die Lebensphilosophie rekurriert auch die Kulturphilosophie nicht mehr auf einen allumfassenen Grundbegriff, der, wie noch die Vernunft oder der Geist, die ganze Begriffsarchitektur des metaempirischen Systembaus hält und trägt. Die Leitbegriffe dieser spezifisch modernen Disziplinen agieren als Funktionsbegriffe. Sie erschließen ihr Untersuchungsgebiet als ein dynamisches Gebilde aus Formen und Ausdrucksgestalten, das allein dadurch Identität gewinnt, daß sich, wie Ernst Cassirer 1944 formuliert, »ihnen eine gemeinsame Grundaufgabe stellt«.3
2 Die kulturwissenschaftliche Herausforderung Die Kulturphilosophie entstand, halten wir dies fest, als spezifische Reaktion auf eine Herausforderung, die sich infolge des idealistischen Systemanspruchs im Binnenraum der Philosophie selbst ergeben hatte. In fachgeschichtlicher Perspektive stellt sich die Kulturphilosophie als eine weitere Initiative in der langen Reihe der Versuche dar, sich von Hegels absoluter Philosophie abzusetzen und eine emphatisch andere und neue, eine Philosophie nach der Philosophie zu begründen. Daß die klügeren Vertreter des Faches dieses charakteristisch moderne Vorhaben einer kritischen Neugründung wiederum nicht ohne Hegel verwirklichen wollten und – zumal Hegel selbst sich in der Rechtsphilosophie als Anwalt der »modernen Zeit« präsentiert hatte4 – mit Hegel gegen Hegel antraten, steht auf einem anderen Blatt und schwächt die tieferliegende Motivation der programmatischen Dissidenz und des unentschlossenen Neubeginns keineswegs. Die paradoxe Formel einer Philosophie nach der Philosophie betont die Vorstellung einer Reform auf dem Boden und in den institutionellen Grenzen des philosophischen Denkens selbst. In direkter Konkurrenz zu diesen reformerischen Ablosophie«, im Frühjahr 1845 folgen – zunächst unveröffentlicht – die »Thesen über Feuerbach«. Wie wir sehen werden, wird Nietzsche ein halbes Jahrhundert später – und bereits in deutlicher Nähe zur Paradigmatik der Kulturphilosophie – die von Feuerbach eingeführte Geste der philosophischen Philosophiekritik aufgreifen und erneuern. 3 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Eine Einführung in eine Philosophie der Kultur, Frankfurt a. M. 1990, S. 337. 4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Theorie Werkausgabe, red. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1970, Bd. 7, S. 233 (§ 124, Zusatz).
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sichten einer philosophischen, und das heißt hier stets: einer um der Philosophie willen angestrengten Philosophiekritik sind die gleichzeitig auftretenden Versuche zu verstehen, die Philosophie nicht nur intern zu reorganisieren und auf die Anforderungen der Moderne einzustimmen, sondern sie überhaupt zu überwinden und abzulösen. Diesen weitaus radikaleren Schritt proklamieren Karl Marx und Auguste Comte sowie, wenngleich kaum jemals explizit, Wilhelm Dilthey. Dessen theoriepolitische Absichten waren gleichwohl unmißverständlich. Im Bewußtsein der Innovation und einer grundlegend veränderten Paradigmatik verfolgte Dilthey ab Mitte der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts das Projekt einer »Kritik der historischen Vernunft« und, unmittelbar daraus folgend, das Projekt der »Geistes-« und »Kulturwissenschaften«, die zu diesem Zeitpunkt und unter maßgeblicher Beteiligung Diltheys überhaupt erst entstanden. Die Radikalität des durch den historischen Einsatz der Kulturwissenschaften markierten Einschnitts ist daran zu ermessen, daß er nicht nur den Idealismus Hegels traf, sondern auch den Apriorismus Kants, dem Dilthey gleichfalls die Verkennung des Fremden und des Faktischen, und das heißt hier: des Vorbegrifflichen bescheinigte. Die geforderte Kritik der historischen Vernunft, mit diesen Worten nahm Dilthey den berühmten Schwenk Cassirers von der »Kritik der Vernunft« zur »Kritik der Kultur« vorweg, müsse »aus der reinen und feinen Luft der Kantschen Vernunftkritik heraustreten, um der ganz anderen Natur der historischen Gegenstände genug zu tun«.5 In wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive ist auffällig, daß nun Aspekte wie Historizität, Positivität, Materialität in den Vordergrund treten und vermehrt in Frage stellen, was dann wenig später Simmel – gleichfalls dezidiert kant- und hegelkritisch – als Habitus der dogmatisch erstarrten Metaphysik bezeichnen und zurückweisen wird. Das idealismuskritische Programm einer Wissenschaft der Erfahrung und des Ganzen des menschlichen Weltverhältnisses ist den älteren Kulturwissenschaften, die dann durch den frühen Tod ihrer führenden Vertreter (Georg Simmel), durch gewaltsame Exilierung (Ernst Cassirer) und durch den Präferenzwechsel der Nachkriegsphilosophie (Heideggerianismus, Kritische Theorie) lange Zeit marginalisiert gewesen sind, zunächst erhalten geblieben. Die freundliche Werbung, mit der etwa Aby Warburg seinen philosophischen Gesprächspartner Ernst Cassirer Mitte der zwanziger Jahre für das gemeinsame Vorhaben einer »›allgemeinen Kulturwissenschaft als Lehre vom bewegten Menschen‹« gewinnen wollte,6 wird rückblickend als
Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, Berlin u. Leipzig 1927, S. 278. Cassirers Programmsatz: »Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur« findet sich im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen (in: ders., Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 11, hg. v. Birgit Recki, Hamburg 2001, S. 9). 6 Aby Warburg an Ernst Cassirer, 15. April 1924; zit. nach Ernst Cassirer, Ausgewählter wis5
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Versuch verständlich, die disparaten Projekte einzelwissenschaftlicher Forschung durch die Betonung kulturspezifischer Perspektiven und Probleme thematisch aufeinander zu beziehen. In der Tat verfolgte Cassirer mit der Ausgestaltung der Kulturphilosophie zu einer Philosophie der symbolischen Formen genau dieses Ziel. Ähnlich wie Dilthey sah er das Wissen und speziell das philosophische Wissen durch die neuen Tatsachen- und Erfahrungswelten herausgefordert, die der Positivismus soeben freigesetzt hatte und die den übergreifenden, den absoluten »Geist« der Hegelianer durch eine Vielfalt autonomer Wissensbereiche in den Naturwissenschaften und ebenso in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zusehends ablösten und verdrängten. Indirekt war damit zugestanden, daß die Kulturwissenschaften schon zu ihrer Zeit in Angriff nehmen wollten, was dann mit der Verzögerung von einhundert Jahren – und wiederum auf paradoxe Weise – schlagwortfähig werden sollte: die »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften«. Im Rückblick auf die ältere Theoriegeschichte verdeutlicht dieser Buchtitel aus dem Jahr 1980 die Verabschiedung der Paradigmatik und macht in seiner Überspitztheit deutlich, daß auch die philosophie- und idealismuskritisch einsetzende Kulturphilosophie weit mehr war und sein sollte als eine neue Bindestrich-Philosophie oder als die Erschließung eines aktuellen, bis dahin vernachlässigten Themenfeldes für das philosophische Denken. Mit ihrer Hinwendung zur Kultur machte sie als Philosophie den Versuch, sich auf die neuen, spezifisch modernen Formen und Präferenzen des Wissens einzustellen, um zu verwirklichen, was wiederum schon Hegel von seinem Fach gefordert hatte: die eigene Zeit in Gedanken zu erfassen und, im mehrfachen Sinne des Wortes, dem Anspruch einer Theorie der Moderne gerecht zu werden.
3 Die realhistorische Herausforderung Warum aber das Thema Kultur, woher dieses späte und verspätete Interesse der Philosophie für die von ihr so lange übergangene Thematik? Neben der philosophischen Herausforderung, die mit der Vollendung des Systems in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und der weiteren Herausforderung, die mit dem Auftreten der Kulturwissenschaften und den Konjunkturen des positiven Wissens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbunden war, steht als dritte die realhistorische Herausforderung in Gestalt der unmittelbaren, zu diesem Zeitpunkt wohl erstmals in dieser Drastik gesehene Gefährdung der Kultur selbst: die Erfahrung ihrer Sterblichkeit.
senschaftlicher Briefwechsel, in: ders., Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 18, hg. v. Klaus Christian Köhnke, John Michael Krois u. Oswald Schwemmer, Hamburg 2009, S. 67.
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Die englische Zeitschrift The Athenaeum druckte im Frühjahr 1919 eine Folge von Briefen, deren Eröffnungssatz die intellektuelle Grundstimmung jener Jahre ebenso nüchtern wie beklemmend bilanzierte. »Wir Kulturvölker«, hieß es da, »wir wissen jetzt, daß wir sterblich sind.« Das Wort stammt von Paul Valéry, und noch Generationen später vermittelt es einen Eindruck von der damaligen Bestürzung. Es dramatisiert die Gegenwart als Zeitschnitt, der als absolut empfunden wird. Die Kultur ist nun nicht mehr nur etwas, was den einzelnen und seine Zeit verläßlich überdauert, sondern ein Zeitraum, dem eine Frist gesetzt ist. Nicht die Qualität der Sterblichkeit verändert den Kulturbegriff, wohl aber das durch die frische Erfahrung evozierte und plötzlich allgemein gewordene Wissen um sie, die jähe Einsicht in den Schwund vormals verläßlicher Geltungen, Überzeugungen und Verbindlichkeiten.7 Tatsächlich läßt Valérys Verschiebung in der Semantik des Kulturellen aktuelle Bezüge durchscheinen, ohne sie ausdrücklich zu benennen. Von dem Krieg, dessen Erfahrung seinen Lesern unmittelbar vor Augen gestanden haben muß, spricht Valéry kaum. Und doch ruft seine erste Zeile, ja schon die Titelformulierung seines Essays das ungeheuerliche Ereignis und seine verheerende Wirkung auf das Selbstbild der Epoche ins Bewußtsein: Die Krise des Geistes. Heute ist der historische Kontext verblaßt. Im kollektiven Bewußtsein der Nachgeborenen haben die nachfolgenden Greuel, haben Holocaust, Gulag und 9/11 die Erinnerungsspur jener Verwüstungen und Traumata verwischt, welche die Zeitgenossen Valérys auf den Schlachtfeldern zwischen 1914 und 1918 erlitten hatten. Dabei war bereits dieses Ereignis als Epochenwende wahrgenommen worden. Valérys Crise de L’Esprit ist eine Diagnose der Zeit, und es ist eine zeittypische Diagnose. In diesen ersten Nachkriegsjahren wird eine vielstimmige Krisenrhetorik hörbar, an der im Rückblick neben der Drastik einzelner Formulierungen der überfraktionelle
Die Vorstellung, daß Kulturen sterben können, ist tatsächlich wesentlich älter. Schon in der Mitte des 16. Jahrhunderts sieht Louis Le Roy voraus, daß, wie in der Vergangenheit, so auch künftig Zivilisationen durch Krieg und Katastrophen vernichtet würden (vgl. Jochen Schlobach, »Die klassisch-humanistische Zyklentheorie und ihre Anfechtung durch das Fortschrittsbewußtsein der französischen Frühaufklärung«, in: Historische Prozesse, hg. v. Karl-Georg Faber u. Christian Meier, München 1978, S. 127–142, hier S. 129 f.). Le Roy argumentiert allerdings strategisch. Er malt sein Szenario des Grauens nur aus, um anschließend den Trost der Geschichte spenden zu können, die – wie dann noch bei Hegel und Engels – den Untergang des Einzelnen und Besonderen verläßlich überdauert und, wie die einschlägige Metaphorik besagt, »die Krise heilt«. Man sieht leicht, daß das Modell der Historiodizee, solange es intakt war, die Frage der Kultur blockieren mußte. Noch Valéry wird sich genötigt sehen, den Ernst seines Epochenbefundes gegenüber geschichtsphilosophischen Beschwichtigungsversuchen zu bekräftigen. »Mit der Geschichte in der Hand wird man leicht ›beweisen‹, daß die Zivilisationen untergehen und daß sie nicht untergehen […]. Es ist ein Spiel; es ist nur ein Spiel.« (Paul Valéry an Paul Desjardins, 29. Juli 1934, in: Paul Valéry, Lettres à quelques-uns, 7. Aufl., Paris 1952, S. 222.) 7
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Gleichklang überrascht. Sieht Valéry den Glauben an die europäische Kultur zerstört und, wie er sagt, »die sittlichen Ansprüche« der Wissenschaft »tödlich getroffen«, so spricht Gershom Scholem geradezu vom »Tod Europas«. Derlei Zeugnisse sind Legion. Hugo von Hofmannsthal bestätigt den Eindruck seines jungen Korrespondenzpartners Carl J. Burckhardt, wenn er die »Krise in alles Geistige« eindringen sieht. Georg Lukács bilanziert die Ausdrucksgestalten der »transzendentalen Obdachlosigkeit«, die nunmehr offen zutageliegende Physiognomie der »gottverlassenen Welt«, und 1918 folgt Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes. Das Buch wird ein Bestseller, sein Titel ein geflügeltes Wort. Aus solchen Schilderungen und Bestandsaufnahmen spricht die Erfahrung des Krieges, aber auch die Neuartigkeit der Situation, der sich, wie nun erkennbar wurde, kein Zeitgenosse entziehen konnte. Der technisierte, wissenschaftsgestützte Krieg von 1914 war, wie Arnold Gehlen mit Max Weber formuliert, das ebenso globale wie fatale, das »erste Gesamterlebnis der Menschheit«. Schon in der Vorkriegszeit waren binnen weniger Jahre unzählige neue geistige Strömungen und Tendenzen aufgetaucht, und nicht wenige waren getragen von einem charakteristischen intellektuellen Extremismus. Die Kulturphilosophie entsteht und entwickelt sich in dieser aufgewühlten intellektuellen Umgebung, in der es nicht an Gegenwartsdiagnosen fehlt und auch nicht an Programmen und Therapien. Exemplarisch macht Georg Simmel in seinem Tragödienaufsatz die »Diskrepanz zwischen Sachbedeutung und Kulturbedeutung« als Zeichen und treibendes Moment beispielloser Normverluste namhaft. Es sind diese Verlusterfahrungen, in denen die frühe Kulturphilosophie die historische Krise des Geistes erkennt. Die Kulturphilosophie entsteht aus der Erkenntnis, daß Philosophie und Wissenschaften durch die einzigartige Dramatik der im Weltkrieg sinnfällig gewordenen Krise zur Überprüfung ihrer theoretischen Grundlagen und ihrer Stellung im Ganzen der menschlichen Welt und des Wissens herausgefordert sind. Kulturphilosophie – das ist die dritte, die historische Bedingung ihrer Entstehung – ist Philosophie diesseits des Zeitschnitts.
4 Themen und Thesen Die Aktualität der älteren, bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Debatten über das Profil der Kulturwissenschaften beruht auf einer veränderten Paradigmatik, auf einer neuen Ordnung des Wissens, nicht jedoch, wie man meinen könnte, auf einem avancierten Kulturkonzept. Im Gegenteil: Für das bereits von Jean-Jacques Rousseau und Johann Gottfried Herder, von Karl Philipp Moritz und Friedrich Schiller beschriebene Selbstgefährdungspotential der Kultur, für die von Friedrich Nietzsche und Walter Benjamin herausgestellte Konvergenz von Kultur und Barbarei, für das
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von Sigmund Freud beschriebene »Unbehagen in der Kultur« und speziell in der Moderne, für die Praktiken der Gängelung und der Versagung, für die Verstrickung des Kulturbegriffs in die imperialen Superioritätsphantasien der Europäer hatte speziell Dilthey keinen Blick. Dennoch sind die von den frühen Kulturwissenschaften veranlaßten Veränderungen und Vorstöße beachtlich. Die historische Einführung der Kulturwissenschaften – darin liegt ihre Herausforderung auch angesichts der theoretisch meist unterbestimmten Normalisierung der Kulturwissenschaften im universitären Betrieb von heute – zwang die Philosophie dazu, die Kommodität ausgetretener Denkwege aufzugeben und die Kontextverschiebungen der condition moderne zur Kenntnis zu nehmen. Im Umfeld dieser fälligen Aktualisierung, dieser durch das Selbstverständnis einer Philosophie nach der Philosophie noch zusätzlich herausgeforderten Erneuerung, entstand die Kulturphilosophie. Dazu vier Stichworte: Kultur als philosophisches Problem – Teil und Ausdruck dieser, wie wir gesehen haben, dreifach motivierten Aktualisierung war zunächst eine neue Aufgeschlossenheit des Faches für die Frage der Kultur und überhaupt für die Grammatik des Kulturellen. Diese Öffnung war indes keineswegs selbstverständlich und behielt für die Philosophie selbst – übrigens bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein – lange Zeit etwas zutiefst Irritierendes. Die Gründe dafür wurzeln im Selbstverständnis des philosophischen Denkens und insbesondere in der platonisch-sokratischen Tradition. In der Perspektive des klassischen Idealismus erscheint die sichtbare Welt als Realisierung überweltlicher Ideenbestände, die weitere Ideen und Werke, einschließlich genuin menschlicher Leistungen von der Art der Kultur, grundsätzlich nicht vorsehen. Exemplarisch gipfelt die Moral des Platonischen Höhlengleichnisses in der Einsicht, daß die Sucher der Wahrheit sich losreißen und, wie die sprechende Verbalmetapher sagt, »sich umwenden« müßten, daß sie also »nicht Lust haben, menschliche Dinge zu betreiben, sondern ihre Seelen immer nach dem Aufenthalt oben trachten«.8 Die Autorität dieses Weltmodells der strengen Kongruenz von ordo rerum und ordo idearum wird eindrucksvoll bestätigt durch den Sachverhalt, daß auch die neuzeitliche Autonomisierung der Menschen- und Diesseitswelt, daß also auch idealismuskritische Denkrichtungen wie der Sensualismus oder der Empirismus begriffliche Justierungen und Nachbesserungen am einmal eingeführten Denkmodell nicht zu fordern schienen. Selbst diejenigen, die dann im 19. Jahrhundert den Idealismus »umkehren« wollten und sich zum Materialismus bekannten, haben an der einmal eingeführten Wertbesetzung und ihrem Modell grundsätzlich festgehalten. Auch sie wollten das wahre Wesen der Dinge gegen die Positivität der Erscheinungen in Stellung bringen und übergingen die Phänomenwelt der Kultur. 8
Platon, Politeia, 517c.
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Bis heute gründet die Rationalität solcher Darstellungen in der Annahme, daß die Kulturwelt sich in angemessener Beleuchtung als Ausdruck einer einzigen, fundamentalen Realität erweisen und auf dieser Basis ihre erschöpfende Erklärung finden werde: auf der Basis der Evolution, der Libido, der Ökonomie. In dieser Weise als Überbau trivialisiert, scheint sich an der Kultur wiederholen zu wollen, was einst schon der Religion widerfahren war: die Reduktion auf ein ihr Äußerliches, das als ihr wahrer Grund zu verstehen und aus dem deshalb ihre theoretische Begründung zu gewinnen sei. Kurz gesagt, und um den generellen Vorbehalt all dieser metaphysischen und kryptometaphysischen Konzepte mit einem Wort zu umfassen: Um das Wesen gewinnen zu können, muß es von den Kontingenzen der empirischen Weltexistenz ablösbar sein. Solche Vorbehalte zeigen, daß es keineswegs selbstverständlich ist, der Kultur und ihrem Fragenkreis philosophisch zu begegnen. Der philosophischen Konvention entspricht es vielmehr, das Problem der Kultur zu subordinieren, es zu marginalisieren und zu trivialisieren. Die Tradition des westlichen Denkens neigt zur Selbstabgrenzung des Wissens und der Werte von dem als tief problematisch desavouierten Bedingungsgefüge der Kultur. In der Erläuterung Hegels, daß »die philosophische Betrachtung« letztlich »keine andere Absicht« habe, »als das Zufällige zu entfernen«,9 findet dieses klassische Motiv der Selbsterrettung aus der Kontingenz seine exemplarische Formulierung. In der Verbindlichkeit dieser Einstellung und ihrer epochenübergreifenden Konventionalisierung liegt begründet, daß der Versuch einer Rehabilitierung der Kultur einer Revision des philosophischen Selbstverständnisses gleichkommt. Und eben daraus ergibt sich die Ausgangsintuition der Kulturphilosophie. Sie besagt, daß die von der klassischen Metaphysik forcierte Trennung von Wesen und Weltexistenz, daß also die Konvention des Hinausfragens über den Horizont des Humanen die Phänomenwelt der Kultur verfehlen muß. Die Kulturphilosophie, verstanden als Systematik authentischen menschlichen Handelns und Wirkens, revidiert die idealistische Entmündigung der Kultur. Wo diese auf den allgemeinen und »letzten Zweck« im Sinne Hegels aus ist, setzt sie – mit der Formulierung Hans Blumenbergs – auf die »Idee des schöpferischen Menschen« und seine Geschichte. Restitutive und postrestitutive Kulturkritik – Kennzeichen der philosophischen Wende zur Kultur ist neben einem radikal veränderten, ja überhaupt erstmals avancierten Kulturverständnis ein neues Modell der Kritik und speziell der Kulturkritik. Auch dies ist ein Problembestand, den die Kulturphilosophie bereits vorfindet, den sie aufgreift und modifiziert. Von Beginn an begleiten die Formen und Motive kulturkritischer Praxis den Prozeß der Zivilisation und bilden einen VerweisungszuGeorg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, hg. v. Johannes Hoffmeister, Berlin 1966, S. 29. 9
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sammenhang, dessen Implikationen dann im 18. Jahrhundert integriert und im Vorgriff auf die kulturkritische Praxis der Moderne entfaltet worden sind. Damit verschiebt sich der Anspruch der Kritik in Richtung Kulturkritik: Seit der Aufklärung repräsentiert die Kulturkritik einen Typus des Wissens, einen Typus der Argumentation und der öffentlichen Polemik, der zum Bestandteil der Kultur selbst geworden ist. Die antike Kulturkritik versucht hier noch zu unterscheiden und wendet sich, indem sie sich außerhalb stellt, gegen die Kultur ganz unmittelbar und schlechthin. Entsprechend grundsätzlich setzt sie an. Die in der menschlichen Bearbeitung und Überschreitung daseinsweltlicher Gegebenheiten summierten Anstrengungen der Kulturalität werden als Sündenfall eines Wesens begriffen, das aus Leichtsinn oder Unwissenheit verfehlt, was ihm gemäß ist. Exemplarisch führt Seneca die Motive dieser Kritik zusammen und argumentiert in bezeichnender Weise antithetisch, wenn er dem in der Gegenwart beobachteten Verfall die Integrität des Ursprungs gegenüberstellt, das Leitbild der natura incorrupta. Der Argwohn des Stoikers richtet sich gegen die Kultur als Verführerin, die den Menschen mit sich selbst entzweit und ihn immer weiter von seinem wahren Ursprung abbringt und ihm entfremdet. Diese älteren Formen der Kulturkritik pflegen auf eine Gesamtordnung zu verweisen, an deren Integrität es zu erinnern und die es wiederherzustellen gilt. Sie sind in diesem Sinne restitutiv. Das Vertrauen in eine überzeitliche, lediglich vergessene und in die Latenz gedrängte Ordnung, die dieser Kritik vorschwebt, läßt jedoch mit Beginn der Neuzeit nach. Die metaphysischen Obdachgewährungen der Vergangenheit selbst – und nicht bloß die Erscheinungsformen der Verfehlung und des Verfalls – erliegen nun der grenzenlosen Autorität des Zweifels, des Verdachts und der Kritik. Es ist vor allem Rousseau gewesen, der die Kulturkritik zu einem prägnanten Diskurs geformt hat. Während das Maß des Wissens selbst noch in der frühen Neuzeit auf etwas über den Menschen Hinausgreifendes bezogen war – auf die Allwissenheit des Absoluten, auf die Strenge einer situationsunabhängig durchgehaltenen Methode –, orientierte Rousseau das Wissen und Handeln am Maß des Menschen und an dem, was ihm zuträglich sei. Die damit etablierte Kulturkritik wurde reflexiv: Kulturkritik, das war nun und ist seither Kritik der Kultur im Namen der Kultur. Philosophisch interessant ist dieses veränderte Konzept der Kulturkritik zum einen deshalb, weil es, im Vorgriff auf jene von Cassirer umrissene »Kritik der Kultur«, das Selbstverständnis und die Aufgabe der Kulturphilosophie präzisieren hilft. Die Philosophie und ihre Kritik begreifen sich nun auch selbst als Elemente jener reich differenzierten Welt der Moderne, hinter deren Erscheinungsvielfalt nun nicht mehr zurückgegangen werden kann. Philosophie zu betreiben heißt nun, in der jeweils bestimmten Umgebung kultureller Bezüge engagiert zu sein, heißt – mit
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dem Anspruch Nietzsches und Simmels – kulturell zu philosophieren.10 Philosophisch brisant ist das Konzept der Kulturkritik zum anderen, weil es auf den Kritikbegriff zurückwirkt und ihn einer Revision unterzieht. Angesichts der kulturellen Praxis, ihrer Vielgestaltigkeit und Omnipräsenz, wirkt plötzlich die alte, auf Überlegenheitsbehauptungen gegründete Art der Kritik, an der etwa die Ideologiekritik unverdrossen festhält, als antiquierter Gestus. Fast scheint es, als habe die postrestitutive Kulturkritik in der Nachfolge Rousseaus einen Prozeß der Egalisierung und der Popularisierung durchlaufen, der das im 18. Jahrhundert geschmiedete Bündnis zwischen Vernunft und Kritik mit wachsendem Erfolg in Frage gestellt hat. Die von Rousseau sich herschreibende, an keinen Ort und keine Institution gebundene Kulturkritik versteht sich als vielstimmiges Nebeneinander der Beobachtung, Beschreibung und Beurteilung von Modernisierungsprozessen. Ihre Gegenstände und Anlässe sind so zahlreich wie ihre Stimmen und medialen Formen: die Gebärden und Gesten, die auf Unterwerfung zielen; die Evidenzen, Beschwörungen und Mahnungen, die Zustimmung erzwingen; die Rituale und Zeremonien, in denen sich Unwiderstehlichkeit bekundet; schließlich auch die symbolischen Ordnungen der Identifikation und der Zugehörigkeit, deren Bindekraft Claude Lévi-Strauss seit Jahrzehnten nachweist und beschreibt. Die Kulturkritik wendet sich also, mit einem Wort, jenen meist vorbewußten und subtilen Vorgängen der Autorisierung zu, die Michel Foucault mit dem strikt analytisch bestimmten Begriff der »Machtbeziehungen« beschrieben hat. Kulturelle Tatsachen – Kultur ist kein Besitz, und das, was ihre Präsenz ausmacht und worin sie sich manifestiert, läßt sich, allen Traditionsbildungsbemühungen durch Kanones, Klassizismen, Orthodoxien zum Trotz, nicht »als tote Habe inventarisieren«.11 Die den Manifestationen und Tatsachen der Kultur gemäße Antwort zumal der Philosophie ist nicht die Inventarisierung, sondern die Interpretation. Entsprechend komplex ist die philosophische Auseinandersetzung mit der kulturellen Tatsache, mit dem fait culturel: Sie erschließt jene immer schon objektivierte, zum unveräu-
Müßig zu betonen, daß auch diese Konsequenz als Ausdruck jener spezifischen Posteriorität, jenes bereits bei Feuerbach und Marx beobachteten Philosophierens nach der Philosophie verstanden werden muß; der wahre Philosoph, schreibt Nietzsche, »lebt ›unphilosophisch‹ und ›unweise‹ […]: – er risquiert sich beständig, er spielt das schlimme Spiel.« (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: ders., Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, 2. Aufl., Berlin u. New York 1988, Bd. 5, S. 9–243, hier S. 133 [205]). 11 Walter Benjamin, »Zentralpark«, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974, Bd. I.2, S. 655–690, hier S. 681; ganz in diesem Sinn will auch die zunächst kontraintuitiv anmutende Feststellung des Passagen-Werks verstanden sein, wonach die Kultur so wenig wie das Recht oder die Religion eine »eigene Geschichte« hat (ebd., Bd. V.1, S. 583). 10
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ßerlichen Element des Werks gewordene Fülle der Inanspruchnahmen, der Zuschreibungen und Aspekte, denen die Dinge ihre Bedeutsamkeit für andere verdanken. Die Analyse der Bedeutung ergänzt und vervollständigt auf diese Weise die Analyse der Praxis: Alle kulturphilosophische Reflexion ist Reflexion von Getanem, von Gewirktem und Bewirktem, ist Reflexion von Handlung und Handlungsnebenfolgen. Kulturelle Tatsachen, das ist die Pointe dieses oxymoralen Begriffsnamens, sind jederzeit beides, gemacht und bedeutsam, materiell und ideell, real und konstruiert. Wer ihre Prägnanz erfassen will, ist gut beraten, die Balance der Bestimmungsgründe zu wahren und darauf zu verzichten, sie zu isolieren und gegeneinander auszuspielen. Die Einhaltung dieser Regel empfiehlt sich auch beim Umgang mit jenen Begriffen, die bei der Analyse kultureller Tatsachen zum Einsatz kommen. Aus Sicht der Kulturphilosophie ist Bedeutung nichts Abrufbares, nichts Feststehendes und Zeitloses. Die Dinge und diejenigen, die mit ihnen umgehen, bewegen sich stets und unwiderruflich in offenen Horizonten, mit deren Verschiebung sich auch verändert, was wir Bedeutung nennen. Diese Dynamik des kulturellen Sinngefüges hat Konsequenzen auch für das Verstehen: Der Vorgang des Verstehens wäre des Aufhebens nicht wert, wenn das Erreichen der vollen Evidenz die Regel wäre. Aber die letzte Bestimmtheit bleibt für gewöhnlich unerreicht. Zahllose Verfehlungen, Unzulänglichkeiten, Reduktionen und Opazitäten nötigen das Verstehen zur Analyse seines Werkbezuges, dessen Wechsel in der Zeit das Geschäft der Auslegung immer schon in die Bahnen einer unendlichen Bewegung gezogen hat. Man kann, so der Bescheid aufgeklärter Hermeneutik, »das Werk immer nur verstehen, aber nie es verstanden haben«.12 Die Kulturphilosophie knüpft hier an und bestimmt Kulturverstehen als kontrollierten Umgang mit unabgeschlossenen Interaktionsvorgängen, kurz: mit dem Nichtverstehen. Im Bereich des Kulturverstehens gilt als Maxime: Man kann die Bedeutung einer kulturellen Tatsache immer nur erkennen, aber nie sie erkannt haben. Der damit verlangte Verzicht auf die volle Bedeutung – und diese Feststellung birgt zweifellos eine sittliche Dimension – muß ausgehalten werden. Eben weil die unmittelbare Evidenz nicht erreichbar ist, bedarf es der Rezeption sowie der Klärung der Vollzüge, in denen die kulturelle Praxis der Rezeption, das heißt der Aneignung, der Erinnerung und der Tradierung verwirklicht wird. Wir tun uns deshalb keinen Gefallen damit, kulturelle Tatsachen als Kulturgüter zu bestimmen; kulturelle Tatsachen sind nicht Besitztümer, die vererbt werden können, sondern sie sind und bleiben akute Herausforderungen. Die letztlich theologische Erwartung einer unsichtbaren und vom Schutt der Fehldeutungen und grauen Abstraktionen bloß verdeckten, stets erfüllten Sinnhaftigkeit, die nur darauf wartet, aufs neue von uns 12
Karlheinz Stierle, Dimensionen des Verstehens, Konstanz 1990, S. 16.
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entdeckt und endlich enthüllt zu werden – diese ganze, vom Motivzusammenhang der nackten Wahrheit getragene Erwartung einer vollen Präsenz zeitlosen Bedeutens liegt hier gänzlich fern. Im Bereich der Kultur entscheiden vielfältige Prozesse, entscheiden die Weisen des Erzeugens, des Bearbeitens, des Umgangs über die Aktualität der Bedeutung, und dies nicht ein für allemal, sondern auf Zeit. Aus konzeptionellen und methodologischen Gründen gilt es deshalb, die analytische Balance zu halten und produktive mit rezeptiven Faktoren korrelieren zu lassen. Erst wenn es der Analyse gelingt, dieses Nebeneinander und Zugleich der Faktoren auszubalancieren, dürfen wir hoffen zu verstehen, und das heißt: den kulturellen Tatsachen für den Augenblick Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Lob des Umwegs – Der Modus der Indirektheit, in dem uns das Kulturelle begegnet, und die prekäre Gegebenheit kultureller Tatsachen deuten auf ein weiteres Charakteristikum dieses thematischen Feldes, dem speziell die Metapher des Umwegs Plastizität verleiht. Das, was dem Kulturellen Prägnanz gibt, ist seine Umwegigkeit, und alle Kultur – dies wäre meine abschließende und zugleich umfassende These – alle Kultur ist eine Kultur von Umwegen. Die These hat zum einen eine systematische Implikation: Sie bestätigt und erläutert die Feststellung Herbert Schnädelbachs, daß »Kultur« kein philosophischer Grundbegriff sei, mithin weder grundständig noch begründend. Die funktional bestimmte Kultur erweist sich statt dessen als Möglichkeitshorizont: als die Bedingung, die erfüllt sein muß, um die Dinge bedeutsam werden zu lassen. Zum anderen hat die Umwegthese eine anthropologische Implikation: Demnach verdankt sich die Faktizität der Kultur der Umwegkompetenz eines Wesens, das darauf verzichten kann, unmittelbar auf die Reize und Signale zu reagieren, die aus der Umwelt auf es eindrängen. Umwege machen zu können heißt also zunächst und ganz elementar, Reflexe und Instinkthandlungen zu vermeiden und ihrem Automatismus nicht gänzlich ausgeliefert zu sein. Die Techniken der Unterbrechung und des Aufschubs, der Verzögerung und der Reaktionsvermeidung eröffnen überhaupt erst jene Freiräume, die jenem Wesen den bildenden und gestaltenden Aufbau seiner Welt gestatten. Auf dem Umweg über die von ihm selbst errichtete Zweit- und Ersatzwelt, der es wiederum seine eigenen Potentiale verdankt, gelangt dieses Wesen zur Kultur als einer Wirklichkeit, die zutiefst von ihm selbst, von seiner Wahrnehmung und seiner Erfahrung, von seinen Zeichen und seinen Begriffen durchdrungen ist. Die neue Aufmerksamkeit für Umwegphänomene, die im letzten Jahrhundert von so unterschiedlichen Denkern wie Simmel und Cassirer, Valéry und Blumenberg geweckt worden ist, bestätigt den Wandel des Weltmodells auch in der Philosophie, deren rationalistische Strömungen das Denken bereits in der frühen Neuzeit auf die Bevorzugung kürzester Verbindungen festgelegt hatten. Die klassische Indifferenz der Philosophie gegenüber der Kultur hat in dieser Selbstverpflichtung
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einen ihrer entscheidenden Beweggründe. Anders als der Weg und zumal der gerade Weg, der immer bloß das Mittel ist, um zu festgesetzten Zielen zu gelangen, haben emphatische Umwege, haben also Verzögerungen und Aufschübe, haben Rituale, Zeremonien, Festlichkeiten den Charakter von Zwecken. Die Konsequenz des Umwegigen kommt diesem Anspruch entgegen. Umwege bringen die Wegziele nicht zum Verschwinden – denn auch Umwege sind Wege –, aber diese Ziele verlieren ihre Exklusivität. Die Entbindung vom Imperativ unbedingter und schnellstmöglicher Zielerreichung ist die Bedingung der Möglichkeit, die Umwege zu dulden und zahlreich werden zu lassen. Während immer nur ein gerader Weg denkbar ist und eine einzige Strecke, über die er führen muß, ist die Zahl der Umwege unendlich, also stets noch steigerbar. In der Zusammenschau ergeben die Umwege ein polylineares Gebilde bereits absolvierter und immer weiterer Verbindungen, welche die Beobachter der Kulturlandschaft nachvollziehend bestimmen, kartographieren und beschreiben können. Während das marcher toujours le plus droit, zu dem Descartes im dritten Teil seines Discours de la méthode den Philosophen und Sucher der Wahrheit anhält, alternativlos ist, stellt das weitläufige Streckennetz der Umwege immer neue Möglichkeiten bereit, die als solche fortlaufend gesichert und befestigt, analysiert und überdacht werden müssen, und das heißt: Sie verlangen nach Zuwendung, Urteil und Kritik. In dem Maße, wie der Ausbau der Umwegnetze seinen Zweck in sich selbst findet und der Nimbus des Ursprungs wie des Ziels verblaßt, emanzipiert sich die Kultur und wird zum sinnlich-sichtbaren Ausdruck diesseitiger Unendlichkeit.
5 Ausblick Philosophische Disziplinen leiten ihre Berechtigung aus den Fragen ab, deren Brisanz sie benennen und die sie inhaltlich bearbeiten. Wären diese Fragen zeitlos, hätte die traditionelle Disziplinenordnung von Logik, Physik und Ethik bis heute Bestand. Aber diese einfache und überschaubare triadische Gliederung hat über die Epochen hinweg einem dynamischen Ensemble von Disziplinen und disziplinären Neugründungen weichen müssen, die schließlich – und hier wäre wiederum das 18. Jahrhundert zu nennen – jene kanonische, seit der Stoa geläufige Dreiteilung vollends abgelöst hat. Anlässe zum Neubeginn boten nicht nur äußere Umstände und das Erfordernis, im Raum der Theorie auf sie zu reagieren, sondern ebenso die Unruhe und Autonomisierung des philosophischen Denkens selbst. Im Laufe der Neuzeit hat sich das philosophische Denken von der vertrauten Diskursordnung losgesagt und ist in dem Maße reflexiv geworden, wie es sich die Frage nach den Problemen vorlegte, die den Sätzen und Systemen philosophischen Denkens zugrunde liegen und auf die es seine Antworten formuliert.
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Diese Fragen, genau darin zeigt sich die Geschichte und Geschichtlichkeit des Faches, sind variabel. Sie sind dynamisch, zeitgebunden und liegen keineswegs offen zutage. Eben deshalb ist das Finden und Formulieren akuter Fragen mit wachsender Deutlichkeit selbst zu einer philosophischen Leistung geworden, zu einem Akt der Kritik. Auch die Entdeckung der Kulturfrage und ihrer Aktualität verdankt sich einer solchen Intervention. Es sei, schreibt Nietzsche, die Identifikation mit der in »unserem«, dem modernen »Zeitalter« verbreiteten Art zu denken und zu fühlen, also die immer schon erfolgte und in diesem Sinne fraglose Identifikation mit dem Zeitgeist, die uns die damit nur um so dringendere Frage verstelle, wie es jetzt und hier um die Kultur stehe. Indem Nietzsche kulturkritisch zu dieser initialen Frage vordringt, zeichnet er zugleich – und Jahrzehnte vor der Beschreibung von »Kulturindustrie« und »Halbbildung« – ein scharfes Bild seiner Gegenwart und dessen, was er »Philister-Kultur« nennt.13 Demnach ist auch die Philisterkultur eine Kultur: eine solche nämlich, die den Ernst der Kulturfrage verfehlt und – funktional dem ähnlich, was später Martin Heidegger »Gerede« nennt – vor sich selbst verbirgt. Die vorliegende Auswahl von Grundlagentexten der Kulturphilosophie bildet keinen Kanon ab und will auch keinen Kanon begründen – die Lücken in der Gesamtkomposition sind offenkundig. Zudem und vor allem sprechen sachliche Erwägungen gegen die Bildung eines solchen Kanons. Die Kulturphilosophie darf nicht als fertiges und klar umrissenes Aussagesystem verstanden werden – sie ist ein ouvrage à faire, ein Projekt. Das aber bedeutet: Ihr Verhältnis zur Tradition des eigenen Faches, zu den historischen Kulturwissenschaften und ihrer ethnologie de la modernité 14 sowie zu der Kulturwirklichkeit, in der sie engagiert ist, bleibt, als Thema und Aufgabe künftigen Forschens, zu klären. Zu klären bleibt darüber hinaus die Eigenlogik des kulturellen Feldes und die Frage, wie es funktioniert, wie es um die Logik seiner Ausagen bestellt ist, wie um seine Begriffe und Metaphern. Mit der Etablierung der kulturphilosophischen Perspektive wendet sich die Frage der Kultur auf diese selbst zurück: Wie stellt die Kultur es an, für eine Zeit und in einem Raum Sinn zu stiften, und welcher Mittel bedient sie sich dabei? Wie, durch welche symbolischen, sozialen, praktischen Operationen entsteht und festigt sich die Bedeutung kultureller Tatsachen? Wie steht es um das Verhältnis von Kultur und Politik, von Kultur und Religion, Kultur und Gesellschaft, wie um die Entstehung kultureller Identität? Wie bilden und festigen sich kulturelle Konsense und Zugehörigkei-
Friedrich Nietzsche, »Unzeitgemäße Betrachtungen I«, in: ders., Kritische Studienausgabe, a. a.O., Bd. 1, S. 157–242, hier S. 202. 14 So die Formulierung von Roland Barthes, »Vingt mots-clés pour Roland Barthes«, in: ders., Œuvres complètes, hg. v. Éric Marty, Paris 1993, Bd. 3, S. 315–334, hier S. 332. Übrigens führt auch Barthes dieses Programm auf das 19. Jahrhundert zurück, und zwar auf Jules Michelet. 13
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ten? Sind Kulturen verfügbar, lassen sie sich verändern oder wechseln? Sind menschliche Kulturen schlechthin flexibel, dynamisch, innovativ – und wollen sie es überhaupt sein? Wie positionieren sie sich zwischen stasis und dynamis, zwischen Sein und Werden, zwischen Ruhe und Unruhe? Mit Analysen wie diesen ist das Themenspektrum der Kulturphilosophie keineswegs ausgeschöpft. Unter themengeschichtlichen Aspekten bleibt zu klären, wie sich das kulturelle Feld gegenüber jenen heteronomen Darstellungsweisen, welche die Kultur nur als Abhängiges und als Überbau kennen wollen, historisch durchsetzen konnte und wie es sich, zweitens, behaupten konnte auf dem Boden einer Fachtradition, die dem Kontingenzraum der Kultur bis dahin mit Argwohn zu begegnen oder ihn zu ignorieren pflegte. Zu untersuchen bleibt weiterhin die Koexistenz menschlicher Kulturen, die einander zeiträumlich fremd und, wie Lévi-Strauss sagt, füreinander blind sind, sowie das Zusammenspiel von Philosophie, Sozial- und Naturwissenschaften unter dem paradigmatischen Vorzeichen menschlicher Daseinsbewältigung, mit einem Wort: unter dem Vorzeichen der Kultur. All diese Fragen und Probleme, mögen auch nur die wenigsten davon als exklusive Kulturfragen aufzufassen sein, verdeutlichen die Aktualität der Kulturphilosophie. Sie sind allesamt offen, und einige werden, auch wenn sich provisorische Antworten und Lösungen gewiß einstellen werden, langfristig offen bleiben. Eines läßt sich dennoch schon heute mit Bestimmtheit sagen: Nachdem sie das Kulturthema erst einmal zugelassen und anerkannt hat, ist die Philosophie nicht mehr ganz dasselbe Fach. Um die originale Gestalt der Texte zu bewahren, wurde auf formale Vereinheitlichung weitgehend verzichtet. Herausgeberanmerkungen sind in eckige Klammern gesetzt und sind gelegentlich behutsam ergänzt. In dem nachgelassenen Aufsatz Ernst Cassirers »Zur Erkenntnistheorie der Kulturwissenschaften« wurde die Orthographie leicht modernisiert; auf den textkritischen Apparat der Nachlaßausgabe wurde verzichtet.
LUCIUS ANNAEUS SENECA
Briefe an Lucilius. Neunzigster Brief« Die Leistungen der Philosophie. Eine Berichtigung der Ansicht des Posidonius
Daß wir leben, mein Lucilius, ist unzweifelhaft ein Geschenk der Götter, daß wir ehrbar leben, ein Geschenk der Philosophie. Daß wir also der letzteren zu höherem Danke verpflichtet sind als den Göttern, und zwar in eben dem Maße, als ein ehrbares Leben höher steht als das Leben schlechtweg, würde für sicher gelten, wenn nicht die Philosophie selbst uns von den Göttern verliehen wäre. Die wissenschaftliche Erkenntnis derselben gaben sie keinem, das Vermögen dazu allen. Denn hätten sie auch dieses Gut zu einem Gemeingut gemacht, kämen wir also mit voller Einsicht zur Welt, so würde die Weisheit ihren größten Vorzug verloren haben, nämlich den, nicht zu den Glücksgütern zu gehören. Denn tatsächlich ist eben dies das Kostbare und Erhabene an ihr, daß sie nicht eine Gabe des Zufalls ist, daß vielmehr jeder sie sich selbst verdankt, daß sie nicht von einem anderen erbeten wird. Was gäbe es an der Philosophie Bewundernswertes, wenn sie von der Gnade anderer abhinge? Ihre einzige Aufgabe ist, die Wahrheit zu finden in bezug auf göttliche und menschliche Dinge. Von ihrer Seite weicht nicht die Gewissenhaftigkeit, die Frömmigkeit, die Gerechtigkeit und die ganze weitere Gefolgsschar der im engsten Zusammenhang miteinander stehenden Tugenden. Sie lehrt Ehrfurcht vor dem Göttlichen, Liebe zu dem Menschlichen. Den Göttern soll die Herrschaft gehören, unter den Menschen Brüderlichkeit herrschen. Diese Brüderlichkeit hat sich eine Zeitlang unverletzt erhalten1, bis die Habsucht das Band zerriß und selbst für die, die ihr den größten Reichtum verdankten, die Ursache zur Armut ward. Denn vorher besaßen sie alles: das hörte auf mit dem Streben nach Eigentum. Die ersten Menschen dagegen und ihre nächsten Nachkommen folgten unverdorben der Natur als ihrer Führerin und ihrem Gesetz im vollsten Vertrauen auf die Entscheidung des Besseren. Denn es liegt im Wesen der Natur, das Geringere dem Vorzüglicheren unterzuordnen. Unvernünftige Tierherden ordnen sich der Leitung der körperlich ansehnlichsten oder stürmischsten Tiere unter. Der Rinderherde schreitet nicht ein verkümmertes Stierexemplar voran, sondern der größte und muskelkräftigste von allen. An der Spitze einer Elefantenherde steht der an Größe hervorragendste. Unter Menschen ist die Trefflichkeit entscheidend statt der Größe. Die geistige Bedeutung also war ausschlaggebend für die Wahl, und so waren denn die Völker die glücklichsten, in denen für die Macht lediglich die Trefflichkeit maßgebend war. Denn nur der, 1
[Dieser glückliche Zustand hörte auf mit dem Ende des goldenen Zeitalters.]
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welcher seine Macht ganz in den Dienst der Pflicht stellt, kann seinen Willen mit voller Sicherheit durchsetzen. So vertritt denn Posidonius die Meinung, daß in dem sogenannten goldenen Zeitalter die Herrschaft in der Hand der Weisen gelegen habe. Diese ließen die Gewalttätigkeit nicht aufkommen und schützten die Schwächeren gegen die Stärkeren; sie gaben ihren Rat, sei es zustimmend sei es abwehrend, und wiesen hin auf das Nützliche und Schädliche. Ihre Einsicht sorgte dafür, daß den Ihrigen nichts fehlte, ihre Tapferkeit wehrte Gefahren ab, ihre Freigebigkeit hob und verschönerte das Leben ihrer Untergebenen. Ihr befehlendes Wort war Ausdruck der Pflicht, nicht der Herrschergewalt. Niemand erlaubte sich eine Kraftprobe gegen diejenigen, denen er seine Kraft verdankte. Keiner verspürte Lust oder hatte Anlaß zu Gewalttätigkeit, denn dem tadellosen Regiment entsprach der tadellose Gehorsam, und der Herrscher konnte die Ungehorsamen mit nichts Schlimmerem bedrohen als mit Niederlegung seiner Regierung. Aber als mit allmählicher Zunahme der Laster sich die Herrschaft in Tyrannei verwandelte, machte sich allmählich die Einführung von Gesetzen nötig, die indes anfänglich gleichfalls von den Weisen gegeben wurden. Solon, der Athen Gesetze gab nach Maßgabe der Rechtsgleichheit, gehört zu dem Kreis der sieben bekannten Weisen; hätte Lykurg zu derselben Zeit gelebt, so würde er als achter jenem ehrwürdigen Männerkreis zugezählt worden sein. Man lobt des Zaleukus und Charondas2 Gesetze. Diese haben nicht auf dem Forum oder in der Halle von Rechtsgelehrten sondern in dem stillen, weihevollen Kreise des Pythagoras sich die Rechtskenntnisse angeeignet, durch die sie Gesetzgeber wurden für das blühende Sizilien sowie für die Griechen in Italien. Soweit gebe ich dem Posidonius recht. Aber daß die Künste, die für den Bedarf des täglichen Lebens sorgen, von der Philosophie erfunden worden seien, das kann ich nicht zugeben; den Ruhm der Erfindung der Baukunst kann ich ihr nicht zusprechen. »Sie lehrte«, sagt Posidonius, »die weithin zerstreuten Menschen, die entweder in Höhlen oder in Felsspalten oder in einem ausgehöhlten Baumstamm Schutz suchten, Häuser zu bauen.« Ich dagegen bin der Meinung, daß die Philosophie diese Veranstaltungen zur Errichtung von Gebäuden, die eines das andere immer überragen, sowie von Städten, die einander den Rang abjagen, ebensowenig ersonnen habe, wie jene wohlverwahrten Fischteiche, die zu dem Zwecke angelegt wurden, um den lüsternen Gaumen vor der Gefahr der Stürme zu bewahren: auch bei dem wütendsten Meerestoben sollte die Schwelgerei ihre gesicherten Hafenplätze haben, in denen sie alle Arten von Fischen zu Hauf mästen könnte. Wie? Die Philosophie lehrte die Menschen, Schlüssel und Riegel zu haben? Wäre das nicht geradezu die Anweisung zur Habsucht gewesen? Die Philosophie soll diese mit so [Zaleukus, der Gesetzgeber der Lokrer in Unteritalien, Charondas Gesetzgeber von Katana und anderen Städten in Sizilien.] 2
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großer Gefahr für die Einwohner verbundenen himmelhohen Gebäude angelegt haben? Genügte es denn nicht, sich zu schützen durch das, was gerade zur Hand war, und ohne Kunst und ohne Schwierigkeit irgend ein von der Natur gebotenes Obdach ausfindig zu machen? Glaube mir, jenes glückliche Zeitalter blühte, als es noch keine Architekten, noch keine Stuckateure gab. All dies ist erst aufgekommen mit dem Beginn der Üppigkeit. Von da ab erst fing man an, regelrecht vierkantiges Bauholz herzustellen und mit der ihren vorgezeichneten Lauf streng einhaltenden Säge die Balken fehlerlos zu durchschneiden3. Denn sonst pflegte der Keil den klüftigen Stamm zu zerspalten. Denn noch errichtete man keine Bauten für Speisesäle, die für großartige Festmahle dienen sollten, und noch wurden nicht zu diesem Zwecke Fichten und Tannen in endlosem Wagenzug durch die von der Last erdröhnenden Straßen herbeigeschafft, um dem Speisezimmer eine getäfelte Decke zu geben, die von goldigem Schmucke strotzt. Auf beiden Seiten je eine gabelförmige Stütze – das war die ganze Vorrichtung, die dem Bau die nötige Festigkeit gab. Mit dicht gehäuftem Reisholz, darüber eine schräg abwärts sich neigende Schicht von Laub, ließ man den Regen, so stark er auch sein mochte, ablaufen. Unter solchen Dächern wohnten sie, und zwar aller Sorgen ledig. Ein Strohdach deckte die Freien, unter Marmor und Gold wohnt die Knechtschaft. Auch darin stimme ich dem Posidonius nicht bei, daß, wie er meint, die für das Handwerk nötigen Eisenwerkzeuge von weisen Männern erdacht worden seien. Wäre dem so, dann könnte man auch denjenigen einen Weisen nennen4, Der es erfand, zu berücken das Wild mit Schlingen und Ruten, Und zuerst das weite Gehölz mit Hunden umstellte. Alles dies hat der Spürsinn der Menschen, nicht die Weisheit erfunden. Auch das kann ich ihm nicht zugeben, die Weisen seien es gewesen, die die Fundgruben des Eisens und Erzes erschlossen hätten, indem die von Waldbränden durchglühte Erde die obersten Adern erweicht und in Fluß gebracht hätte. Solche Dinge werden von Leuten gefunden, die dafür ein wachsames Auge haben. Auch die Frage scheint mir nicht so schwierig wie dem Posidonius, was zuerst in Gebrauch gekommen sei, der Hammer oder die Zange. Beide Erfindungen zeugen von einem geweckten und scharfen, aber nicht von einem großen und erhabenen Geist. Und so steht es mit allem, was mit gebeugter Körperhaltung und auf den Boden gerichteter Aufmerksamkeit gesucht werden muß. Der Weise fand leicht seinen Lebensunterhalt. Warum auch nicht? Will er doch auch heutzutage noch so wenig wie möglich mit sich führen. 3 4
[Vergil, Georgica, I 144.] [Vergil, Georgica, I 139 f.]
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Wie kannst du, ich bitte dich, in einem Atem den Diogenes und den Dädalus bewundernd loben? Welcher von beiden scheint dir der Weise zu sein? Der die Säge erfunden hat, oder der, der, als er einen Knaben aus hohler Hand Wasser trinken sah, sofort seinen Becher aus seinem Ranzen zog und ihn zerbrach mit folgenden Scheltworten an sich selbst: »Wie lange habe ich Tor überflüssiges Gepäck mit mir geführt!« Mit einem Faß begnügte er sich als seiner Wohn- und Schlafstätte. Und heutzutage? Wen hältst du für weiser? Den, der die Erfindung gemacht hat, wie man Safranwasser aus verborgenen Röhren in ungemessene Höhe sich ergießen läßt, der (im Zirkus) Kanäle mit plötzlich andringendem Wasser füllt oder sie wieder trocken legt und bewegliches Getäfel über den Speisesälen so geschickt zusammenfügt, daß immer ein neuer Anblick den anderen ablöst, und jedes neue Gericht mit einem Deckenwechsel eingeführt wird – oder den, der anderen und sich selbst klar macht, daß die Natur uns nichts Hartes und Schweres auferlegt, daß wir für unsere Wohnung keines Marmorarbeiters und Zimmermannes bedürfen, daß wir auch ohne den Seidenhandel5 uns kleiden, daß wir das für unseren Bedarf Notwendige haben können, wenn wir zufrieden sind mit dem, was uns die Erde auf ihrer Oberfläche darbietet? Wollte die Welt seinem Worte Gehör geben, so würde sie sich überzeugen, daß ein Koch ebenso überflüssig ist wie ein Soldat6. Sie, die mit der Sorge für den Körper leicht fertig waren – sie waren weise oder wenigstens den Weisen ähnlich. Die Beschaffung des Notwendigen macht wenig Mühe. Die Genußsucht erfordert vieler Hände Beistand. Du bedarfst nicht der Künstler: Folge nur der Natur. Sie hat es auf keine Überlastung für uns abgesehen: wozu sie uns zwang, dazu hat sie uns auch mit hinreichenden Mitteln ausgerüstet. »Die Kälte«, sagt man, »ist dem nackten Leibe unerträglich.« Mag sein. Aber können nicht Felle von wilden und anderen Tieren uns mehr als ausreichend gegen die Kälte schützen? Dient nicht vielen Völkern die Baumrinde zur Bekleidung des Körpers? Wird nicht aus Vogelfedern eine Art von Kleidung hergestellt? Bekleidet sich nicht heutzutage noch ein gut Teil der Scythen mit Fuchs- und Mäusefellen, die sich weich anfühlen und dabei für den Wind undurchdringlich sind? »Doch vor der Glut der Sommerhitze muß man sich doch durch dichteren Schatten schützen.« Nun gut. Aber hat nicht die Vorzeit dafür gesorgt, daß sich an vielen Stellen, sei es durch den Zahn der Zeit sei es durch sonst irgendwelchen Zufall, tiefe Höhlungen bildeten? Und haben nicht ferner die ersten besten Leute Flechtwerk aus Ruten mit bloßer Hand hergestellt und es mit schlichtem Lehm bestrichen, sodann das Dach mit Stroh und Laub bedeckt und den Winter sorglos überstanden, während der Regen über das schräge Dach ablief? Und dienen nicht Gruben den Völkern an den Syrten zum Schutz gegen die
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[Mit China, denn das ist das Land der Serer.] [Weil der Krieg nicht in Frage kommt.]
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übermäßige Sonnenglut, gegen die es keine schützende Hülle gibt außer dem glühenden Boden selbst? Die Natur war nicht so feindselig gesinnt, daß sie, während sie es allen anderen Geschöpfen leicht machte den Weg durchs Leben zu finden, es dem Menschen allein nicht vergönnte, ohne die Unzahl von Künsten zu leben. Zu nichts von alledem hat uns ihr Gebot genötigt, nichts erfordert mühseliges Suchen, um das Leben zu fristen. Was wir brauchen, das findet sich von Geburt ab für uns vor. Aber wir sind zu vornehm für das Leichte, und darum haben wir uns alles schwer gemacht. Obdach, Bekleidung, Wärmemittel für den Körper, Nahrung und alles, was jetzt unzählige Hände beschäftigt, war zur Hand, kostenlos und ohne weitere Mühe zu beschaffen; denn das Maß richtete sich nach dem unmittelbaren Bedarf. Wir erst sind es gewesen, die diese Dinge so kostspielig, so staunenswert und zum Gegenstand des Wettbewerbes so vieler bedeutender Künste gemacht haben. Die Natur reicht aus für das, was sie fordert. Die Üppigkeit hat sich losgemacht von der Natur. Sie gibt sich täglich selbst neuen Anreiz, nimmt im Verlaufe der Zeiten immer mehr zu und fördert das Laster durch ihre Erfindungskraft. Sie begann damit, Überflüssiges zu begehren, sodann Naturwidriges, um schließlich den Geist unter das Gebot des Körpers zu stellen und ihn zum Diener der Lustbegier zu machen. Alle jene Künste, die in das bürgerliche Leben so viel Aufregung bringen oder es so geräuschvoll machen, stehen nur im Dienste des Körpers, der ehedem alles, was man ihm gab, als Knecht empfing, während er jetzt der Herr ist, für den alles zugerüstet wird. Daher diese Werkstätten von Webern und Handwerkern, von Verfertigern von allerhand wohlriechenden Stoffen, von Lehrern weichlicher Körperübungen und weichlichen, mattherzigen Gesanges. Denn verschwunden ist jenes natürliche Maß, das in Befriedigung unserer Begierden nicht über das unmittelbar Nötige hinausging. Wie anders jetzt, wo es für ungebildet und armselig gilt nur das gerade Genügende zu wünschen. Es ist unglaublich, mein Lucilius, wie leicht der Reiz der Beredtsamkeit selbst große Männer von der Wahrheit abführt. So hat Posidonius, meiner Meinung nach einer der fruchtbarsten Bearbeiter der Philosophie, seine Freude daran, zunächst zu beschreiben, wie die Fäden teils zusammengedreht teils zufolge ihrer Weichheit und Nachgiebigkeit lang gezogen werden, sodann wie das Gewebe (der Aufzug) durch angehängte Gewichte straff gerade gezogen wird, wie sodann der angefügte Einschlag, um den Druck des von beiden Seiten wirkenden Aufzugs in seiner Härte zu mildern, durch den Weberkamm gezwungen wird sich eng zusammenzuschließen. Und so kommt er denn zu der Behauptung, daß auch die Kunst der Weberei von den Weisen erfunden sei, wobei er ganz vergißt, daß diese feinere Weberei erst eine Erfindung späterer Zeit ist7.
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[Ovid, Metamorphosen, VI 55 ff.]
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Fest am Baum ist die Web’, und der Rohrkamm scheidet den Aufzug. Mitten hindurch wird geschossen mit spitzigem Schifflein der Einschlag. Diesen befest’gen mit kräftigem Stoß die Zähne des Kammes. Wie, wenn er in die Lage gekommen wäre, die Gewebe unserer Zeit zu sehen, die zu Kleidern verarbeitet werden, die nichts verbergen, die aller Schamhaftigkeit Hohn sprechen, von ihrer Bestimmung als Schutz des Körpers gar nicht zu reden. Dann geht er zum Landbau über und beschreibt nicht weniger beredt, wie der Boden vom Pfluge aufgerissen und abermals gepflügt wird, um das Erdreich zu lockern zur leichteren Einsenkung der Wurzeln, wie dann der Samen ausgestreut und mit der Hand das Unkraut ausgerodet wird, um nichts Ungehöriges aufkommen zu lassen, was die Saat erstickt. Auch dies erklärt er für ein Werk der Weisen, als ob nicht auch jetzt noch die Landwirte zahlreiche neue Erfindungen machten, um den Ertrag zu fördern. Und noch nicht zufrieden mit diesen Künsten, läßt er den Weisen auch sich mit der Mühle befassen. Er erzählt, wie er in Nachahmung natürlicher Vorgänge auf die Kunst der Brotbereitung kam. »Die in den Mund gebrachten Getreidekörner«, sagt er, »werden durch die Härte der aufeinandertreffenden Zähne zermalmt, und was zur Seite gerät, wird durch die Zunge wieder zwischen eben diese Zähne gebracht. Dann wird es mit Speichel gemischt, um leichter durch den schlüpfrigen Schlund ins Innere hinabzugelangen. Ist es im Magen angelangt, so wird es durch dessen gleichmäßige Wärme verdaut und teilt sich dann so dem übrigen Körper mit. Dies nahm sich einer zum Muster: er legte einen zackigen Stein über den anderen, ähnlich der Stellung der Zähne zueinander, deren unbeweglicher Teil8 die Bewegung des anderen erwartet. Durch die Reibung beider werden die Körner zermalmt, was sich öfters wiederholt, bis sie durch diese andauernde Wiederholung auf das feinste zermalmt sind. Hiernach durchfeuchtete er das Mehl mit Wasser, knetete es gründlich durch und formte es zu Brod, das er anfangs auf glühender Asche und einem glühenden Steine buk; dann erfand man mit der Zeit die Backöfen und andere Zubereitungsarten, die eine beliebige Benutzung der Hitze ermöglichten.« Es fehlte nicht viel, so behauptete er auch, das Schusterhandwerk sei von Weisen erfunden worden. Alles das hat zwar die Einsicht, aber nicht die eigentliche Vernunfteinsicht erdacht. Es sind die Erfindungen von Menschen, aber nicht von Weisen, so wenig wie die Schiffe, mit denen wir Flüsse und Meere befahren unter Anbringung von Segeln, um die Triebkraft des Windes nutzbar zu machen, sowie unter Einfügung des Steuerruders, um dem Schiff jede beliebige Richtung zu geben. »Alles dies«, sagt Posidonius, »hat der Weise zwar erfunden, aber als zu gering, um sich selbst damit näher zu befassen, wurden diese Dinge von ihm untergeordneten Leuten überlassen.« 8
[Das Obergebiß.]
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Nein! Sie sind von den nämlichen Leuten erdacht worden, die sich noch heute damit beschäftigen. Manches ist, wie bekannt, erst zu unserer Zeit aufgekommen, wie z. B. die Verwendung von Fensterscheiben, die durch die durchsichtige Glasmasse9 das helle Tageslicht durchlassen, oder wie die hohen Wölbungen der Bäder und die in ihre Wände eingelassenen Röhren, die überallhin der Wärme Zutritt verschaffen und eine gleichmäßige Verteilung derselben in allen Richtungen bewirken. Nur eben hinzuweisen brauche ich auf den Aufwand an Marmor, der Tempeln und Häusern ihren Glanz gibt, auf die rundgeformten und geglätteten Steinmassen, auf denen die Säulenhallen ruhen, und die Decken der Säle, die geräumig genug sind, um ein ganzes Volk in sich aufzunehmen, auf die Kurzschrift10, durch welche auch die schnellste Rede schriftlich festgehalten wird, indem die schreibende Hand mit der Schnelligkeit der Zunge wetteifert. Alles dies sind Erfindungen untergeordneter Gesellen; die Weisheit sitzt auf hohem Thron: sie lehrt nicht Handfertigkeiten, sie ist die Lehrerin des Geistes. Du willst wissen, was sie ausfindig gemacht, was sie hervorgebracht hat? Nicht unzüchtige Bewegungen des Körpers, nicht die mannigfachen Durchlässe bei Trompete und Flöte, durch welche der aufgefangene Lufthauch beim Aus- oder Durchgang sich zur Melodie formt. Sie hat nichts zu tun mit Waffen, mit Schutzmauern, mit Kriegsbedarf, sie hält es mit dem Frieden und ruft die Menschheit zur Eintracht. Sie ist, um es nochmals zu sagen, keine Verfertigerin von Werkzeugen für den notwendigen Lebensbedarf. Was mutest du ihr solche Nichtigkeiten zu? Sieh nur hin: die Gestaltung des Lebens selbst ist ihre Aufgabe und Kunst; alle übrigen Künste stehen unter ihrer Herrschaft. Denn wem das Leben dient, dem dient auch alles, was das Leben schmückt. Indes ist es nur das glückliche Leben, auf das sie zielt: dahin führt sie, dahin öffnet sie die Wege. Sie zeigt, was wirkliche, was scheinbare Übel seien, sie befreit den Geist von Eitelkeit, sie gibt ihm wahrhafte Größe, die aufgeblähte aber und bloß auf leerem Schein beruhende weist sie in ihre Schranken zurück und duldet keine Unkenntnis des Unterschiedes zwischen Größe und Aufgeblasenheit. Die ganze Natur ebenso wie ihre eigene ist Gegenstand ihrer Lehre. Sie gibt Auskunft über Wesen und Art der Götter, über die Unterweltsbewohner, über Larven und Genien, über die Seelen, die in die zweite Klasse göttlicher Wesen gehören11, wo sie verweilen, was sie treiben, was sie können und was sie wollen. Das sind die Weihen, über die sie gebietet, und durch welche nicht etwa der Tempel einer Einzelgemeinde sondern die unermeßliche Wohnstätte aller Götter, der Welt selbst, erschlossen wird, deren wahre Götterbilder und wahres Antlitz sie dem Geiste zur Schau stellt. Denn für so erhabene Schauspiele ist unser sinnliches Gesicht nicht ausreichend. Sodann geht 9 10 11
[Eine Art Marienglas.] [Bei Griechen und Römern bekanntlich zu großer Vollkommenheit gelangt.] [Also über die Dämonen.]
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sie zurück auf die Anfänge der Dinge, auf die ewige, dem Ganzen innewohnende Vernunft sowie auf die Kraft jedes Samens, alles Einzelne nach seiner Eigenart zu gestalten. Weiter wendet sie sich dann der Untersuchung des Geistes zu, mit der Frage nach seiner Abkunft, nach seiner Stätte, nach seiner Dauer, nach der Zahl seiner Teile. Sodann geht sie von dem Körperlichen zu dem Unkörperlichen über, beurteilt die Wahrheit der Behauptungen und ihre Beweise und untersucht endlich das Zweideutige in Leben und Rede; denn in beiden mischt sich Wahres und Falsches. Nicht abgewandt hat sich, wie Posidonius meint, der Weise von jenen Künsten, nein, er hat sich überhaupt mit ihnen nie abgegeben. Denn nie hätte er überhaupt etwas der Erfindung für wert erachtet, was er nicht auch einer dauernden Benutzung für wert erachtet hätte. Seine Wahl würde nicht auf Dinge fallen, von denen er sich wieder lossagen muß. »Anacharsis«, sagt er, »erfand die Töpferscheibe, durch deren Umschwung Gefäße geformt werden.« Weil nun aber schon bei Homer12 sich die Töpferscheibe findet, soll nicht diese Sage, sondern sollen die Verse des Homer unecht sein. Was mich anlangt, so behaupte ich einerseits, daß Anacharsis mit der Erfindung dieser Sache nichts zu schaffen hat, anderseits, daß, wenn dies doch der Fall war, er diese Erfindung nicht als Weiser gemacht hat, wie denn der Weise so manches tut als Mensch, nicht als Weiser. Nimm an, der Weise sei ein besonders hurtiger Läufer, so wird er im Laufe alle hinter sich lassen, weil er schnellfüßig, nicht weil er weise ist. Ich möchte dem Posidonius wohl einen Glasarbeiter vorführen, wie er durch sein Blasen dem Glase allerhand Formen gibt, die eine geübte Hand kaum zustande bringen könnte. Diese Erfindung ist gemacht worden, als die Zeit der Weisheitserfindung längst vorüber war. »Demokrit«, sagt er, »soll die Kunst des Wölbens erfunden haben, durch die ein Bogen von Steinen, die seitwärts gegeneinander geneigt sind, durch den Mittelstein (Schlußstein) zu fester Verbindung zusammengefügt werden.« Das ist falsch, wie ich behaupte. Denn schon vor Demokrit hat es Brücken und Tore gegeben, die oben gewölbt sind. Ihr habt ferner übersehen, daß derselbe Demokrit die Kunst erfunden hat, Elfenbein zu erweichen, einen ausgekochten Stein in einen Smaragd zu verwandeln, eine Schmelzung, durch die noch heutzutage dazu geeignete Steine, die man gefunden, eine besondere Färbung erhalten. Mag dergleichen Dinge auch ein Weiser erfunden haben, er hat es nicht erfunden, weil er ein Weiser war; tut doch der Weise vieles, was wir auch den Unkundigsten entweder ebenso oder mit noch geübterer oder geschickterer Hand tun sehen. Du fragst, was der Weise erforscht, was er ans Licht gezogen habe? Zunächst die Wahrheit und die Natur, die er nicht wie die Tiere mit Augen betrachtet hat, denen [Ilias 18, 599 ff., wo der kretische Tanz durch den Vergleich mit der im Umschwung befindlichen Töpferscheibe veranschaulicht wird.] 12
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die Spuren des Göttlichen verborgen bleiben. Sodann das Gesetz für die Lebensführung, das er nach dem Muster des Weltalls entwarf; gemäß seiner Lehre soll man die Götter nicht nur kennen, sondern ihnen auch folgen und den etwaigen Schikkungen sich fügen, nicht anders als wären es Befehle von oben. Er verbot, irrigen Meinungen zu folgen, und bestimmte genau den wahren Wert jeglichen Dinges. Über Sinnesgenüsse, die mit Reue verbunden sind, sprach er sein Verwerfungsurteil aus und erteilte sein Lob nur solchen Gütern, an denen man immer Wohlgefallen hat. Laut verkündete er, der sei der Glücklichste, der des Glückes nicht bedarf, der sei der Mächtigste, der sich selbst in der Gewalt habe. Ich spreche nicht von jener Philosophie13, die den Bürger dem Vaterlande entfremdet, die Götter sich nicht mit der Welt befassen läßt und die Tugend an die Lust verschenkt, sondern von der, die nur das Sittlichgute für ein wirkliches Gut hält, die nicht durch Spenden aus der Hand der Menschen oder des Schicksals gewonnen werden kann, die in sich so wertvoll ist, daß kein (äußerer) Wert imstande ist uns ihrer habhaft zu machen. Daß es diese Philosophie schon in jenem der Geistesbildung noch fremden Zeitalter gegeben habe, wo alle künstlichen Hilfsmittel noch fehlten und das Nützliche nur gewohnheitsmäßig erlernt wurde, kann ich nicht glauben. Sie kam erst in der Folgezeit auf, erst nach diesen glücklichen Zeiten, wo alle gütigen Gaben der Natur für jedermanns Gebrauch sich von selbst darboten, wo Habsucht und Üppigkeit noch nicht die Eintracht der Menschen untergraben und sie aus einträchtigen Nachbarn zu Räubern gemacht hatte. Nein, die Männer jener Zeit waren keine Weisen, wenn sie in ihren Handlungen auch den Weisen ähnlich waren. Was den Zustand der Menschheit anlangt, so wird es allerdings schwerlich einen anderen geben, dem man höheren Beifall schenken möchte, und gesetzt, die Gottheit gestattete einem eigenmächtig das Irdische zu gestalten und die Völker zur Sittlichkeit zu erziehen, so wird dieser kein besseres Muster finden als das nach der Überlieferung von jenen Menschen gegebene, bei denen noch14 die Flur von keinen Pächtern bebaut ward, Wo es noch keine Umgrenzungen gab mit Verteilung des Bodens, Sondern ein jeder Erwerb der Gesammtheit diente: die Erde Lieferte alles in reichlichem Maß auch unaufgefordert. Was konnte es Glücklicheres geben als jenes Menschengeschlecht? Man genoß gemeinsam die Gaben der Natur. Sie – die Natur – genügte als Mutter zum Schutze für alle, auf sie gründete sich der sorgenfreie Besitz aller gemeinsamen Güter. Warum sollte ich nicht dasjenige Geschlecht als das reichste in der Welt bezeichnen, in dem es keine Armut zu sehen gab? Dieser überaus glückliche Zustand fand sein 13 14
[Nämlich der des Epikur.] [Vergil, Georgica, I 125 ff.]
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Ende durch den Einbruch der Habsucht, die, begehrlich darauf bedacht etwas abzulösen und zum persönlichen Eigentum zu machen, alles einander entfremdete und an die Stelle des Unermeßlichen das eng Begrenzte setzte. Die Habsucht ließ die Armut aufkommen, und, indem sie vieles begehrte, verlor sie alles. Mag sie auch jetzt versuchen ihren Verlust wieder auszugleichen, mag sie Feldflur an Feldflur reihen, den Nachbar entweder durch die Höhe des Kaufpreises oder durch Gewalttätigkeit vertreibend, mag sie mit ihrem Bodenbesitz auch die Ausdehnung ganzer Provinzen erreichen und den Besitzenden zu einer Art Reisendem machen, der sein Gebiet besichtigt. Aber mögen wir die Grenzen unseres Besitzes noch so weit ausdehnen, wir werden nie auf den Ausgangspunkt zurückkommen. Rühren wir uns auch noch so sehr, wir werden immer nur Vieles besitzen; vor Zeiten besaßen wir alles. Die Erde selbst war noch fruchtbarer, solange sie unbearbeitet war und reichlich spendete, was die noch nicht von Raubsucht befallenen Völker zu ihrem Dasein bedurften. Alles, was die Natur hervorgebracht hatte, wollte ein jeder gern nicht nur gefunden haben sondern, wenn er es gefunden, es auch dem Nachbar zeigen. Und keiner konnte zu viel oder zu wenig haben, denn alles wurde einträchtig geteilt. Noch hatte nicht der Stärkere seine Hand auf den Schwächeren gelegt, noch hatte nicht der Habgierige durch geheime Absonderung des für den eigenen Besitz Bestimmten andere auch des Unentbehrlichen beraubt: man war ebenso besorgt für den Nachbar wie für sich selbst. Die Waffen ruhten, und die Hände, noch nicht mit Menschenblut besudelt, dienten nur zur Befriedigung des Ingrimms gegen die wilden Tiere. Jene Glücklichen, die ein dichter Hain vor den Strahlen der Sonne geschützt hatte, die vor des Winters Grimm oder des Regens Überfülle unter dem Laubdach ihrer bescheidenen Hütte sicher lebten, erfreuten sich friedlicher Nächte ohne Seufzer. Mit uns in unserem Purpurkleid treibt die Unruhe ihr Spiel und peinigt uns mit ihrem scharfen Stachel: aber welch süßen Schlaf gab die harte Erde jenen Menschen! Sie wußten nichts von kunstvoll getäfelten Zimmerdecken, aber, hatten sie sich im Freien zur Ruhe hingestreckt, so durchliefen über ihnen die Sterne ihre Bahn, und das Himmelsgebäude, dies herrliche Schauspiel der Nächte, vollzog seinen unaufhaltsamen Umschwung, schweigsam seinem gewaltigen Werke obliegend. Des Tages sowohl wie des Nachts ruhte ihr Auge auf diesem herrlichsten Gebäude. Nach Belieben konnte man, seinen Blick nach den Sternbildern wendend, zuschauen, wie sie von der Höhe des Himmels sich niederwenden, während andere aus der verborgenen Tiefe emporsteigen. Hätte man nicht seine Lust daran haben sollen, in dieser Wunderwelt mit ihren weit zerstreuten Bildern umherzuschweifen? Aber ihr – ihr zittert beim geringsten Geräusch eurer Häuser und ergreift wie besessen die Flucht inmitten all eurer Gemälde, sobald sich ein verdächtiger Ton vernehmen läßt. Damals hatte man keine Häuser von der Größe ganzer Städte. Luftzug und freier Windeshauch über offenes Gelände, leichter Schatten eines Felsens oder Baumes, durchsichtige Quellen und Bäche, die durch keinen künstlichen Eingriff,
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durch keine Röhren, durch keine erzwungene Wegrichtung entstellt sind, sondern ihrem natürlichen Laufe treubleiben, dazu Wiesen von anmutender Schönheit auch ohne jede künstliche Nachhilfe und inmitten dessen die schlichte ländliche Hütte, von derber Hand sauber hergestellt: das war ein Haus, wie die Natur es wünscht; in ihm konnte man behaglich leben, ohne Angst vor demselben oder für dasselbe. Jetzt ist es anders: die Häuser sind eine Hauptquelle unserer Beängstigungen15. Indes, so vorbildlich auch das Leben war, das sie führten, und so fern ihnen jeder Gedanke an Trug lag, so waren sie doch keine Weisen; denn das ist eine Bezeichnung, die nur der höchsten Leistung gebührt. Doch will ich nicht leugnen, daß sie hochsinnige Männer waren und sozusagen unmittelbare Sprößlinge der Götter. Denn kein Zweifel: ein besseres Geschlecht hat die noch unverbrauchte Erde nicht hervorgebracht. Erfreuten sich aber auch alle einer kräftigeren Anlage und willigeren Hingabe an Anstrengungen, so hatten sie doch nicht alle die höchste Stufe der Geistesbildung erreicht. Denn nicht die Natur ist es, die die Tugend verleiht: es ist eine Kunst, ein sittlich tüchtiger Mensch zu werden. Dieses Geschlecht suchte noch nicht nach Gold, Silber und durchsichtigen Edelsteinen in der feuchten Tiefe der Erde, es schonte auch noch die unvernünftigen Tiere. Noch war man weit davon entfernt, daß der Mensch einen Menschen, nicht etwa im Zorn, nicht etwa aus Furcht tötete, sondern nur um an dem Schauspiel seine Freude zu haben16. Noch gab es keine gestickten Kleider, keine Goldgewebe, noch grub man überhaupt kein Gold. Wie stehts also damit? Ihre Unschuld war zurückzuführen auf ihre Unerfahrenheit. Es ist aber ein großer Unterschied, ob man die Sünde unterläßt, weil man sie nicht will, oder weil man von der Sache überhaupt nichts weiß. Jenes glückliche Geschlecht war nicht in Besitz der Gerechtigkeit, der Einsicht, der Mäßigkeit und der Tapferkeit. Ihr noch bildungsloses Leben zeigte gewisse allen diesen Tugenden verwandte Züge; allein die Tugend wird nur einem wohl unterrichteten, durchgebildeten und durch anhaltende Übung zur Höhe gelangten Geiste zuteil. Dazu werden wir geboren, aber noch ohne dies Wissen und auch bei den Besten findet sich, ehe man mit ihrer Bildung beginnt, zwar die Anlage zur Tugend, aber noch nicht die Tugend.
15 16
[Eine beständige Quelle der Furcht und Beängstigung, deren Seneca häufig gedenkt.] [Anspielung auf die Unmenschlichkeiten in den Zirkusspielen.]
Frontispiz des Discours sur le sciences et les arts von 1750.
JEAN - JACQUES ROUSSEAU
Abhandlung über die Frage: Hat der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen?
Decipimur specie recti Hor. de Arte poet. v. 25
Hat der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen oder zum Verfall? Das gilt es hier zu untersuchen. Welche Partei soll ich in dieser Frage ergreifen? Jene, meine Herren, die sich für einen ehrlichen Mann ziemt, der zwar nichts weiß, sich deshalb aber nicht geringer achtet. Ich fühle, wie schwer es vor dem Tribunal, vor dem ich erscheine, angemessen auszudrücken ist, was ich zu sagen habe. Wie soll ich wagen, die Wissenschaften vor einer der gelehrtesten Gesellschaften Europas zu tadeln, vor einer der berühmtesten Akademien die Unwissenheit zu loben und die Verachtung der Studien mit der Hochachtung für die wahren Gelehrten zu verbinden? Ich habe diese Widersprüche gesehen und sie haben mich nicht entmutigt. Ich behandele nicht die Wissenschaften schlecht, habe ich mir gesagt, sondern ich verteidige die Tugend vor tugendhaften Männern. Den rechtschaffenen Männern ist die Rechtschaffenheit noch teurer als den Gelehrten die Bildung. Was habe ich denn also zu fürchten? Die Einsicht der Versammlung, die mich anhört? Gewiß, aber das gilt für die Form der Abhandlung, nicht für die Gesinnung des Redners. Gerechte Herrscher haben in zweifelhaften Fällen nie gezögert, sich selbst zu verurteilen. Das gute Recht ist in der vorteilhaftesten Lage, wenn es sich gegenüber einer lauteren und unvoreingenommenen Partei zu verteidigen hat, die Richter in eigener Sache ist. Mit diesem ermutigenden Motiv verbindet sich ein anderes und bestimmt mich. Wenn ich nach rechtem Wissen und Gewissen die Partei der Wahrheit ergreife, kann mir ein Preis nicht entgehen, wie immer auch mein Erfolg sei: ich finde ihn auf dem Grund meines Herzens.
Erster Teil Es ist ein großes und schönes Schauspiel, den Menschen sozusagen aus dem Nichts durch seine eigenen Anstrengungen hervorgehn zu sehn. Er erhellt mit dem Licht seines Verstandes die Finsternis, in die ihn die Natur gehüllt hat. Er erhebt sich über
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sich selbst, schwingt sich durch seinen Geist bis in die himmlischen Regionen empor, durchmißt mit Riesenschritten sonnengleich die ungeheure Ausdehnung des Universums, kehrt – was noch größer und schwerer ist – in sich selbst zurück, um hier den Menschen zu studieren und seine Natur, seine Pflichten und seine Bestimmung zu erkennen. All diese Wunder haben sich seit wenigen Generationen wiederum ereignet. Europa war in die Barbarei seiner Vorzeiten zurückgefallen. Die Völker dieses jetzt so aufgeklärten Teils der Welt lebten vor einigen Jahrhunderten in einem Zustand, der schlimmer als die Unwissenheit war. Ich weiß nicht, welcher wissenschaftliche Kauderwelsch, der noch verächtlicher als die Unwissenheit ist, den Namen des Wissens usurpiert hatte und seiner Rückkehr einen schier unbesiegbaren Widerstand leistete. Es bedurfte einer Revolution, um die Menschen zum gesunden Menschenverstand zurückzubringen. Sie kam endlich von einer Seite, von der man sie am wenigsten erwartet hätte. Der dumme Muselmann, die Geißel der Bildung, ließ sie bei uns wiedererstehen. Der Sturz des Throns von Konstantinopel schwemmte die Trümmer des alten Griechenland nach Italien. Frankreich bereicherte sich seinerseits an dieser kostbaren Hinterlassenschaft. Bald folgten die Wissenschaften der Literatur: mit der Kunst des Schreibens verband sich die Kunst des Denkens. Diese Abstufung erscheint sonderbar und ist vielleicht nur zu natürlich. Man begann den Hauptvorteil des Umgangs mit den Musen zu spüren, nämlich daß sie die Menschen gesellschaftsverbundener machten, da sie in ihnen den Wunsch wachriefen, sich gegenseitig durch Werke zu imponieren, die sie ihrer wechselseitigen Schätzung würdig machten. Wie der Körper hat auch der Geist seine Bedürfnisse. Jene bilden die Grundlage der Gesellschaft, diese machen ihre Annehmlichkeit aus. Während die Regierungen und die Gesetze für die Sicherheit und das Wohlergehen der zusammenwohnenden Menschen sorgen, breiten die weniger despotischen und vielleicht mächtigeren Wissenschaften, Schriften und Künste Blumengirlanden über die Eisenketten, die sie beschweren. Sie ersticken in ihnen das Gefühl jener ursprünglichen Freiheit, für die sie geboren zu sein schienen, lassen sie ihre Knechtschaft lieben und machen aus ihnen, was man zivilisierte Völker nennt. Das Bedürfnis errichtete die Throne, die Wissenschaften und Künste haben sie befestigt. Mächte der Erde, liebt die Talente und fördert die, welche sie pflegen1. Gebildete Völker, pflegt sie! Glückliche Sklaven, ihr verdankt ihnen den zarten und verfeinerten Geschmack, auf den ihr aus seid: jene Geschmeidigkeit des Charakters und jene Weltgewandtheit der Umgangsformen, die bei euch den Verkehr so verbindlich und gewandt machen – kurzum: den Anschein aller Tugenden, ohne eine davon zu besitzen. Die Fürsten sehen stets mit Vergnügen, wie sich der Sinn für die geselligen Künste und das Überflüssige, aus denen sich kein Kapitalexport ergibt, unter ihren Untertanen ausbreiten. Denn 1
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Gerade durch diese Art von Höflichkeit, die um so liebenswerter ist, je weniger sie sich zeigen will, zeichneten sich einst Athen und Rom in den vielgerühmten Tagen ihrer Herrlichkeit und ihres Glanzes aus. Gerade durch sie ragen zweifellos unser Jahrhundert und unsere Nation über alle Zeiten und Völker hinaus. Ein philosophischer Ton ohne Pedanterie, natürliche und dennoch zuvorkommende Manieren, die gleich weit von altmodischer Bäuerlichkeit wie südländischer Gestikulation entfernt sind – das sind die Früchte des Geschmacks, den wir durch gute Studien erlangt und im geselligen Umgang vervollkommnet haben. Wie angenehm lebte es sich unter uns, wenn die äußere Haltung stets das Abbild der Herzensneigung wäre, wenn Anstand schon Tugend wäre, wenn unsere Maximen unser Verhalten regelten, wenn die wahrhafte Philosophie vom Titel Philosoph unzertrennlich wäre. Aber soviel Vorzüge kommen selten zusammen. Die Tugend schreitet kaum in solchem Gepränge einher. Der Reichtum an Schmuck kann einen vermögenden Mann verheißen und seine Eleganz einen Mann mit Geschmack, jedoch den starken und gesunden Mann erkennt man an anderen Kennzeichen. Die Kraft und Stärke des Körpers findet man im bäurischen Gewand eines Landmanns, nicht aber im Prunkstaat eines Hofmannes. Der Tugend, die Kraft und Stärke der Seele ist, ist der Putz völlig fremd. Der tugendhafte Mann ist ein Athlet, der nackt zu kämpfen liebt. Er verachtet all die eitele Kleiderzier, die bloß den Gebrauch seiner Kräfte hemmen würde und größtenteils nur erfunden wurde, um irgendeine Mißbildung zu verdecken. Bevor die Kunst unsere Manieren geformt hatte und unsere Leidenschaften eine geschickte Sprache sprechen lernten, waren unsere Sitten ländlich, aber natürlich. Der Unterschied im Verhalten zeigte auf den ersten Blick den des Charakters an. Im Grunde war die menschliche Natur nicht besser, aber die Menschen fanden ihre Sicherheit darin, daß sie ohne Mühe durchschauten, was sie voneinander zu halten hatten. Dieser Vorteil, dessen Preis wir nicht mehr spüren, ersparte ihnen viele Untugenden. Heutzutage, wo scharfsinnige Untersuchungen und ein verfeinerter Geschmack die Kunst zu gefallen auf Prinzipien zurückgeführt haben, herrscht in unseren Sitten eine verächtliche und täuschende Uniformität. Alle Geister scheinen aus derselben Form gegossen zu sein. Unaufhörlich zwingt die Höflichkeit, gebietet die Wohlerzogenheit, unaufhörlich folgt man dem Brauch, nie seiner eigenen Eingebung. Man sie wissen sehr wohl – abgesehen davon, daß sie in ihnen jene zur Untertänigkeit so passende Kleinheit der Seele nähren – daß alle Bedürfnisse, an die das Volk sich gewöhnt, ebensoviel Ketten sind, mit denen es sich belädt. Alexander wollte die Ichthyophagen in Abhängigkeit von sich halten und zwang sie, dem Fischfang zu entsagen und sich von denselben Nahrungsmitteln wie die anderen Völker zu ernähren. Die amerikanischen Wilden, die nackt umherlaufen und nur von den Produkten ihrer Jagd leben, konnten niemals gebändigt werden. In der Tat, welches Joch soll man Menschen auferlegen, die nichts nötig haben?
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wagt nicht mehr als der zu erscheinen, der man ist. Unter diesem fortgesetzten Zwang werden die in die gleiche Lage versetzten Menschen, die jene Herde bilden, die man Gesellschaft nennt, alle dieselben Dinge tun, wenn nicht mächtigere Motive sie davon abhalten. Man wird nie wissen, mit wem man es zu tun hat. Um seinen Freund erkennen zu können, muß man die großen Gelegenheiten abwarten – das heißt abwarten, bis keine Zeit mehr dazu ist, denn für diese Gelegenheiten selbst wäre es wesentlich gewesen, das vorher zu wissen. Welches Gefolge von Lastern begleitet nicht diese Unsicherheit! Keine aufrichtigen Freundschaften mehr, kein wirkliches Ansehen, kein gegründetes Vertrauen. Verdächte, Argwohn, Furcht, Kälte, Reserve, Haß, Verrat verbergen sich ständig unter dem gleichaussehenden und scheinheiligen Schleier der Höflichkeit – hinter jener so gepriesenen Urbanität, die wir der Aufklärung unseres Jahrhunderts verdanken. Man wird den Namen des Herrn des Alls nicht mehr durch Flüche entweihen, aber man wird ihn durch Blasphemien beleidigen, ohne daß sich unsre empfindlichen Ohren dadurch herausgefordert fühlten. Man wird nicht mehr seine eigenen Vorzüge loben, aber man wird die der anderen herabsetzen. Man wird seinen Feind nicht mehr offen zur Wut reizen, aber man wird ihn mit Geschick verleumden. Der Nationalhaß wird erstickt werden – zugleich aber auch die Vaterlandsliebe. An die Stelle der Unwissenheit wird ein gefährlicher Pyrrhonismus treten. Es wird Ausschweifungen geben, die verboten sind, und Laster, die entehren, aber andere wird man mit dem Namen Tugend schmücken. Man wird sie entweder besitzen oder vortäuschen müssen. Lobe wer will die Mäßigkeit der Weisen unserer Zeit – ich meinerseits sehe darin nur ein Raffinement der Unmäßigkeit, die meines Lobes ebensowenig wert ist wie ihre gekünstelte Einfachheit.2 So ist es um die erlangte Sittenreinheit bestellt. Auf diese Weise sind wir zu tugendhaften Menschen geworden. Die Literatur, die Wissenschaften und Künste tragen ihr Teil Verantwortung an einem so ersprießlichen Werk. Ich will nur eine Überlegung hinzufügen: ein Bewohner irgendeiner fernen Gegend, der sich ein Bild von den europäischen Sitten zu machen suchte, über den Stand der Wissenschaft bei uns, über die Vollkommenheit unserer Künste, über die Vornehmheit unserer Theater, über den Schliff unserer Manieren, über die Leutseligkeit unserer Reden, über unsere unablässigen Beweise von Wohlwollen, und über das wilde Gedränge der Menschen jeden Alters und Standes, die sich von Sonnenaufgang bis -untergang abzuhetzen scheinen, um sich gegenseitig zu verpflichten – dieser Fremde,
»Ich liebe«, sagt Montaigne, »zu streiten und mich zu unterhalten, aber bloß mit wenigen Menschen und für mich. Denn ich finde, es ist für einen Ehrenmann ein unziemliches Gewerbe, den Großen zum Schauspiel zu dienen und um die Wette mit seinem Geist und seinem Geschwätz zu paradieren« (Buch III, Kap. 8). Es ist das Gewerbe all unserer Schöngeister außer einem. 2
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sage ich, würde über unsere Sitten genau das Gegenteil von dem vermuten, was sie sind. Wo keine Wirkung ist, braucht man keine Ursache zu suchen. Hier aber steht die Wirkung fest: der tatsächliche Verfall. In dem Maß, in dem unsere Wissenschaften und Künste zur Vollkommenheit fortschritten, sind unsere Seelen verderbt geworden. Soll das etwa nur ein besonderes Übel unserer Zeit sein? Nein, meine Herren, die durch unsere eitele Neugier verursachten Übel sind so alt wie die Welt. Die tägliche Ebbe und Flut der Wasser des Ozeans sind dem Gang des Gestirns, das uns die Nächte erhellt, nicht regelmäßiger unterworfen als das Schicksal der Sitten und der Rechtschaffenheit dem Fortschritt der Wissenschaften und Künste. Man sah die Tugend in dem Maß verschwinden, wie deren Licht über den Horizont emporstieg. Und das gleiche Phänomen läßt sich zu allen Zeiten und an allen Orten beobachten. Blicken wir nach Ägypten, dieser ersten Schule der Welt, dem so fruchtbaren Klima unter einem drückend heißen Himmel, der berühmten Landschaft, von wo Sesostris einst auszog, um die Welt zu erobern. Es wird die Mutter der Philosophie und der schönen Künste und bald darauf die Beute des Kambyses, dann der Griechen, der Römer, der Araber und schließlich der Türken. Blicken wir auf Griechenland, das einst von Helden bewohnt wurde, die zweimal Asien besiegten, einmal vor Troja, das andere Mal vor ihrem heimischen Herd. Die entstehende Literatur hatte noch keine Korruption in die Herzen seiner Bewohner getragen, aber der Fortschritt der Künste, die Lockerung der Sitten und das Joch des Mazedoniers folgten kurz hintereinander, und Griechenland – immer noch gebildet, immer noch lüstern und immer noch Sklave – offenbarte bei seinen Umwälzungen nicht mehr als den Wechsel von Herren. Alle Beredtsamkeit des Demosthenes konnte den Körper nicht wiederbeleben, den der Luxus und die Künste entnervt hatten. Genau zu der Zeit des Ennius und Terenz begann der Verfall Roms, das von einem Hirten gegründet und durch Bauern berühmt wurde. Doch nach Ovid, Catull, Martial und jener Menge obszöner Autoren, deren bloßer Name die Scham wachruft, wird Rom, das einst der Tempel der Tugend war, der Schauplatz des Verbrechens, die Schmach der Völker und das Spielzeug der Barbaren. Diese Hauptstadt der Welt gerät schließlich unter das Joch, das sie so vielen Völkern auferlegt hatte. Und der Tag ihres Falles ging jenem Tage vorauf, an dem man einem ihrer Mitbürger den Titel des Richters des guten Geschmacks verlieh. Was soll ich von jener Hauptstadt des Ostreichs berichten, die auf Grund ihrer Lage die der ganzen Welt hätte werden sollen, von jenem Asyl der Wissenschaften und Künste, die im übrigen Europa verboten waren – vielleicht mehr aus Weisheit denn aus Barbarei? Alles was die Ausschweifung und den Verfall am widerlichsten macht: Verrätereien, Morde, die schwärzesten Gifte, der Wettstreit sämtlicher noch grausigerer Verbrechen – all das bildet den Stoff der Geschichte von Konstantinopel.
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Das hier ist die reine Quelle, aus der die Aufklärung entsprang, deren unser Jahrhundert sich rühmt. Warum aber in längst vergangenen Zeiten Beweise für eine Wahrheit sammeln, für die wir bleibende Zeugnisse vor den Augen haben? In Asien gibt es ein riesiges Reich, in dem die klassische Literaturbildung zu den höchsten Würden des Staats führt. Würden die Wissenschaften die Sitten läutern, würden sie die Menschen lehren, ihr Blut für das Vaterland zu vergießen, würden sie den Mut beflügeln, dann würden die Völker Chinas weise, frei und unbesiegbar sein. Wenn es aber kein Laster gibt, das sie nicht beherrschte, kein Verbrechen, das ihnen nicht vertraut wäre – wenn sie weder die Aufgeklärtheit ihrer Minister noch die vorgebliche Weisheit der Gesetze noch die Menge der Einwohner dieses weiten Reiches vor dem Joch des unwissenden und rohen Tartaren bewahren konnte – was haben ihm dann all seine Gelehrten genützt? Welche Früchte haben die Ehren getragen, mit denen sie überschüttet wurden? Etwa die, von Sklaven und Schurken bevölkert zu sein? Nun wollen wir diesen Gemälden das der Sitten der kleinen Zahl von Völkern entgegensetzen, die vor dem Giftstoff eiteler Kenntnisse bewahrt blieben und durch ihre Tugend ihr eigenes Glück schufen und ein Vorbild der anderen Nationen wurden. So die alten Perser, eine einzigartige Nation, bei der man die Tugend lernte wie bei uns die Wissenschaft. Sie unterwarfen mit Leichtigkeit ganz Asien und genossen allein den Ruhm, daß die Geschichte ihrer Einrichtungen für einen philosophischen Roman gehalten wurde. So waren die Skythen, über die man uns so glänzende Lobpreisungen hinterlassen hat. So waren die Germanen, deren Einfalt, Unschuld und Tugend zu schildern eine Feder erquickte, die es leid war, die Verbrechen und die Heimtücke eines gebildeten, reichen und genußsüchtigen Volkes zu schildern. So war Rom selbst, in der Zeit seiner Armut und Unwissenheit. So hat sich endlich bis in unsere Zeit jene ländliche Nation erwiesen, die wegen ihres Mutes, den das Mißgeschick nicht sinken ließ, und wegen ihrer Treue, die keine Enttäuschung zu erschüttern vermochte, so berühmt ist.3 Diese alle haben keineswegs aus Dummheit andere Übungen denen des Geistes vorgezogen. Sie wußten wohl, daß in anderen Gegenden müßiggehende Menschen ihr Leben damit zubrachten, über das höchste Gut und über Tugend und Laster zu disputieren; daß ehrgeizige Klugschwätzer, die sich gegenseitig in den Himmel lo-
Ich wage nicht von jenen glücklichen Nationen zu sprechen, die nicht einmal dem Namen nach die Laster kennen, die wir mit so viel Mühe unterdrücken: von jenen Wilden Amerikas, deren einfache und natürliche Ordnung Montaigne nicht zögert, nicht allein den Gesetzen Platons vorzuziehen, sondern auch allem, was sich die Philosophie Vollkommneres über die Regierung der Völker vorzustellen vermöchte. Er zitiert darüber eine Fülle erstaunlicher Beispiele, für die, welche sie zu bewundern wissen. »Wie das«, sagt er, »sie tragen keine Kniehosen.« (Buch I, Kap. 30). 3
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ben, alle anderen Völker unter dem verächtlichen Namen Barbaren zusammenfaßten. – Jedoch sie haben deren Sitten beobachtet und (daraus) gelernt, ihre Doktrine gering zu schätzen.4 Habe ich vergessen, daß im eigentlichen Schoße Griechenlands jene Stadt emporwuchs, die sowohl durch ihre glückliche Unwissenheit wie durch die Weisheit ihrer Gesetze berühmt ist – jene Republik eher von Halbgöttern denn von Menschen – so sehr schienen ihre Tugenden denen der Menschheit überlegen zu sein. O Sparta, dauernder Gegenbeweis gegen eine eitle Doktrin! Während – geführt von den schönen Künsten – die Laster in Athen zusammen ihren Einzug hielten und dort ein Tyrann mit so viel Eifer die Werke des Dichterkönigs sammelte, jagtest du die Künste und die Künstler, die Wissenschaften und die Gelehrten aus deinen Mauern. Der Vorgang ist für diesen Unterschied bezeichnend. Athen wurde die Heimstatt der Höflichkeit und des guten Geschmacks, das Land der Redner und der Philosophen. Die Eleganz der Gebäude entsprach der der Sprache. Man sah allerseits Marmor und Leinwand unter den Händen der geschicktesten Meister Leben gewinnen. Von Athen gingen jene erstaunlichen Werke aus, die zu allen verderbten Zeiten als Muster dienen werden. Das Bild von Lakedämonien ist weniger gleißnerisch. »Dort werden« – sagten die anderen Völker – »die Menschen tugendhaft geboren. Sogar die Luft des Landes scheint die Tugend zu entzünden.« Von den Einwohnern blieb uns nur das Andenken ihrer heroischen Taten. Gelten uns diese Denkmäler weniger als die wunderlichen Marmorstatuen, die uns Athen hinterlassen hat? Gewiß, einige Weise sind gegen den allgemeinen Strom geschwommen und haben sich inmitten der Musen vor den Lastern zu schützen gewußt. Höre man aber das Urteil, das der erste und unglücklichste von ihnen über die Gelehrten und Künstler seiner Zeit fällte: »Ich habe, sagt er, die Dichter gefragt und betrachte sie wie Leute, deren Talent sich selbst und den anderen etwas weismacht, die sich als Weise ausgeben und die man für solche hält und die nichts weniger als das sind. Von den Dichtern, fährt Sokrates fort, ging ich zu den Handwerkern. Niemand kannte das Handwerk weniger als ich, niemand war überzeugter als ich, daß die Handwerker sehr große Geheimnisse besäßen. Indessen habe ich mich überzeugt,
Welche Meinung mußten die Athener, ehrlich gesagt, selbst über die Beredsamkeit haben, als sie diese so sorgfältig von jenem untadeligen Gerichtshof fernhielten, gegen den sogar die Götter keine Berufung einlegten. Was dachten die Römer über ihre Medizin, als sie sie aus ihrer Republik verbannten? Und als ein Rest von Menschlichkeit die Spanier bewegte, ihren Rechtsgelehrten den Zutritt nach Amerika zu verbieten, welchen Begriff mußten sie da von der Rechtswissenschaft haben? Könnte man nicht sagen, sie hätten durch diesen einzigen Akt alle Leiden, die sie den unglücklichen Indianern angetan hatten, wiedergutmachen wollen? 4
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daß sie in keiner besseren Lage als die Dichter sind, daß die einen wie die anderen dasselbe Vorurteil haben. Weil die geschicktesten unter ihnen sich auf ihrem Gebiet auszeichnen, betrachten sie sich als die weisesten der Menschen. Diese Anmaßung hat plötzlich ihrem Wissen in meinen Augen seinen Glanz genommen. Ich setzte mich an die Stelle des Orakels und fragte mich, was ich lieber wäre, das was ich bin, oder das was sie sind; ob ich lieber wissen möchte, was sie gelernt haben oder wissen, daß ich nichts weiß. Ich habe mir selbst und dem Gotte geantwortet: Ich will bleiben, was ich bin. Wir – weder die Sophisten noch die Dichter noch die Redner noch die Handwerker noch ich – wissen nicht, was das Wahre, das Gute und das Schöne ist. Doch es gibt zwischen uns diesen Unterschied: obgleich sie nichts wissen, glauben sie alle etwas zu wissen, während ich, wiewohl ich nichts weiß, mit mir darin wenigstens nicht im Zweifel bin. Auf diese Weise geht all jene Überlegenheit des Geistes, die mir das Orakel einräumt, darauf zurück, daß ich einsehe, daß ich nicht weiß, was ich nicht weiß.« Soweit der nach dem Urteil der Götter weiseste der Menschen und – nach der Überzeugung ganz Griechenlands – der gelehrteste Athener. Sokrates preist die Unwissenheit! Glaubt man etwa, unsere Wissenschaftler und Künstler würden ihn zu einem Wechsel seiner Ansicht bewegen, wenn er unter uns auferstände? Nein, meine Herren, dieser gerechte Mann würde weiterhin unsere eitelen Wissenschaften verachten. Er würde nicht mithelfen, jene Büchermassen zu vermehren, mit denen man uns von allen Seiten überschwemmt. Er würde, wie er es getan hat, statt aller Vorschriften seinen Schülern und unseren Enkeln nur das Vorbild und das Andenken seiner Tugend lassen. Auf diese Weise ist es schön, die Menschen zu erziehen. Was Sokrates in Athen begonnen hatte, setzte der alte Cato in Rom fort. Er wütete gegen die gekünstelten und überfeinerten Griechen, welche die Tugend seiner Mitbürger verführten und ihre Tapferkeit verweichlichten. Aber die Wissenschaften, die Künste und die Dialektik siegten doch: Rom füllte sich an mit Philosophen und Rednern. Die militärische Disziplin wurde vernachlässigt, die Landwirtschaft wurde verachtet. Man warf sich den Sekten in die Arme und vergaß das Vaterland. Auf die geheiligten Namen der Freiheit, der Selbstbeherrschung und des Gehorsams gegen die Gesetze folgten die Namen Epikur, Zenon, Arkesilaos. »Seit Gelehrte unter uns aufzutauchen begannen«, sagten ihre eigenen Philosophen, »sind die guten Menschen verschwunden.« Bis dahin begnügten sich die Römer damit, gemäß der Tugend zu leben. Alles war verloren, als sie anfingen, sie zu studieren. O Fabricius! Was hätte deine große Seele gedacht, wenn du zum Leben erweckt worden wärst, um zu deinem Unglück den pomphaften Anblick Roms zu sehen, das dein Arm gerettet und dein ehrenwerter Name berühmter als all seine Eroberungen gemacht hat! »Götter«, hättest du gesagt, »was ist aus jenen Strohdächern und ländlichen Feuerstellen geworden, an denen einst Mäßigkeit und Tugend gewohnt ha-
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ben? Welch verhängnisvoller Glanz ist auf die römische Einfachheit gefolgt! Was für eine fremde Sprache ist das? Was für weibische Sitten sind das? Was bedeuten diese Statuen, diese Bilder, diese Bauten? Was habt ihr gemacht, ihr Verblendeten! Ihr, die Herren der Völker, seid zu Sklaven der leichtfertigen Menschen geworden, die ihr besiegt habt. Rhetoren lenken euch! Griechenland und Asien habt ihr mit eurem Blut getränkt, um Architekten, Maler, Bildhauer und Komödianten reich zu machen. Das Erbe von Karthago ist die Beute eines Flötenspielers. Römer, stürzt sofort diese Amphitheater um. Zerbrecht diesen Marmor, verbrennt diese Bilder. Jagt die Sklaven davon, die euch unterjochen und deren unheilvolle Künste euch verderben. Andere Hände mögen sich durch eitele Talente berühmt machen. Die Welt zu erobern und die Tugend darin zur Macht zu bringen – das ist das einzige Talent, das Roms würdig ist. Als Cyneas unseren Senat für eine Versammlung von Königen hielt, war er weder durch eine unnütze Prachtentfaltung überrascht worden noch durch ausgesuchte Eleganz. Er hörte dort nicht die frivole Schönrednerei, wie sie die Beschäftigung und der Reiz seichter Menschen ist. Was sah denn Cyneas so Majestätisches? Mitbürger, er sah ein Schauspiel, das weder eure Reichtümer noch eure Künste jemals bieten können: das schönste Schauspiel, das man je unter der Sonne sah: die Versammlung von zweihundert tugendhaften Männern, die würdig waren, Rom zu befehlen und die Welt zu regieren.« Überspringen wir indessen den Abstand des Ortes und der Zeit und sehen lieber, was in unseren Landstrichen und unter unseren Augen vor sich gegangen ist. Oder vielmehr: sehen wir weg von den hassenswerten Bildern, die unseren Geschmack verletzen würden. Ersparen wir uns die Mühe, dieselben Dinge unter anderen Namen zu wiederholen. Nicht umsonst beschwor ich die Manen des Fabricius. Was ich diesen großen Mann sagen ließ – hätte ich es nicht auch Ludwig XII. oder Heinrich IV. in den Mund legen können? Gewiß, Sokrates hätte unter uns nicht den Schierlingsbecher geleert, aber er hätte in einem noch bitterern Trunk den beleidigenden Spott und die Verachtung hinuntergeschluckt, die hundertmal schlimmer ist als der Tod. So also war zu allen Zeiten Luxus, Ausschweifung und Sklaverei die Strafe für die ehrgeizigen Anstrengungen, die uns aus der glücklichen Unwissenheit führen sollten, in die uns die ewige Weisheit verwiesen hatte. Der dichte Vorhang, den sie über ihr ganzes Wirken gebreitet hat, schien uns deutlich genug zu zeigen, daß sie uns nicht zu vergeblichen Forschungen bestimmt hat. Gibt es aber auch nur eine ihrer Lehren, die wir zu nutzen verstanden hätten oder die wir ungestraft beiseite gesetzt hätten? Laßt euch endlich gesagt sein, ihr Völker, daß euch die Natur vor der Wissenschaft bewahren wollte, wie eine Mutter eine gefährliche Waffe aus den Händen ihres Kindes reißt. Die Geheimnisse, die sie euch verbirgt, sind ebensoviele Übel, vor denen sie euch bewahrt. Die Mühsal, die sie euch euer Wissenwollen kosten läßt, ist nicht die kleinste ihrer Wohltaten. Die Menschen sind entartet und
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wären es noch mehr, wenn sie das Unglück gehabt hätten, als Gelehrte auf die Welt zu kommen. Wie demütigend sind diese Überlegungen für die Menschheit! Wie zerknirscht muß unser Ehrgeiz davon sein! Wie das? Die Redlichkeit wäre die Tochter der Unwissenheit? Die Wissenschaft und die Tugend wären unvereinbar? Welche Konsequenzen würde man aus diesen Vorurteilen ziehen? Um jedoch diese scheinbaren Widersprüche zu versöhnen, braucht man nur die Eitelkeit und Nichtigkeit dieser anspruchsvollen Ehrentitel aus der Nähe zu prüfen, die uns verwirren, und die wir den menschlichen Kenntnissen so grundlos verleihen. Betrachten wir also die Wissenschaften und Künste an sich. Sehen wir, was sich aus ihrem Fortschritt ergibt. Zögern wir nicht mehr in all den Punkten beizustimmen, in denen unsere Überlegungen sich mit den historischen Erfahrungen in Übereinstimmung befinden.
Zweiter Teil Es war eine alte, von den Ägyptern auf die Griechen überkommene Überlieferung, daß ein der Ruhe der Menschen feindlicher Gott der Erfinder der Wissenschaften sei.5 Welche Meinung mußten demnach die Ägypter selber von ihnen haben, bei denen sie doch entstanden waren? Weil sie die Quelle, aus der sie entsprangen, aus der Nähe sahen. Man wird in der Tat keinen Ursprung des menschlichen Wissens finden, der der Vorstellung entspricht, die man sich davon zu machen beliebt, sei es indem man die Annalen der Welt durchblättert, sei es, indem man die unsicheren Chroniken durch philosophische Untersuchungen ergänzt. Die Astronomie entstand aus dem Aberglauben, die Beredsamkeit aus Ruhmsucht, Haß, Schmeichelei und Lüge; die Geometrie aus dem Geiz, die Physik aus eiteler Neugier – alle, sogar die Moral, aus dem menschlichen Ehrgeiz. Die Wissenschaften und Künste verdanken demnach ihre Entstehung unseren Lastern. Wir wären über ihre Vorteile weniger im Zweifel, wenn sie sie unseren Tugenden verdankten. Der Makel ihres Ursprungs zeichnet sich in ihren Gegenständen nur zu sehr ab. Was sollten wir mit unseren Künsten anfangen, ohne den Luxus, der sie ernährt? Zu was diente die Rechtsgelehrsamkeit ohne die Ungerechtigkeiten der Menschen? Was würde aus der Historie, wenn es keine Tyrannen, keine Kriege und keine Verschwörer gäbe? Kurzum, wer würde sein Leben unfruchtbaren Betrachtungen wid-
Man erkennt leicht die Allegorie der Sage von Prometheus. Die Griechen, die ihn an den Kaukasus anschmieden ließen, scheinen darüber nicht günstiger als die Ägypter über ihren Gott Teut gedacht zu haben. Der Satyr einer alten Fabel, »wollte das Feuer küssen und umarmen, als er es zum ersten Mal sah, aber Prometheus rief ihm zu: Satyr, du wirst deinen Bart beweinen, denn es brennt, wenn man es berührt.« 5
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men, wenn sich jeder nur nach den menschlichen Pflichten und den natürlichen Bedürfnissen richtete und nur Zeit für das Vaterland, die Unglücklichen und seine Freunde hätte? Sind wir denn geschaffen, um über den Rand des Brunnens gelehnt zu verdursten, in den sich die Wahrheit zurückzog? Schon diese Überlegung allein müßte jeden Menschen vom ersten Schritt an zurückschrecken lassen, der ernstlich versuchte, sich durch das Studium der Philosophie zu bilden. Welche Gefahren, welche Irrwege bei der wissenschaftlichen Forschung! Durch wieviel Irrtümer, die tausendmal mehr schaden als die Wahrheit nützt, muß man nicht hindurch, um zu ihr zu gelangen. Der Nachteil ist offensichtlich, denn das Falsche läßt eine Unendlichkeit von Kombinationen zu, die Wahrheit hat nur eine Weise des Seins. Wer übrigens sucht sie überhaupt wirklich ernstlich? Doch selbst bei redlichster Absicht – an welchen Zeichen erkennt man sie sicher heraus? Was wird in dieser Unmenge von verschiedenen Empfindungen unser Kriterium des richtigen Urteilens sein?6 Und was am schwersten ist: falls wir sie glücklicherweise endlich finden – wer von uns wird einen guten Gebrauch davon machen? Wenn unsere Wissenschaften schon in dem Ziel, das sie sich setzen, vergeblich sind, so sind sie erst recht durch die Folgen, die sie nach sich ziehen, gefährlich. Sie sind aus dem Müßiggang entstanden und leisten ihm ihrerseits Vorschub. Die nicht wiedergutzumachende Zeitverschwendung ist der erste Nachteil, den sie der Gesellschaft notwendigerweise verursachen. Jeder müßiggehende Bürger darf als gefährlicher Mensch angesehen werden. Für die Politik wie für die Moral ist es ein großes Übel, wenn man nichts Gutes tut. Ihr berühmten Philosophen, von denen wir erfuhren, aus welchen Gründen sich die Körper im leeren Raum anziehen, wie sich beim Umlauf der Planeten die in gleicher Zeit durchmessenen Strecken zueinander verhalten, welche Kurven konjungierte Punkte, Wendepunkte und Wiederkehrspunkte haben, wieso der Mensch alles in Gott sieht, wie Seele und Körper sich ohne Verbindung miteinander wie zwei Uhren entsprechen, welche Sterne bewohnt sein können, welche Insekten sich auf ungewöhnliche Weise fortpflanzen – ihr, von denen wir so viele sublime Kenntnisse erhielten, so antwortet mir denn darauf: wenn ihr uns niemals etwas von diesen Dingen gelehrt hättet – wären wir dann weniger zahlreich, weniger gut regiert, weniger zu fürchten, weniger blühend – oder noch entarteter? Haltet also eure Geistesprodukte nicht für so übertrieben wichtig. Wenn die Arbeiten unserer erleuchtetsten Gelehrten und unserer besten Bürger uns schon so wenig Nutzen stiften, dann sagt uns, was wir erst von jener Menge obsku-
Je weniger man weiß, desto mehr glaubt man zu wissen. Zweifelten die Peripatetiker an nichts? Hat Descartes nicht das Weltall mit Würfeln und Wirbelwinden konstruiert? Und gibt es heute selbst in Europa einen noch so kleinen Physiker, der nicht kühn das tiefe Geheimnis Elektrizität erklärt, das vielleicht für immer die Verzweiflung der wahren Philosophen bleiben wird? 6
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rer Schriftsteller und nichtsnutziger Gebildeter halten müssen, die völlig nutzlos die Substanz der Staaten verschlingen. Sage ich müßig? Wollte Gott, sie wären es wirklich! Dann wären die Sitten gesunder und die Gesellschaft friedfertiger. Doch jene eitelen und leeren Deklamatoren gehen überall hin, mit ihrer unheilvollen Paradoxie bewaffnet, untergraben sie die Grundlagen des Glaubens und vernichten die Tugend. Sie lächeln verächtlich bei den alten Worten Vaterland und Religion und widmen ihre Talente und ihre Philosophie der Zerstörung und Unterhöhlung alles dessen, was den Menschen heilig ist. Nicht als ob sie im Grunde die Tugend und unsere Dogmen haßten – ihr Gegner ist die öffentliche Meinung. Um sie zu den Füßen der Altäre zurückzuführen, würde es genügen, wenn man sie unter die Atheisten versetzte. O Geltungssucht – was vermagst du nicht! Die Zeitverschwendung ist ein großes Übel. Noch schlimmere Übel haben Literatur und Künste im Gefolge. So den Luxus, der wie sie aus Müßigkeit und Eitelkeit stammt. Der Luxus kommt selten ohne die Wissenschaften und Künste vor, aber sie nie ohne ihn. Ich weiß, daß unsere in ausgefallenen Maximen immer fruchtbare Philosophie gegen die Erfahrung aller Jahrhunderte behauptet, der Luxus sei der Glanz der Staaten. Will sie, nachdem sie die Notwendigkeit der Luxussteuer vergessen hat, zu leugnen wagen, daß die guten Sitten für die Erhaltung der Reiche wesentlich sind und daß nicht etwa der Luxus den guten Sitten diametral entgegengesetzt sei? Mag der Luxus ein sicheres Zeichen des Reichtums sein, mag er meinetwegen sogar nötig sein, um ihn vermehren zu können – was soll man aus diesem Paradoxon schließen, das zu gebären unserer Zeit so gut ansteht? Was wird aus der Tugend, wenn man sich, gleichviel um welchen Preis, bereichern muß? Die antiken Politiker sprachen ohne Unterlaß von den Sitten und der Tugend, die unseren sprechen nur vom Handel und vom Geld. Der eine wird euch sagen, ein Mensch wäre in mancher Gegend die Summe wert, für die man ihn in Algier verkaufen würde, ein anderer wird, dieser Rechnung gemäß, Länder finden, wo ein Mensch nichts wert ist, und weitere, wo er weniger als nichts wert ist. Sie veranschlagen die Menschen wie Viehherden. Nach ihnen gilt ein Mensch dem Staat nicht mehr als die Zeche, die er macht, so daß ein Sybarit gut dreißig Spartaner aufwöge. Man rate demnach, welche von beiden Republiken, Sparta oder Sybaris, durch eine Handvoll Bauern unterjocht wurde und welche Asien erzittern ließ. Das Königreich des Cyrus wurde von einem Fürsten mit 30 000 Mann erobert, der ärmer als der geringste der persischen Satrapen war. Das ärmste aller Völker, die Skythen, haben den mächtigsten Monarchen der Welt widerstanden. Zwei berühmte Republiken stritten sich um die Weltherrschaft. Die eine war sehr reich, die andere hatte nichts – und diese zerstörte jene. Das römische Reich wurde seinerseits, nachdem es alle Reichtümer der Welt verschlungen hatte, die Beute von Leuten, die nicht einmal wußten, was Reichtum ist. Ohne andere Schätze als Tapferkeit und Armut
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besiegten die Franken die Gallier und die Sachsen Britannien. Eine Schar armer Gebirgsbewohner, deren Habsucht sich auf einige Schaffelle beschränkte, vernichtete jenes reiche und gefürchtete Haus Burgund, das die Potentaten Europas erzittern ließ, nachdem sie den österreichischen Stolz gebeugt hatte. Die gesamte Macht und die ganze Klugheit des Erben Karls V., unterstützt von allen Schätzen Indiens, zerbrach letzten Endes an einer Handvoll Heringsfischer. Unsere Politiker sollten geruhen, mit ihren Berechnungen inne zu halten, um über diese Beispiele nachzudenken. Sie sollten einmal lernen, daß man für Geld alles haben kann – außer Sitten und Bürgern. Um was handelt es sich also bei dieser Frage des Luxus genauer? Zu wissen, was für die Reiche am wichtigsten ist, glänzend und kurzlebig oder tugendhaft und dauerhaft zu sein. Ich sage glänzend – aber durch welcherlei Aufsehn? Der Geschmack für Prunk verträgt sich kaum in derselben Seele mit dem Sinn für Ehre. Nein, es ist nicht möglich, daß sich die von vielerlei kleinen Sorgen niedergedrückten Geister jemals zu etwas Großem erheben. Selbst wenn sie die Begabung hätten, würde ihnen der Mut fehlen. Jeder Künstler will beklatscht sein. Die Lobreden seiner Zeitgenossen sind der köstlichste Teil seines Lohns. Was wird er also unternehmen, um sie zu erhaschen, falls er das Unglück hat, in einem Volk und zu einer Zeit geboren zu werden, in der die Gelehrten Mode geworden sind und eine leichtfertige Jugend instand gesetzt haben, den Ton anzugeben; in der die Menschen ihren Geschmack den Tyrannen ihrer Freiheit geopfert haben7; in der man Meisterwerke der dramatischen Dichtung und Wunder an Harmonie durchfallen läßt, da das eine Geschlecht nur gutzuheißen wagt, was sich der Kleinmütigkeit des anderen anpaßt. Was er machen wird, meine Herren? Er wird sein Genie bis auf das Niveau seines Jahrhunderts senken. Er wird lieber gewöhnliche Werke verfassen, die man zu seinen Lebzeiten bewundert als Meisterwerke, die man erst lange nach seinem Tod bewundern würde. Sagen Sie uns, berühmter Arouet, wieviel mannhafte und kraftvolle Schönheiten Sie unserem falschen Zartsinn geopfert haben, und wieviel der Geist der Galanterie, der in kleinen Dingen so fruchtbar ist, Sie an großen Dingen gekostet hat!
Ich bin weit davon entfernt zu denken, dieser Aufstieg der Frauen sei ein Übel an sich. Er ist ein Geschenk, das ihnen die Natur zum Glück für das Menschengeschlecht gemacht hat. Wenn er besser verwendet würde, könnte er ebenso viel Gutes hervorbringen wie jetzt Böses. Man empfindet nicht genügend, welche Vorteile für die Gesellschaft entständen, wenn diese Hälfte des Menschengeschlechts, welche die andere beherrscht, eine bessere Erziehung genösse. Die Männer werden immer so sein, wie es den Frauen gefällt. Wenn ihr also wollt, daß sie groß und tugendhaft sind, so lehrt die Frauen, was Seelengröße und Tugend sind. Die Überlegungen, die sich aus diesem Thema ergeben, die auch Platon einst angestellt hat, verdienten sehr, von einer Feder weiterentwickelt zu werden, die eines solchen Meisters würdig ist und eine so große Sache zu verteidigen weiß. 7
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Auf diese Weise zieht die Lockerung der Sitten, als eine notwendige Folge des Luxus, ihrerseits den Verfall des Geschmacks nach sich. Wenn sich zufällig unter den durch ihre Talente hervorragenden Männern einer findet, der ein festes Herz hat, und sich weigert, sich dem Zeitgeist zu beugen und sich durch kindische Produktionen zu erniedrigen – dann Gnade ihm! Er wird in Armut und Vergessen sterben. Wenn doch alles das hier, was ich berichte, keine Erfahrung, sondern eine bloße Voraussage wäre! Carl und Pierre, der Augenblick ist gekommen, wo dieser Pinsel, der bestimmt ist, die Majestät unserer Tempel durch erhabene und heilige Bilder zu erhöhen, aus euren Händen fallen wird oder sich prostituieren muß, die Füllungen einer Berline mit schlüpfrigen Bildern zu schmücken. Und du, Rivale des Praxiteles und Phidias, dessen Meißel die Alten zur Herstellung von Götterstatuen verwendet hätten, die imstande wären, ihre Götzendienerei in unseren Augen entschuldbar zu machen: unnachahmlicher Pigal, deine Hand wird sich entschließen müssen, den Bauch eines porzellanernen Hundsaffen zu verputzen, oder sie wird müßig bleiben müssen. Man kann nicht über die Sitten nachdenken, ohne sich gern des Bildes der Einfachheit der Urzeiten zu entsinnen: ein schönes, allein von den Händen der Natur geschmücktes Gelände, dem man ohne Unterlaß die Augen entgegengewandt hält, und man fühlt Trauer, daß man sich davon entfernt. Als die unschuldigen und tugendhaften Menschen es liebten, die Götter zu Zeugen ihres Handelns zu haben, lebten sie zusammen in ihren Hütten. Bald darauf, als sie böse geworden waren, wurden sie dieser unbequemen Zuschauer müde und verbannten sie in prächtige Tempel. Schließlich jagten sie sie ganz davon, um sich selber darin einzurichten; zumindest unterschieden sich die Göttertempel nicht mehr von den Bürgerhäusern. Das wurde nun der Gipfel der Verderbnis. Die Laster waren niemals weitergetrieben als wo man sie auf Marmorsäulen am Eingang der Paläste der Großen, eingegraben auf korinthische Kapitelle, sozusagen öffentlich verteidigt sah. Während die Annehmlichkeiten des Lebens zunehmen, die Künste sich vervollkommnen, der Luxus sich ausbreitet, wird die echte Tapferkeit entnervt, die militärischen Tugenden verschwinden. Das ist auch das Werk der Wissenschaften und all jener Künste, die man in der Stube hockend ausübt. Als die Goten Griechenland verwüsteten, wurden alle Bibliotheken nur deshalb vom Feuer verschont, weil einer die Meinung ausstreute, man müsse den Feinden die Möbel lassen, die so gut geeignet waren, sie vom Militärdienst abzuwenden und sich mit einer sitzenden und müßigen Beschäftigung zu vergnügen. Karl VIII. sah sich als Herrn Toskanas und des Königreichs Neapel, ohne auch nur den Degen gezogen zu haben. Sein ganzer Hof schrieb diese unverhoffte Leichtigkeit dem Umstand zu, daß die Fürsten und der Hochadel Italiens mehr Gefallen daran fand, erfindungsreich und gelehrt zu werden als zu üben, stark und kriegsgewohnt zu werden. In der Tat, sagt der vernünftige Mann, der diese beiden Beispiele berichtet, lehren uns alle Beispiele, daß
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in dieser kriegerischen und allen ähnlichen Ordnungen das Studium der Wissenschaften eher geeignet ist, den Mut zu verweichlichen und zu verweiblichen, als ihn zu stärken und zu wecken. Die Römer haben zugegeben, daß die militärische Tugend bei ihnen in dem Maße erlosch, in dem sie anfingen, sich in Bildern, Stichen, Goldschmiedearbeiten auszukennen und die schönen Künste zu pflegen. Und als ob diese klassische Landschaft bestimmt wäre, den anderen Völkern stets als Beispiel zu dienen, haben der Aufschwung der Medicäer und die Wiederbelebung der Literatur aufs neue und vielleicht für immer den kriegerischen Ruf untergraben, den Italien vor einigen Jahrhunderten wieder erworben zu haben schien. Die antiken Republiken Griechenlands haben mit jener Weisheit, welche die meisten ihrer Einrichtungen auszeichnet, ihren Bürgern jene ruhigen und sitzenden Berufe verboten, welche die Kraft der Seele lähmen, sobald sie den Körper schwächen und verderben. Man bedenke die Stimmung, in der wirklich Menschen Hunger, Durst, Anstrengungen, Gefahren und Tod trotzen können, die schon das geringste Bedürfnis niederdrückt und die der geringsten Mühe ausweichen. Mit welcher Tapferkeit werden Soldaten die äußersten Anstrengungen erdulden, wenn sie nicht daran gewöhnt sind? Mit welcher Begeisterung werden sie Eilmärsche mitmachen, und zwar unter Offizieren, die nicht einmal die Kraft haben, zu Pferde zu reisen? Man halte mir nicht den gepriesenen Wert all jener modernen, geschickt einexerzierten Krieger entgegen. Man lobt mir ihre Tapferkeit an einem Schlachttag, aber man sagt mir nicht, wie sie die größten Mühen ertragen, wie sie die Strenge der Jahreszeiten und den Wetterwechsel aushalten. Es bedarf nur eines Bißchens Sonne oder Schnee und des Fehlens einiger überflüssigen Dinge und die beste unserer Armeen läuft in wenigen Tagen auseinander und ist aufgerieben. Ertragt einmal die Wahrheit, ihr kühnen Krieger, die ihr so selten zu hören bekommt. Ihr seid tapfer, ich weiß, ihr hättet mit Hannibal bei Cannae und an dem Trasimenischen See triumphiert, Cäsar hätte mit euch den Rubicon überschritten und sein eigenes Vaterland unterjocht, aber mit euch hätte der erstere nicht die Alpen überstiegen und der letztere nicht eure Vorfahren besiegt. Die Schlachten entscheiden nicht immer den Ausgang des Krieges. Es gibt für die Generäle eine größere Kunst als Schlachten zu gewinnen. Jemand kann mit Unerschrockenheit ins Feuer laufen und dennoch ein schlechter Offizier sein. Selbst für einen Soldaten wäre vielleicht etwas mehr Kraft und Stärke nötiger als noch so viel Tapferkeit, die ihn nicht vor dem Tod schützt. Was hilft es dem Staat, ob seine Truppen durch Fieber und Kälte oder durch die Kugeln der Feinde umkommen? Noch mehr als die kriegerischen Vorzüge schädigt die Pflege der Wissenschaften die moralischen Vorzüge. Schon von Kindesbeinen an putzt eine wahnwitzige Erziehung unseren Geist heraus und verdirbt unser Urteil. Überall sehe ich riesige Institute, in denen man unter großen Kosten die Jugend erzieht, um sie alle Dinge
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zu lehren – ausgenommen ihre Pflichten. Eure Kinder werden ihre eigene Sprache nicht sprechen, aber sie werden andere sprechen, die nirgends mehr im Gebrauch sind. Sie werden Verse machen, die sie kaum verstehen können. Sie werden, ohne Irrtümer von der Wahrheit unterscheiden zu können, die Kunst besitzen, sie den anderen durch Scheinbeweise unkenntlich zu machen. Was aber die Worte Großherzigkeit, Billigkeit, Mäßigung, Menschlichkeit, Mut bedeuten, werden sie nicht wissen. Der süße Name Vaterland wird niemals in ihren Ohren klingen. Und wenn sie von Gott reden hören, dann weniger aus Ehrfurcht denn vor Schrecken.8 Ein Weiser sagte, ich sähe lieber, daß mein Schüler seine Zeit mit Paumespiel verbracht hätte; davon wäre wenigstens sein Körper geübter geworden. Ich weiß, daß man Kinder beschäftigen muß, und daß Müßiggang für sie die größte Gefahr ist. Was sollen sie also lernen? Das ist gewiß eine wichtige Frage. Sie sollen lernen, was sie tun müssen, wenn sie Männer sind, aber nicht das, was sie vergessen müssen. Unsere Gärten sind mit Statuen verschönert, unsere Galerien mit Bildern. Was denken Sie, was diese der öffentlichen Bewunderung dargebotenen Meisterwerke der Kunst behandeln? Etwa die Verteidiger des Vaterlands oder jene noch größeren Männer, die es durch ihre Tugenden bereichert haben? Nein. Es sind die Abbilder aller Verwirrungen des Herzens und des Kopfes, die sorgfältig aus der antiken Mythologie ausgewählt sind und der Wißbegier unserer Kinder im rechten Augenblick vorgestellt werden – zweifellos damit sie, noch bevor sie lesen können, schlechte Vorbilder vor Augen haben. Woher stammen all diese Mißbräuche, wenn nicht von der unseligen Ungleichheit, die infolge der Auszeichnung der Talente und der Herabwürdigung der Tugend eingeführt wurde? Das ist der offensichtlichste Erfolg all unserer Studien und ihre gefährlichste Konsequenz. Bei einem Menschen fragt man nicht mehr, ob er rechtschaffen ist, sondern ob er Talent hat; bei einem Buch nicht mehr, ob es nützlich ist, sondern ob es gut geschrieben ist. Die Belohnungen werden über den Schöngeist ausgeschüttet und die Tugend bleibt ohne Ehrung. Es gibt tausend Preise für schöne Diskurse, aber keinen für schöne Handlungen. Man sage mir indessen, ob der Ruhm, der mit dem besten der von dieser Akademie gekrönten Diskurse verknüpft ist, mit dem Verdienst zu vergleichen ist, den Preis gestiftet zu haben? Der Weise läuft nicht dem Geld nach, aber er ist nicht unempfindlich gegen den Ruhm. Wenn er ihn so schlecht verteilt sieht, so fällt seine Tugend, die ein kleiner Ansporn angestachelt und für die Gesellschaft fruchtbringend gemacht hätte, in Gleichgültigkeit zurück, und geht in Elend und Vergessen unter. Dies muß auf die Dauer überall die Bevorzugung der angenehmen Talente vor den nützlichen mit sich bringen – wie die Erfahrung seit der Erneuerung der Wissenschaften und Künste nur zu sehr bestätigt hat. Wir haben Physiker, Geometer, Chemiker, Astrono8
Pensées philosophiques.
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men, Poeten, Musiker, Maler, aber wir haben keine Bürger mehr. Oder – wenn noch einige übrig geblieben sind, verkommen sie unwürdig und verachtet und in unsere abliegenden Gegenden verstreut. In einen derartigen Zustand sind diejenigen zurückgeworfen – und mit solcher Achtung begegnen wir ihnen, die uns das Brot und unseren Kindern die Milch liefern. Ich räume indessen ein, das Übel ist nicht so groß, wie es hätte werden können. Die ewige Vorsehung setzt verschiedenen schädlichen Pflanzen rettende Heilkräuter an die Seite, wie im Innern mehrerer bösartiger Tiere die Abwehrkräfte gegen ihre Wunden. Sie hat die Fürsten, die ihre Diener sind, gelehrt, es ihrer Weisheit nachzutun. Diesem Vorbild getreu gewann jener große Monarch, dessen Ruhm von Zeitalter zu Zeitalter nur noch neuen Glanz erlangen wird, sogar vom Busen der Wissenschaften und Künste, den Quellen von tausenderlei Verwirrungen, jene berühmten Gesellschaften, die den gefahrvollen Schatz menschlichen Wissens und den geheiligten Schatz der Sitten zugleich verwalten, und zwar durch das Augenmerk, das sie innerhalb ihrer selbst auf die Erhaltung völliger Sittenreinheit haben und sich von den aufzunehmenden Mitgliedern ausbedingen. Diese weisen Gründungen, die von seinem erhabenen Nachfolger ausgebaut und von allen Königen Europas nachgeahmt wurden, werden den Literaten zumindest zur Zügel dienen, denn alle streben nach der Ehre, in die Akademien aufgenommen zu werden. Sie werden sich in acht nehmen und versuchen, sich durch nützliche Werke und untadelige Sitten dessen würdig zu machen. Jene Akademien, die eine Auswahl der geeigneten Themen für die Preise vornehmen, mit denen sie das literarische Verdienst belohnen, um die Liebe zur Tugend in den Herzen der Bürger wiederzuerwecken, werden erweisen, daß diese Liebe unter ihnen herrscht. Sie werden den Völkern das so seltene und schöne Vergnügen gewähren, daß die gelehrten Gesellschaften sich der Aufgabe widmen, nicht nur angenehme Kenntnisse über die Menschheit zu verbreiten, sondern auch Belehrungen zum Wohle aller. Man halte mir nicht entgegen, was für mich lediglich ein neuerlicher Beweis ist. Soviele Maßnahmen zeigen nur, wie notwendig es war, sie zu ergreifen. Man sucht keine Abhilfe für Übel, die es nicht gibt. Warum müssen jene noch wegen ihrer Unzulänglichkeit den Charakter der gewöhnlichen Heilmittel tragen? Soviele zum Vorteil der Gelehrten geschaffene Einrichtungen sind um so fähiger, diesen Vorteil den Gegenständen der Wissenschaften zu geben und die Geister auf ihre Kultivierung hinzulenken. Nach den ergriffenen Vorsichtsmaßnahmen hat es den Anschein, als gäbe es zu viel Landarbeiter, man fürchte, es könne an Philosophen fehlen. Ich will hier keinen Vergleich zwischen Ackerbau und Philosophie versuchen. Man würde ihn nicht gelten lassen. Ich frage nur: was ist Philosophie? Was enthalten die Schriften der bekanntesten Philosophen? Was sind die Lehren dieser Freunde der Weisheit? Wenn man sie hört, kommen sie einem wie eine Bande von Scharlatanen vor, von denen jeder für sich auf dem Markte schreit: Kommt zu mir! Ich allein
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täusche euch nicht. Der eine behauptet, es gebe keine Körper und alles sei Vorstellung, der andere, es gebe keine andere Substanz als die Materie und keine anderen Götter als die Welt. Dieser setzt, daß es weder Tugend noch Laster gebe und Gut und Böse bloß Einbildungen seien. Jener, die Menschen seien Wölfe und könnten sich mit gutem Gewissen gegenseitig auffressen. O ihr großen Philosophen, daß ihr nicht diese nützlichen Lehren auf eure Freunde und eure Kinder beschränkt. Euch würde bald euer Lohn werden. Wir brauchten nicht zu fürchten, unter unseren Freunden einen eurer Anhänger zu finden. Das sind also die Wundermänner, die zu ihren Lebzeiten von der Hochachtung ihrer Zeitgenossen überschüttet werden und denen nach ihrem Hinscheiden die Unsterblichkeit eingeräumt wird. Das sind also die weisen Maximen, die wir von ihnen empfingen und von Zeitalter zu Zeitalter unseren Nachkommen überliefern. Hat das Heidentum, das allen Verwirrungen des Verstandes ausgesetzt war, der Nachwelt nichts hinterlassen, das man mit den demütigenden Schandmälern vergleichen könnte, die der Buchdruck unter der Herrschaft des Evangeliums geliefert hat? Die gottlosen Schriften der Diagoras und Leukipp sind mit ihnen vergangen. Man hatte noch nicht die Kunst erfunden, die Auswüchse des menschlichen Geistes zu verewigen. Dank der Druckbuchstaben9 aber und des davon gemachten Gebrauchs werden die gefährlichen Träumereien des Hobbes und Spinoza für immer erhalten bleiben. Wohlauf denn, ihr berühmten Schriften, deren die Unwissenheit und Rauheit unserer Väter nicht fähig gewesen wäre, geleitet diese noch gefährlicheren Werke, denen die Sittenfäulnis unseres Jahrhunderts entströmt, zu unseren Nachkommen; übermittelt den kommenden Jahrhunderten ein getreues Spiegelbild des Fortschritts und der Errungenschaften unserer Wissenschaften und Künste. Wenn sie euch lesen, werdet ihr ihnen keine Ratlosigkeit über das Problem las-
Betrachtet man die schrecklichen Wirren, die der Buchdruck in Europa schon verursacht hat und beurteilt die Zukunft nach dem Fortschritt, den das Übel von einem Tag zum anderen macht, so ist leicht vorauszusehen, daß die Souveräne nicht zaudern werden, genauso viel Mühe anzuwenden, um diese schreckliche Kunst aus ihren Staaten zu verbannen, wie sie sich gemacht haben, um sie einzuführen. Der Sultan Achmet gab den Vorstellungen einiger angeblich gebildeter Menschen nach und stimmte der Errichtung einer Druckerei in Konstantinopel zu, aber kaum war die Druckerpresse in Betrieb, so war man schon gezwungen, sie zu zerstören und die Instrumente in einen Brunnen zu werfen. Als man den Kalifen Omar fragte, was man mit der Bibliothek von Alexandria machen solle, soll er in folgenden Worten geantwortet haben: Wenn die Bücher dieser Bibliothek Dinge enthalten, die im Widerspruch zum Koran stehen, sind sie schlecht und man muß sie verbrennen. Wenn sie nicht mehr als die Lehre des Koran enthalten, soll man sie gleichfalls verbrennen, denn sie sind überflüssig. Unsere Gelehrten haben diese Überlegung als den Gipfel der Absurdität zitiert. Setzt indessen an die Stelle von Omar Gregor den Großen und das Evangelium an die Stelle des Korans, so würde die Bibliothek verbrannt worden sein und das wäre vielleicht der schönste Zug in dem Leben dieses berühmten Bischofs. 9
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sen, das uns heute bewegt. Falls sie nicht noch wahnsinniger als wir sind, werden sie ihre Hände gen Himmel erheben und in der Bitternis ihres Herzens sprechen: »Allmächtiger Gott, der du die Geister lenkst, befreie uns von dem Wissen und den unheilvollen Künsten unserer Väter und gib uns die Einfalt, die Unschuld und die Armut zurück, die einzigen Güter, die uns glücklich und dir wohlgefällig machen können.« Wenn indessen der Fortschritt der Wissenschaften und Künste nichts zu unserer wahren Glückseligkeit beigetragen hat, wenn er unsere Sitten verdorben hat und wenn die Sittenverderbnis der Reinheit des Geschmacks Abbruch getan hat – was sollen wir dann erst von jener Unmenge populärer Autoren denken, welche die Hindernisse, welche die Natur als Kraftprobe für die Wissensdurstigen errichtet hatte, vom Tempel der Musen fortgeräumt haben, die seinen Zugang versperrten. Was wird man von jenen Kompilatoren denken, die unbedachtsam die Pforten der Wissenschaften aufgebrochen haben und in deren Heiligtum eine des Zugangs unwürdige Masse eingelassen haben, während es doch zu wünschen gewesen wäre, daß man allen, die es in der literarischen Karriere nicht weit gebracht haben, den Zutritt verwehrt hätte, damit sie sich auf die der Gesellschaft nützlichen Künste geworfen hätten. Wer sein Leben lang ein schlechter Reimschmied und ein untergeordneter Geometer sein wird, wäre vielleicht ein großer Textilfabrikant geworden. Für die, welche die Natur dazu bestimmt hatte, Schüler zu haben, hat es keiner Meister bedurft. Baco von Verulam, Descartes, Newton, diese Lehrer des Menschengeschlechts, haben selbst keine gehabt. Welche Führer hätten sie bis dahin geleitet, wohin ihr weitreichendes Genie sie trug? Gewöhnliche Lehrer hätten ihr Begriffsvermögen nur einengen können, indem sie es in die beschränkte Fassungskraft des ihrigen eingegrenzt hätten. Gerade durch die anfänglichen Widerstände haben sie gelernt, sich anzustrengen und sich geübt, den ungeheuren Raum, den sie durchmaßen, zu überspringen. Muß man schon einigen Menschen erlauben, sich dem Studium der Wissenschaften und Künste zu widmen, so nur denen, welche die Kraft in sich spüren, allein auf ihren Pfaden zu wandeln und sie weiterzubringen, das heißt jener kleinen Zahl, die Monumente zum Ruhm des menschlichen Geistes errichtet. Soll aber nichts jenseits ihres Genies liegen, so darf auch nichts jenseits ihrer Erwartungen liegen. Das ist die einzige Ermunterung, die sie nötig haben. Die Seele paßt sich unmerklich den Gegenständen an, mit denen sie umgeht. Die großen Gelegenheiten schaffen die großen Männer. Der Fürst der Beredsamkeit wurde Konsul von Rom und der vielleicht größte Philosoph Kanzler von England. Glaubt man, wenn der erstere nur den Lehrstuhl irgendeiner Universität und der letztere nur eine bescheidene Akademiepension erhalten hätte – glaubt man, sage ich, man hätte ihren Werken nicht ihren Stand angemerkt? Die Könige mögen also nicht verachten, Leute in ihren Rat zu ziehen, die am fähigsten sind, sie gut zu beraten. Möchten sie die alten, vom Ehrgeiz der Großen erfundenen Vorurteile ablegen, die
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Kunst die Völker zu regieren sei schwerer als die Kunst, sie aufzuklären. Als ob es leichter wäre, die Menschen zu verpflichten, aus eigenem Antrieb gut zu handeln, als sie durch Macht dazu zu zwingen. Die Gelehrten ersten Ranges sollten an ihren Höfen ehrenvolles Asyl finden. Sie sollten dort die einzige ihnen würdige Belohnung erhalten, nämlich ihrem Ansehn gemäß zum Glück der Völker, die sie in der Weisheit unterrichtet haben werden, beizutragen. Dann allein erst vermag man zu sehen, was Tugend, Wissenschaft und Autorität im edelen Wettstreit zusammenarbeitend zum Wohl des Menschengeschlechts vermögen. Solange aber einerseits die Macht allein, andererseits die Aufklärung und die Weisheit allein wirken, werden die Gelehrten selten an große Dinge denken, und die Fürsten selten wohlgefällige Dinge tun. Die Völker werden weiterhin niedrig, verdorben und unglücklich sein. Laßt uns gewöhnliche Menschen, denen der Himmel keine so großen Talente zuerteilt und nicht zu so viel Ruhm bestimmt hat, im Dunkel bleiben. Wir laufen nicht einem Ruf nach, der uns entwischen würde und uns – beim jetzigen Stand der Dinge – niemals das zurückerstatten würde, was er uns kostete, selbst wenn wir allen Anspruch auf ihn hätten. Für was sollte es gut sein, unser Glück in der Meinung anderer zu suchen, wenn wir es in uns selbst finden können? Überlassen wir anderen die Sorge, die Völker über ihre Pflichten zu belehren. Beschränken wir uns darauf, die unsern gut zu erfüllen. Mehr brauchen wir darüber nicht zu wissen. O Tugend, erhabene Wissenschaft der schlichten Seelen – bedarf es so großer Mühen und Vorbereitungen, um dich zu erkennen? Sind deine Prinzipien nicht in alle Herzen eingegraben? Genügt es nicht, um deine Gesetze zu erkennen, wenn man in sich geht und die Stimme des Gewissens hört, wenn die Leidenschaften schweigen? Das ist die wahre Philosophie! Seien wir einsichtig genug, uns dabei zu beruhigen. Ohne jene berühmten Leute um ihren Ruhm zu beneiden, die in der Gelehrtenrepublik unsterblich werden, wollen wir versuchen, zwischen ihnen und uns jene ruhmvolle Unterscheidung zu machen, die man einst zwischen zwei großen Völkern wahrnahm. Das eine wußte gut zu reden; das andere gut zu handeln.
GEORG SIMMEL
Der Begriff und die Tragödie der Kultur
Daß der Mensch sich in die natürliche Begebenheit der Welt nicht fraglos einordnet, wie das Tier, sondern sich von ihr losreißt, sich ihr gegenüberstellt, fordernd, ringend, vergewaltigend und vergewaltigt – mit diesem ersten großen Dualismus entspinnt sich der endlose Prozeß zwischen dem Subjekt und dem Objekt. Innerhalb des Geistes selbst findet er seine zweite Instanz. Der Geist erzeugt unzählige Gebilde, die in einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren, unabhängig von der Seele, die sie geschaffen hat, wie von jeder anderen, die sie aufnimmt oder ablehnt. So sieht sich das Subjekt der Kunst wie dem Recht gegenüber, der Religion wie der Technik, der Wissenschaft wie der Sitte – nicht nur von ihrem Inhalt bald angezogen, bald abgestoßen, jetzt mit ihnen verschmolzen wie mit einem Stück des Ich, bald in Fremdheit und Unberührbarkeit gegen sie; sondern es ist die Form der Festigkeit, des Geronnenseins, der beharrenden Existenz, mit der der Geist, so zum Objekt geworden, sich der strömenden Lebendigkeit, der inneren Selbstverantwortung, den wechselnden Spannungen der subjektiven Seele entgegenstellt; als Geist dem Geiste innerlichst verbunden, aber eben darum unzählige Tragödien an diesem tiefen Formgegensatz erlebend: zwischen dem subjektiven Leben, das rastlos, aber zeitlich endlich ist, und seinen Inhalten, die, einmal geschaffen, unbeweglich, aber zeitlos gültig sind. Mitten in diesem Dualismus wohnt die Idee der Kultur. Ihr liegt eine innere Tatsache zugrunde, die man als ganze nur gleichnisweise und etwas verschwimmend ausdrücken kann: als den Weg der Seele zu sich selbst: denn keine solche ist jemals nur das, was sie in diesem Augenblick ist, sondern ein Mehr, es ist ein Höheres und Vollendeteres ihrer selbst in ihr präformiert, unreal, aber doch irgendwie vorhanden. Nicht ein benennbares, an irgendeiner Stelle der geistigen Welt fixiertes Ideal ist hier gemeint; sondern das Freiwerden der in ihr selbst ruhenden Spannkräfte, die Entwicklung ihres eigensten, einem inneren Formtrieb gehorsamen Keimes. Wie das Leben – und zuhöchst seine Steigerung im Bewußtsein – seine Vergangenheit in einer unmittelbareren Form in sich enthält, als irgend ein Stück des Unorganischen, wie dies Vergangene nach seinem ursprünglichen Inhalt und nicht nur als mechanische Ursache späterer Umsetzungen im Bewußtsein weiterlebt, so umschließt es auch seine Zukunft in einer Weise, zu der das Unlebendige keine Analogie besitzt. In jedem Daseinsmoment eines Organismus, der wachsen und sich fortpflanzen kann, wohnt die spätere Form mit einer so innerlichen Notwendigkeit und Vorgebildetheit, die etwa derjenigen gar nicht zu koordinieren ist,
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mit der die gespannte Feder ihre Gelöstheit enthält. Während alles Unlebendige schlechthin nur den Augenblick der Gegenwart besitzt, streckt sich das Lebendige in einer unvergleichlichen Art über Vergangenheit und Zukunft. All die seelischen Bewegtheiten vom Typus des Wollens, der Pflicht, des Berufenseins, des Hoffens – sind die geistigen Fortsetzungen der fundamentalen Bestimmung des Lebens: in seiner Gegenwart seine Zukunft, in einer besonderen, eben nur am Lebensprozeß bestehenden Form zu enthalten. Und dies betrifft nicht nur einzelne Entwicklungen und Vollendungen, sondern die Persönlichkeit als ganze und als Einheit trägt ein wie mit unsichtbaren Linien vorgezeichnetes Bild in sich, mit dessen Realisierung sie sozusagen aus ihrer Möglichkeit erst ihre volle Wirklichkeit wäre. So sehr also auch das Reifen und Sich-Bewähren der seelischen Kräfte sich an einzelnen, sozusagen provinziellen Aufgaben und Interessen vollziehen mag, so steht irgendwie darunter oder darüber die Forderung, daß mit alledem die seelische Totalität als solche ein mit ihr selbst gegebenes Versprechen erfülle, und alle Einzelausbildungen erscheinen damit doch nur als eine Vielheit von Wegen, auf denen die Seele zu sich selbst kommt. Dies ist eine, wenn man will, metaphysische Voraussetzung unseres praktischen und gefühlsmäßigen Wesens – in wie weitem Abstand von dem realen Verhalten sich auch dieser symbolische Ausdruck halte: daß die Einheit der Seele nicht einfach ein formales Band ist, das die Entfaltungen ihrer Einzelkräfte in immer gleicher Weise umschließt, sondern daß durch diese Einzelkräfte eine Entwicklung ihrer als eines Ganzen getragen wird und dieser Entwicklung des Ganzen das Ziel einer Ausgebildetheit innerlich vorangestellt ist, zu der alle jene einzelnen Vermögen und Vollkommenheiten als Mittel erscheinen. Und hier zeigt sich die erste und vorläufig nur dem Sprachgefühl folgende Bestimmung des Kulturbegriffs. Wir sind noch nicht kultiviert, wenn wir dieses oder jenes einzelne Wissen oder Können in uns ausgebildet haben; sondern erst dann, wenn all solches der zwar daran gebundenen, aber damit nicht zusammenfallenden Entwicklung jener seelischen Zentralität dient. Unsere bewußten und angebbaren Strebungen gelten zwar den partikularen Interessen und Potenzen, und darum erscheint die Entwicklung jedes Menschen, auf ihre Benennbarkeiten hin angesehen, als ein Bündel von Entwicklungslinien, die sich nach recht verschiedenen Richtungen und in recht verschiedenen Längen entfalten. Aber nicht mit diesen in ihren singulären Vollendungen, sondern erst mit ihrer Bedeutung für oder als die Entwicklung der undefinierbaren personalen Einheit kultiviert sich der Mensch. Oder anders ausgedrückt: Kultur ist der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit. Unter allen Umständen aber kann es sich nur um die Entwicklung zu einer Erscheinung hin handeln, die in den Keimkräften der Persönlichkeit angelegt, als ihr ideeller Plan in ihr selbst gleichsam skizziert ist. Auch hier gewährt der Sprachgebrauch sichere Führung. Ein Gartenobst, das die Arbeit des Gärtners aus einer holzigen und ungenießbaren Baumfrucht gezogen hat, nennen wir kultiviert; oder auch: dieser
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wilde Baum ist zum Gartenobstbaum kultiviert worden. Wird dagegen vielleicht aus demselben Baum ein Segelmast hergestellt – und damit eine nicht geringere Zweckarbeit auf ihn verwendet, so sagen wir keineswegs, der Stamm sei zum Maste kultiviert worden. Diese Sprachnüance deutet ersichtlich an, daß die Frucht, so wenig sie ohne die menschliche Bemühung zustande käme, doch schließlich aus den eigenen Triebkräften des Baumes heraustreibt und nur die in seinen Anlagen selbst vorgezeichnete Möglichkeit erfüllt – während die Mastform seinem Stamme aus einem ihm selbst ganz fremden Zwecksystem und ohne jede Präformation in seinen eigenen Wesenstendenzen hinzugefügt wird. In eben diesem Sinne können alle möglichen Kenntnisse, Virtuositäten, Verfeinerungen eines Menschen uns noch nicht bestimmen, ihm wirkliche Kultiviertheit zuzusprechen, wenn jene sozusagen nur als Hinzufügungen wirken, die seiner Persönlichkeit aus einem ihr äußeren und ihr auch im letzten Grunde äußerlich bleibenden Wertgebiet kommen. In solchem Falle hat der Mensch zwar Kultiviertheiten, aber er ist nicht kultiviert; welches letztere nur eintritt, wenn die aus dem Überpersönlichen aufgenommenen Inhalte wie durch eine geheime Harmonie nur das in der Seele zu entfalten scheinen, was in ihr selbst als ihr eigenster Trieb und als innere Vorgezeichnetheit ihrer subjektiven Vollendung besteht. Und hier tritt nun endlich die Bedingtheit der Kultur hervor, durch die sie eine Lösung der Subjekt-Objekt-Gleichung darstellt. Wir versagen ihren Begriff, wo die Perfektion nicht als Eigenentwicklung des seelischen Zentrums empfunden wird; aber er trifft auch nicht zu, wo sie nur als eine solche Eigenentwicklung auftritt, die keiner objektiven und ihr äußeren Mittel und Stationen bedarf. Vielerlei Bewegungen führen die Seele wirklich, wie jenes Ideal es fordert, zu sich selbst, das heißt zur Verwirklichung des ihr vorgesetzten, aber zuerst nur als Möglichkeit bestehenden vollen und eigensten Seins. Aber indem oder insoweit sie dies rein von innen her erreicht: in religiösen Aufschwüngen, sittlicher Selbsthingabe, beherrschender Intellektualität, Harmonie des Gesamtlebens – kann sie doch noch des spezifischen Besitzes der Kultiviertheit entbehren. Nicht nur, daß ihr dabei jenes ganz oder relativ Äußerliche fehlen mag, das der Sprachgebrauch als bloße Zivilisation deklassiert. Darauf käme es durchaus nicht an. Aber Kultiviertheit in ihrem reinsten, tiefsten Sinne ist da nicht gegeben, wo die Seele jenen Weg von sich selbst zu sich selbst, von ihrer Möglichkeit zu ihrer Wirklichkeit, ausschließlich mit ihren subjektiv personalen Kräften zurücklegt – wenngleich vielleicht von einem höchsten Blickpunkt aus gerade diese Vollendungen die wertvollsten sind; womit nur bewiesen wäre, daß Kultur nicht das absolute Wertdefinitivum der Seele ist. Ihr spezifischer Sinn indes ist nur da erfüllt, wo der Mensch in jene Entwicklung etwas, das ihm äußerlich ist, einbezieht, wo der Weg der Seele über Werte und Reihen geht, die nicht selbst subjektiv seelisch sind. Jene objektiv geistigen Gebilde, von denen ich am Anfang sprach: Kunst und Sitte, Wissenschaft und zweckgeformte Gegenstände, Religion
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und Recht, Technik und gesellschaftliche Normen – sind Stationen, über die das Subjekt gehen muß, um den besonderen Eigenwert, der seine Kultur heißt, zu gewinnen. Es ist das Paradoxon der Kultur, daß das subjektive Leben, das wir in seinem kontinuierlichen Strome fühlen, und das von sich aus auf seine innere Vollendung drängt, diese Vollendung, von der Idee der Kultur aus gesehen, gar nicht aus sich heraus erreichen kann, sondern nur über jene, ihm jetzt ganz formfremd gewordenen, zu selbstgenugsamer Abgeschlossenheit kristallisierten Gebilde. Kultur entsteht – und das ist das durchaus Entscheidende für ihr Verständnis –, indem zwei Elemente zusammenkommen, deren keines sie für sich enthält: die subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis. Hier wurzelt die metaphysische Bedeutung dieses historischen Gebildes. Eine Anzahl der entscheidenden menschlichen Wesensbetätigungen bauen unvollendbare, oder wenn vollendet, immer wieder abgerissene Brücken zwischen dem Subjekt und dem Objekt überhaupt: das Erkennen, vor allem die Arbeit, in manchen ihrer Bedeutungen auch die Kunst und die Religion. Der Geist sieht sich einem Sein gegenüber, auf das ebenso der Zwang, wie die Spontaneität seiner Natur ihn hintreibt; aber er bleibt ewig in die Bewegung in sich selbst gebannt, in einem Kreise, der das Sein nur berührt, und in jedem Augenblick, in dem er, in der Tangente seiner Bahn abbiegend, in das Sein eindringen will, reißt ihn die Immanenz seines Gesetzes wieder in seine in sich selbst beschlossene Drehung fort. In der Bildung der Begriffe: Subjekt-Objekt als Korrelate, deren jedes nur am anderen seinen Sinn findet, liegt schon die Sehnsucht und Antizipation einer Überwindung dieses starren, letzten Dualismus. Jene erwähnten Betätigungen nun transponieren ihn in besondere Atmosphären, in denen die radikale Fremdheit seiner Seiten herabgesetzt ist und gewisse Verschmelzungen zuläßt. Weil diese aber nur unter den Modifikationen stattfinden können, die gleichsam durch die atmosphärischen Bedingungen besonderer Provinzen geschaffen sind, können sie die Fremdheit der Parteien nicht in ihrem tiefsten Grunde überwinden und bleiben endliche Versuche, eine unendliche Aufgabe zu lösen. Unser Verhältnis aber zu denjenigen Objekten, an denen oder die in uns einbeziehend wir uns kultivieren, ist ein anderes, weil diese selbst ja Geist sind, der in jenen ethischen und intellektuellen, sozialen und ästhetischen, religiösen und technischen Formen gegenständlich geworden ist; der Dualismus, mit dem das auf seine eigenen Grenzen angewiesene Subjekt dem für sich seienden Objekt gegenübersteht, erlebt eine unvergleichliche Formung, wenn beide Parteien Geist sind. So muß der subjektive Geist zwar seine Subjektivität, aber nicht seine Geistigkeit verlassen, um das Verhältnis zum Objekt zu erleben, durch das seine Kultivierung sich vollzieht. Dies ist die einzige Art, auf die die dualistische Existenzform, mit dem Bestande des Subjekts unmittelbar gesetzt, sich zu einer innerlich einheitlichen Bezogenheit organisiert. Hier geschieht ein Objektivwerden des Subjekts und Subjektivwerden eines Objektiven, das das Spezifische des Kulturprozesses
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ausmacht und in dem sich, über dessen einzelne Inhalte hinweg, seine metaphysische Form zeigt. Sein tieferes Verständnis fordert deshalb eine weitergehende Analyse jener Vergegenständlichung des Geistes. Diese Blätter gingen von der tiefen Fremdheit oder Feindschaft aus, die zwischen dem Lebens- und Schaffensprozeß der Seele auf der einen Seite und seinen Inhalten und Erzeugnissen auf der anderen besteht. Dem vibrierenden, rastlosen, ins Grenzenlose hin sich entwickelnden Leben der in irgend einem Sinne schaffenden Seele steht ihr festes, ideell unverrückbares Produkt gegenüber, mit der unheimlichen Rückwirkung, jene Lebendigkeit festlegen, ja erstarren zu machen; es ist oft, als ob die zeugende Bewegtheit der Seele an ihrem eigenen Erzeugnis stürbe. Hier liegt eine Grundform unseres Leidens an der eigenen Vergangenheit, an dem eigenen Dogma, den eigenen Phantasien. Diese Diskrepanz, die gleichsam zwischen den Aggregatzuständen des inneren Lebens und seiner Inhalte besteht, wird dadurch in gewissem Maße rationalisiert und weniger scharf fühlbar, daß der Mensch durch sein theoretisches oder praktisches Schaffen jene seelischen Erzeugnisse oder Inhalte als einen in einem bestimmten Sinne selbständigen Kosmos des objektivierten Geistes sich gegenüberstellt und erblickt. Das äußere oder immaterielle Werk, in dem das seelische Leben sich niederschlägt, wird als ein Wert besonderer Art empfunden; so sehr das Leben, darein einströmend, sich in eine Sackgasse verläuft, oder seine Fluten weiterrollt, die dieses ausgeworfene Gebilde an seiner Stelle liegen lassen, so ist dies doch eben der spezifisch menschliche Reichtum, daß die Produkte des subjektiven Lebens zugleich einer nicht verfließenden, sachlichen Ordnung von Werten angehören, einer logischen oder sittlichen, einer religiösen oder künstlerischen, einer technischen oder rechtlichen. Indem sie sich als Träger solcher Werte, Glieder solcher Reihen offenbaren, sind sie nicht nur durch ihre gegenseitige Verwebung und Systematisierung der starren Isoliertheit enthoben, mit der sie sich der Rhythmik des Lebensprozesses entfremdeten, sondern dieser Prozeß selbst hat damit eine Bedeutsamkeit erhalten, die aus der Unaufhaltsamkeit seines bloßen Verlaufes nicht zu gewinnen ist. Es fällt auf die Vergegenständlichungen des Geistes ein Wertakzent, der zwar im subjektiven Bewußtsein entspringt, mit dem dieses Bewußtsein aber etwas meint, was jenseits seiner liegt. Der Wert braucht hierbei keineswegs immer ein positiver, im Sinne des Guten zu sein; vielmehr die bloße formale Tatsache, daß das Subjekt ein Objektives hingestellt hat, daß sein Leben sich aus sich heraus verkörpert hat, wird als etwas Bedeutsames empfunden, weil gerade nur die Selbständigkeit des so vom Geiste geformten Objekts die Grundspannung zwischen Prozeß und Inhalt des Bewußtseins lösen kann. Denn wie räumlich naturhafte Vorstellungen die Unheimlichkeit, innerhalb des fließenden Bewußtseinsprozesses als etwas völlig Formfestes zu beharren, dadurch beruhigen, daß sie diese Stabilität an ihrer Beziehung zu einer objektiv äußerlichen Welt legitimieren – so leistet die Objektivität der geistigen Welt den entsprechenden Dienst. Wir fühlen
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die ganze Lebendigkeit unseres Denkens an die Unverrückbarkeit logischer Normen, die ganze Spontaneität unseres Handelns an moralische geknüpft, unser ganzer Bewußtseinsverlauf ist mit Erkenntnissen, Überliefertheiten, Eindrücken einer irgendwie vom Geiste geformten Umgebung angefüllt; die Festigkeit und gleichsam chemische Unlösbarkeit von all diesem zeigt einen problematischen Dualismus gegen die ruhelose Rhythmik des subjektiv seelischen Prozesses, in dem es sich doch als Vorstellung, als subjektiv seelischer Inhalt erzeugt. Aber indem es einer ideellen Welt oberhalb des individuellen Bewußtseins angehört, wird dieser Gegensatz auf einen Grund und ein Recht gebracht. Gewiß ist es für den kulturellen Sinn des Objekts, auf den es uns hier schließlich ankommt, das Entscheidende, daß in ihm Wille und Intelligenz, Individualität und Gemüt, Kräfte und Stimmung einzelner Seelen (und auch ihrer Kollektivität) gesammelt sind. Allein indem dies geschehen ist, sind jene seelischen Bedeutsamkeiten doch auch an einen Endpunkt ihrer Bestimmung gelangt. In dem Glück des Schaffenden an seinem Werk, so groß oder gering das sei, liegt neben der Entladung der inneren Spannungen, dem Erweise der subjektiven Kraft, der Genugtuung über die erfüllte Forderung wahrscheinlich immer noch eine sozusagen objektive Befriedigtheit darüber, daß dieses Werk nun dasteht, daß der Kosmos der irgendwie wertvollen Dinge nun um dieses Stück reicher ist. Ja vielleicht gibt es gar keinen sublimeren persönlichen Genuß des eigenen Werkes, als wenn wir es in seiner Unpersönlichkeit und seiner Gelöstheit von all unserem Subjektiven empfinden. Und wie so die Objektivierungen des Geistes wertvoll sind, jenseits der subjektiven Lebensprozesse, die als ihre Ursachen in sie eingegangen sind, so sind sie es auch jenseits der anderen, die als ihre Folgen von ihnen abhängen. Wir mögen die Organisationen der Gesellschaft und die technische Formung der Naturgegebenheiten, das Kunstwerk und die wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit, die Sitte und die Sittlichkeit noch so sehr, noch so überwiegend auf ihre Ausstrahlung in das Leben und die Entfaltung von Seelen ansehen – es ist oft und vielleicht immer darein eine Anerkennung dessen verwebt, daß diese Gebilde überhaupt da sind, daß die Welt auch diese Gestaltung des Geistes umfaßt; es ist eine Direktive in unseren Wertungsprozessen, die an dem Eigenbestand des Geistig-Objektiven halt macht, ohne über das Definitive dieser Dinge selbst hinaus nach ihren seelischen Folgen zu fragen. Neben allem subjektiven Genuß, mit dem z. B. das Kunstwerk sozusagen in uns eingeht, wissen wir als einen Wert besonderer Art, daß es überhaupt da ist, daß der Geist sich dieses Gefäß geschaffen hat. Wie mindestens eine Linie innerhalb des künstlerischen Wollens an dem Eigenbestande des Kunstwerks mündet und eine schlechthin objektive Wertung in den Selbstgenuß der sich auslebenden Schöpferkraft verwebt, so verläuft eine gleichgerichtete Linie auch innerhalb der Attitüde des Empfangenden. Und zwar im deutlichen Unterschied gegen die Werte, die gerade das rein sachlich Gegebene, das naturhaft Objektive bekleiden. Denn gerade solches: das Meer und die Blumen, die Alpen und
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der Sternenhimmel – gerade dieses hat, was man seinen Wert nennen kann, nur an seinen Reflexen in subjektiven Seelen. Denn sobald wir von mystischen und phantastischen Vermenschlichungen der Natur absehen, ist sie eben ein kontinuierlich zusammenhängendes Ganzes, dessen indifferente Gesetzmäßigkeit keinem Teile einen in seinem Sachbestande gegründeten Akzent, ja nicht einmal eine objektiv gegen andere abgegrenzte Existenz gönnt. Nur unsere menschlichen Kategorien schneiden aus ihm die einzelnen Stücke heraus, an die wir ästhetische, erhebende, symbolisch bedeutsame Reaktionen knüpfen: daß das Naturschöne »selig an ihm selbst« sei, besteht nur als dichterische Fiktion zu rechte; für das um Objektivität bemühte Bewußtsein hängt an ihm keine andere Seligkeit, als die es in uns auslöst. Während also das Erzeugnis der schlechthin objektiven Mächte nur subjektiv wertvoll sein kann, ist umgekehrt das Erzeugnis der subjektiven Mächte für uns objektiv wertvoll. Die materiellen und immateriellen Gebilde, in denen menschliches Wollen und Können, Wissen und Fühlen investiert ist, sind jenes objektiv Dastehende, das wir als Bedeutsamkeit und Bereicherung des Daseins auch dann empfinden, wenn wir von seinem Geschaut-, Genutzt- oder Genossenwerden völlig abstrahieren. Mag Wert und Bedeutung, Sinn und Wichtigkeit sich ausschließlich in der menschlichen Seele erzeugen, so bewahrheitet sich dies zwar dauernd der gegebenen Natur gegenüber, aber es hindert nicht den objektiven Wert derjenigen Gebilde, in denen jene – schaffenden und formenden – seelischen Kräfte und Werte ja gerade schon investiert sind. Ein Sonnenaufgang, den kein Menschenauge sieht, macht die Welt durchaus nicht wertvoller oder erhabener, weil ihre objektive Tatsächlichkeit für diese Kategorien überhaupt keinen Platz hat; sobald aber ein Maler in ein Bild dieses Sonnenaufgangs seine Stimmung, seinen Form- und Farbensinn, sein Ausdrucksvermögen hineingelegt hat, so halten wir dieses Werk (auf welche metaphysischen Kategorien hin, bleibe hier unerörtert) für eine Bereicherung, eine Wertsteigerung des Daseins überhaupt; die Welt erscheint uns sozusagen ihrer Existenz würdiger, ihrem Sinne näher, wenn die Quelle alles Wertes, die menschliche Seele, sich in eine solche, nun gleichfalls der objektiven Welt angehörige Tatsache ergossen hat – in dieser eigentümlichen Bedeutung unabhängig davon, ob eine spätere Seele diesen hineingezauberten Wert wieder erlösen und ihn in den Fluß ihres subjektiven Empfindens auflösen wird. Der natürliche Sonnenaufgang und das Gemälde stehen beide als Realitäten da, aber jener findet seinen Wert erst in dem Weiterleben in psychischen Subjekten, an diesem aber, das solches Leben schon in sich eingetrunken und zu einem Objekt gestaltet hat, macht unser Wertempfinden als an einem jeder Subjektivierung unbedürftigen Definitivum halt. Spannt man diese Momente bis zu parteimäßiger Polarität aus, so steht auf der einen Seite die ausschließliche Schätzung des subjektiv bewegten Lebens, von dem aller Sinn, Wert, Bedeutung nicht nur erzeugt wird, sondern in dem allein all dieses auch wohnen bleibt. Andererseits aber ist die radikale Akzentuierung des objektiv-
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gewordenen Wertes nicht weniger verständlich. Natürlich sei dieser nicht an die originale Produktion von Kunstwerken und Religionen, Techniken und Erkenntnissen gebunden; aber was ein Mensch auch tue, es müsse einen Beitrag zu dem ideellen, historischen, materialisierten Kosmos des Geistes leisten, damit es als wertvoll gelte. Dies komme nicht der subjektiven Unmittelbarkeit unseres Seins und Handelns zu, sondern dessen objektiv normiertem, objektiv angeordnetem Inhalt, so daß schließlich nur diese Normierungen und Ordnungen die Wertsubstanz enthielten und sie dem verfließenden persönlichen Geschehen mitteilten. Sogar die Autonomie des moralischen Willens bei Kant involviere keinen Wert eben dieses in seiner psychologischen Tatsächlichkeit, sondern knüpfe ihn an die Realisierung einer in objektiver Idealität bestehenden Form. Selbst die Gesinnung und die Persönlichkeit haben ihre Bedeutung, im Guten wie im Bösen, darin, daß sie einem Reiche des Überpersönlichen zugehören. Indem diese Wertungen des subjektiven und des objektiven Geistes einander gegenüberstehen, führt nun die Kultur ihre Einheit durch beide hindurch: denn sie bedeutet diejenige Art der individuellen Vollendung, die sich nur durch Aufnahme oder Benutzung eines überpersönlichen, in irgend einem Sinne außerhalb des Subjektes gelegenen Gebildes vollziehen kann. Dem Subjekt ist der spezifische Wert der Kultiviertheit unzugängig, wenn es ihn nicht auf dem Wege über objektiv geistige Realitäten erreicht; diese ihrerseits sind Kulturwerte nur, insofern sie jenen Weg der Seele von sich selbst zu sich selbst, von dem, was man ihren Naturzustand nennen kann, zu ihrem Kulturzustand, durch sich hindurchleiten. Man kann also die Struktur des Kulturbegriffs auch so ausdrücken. Es gibt keinen Kulturwert, der nur Kulturwert wäre; jeder vielmehr muß, um diese Bedeutung zu erwerben, auch Wert einer Sachreihe sein. Wo aber auch ein solch letzterer vorliegt, also irgend ein Interesse oder eine Fähigkeit unseres Wesens eine Förderung erfährt, bedeutet er einen Kulturwert nur dann, wenn diese partielle Entwicklung zugleich unser Gesamt-Ich eine Stufe näher an seine Vollendungseinheit heranhebt. So nur werden zwei entsprechende, negative Erscheinungen der Geistesgeschichte verständlich. Einmal, daß Menschen der tiefsten Kulturinteressiertheit oft gegen die einzelnen Sachgehalte der Kultur eine merkwürdige Gleichgültigkeit, ja, Ablehnung zeigen – insofern es ihnen eben nicht gelingt, deren überspezialistischen Ertrag für die Förderung der Gesamtpersönlichkeiten zu entdecken; und es gibt wohl kein menschliches Erzeugnis, das einen solchen Ertrag notwendig zeigen müßte, freilich auch keines, das ihn nicht zeigen könnte. Andererseits aber treten Erscheinungen auf, die nur Kulturwerte zu sein scheinen, gewisse Formalien und Verfeinerungen des Lebens, wie sie namentlich in überreife und müde gewordene Epochen gehören. Denn wo das Leben in sich hohl und sinnlos geworden ist, da ist alle willens- und werdensmögliche Entwicklung zu seiner Höhe nur noch eine schematische, und nicht mehr imstande, aus dem Sachgehalt von Dingen und Ideen Nahrung und
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Förderung zu ziehen – wie der erkrankte Körper sich nicht mehr aus den Nahrungsmitteln die Stoffe assimilieren kann, aus denen der gesunde Wachstum und Kräfte gewinnt. Hier kann sich die individuelle Entwicklung aus den sozialen Normen nur noch das gesellschaftlich gute Benehmen, aus den Künsten nur noch den unproduktiven Genuß, aus den technischen Fortschritten nur noch das Negative der Mühelosigkeit und Glätte des Tagesverlaufes herausholen – es entsteht eine Art formalsubjektiver Kultur, ohne innere Verwebung mit dem Sachelement, durch die der Begriff einer konkreten Kultur sich erst erfüllt. Es gibt also einerseits eine so leidenschaftlich zentralisierte Betonung der Kultur, daß ihr der Sachgehalt ihrer objektiven Faktoren zu viel und zu ablenkend ist, da er als solcher freilich nicht in seiner Kulturfunktion aufgeht und aufgehen kann; und andererseits eine solche Schwäche und Leere der Kultur, daß sie garnicht imstande ist, die objektiven Faktoren ihrem Sachgehalt nach in sich einzuziehen. Beide Erscheinungen, auf den ersten Blick als Gegeninstanzen gegen die Bindung der persönlichen Kultur an unpersönliche Gegebenheiten auftretend, bestätigen also der genaueren Betrachtung gerade diese Bindung. Daß sich in der Kultur so die letzten und entscheidenden Lebensfaktoren vereinigen, offenbart sich gerade darin, daß die Entwicklung eines jeden von diesen mit einer Selbständigkeit geschehen kann, die der Motivation durch das Kulturideal nicht nur entbehren kann, sondern sie geradezu ablehnt. Denn der Blick in der einen oder in der anderen Richtung fühlt sich von der Einheit seiner Intention abgelenkt, wenn er von einer Synthese zwischen beiden bestimmt werden soll. Gerade die Geister, die bleibende Inhalte, also das objektive Element der Kultur schaffen – diese Geister würden sich wohl weigern, Motiv und Wert ihrer Leistung unmittelbar von der Kulturidee zu entlehnen. Hier vielmehr besteht die folgende innere Lage. Im Religionsstifter und im Künstler, im Staatsmann und im Erfinder, im Gelehrten und im Gesetzgeber wirkt ein Doppeltes: die Entladung ihrer Wesenskräfte, das Hinaufleben ihrer Natur zu der Höhe, auf der sie die Inhalte des Kulturlebens aus sich entläßt – und die Leidenschaft für die Sache, in deren eigengesetzlicher Vollendetheit das Subjekt sich selbst gleichgültig geworden und ausgelöscht ist; im Genie sind diese beiden Strömungen eine einzige: die Entwicklung des subjektiven Geistes um seiner selbst, seiner drängenden Kräfte willen, ist für das Genie ununterscheidbar Eines mit der völlig selbstvergessenen Hingabe an die objektive Aufgabe. Kultur ist, wie sich zeigte, immer Synthese. Aber Synthese ist nicht die einzige und nicht die unmittelbarste Einheitsform, da sie immer die Zerlegtheit der Elemente als ihr Vorangehendes oder als ihr Korrelat voraussetzt. Nur eine so analytisch gestimmte Zeit wie die moderne konnte in der Synthese das Tiefste, das Ein und Alles des Formverhältnisses vom Geiste zur Welt finden – während es doch eine ursprüngliche, vordifferenzielle Einheit gibt; indem diese die analytischen Elemente erst aus sich hervorgehen läßt, wie der organische Keim sich in die Vielheit geson-
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derter Glieder auseinanderzweigt, steht sie jenseits von Analyse und Synthese – sei es, daß diese beiden sich aus ihr in Wechselwirkung, eines auf jeder Stufe das andere voraussetzend, entwickeln, sei es, daß die Synthese die analytisch getrennten Elemente nachträglich zu einer Einheit bringt, die aber etwas ganz anderes ist, als die vor aller Trennung gelegene. Das schöpferische Genie besitzt jene ursprüngliche Einheit des Subjektiven und des Objektiven, die sich erst auseinanderlegen muß, um in dem Kultivierungsprozesse der Individuen in ganz anderer, synthetischer Form gewissermaßen wieder zu erstehen. Darum also liegt das Interesse an der Kultur mit jenen beiden: der reinen Selbstentwicklung des subjektiven Geistes und dem reinen Aufgehen in die Sache – nicht in einer Ebene, sondern hängt sich gelegentlich als ein sekundäres, reflexionsmäßiges an diese, als ein abstrakt allgemeines, jenseits des innerlich unmittelbaren Wertimpulses der Seele. Also selbst da, wo der Weg der Seele zu sich selbst – der eine Faktor der Kultur – ihre andern Faktoren erzeugend trägt, bleibt die Kultur aus dem Spiele, solange für die Seele dieser Weg sozusagen nur durch eigenes Gebiet läuft und sich in der reinen Selbstentwicklung des eigenen Wesens – gleichviel, wie dieses sachlich bestimmt sei – vollendet. Sehen wir den andern Faktor der Kultur: jene zu einer ideellen Sonderexistenz, unabhängig nun von aller psychischen Bewegtheit, gereiften Erzeugnisse des Geistes – in seiner selbstgenugsamen Isoliertheit an, so fällt auch sein eigenster Sinn und Wert keineswegs mit seinem Kulturwert zusammen, ja er läßt von sich aus seine Kulturbedeutung noch völlig dahingestellt. Das Kunstwerk soll nach den Normen der Kunst vollkommen sein, die nach nichts als nach sich selbst fragen und dem Werke seinen Wert geben oder verweigern würden, auch wenn es sozusagen auf der Welt garnichts weiter als eben dieses Werk gäbe; das Ergebnis der Forschung als solches soll wahr sein und absolut weiter nichts, die Religion schließt mit dem Heil, das sie der Seele bringt, ihren Sinn in sich ab, das wirtschaftliche Produkt will als wirtschaftliches vollkommen sein und erkennt insoweit keinen anderen als den wirtschaftlichen Wertmaßstab für sich an. Alle diese Reihen verlaufen in der Geschlossenheit rein innerer Gesetzgebung und ob und mit welchem Werte sie sich in jene Entwicklung subjektiver Seelen einsetzen lassen, geht ihre an rein sachlichen und für sie allein gültigen Normen gemessene Bedeutung durchaus nichts an. Aus dieser Sachlage wird begreiflich, daß wir ebenso an den Menschen, die nur auf das Subjekt gerichtet sind, wie an denen, die nur auf das Objekt gerichtet sind, oft eine scheinbar merkwürdige Gleichgültigkeit, ja, eine Aversion gegen die Kultur antreffen. Wer nur nach dem Heil der Seele oder nach dem Ideal der persönlichen Kraft oder nach der rein individuellen Entwicklung, in die kein ihr äußeres Moment eingreifen darf, fragt – dessen Wertungen entbehren eben des einen integrierenden Faktors der Kultur, während der andere dem fehlt, der nur nach der reinen Sachvollendung unserer Werke fragt, danach, daß diese ihre Idee und keine erst irgendwie damit verbundene erfüllen. Das Extrem des ersten Typus ist der Säulenheilige, des
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anderen der im Fachfanatismus eingeschlossene Spezialist. Es hat auf den ersten Blick etwas Frappierendes, daß die Träger solcher unzweifelhaften »Kulturwerte«, wie Religiosität, Persönlichkeitsbildung, Techniken jeder Art den Begriff der Kultur verachten oder bekämpfen sollen. Dies klärt sich aber sogleich durch die Einsicht, daß Kultur eben immer nur die Synthese einer subjektiven Entwicklung und eines objektiven geistigen Wertes bedeutet und daß die Vertretung je eines dieser Elemente im Maße ihrer Exklusivität die Verwebung beider perhorreszieren muß. Solche Abhängigkeit des Kulturwertes von der Mitwirkung eines zweiten Faktors, der jenseits der sachlich-eigenen Wertreihe des Objektes steht, macht es verständlich, daß eben dasselbe auf der Skala der Kulturwerte oft einen ganz anderen Teilstrich erreicht als auf der der bloßen Sachbedeutungen. Vielerlei Werke, die als künstlerische, technische, intellektuelle unter der Höhe des sonst schon Erreichten bleiben, haben doch die Fähigkeit, sich in den Entwicklungsweg vieler Menschen aufs wirkungsvollste einzufügen, als Entfalter ihrer latenten Kräfte, als Brücke zu ihrer nächst höheren Station. Wie es unter den Natureindrücken keineswegs nur die dynamisch gewaltigsten oder ästhetisch vollkommensten sind, von denen uns eine ganz tiefe Beseligung und das Gefühl kommt, daß dumpfe und unerlöste Elemente in uns plötzlich licht und harmonisch geworden sind – wie wir dies vielmehr oft einer ganz schlichten Landschaft oder dem Schattenspiele eines Sommermittags verdanken: so ist es auch der Bedeutung des Geisteswerkes, eine so hohe oder so niedrige sie in ihrer eigenen Reihe sein mag, daraufhin noch nicht anzusehen, was dies Werk uns für den Weg der Kultur leisten kann. Denn hier kommt alles darauf an, daß jene spezielle Bedeutung des Werkes gleichsam den Nebenertrag hat, der zentralen oder allgemeinen Entwicklung der Persönlichkeiten zu dienen. Und daß dieser Ertrag dem Eigen- oder Binnenwert des Werkes umgekehrt proportional sein kann, hat mancherlei tiefere Ursachen. Es gibt Menschenwerke von einer letzterreichbaren Vollendung, zu denen wir gerade um dieser lückenlosen Gerundetheit willen keinen Zugang oder die deshalb keinen Zugang zu uns haben. Ein solches bleibt sozusagen an seinem Orte, aus dem es nicht auf unsere Straße zu verpflanzen ist, ein einsam Vollendetes, zu dem wir uns vielleicht hinbegeben, das wir aber nicht mitnehmen können, um uns an ihm in die Vollendung unser selbst zu heben. Für das moderne Lebensgefühl hat vielfach die Antike diese selbstgenugsam vollendete Geschlossenheit, die sich der Aufnahme in die Pulsierungen und Rastlosigkeiten unseres Entwicklungstempos versagt; und dies mag heute so manchen bestimmen, gerade für unsere Kultur einen anderen fundamentalen Faktor zu suchen. Ebenso steht es mit gewissen ethischen Idealen. Die so bezeichneten Gebilde des objektiven Geistes sind vielleicht mehr als andere bestimmt, die Entwicklung von der bloßen Möglichkeit zu der höchsten Wirklichkeit unserer Totalität zu tragen und ihr die Richtung zu geben. Allein nun enthalten manche ethische Imperative ein Ideal von so starrer Vollkommenheit, daß sich aus ihm sozusagen keine Energien, die wir in
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unsere Entwicklung aufnehmen könnten, aktualisieren lassen. Mit all seiner Höhe in der Reihe der ethischen Ideen wird es doch als Kulturelement leicht hinter anderen zurückstehen, die von ihrer tieferen Stelle in jener Reihe aus sich eher der Rhythmik unserer Entwicklung assimilieren und verstärkend einfügen. Ein anderes Motiv solcher Disproportionalität zwischen dem Sachwert und dem Kulturwert eines Gebildes liegt in der Einseitigkeit der Förderung, die wir durch jenen erfahren. Vielerlei Inhalte des objektiven Geistes machen uns klüger oder besser, glücklicher oder geschickter, entwickeln damit aber nicht eigentlich uns, sondern sozusagen eine selbst objektive Seite oder Qualität, die an uns haftet; es handelt sich hier natürlich um gleitende und unendlich zarte, äußerlich garnicht faßbare Unterschiede, die sich an das geheimnisvolle Verhältnis zwischen unserer einheitlichen Ganzheit und unseren einzelnen Energien und Perfektionen knüpfen. Bezeichnen freilich können wir die volle, geschlossene Realität, die wir unser Subjekt nennen, nur mit der Summe solcher Einzelheiten, ohne daß sie doch aus diesen zusammensetzbar wäre; und die einzige zur Verfügung stehende Kategorie: der Teile und des Ganzen – erschöpft keineswegs dieses einzigartige Verhältnis. All dies Singuläre aber hat, für sich betrachtet, einen objektiven Charakter, es könnte in seiner Isoliertheit an beliebig verschiedenen Subjekten bestehen und gewinnt erst an seiner Innenseite, mit der es eben jene Einheit unseres Wesens erwachsen läßt, den Charakter unserer Subjektivität. Mit der ersteren aber schlägt es gewissermaßen die Brücke zu dem Werte der Objektivitäten, es liegt an unserer Peripherie, mit der wir uns der objektiven, äußeren wie geistigen, Welt vermählen. Sobald sich aber diese nach außen gerichtete, von Äußerem genährte Funktion von ihrer nach innen zu gehenden, in unserem Zentrum mündenden Bedeutung abschnürt, entsteht jene Diskrepanz; wir werden belehrt, werden zwecktätiger, reicher an Genuß und Fähigkeiten, vielleicht auch »gebildeter« – aber unsere Kultivierung hält damit nicht Schritt, denn wir kommen so zwar von einem niedrigeren Haben und Können zu einem höheren, aber nicht von uns selbst als den Niedrigeren zu uns selbst als den Höheren. Diese Möglichkeit der Diskrepanz zwischen Sachbedeutung und Kulturbedeutung eines und desselben Objektes habe ich nur hervorgehoben, um die prinzipielle Zweiheit der Elemente, in deren Verwebung allein Kultur besteht, nachdrücklicher zu veranschaulichen. Diese Verwebung ist eine schlechthin einzigartige, indem die kulturbedeutende Entwicklung des personalen Seins ein rein am Subjekt bestehender Zustand ist, aber ein solcher, der absolut nicht anders als durch die Aufnahme und Ausnützung objektiver Inhalte erreicht werden kann. Deshalb ist Kultiviertheit einerseits eine im Unendlichen liegende Aufgabe – da die Verwendung objektiver Momente zur Vollendung des persönlichen Seins niemals als abgeschlossen anzusehen ist –, andererseits folgt die Nuance des Sprachgebrauchs diesem Sachverhalt sehr genau, indem die an ein einzelnes Objektives gebundene Kultur: religiöse Kultur, künstlerische Kultur etc. in der Regel nicht zur Bezeichnung des Zustandes von
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Individuen, sondern nur vom öffentlichen Geiste gebraucht wird; in dem Sinne, daß in einer Epoche besonders viele oder beeindruckende geistige Inhalte einer bestimmten Art vorliegen, durch die hindurch sich die Kultivierung der Individuen vollzieht. Diese können, genau genommen, nur mehr oder weniger, aber nicht spezialistisch so oder so kultiviert sein; eine sachlich besonderte Kultur des Individuums kann nur entweder bedeuten, daß die kulturelle und als solche überspezialistische Vollendung des Individuums sich hauptsächlich vermittels dieses einen einseitigen Inhaltes vollzogen hat, oder daß neben seiner eigentlichen Kultiviertheit sich noch ein erhebliches Können oder Wissen in Bezug auf einen Sachgehalt ausgebildet hat. Künstlerische Kultur eines Individuums z. B. – wenn sie noch etwas außer den kunstmäßigen Perfektionen, die sich auch bei sonstiger »Unkultiviertheit« eines Menschen einstellen können, sein soll – kann nur besagen, daß es in diesem Fall gerade diese sachlichen Perfektionen sind, die die Vollendung des persönlichen Gesamtseins bewirkt haben. Nun aber entsteht innerhalb dieses Gefüges der Kultur ein Spalt, der freilich schon in ihrem Fundament angelegt ist und der aus der Subjekt-Objekt-Synthese, der metaphysischen Bedeutung ihres Begriffes, eine Paradoxe, ja, eine Tragödie werden läßt. Der Dualismus von Subjekt und Objekt, den ihre Synthese voraussetzt, ist doch nicht nur ein sozusagen substanzieller, das Sein beider betreffender. Sondern die innere Logik, nach der jedes von beiden sich entfaltet, fällt mit der des anderen keineswegs selbstverständlich zusammen. Die Erkenntnis z. B., in ihren Formen noch so sehr durch die Aprioritäten unseres Geistes bestimmt, ist doch ununterbrochen von nur Hinzunehmendem und nicht Vorherzusehendem erfüllt, und daß diese Inhalte ihrer nun einer Vollendung der Seele, die durch deren innere Angelegtheit vorgezeichnet ist, dienen könnten, scheint nicht gewährleistet. Ebenso steht es mit unserem praktisch-technischen Verhältnis zu den Dingen. Gewiß gestalten wir sie nur nach unseren Zwecken; allein sie sind diesen doch nicht absolut nachgiebig, sondern haben Inhalte und eine eigene Logik, durch deren Macht es zweifelhaft wird, ob unser Verfahren mit ihnen, durch einseitiges Interesse, Not oder Abwehr hervorgerufen, irgendwie in die Eigenrichtung unserer zentralen Entwicklung mündet. Und solche eigene Logik besitzt auch aller objektive Geist im engeren Sinne. Wenn gewisse erste Motive des Rechtes, der Kunst, der Sitte geschaffen sind – vielleicht nach unserer eigensten und innerlichsten Spontaneität – so haben wir es garnicht mehr in der Hand, zu welchen einzelnen Gebilden sie sich entfalten; diese erzeugend oder rezipierend gehen wir vielmehr am Leitfaden einer ideellen Notwendigkeit entlang, die völlig sachlich und um die Forderungen unserer Individualität, so zentral sie seien, nicht weniger unbekümmert ist, als die physischen Mächte und ihre Gesetze es sind. Es ist freilich im allgemeinen richtig, daß die Sprache für uns dichtet und denkt, d. h. daß sie die fragmentarischen oder gebundenen Impulse unseres eigenen Wesens aufnimmt und zu einer Vollkom-
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menheit führt, zu dem diese, auch rein für uns selbst, sonst nicht gelangt wären. Allein dieser Parallelismus der objektiven und der subjektiven Entwicklungen hat dennoch keine prinzipielle Notwendigkeit. Sogar die Sprache empfinden wir gelegentlich wie eine fremde Naturmacht, die nicht nur unsere Äußerungen, sondern auch unsere innersten Gerichtetheiten verbiegt und verstümmelt. Und die Religion, die gewiß aus dem Suchen der Seele nach sich selbst entsprungen ist, der Flügel, den die eigenen Kräfte der Seele hervortreiben, um sie auf ihre eigene Höhe zu tragen – selbst sie hat, einmal aufgekommen, gewisse Bildungsgesetze, die ihre, aber nicht immer unsere Notwendigkeit entfalten. Was der Religion oft als ihr antikultureller Geist vorgeworfen wird, sind nicht nur ihre gelegentlichen Feindseligkeiten gegen intellektuelle, ästhetische, sittliche Werte, sondern auch dieses Tiefere: daß sie ihren eigenen, durch ihre immanente Logik bestimmten Weg geht, in den sie zwar die Seelen hineinreißt; aber, welche transzendenten Güter auch immer die Seele auf diesem Wege findet, er führt sie oft genug nicht zu der Vollendung ihrer Totalität, auf die ihre eigenen Möglichkeiten sie weisen und die, die Bedeutsamkeit der objektiven Gebilde in sich aufnehmend, eben Kultur heißt. Indem die Logik der unpersönlichen Gebilde und Zusammenhänge mit Dynamik geladen ist, entstehen zwischen diesen und den inneren Trieben und Normen der Persönlichkeit harte Reibungen, die in der Form der Kultur als solcher eine einzigartige Zusammendrängung erfahren. Seit der Mensch zu sich Ich sagt, sich zum Objekt, über und gegenüber sich selbst, geworden ist, seit durch solche Form unserer Seele ihre Inhalte in einem Zentrum zusammengehören – seitdem mußte ihr aus dieser Form das Ideal wachsen, daß dies so mit dem Mittelpunkt Verbundene auch eine Einheit sei, die in sich geschlossen und deshalb ein selbstgenugsames Ganze sei. Allein die Inhalte, an denen das Ich diese Organisierung zu einer eigenen, einheitlichen Welt vollziehen soll, gehören nicht ihm allein an; sie sind ihm gegeben, von irgend einem räumlichen, zeitlichen, ideellen Ausserhalb her, sie sind zugleich die Inhalte irgend welcher anderen Welten, gesellschaftlichen und metaphysischen, begrifflichen und ethischen, und in diesen besitzen sie Formen und Zusammenhänge unter sich, die mit denen des Ich nicht zusammenfallen wollen. An diesen Inhalten, die das Ich in besonderer Weise gestaltet – Gedanken, Leistungen, Tendenzen, die ganze Lebensführung – ergreifen die äußeren Welten das Ich, um es in sich einzuziehen; sie wollen die Zentrierung der Inhalte um das Ich zerbrechen, um sie vielmehr nach ihren Ansprüchen zu formen. In dem religiösen Konflikt zwischen der Selbstgenugsamkeit oder Freiheit des Menschen und seiner Einfügung in die göttlichen Ordnungen mag dies seine weiteste und tiefste Offenbarung finden; aber sie ist, nicht anders als der soziale Konflikt zwischen dem Menschen als abgerundeter Individualität und dem bloßen Gliede des gesellschaftlichen Organismus, doch nur ein Fall jenes rein formalen Dualismus, in den uns die Zugehörigkeit unserer Lebensinhalte zu noch anderen Kreisen als dem unseres Ich
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unvermeidlich verstrickt. Der Mensch steht nicht nur unzählige Male im Schnittpunkt je zweier Kreise von objektiven Mächten und Werten, deren jeder ihn mit sich reißen möchte; sondern er fühlt sich selbst als Zentrum, das all seine Lebensinhalte harmonisch und gemäß der Logik der Persönlichkeit um sich herum ordnet – und fühlt sich zugleich mit jedem dieser peripherischen Inhalte solidarisch, der doch auch einem anderen Kreise angehört und hier von einem anderen Bewegungsgesetz beansprucht wird; so daß unser Wesen sozusagen den Schnittpunkt seiner selbst und eines fremden Forderungskreises bildet. Die Kulturtatsache nun drückt die Parteien dieser Kollision aufs engste aneinander, indem sie die Entwicklung der einen geradezu daran bindet (d. h. sie nur so zur Kultiviertheit werden läßt), daß sie die andere in sich einbezieht, also einen Parallelismus oder eine gegenseitige Angepaßtheit beider voraussetzt. Der metaphysische Dualismus von Subjekt und Objekt, den dieses Gefüge der Kultur prinzipiell überwunden hatte, lebt als Diskordanz der einzelnen empirischen Inhalte subjektiver und objektiver Entwicklungen wieder auf. Vielleicht aber noch weiter klafft der Riß, wenn auf seinen Seiten garnicht entgegengesetzt gerichtete Inhalte stehen, sondern wenn das Objektive durch seine formalen Bestimmungen: der Selbständigkeit und der Massenhaftigkeit – sich seiner Bedeutung für das Subjekt entzieht. Es war doch die Formel der Kultur, daß subjektiv-seelische Energien eine objektive, von dem schöpferischen Lebensprozeß fürderhin unabhängige Gestalt gewinnen und diese ihrerseits wieder in subjektive Lebensprozesse in einer Weise hineingezogen wird, die dessen Träger zur abgerundeten Vollendung seines zentralen Seins bringt. Diese Strömung von Subjekten durch Objekte zu Subjekten, in der ein metaphysisches Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt historische Wirklichkeit annimmt, kann nun aber ihre Kontinuität verlieren; das Objekt kann in prinzipiellerer Weise als es bisher angedeutet war, aus seiner vermittelnden Bedeutung heraustreten und damit die Brücken abbrechen, über die hin sein kultivierender Weg ging. Solche Isolierung und Entfremdung ergreift es zunächst gegenüber den schaffenden Subjekten auf Grund der Arbeitsteilung. Die Gegenstände, die durch die Kooperation vieler Personen hergestellt sind, bilden eine Skala, je nach dem Maße, in dem ihre Einheit auf die einheitliche, gedankenmäßige Intention eines Individuums zurückgeht oder sich ohne solchen bewußten Ursprung von selbst aus den Teilbeiträgen der Kooperierenden hergestellt hat. An dem durch das letztere bezeichneten Pol steht etwa eine Stadt, die nach keinem zuvor bestehenden Plane, sondern nach den zufälligen Bedürfnissen und Neigungen der Einzelnen gebaut ist und nun doch ein als Ganzes sinnvolles, anschaulich geschlossenes, organisch in sich verbundenes Gebilde ist. Den andern Pol exemplifiziert vielleicht das Produkt einer Fabrik, an dem zwanzig Arbeiter, jeder ohne Kenntnis der andern Teilarbeiten und ihrer Zusammenfügung und ohne Interesse für sie, zusammengewirkt haben – während das Ganze allerdings von
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einem persönlichen zentralen Willen und Intellekt geleitet ist. Zwischen diesen Erscheinungen mag etwa die Zeitung stehen, deren mindestens äußerliche Einheit in Aspekt und Bedeutung zwar irgendwie auf eine führende Persönlichkeit zurückgeht, aber doch in erheblichem Maße aus gegeneinander zufälligen Beiträgen verschiedenster Art von den verschiedensten, einander ganz fremden Persönlichkeiten erwächst. Der Typus dieser Erscheinungen ist, absolut ausgedrückt, der: durch die Wirksamkeit differenter Personen entsteht ein Kulturobjekt, das als Ganzes, als dastehende und spezifisch wirksame Einheit, keinen Produzenten hat, nicht aus einer entsprechenden Einheit eines seelischen Subjektes hervorgegangen ist. Die Elemente haben sich zusammengetan wie nach einer ihnen selbst, als objektiven Wirklichkeiten, innewohnenden Logik und Formungsintention, mit denen ihre Schöpfer sie nicht geladen haben. Die Objektivität des geistigen Inhaltes, die ihn von allem Aufgenommen- oder Nicht-Aufgenommenwerden unabhängig macht, fällt hier schon auf die Seite seiner Produktion: gleichviel was die Einzelnen gewollt oder nicht gewollt haben, das fertige Gebilde, rein körperlich realisiert, von keinem Geiste mit seiner jetzt wirksamen Bedeutung gespeist, besitzt sie dennoch und kann sie in den Kulturprozeß weitergeben – nur graduell anders, als wenn ein kleines Kind Buchstaben, mit denen es spielt, zufällig zu einem guten Sinn anordnet; dieser Sinn ist in geistiger Objektivität und Konkretheit in ihnen da, aus so völliger Ahnungslosigkeit heraus er auch produziert sei. Genau angesehen aber ist das doch nur ein sehr radikaler Fall eines ganz allgemeinen, auch jene Fälle von Arbeitsteilung übergreifenden menschlich-geistigen Schicksals. Die allermeisten Produkte unseres geistigen Schaffens enthalten innerhalb ihrer Bedeutung eine gewisse Quote, die wir nicht geschaffen haben. Ich meine damit nicht Unoriginalität, vererbte Werte, Abhängigkeit von Vorbildern; denn mit alledem könnte das Werk doch seinem ganzen Inhalt nach aus unserem Bewußtsein geboren sein, wenngleich dies Bewußtsein damit nur weitergäbe, was es tale quale empfangen hat. Vielmehr, in den weitaus meisten unserer objektiv sich darbietenden Leistungen ist etwas von Bedeutung enthalten, das von andern Subjekten herausgezogen werden kann, das wir selbst aber nicht hineingelegt haben. Nirgends natürlich gilt im absoluten Sinne, überall aber im relativen: Was er webt, das weiß kein Weber. Die fertige Leistung enthält Akzente, Relationen, Werte, rein ihrem Sachbestande nach und gleichgültig dagegen, ob der Schaffende gewußt hat, daß dies der Erfolg seines Schaffens sein wird. Es ist ein ebenso geheimnisvolles wie unbezweifelbares Faktum, daß an ein materielles Gebilde ein geistiger Sinn, objektiv und für jedes Bewußtsein reproduzierbar, gebunden sein kann, den kein Bewußtsein hineingelegt hat, sondern der an der reinen, eigensten Tatsächlichkeit dieser Form haftet. Der Natur gegenüber bietet der analoge Fall kein Problem: kein künstlerischer Wille hat südlichen Gebirgen die Stilreinheit ihres Umrisses oder dem stürmischen Meer seine erschütternde Symbolik verliehen. An allen Geisteswerken aber hat das rein
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Naturhafte, insofern es mit solchen Bedeutungsmöglichkeiten ausgestattet ist, einen Anteil oder kann ihn haben. Die Möglichkeit, einen subjektiven geistigen Inhalt herauszugewinnen, ist eben als eine nicht weiter beschreibliche objektive Formung, die ihren Ursprung völlig hinter sich gelassen hat, in ihnen investiert. In extremem Beispiel: ein Dichter habe ein Rätsel auf eine bestimmte Lösung hin verfaßt; wird ein anderes Lösungswort dafür gefunden, das genau so passend, so sinnvoll, so überraschend ist, wie jenes, so ist es eben auch genau so »richtig« und obgleich es seinem Schöpfungsprozeß absolut fernlag, liegt es in dem geschaffenen genau so als ideelle Objektivität, wie jenes erste Wort, auf das hin das Rätsel geschaffen wurde. Diese Möglichkeiten und Maße der Selbständigkeit des objektiven Geistes sollen nur deutlich machen, daß er auch da, wo er aus dem Bewußtsein eines subjektiven Geistes erzeugt ist, nach erfolgter Objektivation eine nun von diesem gelöste Gültigkeit und unabhängige Chance der Re-Subjektivierung besitzt; ebensowenig freilich braucht diese Chance realisiert zu werden – da ja, in dem obigen Beispiel, das zweite Lösungswort des Rätsels in seiner objektiven Geistigkeit zu Rechte besteht, auch bevor es aufgefunden wurde und auch wenn dies nie geschähe. Diese eigentümliche Beschaffenheit der Kulturinhalte – die bisher für die einzelnen, gleichsam isolierten gilt – ist das metaphysische Fundament für die verhängnisvolle Selbständigkeit, mit der das Reich der Kulturprodukte wächst und wächst, als triebe eine innere logische Notwendigkeit ein Glied nach dem andern hervor, oft fast beziehungslos zu dem Willen und der Persönlichkeit der Produzenten und wie unberührt von der Frage, von wie vielen Subjekten überhaupt und in welchem Maße von Tiefe und Vollständigkeit es aufgenommen und seiner Kulturbedeutung zugeführt wird. Der »Fetischcharakter«, den Marx den wirtschaftlichen Objekten in der Epoche der Warenproduktion zuspricht, ist nur ein besonders modifizierter Fall dieses allgemeinen Schicksals unserer Kulturinhalte. Diese Inhalte stehen – und mit steigender »Kultur« immer mehr – unter der Paradoxie, daß sie zwar von Subjekten geschaffen und für Subjekte bestimmt sind, aber in der Zwischenform der Objektivität, die sie diesseits und jenseits dieser Instanzen annehmen, einer immanenten Entwicklungslogik folgen und sich damit ihrem Ursprung wie ihrem Zweck entfremden. Es sind nicht etwa physische Notwendigkeiten, die hierbei in Frage kämen, sondern wirklich nur kulturelle, die freilich die physischen Bedingtheiten nicht überspringen können. Aber was die Produkte, als solche des Geistes, hervortreibt, eines scheinbar aus dem andern, ist die kulturelle Logik der Objekte, nicht die naturwissenschaftliche. Hier liegt der verhängnisvolle innere Zwangstrieb aller »Technik«, sobald ihre Ausbildung sie aus der Reichweite des unmittelbaren Verbrauches herausgerückt hat. So kann etwa die industrielle Herstellung mancher Fabrikate die von Nebenprodukten nahelegen, für die eigentlich kein Bedürfnis vorliegt; allein der Zwang, jene einmal geschaffenen Einrichtungen voll auszunutzen, drängt darauf; die technische
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Reihe fordert von sich aus, sich durch Glieder zu komplettieren, deren die seelische, eigentlich definitive Reihe nicht bedarf – und so entstehen Angebote von Waren, die erst ihrerseits künstliche und, von der Kultur der Subjekte her gesehen, sinnlose Bedürfnisse wachrufen. In manchen Wissenschaftszweigen ist es nicht anders. Die philologische Technik etwa ist einerseits zu einer unübertrefflichen Feinheit und methodischen Vollkommenheit entwickelt, anderseits wachsen die Gegenstände, die so zu bearbeiten ein wirkliches Interesse der geistigen Kultur ist, nicht sehr schnell nach, und so wird die philologische Bemühung vielfach zu einer Mikrologie, einem Pedantismus und einer Bearbeitung des Unwesentlichen – gleichsam ein Leergang der Methode, ein Weitergehen der sachlichen Norm, deren selbständiger Weg nicht mehr mit dem der Kultur als einer Lebensvollendung zusammenfällt. Es ist das gleiche letzte Formmotiv, wenn in der Kunstentwicklung das technische Können groß genug wird, um sich von dem Dienst an dem kulturellen Gesamtzweck der Kunst zu emanzipieren. Jetzt nur noch der eigenen Sachlogik gehorsam, entfaltet die Technik Verfeinerung auf Verfeinerung, die indeß nur noch ihre Vervollkommnungen sind, aber nicht mehr solche des kulturellen Sinnes der Kunst. Die ganze übermäßige Spezialisierung, die heute auf allen Arbeitsgebieten beklagt wird und doch deren Fortentwicklung wie mit dämonischer Unerbittlichkeit unter ihr Gesetz zwingt, ist nur eine Sondergestaltung jenes allgemeinen Verhängnisses der Kulturelemente: daß die Objekte eine eigene Logik ihrer Entwicklung haben – keine begriffliche, keine naturhafte, sondern nur ihrer Entwicklung als kultureller Menschenwerke – und in deren Konsequenz von der Richtung abbiegen, mit der sie sich der personalen Entwicklung menschlicher Seelen einfügen könnten. Darum ist diese Diskrepanz keineswegs mit der oft hervorgehobenen identisch: mit dem Auswachsen der Mittel zu dem Wert von Endzwecken, wie vorgeschrittene Kulturen es auf Schritt und Tritt zeigen. Denn dies ist etwas rein Psychologisches, eine Akzentuierung aus seelischen Zufälligkeiten oder Notwendigkeiten heraus und ohne jede feste Beziehung zu dem sachlichen Zusammenhang der Dinge. Hier aber handelt es sich gerade um diesen, um die immanente Logik der Kulturformungen der Dinge; der Mensch wird jetzt der bloße Träger des Zwanges, mit dem diese Logik die Entwicklungen beherrscht und sie wie in der Tangente der Bahn weiterführt, in der sie wieder in die Kulturentwicklung des lebendigen Menschen zurückkehren würden – nicht anders als die Logik der Begriffe unser Denken oft zu theoretischen Konsequenzen führt, die von der ursprünglich bestimmenden Absicht eben dieses Denkens weit abliegen. Dies ist die eigentliche Tragödie der Kultur. Denn als ein tragisches Verhängnis – im Unterschied gegen ein trauriges oder von außen her zerstörendes – bezeichnen wir doch wohl dies: daß die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; daß sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigene Posi-
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tivität aufgebaut hat. Es ist der Begriff aller Kultur, daß der Geist ein selbständig Objektives schaffe, durch das hin die Entwicklung des Subjektes von sich selbst zu sich selbst ihren Weg nehme; aber eben damit ist jenes integrierende, kulturbedingende Element zu einer Eigenentwicklung prädeterminiert, die noch immer Kräfte der Subjekt[]e verbraucht, noch immer Subjekte in ihre Bahn reißt, ohne doch diese damit zu der Höhe ihrer selbst zu führen: die Entwicklung der Subjekte kann jetzt nicht mehr den Weg gehen, den die der Objekte nimmt; diesem letzteren dennoch folgend, verläuft sie sich in einer Sackgasse oder in einer Entleertheit von innerstem und eigenstem Leben. In noch positiverer Weise aber setzt die Kulturentwicklung das Subjekt außerhalb ihrer selbst durch die schon angedeutete Form- und Grenzenlosigkeit, die dem objektiven Geist durch die numerische Unbeschränktheit seiner Produzenten kommt. Zu dem Vorrat der objektivierten Kulturinhalte kann ein jeder ohne irgendwelche Rücksicht auf die anderen Kontribuenten beisteuern; dieser Vorrat hat in den einzelnen Kulturepochen wohl eine bestimmte Färbung, also von innen her eine Qualitätsgrenze, aber nicht ebenso eine Quantitätsgrenze, er hat gar keinen Grund, sich nicht ins Unendliche zu vermehren, nicht Buch an Buch, Kunstwerk an Kunstwerk, Erfindung an Erfindung zu reihen: die Form der Objektivität als solcher besitzt eine schrankenlose Erfüllungskapazität. Mit dieser sozusagen unorganischen Anhäufbarkeit aber wird sie der Form des persönlichen Lebens im Tiefsten inkommensurabel. Denn dessen Aufnahmefähigkeit ist nicht nur nach Kraft und Lebensdauer begrenzt, sondern durch eine gewisse Einheit und relative Geschlossenheit seiner Form, und es trifft deshalb eine Auswahl mit determiniertem Spielraum unter den Inhalten, die sich ihm als Mittel seiner individuellen Entwicklung anbieten. Nun brauchte scheinbar für das Individuum diese Inkommensurabilität nicht praktisch zu werden, indem es bei Seite liegen läßt, was seine Eigenentwicklung sich nicht assimilieren kann. Allein so einfach gelingt das nicht. Der ins Unabsehbare wachsende Vorrat des objektivierten Geistes stellt Ansprüche an das Subjekt, weckt Velleitäten in ihm, schlägt es mit Gefühlen von eigener Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit, spinnt es in Gesamtverhältnisse, deren Ganzheit es sich nicht entziehen kann, ohne doch ihre Einzelinhalte bewältigen zu können. So entsteht die typische problematische Lage des modernen Menschen: das Gefühl, von einer Unzahl von Kulturelementen umgeben zu sein, die für ihn nicht bedeutungslos sind, aber im tiefsten Grunde auch nicht bedeutungsvoll; die als Masse etwas Erdrückendes haben, weil er nicht alles einzelne innerlich assimilieren, es aber auch nicht einfach ablehnen kann, da es sozusagen potentiell in die Sphäre seiner kulturellen Entwicklung gehört. Man könnte dies mit der genauen Umkehrung des Wortes charakterisieren, das die ersten Franziskaner in ihrer seligen Armut bezeichnete, in ihrer absoluten Befreitheit von allen Dingen, die irgendwie noch den Weg der Seele durch sich hindurchleiten und zu einem indirekten machen wollten: Nihil habentes, omnia possidentes – statt
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dessen sind die Menschen sehr reicher und überladener Kulturen omnia habentes, nihil possidentes. Diese Erfahrungen mögen schon in vielerlei Formen ausgesprochen sein1; worauf es hier ankommt, ist ihre tiefe Verwurzeltheit in dem Zentrum des Kulturbegriffes. Der ganze Reichtum, den dieser Begriff realisiert, beruht darin: daß objektive Gebilde, ohne ihre Objektivität zu verlieren, in den Vollendungsprozeß von Subjekten als dessen Weg oder Mittel einbezogen werden. Ob, vom Subjekt aus gesehen, die höchste Art seiner Vollendung so erreicht wird, bleibe dahingestellt; für die metaphysische Absicht aber, die das Prinzip des Subjekts und das des Objekts als solches in Eines zu bringen sucht, liegt hier eine der äußersten Garantien dagegen, sich nicht selbst als Illusion erkennen zu müssen. Die metaphysische Frage findet damit eine historische Antwort. In den Kulturgebilden hat der Geist eine Objektivität erlangt, die ihn von allem Zufall subjektiver Reproduktion unabhängig und zugleich dem zentralen Zweck subjektiver Vollendung dienstbar macht. Während die metaphysischen Antworten auf jene Frage sie eigentlich abzuschneiden pflegen, indem sie den Subjekt-Objekt-Gegensatz irgendwie als nichtig zeigen, hält die Kultur grade an dem vollen Gegenüber der Parteien fest, an der übersubjektiven Logik der geistgeformten Dinge, an der entlang das Subjekt sich über sich selbst zu sich selbst erhebt. Die Grundfähigkeit des Geistes: sich von sich selbst lösen zu können, sich gegenüberzutreten wie einem Dritten, gestaltend, erkennend, wertend, und erst in dieser Form das Bewußtsein seiner selbst zu gewinnen – hat mit der Tatsache der Kultur gleichsam ihren weitesten Radius erreicht, hat das Objekt am energischsten gegen das Subjekt gespannt, um es wieder in dieses zurückzuführen. Aber eben an dieser eigenen Logik des Objektes, von der das Subjekt sich als ein in sich selbst und sich selbst gemäß vollkommeneres zurückgewinnt, bricht dieses Ineinander der Parteien entzwei. Was diese Blätter schon früh hervorhoben: daß der Schaffende nicht an den Kulturwert, sondern nur an die Sachbedeutung des Werkes, die von dessen eigener Idee umschrieben ist, zu denken pflege – dies gleitet mit den unmerklichen Übergängen einer rein sachlichen Entwicklungslogik in die Karikatur: in ein vom Leben abgeschnürtes Spezialistentum über, in den Selbstgenuß einer Technik, die den Weg zu den Subjekten nicht mehr zurückfindet. Eben diese Objektivität ermöglicht die Arbeitsteilung, die in dem einzelnen Produkte die Energien eines ganzen Komplexes von Persönlichkeiten sammelt, unbekümmert darum, ob ein Subjekt das darin investierte Quantum von Geist oder Leben zu seiner eigenen Förderung wieder herausentwickeln kann oder ob nur ein äußerlich peripherisches Bedürfnis damit befriedigt wird. Hier liegt der tiefe Grund des Ruskinschen Ich habe sie in meiner »Philosophie des Geldes« für eine größere Anzahl historisch konkreter Gebiete ausgeführt [in: ders., Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 6, Frankfurt am Main 1989, S. 617–654]. 1
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Ideales, alle Fabrikarbeit durch kunstmäßige Arbeit der Individuen zu ersetzen. Die Arbeitsteilung löst das Produkt als solches von jedem einzelnen der Kontribuenten los, es steht in einer selbständigen Objektivität da, die es zwar geeignet macht, sich einer Ordnung der Sachen einzufügen oder einem sachlich bestimmten Einzelzweck zu dienen; aber damit entgeht ihm jene innere Durchseeltheit, die nur der ganze Mensch dem ganzen Werk geben kann und die seine Einfügung in die seelische Zentralität anderer Subjekte trägt. Deshalb ist das Kunstwerk ein so unermeßlicher Kulturwert, weil es aller Arbeitsteilung unzugängig ist, d. h. weil hier (mindestens in dem jetzt wesentlichen Sinne und von metaästhetischen Deutungen abgesehen) das Geschaffene den Schöpfer aufs innigste bewahrt. Was bei Ruskin als Kulturhaß erscheinen könnte, ist in Wirklichkeit Kulturleidenschaft: sie geht auf Rückgängigmachung der Arbeitsteilung, die den Kulturinhalt subjektlos macht, ihm eine entseelte Objektivität gibt, mit der er sich aus dem eigentlichen Kulturprozeß herausreißt. Und dann offenbarte sich die tragische Entwicklung, die die Kultur an die Objektivität von Inhalten bindet, die Inhalte aber gerade durch ihre Objektivität schließlich einer Eigenlogik überantwortet und der kulturellen Assimilation durch Subjekte entzieht – diese offenbarte sich endlich an der beliebigen Vermehrbarkeit der Inhalte des objektiven Geistes. Da die Kultur für ihre Inhalte keine konkrete Formeinheit besitzt, jeder Schaffende vielmehr sein Produkt neben das des andern wie in den grenzenlosen Raum stellt, so erwächst jene Massenhaftigkeit von Dingen, deren jedes mit einem gewissen Recht Anspruch auf Kulturwert macht und auch einen Wunsch, es so zu verwerten, in uns anklingen läßt. Die Formlosigkeit des objektivierten Geistes als Ganzheit gestattet ihm ein Entwickelungstempo, hinter dem das des subjektiven Geistes in einem rapid wachsenden Abstand zurückbleiben muß. Aber der subjektive Geist weiß eben die Geschlossenheit seiner Form nicht völlig gegen die Berührungen, Versuchungen, Verbiegungen durch all jene »Dinge« zu bewahren; die Übermacht des Objekts über das Subjekt, im allgemeinen durch den Weltlauf realisiert, in der Kultur zu glücklichem Gleichgewicht aufgehoben, wird nun innerhalb ihrer durch die Grenzenlosigkeit des objektiven Geistes wieder spürbar. Was man als die Behangenheit und Überladung unseres Lebens mit tausend Überflüssigkeiten beklagt, von denen wir uns doch nicht befreien können, als das fortwährende »Angeregtsein« des Kulturmenschen, den all dies doch nicht zu eigenem Schöpfertum anregt, als das bloße Kennen oder Genießen von tausend Dingen, die unsere Entwicklung nicht in sich einbeziehen kann und die als Ballast in ihr liegen bleiben – all diese oft formulierten spezifischen Kulturleiden sind nichts anderes, als die Phänomene jener Emanzipation des objektivierten Geistes. Daß diese besteht, bedeutet eben, daß die Kulturinhalte schließlich einer von ihrem Kulturzweck unabhängigen und von ihm immer weiter abführenden Logik folgen, ohne daß doch der Weg des Subjektes von all diesem, qualitativ und quantitativ unangemessen gewordenen, entlastet wäre. Vielmehr, da dieser Weg, als kultureller,
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durch das Selbständig- und Objektivwerden der seelischen Inhalte bedingt ist, so entsteht die tragische Situation, daß die Kultur eigentlich schon in ihrem ersten Daseinsmomente diejenige Form ihrer Inhalte in sich birgt, die ihr inneres Wesen: den Weg der Seele von sich als der unvollendeten zu sich selbst als der vollendeten – wie durch eine immanente Unvermeidlichkeit abzulenken, zu belasten, ratlos und zwiespältig zu machen bestimmt ist. Das große Unternehmen des Geistes, das Objekt als solches dadurch zu überwinden, daß er sich selbst als Objekt schafft[,] und mit der Bereicherung durch diese Schöpfung zu sich selbst zurückzukehren, gelingt unzählige Male; aber er muß diese Selbstvollendung mit der tragischen Chance bezahlen, in der sie bedingenden Eigengesetzlichkeit der von ihm selbst geschaffenen Welt eine Logik und Dynamik sich erzeugen zu sehen, die die Inhalte der Kultur mit immer wachsender Beschleunigung und immer wachsendem Abstand von dem Zwecke der Kultur abführt.
PAUL VALÉRY
Die Krise des Geistes (Auszug)
Wir Kulturvölker, wir wissen jetzt, daß wir sterblich sind. Wir hatten gehört von ganzen Welten, die verschwunden sind, von Reichen, plötzlich vom Abgrund verschlungen mit allen ihren Menschen und all ihren Werkzeugen; hinabgesunken bis auf den unerforschbaren Grund der Jahrhunderte, samt ihren Göttern und ihren Gesetzen, ihren Akademien und ihren reinen und angewandten Wissenschaften; samt ihren Grammatiken und Wörterbüchern; samt ihren Klassikern, Romantikern und Symbolisten; samt ihren Kritikern und deren Kritikern. Wohl wußten wir, daß der ganze Erdboden aus Asche ist, daß Asche etwas bedeutet. In den Tiefen der Geschichte gewahrten wir Phantome riesiger Schiffe, einst befrachtet mit Reichtum und Geist. Wir vermochten nicht, sie zu zählen. Aber diese Katastrophen kümmerten uns letzten Endes nicht. Elam, Ninive, Babylon waren nur klangvolle Namen, und der völlige Untergang dieser Welten hatte für uns geradeso wenig Bedeutung wie ihr Dasein. Aber Frankreich, England, Rußland könnten ebenso klangvolle Namen sein. Auch Lusitania ist ein klangvolles Wort. Und wir sehen jetzt, daß der Abgrund der Geschichte Raum hat für alle. Wir fühlen, daß eine Kultur genau so hinfällig ist wie ein einzelnes Leben. Die Umstände, welche die Werke von Keats und Baudelaire vernichten könnten gleich denen Menanders, sind nicht mehr ganz unfaßbar: sie sind das Tagesgespräch. Damit nicht genug. Die bittere Erkenntnis ist noch umfassender. Nicht genug, daß unsere Generation durch eigene Erfahrung hat lernen müssen, wie das Schönste und das Ehrwürdigste, das Gewaltigste und das Bestgeordnete durch bloßen Zufall dem Untergang verfallen kann; sie hat gesehen, wie in der Welt des Denkens, des Gemeinverstandes und des Gefühls das Unerwartetste in Erscheinung tritt, wie das Widersinnigste sich jäh verwirklicht, das Gewisseste zuschanden wird. Nur ein Beispiel: die großen Vorzüge der Deutschen haben mehr Unglück verschuldet, als je der Müßiggang Laster gezeugt hat. Wir haben gesehen, mit eigenen Augen gesehen, wie die gewissenhafteste Arbeit, die gründlichste Bildung, die ernsteste Zucht und Bemühung grauenvollen Zwecken dienen mußten. Soviel Schreckliches wäre nicht möglich gewesen ohne so vorzügliche Eigenschaften. Es bedurfte zweifellos vielen Wissens, um in so kurzer Zeit so viele Menschen zu töten, so viele Güter zu verschwenden, so viele Städte zu vernichten; aber nicht weniger bedurfte es dazu moralischer Kräfte. Wissenschaft und Pflicht, seid auch ihr nun verdächtig?
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So ist die Stadt des Geistes, Persepolis, nicht minder verheert als die des Reichtums, Susa. Nicht alles ist untergegangen, aber alles hat den Untergang gefühlt. Ein Schauer ohnegleichen hat Europa bis ins Mark durchbebt. Es hat in allen seinen Nervenzentren empfunden, daß es sich nicht mehr erkennt, daß es aufgehört hat, sich selbst zu gleichen, daß es das Bewußtsein seiner selbst verliert – ein Bewußtsein, erworben in Jahrhunderten noch erträglicher Leiden, durch Tausende von Menschen hohen Ranges, durch zahllose Glücksfälle geographischer, ethnischer, geschichtlicher Art. Aber in diesem Augenblick ist wie zu einer verzweifelten Verteidigung seines innersten Seins und Besitzes die Gesamtheit seiner Erinnerungen vor ihm noch einmal dunkel emporgestiegen. Seine großen Männer und seine großen Bücher tauchten wirr durcheinander vor ihm auf. Nie hat man so viel, nie so leidenschaftlich gelesen wie während des Krieges: fragt nur die Buchhändler. Nie hat man so viel, nie so innig gebetet: fragt nur die Priester. All die Retter, die Gründer, Schutzheiligen, Märtyrer, Helden wurden heraufbeschworen, die Patres patriae, die heiligen Heldinnen, die Nationaldichter … Und in dieser geistigen Verwirrung, unter dem Druck dieser Angst durchlebte das gebildete Europa fieberhaft seine zahllosen Gedanken noch einmal: die verschiedensten Dogmen, Philosophien, Ideale; die dreihundert Deutungen der Welt, die tausend Auffassungen des Christentums, Dutzende von Positivismen: das ganze Spektrum des geistigen Lichts entfaltete seine unvereinbaren Farben und beleuchtete mit einem seltsam widerspruchsvollen Schein den Todeskampf der europäischen Seele. Indes die Erfinder fieberhaft in ihren Mappen, in den Annalen früherer Kriege nach Mitteln suchten, um die Stacheldrähte zu zerreißen, die Unterseeboote zu überlisten oder den Flug der Luftschiffe zu lähmen, nahm die Seele gleichzeitig Zuflucht zu allen Zauberformeln, die sie nur wußte, erwog sie ernsthaft die seltsamsten Prophezeiungen; im gesamten Register der Erinnerungen, der Taten von einst, der urväterlichen Riten suchte sie nach Schutz oder Wahrzeichen oder Trost. Dies sind die bekannten Folgen von Angstzuständen, die wirren Anstrengungen des Gehirns, das vom Wirklichen zum Wahn, vom Wahn zurück zum Wirklichen getrieben wird, ratlos wie eine Ratte in der Falle… Die militärische Krise ist vielleicht zu Ende. Die wirtschaftliche Krise ist in voller Stärke sichtbar; aber die geistige Krise, die heimlicher ist und ihrem Wesen nach die täuschendsten Formen annimmt (spielt sie sich doch im eigensten Bereich der Täuschung ab), sie läßt nur schwer ihren wirklichen Grad, ihr Stadium erkennen. Wer vermag zu sagen, was in Literatur, Philosophie, Ästhetik morgen noch lebendig sein wird? Noch weiß niemand, welche Gedanken und welche Worte man auf die Verlustliste setzen, was an Neuem man verkünden wird. Noch bleibt freilich die Hoffnung und singt schüchtern:
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Et cum vorandi vicerit libidinem, Late triumphet imperator Spiritus. [Und wenn er Gier und Lüste überwunden hat, Wird weiterhin Sieger sein der Herrscher Geist.] Doch die Hoffnung ist nichts als das Mißtrauen des Einzelwesens gegenüber der allzu bestimmten Voraussicht des Geistes. Sie legt uns nahe, daß jedes dem Leben feindliche Urteil notwendig ein Irrtum des Geistes sein müsse. Jedoch die Tatsachen sind eindeutig und unerbittlich. Tausende von jungen Schriftstellern und Künstlern sind tot. Der Glaube an eine europäische Kultur ist dahin; daß die Erkenntnis nichts, gar nichts zu retten vermag, ist erwiesen; die sittlichen Ansprüche der Wissenschaft sind tödlich getroffen, sie ist gleichsam entehrt durch die Grausamkeit ihrer praktischen Anwendung; der Idealismus, der nur mit Mühe gesiegt hat, ist tief verwundet und büßt für seine Träume; der Realismus enttäuscht, geschlagen, mit allen Verbrechen und Verfehlungen belastet; Begierde und Verzicht gleichermaßen zum Spott geworden; die Bekenntnisse nicht nach Lagern geschieden, Kreuz gegen Kreuz, Halbmond gegen Halbmond; und sogar die Skeptiker, aus aller Fassung gebracht durch so plötzliche, so heftige, so bestürzende Ereignisse, welche mit unsern Gedanken ihr Spiel treiben wie die Katze mit der Maus – die Skeptiker bezweifeln ihre eigenen Zweifel, verfallen ihnen von neuem, bezweifeln sie wieder und sind nicht mehr imstande, sich der eigenen geistigen Kraft zu be dienen. Das Schwanken des Schiffs war so stark, daß auch die am sichersten aufgehängten Lampen erloschen. Was der Krise des Geistes ihre Tiefe und ihren Ernst gibt, das ist der Zustand, in dem sie den Kranken getroffen hat. Ich habe weder die Zeit noch die Kraft, den geistigen Zustand des Europa von 1914 zu bestimmen. Und wer würde ein Bild dieses Zustands zu entwerfen wagen? Der Gegenstand ist ein ungeheurer; er erfordert umfassendstes Wissen, unendliche Kenntnisse. Übrigens ist angesichts eines so vielfältigen Ganzen die Schwierigkeit, sich auch die nächste Vergangenheit zu vergegenwärtigen, durchaus vergleichbar derjenigen, auch nur die nächste Zukunft vorauszubestimmen; es ist vielmehr genau dieselbe. Der Prophet ist hier in der gleichen Verlegenheit wie der Historiker. Überlassen wir sie ihrem Schicksal. Aber ich brauche für den Augenblick nichts weiter als die ganz allgemeine Erinnerung an das, was vor Beginn des Kriegs die Köpfe beschäftigte, an die Forschungen, denen man nachging, die Werke, die man veröffentlichte. Sehe ich also von allen Einzelheiten ab und beschränke mich auf einen raschen Eindruck und auf jene Gesamtwirkung, welche sich aus einer Augenblickswahrneh-
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mung instinktiv ergibt, so sehe ich – nichts! – Freilich ein Nichts von unerschöpflichem Reichtum. Die Physiker lehren uns, daß unser Auge in der Weißglut eines Schmelzofens, wenn es sie ertrüge – nichts sehen würde. Keinerlei ungleichartige Helligkeit bleibt und bezeichnet die Punkte des Raums. Diese gewaltige gefangene Kraft ergibt schließlich Unsichtbarkeit, unterschiedslose Gleichartigkeit. Doch eine Gleichartigkeit solcher Art ist nichts anderes als das völlige Chaos. Und aus was allem ergab sich dieses Chaos unseres geistigen Europa? – Daraus, daß in allen gebildeten Köpfen die einander unähnlichsten Gedanken, die einander entgegengesetztesten Lebens- und Erkenntnisprinzipien ungehindert nebeneinander lebten. Das ist es, was ein modernes Zeitalter kennzeichnet. Ich würde dazu neigen, den Begriff des Modernen allgemeiner zu fassen und dieses Wort auf eine bestimmte Lebensweise anzuwenden, es nicht bloß mit zeitgenössisch gleichzusetzen. Gibt es nicht in der Geschichte Orte und Zeiten, in die wir Modernen uns einfügen könnten, ohne den Einklang allzusehr zu stören und ohne als unendlich seltsame, unendlich auffällige Wesen, ohne als anstößig, fremd, anpassungsunfähig zu erscheinen? Wo unser Erscheinen am wenigsten Aufsehen erregen würde, dort sind wir wie zu Hause. Zweifellos, daß wir im Rom Trajans und im Alexandrien der Ptolemäer leichter untertauchen könnten als an so manchen anderen, zeitlich weniger fernen Stätten, die aber mehr auf eine einzige, einheitliche Sitte gestellt und auf eine einzige Rasse, eine einzige Kultur, ein einziges Lebenssystem eingeschworen sind. Nun wohl, das Europa von 1914 war vielleicht bis an die Grenzen einer solchen Modernität gelangt. Jeder Kopf von Rang war ein Treffpunkt aller Weltanschauungen; jeder Denker eine Weltausstellung der Gedanken. Es gab Werke des Geistes, deren Reichtum an Gegensätzen und einander widersprechenden Impulsen an die wahnwitzigen Lichteffekte der Großstädte der Zeit denken ließ, welche die Augen quälen und ermüden. Wie vieler Dinge, wie vieler Werke, Berechnungen, geplünderter Jahrhunderte, welcher Summe verschiedenster Lebensäußerungen bedurfte es, damit dieser Taumel möglich und zum Ausdruck höchster Weisheit, zum Triumph der Menschheit erhoben wurde? In manchen Büchern jener Zeit – und keineswegs in den mittelmäßigsten – findet man ganz mühelos: eine Einwirkung des russischen Balletts – ein wenig vom düstern Stil Pascals – viele Impressionen Goncourtscher Art – etwas von Nietzsche – etwas von Rimbaud – gewisse Effekte, die vom Umgang mit Malern herrühren – zuweilen etwas vom Ton wissenschaftlicher Werke – das Ganze irgendwie, schwer bestimmbar, britisch angehaucht! … Stellen wir nebenbei fest, daß sich in jedem einzelnen Bestandteil dieser Mischung noch viele andere Körper finden ließen. Unnötig, nach ihnen zu forschen: das hieße wiederholen, was ich eben
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über die Moderne gesagt habe, und hieße die ganze Geistesgeschichte Europas schreiben. Und jetzt – auf einem ungeheuren Erdwall von Helsingör, der von Basel bis Köln reicht, der an die Dünen von Nieuwpoort, an die Sümpfe der Somme, an die Kreidefelsen der Champagne und den Granit des Elsaß grenzt, erschaut der europäische Hamlet Millionen Gespenster. Aber er ist ein sehr intellektueller Hamlet. Er meditiert über Sein und Nichtsein der Wahrheiten. Die Geister, die ihm erscheinen, sind – alle Probleme, um die wir streiten; unsere Ruhmestitel, für ihn sind sie Gewissensqualen; er erliegt unter der Last der Erfindungen, Kenntnisse, Methoden und Bücher, unfähig, darauf zu verzichten, außerstande, sich dieser grenzenlosen Tätigkeit neu hinzugeben. Er denkt des Verdrusses, das Vergangene wiederzubeginnen, des Wahns, immer wieder Neues zu wollen. Er schwankt zwischen beiden Abgründen, denn zwei Gefahren hören nicht auf, die Welt zu bedrohen: Ordnung und Chaos. Greift er nach einem Schädel, so ist es ein erlauchter Schädel. – Whose was it? – Der da war Lionardo, der den fliegenden Menschen ersann. Ach, der fliegende Mensch hat nicht gerade den Absichten seines Erfinders gedient: In unsern Tagen hat der Mensch, der »auf dem Rücken seines großen Schwans« fliegt (il grande uccello sopra del dosso del suo magnio cecero), bekanntlich andere Aufgaben als die, Schnee von den Gipfeln der Berge zu holen, um ihn an Tagen der Hitze auf die Straßen der Städte zu streuen … Und der da ist der Leibnizens, der vom Weltfrieden träumte. Und der da war Kant; Kant zeugte Hegel, dieser zeugte Marx, dieser zeugte – wen? Hamlet ist sehr unschlüssig, was tun mit allen diesen Schädeln. Soll er sie preisgeben? … Wird er dann nicht aufhören, er selbst zu sein? Sein unheimlich hellsichtiger Geist erwägt den Übergang vom Krieg zum Frieden. Dieser Übergang ist noch dunkler, noch gefahrvoller als der vom Frieden zum Krieg; alle Völker stehen ratlos davor. »Und ich«, spricht er zu sich, »ich, Europas Intellekt, was wird mein Schicksal sein? … Und was ist der Friede? Der Friede ist vielleicht jener Stand der Dinge, in dem die angeborene Feindschaft der Menschen gegeneinander sich durch Schöpfungen kundgibt, statt sich durch Zerstörung zu äußern wie im Krieg. Er ist die Zeit schöpferischer Zusammenarbeit, kämpfenden Schaffens. Und ich selbst, bin ich nicht des Schaffens müde? Habe ich nicht meine Begierde nach kühnsten Versuchen erschöpft? Habe ich nicht mit den subtilsten Mischungen Mißbrauch getrieben? Gilt es, meinen schweren Pflichten und meinem transzendenten Streben zu entsagen? Soll ich mich der Strömung überlassen und handeln wie Polonius, der jetzt eine große Zeitung herausgibt? wie Laertes, der irgendwo Flieger ist? wie Rosenkrantz, der unter russischem Decknamen ich weiß nicht was treibt?
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– Fahrt hin, Gespenster! Die Welt bedarf euer nicht mehr. Noch meiner. Die Welt, die ihrem Hang zu unseliger Verstandesschärfe den Namen ›Fortschritt‹ gibt, trachtet, die Güter des Lebens mit den Vorteilen des Todes zu verbinden. Noch herrscht in manchem Unsicherheit. Ein wenig Geduld, und alles wird sich aufklären; schließlich wird vor unseren Augen das Wunder einer Tiergesellschaft entstehen, ein vollkommener und endgültiger Ameisenhaufen.«
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Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker I Das Lebenswerk von Eduard Fuchs gehört der jüngsten Vergangenheit an. Ein Rückblick auf dieses Werk beinhaltet alle Schwierigkeiten, die der Versuch mit sich bringt, von der jüngsten Vergangenheit Rechenschaft abzulegen. Es ist zugleich die jüngste Vergangenheit der marxistischen Kunsttheorie, die hier in Rede steht. Und das erleichtert die Sache nicht. Denn im Gegensatz zur marxistischen Ökonomik hat diese Theorie noch keine Geschichte. Die Lehrer, Marx und Engels, haben nicht mehr getan, als der materialistischen Dialektik ein weites Feld in ihr anzuweisen. Und die ersten, die es in Angriff genommen haben, ein Plechanow, ein Mehring, haben den Unterricht der Meister nur mittelbar oder zumindest erst spät empfangen. Die Tradition, die von Marx über Wilhelm Liebknecht zu Bebel führt, ist weit mehr der politischen als der wissenschaftlichen Seite des Marxismus zugute gekommen. Mehring ist durch den Nationalismus und sodann durch die Schule Lassalles gegangen; und als er zum ersten Male zur Partei kam, da herrschte, nach dem Geständnis Kautskys, »theoretisch noch ein mehr oder weniger vulgärer Lassalleanismus. Von einem konsequenten marxistischen Denken war, außer bei einigen vereinzelten Persönlichkeiten, keine Rede.«1 Erst spät, am Lebensabend von Engels, ist Mehring mit diesem in Berührung getreten. Fuchs seinerseits ist auf Mehring schon früh gestoßen. In dem Verhältnis der beiden zeichnet sich zum ersten Mal eine Tradition in den geistesgeschichtlichen Forschungen des historischen Materialismus ab. Aber das Arbeitsgebiet von Mehring, die Literaturgeschichte, hatte, im Geiste der beiden Forscher, mit dem Fuchsschen nur wenig Berührungspunkte. Und noch mehr fällt die Verschiedenheit ihrer Anlagen ins Gewicht. Mehring war eine Gelehrtennatur, Fuchs ein Sammler. Es gibt viele Arten von Sammlern; zudem sind in jeglichem eine Fülle von Impulsen am Werk. Fuchs ist als Sammler vor allem ein Pionier: der Begründer eines einzig dastehenden Archivs zur Geschichte der Karikatur, der erotischen Kunst und des Sittenbildes. Wichtiger ist aber ein anderer und zwar komplementärer Umstand: als Pionier wurde Fuchs zum Sammler. Nämlich als Pionier der materialistischen Kunstbetrachtung. Was jedoch diesen Materialisten zum Sammler machte, war das mehr oder minder klare Gefühl für eine geschichtliche Lage, in die er sich hineingestellt sah. Es war die Lage des historischen Materialismus selbst. 1
Karl Kautsky, Franz Mehring. In: Die Neue Zeit. XXII. Stuttgart 1904, I, S. 103 bis 104.
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Sie kommt in einem Briefe zum Ausdruck, den Friedrich Engels an Mehring zur gleichen Zeit richtete, da in einem sozialistischen Redaktionsbureau Fuchs seine ersten publizistischen Siege erfocht. Der Brief stammt vom 14. Juli 1893 und führt unter anderem aus: »Es ist dieser Schein einer selbständigen Geschichte der Staatsverfassungen, der Rechtssysteme, der ideologischen Vorstellungen auf jedem Sondergebiete, der die meisten Leute vor allem blendet. Wenn Luther und Calvin die offizielle katholische Religion, wenn Hegel den Fichte und Kant, Rousseau indirekt mit seinem Contrat Social den konstitutionellen Montesquieu ›überwindet‹, so ist das ein Vorgang, der innerhalb der Theologie, der Philosophie, der Staatswissenschaft bleibt, eine Etappe in der Geschichte dieser Denkgebiete darstellt und gar nicht aus dem Denkgebiete herauskommt. Und seitdem die bürgerliche Illusion von der Ewigkeit und Letztinstanzlichkeit der kapitalistischen Produktion dazugekommen ist, gilt ja sogar die Überwindung der Merkantilisten durch die Physiokraten und Adam Smith als ein bloßer Sieg des Gedankens, nicht als der Gedankenreflex veränderter ökonomischer Tatsachen, sondern als die endlich errungene richtige Einsicht in stets und überall bestehende tatsächliche Bedingungen.«2 Engels wendet sich gegen zweierlei: einmal gegen die Gepflogenheit, in der Geistesgeschichte ein neues Dogma als ›Entwicklung‹ eines früheren, eine neue Dichterschule als ›Reaktion‹ auf eine vorangegangene, einen neuen Stil als ›Überwindung‹ eines älteren darzustellen; er wendet sich aber offenbar implizit zugleich gegen den Brauch, solche neuen Gebilde losgelöst von ihrer Wirkung auf die Menschen und deren sowohl geistigen wie ökonomischen Produktionsprozeß darzustellen. Damit ist die Geisteswissenschaft als Geschichte der Staatsverfassungen oder der Naturwissenschaften, der Religion oder der Kunst zerschlagen. Aber die Sprengkraft dieses Gedankens, den Engels ein halbes Jahrhundert mit sich getragen hat3, reicht tiefer. Sie stellt die Geschlossenheit der Gebiete und ihrer Gebilde in Frage. So, was die Kunst betrifft, deren eigene und die der Werke, welche ihr Begriff zu umfassen beansprucht. Diese Werke integrieren für den, der sich als historischer Dialektiker mit ihnen befaßt, ihre Vor- wie ihre Nachgeschichte – eine Nachgeschichte, kraft deren auch ihre Vorgeschichte als in ständigem Wandel begriffen erkennbar wird. Sie lehren ihn, wie ihre Funktion ihren Schöpfer zu überdauern, seine Intentionen hinter sich zu lassen vermag; wie die Aufnahme durch seine Zeitgenossen ein Bestandteil der Wirkung ist, die das Kunstwerk heute auf uns selber hat, und wie die
Zitiert von Gustav Mayer, Friedrich Engels. Eine Biographie. Bd. II: Friedrich Engels und der Aufstieg der Arbeiterbewegung in Europa. Berlin, S. 450/451. 3 Er taucht in den ersten Feuerbachstudien auf und findet dabei durch Marx diese Prägung: »Es gibt keine Geschichte der Politik, des Rechts, der Wissenschaft…, der Kunst, der Religion.« (Marx-Engels Archiv. Zeitschrift des Marx-Engels-Instituts in Moskau. Hrsg. von D. Rjazanov. Bd. I. Frankfurt a.M. 1928, S. 301.) 2
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letztere auf der Begegnung nicht allein mit ihm, sondern mit der Geschichte beruht, die es bis auf unsere Tage hat kommen lassen. Goethe hat dies, verschleiernd wie oft, bedeutet, als er im Gespräch über Shakespeare zu dem Kanzler von Müller äußerte: »Alles, was eine große Wirkung getan hat, kann eigentlich gar nicht mehr beurteilt werden«. Kein Wort ist gemäßer, die Beunruhigung hervorzurufen, die den Anfang jeder Geschichtsbetrachtung macht, welche das Recht hat, dialektisch genannt zu werden. Beunruhigung über die Zumutung an den Forschenden, die gelassene, kontemplative Haltung dem Gegenstand gegenüber aufzugeben, um der kritischen Konstellation sich bewußt zu werden, in der gerade dieses Fragment der Vergangenheit mit gerade dieser Gegenwart sich befindet. »Die Wahrheit wird uns nicht davon laufen« – dieses Wort, das bei Gottfried Keller steht, bezeichnet im Geschichtsbild des Historismus genau die Stelle, an welcher es vom historischen Materialismus durchschlagen wird. Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, welche sich nicht als in ihm gemeint erkannte. Je besser man die Sätze von Engels bedenkt, desto klarer wird, daß jede dialektische Darstellung der Geschichte erkauft wird durch den Verzicht auf eine Beschaulichkeit, die für den Historismus bezeichnend ist. Der historische Materialist muß das epische Element der Geschichte preisgeben. Sie wird ihm Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die leere Zeit, sondern die bestimmte Epoche, das bestimmte Leben, das bestimmte Werk bildet. Er sprengt die Epoche aus der dinghaften ›geschichtlichen Kontinuität‹ heraus, so auch das Leben aus der Epoche, so das Werk aus dem Lebenswerk. Doch der Ertrag dieser Konstruktion ist der, daß im Werke das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der Geschichtsverlauf aufbewahrt ist und aufgehoben.4 Der Historismus stellt das ewige Bild der Vergangenheit dar; der historische Materialismus eine jeweilige Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht. Der Entsatz des epischen Moments durch das konstruktive erweist sich als Bedingung dieser Erfahrung. In ihr werden die gewaltigen Kräfte frei, die im ›Es-war-einmal‹ des Historismus gebunden liegen. Die Erfahrung mit der Geschichte ins Werk zu setzen, die für jede Gegenwart eine ursprüngliche ist – das ist die Aufgabe des historischen Materialismus. Er wendet sich an ein Bewußtsein der Gegenwart, welches das Kontinuum der Geschichte aufsprengt. Geschichtliches Verstehen faßt der historische Materialismus als ein Nachleben des Verstandenen auf, dessen Pulse bis in die Gegenwart spürbar sind. Dieses VerEs ist die dialektische Konstruktion, die das in der geschichtlichen Erfahrung ursprünglich uns Betreffende gegen die zusammengestoppelten Befunde des Tatsächlichen abhebt. »Im nackten offenkundigen Bestand des Faktischen gibt das Ursprüngliche sich niemals zu erkennen, und einzig einer Doppeleinsicht steht seine Rhythmik offen. Sie … betrifft dessen Vor- und Nachgeschichte.« (Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels. Berlin 1928, S. 32.) 4
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stehen hat bei Fuchs seine Stelle; jedoch keine unangefochtene. Eine alte, dogmatische und naive Vorstellung von der Rezeption steht bei ihm neben ihrer neuen und kritischen. Die erste resümiert sich in der Behauptung, maßgebend für unsere Rezeption eines Werkes müsse die Rezeption sein, welche es bei seinen Zeitgenossen gefunden habe. Es ist die genaue Analogie zu Rankes »Wie es denn wirklich gewesen sei«, auf die es »doch einzig und allein« ankomme.5 Daneben aber steht unvermittelt die dialektische und den weitesten Horizont eröffnende Einsicht in die Bedeutung einer Geschichte der Rezeption. Fuchs bemängelt, daß in der Kunstgeschichte die Frage nach dem Erfolg außer acht bleibe. »Diese Unterlassung ist … ein Defizit unserer gesamten … Kunstbetrachtung … Und doch dünkt mich die Aufdeckung der wirklichen Ursachen für den größeren oder geringeren Erfolg eines Künstlers, für die Dauer seines Erfolges und ebensosehr für das Gegenteil, eines der wichtigsten Probleme, die sich … an die Kunst knüpfen.«6 Nicht anders hatte Mehring die Sache verstanden, dessen »Lessing-Legende« die Rezeption des Dichters, so wie sie sich bei Heine und bei Gervinus, bei Stahr und bei Danzel, schließlich bei Erich Schmidt vollzogen hatte, zum Ausgangspunkt ihrer Analysen macht. Und nicht umsonst tauchte wenig später die, wenn nicht methodisch so doch ihrem Inhalt nach, schätzbare Untersuchung »Die Genesis des Ruhmes« von Julian Hirsch auf. Es ist die gleiche Frage, die Fuchs visiert hat. Ihre Lösung gibt ein Kriterium für den Standard des historischen Materialismus ab. Dieser Umstand aber berechtigt nicht, den anderen: daß sie noch aussteht, zu unterschlagen. Vielmehr ist rücksichtslos einzuräumen, daß es nur in vereinzelten Fällen gelungen ist, den geschichtlichen Gehalt eines Kunstwerks so zu erfassen, daß es als Kunstwerk für uns transparenter wurde. Alles Werben um ein Kunstwerk muß eitel bleiben, wo nicht sein nüchterner geschichtlicher Gehalt vom dialektischen Erkennen betroffen wird. Das ist nur die erste der Wahrheiten, an denen das Werk des Sammlers Eduard Fuchs sich orientiert. Seine Sammlungen sind die Antwort des Praktikers auf die Aporien der Theorie.
II Fuchs ist im Jahre 1870 geboren. Er war von Hause aus nicht zum Gelehrten bestimmt worden. Und bei aller Gelehrsamkeit, zu der er im späteren Leben gekommen ist, hat er nie den Gelehrtentyp angenommen. Seine Wirksamkeit ist stets über
Erotische Kunst, Bd. I, S. 70. [Anm. d. Hg.: Die Auflösung der in den Fußnoten benutzten Abkürzungen für die Schriften von Fuchs findet sich in Anm. 7, S. 88.] 6 Gavarni, S. 13. 5
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die Ränder hinausgeschossen, die das Blickfeld des Forschers umgrenzen. So ist es um seine Leistung als Sammler bestellt, so um seine Aktivität als Politiker. Mitte der achtziger Jahre ist Fuchs ins Erwerbsleben eingetreten. Es war unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes. Die Lehrstelle führte Fuchs mit politisch interessierten Proletariern zusammen, und bald war er durch sie in den heute idyllisch anmutenden Kampf der damaligen Illegalen hineinbezogen. Diese Lehrjahre endeten 1887. Einige Jahre darauf forderte das bayrische Organ der Sozialdemokraten, die »Münchener Post«, den jungen Buchhalter Fuchs von einer Stuttgarter Druckerei an; es glaubte, in ihm den Mann gefunden zu haben, der die administrativen Mängel beheben könne, die sich bei dem Blatte ergeben hatten. Fuchs ging nach München, um dort neben Richard Calver zu arbeiten. Im Hause der »Münchener Post« erschien ein politisches Witzblatt der Sozialisten, der »Süddeutsche Postillon«. Ein Zufall gab, daß Fuchs aushilfsweise den Umbruch einer Nummer des »Postillon« in die Hand nehmen, und ein weiterer, daß er Lücken mit einigen eigenen Beiträgen füllen mußte. Der Erfolg dieser Nummer war ungewöhnlich. Im gleichen Jahre erschien sodann, bunt bebildert – die farbig illustrierte Presse stand eben in ihren Anfängen –, von Fuchs zusammengestellt, die Mainummer dieses Blattes. Sechzigtausend Exemplare wurden verkauft gegen zweieinhalbtausend im Jahresdurchschnitt. Damit war Fuchs Redakteur einer Zeitschrift geworden, die der politischen Satire gewidmet war. Er wandte sich zugleich der Geschichte seines Tätigkeitsfeldes zu, und es entstanden so, neben der Tagesarbeit, die illustrierten Studien über das Jahr 1848 in der Karikatur und über die Staatsaffäre der Lola Montez. Das waren, im Gegensatz zu den von lebenden Zeichnern illustrierten Historienbüchern (z. B. den von Jentsch bebilderten volkstümlichen Revolutionsbüchern von Wilhelm Blos), die ersten durch dokumentarische Bilder illustrierten Geschichtswerke. Auf Hardens Aufforderung zeigte Fuchs das zweite dieser Werke selbst in der »Zukunft« an, nicht ohne zu bemerken, daß es nur einen Ausschnitt aus dem umfassenden Werk darstelle, das er der Karikatur der europäischen Völker zu widmen vorhabe. Ein Gefängnisaufenthalt von zehn Monaten, den eine Majestätsbeleidigung durch die Presse ihm eintrug, kam den Studien zu diesem Werk zugute. Daß die Idee glücklich sei, erschien einleuchtend. Ein gewisser Hans Kraemer, der sich in der Herstellung illustrierter Hausbücher bereits einige Erfahrung gesichert hatte, trat an Fuchs mit der Nachricht heran, er habe die Geschichte der Karikatur schon in Arbeit; er schlug vor, seine Studien einem gemeinschaftlichen Werk zuzuführen. Seine Beiträge ließen jedoch auf sich warten. Und bald ergab sich, daß die gesamte sehr beträchtliche Arbeitsleistung Fuchs allein zu bewältigen blieb. Der Name des präsumptiven Mitarbeiters, der noch auf dem Titel der ersten Auflage des Karikaturenwerks zu finden war, ist in der zweiten fortgefallen. Fuchs aber hatte von seiner Arbeitskraft wie auch von seiner Materialbeherrschung
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die erste überzeugende Probe abgelegt. Die lange Reihe der Hauptwerke war eröffnet.7 Die Anfänge von Fuchs fallen in die Epoche, da, wie es in der »Neuen Zeit« einmal heißt, »der Stamm der sozialdemokratischen Partei allerorten im organischen Wachstum Ring um Ring« ansetzte.8 Damit machten sich neue Aufgaben in der Bildungsarbeit der Partei geltend. Je größere Arbeitermassen ihr zuströmten, desto weniger konnte sie sich mit deren bloß politischer und naturwissenschaftlicher Aufklärung, mit einer Vulgarisierung der Mehrwert- und Deszendenztheorie begnügen. Sie mußte ihr Augenmerk darauf richten, auch den historischen Bildungsstoff in ihr Vortragswesen und in das Feuilleton der Parteipresse einzubeziehen. Auf diese Weise stellte sich das Problem der ›Popularisierung der Wissenschaft‹ in seiner ganzen Breite. Es ist nicht gelöst worden. Man konnte auch der Lösung nicht näherkommen, solange man sich das Objekt dieser Bildungsarbeit als ›Publikum‹ statt als Klasse dachte.9 Wäre die Klasse visiert worden, so hätte die Bildungsarbeit der Par-
Hauptwerke (bei Albert Langen in München): Illustrierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bd. I: Renaissance, [1909]; Bd. II: Die galante Zeit, [1910]; Bd. III: Das bürgerliche Zeitalter, [1911/12]. Dazu »Ergänzungsbände« I–III [1909; 1911; 1912]; neue Aufl. aller Bde. 1926 (zitiert »Sittengeschichte«). Geschichte der erotischen Kunst. Bd. I: Das zeitgeschichtliche Problem, [1908], neue Aufl. 1922; Bd. II: Das individuelle Problem, [Erster Teil,] 1923; Bd. III: Das individuelle Problem, Zweiter Teil, 1926 (zitiert »Erotische Kunst«). Die Karikatur der europäischen Völker. Bd. I: Vom Altertum bis zum Jahre 1848, [1. Aufl., 1901,] 4. Aufl., 1921; Bd. II: Vom Jahre 1848 bis zum Vorabend des Weltkrieges, [1. Aufl., 1903,] 4. Aufl., 1921 (zitiert »Karikatur«). Honoré Daumier, Holzschnitte und Lithographien, hrsg. von Eduard Fuchs. Bd. I: Holzschnitte 1833–1870, 1918; Bd. II: Lithographien 1828–1851, 1920; Bd. III: Lithographien 1852–1860, 1921; Bd. IV: Lithographien 1861–1872, 1922 (zitiert »Daumier«). Der Maler Daumier, hrsg. von Eduard Fuchs, 1927 (zitiert ebenso). Gavarni, Lithographien, hrsg. von Eduard Fuchs, 1925 (zitiert »Garvani«). Die großen Meister der Erotik. Ein Beitrag zum Problem des Schöpferischen in der Kunst. Malerei und Plastik, 1931 (zitiert ebenso). Tang-Plastik. Chinesische Grabkeramik des 7. bis 10. Jahrhunderts. (Kultur- und Kunstdokumente. 1), 1924 (zitiert ebenso). Dachreiter und verwandte chinesische Keramik des 15. bis 18. Jahrhunderts. (Kultur- und Kunstdokumente. 2), 1924 (zitiert ebenso). Fuchs hat außerdem der Frau, den Juden und dem Weltkrieg als Sujets der Karikatur Sonderwerke gewidmet. 8 A. Max, Zur Frage der Organisation des Proletariats der Intelligenz. In: Die Neue Zeit. XIII. Stuttgart 1895, I, S. 645. 9 Nietzsche schrieb, und zwar schon 1874: »Als letztes … Resultat ergiebt sich das allgemein beliebte ›Popularisieren‹ … der Wissenschaft, das heißt das berüchtigte Zuschneiden des Rockes der Wissenschaft auf den Leib des ›gemischten Publikums‹: um uns hier einmal für eine schneidermäßige Thätigkeit auch eines schneidermäßigen Deutschen (sic!) zu befleißigen.« (Friedrich 7
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tei niemals die enge Fühlung mit den wissenschaftlichen Aufgaben des historischen Materialismus verlieren können. Der historische Stoff wäre, umgepflügt von der marxistischen Dialektik, ein Boden geworden, in dem der Same, den die Gegenwart in ihn warf, hätte aufgehen können. Das geschah nicht. Der Parole ›Arbeit und Bildung‹, unter der die staatsfrommen Vereine von Schultze-Delitzsch die Arbeiterbildung betrieben hatten, stellte die Sozialdemokratie die Parole ›Wissen ist Macht‹ entgegen. Aber sie durchschaute nicht deren Doppelsinn. Sie meinte, das gleiche Wissen, das die Herrschaft der Bourgeoisie über das Proletariat befestige, werde das Proletariat befähigen, von dieser Herrschaft sich zu befreien. In Wirklichkeit war ein Wissen, das ohne Zugang zur Praxis war und das das Proletariat als Klasse über seine Lage nichts lehren konnte, ungefährlich für dessen Unterdrücker. Das galt von dem geisteswissenschaftlichen ganz besonders. Es lag weit von der Ökonomik ab; es blieb von deren Umwälzung unberührt. Man begnügte sich, in seiner Behandlung ›anzuregen‹, ›Abwechslung zu bieten‹, ›zu interessieren‹. Man lockerte die Geschichte auf und erhielt die ›Kulturgeschichte‹. Hier hat das Werk von Fuchs seinen Ort: in der Reaktion auf diese Sachlage hat es seine Größe, in der Teilhabe an ihr seine Problematik. Die Ausrichtung auf die Lesermassen hat sich Fuchs von Anfang an zum Prinzip gemacht.10 Nur wenige haben damals erkannt, wieviel von der materialistischen Bildungsarbeit in Wahrheit abhing. Es sind die Hoffnungen und noch mehr die Befürchtungen dieser wenigen, die in einer Debatte zum Ausdruck kommen, deren Spuren sich in der »Neuen Zeit« finden. Die wichtigste unter ihnen ist ein Aufsatz von Korn, betitelt »Proletariat und Klassik«. Er befaßt sich mit dem Begriff des Erbes, der auch heute wieder seine Bedeutung hat. Lassalle sah im deutschen Idealismus, sagt Korn, ein Erbe, das die Arbeiterklasse antrat. Anders als Lassalle aber faßten Marx und Engels die Sache auf. »Nicht … als ein Erbe leiteten sie den sozialen Vorrang der Arbeiterklasse her, sondern aus ihrer ausschlaggebenden Stellung im Produktionsprozeß selber. Wie braucht auch von Besitz, und sei es vom geistigen Besitz, … geredet zu werden bei einem Klassenparvenü, wie dem modernen Proletariat, das jeden Tag und jede Stunde durch … seine den gesamten Kulturapparat immer aufs neue reproduzierende Arbeit sein ›Recht‹ dartut … So ist für Marx und Engels das Prunkstück des Lassalleschen Bildungsideals, die spekulative Philosophie, kein Tabernakel, … und immer stärker haben sich beide … zur Naturwissenschaft hingezogen gefühlt …, die in der Tat für eine Klasse, deren Idee in ihrem Funktionieren besteht, ebenso die Wissenschaft schlechtweg heißen darf, wie für die herrschende und besitzende Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Bd. I. Leipzig 1893, S. 168 [»Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«].) 10 »Der Kulturgeschichtsschreiber, der es mit seiner Aufgabe ernst nimmt, muß stets für die Massen schreiben.« (Erotische Kunst, Bd. II, S. V.)
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Klasse alles Historische die gegebene Form ihrer Ideologie ausmacht … Tatsächlich vertritt die Historik für das Bewußtsein ebenso die Besitzkategorie, wie im Ökonomischen das Kapital die Herrschaft über vergangene Arbeit bedeutet.«11 Diese Kritik des Historismus hat ihr Gewicht. Ihr Hinweis auf die Naturwissenschaft jedoch – »die Wissenschaft schlechtweg« – gibt den Blick auf die gefährliche Problematik der Bildungsfrage erst gänzlich frei. Das Prestige der Naturwissenschaften hatte seit Bebel die Debatte beherrscht. Sein Hauptwerk, »Die Frau und der Sozialismus«, hat in den dreißig Jahren, die zwischen seinem Erscheinen und dem der Arbeit von Korn vergingen, eine Auflage von 200 000 Exemplaren erreicht. Die Einschätzung der Naturwissenschaften bei Bebel beruht nicht allein auf der rechnerischen Genauigkeit ihrer Ergebnisse, sondern vor allem auf ihrer praktischen Anwendbarkeit.12 Ähnlich fungieren sie später bei Engels, wenn er den Phänomenalismus von Kant durch den Hinweis auf die Technik zu widerlegen meint, die ja doch durch ihre Erfolge zeige, daß wir die ›Dinge an sich‹ erkennen. Die Naturwissenschaft, die bei Korn als die Wissenschaft schlechtweg auftritt, tut dies also vor allem als Fundament der Technik. Die Technik aber ist offenbar kein rein naturwissenschaftlicher Tatbestand. Sie ist zugleich ein geschichtlicher. Als solcher zwingt sie, die positivistische, undialektische Trennung zu überprüfen, die man zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu etablieren suchte. Die Fragen, die die Menschheit der Natur vorlegt, sind vom Stande ihrer Produktion mitbedingt. Das ist der Punkt, an dem der Positivismus scheitert. Er konnte in der Entwicklung der Technik nur die Fortschritte der Naturwissenschaft, nicht die Rückschritte der Gesellschaft erkennen. Daß diese Entwicklung durch den Kapitalismus entscheidend mitbedingt wurde, übersah er. Und ebenso entging den Positivisten unter den sozialdemokratischen Theoretikern, daß diese Entwicklung den immer dringlicher sich erweisenden Akt, mit dem das Proletariat sich in den Besitz dieser Technik bringen sollte, zu einem immer prekäreren werden ließ. Die destruktive Seite dieser Entwicklung verkannten sie, weil sie der destruktiven Seite der Dialektik entfremdet waren. Eine Prognose war fällig, und sie blieb aus. Das besiegelte einen Verlauf, der für das vergangene Jahrhundert kennzeichnend ist: nämlich die verunglückte Rezeption der Technik. Sie besteht in einer Folge schwungvoller, immer erneuter Anläufe, die samt und sonders den Umstand zu überspringen suchen, daß dieser Gesellschaft die Technik nur zur Erzeugung von Waren dient. Die Saint-Simonisten mit ihrer Industrie-Dichtung stehen am Anfang; es folgt der Realismus eines Du Camp, der in der Lokomotive die Heilige der Zukunft sieht; den Beschluß macht ein Ludwig Carl Korn, Proletariat und Klassik. In: Die Neue Zeit. XXVI. Stuttgart 1908, II, S. 414/415. 12 Vgl. August Bebel, Die Frau und der Sozialismus. (Die Frau in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.) 10. Aufl., Stuttgart 1891, S. 177–79 und S. 333–36 über die Umwälzung der Hauswirtschaft durch die Technik, S. 200/201 über die Frau als Erfinderin. 11
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Pfau: »Es ist ganz unnötig«, schrieb er, »ein Engel zu werden, und die Eisenbahn ist mehr werth als das schönste Paar Flügel!«13 Dieser Blick auf die Technik fiel aus der »Gartenlaube«. Und man mag sich aus solchem Anlaß fragen, ob die ›Gemütlichkeit‹, deren sich das Bürgertum des Jahrhunderts freute, nicht aus dem dumpfen Behagen stammt, niemals erfahren zu müssen, wie sich die Produktivkräfte unter seinen Händen entwickeln mußten. Diese Erfahrung blieb denn auch wirklich dem Jahrhundert, das folgte, vorbehalten. Es erlebt, wie die Schnelligkeit der Verkehrswerkzeuge, wie die Kapazität der Apparaturen, mit denen man Wort und Schrift vervielfältigt, die Bedürfnisse überflügelt. Die Energien, die die Technik jenseits dieser Schwelle entwickelt, sind zerstörende. Sie fördern in erster Linie die Technik des Kriegs und die seiner publizistischen Vorbereitung. Von dieser Entwicklung, die durchaus eine klassenbedingte gewesen ist, darf man sagen, daß sie sich im Rücken des vorigen Jahrhunderts vollzogen hat. Ihm sind die zerstörenden Energien der Technik noch nicht bewußt gewesen. Das gilt zumal von der Sozialdemokratie der Jahrhundertwende. Wenn sie den Illusionen des Positivismus an dieser oder jener Stelle entgegentrat, so blieb sie im ganzen in ihnen befangen. Die Vergangenheit erschien ihr ein für allemal in die Scheuern der Gegenwart eingebracht; mochte die Zukunft Arbeit in Aussicht stellen, so doch die Gewißheit des Erntesegens.
III In dieser Epoche hat sich Eduard Fuchs gebildet, und entscheidende Züge seines Werkes entstammen ihr. Es nimmt, um das formelhaft auszusprechen, an der Problematik teil, die von der Kulturgeschichte untrennbar ist. Diese Problematik verweist auf den zitierten Engelsschen Text zurück. Man könnte glauben, den locus classicus in ihm zu haben, der den historischen Materialismus als Geschichte der Kultur definiert. Muß nicht das der wahre Sinn dieser Stelle sein? Muß nicht das Studium der einzelnen Disziplinen, denen der Schein ihrer Geschlossenheit nun genommen ist, in dem der Kulturgeschichte als demjenigen des Inventars zusammenfließen, das die Menschheit sich bis heute gesichert hat? In Wahrheit würde der dergestalt Fragende an die Stelle der vielen und problematischen Einheiten, die die Geistesgeschichte (als Geschichte der Literatur und Kunst, des Rechts oder der Religion) umfaßt, nur eine neue, problematischste setzen. Die Abgehobenheit, in der die Kulturgeschichte ihre Inhalte präsentiert, ist für den historischen Materialisten eine scheinhafte und von einem falschen Bewußtsein gestiftete.14 Er steht ihr zuZitiert von David Bach, John Ruskin. In: Die Neue Zeit. XVIII. Stuttgart 1900, I, S. 728. Charakteristischen Ausdruck hat dieses scheinhafte Moment in Alfred Webers Begrüßungsansprache auf dem deutschen Soziologentage von 1912 gefunden. »Erst … wenn das Leben 13
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rückhaltend gegenüber. Berechtigen zu solcher Zurückhaltung würde ihn die bloße Inspektion des Gewesenen selbst: was er an Kunst und an Wissenschaft überblickt, ist samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen betrachten kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern in mehr oder minderem Grade auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Dem Grundsätzlichen dieses Tatbestandes ist noch keine Kulturgeschichte gerecht geworden, und sie kann das auch schwerlich hoffen. Dennoch liegt nicht hier das Entscheidende. Ist der Begriff der Kultur für den historischen Materialismus ein problematischer, so ist ihr Zerfall in Güter, die der Menschheit ein Objekt des Besitzes würden, ihm eine unvollziehbare Vorstellung. Das Werk der Vergangenheit ist ihm nicht abgeschlossen. Keiner Epoche sieht er es dinghaft, handlich in den Schoß fallen, und an keinem Teil. Als ein Inbegriff von Gebilden, die unabhängig, wenn nicht von dem Produktionsprozeß, in dem sie entstanden, so doch von dem, in welchem sie überdauern, betrachtet werden, trägt der Begriff der Kultur ihm einen fetischistischen Zug. Sie erscheint verdinglicht. Ihre Geschichte wäre nichts als der Bodensatz, den die durch keinerlei echte, d. i. politische Erfahrung im Bewußtsein der Menschen aufgestöberten Denkwürdigkeiten gebildet haben. Im übrigen kann man nicht außer acht lassen, daß noch keine Geschichtsdarstellung, die auf kulturhistorischer Grundlage unternommen wurde, dieser Problematik entronnen ist. Sie ist handgreiflich in der groß angelegten »Deutschen Geschichte« von Lamprecht, welche die Kritik der »Neuen Zeit« aus begreiflichen Gründen mehr als einmal beschäftigt hat. »Lamprecht«, schreibt Mehring, »ist bekanntlich unter den bürgerlichen Historikern derjenige, der sich am meisten dem historischen Materialismus genähert hat.« Jedoch »Lamprecht ist auf halbem Weg stehen geblieben … Jeder Begriff einer historischen Methode hört … auf, wenn Lamprecht die ökonomische und kulturelle Entwicklung nach einer bestimmten Methode behandeln will, die politische Entwicklung derselben Zeit aber aus einigen
von seinen Notwendigkeiten und Nützlichkeiten zu einem über diesen stehenden Gebilde geworden ist, erst dann gibt es Kultur.« In diesem Kulturbegriff schlummerten Keime der Barbarei, die sich inzwischen entfaltet haben. Kultur erscheint als etwas »für die Fortexistenz des Lebens Überflüssiges, was wir doch gerade als … dasjenige, wofür es da ist, fühlen«. Kurz, die Kultur existiert nach Art eines Kunstwerks, »das vielleicht ganze Lebensformen und Lebensgrundsätze in Verwirrung bringt, das zersetzend und zerbrechend wirken kann, und dessen Existenz wir doch als höher fühlen als alles Gesunde und Lebendige, was dadurch zerstört wird«. (Alfred Weber, Der soziologische Kulturbegriff. In: Verhandlungen des Zweiten Deutschen Soziologentages. Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. I. Serie, II. Band. Tübingen 1913, S. 11/12.) Fünfundzwanzig Jahre, nachdem das gesagt wurde, haben Kulturstaaten es als ihre Ehre in Anspruch genommen, solchen Kunstwerken zu gleichen, solche zu sein.
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anderen Historikern kompilirt.«15 Gewiß ist die Darstellung der Kulturgeschichte auf Basis der pragmatischen Historie ein Widersinn. Tiefer liegt aber der Widersinn einer dialektischen Kulturgeschichte an sich, da das Kontinuum der Geschichte, von der Dialektik gesprengt, an keinem Teil eine weitere Streuung erleidet, als an dem, welchen man Kultur nennt. Kurz, nur scheinbar stellt die Kulturgeschichte einen Vorstoß der Einsicht dar, nicht einmal scheinbar einen der Dialektik. Denn es fehlt ihr das destruktive Moment, das das dialektische Denken wie die Erfahrung des Dialektikers als authentische sicherstellt. Sie vermehrt wohl die Last der Schätze, die sich auf dem Rücken der Menschheit häufen. Aber sie gibt ihr die Kraft nicht, diese abzuschütteln, um sie dergestalt in die Hand zu bekommen. Das gleiche gilt von der sozialistischen Bildungsarbeit um die Jahrhundertwende, welche die Kulturgeschichte zum Leitstern hatte.
IV Der geschichtliche Umriß des Werkes von Fuchs profiliert sich vor diesem Hintergrund. Wo es Bestand und Dauer hat, da ist es einer geistigen Konstellation abgerungen, wie sie widriger selten erschienen ist. Und hier ist es der Sammler Fuchs, der den Theoretiker vieles erfassen lehrte, wozu seine Zeit ihm den Zugang sperrte. Es war der Sammler, der auf Grenzgebiete geriet – das Zerrbild, die pornographische Darstellung –, an denen eine Reihe Schablonen aus der überkommenen Kunstgeschichte früher oder später zuschanden werden. Es ist zunächst zu bemerken, daß Fuchs mit der klassizistischen Kunstauffassung, deren Spur auch bei Marx noch erkennbar ist, auf der ganzen Linie gebrochen hat. Die Begriffe, in denen das Bürgertum diese Kunstauffassung entwickelt hatte, sind bei Fuchs nicht mehr im Spiele: nicht der schöne Schein, nicht die Harmonie, nicht die Einheit des Mannigfaltigen. Und die gleiche robuste Selbstbehauptung des Sammlers, die den Autor den klassizistischen Theorien entfremdet hat, macht sich bisweilen, drastisch und brüsk, der Antike selbst gegenüber geltend. Im Jahre 1908 prophezeit er, gestützt auf das Werk der Rodin und Slevogt, eine neue Schönheit, »die in ihren schließlichen Resultaten noch unendlich größer zu werden verspricht als die der Antike. Denn wo diese nur höchste animalische Form war, wird die neue Schönheit ausgefüllt sein mit einem grandiosen geistig-seelischen Inhalt.«16 Franz Mehring, Akademisches. In: Die Neue Zeit. XVI. Stuttgart 1898, I, S. 195/196. Erotische Kunst, Bd. I, S. 125. – Die stete Bezugnahme auf die zeitgenössische Kunst gehört zu den wichtigsten Impulsen des Sammlers Fuchs. Auch sie kommt ihm teilweise von den großen Schöpfungen der Vergangenheit. Seine unvergleichliche Kenntnis der älteren Karikatur 15 16
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Kurz, die Wertordnung, die bei Winckelmann oder Goethe einst die Kunstbetrachtung bestimmte, hat bei Fuchs jeden Einfluß verloren. Freilich wäre es irrig, darum zu meinen, daß so die idealistische Kunstbetrachtung selber aus den Angeln gehoben sei. Das kann früher der Fall nicht sein als die disiecta membra, welche der Idealismus als ›geschichtliche Darstellung‹ einerseits und als ›Würdigung‹ andererseits in der Hand hält, eines geworden und als solche überholt worden sind. Das zu leisten, bleibt einer Geschichtswissenschaft vorbehalten, deren Gegenstand nicht von einem Knäuel purer Tatsächlichkeiten, sondern von der gezählten Gruppe von Fäden gebildet wird, die den Einschuß einer Vergangenheit in die Textur der Gegenwart darstellen. (Man würde fehlgehen, diesen Einschuß mit dem bloßen Kausalnexus gleichzusetzen. Er ist vielmehr ein durchaus dialektischer, und jahrhundertelang können Fäden verloren gewesen sein, die der aktuale Geschichtsverlauf sprunghaft und unscheinbar wieder aufgreift.) Der geschichtliche Gegenstand, der der puren Faktizität enthoben ist, bedarf keiner ›Würdigung‹. Denn er bietet nicht vage Analogien zur Aktualität, sondern konstituiert sich in der präzisen dialektischen Aufgabe, die ihr zu lösen obliegt. Darauf ist es in der Tat abgesehen. Wenn an nichts anderem, so wäre dies an dem pathetischen Zuge fühlbar, der den Text oft dem Vortrag nähert. Doch ist andererseits daran kenntlich, daß nicht weniges in der Absicht und im Anlauf befangen blieb. Das grundsätzlich Neue der Intention kommt zu ungebrochenem Ausdruck vor allem da, wo ihr der stoffliche Vorwurf entgegenkommt. Das geschieht in der Deutung des Ikonographischen, in der Betrachtung der Massenkunst, in dem Studium der Reproduktionstechnik. Diese Teile des Fuchsschen Werkes sind bahnbrechend. Sie sind Bestandteile einer jeden künftigen materialistischen Betrachtung von Kunstwerken. Den drei genannten Motiven ist eines gemeinsam: sie enthalten eine Anweisung auf Erkenntnisse, die sich an der hergebrachten Kunstauffassung nicht anders erweisen können als destruktiv. Die Befassung mit der Reproduktionstechnik erschließt, wie kaum eine andere Forschungsrichtung, die entscheidende Bedeutung der Rezeption; sie gestattet damit, den Prozeß der Verdinglichung, der am Kunstwerk statthat, in gewissen Grenzen zu korrigieren. Die Betrachtung der Massenkunst führt zur Revision des Geniebegriffs; sie legt nahe, über der Inspiration, die am Werden des Kunstwerks teilhat, die Faktur nicht zu übersehen, die allein ihr
erschließt Fuchs früh die Arbeiten eines Toulouse-Lautrec, eines Heartfield und eines George Grosz. Seine Passion für Daumier führt ihn zu Slevogts Werk, dessen Don Quichote-Konzeption ihm als die einzige vor Augen schwebt, die sich neben Daumier halten kann. Seine Studien über Keramik geben ihm alle Autorität, einen Emil Pottner zu fördern. Sein Leben lang hat Fuchs mit bildenden Künstlern in freundschaftlichem Verkehr gestanden. Es ist daher nicht verwunderlich, daß seine Art, Kunstwerke anzusprechen, oft mehr die des Künstlers als des Historikers ist.
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gestattet, fruchtbar zu werden. Endlich erweist sich die ikonographische Auslegung nicht allein unentbehrlich für das Studium der Rezeption und der Massenkunst; sie verwehrt vor allem die Übergriffe, zu denen jeder Formalismus alsbald verführt.17 Fuchs hat sich mit dem Formalismus befassen müssen. Wölfflins Lehre war im Aufstieg zur gleichen Zeit als Fuchs die Fundamente seines Werks gründete. In seinem »Individuellen Problem« knüpft er an einen Grundsatz aus der »Klassischen Kunst« Wölfflins an. Dieser Grundsatz lautet: »So sind Quattrocento und Cinquecento als Stilbegriffe mit einer stofflichen Charakteristik nicht zu erledigen. Das Phänomen … weist auf eine Entwicklung des künstlerischen Sehens, die von einer besonderen Gesinnung und von einem besonderen Schönheitsideal im wesentlichen unabhängig ist.«18 Gewiß kann diese Formulierung dem historischen Materialisten Anstoß bieten. Aber sie enthält doch auch Förderliches; denn gerade er ist nicht so sehr daran interessiert, die Veränderung des künstlerischen Sehens auf ein gewandeltes Schönheitsideal als auf elementarere Prozesse zurückzuführen – Prozesse, wie sie durch ökonomische und technische Wandlungen in der Produktion angebahnt werden. Was den gegebenen Fall betrifft, so würde der schwerlich leer ausgehen, der sich mit der Frage befassen wollte, welche wirtschaftlich bedingten Veränderungen im Wohnbau die Renaissance mit sich brachte und welche Rolle die Renaissancemalerei als Prospekt der neuen Architektur und als Illustration des durch sie ermöglichten Auftretens denn gespielt habe.19 Freilich streift Wölfflin diese Frage nur flüchtig. Wenn aber Fuchs gegen ihn geltend macht: »Gerade diese formalen Momente … sind es, die sich nirgends anders her erklären lassen als aus der veränderten Stimmung der Zeit«20, so weist das doch in erster Linie auf die erwähnte Bedenklichkeit von kulturhistorischen Kategorien hin.
Der Meister ikonographischer Interpretation dürfte Emile Mâle sein. Seine Untersuchungen beschränken sich auf die Plastik der französischen Kathedralen des 12. bis 15. Jahrhunderts und überschneiden sich demnach nicht mit denen von Fuchs. 18 Heinrich Wölfflin, Die klassische Kunst. Eine Einführung in die italienische Renaissance. München 1899, S. 275. 19 Die ältere Tafelmalerei gab dem Menschen als Quartier nicht mehr als ein Schilderhäuschen. Die Maler der Frührenaissance haben zum ersten Mal Innenräume ins Bild gesetzt, in denen die dargestellten Figuren Spielraum haben. Das machte die Erfindung der Perspektive durch Uccello den Zeitgenossen und ihm selber so überwältigend. Die Malerei, die von nun ab ihre Schöpfungen mehr als vordem den Wohnenden (statt wie einstmals den Betenden) widmete, gab ihnen Vorlagen ihres Wohnens, wurde nicht müde, Perspektiven der Villa vor ihnen aufzustellen. Die Hochrenaissance, sehr viel sparsamer in der Darstellung des eigentlichen Interieurs, baute doch auf diesen Grund auf. »Das Cinquecento hat ein besonders starkes Gefühl für die Relation zwischen Mensch und Bauwerk, für die Resonanz eines schönen Raumes. Es kann sich fast keine Existenz denken ohne architektonische Fassung und Fundamentierung.« (Wölfflin, a. a.O., S. 227.) 20 Erotische Kunst, Bd. II, S. 20. 17
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Es ergibt sich an mehr als einer Stelle, daß Polemik, auch Diskussion, auf dem Wege des Schriftstellers Fuchs nicht liegt. Die eristische Dialektik, die nach Hegels Definition »in die Kraft des Gegners eingeht, um ihn von innen her zu vernichten«, ist, so streitbar Fuchs erscheint, in seinem Arsenal nicht zu finden. Bei den Forschern, die auf Marx und Engels folgten, ließ die destruktive Kraft des Gedankens nach, der nun nicht mehr das Jahrhundert in die Schranken zu fordern wagte. Schon bei Mehring hat sich ihr Tonus in der Fülle der Scharmützel herabgestimmt. Immerhin leistete er mit der »Lessing-Legende« Erhebliches. Er zeigte, welcher Heerbann politischer, aber auch wissenschaftlicher und theoretischer Energien in den großen Werken der Klassik aufgebracht worden war. Er bekräftigte so seine Abneigung gegen den belletristischen Schlendrian seiner Zeitgenossen. Er kam zu der männlichen Erkenntnis, die Kunst habe ihre Wiedergeburt erst von dem ökonomisch-politischen Siege des Proletariats zu erwarten. Und zu der unbestechlichen: »In seinen Befreiungskampf vermag sie nicht tief einzugreifen.«21 Die Entwicklung der Kunst hat ihm Recht gegeben. Seine Erkenntnisse verwiesen Mehring mit verdoppeltem Nachdruck auf das Studium der Wissenschaft. Er erwarb in ihm die Solidität und Strenge, die ihn gegen den Revisionismus gefeit machten. So formten sich in seinem Charakterbild Züge, die im besten Sinn bürgerliche zu nennen, doch weit entfernt sind, den Dialektiker zu gewährleisten. Sie begegnen bei Fuchs nicht minder. Und vielleicht stechen sie bei ihm mehr hervor, weil sie einer expansiveren und sensualistischer gearteten Veranlagung einverleibt sind. Wie dem auch sei – man könnte sich sein Portrait wohl in eine Galerie bürgerlicher Gelehrtenköpfe versetzt denken. Als Nachbarn mag man ihm Georg Brandes geben, mit dem er den rationalistischen Furor, die Leidenschaft teilt, über weite geschichtliche Räume mit der Fackel des Ideals (des Fortschritts, der Wissenschaft, der Vernunft) Licht zu verbreiten. Auf der anderen Seite mag man sich Adolf Bastian, den Ethnologen denken. An ihn erinnert Fuchs vor allem in seinem unersättlichen Materialhunger. Und wie Bastian zu legendärem Ruf durch seine Bereitschaft gekommen war, jederzeit, wenn es eine Frage zu klären galt, mit dem Handköfferchen aufzubrechen und eine Expedition anzutreten, die ihn monatelang von der Heimat fernhielt, so war auch Fuchs jederzeit den Impulsen hörig, die ihn auf die Suche nach neuen Belegen trieben. Beider Werke werden unerschöpfliche Fundgruben für die Forschung bleiben.
Franz Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Zweiter Teil: Von Lassalles Offenem Antwortschreiben bis zum Erfurter Programm. (Geschichte des Sozialismus in Einzeldarstellungen. III, 2.) Stuttgart 1898, S. 546. 21
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V Es muß für den Psychologen eine bedeutsame Frage sein, wie ein Enthusiast, eine dem Positiven zugekehrte Natur, zur Passion für die Karikatur gelangen kann. Er beantworte sie nach Gefallen – der Tatbestand läßt, was Fuchs angeht, keinen Zweifel zu. Von vornherein unterscheidet sein Kunstinteresse sich von dem, was man wohl ›Freude am Schönen‹ nennt. Von vornherein ist die Wahrheit ins Spiel gemischt. Fuchs wird nicht müde, den Quellenwert, die Autorität der Karikatur zu betonen. »Die Wahrheit liegt im Extrem«, formuliert er gelegentlich. Er geht weiter: die Karikatur ist ihm »gewissermaßen die Form …, von der alle objektive Kunst ausgeht. Ein einziger Blick in die ethnographischen Museen belegt diesen Satz.«22 Wenn Fuchs die prähistorischen Völker, die Kinderzeichnung heranzieht, so tritt vielleicht der Begriff der Karikatur in einen problematischen Zusammenhang – desto ursprünglicher bekundet sich das vehemente Interesse, das er den drastischen Gehalten des Kunstwerks, mögen sie inhaltlicher23 oder formaler Art sein, entgegenbringt. Dieses Interesse durchzieht sein Werk in der ganzen Breite. Noch in der späten »Tang-Plastik« lesen wir: »Das Groteske ist die höchste Steigerung des Sinnlich-Vorstellbaren … In diesem Sinne sind die grotesken Gebilde zugleich der Ausdruck der strotzenden Gesundheit einer Zeit … Gewiß darf nicht bestritten werden, daß es hinsichtlich der Triebkräfte des Grotesken auch einen krassen Gegenpol gibt. Auch dekadente Zeiten und kranke Gehirne neigen zu grotesken Gestaltungen. In solchen Fällen ist das Groteske das erschütternde Widerspiel der Tatsache, daß den betreffenden Zeiten und Individuen die Welt- und Daseinsprobleme unlösbar erscheinen … Welche von diesen beiden Tendenzen hinter einer grotesken Phantasie als schöpferische Antriebskraft steht, ist auf den ersten Blick erkenntlich.«24 Die Stelle ist instruktiv. Es kommt in ihr besonders deutlich zum Vorschein, worauf die Wirkung ins Breite, die besondere Popularität der Werke von Fuchs beruht. Das ist die Gabe, die Grundbegriffe, in denen seine Darstellung sich bewegt, alsbald mit Wertungen zu legieren. Das geschieht oft auf massive Art.25 Zudem sind diese Wertungen stets extrem. Sie treten polar auf und polarisieren derart den Be-
Karikatur, Bd. I, S. 4. Vgl. die schöne Bemerkung zu den Daumierschen Figuren von Proletarierinnen: »Wer solche Stoffe als bloße Bewegungsmotive ansieht, beweist, daß ihm die letzten Triebkräfte, die wirksam werden müssen, um erschütternde Kunst zu gestalten, ein versiegeltes Buch sind … Gerade deshalb, … weil es sich in diesen Bildern um etwas ganz anderes als um … ›Bewegungsmotive‹ handelt, werden diese Werke ewig leben als … erschütternde Denkmäler der Knechtung des mütterlichen Weibes im neunzehnten Jahrhundert.« (Der Maler Daumier, S. 28.) 24 Tang-Plastik, S. 44. 25 Vgl. die These über die erotische Wirkung des Kunstwerks: »Je intensiver diese Wirkung ist, um so größer ist die künstlerische Qualität.« (Erotische Kunst, Bd. I, S. 68.) 22 23
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griff, mit dem sie verschmolzen sind. So in der Darstellung des Grotesken, so in der der erotischen Karikatur. In den Zeiten des Niederganges ist sie »Schmutz« und »kitzelnde Pikanterie«, in den Zeiten des Aufstiegs »Ausdruck überschäumender Lust und strotzender Kraft«26. Bald sind es die Wertbegriffe der Blütezeit und des Niederganges, bald die des Gesunden und Kranken, die Fuchs heranzieht. Grenzfällen, an denen sich ihre Problematik erweisen könnte, geht er aus dem Wege. Mit Vorliebe hält er sich an das »ganz Große«, das das Vorrecht hat, »dem Hinreißenden im Einfachsten« Raum zu geben.27 Gebrochene Kunstepochen, wie das Barock, würdigt er wenig. Die große Zeit ist auch ihm noch die Renaissance. Hier behält sein Kultus des Schöpfertums über seine Abneigung gegen die Klassik die Oberhand. Der Begriff des Schöpferischen hat bei Fuchs einen starken Einschlag ins Biologische. Und während das Genie mit Attributen auftritt, die bisweilen das Priapische streifen, erscheinen Künstler, von denen der Autor sich distanziert, gern geschmälert in ihrer Männlichkeit. Es trägt den Stempel solcher biologistischen Anschauungsweise, wenn Fuchs sein Urteil über die Greco, Murillo, Ribera in der Konstatierung zusammenfaßt: »Alle drei wurden speziell deshalb die klassischen Vertreter des Barockgeistes, weil jeder in seiner Art zugleich ein ›verkorkster‹ Erotiker ist.«28 Man darf nicht aus dem Auge verlieren, daß Fuchs seine Grundbegriffe in einer Epoche entwickelte, der die ›Pathographie‹ den letzten Standard der Kunstpsychologie, Lombroso und Möbius Autoritäten vorstellten. Und der Geniebegriff, der durch die einflußreiche »Kultur der Renaissance« von Burckhardt zur gleichen Zeit mit reichem Anschauungsmaterial erfüllt wurde, nährte aus anderen Quellen die gleiche weitverbreitete Überzeugung, Schöpfertum sei vor allem anderen eine Manifestation überschäumender Kraft. Verwandte Tendenzen waren es, die Fuchs später zu Konzeptionen führten, die der Psychoanalyse verwandt sind; er hat sie als erster für die Kunstwissenschaft fruchtbar gemacht. Das Eruptive, Unmittelbare, das dem künstlerischen Schaffen nach dieser Anschauung das Gepräge gibt, beherrscht für Fuchs nicht minder das Auffassen von Werken der Kunst. So ist es oft nicht mehr als ein Sprung, der bei ihm zwischen Apperzeption und Urteil liegt. In der Tat ist der ›Eindruck‹ ihm nicht nur der selbstverständliche Anstoß, den der Betrachter vom Werk erfährt, sondern Kategorie der Betrachtung selbst. Wenn Fuchs beispielsweise seine kritische Reserve gegen den artistischen Formalismus der Ming-Epoche zu erkennen gibt, so faßt er das dahin zusammen, daß deren Werke »schließlich und endlich … nicht mehr, sondern sehr
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Karikatur, Bd. I, S. 23. Dachreiter, S. 39. Die großen Meister der Erotik, S. 115.
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oft nicht einmal dasselbe an Eindruck … erreichen, was z. B. die Tang-Periode mit … ihrer großen Linie erreicht hat«29. Derart kommt der Schriftsteller Fuchs zu dem besonderen und apodiktischen, um nicht zu sagen dem rustikalen Stil, dessen Prägung er meisterhaft formuliert, wenn er in der »Geschichte der Erotischen Kunst« erklärt: »Vom richtigen Erfühlen bis zum richtigen und restlosen Entziffern der in einem Kunstwerk wirkenden Kräfte ist immer nur ein einziger Schritt.«30 Nicht jedem ist dieser Stil erreichbar; Fuchs hat seinen Preis für ihn zahlen müssen. Um den Preis mit einem Wort anzudeuten: die Gabe, Staunen zu erregen, ist dem Schriftsteller versagt geblieben. Kein Zweifel, daß dieser Ausfall ihm fühlbar gewesen ist. Er sucht ihn aufs mannigfachste zu kompensieren und spricht von nichts lieber als von Geheimnissen, denen er in der Psychologie des Schaffens nachgeht, als von Rätseln des Geschichtsverlaufes, die ihre Lösung im Materialismus finden. Aber der Drang nach unmittelbarster Bewältigung der Tatbestände, der schon seine Konzeption des Schaffens bestimmt und die der Rezeption ebenso, setzt sich schließlich auch in der Analyse durch. ›Notwendig‹ erscheint der Verlauf der Kunstgeschichte, ›organisch‹ erscheinen die Stilcharaktere, ›logisch‹ erscheinen noch die befremdlichsten Kunstgebilde. Sie werden es seltener im Laufe der Analyse als sie es, dem Eindruck nach, schon zuvor waren, wie jene Fabelwesen der Tang-Epoche, die mit ihren Flammenflügeln und Hörnern »absolut logisch«, »organisch« wirken. »Logisch wirken selbst die riesigen Elefantenohren; logisch ist auch stets die Haltung … Es handelt sich nie bloß um konstruierte Begriffe, sondern stets um die zur lebenatmenden Form gewordene Idee.«31
Dachreiter, S. 40. Erotische Kunst, Bd. II, S. 186. 31 Tang-Plastik, S. 30/31. – Problematisch wird diese intuitive, unmittelbare Anschauungsweise dann, wenn sie den Tatbestand einer materialistischen Analyse erfüllen will. Es ist bekannt, daß Marx sich nirgends eingehender darüber ausgelassen hat, wie man sich das Verhältnis des Überbaus zum Unterbau im einzelnen zu denken habe. Feststeht nur, daß er eine Folge von Vermittlungen, gleichsam Transmissionen, im Auge hatte, die sich zwischen die materiellen Produktionsverhältnisse und die entfernteren Domänen des Überbaus, zu denen die Kunst zählt, einschalten. So auch Plechanow: »Wenn die Kunst, die von den höheren Klassen geschaffen wird, in keiner direkten Beziehung zu dem Produktionsprozeß steht, so ist dies in letzter Linie … aus ökonomischen Ursachen zu erklären. Die materialistische Geschichtserklärung ist … auch für diesen Fall anwendbar; es ist jedoch selbstverständlich, daß der unzweifelhafte kausale Zusammenhang zwischen Sein und Bewußtsein, zwischen sozialen Verhältnissen, welche die ›Arbeit‹ als Grundlage haben, einerseits und der Kunst andererseits in diesem Falle nicht so leicht zutage tritt. Hier entstehen … einige Zwischenstationen.« (Georgi Plechanow, Das französische Drama und die französische Malerei im achtzehnten Jahrhundert vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung. In: Die Neue Zeit. XXIX. Stuttgart 1911, I, S. 543/544.) Soviel ist deutlich, daß die klassische Geschichtsdialektik von Marx hier kausale Abhängigkeiten für gegeben erachtet. In der späteren Praxis ist man laxer vorgegangen und hat sich oft 29
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Hier kommen Vorstellungsreihen zur Geltung, die mit den sozialdemokratischen Lehren der Epoche aufs engste zusammenhängen. Es ist bekannt, wie tief die Wirkung des Darwinismus auf die Entwicklung der sozialistischen Geschichtsauffassung gewesen ist. In der Zeit der Verfolgung durch Bismarck kam diese Wirkung der ungebrochenen Zuversicht der Partei und der Entschiedenheit ihres Kampfes zugute. Später, im Revisionismus, bürdete die evolutionistische Geschichtsbetrachtung um so mehr der ›Entwicklung‹ auf, je weniger die Partei das Errungene im Einsatz gegen den Kapitalismus aufs Spiel setzen wollte. Die Geschichte nahm deterministische Züge an; der Sieg der Partei ›konnte nicht ausbleiben‹. Fuchs hat dem Revisionismus stets ferngestanden; sein politischer Instinkt, sein martialisches Namit Analogien begnügt. Möglich, daß das mit dem Anspruch zusammenhing, die bürgerlichen Literatur- und Kunstgeschichten durch nicht minder großangelegte materialistische zu ersetzen. Dieser Anspruch gehört zur Signatur der Epoche; er ist von wilhelminischem Geist getragen. Er hat auch von Fuchs seinen Tribut gefordert. Ein Lieblingsgedanke des Autors, der in vielen Varianten zum Ausdruck kommt, statuiert realistische Kunstepochen für Handelsstaaten. So für das Holland des siebzehnten wie für das China des achten und neunten Jahrhunderts. Ausgehend von der Analyse der chinesischen Gartenwirtschaft, an der viele Züge des Kaiserreiches erläutert werden, wendet sich Fuchs der neuen Plastik zu, die unter der Herrschaft der Tang entsteht. Die monumentale Erstarrung des Han-Stiles lockert sich; das Interesse der anonymen Meister, die die Töpferarbeiten bildeten, gilt von nun an der Bewegung bei Mensch und Tier. »Die Zeit«, führt Fuchs aus, »ist in jenen Jahrhunderten in China aus ihrer großen Ruhe erwacht …, denn Handel bedeutet stets gesteigertes Leben und Bewegung. Also mußte in erster Linie Leben und Bewegung in die Kunst der Tang-Zeit kommen … Und dieses Merkmal ist auch das erste, das einem in die Augen springt. Während zum Beispiel die Tiere der Han-Periode immer noch schwer und wuchtig in ihrem ganzen Habitus sind …, ist bei denen der Tang-Zeit … alles Lebendigkeit, jedes Glied in Bewegung.« (Tang-Plastik, S. 41/42.) Diese Betrachtungsweise beruht auf bloßer Analogie – Bewegung im Handel wie in der Plastik – und man könnte sie geradezu nominalistisch nennen. In der Analogie bleibt ebenfalls der Versuch, die Aufnahme der Antike in der Renaissance durchsichtig zu machen, befangen. »Die wirtschaftliche Basis war in beiden Epochen dieselbe, nur daß sie sich in der Renaissance auf einer höheren Stufenleiter der Entwicklung befand. Beide basierten auf dem Warenhandel.« (Erotische Kunst, Bd. I, S. 42.) Am Ende erscheint der Handel selbst als Subjekt der Kunstübung, und es heißt: »Der Handel muß mit den gegebenen Größen rechnen, und er kann nur konkrete, nachprüfbare Größen in Rechnung stellen. So muß er der Welt und den Dingen gegenübertreten, wenn er sie wirtschaftlich bewältigen will. Also ist auch seine künstlerische Anschauung von den Dingen eine in jeder Hinsicht reale.« (Tang-Plastik, S. 42.) Man mag davon absehen, daß in der Kunst eine ›in jeder Hinsicht reale‹ Darstellung nicht zu finden ist. Grundsätzlich wäre zu sagen, daß ein Zusammenhang, der in genau gleicher Weise für die Kunst von Altchina und von Altholland Geltung beansprucht, problematisch erscheint. Er besteht in der Tat so nicht; es genügt ein Blick auf die Republik Venedig. Sie blühte durch ihren Handel; die Kunst Palma Vecchios, Tizians oder Veroneses war dennoch schwerlich eine ›in jeder Hinsicht‹ realistische. Der Aspekt des Lebens, der uns in ihr entgegentritt, ist allein der repräsentative und festliche. Auf der andern Seite erfordert das Erwerbsleben auf allen seinen Entwicklungsstufen einen beträchtlichen Sinn für die Realität. Der Materialist kann daraus auf die Stilgebarung keinerlei Schlüsse ziehen.
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turell führten ihn auf den linken Flügel. Als Theoretiker aber hat er sich jenen Einflüssen nicht entziehen können. Man spürt sie überall am Werk. Damals führte ein Mann wie Ferri nicht nur die Prinzipien, sondern auch die Taktik der Sozialdemokratie auf Naturgesetze zurück. Für die anarchistischen Abweichungen machte er mangelnde Kenntnisse in der Geologie und Biologie haftbar. Gewiß haben Führer wie Kautsky sich mit solchen Abweichungen auseinandergesetzt.32 Dennoch fanden viele ihr Genüge an Thesen, die die geschichtlichen Vorgänge nach ›physiologischen‹ und ›pathologischen‹ sonderten oder aber den naturwissenschaftlichen Materialismus in den Händen des Proletariats ›selbsttätig‹ zum historischen erhoben zu sehen meinten.33 Ähnlich stellt sich für Fuchs der Fortschritt der menschlichen Gesellschaft als ein Prozeß dar, der sich »ebensowenig eindämmen läßt, wie man einen Gletscher in seinem steten Vorwärtsdrängen aufhalten kann«34. Die deterministische Auffassung paart sich demnach mit einem handfesten Optimismus. Nun wird auf die Dauer ohne Zuversicht keine Klasse mit Erfolg politisch eingreifen können. Aber es macht einen Unterschied, ob der Optimismus der Aktionskraft der Klasse gilt oder den Verhältnissen, unter denen sie operiert. Die Sozialdemokratie neigte dem zweiten, fragwürdigen Optimismus zu. Die Perspektive auf die beginnende Barbarei, die einem Engels in der »Lage der arbeitenden Klasse in England«, einem Marx in der Prognose der kapitalistischen Entwicklung aufgeblitzt war und heute selbst dem mittelmäßigen Staatsmann geläufig ist, war den Epigonen der Jahrhundertwende verbaut. Als Condorcet die Lehre vom Fortschritt verbreitet hatte, da hatte das Bürgertum vor dem Machtantritt gestanden; anders stand ein Jahrhundert später das Proletariat. Ihm konnte sie Illusionen erwecken. Diese bilden in der Tat noch den Hintergrund, in den die Geschichte der Kunst bei Fuchs hin und wieder den Ausblick freigibt: »Die Kunst von heute«, so meint er, »hat uns hundert Erfüllungen gebracht, die in den verschiedensten Richtungen weit über das hinausführen, was die Renaissancekunst erreicht hat, und die Kunst der Zukunft muß wiederum unbedingt das Höhere bedeuten.«35
Karl Kautsky, Darwinismus und Marxismus. In: Die Neue Zeit. XIII. Stuttgart 1895, I, S. 709/710. 33 H. Laufenberg, Dogma und Klassenkampf. In: Die Neue Zeit. XXVII. Stuttgart 1909, I, S. 574. – Der Begriff der Selbsttätigkeit ist hier traurig herabgekommen. Seine große Zeit liegt im achtzehnten Jahrhundert, als der Ausgleich der Märkte begann. Damals feierte er seinen Triumph ebensowohl bei Kant, in Gestalt der Spontaneität, wie in der Technik, in Gestalt der Automaten. 34 Karikatur, Bd. I, S. 312. 35 Erotische Kunst, Bd. I, S. 3. 32
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VI Das Pathos, das die Geschichtsauffassung von Fuchs durchzieht, ist das demokratische Pathos von 1830. Dessen Echo ist der Redner Victor Hugo gewesen. Das Echo des Echos sind jene Bücher, in denen Hugo als Redner zur Nachwelt spricht. Die Geschichtsauffassung von Fuchs ist die von Hugo im »William Shakespeare« gefeierte: »Der Fortschritt ist der Schritt Gottes selbst.« Und das allgemeine Stimmrecht erscheint als die Weltenuhr, nach der das Tempo dieser Schritte bemessen wird. »Qui vote règne«, hat Victor Hugo geschrieben, und er hat damit die Tafeln des demokratischen Optimismus aufgerichtet. Dieser Optimismus hat noch spät sonderbare Träumereien gezeitigt. Eine von ihnen gaukelte vor, daß »alle geistigen Arbeiter, somit auch materiell wie sozial sehr hoch gestellte Personen als Proletarier« zu betrachten seien. Denn es sei »eine nicht zu leugnende Thatsache, daß von dem in goldstrotzender Uniform sich blähenden Hofrath bis herab zum abgehetzten Lohnarbeiter, alle, die für Geld ihre Dienste anbieten, … wehrlose Opfer des Kapitalismus sind«36. Die Tafeln, die Victor Hugo aufgerichtet hatte, stehen noch über dem Werk von Fuchs. Übrigens bleibt Fuchs in der demokratischen Tradition, wenn er mit besonderer Liebe an Frankreich hängt: an dem Boden dreier großer Revolutionen, an der Heimat der Exilierten, an dem Ursprung des utopischen Sozialismus, an dem Vaterland der Tyrannenhasser Quinet und Michelet, an der Erde, in der die Kommunarden liegen. So lebte das Bild von Frankreich in Marx und Engels, so ist es auf Mehring gekommen, und so, als »die Avantgarde der Kultur und der Freiheit«37, ist das Land auch noch Fuchs erschienen. Er vergleicht den geflügelten Spott der Franzosen mit dem schwerfälligen der Deutschen; er vergleicht Heine mit den daheim Verbliebenen; er vergleicht den deutschen Naturalismus mit den satirischen Romanen von France. Und er ist auf diese Weise, wie Mehring, zu stichhaltigen Prognosen geleitet worden, ganz besonders im Falle von Gerhart Hauptmann.38 Frankreich ist eine Heimat auch für den Sammler Fuchs. Der Figur des Sammlers, die dem Betrachtenden je länger desto anziehender erscheint, ist bisher das ihre nicht oft geworden. Man sollte meinen, den romantischen Geschichtenerzählern hätte niemand verlockender sich bieten können als sie. Aber man sucht diesen von A. Max, Zur Frage der Organisation des Proletariats der Intelligenz, a. a.O., S. 652. Karikatur, Bd. II, S. 238. 38 Mehring hat den Prozeß, den »Die Weber« zur Folge hatten, in der »Neuen Zeit« kommentiert. Teile des Plädoyers des Verteidigers haben die Aktualität zurückgewonnen, die sie 1893 besessen haben. »Er müsse«, so führte der Anwalt aus, »geltend machen, daß den angezogenen, scheinbar revolutionären Stellen andere von abwiegelndem, besänftigendem Charakter entgegenständen. Der Dichter stehe auch gar nicht auf Seiten des Aufruhrs, er lasse vielmehr die Ordnung durch das Eingreifen einer handvoll Soldaten siegen.« (Franz Mehring, EntwederOder. In: Die Neue Zeit. XI. Stuttgart 1893, I, S. 780.) 36 37
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gefährlichen, wenn auch domestizierten Passionen bewegten Typ umsonst unter den Figurinen eines Hoffmann, Quincey oder Nerval. Romantisch sind die Figuren des Reisenden, des Flaneurs, des Spielers, des Virtuosen. Die des Sammlers findet sich nicht. Und man sucht sie vergeblich in den »Physiologien«, die sonst vom Camelot zum Salonlöwen keine Figur des Pariser Panoptikums unter Louis Philippe sich haben entgehen lassen. Desto bedeutsamer ist die Stelle, die der Sammler bei Balzac einnimmt. Balzac hat ihm ein Denkmal gesetzt, das ganz und gar nicht im romantischen Sinne behandelt ist. Er ist der Romantik von jeher fremd gewesen. Auch gibt es wenige Stücke in seinem Werk, in denen die antiromantische Position sich so überraschend ihr Recht verschafft wie in der Skizze des »Cousin Pons«. Dies ist vor allem kennzeichnend: so genau wir mit den Beständen der Sammlung, für die Pons lebt, bekannt werden, so wenig erfahren wir von der Geschichte ihres Erwerbs. Es gibt keine Stelle im »Cousin Pons«, die man mit den Seiten vergleichen könnte, auf denen die Goncourts in ihren Tagebüchern die Bergung eines seltenen Fundes mit atemraubender Spannung schildern. Balzac stellt nicht den Jäger in den Jagdgründen des Inventars dar, als den man jeden Sammler betrachten kann. Das Hochgefühl, von dem alle Fibern seines Pons, seines Elie Magus zittern, ist der Stolz – Stolz auf die unvergleichlichen Schätze, die sie mit nimmermüder Besorgnis hüten. Balzac legt allen Akzent auf die Darstellung des ›Besitzenden‹, und das Wort ›Millionär‹ läuft ihm als Synonym für das Wort ›Sammler‹ unter. Er spricht von Paris. »Man kann da oft«, heißt es, »einem Pons, einem Elie Magus begegnen, die sehr dürftig gekleidet sind … Sie sehen aus, als wenn sie auf nichts hielten und sich um nichts kümmerten; sie achten weder auf die Frauen noch auf die Auslagen. Sie gehen wie im Traum vor sich hin, ihre Taschen sind leer, ihr Blick ist gedankenlos, und man fragt sich, zu welcher Sorte von Parisern sie eigentlich gehören. – Diese Leute sind Millionäre. Sammler sind es; die leidenschaftlichsten Menschen, die es auf der Welt gibt.«39 Der Gestalt von Fuchs, ihrer Aktivität und Fülle, kommt das Bild, das Balzac vom Sammler entworfen hat, näher als das, welches man von einem Romantiker zu gewärtigen gehabt hätte. Ja man darf, auf den Lebensnerv des Mannes verweisend, sagen: Fuchs als Sammler ist echt balzacisch; er ist eine Balzacsche Figur, die über die Konzeption des Dichters hinausgewachsen ist. Was läge mehr in der Linie dieser Konzeption als ein Sammler, dessen Stolz, dessen Expansivität ihn dahin führt, daß er, um nur vor aller Augen mit seinen Sammlungen zu erscheinen, diese in Reproduktionswerken auf den Markt bringt und – eine nicht minder Balzacische Wendung – auf diese Weise ein reicher Mann wird. Es ist nicht nur die Gewissenhaftigkeit eines Mannes, der sich einen Konservator von Schätzen weiß, es ist auch der Exhibitionismus des großen Sammlers, der Fuchs veranlaßt hat, in jedem seiner 39
Honoré de Balzac, Le Cousin Pons. Paris 1925, S. 162.
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Werke ausschließlich unveröffentlichtes Bildmaterial, fast ausschließlich seinem eigenen Besitz entstammendes zu veröffentlichen. Allein für den ersten Band der »Karikatur der europäischen Völker« hat er nicht weniger als 68 000 Blätter kollationiert, um rund fünfhundert davon auszuwählen. Kein Blatt hat er jemals öfter als an einer einzigen Stelle reproduzieren lassen. Die Fülle seiner Dokumentation und die Breite seiner Wirkung gehören zusammen. Beide beglaubigen seine Abkunft von dem bürgerlichen Riesengeschlecht um 1830, wie Drumont es kennzeichnet. »Beinahe alle Führer der Schule von 1830«, schreibt Drumont, »hatten die gleiche außergewöhnliche Konstitution, die gleiche Fruchtbarkeit und den gleichen Hang zum Grandiosen. Delacroix wirft Epen auf die Leinwand, Balzac schildert eine ganze Gesellschaft ab, Dumas umfaßt in seinen Romanen eine viertausendjährige Geschichte des Menschengeschlechts. Sie verfügen allesamt über einen Rücken, dem keine Last zu schwer ist.«40 Als 1848 die Revolution kam, da veröffentlichte Dumas einen Appell an die Arbeiter von Paris, in dem er sich ihnen als ihresgleichen vorstellt. In zwanzig Jahren habe er vierhundert Romane und fünfunddreißig Dramen gemacht; 8 160 Leute habe er in Brot gesetzt: Korrektoren und Setzer, Maschinisten und Garderobieren; er vergißt auch die Claque nicht. Das Gefühl, mit dem der Universalhistoriker Fuchs den ökonomischen Unterbau seiner großartigen Sammlungen sich geschaffen hat, ist dem Dumasschen Selbstgefühl vielleicht nicht ganz unähnlich. Später erlaubt ihm dieser Unterbau, auf dem Pariser Markt fast ebenso souverän wie in seinen eigenen Beständen zu schalten. Der Senior der Kunsthändler von Paris pflegte um die Jahrhundertwende von ihm zu sagen: »C’est le Monsieur qui mange tout Paris.« Fuchs gehört dem Typus des ramasseur an; er hat eine Rabelaisische Freude an Quantitäten, die sich bis in die üppigen Wiederholungen seiner Texte bemerkbar macht.
VII Die französische Ahnentafel von Fuchs ist die des Sammlers, die deutsche die des Historikers. Die Sittenstrenge, die für den Geschichtsschreiber Fuchs bezeichnend ist, gibt ihm die deutsche Prägung. Sie gab sie bereits Gervinus, dessen »Geschichte der poetischen Nationalliteratur« man einen der ersten Versuche zur deutschen Geistesgeschichte nennen könnte. Es ist für Gervinus wie später für Fuchs kennzeichnend, daß die großen Schöpfer in sozusagen martialischer Gestalt auftreten und das Aktive, Männliche, Spontane ihrer Natur auf Kosten des Kontemplativen, Weiblichen, Rezeptiven sich geltend macht. Freilich geht das Gervinus leichter vonstatten. Als er sein Buch verfaßte, befand die Bourgeoisie sich im Aufstieg; ihre 40
Edouard Drumont, Les héros et les pitres. Paris, S. 107/108.
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Kunst war von politischen Energien erfüllt. Fuchs schreibt im Zeitalter des Imperialismus; er stellt die politischen Energien der Kunst polemisch einer Epoche dar, in deren Schaffen sie sich von Tag zu Tag minderten. Aber die Maßstäbe von Gervinus sind noch die seinen. Ja, man kann sie weiter, bis ins achtzehnte Jahrhundert zurückverfolgen. Und zwar an Hand von Gervinus selbst, dessen Gedenkrede auf F. C. Schlosser dem bewehrten Moralismus aus der revolutionären Zeit des Bürgertums großartigen Ausdruck gegeben hat. Man hat Schlosser »grämliche Sittenstrenge« vorgeworfen. »Was Schlosser«, so wendet Gervinus ein, »gegen jene Vorwürfe sagen könnte und sagen würde, wäre dieß: daß man in dem Leben im Großen, in der Geschichte, anders als in Roman und Novelle, eine oberflächliche Freude am Leben bei aller Heiterkeit der Sinne und des Geistes nicht lerne; daß man aus ihrer Betrachtung zwar nicht menschenfeindliche Verachtung, wohl aber eine strenge Ansicht von der Welt und ernste Grundsätze über das Leben einsauge; daß wenigstens auf die größten aller Beurtheiler von Welt und Menschen, die an einem eigenen inneren Leben das äußere zu messen verstanden, auf einen Shakespear, Dante, Machiavelli das Weltwesen stets einen solchen zu Ernst und Strenge bildenden Eindruck gemacht habe.«41 Das ist der Ursprung des Moralismus von Fuchs: ein deutsches Jakobinertum, dessen Denkstein die Weltgeschichte von Schlosser ist, mit der Fuchs in seiner Jugend bekannt wurde.42 Dieser bürgerliche Moralismus enthält, wie das nicht überraschen kann, Bestandteile, die mit den materialistischen bei Fuchs kollidieren. Wäre sich Fuchs darüber klar, so könnte es ihm vielleicht gelingen, diesen Zusammenstoß abzudämpfen. Er ist jedoch davon überzeugt, daß seine moralistische Geschichtsbetrachtung und der historische Materialismus miteinander vollkommen harmonieren. Hier waltet eine Illusion. Ihr Substrat ist die weitverbreitete, sehr revisionsbedürftige Anschauung, die bürgerlichen Revolutionen stellten, so wie sie vom Bürgertum selbst gefeiert werden, den Stammbaum einer proletarischen dar.43 Demgegenüber ist es entscheiGeorg Gottfried Gervinus, Friedrich Christoph Schlosser. Ein Nekrolog. Leipzig 1861, S. 30/31. 42 Diese Ausrichtung seines Œuvres hat sich für Fuchs nützlich erwiesen, als die Anklagen wegen ›Verbreitung unzüchtiger Schriften‹ durch die kaiserlichen Staatsanwälte einsetzten. Wir finden den Moralismus von Fuchs naturgemäß besonders nachdrücklich in einem Sachverständigenvotum dargestellt, das im Zuge eines der sämtlich mit Freispruch endenden Strafverfahren erstattet wurde. Es stammt von Fedor von Zobeltitz und lautet an seiner wichtigsten Stelle: »Fuchs fühlt sich ernsthaft als Moralprediger, als Erzieher, und diese tiefernste Lebensauffassung, dies innige Begreifen, daß seine Arbeit im Dienst der Menschheitsgeschichte von höchster Sittlichkeit getragen sein muß, schützt allein ihn schon vor dem Verdacht geschäftseifriger Spekulation, über den jeder lächeln müßte, der den Menschen kennt und seinen leuchtenden Idealismus. « 43 Diese Revision ist von Max Horkheimer in dem Essay »Egoismus und Freiheitsbewegung« (Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang V [1936], S. 161 ff.) inauguriert worden. Zu den von 41
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dend, den Blick auf den Spiritualismus zu lenken, der in diese Revolutionen eingewirkt ist. Seine Goldfäden hat die Moral gesponnen. Die Moral des Bürgertums – davon trägt die ersten Anzeichen schon die Schreckensherrschaft – steht im Zeichen der Innerlichkeit. Ihr Angelpunkt ist das Gewissen – sei es das des Robespierreschen citoyens, sei es das des Kantischen Weltbürgers. Das Verhalten der Bourgeoisie, das ihren eigenen Interessen zuträglich, aber angewiesen auf ein ihm komplementäres des Proletariats war, das den eigenen Interessen des letzteren nicht entsprach, proklamierte als moralische Instanz das Gewissen. Das Gewissen steht im Zeichen des Altruismus. Es rät dem Eigentümer, so zu handeln, wie es Begriffen entspricht, deren Geltung mittelbar seinen Mit-Eigentümern zugute kommt, und es rät den Nicht-Eigentümern leicht das gleiche an. Wenn die letzteren sich diesem Rat anbequemen, ist der Nutzen ihres Verhaltens für die Eigentümer um so unmittelbarer ersichtlich, je fragwürdiger er für die so sich Verhaltenden und ihre Klasse ist. Darum steht auf diesem Verhalten der Preis der Tugend. – So setzt die Klassenmoral sich durch. Aber sie tut es unbewußt. Nicht so sehr hatte das Bürgertum Bewußtsein nötig, um diese Klassenmoral aufzurichten, als das Proletariat Bewußtsein braucht, um sie zu stürzen. Diesem Tatbestand wird Fuchs nicht gerecht, weil er glaubt, seine Angriffe gegen das Gewissen der Bourgeoisie richten zu müssen. Ihre Ideologie erscheint ihm als Ränkespiel. »Das salbadernde Geschwätz«, sagt er, »das auch angesichts der schamlosesten Klassenurteile von der subjektiven Ehrlichkeit der betreffenden Richter faselt, beweist nur die eigene Charakterlosigkeit derer, die so reden oder schreiben, im besten Fall deren Borniertheit.«44 Auf den Gedanken, dem Begriff der bona fides (des guten Gewissens) selbst den Prozeß zu machen, kommt Fuchs nicht. Und doch wird das dem historischen Materialisten naheliegen. Nicht nur, weil er in diesem Begriff einen Träger der bürgerlichen Klassenmoral erkennt, sondern auch weil ihm nicht entgehen wird, daß dieser Begriff die Solidarität der moralischen Unordnung mit der ökonomischen Planlosigkeit befördert. Jüngere Marxisten haben den Sachverhalt wenigstens andeutungsweise berührt. So bemerkte man zur Politik Lamartines, der einen exzessiven Gebrauch von der bona fides machte: »Die bürgerliche … Demokratie … braucht diesen Wert. Der Demokrat … ist gewerbemäßig aufrichtig. Damit fühlt er sich der Notwendigkeit überhoben, dem wirklichen Tatbestand nachzugehen.«45 Die Betrachtung, die ihr Augenmerk mehr auf die bewußten Interessen der Individuen lenkt als auf die Verhaltungsweise, zu der ihre Klasse oft unbewußt und Horkheimer versammelten Zeugnissen stimmen eine Reihe von interessanten Belegen, mit denen der Ultra Abel Bonnard seine Anklage gegen jene bürgerlichen Historiker der Revolution belegt, die von Chateaubriand als »l’école admirative de la terreur« zusammengefaßt werden. (Vgl. Abel Bonnard, Les Modérés. Paris, S. 179 ff.) 44 Der Maler Daumier, S. 30. 45 Norbert Guterman et H. Lefebvre, La conscience mystifiée. Paris 1936, S. 151.
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durch ihre Stellung im Produktionsprozeß veranlaßt wird, führt zu einer Überschätzung des bewußten Moments in der Ideologiebildung. Sie ist bei Fuchs handgreiflich, wenn er erklärt: »Kunst ist in allen ihren wesentlichen Teilen die idealisierte Verkleidung des jeweiligen gesellschaftlichen Zustandes. Denn es ist ein ewiges Gesetz …, daß jeder herrschende politische oder gesellschaftliche Zustand dazu drängt, sich zu idealisieren, um auf diese Weise seine Existenz sittlich zu rechtfertigen.«46 Wir nähern uns hier dem Kern des Mißverständnisses. Es besteht in der Auffassung, die Ausbeutung bedinge ein falsches Bewußtsein, zumindest auf der Seite der Ausbeutenden, vor allem deswegen, weil ein richtiges ihnen moralisch lästig sei. Dieser Satz mag für die Gegenwart, in der der Klassenkampf das gesamte bürgerliche Leben in stärkste Mitleidenschaft gezogen hat, eine eingeschränkte Geltung besitzen. Keinesfalls ist das ›schlechte Gewissen‹ der Bevorrechteten für die früheren Formen der Ausbeutung selbstverständlich. Durch die Verdinglichung werden ja nicht nur die Beziehungen zwischen den Menschen unsichtig; es werden darüber hinaus die wirklichen Subjekte der Relationen selbst in Nebel gehüllt. Zwischen die Machthaber des Wirtschaftslebens und die Ausgebeuteten schiebt sich eine Apparatur von Rechts- und Verwaltungsbürokratien, deren Mitglieder nicht mehr als voll verantwortliche moralische Subjekte fungieren; ihr ›Verantwortungsbewußtsein‹ ist gar nichts anderes als der unbewußte Ausdruck dieser Verkrüppelung.
VIII Den Moralismus, von dem Fuchs’ historischer Materialismus die Spuren trägt, hat auch die Psychoanalyse nicht erschüttert. »Berechtigt«, so urteilt er von der Sexualität, »sind alle Formen des sinnlichen Gebarens, in denen das Schöpferische dieses Lebensgesetzes sich offenbart … Verwerflich sind dagegen jene Formen, die diesen obersten Trieb zum bloßen Mittel raffinierter Genußsucht herabwürdigen.«47 Ersichtlich ist die Signatur dieses Moralismus die bürgerliche. Das rechte Mißtrauen gegen die bürgerliche Ächtung der rein sexuellen Lust und der mehr oder minder phantastischen Wege ihrer Erzeugung ist Fuchs fremd geblieben. Grundsätzlich erklärt er freilich, daß man »stets nur relativ von Sittlichkeit und Unsittlichkeit« reden könne. Aber er statuiert sogleich an derselben Stelle eine Ausnahme für die
Erotische Kunst, Bd. II, Erster Teil, S. 11. Erotische Kunst, Bd. I, S. 43. – Die sittengeschichtliche Darstellung des Direktoriums trägt geradezu die Züge der Moritat. »Das entsetzliche Buch des Marquis de Sade mit seinen ebenso schlechten wie infamen Kupfern lag aufgeschlagen in allen Schaufenstern.« Und »die verwüstete Phantasie des schamentwöhnten Wüstlings« spricht aus Barras. (Karikatur, Bd. I, S. 202 u. 201.) 46 47
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»absolute Unsittlichkeit«, bei der »es sich um Verstöße gegen die sozialen Triebe der Gesellschaft, also um Verstöße handelt, die sozusagen wider die Natur sind«. Kennzeichnend für diese Anschauung ist der nach Fuchs historisch gesetzmäßige Sieg der »immer entwicklungsfähigen Masse über die entartete Individualität«48. Kurz, von Fuchs gilt, daß er »nicht etwa die Berechtigung eines Verdammungsurteils gegen die angeblich korrupten Triebe, sondern die Ansicht über ihre Geschichte und ihr Ausmaß angreift«49. Dadurch wird die Klärung des sexualpsychologischen Problems beeinträchtigt. Es ist seit der Herrschaft der Bourgeoisie besonders wichtig geworden. Die Tabuierung mehr oder minder weiter Bezirke der sexuellen Lust hat hier ihren Ort. Die durch sie in den Massen erzeugten Verdrängungen fördern masochistische und sadistische Komplexe zutage, denen von den Machthabern diejenigen Objekte geliefert werden, die sich ihrer Politik als die gelegensten darstellen. Ein Altersgenosse von Fuchs, Wedekind, hat in diese Zusammenhänge hineingeblickt. Ihre gesellschaftliche Kritik hat Fuchs versäumt. Desto bedeutender ist die Stelle, an welcher er sie auf einem Umwege über die Naturgeschichte nachholt. Es handelt sich um sein glänzendes Plädoyer der Orgie. Nach Fuchs »gehört die … Lust am Orgiastischen zu den wertvollsten Tendenzen der Kultur … Man muß sich darüber klar sein, daß die Orgie zu dem … gehört, was uns vom Tier unterscheidet. Das Tier kennt im Gegensatze zum Menschen die Orgie nicht … Das Tier wendet sich vom saftigsten Futter und von der klarsten Quelle ab, wenn sein Hunger und Durst gestillt sind, und sein Geschlechtsdrang ist meist auf ganz bestimmte kurze Perioden des Jahres beschränkt. Ganz anders der Mensch, vor allem der schöpferische Mensch. Dieser kennt den Begriff des Genug überhaupt nicht.«50 In den Gedankengängen, in denen Fuchs sich kritisch mit den überkommenen Normen befaßt, liegt die Stärke seiner sexualpsychologischen Feststellungen. Sie sind es, die ihn befähigen, gewisse kleinbürgerliche Illusionen zu zerstreuen. So die der Nacktkultur, in der er »eine Revolution der Beschränktheit« mit Recht erkennt. »Der Mensch ist erfreulicherweise kein Waldtier mehr, und wir … wollen, daß die Phantasie, auch die erotische, eine Rolle in der Kleidung spielt … Was wir dagegen nicht wollen, das ist
Karikatur, Bd. I, S. 188. Max Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung, a. a.O., S. 166. 50 Erotische Kunst, Bd. II, S. 283. – Fuchs ist hier auf der Spur eines bedeutsamen Tatbestandes. Sollte es übereilt sein, die tiermenschliche Schwelle, die Fuchs in der Orgie sieht, in unmittelbaren Zusammenhang mit jener anderen Schwelle zu setzen, die der aufrechte Gang darstellt? Mit ihm tritt in die Naturgeschichte die vordem unerhörte Erscheinung ein, daß die Partner im Orgasmus einander ins Auge sehen können. Damit erst wird die Orgie möglich. Und nicht sowohl durch den Zuwachs an Reizen, auf die der Blick trifft. Entscheidend ist vielmehr, daß der Ausdruck der Übersättigung, ja des Unvermögens nun selbst zu einem erotischen Stimulans werden kann. 48 49
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einzig jene soziale Organisation der Menschheit, die alles dies zum gemeinen Schachergeschäft degradiert.«51 Die psychologische und historische Anschauungsweise von Fuchs ist vielfach für die Geschichte der Kleidung fruchtbar geworden. In der Tat gibt es kaum einen Gegenstand, der dem dreifachen Interesse des Autors – dem geschichtlichen, dem gesellschaftlichen und dem erotischen – mehr entgegenkäme als die Mode. Das erweist sich bereits an ihrer Definition, die eine an Karl Kraus gemahnende sprachliche Prägung hat. Die Mode, so heißt es in der Sittengeschichte, gibt an, »wie man das Geschäft der öffentlichen Sittlichkeit … zu betreiben gedenkt«52. Fuchs ist im übrigen dem landläufigen Fehler der Darsteller (man denke an einen Max von Boehn) nicht verfallen, die Mode lediglich nach ästhetischen und erotischen Gesichtspunkten zu durchforschen. Seinem Auge ist ihre Rolle als Herrschaftsinstrument nicht entgangen. Wie sie die feineren Unterschiede der Stände zum Ausdruck bringt, so wacht sie vor allem über die groben der Klassen. Im dritten Band seiner Sittengeschichte hat Fuchs ihr einen großen Essay gewidmet, dessen Gedankengang der Ergänzungsband mit der Aufstellung der für die Mode entscheidenden Elemente zusammenfaßt. Das erste wird von den »Interessen der Klassenscheidung« gebildet; das zweite stellt die »privatkapitalistische Produktionsweise«, die ihre Absatzmöglichkeiten durch vielfachen Wechsel der Mode zu steigern sucht; an dritter Stelle sind »die erotisch stimulierenden Zwecke der Mode« nicht zu vergessen.53 Der Kultus des Schöpferischen, der das Gesamtwerk von Fuchs durchzieht, hat aus seinen psychoanalytischen Studien neue Nahrung gezogen. Sie haben seine ursprünglich biologisch bestimmte Konzeption bereichert, freilich nicht darum auch schon berichtigt. Die Lehre von dem erotischen Ursprung der schöpferischen Impulse nahm Fuchs begeistert auf. Seine Vorstellung der Erotik aber haftete weiter eng an der drastischen, biologisch determinierten der Sinnlichkeit. Der Theorie der Verdrängung und der Komplexe, welche seine moralistische Auffassung der gesellschaftlichen und sexuellen Verhältnisse vielleicht modifiziert hätte, ist er, soweit
Sittengeschichte, Bd. III, S. 234. – Wenige Seiten später findet sich dieses sichere Urteil nicht mehr – ein Beweis, mit welcher Kraft es der Konvention abgerungen sein wollte. Dort heißt es vielmehr: »Die Tatsache, daß Tausende von Menschen sich am Anblick einer weiblichen oder männlichen Aktphotographie geschlechtlich erregen …, beweist, daß das Auge nicht mehr das harmonische Ganze, sondern nur das pikante Detail zu sehen vermag.« (a. a.O., S. 269) Wenn hier etwas geschlechtlich erregend wirkt, so ist es viel mehr die Vorstellung von der Ausstellung des nackten Körpers vor der Kamera als der Anblick der Nacktheit selbst. Auf diese Vorstellung dürfte es denn auch wohl mit den meisten dieser Photographien abgesehen sein. 52 Sittengeschichte, Bd. III, S. 189. 53 Sittengeschichte, Ergänzungsband III, S. 53/54. 51
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angängig, ausgewichen. Wie der historische Materialismus bei Fuchs eine Herleitung der Dinge mehr aus dem bewußten ökonomischen Interesse des einzelnen als aus dem in dem letzteren unbewußt wirkenden Interesse der Klasse gibt, so ist auch der schöpferische Impuls mehr der bewußten sinnlichen Intention als dem bildschaffenden Unbewußten von ihm genähert worden.54 Die erotische Bilderwelt als eine symbolische, wie Freuds »Traumdeutung« sie erschlossen hat, kommt bei Fuchs da, und nur da, zur Geltung, wo seine innere Beteiligung die höchste ist. In diesem Fall erfüllt sie seine Darstellung sogar dann, wenn jeder Hinweis auf sie vermieden ist. So in der meisterhaften Charakteristik von der Graphik des Revolutionszeitalters: »Alles ist starr, straff, militärisch. Die Menschen liegen nicht, denn der Exerzierplatz duldet kein ›Rührt Euch‹. Selbst wenn sie sitzen, ist es, als ob sie aufspringen wollten. Ihr ganzer Körper ist in Spannung wie der Pfeil auf der Bogensehne … Wie die Linie, so die Farbe. Wohl wirken die Bilder kalt, blechern … gegenüber denen des Rokoko … Die Farbe … mußte hart sein …, metallisch, sollte sie zum Inhalt der Bilder passen.«55 Expliziter ist eine aufschlußreiche Bemerkung zum Fetischismus. Sie geht seinen historischen Äquivalenten nach. Es ergibt sich, daß die »Zunahme des Schuh- und Beinfetischismus auf die Ablösung des Priapkultus durch den Vulvakultus« hinzuweisen scheint, die Zunahme des Busenfetischismus dagegen auf eine rückläufige Tendenz. »Der Kultus des bekleideten Fußes und Beines spiegelt die Herrschaft des Weibes über den Mann; der Busenkultus spiegelt die Stellung des Weibes als Objekt der Lust des Mannes.«56 Die tiefsten Blicke in den Symbolbereich tat Fuchs an Daumiers Hand. Was er über die Bäume bei Daumier sagt, ist einer der glücklichsten Funde des ganzen Werks. Er erkennt in ihnen »eine ganz eigenartige symbolische Form …, in der das soziale Verantwortlichkeitsgefühl Daumiers zum Ausdruck kommt und seine Überzeugung, daß es Pflicht der Gesellschaft sei, den Einzelnen zu schützen … Die für ihn typische Gestaltung der Bäume … stellt sie stets mit weitausgreifenden Ästen dar, und zwar vor allem dann, wenn jemand darunter steht oder sich lagert. Die Äste recken sich besonders bei solchen Bäumen wie die Arme eines Riesen, sie scheinen förmlich ins Unendliche greifen zu wollen, sie formen sich zum undurchdringlichen Dach, das jede Gefahr von allen denen fernhält, die sich in ihren Schutz begeben haben.«57 Diese schöne Betrachtung geleitet Fuchs auf die mütterliche Dominante in Daumiers Schaffen. Kunst ist für Fuchs unmittelbare Sinnlichkeit wie die Ideologie unmittelbares Erzeugnis von Interessen. »Das Wesen der Kunst ist: die Sinnlichkeit. Kunst ist Sinnlichkeit. Und zwar Sinnlichkeit in potenziertester Form. Kunst ist Form gewordene, sichtbar gewordene Sinnlichkeit, und sie ist zugleich die höchste und edelste Form der Sinnlichkeit.« (Erotische Kunst, Bd. I, S. 61.) 55 Karikatur, Bd. I, S. 223. 56 Erotische Kunst, Bd. II, S. 390. 57 Der Maler Daumier, S. 30. 54
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IX Keine Gestalt wurde für Fuchs lebendiger als Daumier. Sie hat ihn durch sein Arbeitsleben begleitet. Fast könnte man sagen, an ihr sei Fuchs zum Dialektiker geworden. Zumindest hat er sie in ihrer Fülle und in ihrem lebendigen Widerspruch konzipiert. Wenn er das Mütterliche in seiner Kunst erfaßt und in eindrucksvoller Weise umschrieben hat, so ist ihm nicht minder der andere Pol, das Männliche, Streitbare der Gestalt vertraut gewesen. Mit Recht hat er darauf hingewiesen, daß in Daumiers Werk der idyllische Einschlag fehlt; nicht allein die Landschaft, das Tierstück und das Stilleben sondern auch das erotische Motiv und das Selbstportrait. Was Fuchs bei Daumier eigentlich mitriß, das ist das agonale Moment gewesen. Oder wäre es zu gewagt, der großen Karikatur von Daumier ihren Ursprung in einer Frage zu suchen? Wie nähmen, so scheint Daumier zu fragen, die bürgerlichen Menschen meiner Zeit sich aus, wollte man sich ihren Kampf ums Dasein gleichsam in einer Palästra denken? Daumier hat das private und öffentliche Leben der Pariser in die Sprache des Agon übersetzt. Seine höchste Begeisterung gilt der athletischen Spannung des ganzen Körpers, seinen muskulären Erregungen. Dem widerspricht es in keiner Weise, daß vielleicht niemand packender als Daumier die tiefste Erschlaffung des Körpers gezeichnet hat. Daumiers Konzeption hat, wie Fuchs bemerkt, tiefe Verwandtschaft mit einer plastischen. Und so entführt er die Typen, die seine Zeit ihm bietet, um sie, verzerrte Olympioniken, auf einem Sockel zur Schau zu stellen. Es sind vor allem die Richter- und Advokatenstudien, welche sich so betrachten lassen. Unmittelbarer deutet der elegische Humor, mit dem Daumier das griechische Pantheon zu umspielen liebt, auf diese Inspiration hin. Vielleicht stellt sie die Lösung des Rätsels dar, das schon Baudelaire in dem Meister entgegentrat: wie seine Karikatur bei all ihrer Wucht und Durchschlagskraft von Ranküne so frei sein könne. Spricht er von Daumier, so beleben sich bei Fuchs alle Kräfte. Es gibt keinen anderen Gegenstand, der seiner Kennerschaft derart divinatorische Blitze entlockt hätte. Der kleinste Anstoß wird hier bedeutsam. Ein Blatt, so flüchtig, daß es unvollendet zu nennen ein Euphemismus wäre, reicht Fuchs hin, einen tiefen Einblick in Daumiers produktive Manie zu geben. Es stellt nur die obere Hälfte von einem Kopfe dar, an dem allein sprechend Nase und Auge sind. Daß die Skizze sich auf diese Partie beschränkt, einzig den Schauenden zum Objekt hat, das wird für Fuchs zum Fingerzeig, daß hier das zentrale Interesse des Malers im Spiele ist. Denn bei der Ausführung seiner Bilder setze jeder Maler an eben der Stelle an, an der er triebhaft am meisten beteiligt sei.58 »Unzählige von Daumiers Gestalten«, so heißt Hierzu ist folgende Reflexion zu vergleichen: »Nach meinen … Beobachtungen dünkt es mich, daß die jeweiligen Dominanten der Palette eines Künstlers in seinen pointiert erotischen 58
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es im Werke über den Maler, »sind mit dem konzentriertesten Schauen beschäftigt, sei es ein Schauen in die Weite, sei es ein Betrachten bestimmter Dinge, sei es ein ebenso konzentrierter Blick in das eigene Innere. Die Daumierschen Menschen schauen … förmlich mit der Nasenspitze.«59
X Daumier ist der glücklichste Gegenstand für den Forscher gewesen. Nicht minder war er der glücklichste Griff des Sammlers. Mit berechtigtem Stolz bemerkt Fuchs, daß nicht staatliche Initiative, sondern seine eigene die ersten Mappen von Daumier (und Gavarni) in Deutschland angelegt habe. Er steht mit seiner Abneigung gegen Museen nicht allein unter den großen Sammlern. Die Goncourts sind ihm darin vorangegangen; sie überbieten ihn darin an Heftigkeit. Wenn öffentliche Sammlungen sozial minder problematisch, wissenschaftlich nützlicher sein könnten als private, so entgeht ihnen doch deren größte Chance. Der Sammler hat in seiner Leidenschaft eine Wünschelrute, die ihn zum Finder von neuen Quellen macht. Das gilt von Fuchs, und darum mußte er sich im Gegensatz zu dem Geiste fühlen, der unter Wilhelm II. in den Museen herrschte. Sie hatten es auf die sogenannten Glanzstücke abgesehen. »Gewiß«, sagt Fuchs, »ist diese Art des Sammelns für das heutige Museum schon durch räumliche Gründe bedingt. Aber diese … Bedingtheit vermag an der Tatsache nichts zu ändern, daß wir dadurch ganz unvollständige … Vorstellungen von der Kultur der Vergangenheit bekommen. Wir sehen diese … im prunkvollen Festtagsgewand und nur sehr selten in ihrem meist dürftigen Werkeltagskleid.«60
Bildern immer besonders klar auftreten und daß sie in diesen … ihre … höchste Leuchtkraft erleben.« (Die großen Meister der Erotik, S. 14.) 59 Der Maler Daumier, S. 18. – Zu den in Rede stehenden Gestalten zählt auch der berühmte »Kunstkenner« – ein Aquarell, das in mehreren Versionen vorkommt. Eine bisher nicht bekannte Fassung des Blattes wurde Fuchs eines Tages vorgelegt: ob eine echte, war zu ermitteln. Fuchs nahm die Hauptdarstellung dieses Motivs, in einer guten Reproduktion zur Hand, und nun ging es an den überaus instruktiven Vergleich. Keine Abweichung, nicht die kleinste, blieb unbeachtet, und von jeder galt es, Rechenschaft abzulegen, ob sie unter einer Meisterhand entsprungen oder ein Erzeugnis der Ohnmacht sei. Immer wieder ging Fuchs auf das Original zurück. Aber die Art und Weise, wie er das tat, schien zu zeigen, daß er wohl davon hätte absehen können; sein Blick erwies sich in ihm so heimisch, wie das nur bei einem Blatte der Fall sein kann, das man jahrelang im Geist vor sich hatte. Unzweifelhaft war das für Fuchs so gewesen. Und nur darum war er imstande, die verborgensten Unsicherheiten des Konturs, die unscheinbarsten Fehlfarben in den Schatten, die kleinsten Entgleisungen in der Strichführung aufzudecken, die das fragliche Blatt an seinen Platz stellten – übrigens nicht den einer Fälschung, sondern einer guten alten Kopie, die von einem Amateur stammen mochte. 60 Dachreiter, S. 5/6.
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Die großen Sammler sind meist durch die Originalität ihrer Objektwahl ausgezeichnet. Es gibt Ausnahmen: die Goncourts gingen weniger von den Objekten aus als von dem Ensemble, das diese zu bergen hatte; sie unternahmen die Verklärung des Interieurs, als es gerade eben verschieden war. In der Regel sind aber die Sammler vom Objekt selber geleitet worden. Ein großes Beispiel sind an der Schwelle der Neuzeit die Humanisten, deren griechische Erwerbungen und Reisen von der Zielstrebigkeit Zeugnis geben, mit der sie sammelten. Mit Marolles, dem Vorbild des Damocède, ist der Sammler, von La Bruyère geleitet, in die Literatur eingeführt worden (und zwar sogleich auf unvorteilhafte Art). Marolles hat als erster die Bedeutung der Graphik erkannt; seine Sammlung von 125 000 Blättern bildet den Grundstock des Cabinet des Estampes. Der siebenbändige Katalog, den im folgenden Jahrhundert der Graf Caylus von seinen Sammlungen herausgebracht hat, ist die erste große Leistung der Archäologie. Die Gemmensammlung von Stosch ist im Auftrage des Sammlers von Winckelmann katalogisiert worden. Selbst dort, wo der wissenschaftlichen Konzeption, die in solchen Sammlungen sich verkörpern wollte, keine Dauer beschieden war, war sie es doch bisweilen der Sammlung selbst. So der von Wallraf und Boisserée, deren Begründer, von der romantisch-nazarenischen Theorie ausgehend, die Kölnische Kunst sei die Erbin der alten römischen, mit ihren deutschen Gemälden des Mittelalters den Fond des Kölner Museums geschaffen haben. In die Reihe dieser großen und planvollen, unablenkbar der einen Sache zugewandten Sammler ist Fuchs zu stellen. Sein Gedanke ist, dem Kunstwerk das Dasein in der Gesellschaft zurückzugeben, von der es so sehr abgeschnürt worden war, daß der Ort, an dem er es auffand, der Kunstmarkt war, auf dem es, gleich weit von seinen Verfertigern wie von denen, die es verstehen konnten, entfernt, zur Ware eingeschrumpft, überdauerte. Der Fetisch des Kunstmarktes ist der Meistername. Geschichtlich wird es vielleicht als das größte Verdienst von Fuchs erscheinen, die Befreiung der Kunsthistorie von dem Fetisch des Meisternamens in die Wege geleitet zu haben. »Deshalb ist«, heißt es bei Fuchs von der Plastik der Tang-Periode, »die vollständige Namenlosigkeit dieser Grab-Beigaben, die Tatsache, daß man auch nicht in einem einzigen Falle den individuellen Schöpfer eines solchen Werkes kennt, ein so wichtiger Beweis dafür, daß es sich in dem allen niemals um einzelne künstlerische Ergebnisse handelte, sondern um die Art und Weise, wie die Welt und die Dinge damals von der Gesamtheit angeschaut wurden.«61 Als einer der ersten entwickelte Fuchs den besonderen Charakter der Massenkunst und damit Impulse, die er vom historischen Materialismus erhalten hatte. Das Studium der Massenkunst führt notwendig auf die Frage der technischen Reproduktion des Kunstwerks. »Jeder Zeit entsprechen ganz bestimmte Reproduktionstechniken. Sie repräsentieren die jeweilige technische Entwicklungsmöglich61
Tang-Plastik, S. 44.
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keit und sind … Resultat des betreffenden Zeitbedürfnisses. Aus diesem Grunde ist es eine gar nicht verwunderliche Erscheinung, daß jede größere historische Umwälzung, die andere Klassen als die seither herrschenden … zur Herrschaft … bringt, regelmäßig auch eine Veränderung der bildlichen Vervielfältigungstechnik bedingt. Auf diese Tatsache muß mit ganz besonderer Deutlichkeit hingewiesen werden.«62 Mit solchen Einsichten ist Fuchs bahnbrechend gewesen. In ihnen hat er Gegenstände gewiesen, an deren Studium der historische Materialismus sich schulen kann. Der technische Standard der Künste ist einer von deren wichtigsten. Ihm nachzugehen macht manche Schädigung wieder gut, die der vage Kulturbegriff in der landläufigen Geistesgeschichte (und bisweilen auch bei Fuchs selbst) anrichtet. Daß »Tausende der simpelsten Töpfer imstande gewesen sind, … technisch und künstlerisch gleich kühne … Gebilde förmlich aus dem Handgelenk zu formen«63, das erscheint Fuchs mit Recht als eine konkrete Bewährung der alt- chinesischen Kunst. Technische Erwägungen führen ihn hin und wieder zu lichtvollen, seiner Epoche vorauseilenden Aperçus. Nicht anders ist die Erklärung des Umstandes einzuschätzen, daß das Altertum keine Karikaturen kennt. Welche idealistische Geschichtsdarstellung sähe darin nicht eine Stütze des klassizistischen Griechen-Bildes: seiner edlen Einfalt und stillen Größe? Und wie erklärt Fuchs sich die Sache? Die Karikatur, meint er, ist eine Massenkunst. Keine Karikatur ohne massenweise Verbreitung ihrer Erzeugnisse. Massenweise Verbreitung heißt billige. Nun aber hatte »das Altertum … außer der Münze keine billige Reproduktionsform«64. Die Münzfläche ist zu klein, um einer Karikatur Raum zu geben. Daher kannte das Altertum keine. Die Karikatur war Massenkunst, auch das Sittenbild. Dieser Charakter trat, diffamierend, für die übliche Kunstgeschichte zu ihrem sonst schon bedenklichen. Anders für Fuchs; der Blick auf die verachteten, apokryphen Dinge macht seine eigentliche Stärke aus. Und den Weg zu ihnen, von welchem ihm der Marxismus kaum mehr als den Anfang gezeigt hatte, bahnte er sich als Sammler auf eigene Faust. Dazu bedurfte es einer an das Maniakalische grenzenden Leidenschaft. Sie hat die Züge von Fuchs geprägt, und in welchem Sinne erfährt am besten, wer in
Daumier, Bd. I, S. 13. – Man vergleiche mit diesen Gedanken die allegorische Auslegung der Hochzeit von Kana durch Victor Hugo: »Das Wunder der Brote bedeutet die Vermehrung der Leser um ein Vielfaches. An dem Tage, da der Christ auf dieses Symbol geraten war, hatte er die Erfindung der Buchdruckerkunst geahnt.« (Victor Hugo, William Shakespeare. Zitiert von Georges Batault, Le pontife de la démagogie: Victor Hugo. Paris 1934, S. 142.) 63 Dachreiter, S. 46. 64 Karikatur, Bd. I, S. 19. – Die Ausnahme bestätigt die Regel. Ein mechanisches Reproduktionsverfahren diente bei Herstellung der Terrakotta-Figuren. Unter ihnen finden sich viele Karikaturen. 62
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Daumiers Lithographien die lange Reihe von Kunstfreunden und von Händlern, von Bewunderern der Malerei und von Kennern der Plastik durchgeht. Sie gleichen Fuchs bis in den Körperbau. Es sind hochaufgeschossene, hagere Figuren, und die Blicke schießen aus ihnen wie Flammenzungen. Nicht mit Unrecht hat man gesagt, in ihnen habe Daumier die Nachkömmlinge jener Goldsucher, Nekromanten und Geizhälse konzipiert, die auf den Bildern der alten Meister zu finden sind.65 Ihrem Geschlecht gehört Fuchs als Sammler an. Und wie der Alchimist mit seinem ›niederen‹ Wunsch, Gold zu machen, die Durchforschung der Chemikalien verbindet, in denen die Planeten und Elemente zu Bildern des spiritualen Menschen zusammentreten, so unternahm dieser Sammler, indem er den ›niederen‹ Wunsch des Besitzes befriedigte, die Durchforschung einer Kunst, in deren Schöpfungen die Produktivkräfte und die Massen zu Bildern des geschichtlichen Menschen zusammentreten. Bis in die späten Bücher ist der leidenschaftliche Anteil spürbar, mit dem Fuchs diesen Bildern sich zugewandt hat. »Nicht der letzte Ruhm«, schreibt er, »der chinesischen Dachreiter ist es, daß es sich in ihnen um eine … namenlose Volkskunst handelt. Es gibt kein Heldenbuch, das von ihren Schöpfern zeugt.«66 Ob aber solche den Namenlosen und dem, was die Spur ihrer Hände bewahrte, zugewandte Betrachtung nicht mehr zur Humanisierung der Menschheit beiträgt als der Führerkult, den man von neuem über sie verhängen zu wollen scheint, das muß wie so manches, worüber die Vergangenheit vergeblich belehrte, immer wieder die Zukunft lehren.
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Vgl. Erich Klossowski, Honoré Daumier. München 1908, S. 113. Dachreiter, S. 45.
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Die »Tragödie der Kultur«
Hegel hat von der Weltgeschichte gesagt, daß sie nicht die Stätte des Glückes sei; die friedlichen und glücklichen Perioden seien leere Blätter im Buche der Geschichte. Seine Grundüberzeugung, daß »alles in der Geschichte vernünftig zugehe«‚ fand er dadurch keineswegs widerlegt; er sah in diesem Satze vielmehr ihre Bestätigung und Bekräftigung. Aber was bedeutet der Sieg der Idee in der Weltgeschichte, wenn er mit dem Verzicht auf alles menschliche Glück erkauft werden muß? Klingt eine solche Theodizee nicht fast wie Hohn, und war nicht Schopenhauer im Recht, wenn er erklärte, daß der Hegelsche »Optimismus« nicht nur eine absurde, sondern auch eine ruchlose Denkweise sei? Fragen dieser Art haben sich, gerade in den reichsten und glänzendsten Kulturepochen, dem Menschengeist immer wieder aufgedrängt. Man empfand die Kultur statt einer Bereicherung vielmehr als eine immer weitere Entfremdung vom eigentlichen Ziele des Daseins. Mitten in der Aufklärungszeit erhebt Rousseau seine flammende Anklagerede gegen die »Künste und Wissenschaften«. Sie haben den Menschen in sittlicher Hinsicht entnervt und verweichlicht, und sie haben in physischer Hinsicht seine Bedürfnisse nicht befriedigt, sondern statt dessen tausend unstillbare Triebe in ihm erregt. Alle Kulturwerte sind Phantome, denen wir entsagen müssen, wenn wir nicht ständig dazu verurteilt sein sollen, aus dem Faß der Danaiden zu schöpfen. Mit dieser Anklage hat Rousseau den Rationalismus des 18. Jahrhunderts in seinen Grundfesten erschüttert. Hier liegt die tiefe Wirkung, die er auf Kant geübt hat. Durch Rousseau sieht sich Kant vom bloßen Intellektualismus befreit und auf einen neuen Weg gewiesen. Er glaubt nicht länger, daß eine Steigerung und Verfeinerung der intellektuellen Kultur alle Rätsel des Daseins lösen und alle Schäden der menschlichen Gesellschaft heilen könne. Die bloße Verstandeskultur vermag den höchsten Wert des Menschentums nicht zu begründen; sie muß durch andere Mächte geregelt und im Zaum gehalten werden. Aber selbst wenn das geistig-sittliche Gleichgewicht erreicht, wenn der praktischen Vernunft der Primat vor der theoretischen gesichert wird, bleibt die Hoffnung, daß damit auch das Glücksverlangen des Menschen gestillt werden könne, eitel. Vom »Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee« ist Kant tief überzeugt. So bleibt für ihn keine andere Lösung als jene radikale Ausmerzung des Eudämonismus, die er in der Grundlegung seiner Ethik versucht hat. Wäre die Glückseligkeit das eigentliche Ziel des menschlichen Strebens, so wäre damit die Kultur ein für allemal gerichtet. Ihre Rechtfertigung kann nur darin liegen, daß man einen anderen Wertmaßstab einführt. Der wahre Wert liegt nicht in den Gütern, die der
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Mensch als ein Geschenk der Natur und der Vorsehung empfängt. Er liegt allein in seinem eigenen Tun und in dem, wozu er sich durch dieses Tun macht. Damit nimmt Kant die Voraussetzung Rousseaus an, ohne aus ihr die gleiche Folgerung zu ziehen. Rousseaus Ruf »Zurück zur Natur!« könnte dem Menschen sein Glück wiedergeben und sichern; aber damit würde der Mensch zugleich seiner eigentlichen Bestimmung entfremdet. Denn diese Bestimmung liegt nicht im Sinnlichen, sondern im Intelligiblen. Nicht die Glückseligkeit, sondern die »Glückwürdigkeit« ist das, was die Kultur dem Menschen verspricht und was sie ihm allein geben kann. Ihr Ziel ist nicht die Verwirklichung des Glückes auf Erden, sondern die Verwirklichung der Freiheit, der echten Autonomie, die nicht die technische Herrschaft des Menschen über die Natur, sondern die moralische Herrschaft über sich selbst bedeutet. Damit glaubt Kant das Problem der Theodizee aus einem metaphysischen Problem in ein rein ethisches Problem verwandelt und es kraft dieser Umwandlung kritisch gelöst zu haben. Aber nicht alle Zweifel, die man gegen den Wert der Kultur richten kann, sind damit beschwichtigt. Denn ein anderer und ein viel tieferer Widerstreit scheint sich zu ergeben, wenn man das neue Ziel ins Auge faßt, das hier der Kultur gestellt wird. Kann sie dieses Ziel wirklich erreichen? Ist es sicher, daß der Mensch in der Kultur und durch sie die Erfüllung seines eigentlichen »intelligiblen« Wesens finden kann, daß er hier zwar nicht zur Befriedigung all seiner Wünsche, wohl aber zur Entwicklung all seiner geistigen Kräfte und Anlagen gelangen wird? Dies wäre nur dann der Fall, wenn er die Schranke der Individualität überspringen, wenn er sein eigenes Ich zum Ganzen der Menschheit erweitern könnte. Aber eben in diesem Versuch fühlt er seine Grenze um so deutlicher und um so schmerzlicher. Denn es gibt auch hier ein Moment, das die Spontaneität, die reine Selbsttätigkeit des Ich bedroht und unterdrückt, statt sie zu erhöhen und zu steigern. Vertieft man sich in diese Seite des Problems, so gewinnt es damit erst seine volle Schärfe. Georg Simmel hat in einem Aufsatz, dem er den Titel gegeben hat »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, die Frage in voller Bestimmtheit gestellt. Aber er verzweifelt an ihrer Lösung. Die Philosophie kann nach ihm den Konflikt nur aufweisen; sie kann keinen endgültigen Ausweg aus ihm versprechen. Denn die Reflexion zeigt uns, je tiefer sie dringt, um so mehr die dialektische Struktur des Kulturbewußtseins. Der Fortschritt der Kultur beschenkt die Menschheit mit immer neuen Gaben; aber das einzelne Subjekt sieht sich vom Genuß derselben mehr und mehr ausgeschlossen. Und wozu dient ein Reichtum, den das Ich niemals in seinen lebendigen Besitz verwandeln kann? Wird es durch ihn nicht lediglich beschwert, statt durch ihn befreit zu werden? In solchen Erwägungen tritt uns der Kulturpessimismus erst in seiner schärfsten und radikalsten Fassung entgegen. Denn nun trifft er auf die verwundbarste Stelle. Er weist auf einen Mangel hin, von dem uns keine geistige Entwicklung befreien kann, weil er im Wesen dieser Entwicklung
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selbst liegt. Die Güter, die sie schafft, wachsen ständig an Zahl; aber gerade in diesem Wachstum hören sie auf, für uns nutzbar zu werden. Sie werden zu einem bloß Objektiven, zu einem dinglich Vorhandenen und Gegebenen, das sich aber vom Ich nicht mehr fassen und umfassen läßt. Unter ihrer Mannigfaltigkeit und unter ihrem ständig zunehmenden Gewicht sieht sich das Ich erdrückt. Es schöpft aus der Kultur nicht mehr das Bewußtsein seiner Macht, sondern nur die Gewißheit seiner geistigen Ohnmacht. Den eigentlichen Grund für diese »Tragödie der Kultur« sieht Simmel darin, daß die scheinbare Verinnerlichung, die die Kultur uns verspricht, stets mit einer Art von Selbstentäußerung einhergeht. Zwischen »Seele« und »Welt« besteht ein stetes Spannungsverhältnis, das zuletzt zu einem schlechthin antithetischen Verhältnis zu werden droht. Der Mensch kann auch die geistige Welt nicht gewinnen, ohne dadurch Schaden an seiner Seele zu nehmen. Das geistige Leben besteht in einem ständigen Fortgang; das seelische in einem immer tieferen Rückgang auf sich selbst. Die Ziele und Wege des »objektiven Geistes« können daher nie die gleichen sein, wie die des subjektiven Lebens. Für die Einzelseele muß alles, was sie nicht mehr mit sich selbst erfüllen kann, zur harten Schale werden. Diese Schale legt sich immer dichter um sie herum und läßt sich immer weniger sprengen. »Dem vibrierenden, rastlosen, ins Grenzenlose hin sich entwickelnden Leben der in irgend einem Sinne schaffenden Seele steht ihr festes, ideell unverrückbares Produkt gegenüber, mit der unheimlichen Rückwirkung, jene Lebendigkeit festzulegen, ja erstarren zu machen; es ist oft, als ob die zeugende Bewegtheit der Seele an ihrem eigenen Erzeugnis stürbe. […] Indem die Logik der unpersönlichen Gebilde und Zusammenhänge mit Dynamik geladen ist, entstehen zwischen diesen und den inneren Trieben und Normen der Persönlichkeit harte Reibungen, die in der Form der Kultur als solcher eine einzigartige Zusammendrängung erfahren. Seit der Mensch zu sich Ich sagt, sich zum Objekt, über und gegenüber sich selbst, geworden ist, seit durch solche Form unserer Seele ihre Inhalte in einem Zentrum zusammengehören – seitdem mußte ihr aus dieser Form das Ideal wachsen, daß dies so mit dem Mittelpunkt Verbundene auch eine Einheit sei, die in sich geschlossen und deshalb ein selbstgenugsames Ganzes sei. Allein die Inhalte, an denen das Ich diese Organisierung zu einer eigenen, einheitlichen Welt vollziehen soll, gehören nicht ihm allein an; sie sind ihm gegeben, von irgend einem räumlichen, zeitlichen, ideellen Außerhalb her, sie sind zugleich die Inhalte irgendwelcher anderer Welten, gesellschaftlicher und metaphysischer, begrifflicher und ethischer, und in diesen besitzen sie Formen und Zusammenhänge unter sich, die mit denen des Ich nicht zusammenfallen wollen. […] Dies ist die eigentliche Tragödie der Kultur. Denn als ein tragisches Verhängnis – im Unterschied gegen ein trauriges oder von außen her zerstörendes – bezeichnen wir doch wohl dies: daß die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; daß sich mit seiner Zer-
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störung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigene Positivität aufgebaut hat.«1 Das Leiden, an dem alle menschliche Kultur krankt, erscheint in dieser Darstellung noch weit tiefer und hoffnungsloser, als es in der Schilderung Rousseaus erschien. Denn auch jener Rückweg, den Rousseau suchte und forderte, ist hier verschlossen. Simmel ist weit davon entfernt, dem Gang der Kultur an irgendeiner Stelle Einhalt gebieten zu wollen. Er weiß, daß sich das Rad der Geschichte nicht umwälzen läßt. Aber er glaubt zugleich zu sehen, daß sich die Spannung zwischen den beiden gleich notwendigen und gleichberechtigten Polen damit immer mehr verschärfen wird und daß durch sie der Mensch zuletzt einem unheilvollen Dualismus preisgegeben werden muß. Die tiefe Fremdheit oder Feindschaft, die zwischen dem Lebens- und Schaffensprozeß der Seele auf der einen Seite, seinen Inhalten und Erzeugnissen auf der anderen Seite besteht, duldet keinen Ausgleich und keine Versöhnung. Sie muß sich um so deutlicher fühlbar machen, je reicher und intensiver dieser Prozeß in sich selbst wird und auf einen je weiteren Kreis von Inhalten er sich erstreckt. Simmel scheint hier die Sprache des Skeptikers zu sprechen; aber er spricht in Wahrheit die Sprache des Mystikers. Denn es ist die geheime Sehnsucht aller Mystik, sich rein und ausschließlich in das Wesen des Ich zu versenken, um in ihm das Wesen Gottes zu finden. Was zwischen dem Ich und Gott liegt, das empfindet sie nur als eine trennende Schranke. Und dies gilt nicht minder von der geistigen Welt, als es von der physischen Welt gilt. Denn auch der Geist besteht nur dadurch, daß er sich ständig entäußert. Er schafft unaufhörlich neue Namen und neue Bilder; aber er begreift nicht, daß er sich in dieser Schöpfung dem Göttlichen nicht nähert, sondern mehr und mehr von ihm entfernt. Die Mystik muß all die Bildwelten der Kultur verneinen, sie muß sich von »Name und Bild« befreien. Sie fordert von uns, daß wir auf alle Symbole verzichten und daß wir sie zerbrechen. Sie tut dies nicht in der Hoffnung, daß wir damit das Wesen des Göttlichen erkennen können. Der Mystiker weiß, und er ist tief davon durchdrungen, daß alles Erkennen sich immer nur im Kreise von Symbolen bewegen kann. Aber er stellt sich ein anderes und höheres Ziel. Er will, daß das Ich, statt den vergeblichen Versuch zu machen, das Göttliche zu begreifen und zu ergreifen, sich mit ihm verschmilzt und mit ihm zu eins wird. Alle Vielheit ist Täuschung – gleichviel, ob es sich um die Vielheit der Dinge oder um die der Bilder und Zeichen handelt. Indem jedoch die Mystik so spricht, indem sie auf jede Substantialität des Einzelich zu verzichten scheint, hat sie damit ebendiese Substantialität doch in einem Georg Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: ders., Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, Leipzig 1911 (Philosophisch-soziologische Bücherei, Bd. 27), S. 245–277: S. 251 ff. u. 265 ff. [Zitat S. 251, 265 f. u. 272]. 1
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gewissen Sinne beibehalten und bekräftigt. Denn sie nimmt das Ich als ein an sich Bestimmtes, das sich in dieser Bestimmtheit behaupten, das sich nicht an die Welt verlieren soll. Hier aber setzt die erste Frage ein, die wir an sie richten müssen. Wir haben in einer früheren Betrachtung aufzuweisen gesucht, daß das »Ich« nicht als seine ursprünglich gegebene Realität besteht, die sich auf andere Realitäten der gleichen Art bezieht und sich mit ihnen in Verbindung setzt. Wir sahen uns genötigt, das Verhältnis anders zu fassen. Wir fanden, daß die Scheidung zwischen »Ich« und »Du«‚ und ebenso die Scheidung zwischen »Ich« und »Welt«‚ den Zielpunkt, nicht den Ausgangspunkt des geistigen Lebens bildet. Halten wir hieran fest, so nimmt unser Problem eine andere Bedeutung an. Denn jene Verfestigung, die das Leben in den verschiedenen Formen der Kultur, in Sprache, Religion und Kunst erfährt, bildet alsdann nicht schlechthin den Gegensatz zu dem, was das Ich kraft seiner eigenen Natur verlangen muß, sondern sie bildet eine Voraussetzung dafür, daß es sich selbst in seiner eigenen Wesenheit findet und versteht. Hier zeigt sich ein höchst komplexer Zusammenhang, der sich durch kein noch so subtiles räumliches Bild zutreffend ausdrücken läßt. Wir dürfen nicht fragen, wie das Ich über seine eigene Sphäre »hinausgelangen« und in eine andere, ihm fremde Sphäre übergreifen kann. Alle diese metaphorischen Ausdrücke müssen wir vermeiden. In der Geschichte des Erkenntnisproblems hat man freilich immer wieder zu derartigen mangelhaften Beschreibungen gegriffen, um durch sie das Verhältnis des Objekts zum Subjekt zu kennzeichnen. Man nahm an, daß das Objekt mit einem Teil seiner selbst in das Ich eingehen müsse, um von ihm erkannt zu werden. Die »Idolentheorie« der antiken Atomistik wurzelt in dieser Auffassung; die »Speziestheorie« des Aristoteles und der Scholastik hat sie beibehalten, um sie nur vom Stofflichen ins Spirituelle zu übersetzen. Aber nehmen wir einmal an, daß das Wunder sich begeben könnte – daß der »Gegenstand« in dieser Weise in das »Bewußtsein« hinüberwandern könnte. Dann bliebe offenbar noch immer die Hauptfrage ungelöst; denn wir wüßten nicht, wie diese Spur des Objekts, indem sie sich dem Ich einprägt, auch als solche gewußt werden könnte. Ihr einfaches Dasein und Sosein würde offenbar keineswegs hinreichen, um diese ihre repräsentative Bedeutung zu erklären. Diese Schwierigkeit verschärft sich noch, wenn die Übertragung nicht vom Gegenstand zum Subjekt, sondern wenn sie sich zwischen verschiedenen Subjekten vollziehen soll. Auch hier würde im günstigsten Fall ein und derselbe Inhalt als ein bloßes Duplikat in »mir« und in einem »anderen« bestehen. Aber wie kraft dieses gleichartigen Bestandes das Ich vom Du, das Du vom Ich wissen könnte – wie das eine sich diesen Bestand als vom andern »herrührend« deuten könnte: das bliebe nach wie vor unverständlich. In noch höherem Grade gilt es hier, daß der bloße passive »Eindruck« nicht genügt, um das Phänomen des »Ausdrucks« zu erklären. Hierin liegt eine der Hauptschwächen jeder rein sensualistischen Theorie, die ein Ideelles begriffen zu haben glaubt, indem sie es zu einer Kopie eines objektiv Vorhandenen
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macht. Ein Subjekt wird dem anderen nicht dadurch kenntlich oder verständlich, daß es in dasselbe übergeht, sondern daß es sich zu ihm in eine aktive Beziehung setzt. Daß dies der Sinn aller geistigen Mitteilung ist, hat sich uns früher gezeigt: Das sich Mitteilen verlangt eine Gemeinschaft in bestimmten Prozessen, nicht in der bloßen Gleichheit von Produkten. Geht man von dieser Betrachtung aus, so rückt damit das von Simmel aufgeworfene Problem in ein neues Licht. Es hört keineswegs auf, als solches zu bestehen; aber seine Lösung muß nunmehr in einer anderen Richtung gesucht werden. Die Zweifel und Einwände, die man gegen die Kultur erheben kann, behalten ihr volles Gewicht. Man muß einsehen und zugestehen, daß sie kein harmonisch sich entfaltendes Ganze, sondern von den stärksten inneren Gegensätzen erfüllt ist. Die Kultur ist »dialektisch«, so wahr sie dramatisch ist. Sie ist kein einfaches Geschehen, kein ruhiger Ablauf, sondern sie ist ein Tun, das stets von neuem einsetzen muß und das seines Zieles niemals sicher ist. So kann sie sich niemals schlechthin einem naiven Optimismus oder einem dogmatischen Glauben an die »Perfektibilität« des Menschen überlassen. Alles, was sie aufgebaut hat, droht ihr immer wieder unter den Händen zu zerbrechen. Demgemäß behält sie stets etwas Unbefriedigendes und etwas tief Fragwürdiges, wenn man sie allein im Lichte ihres Werkes betrachtet. Die wahrhaft produktiven Geister legen alle ihre Leidenschaft in ihr Werk; aber ebendiese Leidenschaft wird ihnen zum Quell immer neuer Leiden. Dieses Drama hat Simmel schildern wollen. Aber er kennt in ihm gewissermaßen nur zwei Rollen. Auf der einen Seite steht das Leben, auf der anderen Seite steht das Reich ideeller, an sich geltender, objektiver Werte. Beide Momente können niemals ineinander aufgehen und sich völlig miteinander durchdringen. Je weiter der Kulturprozeß fortschreitet, um so mehr erweist sich das Geschaffene als der Feind des Schöpfers. Das Subjekt kann sich in seinem Werk nicht nur nicht erfüllen, sondern es droht zuletzt an ihm zu zerbrechen. Denn was das Leben eigentlich und innerlich will, ist nichts anderes als seine eigene Bewegtheit und seine strömende Fülle. Es kann diese innere Fülle nicht herausstellen, nicht in bestimmten Gebilden sichtbar werden lassen, ohne daß diese Gebilde für es selbst zu Schranken werden – zu festen Dämmen, an die seine Bewegung anprallt und an welchen sie sich bricht. »Der Geist erzeugt unzählige Gebilde, die in einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren, unabhängig von der Seele, die sie geschaffen hat, wie von jeder anderen, die sie aufnimmt oder ablehnt. So sieht sich das Subjekt der Kunst wie dem Recht gegenüber, der Religion wie der Wissenschaft, der Technik wie der Sitte […] es ist die Form der Festigkeit, des Geronnenseins, der beharrenden Existenz, mit der der Geist, so zum Objekt geworden, sich der strömenden Lebendigkeit, der inneren Selbstverantwortung, den wechselnden Spannungen der subjektiven Seele entgegenstellt; als Geist dem Geiste innerlich […] verbunden, aber eben darum unzählige Tragödien an diesem tiefen Formgegensatz erlebend: zwischen dem subjektiven Leben, das rast-
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los, aber zeitlich endlich ist, und seinen Inhalten, die, einmal geschaffen, unbeweglich, aber zeitlos gültig sind.«2 Es wäre vergeblich, diese Tragödien leugnen oder sich mit irgendeinem oberflächlichen Trostmittel über sie hinwegsetzen zu wollen. Aber sie erhalten ein anderes Gesicht, wenn man den Weg, der hier gezeichnet ist, fortsetzt und bis zu Ende verfolgt. Denn am Ende dieses Weges steht nicht das Werk, in dessen beharrender Existenz der schöpferische Prozeß erstarrt, sondern das »Du«, das andere Subjekt, das dieses Werk empfängt, um es in sein eigenes Leben einzubeziehen und es damit wieder in das Medium zurückzuverwandeln, dem es ursprünglich entstammt. Jetzt erst zeigt sich, welcher Lösung die »Tragödie der Kultur« fähig ist. Solange nicht der »Gegenspieler« zum Ich hervorgetreten ist, kann sich der Kreis nicht schließen. Denn so bedeutsam, so gehaltvoll, so fest in sich selbst und in seinem eigenen Mittelpunkt ruhend ein Werk der Kultur auch sein mag: es ist und bleibt doch nur ein Durchgangspunkt. Es ist kein »Absolutes«, an welches das Ich anstößt, sondern es ist die Brücke, die von einem Ichpol zum andern hinüberführt. Hierin liegt seine eigentliche und wichtigste Funktion. Der Lebensprozeß der Kultur besteht eben darin, daß sie in der Schaffung derartiger Vermittlungen und Übergänge unerschöpflich ist. Wenn wir diesen Prozeß ausschließlich oder vornehmlich vom Standpunkt des Individuums aus sehen, so behält er stets einen eigentümlich zwiespältigen Charakter. Der Künstler, der Forscher, der Religionsstifter – sie alle können eine wahrhaft große Leistung nur dann vollbringen, wenn sie sich ganz ihrer Aufgabe hingeben und wenn sie ihr eigenes Sein über ihr vergessen. Aber das fertige Werk ist, sobald es einmal vor ihnen steht, niemals allein Erfüllung, sondern es ist zugleich Enttäuschung. Es bleibt hinter der ursprünglichen Intuition, aus der es stammt, zurück. Die begrenzte Wirklichkeit, in der es dasteht, widerspricht der Fülle der Möglichkeiten, die diese Intuition ideell in sich barg. Nicht nur der Künstler, sondern auch der Denker empfindet immer wieder diesen Mangel. Und gerade die größten Denker scheinen fast immer zu einem Punkt zu gelangen, an dem sie endgültig Verzicht darauf leisten, ihre letzten und tiefsten Gedanken auszusprechen. Das Höchste, was der Gedanke zu erfassen vermag – so erklärt Platon im siebenten Brief –, ist dem Wort nicht mehr erreichbar; es entzieht sich der Mitteilung durch Schrift und Lehre. Solche Urteile sind aus der Psychologie des Genies verständlich und notwendig. Für uns selbst aber wird diese Skepsis um so mehr beschwichtigt, je größer, je umfassender und reicher das künstlerische oder philosophische Werk ist, in das wir uns versenken. Denn wir, die Aufnehmenden, messen nicht mit den gleichen Maßen, mit denen der Schaffende sein Werk mißt. Wo er ein Zuwenig sieht, da bedrängt uns ein Zuviel; wo er ein inneres Ungenügen empfand, da stehen wir vor dem Eindruck einer unerschöpflichen Fülle, die wir uns nie völlig aneignen 2
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zu können glauben. Beides ist gleich berechtigt und gleich notwendig; denn in ebendiesem eigentümlichen Wechselverhältnis erfüllt das Werk erst seine eigentliche Aufgabe. Es wird zum Vermittler zwischen Ich und Du, nicht indem es einen fertigen Gehalt von dem einen auf das andere überträgt, sondern indem sich an der Tätigkeit des einen die des anderen entzündet. Und hieraus erkennt man auch, warum die wahrhaft großen Werke der Kultur uns niemals als etwas schlechthin Starres, Verfestigtes gegenüberstehen, das in dieser Starrheit die freie Bewegung des Geistes einengt und hemmt. Ihr Gehalt besteht für uns nur dadurch, daß es ständig von neuem angeeignet und dadurch stets aufs neue geschaffen wird. Das Wesen dieses Prozesses tritt vielleicht am deutlichsten dort hervor, wo die beiden Subjekte, die an ihm teilhaben, nicht Individuen, sondern ganze Epochen sind. Jede »Renaissance« einer vergangenen Kultur kann uns ein Beispiel hierfür liefern. Eine Renaissance, die diesen Namen verdient, ist niemals eine bloße Rezeption. Sie ist nicht die einfache Fortführung oder Weiterbildung von Motiven, die einer vergangenen Kultur angehören. Oft glaubt sie es zu sein; oft kennt sie keinen höheren Ehrgeiz, als dem Vorbild, dem sie folgt, so nahe als möglich zu kommen. In dieser Weise haben allen klassizistischen Zeitaltern die großen Kunstwerke der Alten als Muster gegolten, die man wohl nachahmen, aber nie erreichen könne. Aber die eigentlichen und großen Renaissancen der Weltgeschichte sind immer Triumphe der Spontaneität, nicht der bloßen Rezeptivität gewesen. Es gehört zu den anziehendsten Problemen der Geistesgeschichte, zu verfolgen, wie diese beiden Momente ineinander eingreifen und sich wechselseitig bedingen. Man könnte hier von einer historischen Dialektik sprechen; aber diese Dialektik birgt durchaus keinen Widerspruch in sich, da sie vielmehr durch das Wesen der geistigen Entwicklung gegeben und in ihm tief begründet ist. Immer dann, wenn ein Subjekt – es mag sich nun um einen einzelnen oder um eine ganze Epoche handeln – bereit ist, sich zu vergessen, um in einem anderen aufzugehen und sich diesem ganz hinzugeben: immer dann findet es sich selbst in einem neuen und tieferen Sinn. Solange die eine Kultur der andern nur bestimmte Inhalte entnimmt, ohne den Willen und die Fähigkeit zu besitzen, in ihr eigentliches Zentrum, in ihre eigentümliche Form einzudringen, zeigt sich diese fruchtbare Wechselwirkung noch nicht. Es bleibt im besten Fall bei einer äußeren Übernahme einzelner Bildungselemente; aber diese werden nicht zu wirklichen bildenden Kräften oder Motiven. Diese begrenzte Art der Einwirkung der Antike können wir schon im Mittelalter überall feststellen. Schon im 9. Jahrhundert hat es in der bildenden Kunst und in der Literatur eine »Karolingische Renaissance« gegeben. Und die Schule von Chartres kann man als eine »mittelalterliche Renaissance« bezeichnen. Aber von jener »Wiedererweckung des klassischen Altertums«, die in den ersten Jahrhunderten der italienischen Renaissance einsetzt, ist dies alles nicht nur dem Grade, sondern auch der Art nach verschieden. Man hat Petrarca oft den »ersten modernen Menschen« genannt. Aber er konnte es,
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seltsam genug, nur dadurch werden, daß er zu einem neuen und tieferen Verständnis der Antike durchdrang. Er sah, durch das Medium der antiken Sprache und der antiken Kunst und Literatur, wieder die antiken Lebensformen; und in ihrer Anschauung gestaltete sich sein eigenes originales Lebensgefühl. Diese eigentümliche Durchdringung des Eigenen und des Fremden gilt für die gesamte italienische Renaissance; Burckhardt hat von ihr gesagt, daß sie »das Altertum nie anders denn als Ausdrucksmittel für ihre eigenen Bauideen behandelt« habe.3 Dieser Prozeß ist unerschöpflich; er setzt immer von neuem ein. Die Antike ist auch nach Petrarca immer wieder »entdeckt« worden; und jedes Mal sind es andere und neue Züge an ihr, die ans Licht gehoben wurden. Die Antike des Erasmus ist nicht mehr die gleiche wie die des Petrarca. Und an beide reihen sich die Antike von Rabelais und Montaigne, von Corneille und Racine, von Winckelmann, Goethe, Wilhelm von Humboldt an. Von irgendeiner dinglich-inhaltlichen Identität zwischen ihnen kann nicht die Rede sein. Was identisch ist, ist dies, daß die italienische, die niederländische, die französische, die deutsche Renaissance die Antike als eine unvergleichliche Kraftquelle empfinden, die sie nutzen, um ihren eigenen Ideen und Idealen zum Durchbruch zu verhelfen. So gleichen die wirklich großen Kulturepochen der Vergangenheit nicht einem erratischen Block, der als Zeuge einer vergangenen Zeit in die Gegenwart hineinragt. Sie sind nicht träge Massen; sondern sie sind die Zusammenballung gewaltiger potentieller Energien, die nur auf den Augenblick harren, in welchem sie wieder hervortreten und sich in neuen Wirkungen bekunden sollen. Das Geschaffene steht also auch hier dem schöpferischen Prozeß nicht einfach gegenüber oder entgegen: In die »[g]eprägte Form«4 strömt vielmehr immer neues Leben ein, das sie davor schützt, sich »zum Starren [zu] waffne[n]«.5 Daß diese nie abbrechende Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Kulturen sich niemals ohne innere Reibungen vollziehen kann, ist freilich ersichtlich. Zu einer wirklichen Verschmelzung kann es nicht kommen; denn die Gegenkräfte können nur wirken, indem sie sich wider einander behaupten. Selbst dort, wo eine vollkommene Harmonie erreicht oder erreichbar scheint, fehlt es nicht an starken inneren Spannungen. Betrachten wir die Fortwirkung der antiken Kultur, so stellt sie fast den idealen Grenzfall dar. Alles bloß Negative scheint ausgelöscht; die großen produktiven Kräfte scheinen rein und ungehindert ihre stete und stille Wirksamkeit ausüben zu können. Und doch fehlt es auch in diesem Idealfall nicht an Jacob Burckhardt, Geschichte der Renaissance in Italien (Geschichte der neueren Baukunst, Bd. I), bearb. v. Heinrich Holtzinger, Stuttgart 41904, S. 42. 4 [Johann Wolfgang von Goethe, Urworte. Orphisch, in: Werke, [Sophien-Ausgabe], 1. Abt., Bd. III, [Weimar 1887–1919], S. 95 f.: S. 95, sowie [ebd.], 1. Abt., Bd. XLI/1, S. 215–221: S. 215; ders., Brief an Sulpiz Boisserée vom 21. Mai 1818, [ebd.], 4. Abt., Bd. XXIX, S. 180–182: S. 181.] 5 [Ders., Eins und Alles, [ebd.], 1. Abt., Bd. III, S. 81, sowie [ebd.], 2. Abt., Bd. XI, S. 265 f.: S. 265.] 3
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Konflikten, ja an unversöhnlichen Gegensätzen. Die Rechtsgeschichte zeigt, welche großartige organisierende Kraft dem römischen Recht innewohnte und wie es diese Kraft im Lauf der Jahrhunderte immer aufs neue bewiesen hat. Aber das römische Recht konnte nicht schaffen, ohne zugleich eine Fülle vielversprechender Keime zu vernichten. Der Konflikt zwischen dem »natürlichen« Rechtsempfinden und den nationalen Rechtsgebräuchen auf der einen Seite, dem »gelehrten« Recht auf der anderen Seite brach immer wieder auf. Sieht man in derartigen Gegensätzen tragische Konflikte, so behält das Wort von der »Tragödie der Kultur« sein volles Recht. Aber wir dürfen nicht lediglich die Tatsache des Widerstreits, sondern wir müssen auch seine Heilung, wir müssen die eigentümliche »Katharsis« ins Auge fassen, die sich hier wieder und wieder vollzieht. So viele Kräfte auf der einen Seite gebunden werden, so werden doch auf der anderen Seite immer wieder neue und stärkere gelöst. Diese Bindung und Lösung zeigt sich im Kampf der verschiedenen Kulturen, und sie zeigt sich nicht minder in jenem Kampf, den das Individuum mit dem Ganzen, den die große schöpferische Einzelkraft mit den Kräften zu führen hat, die auf die Beharrung und in gewissem Sinne auf die Verewigung des gegebenen Bestandes abzielen. Das Produktive liegt mit dem Traditionellen in stetem Widerstreit. Es wäre auch hier irrig, den Konflikt lediglich in den Farben von Schwarz und Weiß zu malen – allen Wert auf der einen Seite, allen Unwert auf der anderen zu sehen. Die Tendenzen, die auf Erhaltung gerichtet sind, sind nicht minder bedeutungsvoll und unentbehrlich als diejenigen, die auf Erneuerung gerichtet sind, weil Erneuerung sich nur an Beharrendem vollziehen und weil Beharrendes nur kraft steter Selbsterneuerung bestehen kann. Am deutlichsten wird dieses Verhältnis dort, wo der Kampf zwischen den beiden Tendenzen sich ganz in der Tiefe abspielt – in einer Tiefe, über die das bewußte Planen und Wollen der Individuen keine Macht mehr hat, weil in ihr Kräfte walten, die dem einzelnen nicht zum Bewußtsein kommen. Ein solcher Fall ist in der Entwicklung und Umbildung der Sprache gegeben. Die traditionelle Bindung ist hier am stärksten, und sie scheint dem Schöpfertum des einzelnen nur einen geringen Spielraum zu verstatten. Die Sprachphilosophie hat immer wieder darüber gestritten, ob die Sprache ein Erzeugnis der »Natur« oder der »Satzung«, ob sie φúσει oder θéσει sei. Aber gleichviel, ob man die eine oder die andere These annimmt, ob man in der Sprache ein Objektives oder ein Subjektives, ein Bestehendes oder ein Gesetztes sieht, so muß man auch dieses Letztere, wenn es seinen Zweck erfüllen soll, mit einer Art von Zwang ausstatten, kraft dessen es sich gegen jede Willkür behauptet. Der »Nominalist« Hobbes erklärt, daß die Wahrheit nicht in den Dingen, sondern in den Zeichen liege: »veritas non in re, sed in dicto consistit«.6 Aber er fügt [Vgl. Hobbes, Elementorum philosophiae sectio prima de corpore (Teil 1, Kap. 3, § 7), S. 20: »Veritas enim in dicto, non in re consistit […]«.] 6
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hinzu, daß das Zeichen, einmal gesetzt, keiner Veränderung mehr zugänglich sei, daß die Konvention als etwas Absolutes anerkannt werden müsse, wenn überhaupt menschliches Sprechen und Verstehen möglich sein solle. Die Sprachgeschichte straft freilich diesen Glauben an eine unabänderliche, ein für allemal festlegbare Bedeutung der Sprachbegriffe Lügen. Sie zeigt, daß jeder lebendige Sprachgebrauch einem steten Bedeutungswandel unterliegt. Der Grund hierfür besteht darin, daß »Sprache« niemals als physisches »Ding« existiert, das mit sich selbst einerlei bleibt und das stets dieselben konstanten »Eigenschaften« aufweist. Sie ist nur im Akt des Sprechens, und dieser vollzieht sich niemals unter genau gleichen Bedingungen und in genau derselben Weise. Hermann Paul hat in seinen »Prinzipien der Sprachgeschichte« darauf hingewiesen, welche bedeutsame Rolle dem Umstand zufällt, daß die Sprache nur dadurch besteht, daß sie von einer Generation an die andere weitergegeben wird. Dieses Weitergeben kann niemals in der Art erfolgen, daß dabei die Aktivität und Selbsttätigkeit des einen Teils ausgeschaltet wird. Der Empfangende nimmt die Gabe nicht gleich einer geprägten Münze. Er kann sie nur aufnehmen, indem er sie gebraucht, und in diesem Gebrauch drückt er ihr eine neue Prägung auf. So spricht der Lehrer und der Lernende, so sprechen Eltern und Kinder niemals streng »dieselbe« Sprache. In dieser notwendigen Bildung und Umbildung sieht Paul einen der wichtigsten Faktoren für alle Sprachgeschichte.7 Diese Sprachschöpfung, die sich nur in der unbewußten Abweichung von dem gegebenen Vorbild erweist, ist freilich vom eigentlichen Schöpfertum noch weit entfernt. Sie ist Wandel, der sich am Substrat der Sprache vollzieht; aber sie ist keine Tat, die auf dem bewußten Einsatz neuer Kräfte beruht. Aber auch dieser letzte entscheidende Schritt ist unentbehrlich, wenn die Sprache nicht absterben soll. Die Erneuerung von innen her erlangt ihre volle Stärke und Intensität erst dann, wenn die Sprache nicht lediglich der Vermittlung und Weitergabe eines festen Kulturbesitzes dient, sondern statt dessen zum Ausdruck eines neuen, individuellen Lebensgefühls wird. Indem dieses Gefühl in die Sprache einströmt, weckt es all die unbekannten Energien, die in ihr schlummern. Was im Kreise des täglichen Ausdrucks bloße Abweichung war, das wird hier zur Neugestaltung, die so weit gehen kann, daß sie schließlich fast den gesamten Sprachkörper, daß sie Wortschatz, Grammatik, Stilistik umzuschaffen scheint. Die großen Epochen der Dichtung haben in dieser Weise auf die Bildung der Sprache gewirkt. Dantes »Divina Commedia« hat nicht nur dem Epos einen neuen Sinn und Gehalt gegeben; sie bildet auch die Geburtsstunde der »lingua volgare«, des modernen Italienisch. Es scheint im Leben der großen Dichter immer wieder Augenblicke gegeben zu haben, in denen sie diesen Drang zur Erneuerung der Sprache so stark empfanden, daß ihnen das Gegebene, das Material, in dem sie arbeiten mußten, fast als eine lästige Fessel erschien. In solchen Augenblicken er7
Vgl. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte (Kap. 1), S. 21 ff.
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wacht in ihnen die Skepsis gegen die Sprache zur vollen Stärke. Auch Goethe ist von dieser Skepsis nicht frei – und er hat ihr bisweilen einen nicht minder charakteristischen Ausdruck gegeben als Platon. In einem bekannten Venezianischen Epigramm erklärt er, daß er, so vieles er auch versucht habe, nur ein Talent der Meisterschaft nahe gebracht habe: das Talent, deutsch zu schreiben. »Und so verderb’ ich unglücklicher Dichter In dem schlechtesten Stoff leider nun Leben und Kunst.«8 Aber wir wissen, was Goethes Kunst aus diesem »schlechtesten Stoff« gemacht hat. Die deutsche Sprache ist bei Goethes Tode nicht mehr das, was sie bei seiner Geburt gewesen war. Sie ist nicht nur inhaltlich bereichert und über ihre bisherigen Grenzen erweitert, sondern sie ist auch zu einer neuen Form herangereift; sie schließt Möglichkeiten des Ausdrucks in sich, die ein Jahrhundert zuvor noch völlig unbekannt waren. Auch in anderen Gebieten läßt sich immer wieder der gleiche Gegensatz aufweisen. Der Schaffensprozeß hat stets zwei verschiedenen Bedingungen zu genügen: Er muß auf der einen Seite an ein Bleibendes und Bestehendes anknüpfen, und er muß auf der anderen Seite stets zu einem neuen Einsatz und Ansatz bereit sein, der dies Bestehende wandelt. Denn nur auf diese Weise gelingt es, den Anforderungen gerecht zu werden, die von seiten des Objekts und des Subjekts gestellt werden. Auch der bildende Künstler findet seinen Weg ebenso gebahnt und vorbereitet, wie der Dichter ihn vorbereitet findet, wenn er sich der Sprache anvertraut. Denn wie jede Sprache einen bestimmten Wortschatz aufweist, den sie nicht im Augenblick erschafft, sondern über den sie als einen festen Besitz verfügt, so gilt das gleiche auch für alle Arten bildender Tätigkeit. Es gibt einen Formenschatz des Malers, des Plastikers, des Architekten, und es gibt eine eigentümliche »Syntax« dieser Gebiete, wie es eine Syntax der Sprache gibt. Dies alles kann nicht frei »erfunden« werden. Hier behauptet die Tradition immer wieder ihre Rechte, denn nur durch sie kann die Kontinuität des Schaffens hergestellt und sichergestellt werden, auf der alle Verständlichkeit, auch innerhalb der bildnerischen Sprache, beruht. »So wie die Sprachwurzeln ihre Geltung immer behaupten und bei allen späteren Umgestaltungen und Erweiterungen der Begriffe, die sich an sie knüpfen, der Grundform nach wieder hervortreten«, so sagt Gottfried Semper, »wie es unmöglich ist, für einen neuen Begriff zugleich ein ganz neues Wort zu erfinden, ohne den ersten Zweck zu verfehlen, nämlich verstanden zu werden, eben so wenig darf man diese ältesten Typen und Wurzeln der Kunstsymboliken […] verwerfen und unberücksichtigt lassen. […] denselben Vortheil, den die vergleichende Sprachforschung und das Studium [Johann Wolfgang von Goethe, Epigramme. Venedig 1790, in: Werke, [a. a.O. (Anm. 4)], 1. Abt., Bd. I, S. 305–331: S. 314.] 8
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der Urverwandtschaften der Sprachen dem heutigen Redekünstler gewähren, hat derjenige Baukünstler in seiner Kunst voraus, der die ältesten Symbole seiner Sprache in ihrer ursprünglichsten Bedeutung erkennt und sich von der Weise Rechenschaft ablegt, wie sie, mit der Kunst selbst, sich geschichtlich in Form und Bedeutung umwandelten.«9 Die Traditionsgebundenheit zeigt sich zunächst in all dem, was man die Technik der einzelnen Künste nennt. Sie unterliegt ebenso festen Regeln wie jeder andere Werkzeugsgebrauch, denn sie ist von der Beschaffenheit des Materials, in dem der Künstler arbeitet, abhängig. Kunst und Handwerk, bildnerische Tätigkeit und handwerkliche Fertigkeit haben sich nur langsam getrennt; und gerade in den Höhepunkten künstlerischer Entwicklung pflegt ihr Zusammenhang besonders innig zu sein. Kein Künstler kann seine Sprache wirklich sprechen, wenn er sie nicht zuvor in dem steten Verkehr mit seinem Material erlernt hat. Und dies bezieht sich keineswegs allein auf die stofflich-technische Seite des Problems. Auch im Bereich der Form selbst hat es seine genaue Parallele. Denn auch die künstlerischen Formen werden, einmal geschaffen, zum festen Besitz, der sich von einer Generation zur anderen vererbt. Oft kann sich diese Übertragung und Vererbung über Jahrhunderte erstrecken. Jede Epoche übernimmt von der vorhergehenden bestimmte Formen und gibt sie an die folgende weiter. Die Formsprache gewinnt eine solche Festigkeit, daß bestimmte Themata mit bestimmten Weisen des Ausdrucks fest zu verwachsen scheinen, daß sie uns immer wieder in denselben oder leicht modifizierten Formen begegnen. Dieses »Beharrungsgesetz«, das für die Fortbewegung der Formen gilt, bildet einen der wichtigsten Faktoren der künstlerischen Entwicklung – und für die Kunstgeschichte liegt hier eine der reizvollsten Aufgaben. In neuerer Zeit ist es insbesondere Aby Warburg gewesen, der auf diesen Prozeß das stärkste Gewicht gelegt und der ihn, psychologisch wie historisch, nach allen Seiten hin zu erleuchten gesucht hat. Warburg ist ursprünglich von der Kunstgeschichte der italienischen Renaissance ausgegangen. Aber sie bildet für ihn nur ein einzelnes Paradigma, an dem er sich die Eigenart und die Grundrichtung des schöpferischen Prozesses in der bildenden Kunst klarmachen wollte. Beides fand er am deutlichsten ausgedrückt in dem Nachleben der antiken Bildformen. Er zeigte, wie die Antike für gewisse typische, immer wiederkehrende Situationen bestimmte prägnante Ausdrucksformen geschaffen hat. Gewisse innere Erregungen, gewisse Spannungen und Lösungen sind in ihnen nicht nur festgehalten, sondern sie sind gleichsam in sie gebannt. Überall, wo ein gleichartiger Affekt anklingt, wird auch das Bild, das die Kunst für ihn geschaffen, wieder lebendig. Es entstehen, nach Warburgs Ausdruck, Gottfried Semper, Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst (Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Aesthetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Bd. I), 2., durchges. Aufl., München 1878, S. 6. 9
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bestimmte »Pathosformeln« ‚ die sich dem Gedächtnis der Menschheit unauslöschlich einprägen. Den Bestand und den Wandel, die Statik und die Dynamik dieser »Pathosformeln« hat Warburg durch die gesamte Geschichte der bildenden Kunst hindurch verfolgt.10 Er hat damit die Kunstgeschichte nicht nur inhaltlich bereichert, sondern ihr auch methodisch ein neues Gepräge gegeben. Denn hier rührte er an ein systematisches Grundproblem aller kulturwissenschaftlichen Betrachtung. Wie die Malerei und Plastik bestimmte feste Haltungen, Stellungen, Gesten des menschlichen Körpers dazu benützt, um seelisches Dasein und seelische Bewegtheit sichtbar werden zu lassen, so besteht auch in allen anderen Gebieten der Kultur die Aufgabe immer wieder darin, in dieser Weise Bewegung und Ruhe, Geschehen und Dauer miteinander zu verknüpfen und das eine als Darstellungsmittel für das andere zu brauchen. Sprachliche und künstlerische Formen müssen, wenn sie »allgemein mitteilbar« sein, wenn sie die Brücke zwischen verschiedenen Subjekten schlagen sollen, eine innere Festigkeit und Konsistenz besitzen. Aber sie müssen zugleich wandlungsfähig sein; denn jeder Gebrauch der Formen schließt, da er in verschiedenen Individuen vor sich geht, schon eine gewisse Modifikation ein und wäre ohne sie nicht möglich. Man könnte versuchen, die verschiedenen künstlerischen Gattungen nach dem Verhältnis zu unterscheiden, das in ihnen zwischen diesen beiden überall notwendigen Gegenpolen besteht. Hier müßte freilich erst eine prinzipielle Vorfrage beantwortet werden. In welchem Sinne läßt sich überhaupt von solchen »Gattungen« sprechen? Sind sie etwas anderes als bloße Wortmarken? Die antike Poetik und Rhetorik ging darauf aus, die verschiedenen dichterischen Ausdrucksformen streng zu scheiden und jeder von ihnen eine bestimmte unveränderliche »Natur« zuzusprechen. Sie glaubte, daß die einzelnen Dichtarten spezifisch voneinander geschieden seien, daß die Ode und die Elegie, die Idylle und die Fabel ihre eigenen Gegenstände und ihre eigenen Gesetze habe. Der Klassizismus hat diese Auffassung zum Grundprinzip seiner Ästhetik gemacht. Bei Boileau gilt es als unbestrittene Voraussetzung, daß Komödie und Tragödie je ihr eigenes »Wesen« habe und daß dieses für die Wahl ihrer Motive, ihrer Charaktere, ihrer sprachlichen Mittel bestimmend sein müsse. Auch bei Lessing herrscht diese Grundansicht vor, wenngleich er sie wesentlich freier gestaltet. Er gesteht dem Genie das Recht zu, die Grenzen der einzelnen Gattungen zu erweitern; aber auch er glaubt nicht, daß diese Grenzen prinzipiell aufgehoben werden können. Die moderne Ästhetik hat versucht, alle die hier fixierten Unterschiede als einen bloßen Ballast zu behandeln, den man einfach über Bord werfen müsse. Am weitesten in dieser Hinsicht ist Benedetto Croce geVgl. bes. Aby Warburg, Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, 2 Bde. (Gesammelte Schriften, hrsg. v. Gertrud Bing), Leipzig/Berlin 1932. 10
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gangen. Er erklärt alle Einteilungen der Künste und alle Unterscheidungen von Kunstgattungen als bloße Nomenklaturen, die einem praktischen Zwecke dienen mögen, die aber jeder theoretischen Bedeutung entbehren. Derartige Klassifikationen haben nach Croce so viel oder so wenig Wert wie die Rubriken, unter denen wir die Bücherschätze einer Bibliothek ordnen. Die Kunst läßt sich, wie er betont, weder in dieser Weise nach Sachen noch läßt sie sich nach ihren Darstellungsmitteln in einzelne Fächer zerlegen. Die ästhetische Synthesis ist und bleibt eine unteilbare Einheit. »Da jedes Kunstwerk einen Gemütszustand ausdrückt und der Gemütszustand individuell und immer neu ist, so bedeutet die Intuition unendlich viele Intuitionen, die unmöglich in ein Fächerwerk von Gattungen reduziert werden können […] Das will besagen, jede beliebige Theorie der Teilung der Künste ist unbegründet. Die Gattung oder die Klasse ist in diesem Falle eine einzige, die Kunst selbst oder die Intuition, während die einzelnen Kunstwerke im übrigen zahllos sind: alle original, keines ins andere übersetzbar […] jedes unbezwungen vom Verstand. Zwischen das Universale und das Besondere schiebt sich in philosophischer Betrachtung kein Zwischenelement ein, keine Reihe von Gattungen oder Arten, von ›generalia‹. Weder der Künstler, der die Kunst schafft, noch der Beschauer, der sie betrachtet, haben etwas andres nötig als das Universale und das Individuelle oder besser das individuell gewordene Universale: die allgemeine künstlerische Aktivität, die sich ganz in die Darstellung eines einzelnen Gemütszustandes zusammengezogen und konzentriert hat.«11 Wäre dies ohne Einschränkung richtig, so würde man damit zu der seltsamen Folgerung geführt, daß, wenn wir Beethoven einen großen Musiker, Rembrandt einen großen Maler, Homer einen großen Epiker, Shakespeare einen großen Dramatiker nennen, damit nur gleichgültige empirische Nebenumstände ausgesprochen wären, die in ästhetischer Beziehung belanglos und für ihre Charakteristik als Künstler entbehrlich sind. Gibt es nur »die« Kunst auf der einen Seite, das Individuum auf der anderen Seite, so ist es relativ zufällig, in welchem Medium der einzelne Künstler sich selbst ausdrücken will. Dies könnte in Farben oder Tönen, im Wort oder in Marmor geschehen, ohne daß hierdurch die künstlerische Intuition betroffen würde; sie bliebe dieselbe und hätte nur eine andere Art der Mitteilung gewählt. Aber eine solche Auffassung würde, wie mir scheint, dem künstlerischen Prozeß nicht gerecht werden. Denn das Kunstwerk würde damit in zwei Hälften zerbrechen, die in keiner notwendigen Beziehung zueinander stünden. In Wahrheit gehört jedoch die besondere Art des Ausdruckes nicht erst zur Technik der WerkBenedetto Croce, Grundriß der Ästhetik. Vier Vorlesungen, übers. v. Theodor Poppe, Leipzig 1913 (Wissen und Forschen, Bd. 5), S. 45 f. Vgl. ders., Estetica come scienza dell’espressione e linguistica generale. Teoria e storia, Bari 31908 (Filosofia come scienza dello spirito, Bd. 1), S. 129 ff. 11
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gestaltung, sondern schon zur Konzeption des Kunstwerks selbst. Beethovens Intuition ist musikalisch, Phidias’ Intuition ist plastisch, Miltons Intuition ist episch, Goethes Intuition ist lyrisch. Dies alles betrifft nicht nur die äußere Schale, sondern den Kern ihres Schaffens. Und damit stoßen wir erst auf den eigentlichen Sinn und das tiefere Recht der Einteilung der Künste in verschiedene »Gattungen«. Das Motiv, das Croce zu seinem heftigen Kampf gegen die Lehre von den Gattungen veranlaßt hat, ist leicht zu erkennen. Er wollte damit einem Irrtum entgegentreten, der sich durch die ganze Geschichte der Ästhetik hindurchzieht und der in ihr oft zu unfruchtbaren Problemstellungen geführt hat. Immer wieder hat man versucht, die Bestimmungen der einzelnen künstlerischen Gattungen und den Unterschied zwischen ihnen dazu zu benützen, einen »Kanon« des Schönen aufzustellen. Man suchte aus ihnen bestimmte allgemeine Normen für die Bewertung der Kunstwerke zu gewinnen, und man stritt über den Vorrang der einzelnen Künste selbst. Mit welchem Eifer der Wettstreit zwischen Malerei und Poesie noch in der Renaissance geführt wurde, kann man z. B. aus Leonardo da Vincis »Trattato della pittura« ersehen. Dies ist freilich eine falsche Tendenz. Es ist vergebens, eine Bestimmung von dem, was die Ode, was die Idylle, was das Trauerspiel an sich ist, zu geben und zu fragen, ob ein einzelnes Werk den Gattungszweck mehr oder weniger vollkommen erfüllt hat. Und noch fragwürdiger ist es, wenn man die einzelnen Künste in einer aufsteigenden Reihe zu ordnen sucht und fragt, welche Stelle jede von ihnen in dieser Hierarchie der Werte einnimmt. »Ein kleines Gedicht«, so erklärt Croce, »steht ästhetisch einem Epos gleich […] oder eine Skizze einem Altargemälde oder einem Fresco; ein Brief ist ein Kunstgegenstand nicht weniger als ein Roman […]« Das mag völlig zutreffen – aber folgt daraus, daß, seinem ästhetischen Sinn und Gehalt nach, ein lyrisches Gedicht ein Epos, daß der Brief ein Roman »ist«; daß er es sein kann und sein will? Croce konnte diese Folgerung nur darum ziehen, weil er im Aufbau seiner Ästhetik das Moment des »Ausdrucks« als das eigentliche und einzige Fundament gelten läßt. Er legt den Akzent fast ausschließlich darauf, daß die Kunst Ausdruck des individuellen Gefühls und des individuellen Gemütszustandes sein müsse, und es gilt ihm gleich viel, welche Wege sie hierbei einschlägt und welcher besonderen Richtung der Darstellung sie folgt. Dadurch wird die »subjektive« Seite vor der »objektiven« nicht nur bevorzugt, sondern die letztere sinkt der ersteren gegenüber fast zu einem gleichgültigen Moment herab. Alle Art künstlerischer Intuition wird »lyrische Intuition« – gleichviel, ob sie sich in einem Drama, einem Heldengedicht, in der Skulptur, in der Architektur, in der Schauspielkunst verwirklicht. »Da […] die Individualität der Intuition die Individualität des Ausdrucks bedeutet, da eine Malerei von einer anderen nicht weniger verschieden ist als von einer Dichtung, und Malerei und Dichtung wertvoll sind nicht durch die Töne, die die Luft erschüttern und die Farben, die sich im Licht brechen, sondern durch das, was sie dem Geist […] zu sagen wissen, so hat es keinen Zweck die ab-
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strakten Mittel des Ausdrucks heranzuziehen, um […] eine Reihe von Gattungen oder Klassen zu konstruieren.«12 Wie man sieht, verwirft Croce die Lehre von den Gattungen nicht nur – was völlig berechtigt wäre –, sofern sie Normbegriffe aufstellen, sondern auch, sofern sie bestimmte Stilbegriffe fixieren will. Und deshalb müssen für ihn alle Differenzen der Darstellungsform verschwinden oder in bloße Differenzen der »physischen« Darstellungsmittel umgedeutet werden. Aber gerade diese Entgegensetzung des »physischen« und des »psychischen« Faktors wird durch die unbefangene Versenkung in ein großes Kunstwerk widerlegt. Beide Momente sind hier so vollständig ineinander aufgegangen, daß sie sich zwar in der Reflexion scheiden lassen, daß sie aber für die ästhetische Anschauung und das ästhetische Gefühl ein untrennbares Ganze bilden. Kann man wirklich, wie es Croce tut, die konkrete »Intuition« den »abstrakten« Mitteln des Ausdrucks gegenüberstellen und demgemäß alle Differenzen, die sich im Kreise der letzteren finden, als rein begriffliche Differenzen behandeln? Oder ist nicht eben beides im Kunstwerk innerlich zusammengewachsen? Läßt sich, rein phänomenologisch, eine Art gleichförmiger Urschicht der ästhetischen Intuition aufweisen, die immer dieselbe bleibt und die sich erst bei der Ausführung des Werkes dafür entscheidet, welchen Weg sie gehen und ob sie sich in Worten, in Tönen oder Farben verwirklichen will? Auch Croce hat dies nicht angenommen. »Wenn man einer Dichtung ihr Metrum, ihren Rhythmus und ihre Worte nimmt«, so erklärt er nachdrücklich, »dann bleibt nicht, wie manche glauben, jenseits von all dem der poetische Gedanke: es bleibt nichts. Die Dichtung ist als diese Worte, dieser Rhythmus und dieses Metrum geboren.«13 Aber daraus folgt, daß auch die ästhetische Intuition als musikalische oder plastische, als lyrische oder dramatische geboren wird, daß die hier ausgedrückten Unterschiede also nicht bloße Wortmarken oder Etiketten sind, die wir den einzelnen Kunstwerken anheften, sondern daß ihnen echte Stildifferenzen, verschiedene Richtungen der künstlerischen Intention entsprechen. Geht man hiervon aus, so zeigt sich, daß unser allgemeines Problem in allen Arten künstlerischer Gestaltung auftritt, während es doch andrerseits in jeder von ihnen eine spezifische Gestalt annehmen kann. Das Moment der Formkonstanz und das Moment der »Modifizierbarkeit« der Form tritt uns überall entgegen. Der Ausgleich zwischen beiden scheint freilich in den verschiedenen Künsten nicht in der gleichen Weise zu erfolgen. In dem einen Fall scheint das Beständige und Gleichförmige, in dem andern der Wandel und die Bewegung den Vorrang zu behaupten. Man könnte in gewissem Sinne der Bestimmtheit, der Festigkeit und Geschlossenheit der architektonischen Form die Bewegung, die Variabilität und Variation der lyrischen oder musikalischen Form gegenüberstellen. Aber dies sind bloße Akzentverschiebungen; 12 13
Ders., Grundriß der Ästhetik, S. 36 [Zitate S. 48 u. 46]. A. a.O., S. 36.
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denn auch in der Architektur zeigt sich Dynamik und Rhythmus, wie sich in der Musik eine strenge Statik der Formen zeigt. Was die Lyrik betrifft, so scheint sie von allen Künsten die beweglichste und flüchtigste zu sein. Sie weiß von keinem anderen Sein als dem, das sich im Werden enthüllt – und dieses Werden ist nicht die objektive Veränderung der Dinge, sondern die innere Bewegtheit des Ich. Wenn hier etwas festgehalten werden soll, so ist es der Übergang selbst; das Kommen und Gehen, das Auftauchen und Verschwinden, das Anklingen und Verschweben der feinsten seelischen Regungen und der flüchtigsten seelischen Stimmungen. Wenn irgendwo, so scheint es hier sicher zu sein, daß der Künstler keine fertige Welt von »Formen« nutzen kann; daß jeder neue Augenblick eine neue Form erschaffen muß. Und doch zeigt die Geschichte der Lyrik, daß selbst in ihr der »Bestand« gegenüber der Bewegung nicht gänzlich verschwindet, daß die »Heterogenität« nicht einzig und nicht einseitig herrscht. Gerade in der Lyrik erscheint alles Neue, was sie erzeugt, immer noch als ein Anklang und Wiederklang. Denn es sind im Grunde nur wenige große Grundthemen, denen sie sich zuwendet. Sie bleiben unerschöpflich und unveränderlich; sie gehören allen Völkern, und sie haben im Lauf der Zeiten kaum eine wesentliche Änderung erfahren. In keinem Gebiet scheint die Stoffwahl auf einen so engen Kreis beschränkt wie hier. Der Epiker mag immer neue Begebenheiten, der Dramatiker mag immer neue Charaktere und immer neue Konflikte gestalten. Aber die Lyrik schreitet den Kreis menschlichen Empfindens ab, um sich in ihm stets wieder auf denselben Mittelpunkt zurückverwiesen zu sehen. Für sie gibt es im Grunde nichts Äußeres, sondern Ort für Ort ist sie im Innern. Dieses Innere erscheint in ihr als unendlich, sofern es niemals völlig aussagbar und völlig erschöpfbar ist; aber diese Unendlichkeit betrifft seinen Gehalt, nicht seinen Umfang. Die Zahl der eigentlich lyrischen Motive scheint im Wandel der Zeiten kaum der Erweiterung fähig, und sie scheint ihrer nicht bedürftig zu sein. Denn die Lyrik versenkt sich immer wieder in die »Naturformen der Menschheit«. Noch im Persönlichsten, Individuellen, Einmaligen fühlt sie die ewige Wiederkehr des Gleichen. Ein bestimmter Kreis von Gegenständen ist ihr genug, um aus ihm allen Reichtum der Stimmung und der dichterischen Form hervorzuzaubern. Immer wieder begegnen wir den gleichen Gegenständen und den gleichen vorbildlichen menschlichen Situationen. Die Liebe und der Wein, die Rose und die Nachtigall, der Schmerz der Trennung und das Glück des Wiederfindens, das Erwachen und Sterben der Natur: dies alles kehrt in der lyrischen Dichtung aller Zeiten unablässig wieder. Die Last der Tradition und Konvention ist daher auch in der Geschichte der Lyrik zu spüren – und sie wiegt hier besonders schwer. Aber all dies ist beseitigt und überwunden, sooft, im Laufe der Jahrhunderte, ein neuer großer Lyriker geboren wird. Auch er pflegt den Kreis der lyrischen »Objekte« und der lyrischen Motive kaum zu erweitern. Goethe hat sich nicht gescheut, sowohl in der Wahl der Motive wie in der Formwahl, an die Lyrik aller Völker und aller Jahrhunderte anzuknüpfen. Die »Rö-
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mischen Elegien« und der »West-östliche Divan« beweisen, was solche Anklänge und Wiederklänge für ihn bedeutet haben. Dennoch hören wir in jenen so wenig die Sprache von Catull oder Properz, wie wir in diesem die Sprache von Hafis hören. Wir hören nur Goethes Sprache – die Sprache des einmaligen, unvergleichlichen Lebensmoments, den er in diesen Dichtungen festgehalten hat. So begegnen wir in den verschiedenen Kulturgebieten immer wieder demselben, in seiner Grundbeschaffenheit einheitlichen Prozeß. Der Wettstreit und Widerstreit zwischen den beiden Kräften, von denen die eine auf Erhaltung, die andere auf Erneuerung zielt, hört niemals auf. Das Gleichgewicht, das zwischen ihnen bisweilen erreicht scheint, ist immer nur ein labiles Gleichgewicht, das in jedem Augenblick in neue Bewegung umschlagen kann. Dabei wird mit dem Wachstum und der Entwicklung der Kultur der Ausschlag des Pendels immer weiter: Die Amplitude der Schwingung wächst mehr und mehr. Die inneren Spannungen und Gegensätze gewinnen damit eine immer stärkere Intensität. Dennoch wird dieses Drama der Kultur nicht schlechthin zu einer »Tragödie der Kultur«. Denn es gibt in ihm ebensowenig eine endgültige Niederlage, wie es einen endgültigen Sieg gibt. Die beiden Gegenkräfte wachsen miteinander, statt sich wechselseitig zu zerstören. Der schöpferischen Bewegung des Geistes scheint in den eignen Werken, die sie aus sich hervorbringt, ein Gegner zu erwachsen. Denn alles Geschaffene muß seiner Natur nach dem, was neu entstehen und werden will, den Raum streitig machen. Aber wenn sich die Bewegung immer wieder an ihren Gebilden bricht, so zerbricht sie doch nicht an ihnen. Sie sieht sich nur zu einer neuen Anstrengung genötigt und getrieben, in der sie neue, unbekannte Kräfte entdeckt. Nirgends tritt dies in so bedeutsamer und charakteristischer Form hervor, als im Verlauf der religiösen Ideenbewegung. Hier zeigt der Kampf seine vielleicht tiefste und erschütterndste Seite. Nicht nur der Gedanke oder die Phantasie, sondern Gefühl und Wille, der ganze Mensch ist an ihm beteiligt. Denn jetzt handelt es sich nicht mehr um endliche einzelne Ziele; es handelt sich um Tod oder Leben, um Sein oder Nichtsein. Es gibt keine relativen Entscheidungen; es geht um die eine absolute Entscheidung. Die Religion ist überzeugt, im Besitz dieser absoluten Entscheidung zu sein. In ihr glaubt der Mensch ein Ewiges gefunden zu haben, einen Bestand, der dem Zeitstrom nicht mehr angehört. Aber die Verheißung dieses höchsten Gutes und dieses höchsten Wertes schließt für das Subjekt zugleich eine bestimmte Forderung in sich. Es muß sie, so wie sie ihm dargeboten wird, hinnehmen; es muß seiner eigenen inneren Unruhe, seinem rastlosen Suchen entsagen. Wenn die Religion, wie alle geistigen Güter, aus dem Lebensstrom entspringt, so will sie ihn doch zugleich überwinden. Sie eröffnet den Ausblick in ein »transzendentes« Gebiet, das unberührt von ihm an sich selbst gilt und in sich selbst verharrt. Um dieses ihres Zieles willen muß sie die stärksten inneren und äußeren Bindungen enthalten. Je weiter wir in der Religionsgeschichte zurückgehen, um so fester werden diese Bindungen. Der Gott, dessen
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Hilfe erfleht wird, erscheint nur, wenn kein Wort in der Gebetsformel verändert wird; der Ritus verliert jede religiöse Kraft, wenn er sich nicht in ein und derselben unwandelbaren Kette von Einzelhandlungen vollzieht. In den Religionen der »Primitiven« verfällt das Ganze des Lebens dieser Starrheit des religiösen Formalismus. Jede Einzelhandlung ist von religiösen Verboten betroffen und bedroht. Eine Fülle von Tabuvorschriften legte sich wie ein eiserner Ring um das Dasein und das Leben des Menschen. Aber die Entwicklung der Religion weist ihr andere und höhere Ziele. Die Bindung hört nicht auf; aber sie wendet sich nicht nach außen, sondern nach innen. Das Gebet wird aus magischem Wortzwang zur Anrufung der Gottheit; das Opfer und die Kulthandlung werden zur Versöhnung mit Gott. Und damit wächst und erstarkt die Macht des Subjektiven und Individuellen. Die Religion ist und bleibt ein Ganzes von festen Glaubenssätzen und festen praktischen Geboten. Diese Sätze sind wahr, diese Gebote sind gültig, weil sie von Gott offenbart und verkündigt worden sind. Aber diese Verkündigung selbst vollzieht sich nirgend anders als in der Seele der einzelnen, der großen Religionsstifter und Propheten. Damit bricht der Gegensatz wieder in seiner vollen Stärke auf, und jetzt wird er in seiner ganzen Tiefe erlebt. Das Ich wächst über alle seine empirischen Grenzen hinaus; es erkennt keine Schranke zwischen sich und der Gottheit an; es fühlt sich unmittelbar gottbeseelt und gottdurchdrungen. Und kraft dieser Unmittelbarkeit verwirft es alles, was den Charakter der objektiven Satzung hat, was nur dem religiösen Herkommen angehört. Der Prophet will einen »neuen Himmel und eine neue Erde«14 aufbauen. Aber hier verfällt er freilich, in seinem eigenen Sein und in seinem eigenen Werk, wieder der Gewalt, von der er die Menschen befreien will. Er kann bestimmte bestehende Dogmen nur verwerfen, indem er ihnen seine eigene tiefere Gewißheit vom Göttlichen entgegenstellt. Und um diese Gewißheit auszusprechen, muß er selbst wieder zum Schöpfer neuer religiöser Symbole werden. Sie sind für ihn, solange er noch von der inneren Kraft des Schauens beseelt und erfüllt ist, nichts anderes als Sinnbilder. Aber für diejenigen, an die die Verkündigung ergeht, werden diese Sinnbilder wieder zu Dogmen. Das Wirken jedes großen Religionsstifters lehrt uns, wie er immer wieder unerbittlich in diesen Kreis hineingezogen wird. Was für ihn Leben war, wandelt sich zur Satzung und erstarrt in ihr. So finden wir auch hier die gleiche Oszillation, die in den anderen Gestaltungen der Kultur hervortritt. Auch die Religion kann sich, wenngleich sie ein Festes, Ewiges, Absolutes verkündet, diesem Prozeß nicht entziehen: Denn indem sie in das Leben einzugreifen und es zu gestalten sucht, unterliegt sie damit dem Auf und Ab, dem steten und unaufhaltsamen Rhythmus des Lebens. Auf Grund dieser Betrachtungen können wir nunmehr auch den spezifischen Unterschied schärfer bezeichnen, der zwischen dem Werden der »Natur« und dem 14
[Jesaja 65, 17.]
Die »tragödie der kultur«
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der »Kultur« besteht. Auch die Natur kennt keinen Stillstand; auch die Organismen besitzen, in aller Bestimmtheit ihrer Form, eine eigentümliche Freiheit. Die Modifikabilität ist ein Grundcharakter alles Organischen. »Bildung und Umbildung organischer Gestalten« ist das große Thema aller Morphologie der Natur. Aber die Beziehung zwischen Bewegung und Ruhe, zwischen Gestalt und Metamorphose, die in der organischen Natur herrscht, unterscheidet sich in doppelter Hinsicht von dem Verhältnis, das uns in den Gebilden der Kultur begegnet. Beweglichkeit und Dauer müssen wir für beide in Anspruch nehmen; aber jedes dieser Momente erscheint uns in einer anderen Beleuchtung, wenn wir von der Welt der Natur auf die des Menschen hinüberblicken. Wenn wir in der Natur einen Aufstieg von »niederen« zu »höheren« Formen nachweisen zu können glauben, so betrifft er den Fortgang von einer zur anderen Gattung. Der genetische Gesichtspunkt ist hier immer und notwendig ein generischer Gesichtspunkt. Was die Individuen betrifft, so fallen sie aus dieser Betrachtungsweise notwendig heraus; wir wissen von ihnen nichts und brauchen von ihnen nichts zu wissen. Denn die Veränderungen, die sich in ihnen vollziehen, wirken auf die Gattung nicht unmittelbar zurück und gehen in ihr Leben nicht ein. Hier besteht jene Schranke, die die Biologie als die Tatsache der Nichtvererbbarkeit erworbener Eigenschaften bezeichnet. Die Variationen, die sich im Kreise der Pflanzen- und Tierwelt in einzelnen Exemplaren vollziehen, bleiben biologisch belanglos; sie tauchen auf, um wieder zu versinken. Wollen wir diesen Sachverhalt in der Sprache der Weismannschen Vererbungstheorie ausdrücken – wobei wir die Frage nach der empirischen Richtigkeit und Beweisbarkeit dieser Theorie hier natürlich dahingestellt sein lassen –, so können wir sagen, daß diese Veränderungen nur das Soma, nicht aber das »Keimplasma« betreffen, daß sie demgemäß an der Oberfläche bleiben und nicht in jene Tiefenschicht hinabwirken, von der die Entwicklung der Gattung abhängt. In den Kulturphänomenen aber ist diese biologische Schranke beseitigt. Der Mensch hat in den »symbolischen Formen«, die das Eigentümliche seines Wesens und seines Könnens sind, gewissermaßen die Lösung einer Aufgabe vollzogen, die die organische Natur als solche nicht zu lösen vermochte. Der »Geist« hat geleistet, was dem »Leben« versagt blieb. Hier ist das Werden und Wirken des einzelnen in ganz anderer, tief eingreifender Weise mit dem des Ganzen verknüpft. Was die Individuen fühlen, wollen, denken, bleibt nicht in ihnen selbst verschlossen; es objektiviert sich im Werk. Und diese Werke der Sprache, der Dichtung, der bildenden Kunst, der Religion werden zu den »Monumenten«‚ zu den Erinnerungs- und Gedächtniszeichen der Menschheit. Sie sind »dauernder als Erz«;15 denn in ihnen besteht nicht nur ein Stoffliches weiter, sondern sie sind der Ausdruck eines Geistigen, das, wenn es auf verwandte und empfängliche [Horaz, Carminum libri VI, in: Carmina, hrsg. v. Friedrich Vollmer, Leipzig 1907, S. 9–138: S. 114: »aere perennius«.] 15
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Subjekte trifft, jederzeit wieder aus seiner stofflichen Hülle befreit und zu neuer Wirkung erweckt werden kann. Freilich gibt es auch im Bereich der Kulturgüter Unzähliges, was zugrunde geht und was der Menschheit für immer verloren geht. Denn auch diese Güter haben eine materielle Seite, an der sie verwundbar sind. Der Brand der Bibliothek zu Alexandria hat vieles vernichtet, was für unsere Kenntnis der Antike von unschätzbarem Werte gewesen wäre, und die meisten von Leonardos Gemälden sind für uns verloren, weil die Farben, in denen sie gemalt waren, sich nicht als dauerhaft erwiesen haben. Aber selbst in diesen Fällen bleibt das einzelne Werk mit dem Ganzen wie durch unsichtbare Fäden verknüpft. Wenn es in seiner besonderen Gestalt nicht mehr besteht, so hat es doch Wirkungen geübt, die in irgendeiner Weise in die Entwicklung der Kultur eingegriffen und ihren Gang vielleicht an irgendeinem Punkte entscheidend bestimmt haben. Wir brauchen hierbei nicht nur an das Große und Außergewöhnliche zu denken. Das gleiche bewährt sich auch im engsten und kleinsten Kreise. Man hat mit Recht hervorgehoben, daß es vielleicht keinen einzelnen Akt des Sprechens gibt, der nicht irgendwie »die« Sprache beeinflußte. Aus unzähligen solchen Akten, die in gleicher Richtung wirken, können sich bedeutsame Änderungen des Sprachgebrauchs, können sich lautliche Verschiebungen oder formale Wandlungen ergeben. Das liegt daran, daß die Menschheit sich in ihrer Sprache, ihrer Kunst, in allen ihren Kulturformen gewissermaßen einen neuen Körper geschaffen hat, der allen gemeinsam zugehört. Der Einzelmensch als solcher kann individuelle Fertigkeiten, die er sich im Laufe des Lebens erworben, freilich nicht fortpflanzen. Sie haften am physischen »Soma«‚ das nicht vererbbar ist. Aber was er in seinem Werk aus sich herausstellt, was sprachlich ausgedrückt, was bildlich oder plastisch dargestellt ist, das ist der Sprache oder der Kunst »einverleibt« und dauert durch sie fort. Dieser Prozeß ist es, der die bloße Umbildung, die sich im Kreise des organischen Werdens vollzieht, von der Bildung der Menschheit unterscheidet. Die erstere vollzieht sich passiv, die zweite aktiv. Daher führt die erste nur zu Veränderungen, während die zweite zu bleibenden Gestaltungen führt. Das Werk ist im Grunde nichts anderes als eine menschliche Tat, die sich zum Sein verdichtet hat, die aber auch in dieser Verfestigung ihren Ursprung nicht verleugnet. Der schöpferische Wille und die schöpferische Kraft, aus denen es hervorgegangen ist, lebt und wirkt in ihm fort und führt zu immer neuen Schöpfungen weiter.
ERNST CASSIRER
Zur Erkenntnistheorie der Kulturwissenschaften
Im Bereich der Naturwissenschaften haben wir uns daran gewöhnt, eine scharfe Grenzlinie zwischen unserer eigenen Epoche und der Auffassung vergangener Jahrhunderte zu ziehen. Wir sprechen von einer »klassischen« Physik, die wir dem heutigen Stand der Wissenschaft, die wir der modernen Physik gegenüberstellen. Im gewissen Sinne müssen wir diesen Unterschied auch auf die Erkenntniskritik übertragen. Auch sie hat im Lauf des letzten Jahrhunderts tiefgehende Wandlungen erfahren. Wenn sie sich auf Kants »Kritik der reinen Vernunft« aufbaut – und wenn dieses Werk nach wie vor den Anspruch erheben darf, das Fundament der Erkenntniskritik zu sein –, so stehen wir doch heute überall vor neuen Fragen, die Kant noch nicht aufgeworfen hat und die er, gemäß dem Wissensbestand, den er zu seiner Zeit vorfand, nicht aufwerfen konnte. Dies zeigt sich schon in jenem Problemgebiet, von dem Kant ursprünglich ausgegangen ist und das ihm besonders am Herzen lag: im Gebiet der exakten Wissenschaft. Die Entdeckung der Nicht-Euklidischen Geometrie, die Ausbildung der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, die Grundlegung der Quantentheorie, das alles hat zu neuen Problemstellungen geführt, die tief in die Gestaltung der allgemeinen Erkenntnislehre eingreifen. Noch deutlicher aber tritt die Wandlung in einer anderen Hinsicht zutage. Wenn wir uns die Aufgabe stellen, eine Logik der »Kulturwissenschaften« zu schaffen – so müssen wir sie auf einem ganz neuen Fundament errichten. Die Führung der »Kritik der reinen Vernunft« läßt uns hierbei im Stich. Denn Kant hat eine solche Logik nicht nur nicht geschaffen, sondern er scheint ihre Möglichkeit zu bezweifeln. Seine »transzendentale Methode« gebot ihm, überall an dies Faktum der Wissenschaft anzuknüpfen. Die Philosophie kann nicht im Leeren bauen. Sie kann nicht aus reinen Begriffen spekulative Behauptungen über das Wesen der Wirklichkeit ableiten. Der Weg zur Wirklichkeitserkenntnis führt nur über die besonderen Wissenschaften. Die Bedingung der Möglichkeit dieser Wissenschaften wollen wir einsehen. Aber strenge Wissenschaft gibt es für Kant nur insoweit, als sie sich auf der Mathematik aufbaut. In den »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft« hat er das berühmte Wort gesprochen, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.1 Diese Reduktion auf die Mathematik scheint für die Kulturwissenschaften ein Todesurteil [Vgl. Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786). In: Gesammelte Schriften, Akademie Ausgabe, Berlin 1903 ff., Bd. 4, S. 470.] 1
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in sich zu schließen. Denn wo finden wir in ihrem Umkreis: wo finden wir in der Kunstwissenschaft, in der Sprachwissenschaft, in der Religionswissenschaft einen einzigen mathematischen Begriff und ein einziges mathematisches Urteil? Aber hier beginnt nun für uns die große Schwierigkeit, die eigentliche Aporie. Denn hat uns nicht die Erfahrung gelehrt, daß es wirklich so etwas wie eine Kulturwissenschaft gibt? Im 18ten Jahrhundert waren freilich nur die ersten Ansätze zu ihr vorhanden. Dann aber begann jene gewaltige geistige Arbeit, die mit der Romantik einsetzt. Hier wurde der Grund zur kritischen Geschichtswissenschaft gelegt – hier entstand eine neue Form der Sprachwissenschaft, der klassischen Philologie, der Altertumswissenschaft, der Rechtsgeschichte, der Kunstgeschichte, der Religionsgeschichte. Sollte die Erkenntniskritik all dies für belanglos erklären – sollte sie an ihnen einfach vorbeigehen? Das war offenbar nicht möglich. Und so setzen im 19ten Jahrhundert immer wieder Versuche ein, diesen gewaltigen Stoff zu durchdringen und philosophisch zu denken. Wilhelm Diltheys »Einleitung in die Geisteswissenschaften« bildet hier einen wichtigen Wendepunkt. Und fort und fort hat Dilthey, auch in seinen späteren Arbeiten, mit diesem Problem gerungen. Sein Ehrgeiz bestand darin, Kants Kritik der reinen Vernunft eine Kritik der historischen Vernunft an die Seite zu stellen.2 Wie Kant die Struktur der mathematisch-physikalischen Erkenntnis sichtbar gemacht hatte, so wollte Dilthey die Struktur der historischen Welt erforschen. Aber Dilthey war kein Logiker im strengen Sinne. Seine intuitive Kraft überwiegt bei weitem seine rein begriffliche und systematische Kraft. Er hat im Bereich der reinen Ideengeschichte eine großartige Produktivität entfaltet. Aber all das bleibt Ansatz. Die Erfüllung seines großen Planes blieb Dilthey versagt. Dann folgten ihm andere, die zur logisch-analytischen Arbeit besser ausgerüstet waren, die aber an intuitiver Kraft weit hinter ihm zurückstanden. Rickert schrieb sein Buch über die »Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung«, dessen erste Auflage im Jahre 1896 zu erscheinen begann. Und einem Vortrag, der die wesentlichen Thesen dieses Buches zusammenfaßt, hat er den Titel »Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft« gegeben. Hier erscheint vielleicht zum ersten Mal der Terminus »Kulturwissenschaft« als Ausdruck für ein scharf-bestimmtes erkenntnistheoretisches Problem: Es ist erkannt, daß es neben der Logik der Naturwissenschaft eine selbständige, eine autonome Logik der Kulturwissenschaft gibt und daß der konsequente Aufbau einer solchen Logik ein Desiderat der Wissenschaftstheorie ist. Es ist ein entscheidendes Verdienst Rickerts, daß er diesen
[Vgl. Wilhelm Diltheys Widmung an den Grafen Paul York von Wartenburg in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften: »In einer unserer ersten Unterhaltungen entwickelte ich Ihnen den Plan dieses Buches, welches ich damals noch als Kritik der historischen Vernunft zu bezeichnen wagte.« Wiederaufgenommen wurden Plan und Fortsetzung in Gesammelte Schriften, Bd. 7, Leipzig u. Berlin 1922, S. 117, 191 ff., 278.] 2
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Gesichtspunkt klar erfaßt und scharf herausgearbeitet hat. Aber von der Problemstellung bis zur Problemlösung war auch bei ihm noch ein weiter Weg. Rickerts Buch ist von Auflage zu Auflage mehr und mehr angeschwollen. Aber es hat, wie mir scheint, durch diese ständige Erweiterung an Klarheit und an Stringenz der Beweisführung nicht gewonnen. Die Polemik nimmt einen immer breiteren Raum ein, die Terminologie wird immer unübersichtlicher und komplizierter – die begriffliche Arbeit verliert sich oft in unfruchtbare, rein scholastische Distinktionen. Rickert hat, je weiter er fortschritt, um so mehr den eigentlichen Kontakt mit der konkreten Wissenschaft verloren. Dieser Punkt ist vor allem in der Kritik, die Ernst Troeltsch an Rickert geübt hat, in helles Licht gesetzt worden. Die Einwände, die Troeltsch in seinem Buch: »Der Historismus und seine Probleme« gegen Rickert gerichtet hat, sind meines Erachtens durchschlagend und unwiderleglich. Sie zeigen, daß Rickerts Konstruktion, so interessant und scharfsinnig sie ist, im Grunde denn doch Konstruktion geblieben ist und daß diese Konstruktion mit den konkreten Wissenschaften der menschlichen Kultur – mit den Fragestellungen, von denen sie ausgeht, mit den Begriffen, die sie anwendet, mit den Methoden, deren sie sich bedient – oft nur noch sehr wenig zu tun hat. Zwischen dem, was die Logik hier als Forderung aufstellt, und dem wirklichen Leben der Wissenschaft besteht in vielen Fällen nur noch ein sehr lockerer Zusammenhang – beide sind durch eine weite Kluft von einander getrennt. So sieht sich hier der Logiker der Kulturwissenschaft einer sehr unbefriedigenden und ungeklärten Problemlage gegenüber. Er muß gewissermaßen von vorn anfangen; er sieht sich in die Lage versetzt, nicht nur die Antwort, die er gibt, sondern schon die Fragestellung, von der er ausgeht, zu verteidigen. Denn noch ist diese Fragestellung als solche keineswegs anerkannt. Man spürt in ihr verborgene Gefahren – man glaubt in ihr einen Rückfall in die Metaphysik zu sehen, vor dem sich die strenge Wissenschaft sorgsam zu hüten hat. Schon die Benennung, die man für die Kulturwissenschaften anzuwenden pflegt, scheint uns fast unvermeidlich wieder in bestimmte metaphysische Gedankengänge zu verstricken. In Deutschland zum mindesten hat sich, namentlich seit Diltheys grundlegenden Arbeiten, der Terminus »Geisteswissenschaft« mehr und mehr eingebürgert. Er hat freilich in anderen Sprachen kaum ein Analogon – er läßt sich unmittelbar weder ins Englische noch ins Französische, noch auch ins Schwedische übersetzen. Aber schon gegen diese Bezeichnung regen sich immer wieder Bedenken. Es scheint Denker zu geben, die schon bei dem Namen: »Geisteswissenschaft« erschrecken – fast sollte man glauben, daß sie darin eine Wissenschaft von Geistern, eine Art von Spiritismus sehen. Aber auch wenn man nicht so weit geht, so bleibt doch stets die Frage: Kann es wirklich zwei verschiedene Arten von Wissenschaft geben, die eine von der Natur, die andere vom menschlichen Geist? Widerspricht dies nicht jener Maxime, die Spinoza in die Worte gefaßt hat, daß die Lehre vom Menschen aufhören müsse, einen »Staat im
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Staate«3 zu bilden? Es gibt in der Tat nicht wenige moderne Denker, die auf Grund dieser Maxime aufs heftigste gegen jede Sonderstellung der Kulturwissenschaften protestieren. Sie fordern, daß das, was man unter diesem Namen zusammenzufassen pflegt, sich entweder in reine Naturwissenschaft auflösen müsse – oder daß es auf den Namen der Wissenschaft ein für alle Mal Verzicht leiste. Geistes-Wissenschaft: das ist für sie ein hölzernes Eisen4 – eine »contradictio in adjecto«. Mit besonderem Nachdruck ist diese These jüngst in einem Buche von Julius Kraft verteidigt worden. Es ist im Jahre 1934 erschienen, und es spricht schon in seinem Titel seine Grundabsicht aus. Die »Unmöglichkeit der Geisteswissenschaft« – so lautet dieser Titel. Der unmögliche Name birgt nach Kraft eine unmögliche Sache. Alles was sich »Geisteswissenschaft« genannt hat und was sich heute noch so nennt, steht auf dem Boden der Dogmatik, nicht der Logik. »Die Dogmatik« – so erklärt Kraft – »ist ein Prototyp der Geisteswissenschaft und die Behandlung anderer Disziplinen als ›Geisteswissenschaften‹ ist schließlich gleichbedeutend mit ihrer Herabdrückung auf das Niveau der Dogmatik. Die Theorie der Geisteswissenschaft ist nicht der adäquate Ausdruck für eine berechtigte Kritik vor Auswüchsen des Materialismus und Naturalismus, sondern eine Methodenlehre, die zu einer durchgehenden Theologisierung der Wissenschaft die Handhabe bietet.« (S. 62 f.) Der Beweis für diese These gestaltet sich in Krafts Buch sehr einfach. Er besteht im Grunde aus einer einzigen Voraussetzung, aus der alles andere von selbst folgt. Die Wissenschaft, so argumentiert Kraft, hat nur eine einzige Aufgabe: sie will den ursächlichen Zusammenhang zwischen den Erscheinungen erfassen. Sie stellt die Verknüpfung der raum-zeitlichen Phänomene gemäß kausalen Gesetzen dar. Aber hierfür müssen wir von der Annahme ausgehen, daß eine solche durchgängige Verknüpfung besteht und daß sie streng eindeutig ist. Es gibt nur eine Ursachenreihe – und diese ist vollständig bestimmt durch jene allgemeinen und besonderen Gesetze, die uns die Naturwissenschaft kennen lehrt. Neben ihr bedarf es keiner anderen Erklärung – noch kann es außerhalb derselben eine solche Erklärung geben. Dies gilt nach Kraft ebensowohl für die sogenannten Geisteswissenschaften, wie es für alle Wissenschaften gilt, die sich den Namen »Wert-Wissenschaften« geben. »Entweder sind diese Disziplinen ein Wahn« – so erklärt er – »oder sie müssen trotz ihrer Wertvoraussetzungen als Naturwissenschaften verstanden werden.« (S. 88)
[Vgl. Spinoza: Ethica ordine geometrico demonstrata, pars tertia. In: Opera, Den Haag 1914, Bd. 1, S. 124: Imò hominem in naturâ, veluti imperium in imperio, concipere videntur. (Ja, sie scheinen den Menschen in der Natur wie einen Staat im Staate zu fassen.)] 4 [Vgl. Otto Liebmann: Kant und die Epigonen, Stuttgart 1865, S. 27, der von Kants Ding an sich sagt, Kant lasse sich »doch dazu herbei, ein solches, von den Erkenntnißformen emancipirtes, also irrationales Objekt anzuerkennen, d. i. etwas vorzustellen, was nicht vorstellbar ist – ein hölzernes Eisen«.] 3
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Gegen diese Beweisführung Krafts will ich zunächst keinen inhaltlichen Einwand erheben. Ich gebe ihm völlig zu, daß das Wort »Geist« einen sehr gefährlichen Doppelsinn in sich birgt – einen Doppelsinn, der es vielleicht wünschenswert macht, es in strenger theoretischer Auseinandersetzung überhaupt zu meiden. Vom »Geist« als einer selbständigen Kraft, als einer Potenz, die neben oder über den Naturkräften steht, soll also im Folgenden nirgends die Rede sein. Unser Problem ist ein anderes – und ein viel einfacheres. Es gehört nicht der Metaphysik, sondern lediglich der Logik an. Wir fragen lediglich nach den Begriffen, die der Historiker, der Sprachforscher, der Forscher im Gebiet der Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft anwendet, und nach den Methoden, die sie gebrauchen. Wir stellen keine Kausalfrage, sondern wir wollen lediglich Bedeutungs-Analyse treiben. Ob es eine einfache oder doppelte Kausalität gibt; ob wir neben den materiellen und mechanischen Ursachen andere, geistige oder spirituelle Ursachen annehmen müssen, ist für diese Art der Betrachtung ganz irrelevant. Auch dort, wo ich mich des Ausdrucks der »Geisteswissenschaft«, der nun einmal gebräuchlich und eingewurzelt ist, bedienen werde – werde ich ihn niemals im substantiellen, sondern im funktionellen Sinne – in rein deskriptivem, nicht im explikativen Sinne verwenden. – So gebraucht ist er von allen Gefahren frei. Denn wir behaupten mit ihm nur etwas über die Struktur bestimmter Begriffsformen, ohne zu behaupten, daß dieser Struktur auch eine andere Welt entsprechen müsse; daß es neben den körperlichen Dingen, von denen die Naturwissenschaft handelt, unkörperliche Dinge, neben den physischen Ursachen nichtphysische geben müsse. An der Einheit und Geschlossenheit der Kausalreihe als solcher halten wir vielmehr durchaus fest. Was wir behaupten, ist nur dies, daß die Kausalfrage in der Art, wie sie von den Naturwissenschaften gestellt und wie sie im Verlauf ihrer empirischen Forschung fortschreitend gelöst wird, nicht die einzige Frage ist, die die Wissenschaft aufwerfen kann. Es gibt außerhalb des Kreises der Kausalforschung andere fruchtbare und notwendige Forschungsweisen und Forschungsrichtungen, die auf den Typus des kausalen Denkens und Schließens nicht zurückführbar sind. Es liegt hier also nicht sowohl eine neue Lösung für ein und dasselbe Problem – für das Problem der empirisch-ursächlichen Verknüpfung der raum-zeitlichen Phänomene – vor, sondern es liegt eine neue Fragestellung vor, die man als solche, unbeschwert von irgendwelchen metaphysischen Annahmen oder von erkenntnistheoretischen Dogmen, ganz einfach als solche erkennen und anerkennen muß. Worin diese Fragestellung besteht, das lasse ich zunächst noch dahingestellt; ich werde später ausführlich auf diesen Punkt zurückkommen. Einstweilen genügt es festzustellen, daß wenn wir in dem Aufbau der Kulturwissenschaft ein logisches Problem sui generis sehen, damit keinerlei Eingriff in die Rechte der Naturforschung liegt, ja auch nur liegen kann – weil die beiden Fragen, um die es sich hier handelt, gewissermaßen verschiede-
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nen Dimensionen angehören und sich daher nicht schneiden oder durchkreuzen können. Zwei Lösungen des Problems der Logik der Kulturwissenschaft stehen sich heute schroff und unversöhnlich gegenüber. Alle erkenntnistheoretischen Kämpfe um die Kulturwissenschaft sind in ihrem Zeichen geführt worden. Hic Naturalismus – hic Historismus: so lautete die Parole. Aus diesem Entweder-Oder scheint es kein Entrinnen zu geben. Ich begnüge mich damit, diese zweifache Einstellung an zwei konkreten Beispielen zu erläutern: denn auf diese Weise tritt der Gegensatz weit lebendiger und weit anschaulicher vor, als es der Fall wäre, wenn wir lediglich der abstrakten Beweisführung der beiden Gegner folgen wollten. Für die naturalistische Theorie greife ich als typisches Beispiel die Darstellung heraus, die sie in Taines »Philosophie de l’art« und in seiner englischen Literaturgeschichte gefunden hat.5 Beide Werke sind für den Logiker der Kulturwissenschaften von ganz besonderem Wert und von ganz besonderem Reiz. Denn Taine ist fast das einzige Beispiel dafür, daß ein philosophischer Denker nicht nur ein bestimmtes methodisches Programm für die Kulturwissenschaft aufstellt, sondern daß er sofort an die Ausführung dieses Programms geht. Taine beginnt mit ganz allgemeinen Erörterungen – aber er setzt sie alsbald in die Tat um. Er stellt uns die Entwicklung der griechischen Plastik, der italienischen Malerei der Renaissance, der niederländischen Landschaftsmalerei, der Elisabethanischen Dichtung oder des englischen Romans vor Augen – um an alledem seine These durchzuführen und zu erweisen. Das ermöglicht einen unmittelbaren Vergleich, der methodisch in höchstem Maße lehrreich ist. Was die These selbst betrifft, so ist sie von außerordentlicher und bestechender Einfachheit. Auch hier wird – ebenso wie wir es früher bei Kraft gefunden haben – von der Tatsache aus, daß es nur Eine Natur gibt, unmittelbar darauf geschlossen, daß es nur eine Art der Wissenschaft geben könne. Alle Differenzierungen, die wir in den Begriff der Wissenschaft einzuführen suchen, scheitern an der einfachen Tatsache, daß es nur eine Kausalordnung des Geschehens gibt, die Physisches und Geistiges gleichmäßig umfaßt und es denselben ehernen großen allgemeinen Gesetzen unterwirft. Zwischen Naturphänomenen und Kulturphänomenen unterscheiden zu wollen: dies ist daher reine Willkür; es ist ein Rückfall in veraltete Denkgewohnheiten, mit denen endlich einmal gebrochen werden muß. »Die moderne Methode, der ich zu folgen versuche« – so sagt Taine in der Einleitung zu seiner »Philosophie de l’art« – »und die jetzt in alle Kulturwissenschaften (sciences morales) einzudringen beginnt, besteht darin, die menschlichen Werke und insbesondere die Kunstwerke als Tatsachen und Produkte anzusehen, deren Kennzeichen man aufweisen und deren Ur[Vgl. Ernst Cassirer: Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie. In: Ders.: Gesammelte Werke [= ECW], Bd. 22, hg. v. Birgit Recki, Hamburg 2006, S. 140– 166, hier S. 148. 5
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sachen man aufsuchen muß … nichts mehr. Die Kulturwissenschaft muß wie die Botanik verfahren, die mit dem gleichen Interesse den Orangenbaum und den Lorbeer, die Fichte und die Birke studiert. Sie ist selbst nichts anderes als eine Art angewandte Botanik, die sich nicht auf Pflanzen, sondern auf die Werke des Menschen bezieht. Auf diese Weise folgt sie der allgemeinen Bewegung, vermöge deren sich heute die Kulturwissenschaften und die Naturwissenschaft einander nähern und kraft deren die ersteren die gleiche Sicherheit und den gleichen Fortschritt gewinnen werden, der in der letzteren besteht.«6 Das ist, wie gesagt, das Programm, das Taine an die Spitze stellt – und dem alsbald die Ausführung und Durchführung folgen soll. Aber was lehrt uns diese Durchführung für die Richtigkeit des Programms? Ist es Taine gelungen, aus den allgemeinen Prämissen, die er zu Grunde legt, bestimmte Schlußfolgerungen für die besonderen Erscheinungen zu ziehen, die er behandelt – hat er durch sie neue und fruchtbare Einsichten über jene Epochen der Literatur und der Kunst gewonnen, die er uns vor Augen führt? Auf den ersten Blick wird man gewiß geneigt und bereit sein, diese Fragen zu bejahen. Denn Taine gibt uns ein sehr reiches und ein sehr fesselndes und reizvolles Bild von dem Stoff, den er behandelt. Insbesondere seine Geschichte der englischen Literatur ist in vieler Hinsicht ein wahres Meisterstück. Aber wenn man nun diese Leistung Taines etwas näher betrachtet und wenn man sie sozusagen unter die logische Lupe nimmt, so entdeckt man zu seinem Erstaunen, daß die neue Methode, auf die Taine sich beruft und die seinen ganzen Stolz ausmacht, an dieser Leistung nur sehr geringen Anteil hat. Wo Taine wirklich schildert, wo er sich in das Detail versenkt, da tritt sein allgemeines Schema: das Schema von Rasse, Milieu, Moment sehr bald zurück.7 Er verfährt nicht anders als andere Kulturhistoriker vor ihm: Er sucht mit allen Kräften der Einfühlung in die Phänomene einzudringen und sie aus ihren intimen seelischen Voraussetzungen zu verstehen und zu deuten. In keiner seiner literarhistorischen oder kunsthistorischen Arbeiten hat Taine es unternommen, ein einziges »Naturgesetz« über den Ablauf der Kulturerscheinungen aufzustellen; und in keiner benutzt er rein naturwissenschaftliche Begriffe, um das zu erklären, was er erklären will. Dies alles fällt gewissermaßen von ihm ab, sobald er sich dem Stoff selbst gegenübersieht und an die eigentliche Arbeit der Darstellung herangeht. In dieser Hinsicht besteht ein sehr merkwürdiger Kontrast zwischen dem, was Taine als Logiker fordert, und der Art, wie er als Forscher verfährt. Zwar beginnt Taine stets damit, seiner allgemeinen Voraussetzung gemäß, die Sprache des empirischen Naturforschers zu sprechen. Wo er von der Kunst eines Landes spricht, [Vgl. Hippolyte Taine: Philosophie de l’art, 4. Aufl., Paris 1885, S. 14 f.] [Vgl. Hippolyte Taine: Histoire de la littérature anglaise, 8. Aufl., Paris 1892, Bd. 1, S. XXIII: »Trois sources différentes contribuent à produire cet état moral élementaire, la race, le milieu et le moment.«] 6 7
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da liebt er es, mit Betrachtungen und Beobachtungen über die Bodenbeschaffenheit des Landes, über sein Klima, über die anthropologischen Charaktere der Menschen, die es bewohnen, zu beginnen. Aber dies alles ist sehr bald vergessen – und Taine bedient sich einer ganz anderen Sprache; er verfällt gewissermaßen in ein neues Idiom. Lassen Sie mich dies an einem bestimmten Einzelbeispiel erläutern. Taine will uns den Charakter der niederländischen Kunst begreiflich machen, und er will ihn aus allgemeinen Naturursachen ableiten. Er geht demnach von geologischen Betrachtungen aus. Er sagt uns, daß Holland ein Land der Anschwemmungen ist; es ist hervorgegangen aus den Ablagerungen, die die großen Flüsse mit sich führen und die sie an ihren Mündungen absetzen. Das ist nicht gleichgültig; es ist vielmehr bestimmend für die ganze Atmosphäre des Landes. Eine feuchte drückende, schwere Luft, die auf die Bewohner nicht ohne Einfluß bleiben kann. Sie werden in dieser Luft schwerfällig und phlegmatisch werden; aber sie werden auch ruhig, fest, ausdauernd werden. Und haben wir dies einmal eingesehen, so haben wir damit den Schlüssel zur niederländischen Geschichte und zur niederländischen Kultur in der Hand. Wir verstehen den politischen Freiheitskampf und die Glaubenskämpfe der Niederlande; wir verstehen die Gründe, aus denen sich der wirtschaftliche Aufschwung des Landes, das Erstarken des Individualismus, das Erwachen der Denkfreiheit, die Blüte der Kunst im 17ten Jahrhundert ergaben. Denn all dies sind ja Schöpfungen des holländischen Menschen – und wie könnten wir sie begreifen, wenn wir nicht zuvor diesen Menschen selbst erkannt und ihn aus seinen Naturbedingungen, aus den Voraussetzungen seiner Umwelt kausal abgeleitet hätten?8 Dies alles mag auf den ersten Blick sehr bestechend und überzeugend scheinen – aber es scheint nur so; es hält der näheren Prüfung nicht stand. Denn woraus hat Taine seine Kenntnis von der niederländischen Landschaft und des niederländischen Menschen geschöpft? Beginnen wir mit der Landschaft: Charakterisiert Taine diese Landschaft in der Art, wie ein Geograph oder Geologe sie charakterisieren würde und charakterisieren müßte? Stützt er sich auf Messungen oder empirische Beobachtungen? Keineswegs – sondern er gibt eine ganz andere Art der Charakteristik, die man, kurz gesagt, als physiognomische Charakteristik bezeichnen kann. Er bedient sich plötzlich der Sprache der Ausdruckswahrnehmung, statt der Sprache der Dingwahrnehmung, deren er sich als empirischer Naturforscher bedienen müßte. Wenn er uns die griechische, die italienische, die niederländische Landschaft malt, so malt er sie uns als düster oder heiter, streng oder mild, als zart oder erhaben. Dies alles sind ersichtlich keine Charaktere, die man mit physischen oder chemischen Begriffsmitteln auch nur beschreiben, geschweige erklären könnte. Es sind Ausdrucks-Charaktere – und worauf gründet sich Taine, wenn er sie als Momente behandelt, auf denen er seine Deduktionen aufbaut? Stellt man sich diese Frage, so 8
[Vgl. Taine: Philosophie de l’art, a. a.O. (Anm. 6), S. 38–42.]
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entdeckt man zu seiner Überraschung, daß Taine sie aus keiner andern Quelle, als aus seiner Kenntnis der Kunst dieser Länder geschöpft hat. Den Blick dafür, was die holländische Landschaft ist, hat ihm nicht die geographische Betrachtung oder die geologische Untersuchung geschärft – die niederländische Landschaftsmalerei ist es vielmehr, der er diesen Blick verdankt. Hier bewegen wir uns also, methodisch gesehen, in einem merkwürdigen Zirkel. Wir versuchen die Kunst aus der Landschaft abzuleiten – nachdem wir zuvor den eigentümlichen Charakter der Landschaft nach den großen Kunstwerken bestimmt haben, in denen er zum Ausdruck kommt. Und etwas Analoges gilt für die Kenntnis des Menschen. Auch hier geht Taine nicht von Anthropologie oder Rassenkunde aus; er hat keine anthropologischen Messungen vorgenommen, und er stützt sich auf kein statistisches Material. Nichtsdestoweniger entwirft er uns ein sehr anschauliches Bild von dem Niederländer des 17ten Jahrhunderts. Aber wo hat er diesen Niederländer gesehen, daß er mit solcher Bestimmtheit von ihm sprechen kann? Taine selbst hat uns diese Frage beantwortet. Bei Rubens, bei Frans Hals, bei Rembrandt in der großen holländischen Porträtkunst hat er ihn getroffen – und hier hat er ihn verstanden. Rubens, so sagt Taine, hat in seiner Kirmes die Menschen seiner Zeit so getreu wiedergegeben, daß sie uns völlig gegenwärtig sind. Wir glauben sie gewissermaßen mit Händen greifen zu können. Aber hat Rubens die Gestalten, die er auf seiner Kirmes darstellt, einfach vorgefunden? – bot ihm die Natur die Modelle, die er bloß abzuschreiben brauchte? Dies ist keineswegs der Fall. Kein wirklicher Niederländer des 17ten Jahrhunderts – so sagt uns Taine, enthält das, was Rubens in seiner Kirmes geben wollte und gegeben hat. »Geht nach Flandern« – so sagt er9 – »seht Euch die Typen bei irgendeinem Fest in Gent oder Antwerpen in den Momenten der Freude, des Wohlbehagens und des Wohllebens an. Ihr werdet gute Leute finden, die gut essen und noch besser trinken, die mit großer Heiterkeit und Gemütsruhe ihre Pfeife rauchen, phlegmatisch, verständig, von trockenem Aussehen, mit großen unregelmäßigen Zügen, ähnlich den Gestalten, die Teniers gemalt hat. Was die strotzenden Gestalten betrifft, die wir in Rubens’ Kirmes vor uns sehen – so werdet Ihr nichts dergleichen finden. Rubens hat sie nicht der Natur entnommen; er hat sie aus einer anderen Quelle geschöpft. Das Vorbild zu ihnen liegt in Rubens selbst. Er fühlte in sich die Poesie des großen üppigen Lebens, der überschäumenden hemmungslosen und schamlosen Sinnenlust, der brutalen Daseinsfreude, die sich in gigantischen Ausmaßen entfaltet. Um dieses Gefühl auszudrücken, hat er uns in seiner Kirmes den erstaunlichsten Triumph menschlicher Bestialität gemalt, den jemals der Pinsel eines Malers dargestellt hat. Er mußte hierfür die Proportionen des menschlichen Körpers verändern – und er war dabei von einer bestimmten Absicht beseelt. Was er geben wollte, war der wesentliche Charakter seines Gegenstands und die Hauptidee, die er sich von ihm 9
[Hier und zum Folgenden vgl. ebd., S. 35 ff.]
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gebildet hatte. Diese Idee ist das, was die Philosophie das Wesen der Dinge nennt. Wir wollen diesen Ausdruck, der ein terminus technicus ist, vermeiden: wir sagen statt dessen einfach, daß die Aufgabe der Kunst darin besteht, den Grundcharakter des Gegenstands, irgendeine hervorstechende Eigenschaft, einen wichtigen Gesichtspunkt, einen Hauptzug an ihm zu offenbaren; »l’art a pour but de manifester le caractère capital, quelque qualité saillante et notable, un point de vue important, une manière d’être principale de l’objet«.10 Durchdenkt man diese Sätze, und analysiert man die Begriffe, die in ihnen auftreten, so findet man, daß sie im Grunde eine Selbstauflösung von Taines naturalistischer Methode in sich schließen. Denn – so muß man fragen – wie kommt denn Taine dazu, einen solchen Unterschied zwischen den zufälligen Eigenschaften eines Objekts und seinen notwendigen Eigenschaften, zwischen seiner »Wirklichkeit« und seinem »Wesen«, zwischen seiner Essenz und seiner Existenz zu machen? Die empirische Beobachtung kann uns offenbar diesen Unterschied nicht geben. Denn alles, was sie uns an Merkmalen darbietet, steht, von ihrem Standpunkt aus gesehen, auf gleicher Linie, kein Merkmal besitzt vor dem anderen einen Wesens- oder Wertvorzug. Ebenso ist klar, daß statistische Methoden uns hier nicht weiterhelfen können. Das Bild des Niederländers, das Rubens in seinen Gemälden gibt, ist ja, wie Taine selbst betont, kein bloßes Durchschnittsbild und aus Hunderten von Einzelbeobachtungen zusammengelesen. Es stammt nicht aus naturwissenschaftlicher Induktion. Es stammt aus der Seele des Künstlers: Denn nur der Künstler war fähig, uns eine so gewaltige Erhöhung und Steigerung bestimmter Ausdruckscharaktere zu geben, wie wir sie in Rubens’ Bild vor uns sehen. »In der Natur« – so sagt Taine selbst – »ist der Charakter nur vorwiegend; in der Kunst handelt es sich darum, ihn zum herrschenden Charakter zu machen. Dieser Charakter formt die wirklichen Objekte; aber er formt sie nicht vollständig. Er wird in seiner Wirksamkeit durch die Mitwirkung anderer Ursachen gehemmt und durchkreuzt. Er hat sich den Objekten nicht in vollkommen deutlicher und sichtbarer Prägung eindrücken können. Der Mensch fühlt diese Lücke und, um sie auszufüllen, erfindet er die Kunst.«11 Als Taine diese Sätze schrieb, glaubte er mit ihnen den Kreis der streng naturalistischen Theorie in keiner Hinsicht zu überschreiten. Dennoch sieht man auf dem ersten Blick, daß sie in jeder »idealistischen« Ästhetik stehen könnten und daß Taine hier einer solchen Ästhetik all das zugesteht, was er anfangs zu bestreiten schien. [Vgl. ebd., S. 37; vgl. auch seine die bisherigen Ausführungen zusammenfassende Definition von Kunst, S. 47: «L’œuvre d’art a pour but de manifester quelque caractère essentiel ou saillant, partant quelque idée importante, plus clairement et plus complètement que ne le font les objets réels. Elle y arrive en employant un ensemble de parties liées, dont elle modifie systématiquement les rapports. Dans les trois arts d’imitation, sculpture, peinture et poésie, ces ensembles correspondent à des objets réels.»] 11 [Vgl. ebd., S. 42.] 10
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Dem »Naturalismus« steht der »Historismus« gegenüber – und zwischen beiden ist ein ständiger Kampf um die Herrschaft in den Kulturwissenschaften geführt worden. Ich brauche diesen Kampf hier nicht zu schildern: denn die meisten von uns, zum mindesten die Älteren unter uns, haben ihn noch unmittelbar miterlebt. Für alle Einzelheiten dieses Methodenstreites darf ich auf die glänzende Darstellung verweisen, die Ernst Troeltsch in seinem Buche: »Der Historismus und seine Probleme« gegeben hat.12 Aber an diesen Gegensatz knüpfe ich nun die systematische Frage an, die ich heute in den Mittelpunkt meiner Betrachtungen stellen möchte. Erschöpft der Gegensatz: Naturalismus – Historismus unser Problem? Liegt hier eine vollständige und korrekte logische Disjunktion vor? Müssen wir uns, wenn wir die Lösung des Naturalismus ablehnen, dem Historismus in die Arme werfen – und umgekehrt? Mir scheint, daß diese Frage unbedingt verneint werden muß. Die Alternative: Naturalismus oder Historismus ist meines Erachtens keineswegs zwingend – sie entspringt vielmehr aus einer ungenügenden Analyse des Sachverhalts. Was die Kulturwissenschaften bedeuten, das läßt sich durch keine logische Konstruktion ermitteln; wir müssen es ihnen selbst entnehmen. Und gehen wir in dieser Weise vor, versenken wir uns einfach und unbefangen in die Arbeit der Kulturwissenschaften, in die Forschung, wie sie in der Literaturgeschichte, in der Kunstgeschichte, in der Sprachwissenschaft, in der Philologie und Altertumskunde, in der Rechtsgeschichte, der Religionsgeschichte getrieben wird – so bietet sich uns ein ganz anderes und ein viel interessanteres und reicheres Bild dar, als der schematische Gegensatz: Naturalismus – Historismus es erwarten läßt. Auf Schritt und Tritt zeigt uns diese konkrete Forschungsarbeit Begriffe und Problemstellungen, die sich in das Prokrustes-Bett dieses Gegensatzes nicht einzwängen lassen. Aber die Logik ist, in ihrem bisherigen Aufbau, diesem Sachverhalt kaum gerecht geworden; sie hat den Begriffen und Methoden der Kulturwissenschaften nicht die ihnen gebührende Stelle angewiesen. Diese Begriffe sind heute noch gewissermaßen heimatlos – oder sie haben zum mindesten noch schwer um ihre Anerkennung, um ihren »Platz an der Sonne« zu kämpfen. Eine solche Behauptung klingt freilich merkwürdig und paradox – und ich muß daher versuchen, sie näher zu erläutern und zu begründen. Jeder, der einmal praktisch im Gebiet irgendeiner Kulturwissenschaft gearbeitet hat, kann sich kaum über den Charakter dieser Arbeit und über die Begriffe, die er dabei zu Grunde legt, täuschen. Er weiß, daß er es hier nicht mit naturwissenschaftlichen Induktionen oder Experimenten zu tun hat – und ebenso fühlt er den Unterschied gegen die rein historische Arbeit. Es ist freilich kein Zweifel, daß jede kulturwissenschaftliche Fragestellung ein geschichtliches Moment in sich schließt. Das Sein der Kultur läßt sich nur in ihrem Werden erfassen. Aber das bedeutet nicht, daß dieses Werden alles ist. Hier liegt vielmehr jenes eigentümliche Verhältnis vor, das 12
[Vgl. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme, Tübingen 1922, S. 102–110.]
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Platon im Auge hat, wenn er von einem »Werden zum Sein« – einer γéνεσις ε ς ο σíαν13 spricht. Wüßten wir nicht, was die Sprache, was die Kunst, was die Religion, was das Recht ist, besäßen wir keinen Begriff von Sprachformen, Kunstformen, Rechtsformen, religiösen Formen – so könnten wir keine Geschichte der Sprache, keine Kunstgeschichte, keine Religions- oder Rechtsgeschichte schreiben. Der Sinn, die Bedeutung von alledem muß feststehen, ehe wir uns die Frage nach dem Ursprung und nach der Entwicklung dieser Gebilde stellen können. Und diesen Sinn vermögen wir weder durch naturwissenschaftliche Gesetzesbegriffe noch durch historische Individualbegriffe vollständig auszudrücken. Die Scheidung, von der Windelband ausging und die auch den Kern der gesamten Rickertschen Theorie bildet,14 läßt uns hier im Stich. Die Kulturbegriffe sind weder nomothetisch noch sind sie idiographisch. Sie sind nicht nomothetisch – denn es ist niemals gelungen, allgemeine Gesetze zu formulieren, die das Besondere der Kulturerscheinungen ebenso bestimmen, wie etwa der Umlauf der Planeten oder der Wechsel von Ebbe und Flut durch das Newtonische Gravitationsgesetz bestimmt wird. Eine Zeitlang hat sich freilich auch die Kulturwissenschaft der Hoffnung hingegeben, zu solchen Gesetzen vordringen zu können – aber diese Hoffnungen sind immer wieder enttäuscht worden. Die Sprachwissenschaft hat eine Epoche erlebt, in der man glaubte, in den sogenannten Lautgesetzen ein festes und unerschütterliches Fundament gefunden zu haben – und die sogenannte junggrammatische Richtung verkündete das Prinzip der »Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze«.15 Heute ist diese Anschauung allgemein verlassen – niemand wird mehr für die Lautgesetze denselben logischen Charakter und dieselbe objektive Gültigkeit in Anspruch nehmen wie für ein Naturgesetz. Aber auch die Reduktion auf die Geschichte muß scheitern. Bleiben wir zunächst lediglich im Gebiet der Sprachwissenschaft stehen. Daß wir, wo immer möglich, die Sprache in ihrer Entwicklung studieren müssen und daß diese uns die reichsten und fruchtbarsten Aufschlüsse über sie gibt, steht fest. Aber um auch nur den Bestand des zu Untersuchenden und des zu Erklärenden, um die Gesamtheit der sprachlichen Erscheinungen vollständig zu überblicken, müssen wir einen anderen Weg einschlagen. Wir müssen die reinen Formgegensätze, die die verschiedenen Sprachen uns zeigen, studieren und sie uns in einem systematischen Überblick zu vergegenwärtigen suchen. Hier handelt es sich um reine Strukturprobleme der Sprache, die von historischen Problemen deutlich unterschieden und die unabhän-
[Vgl. Platon: Philebos 26 d8, die Erzeugung zum Sein.] [Vgl. Ernst Cassirer: Probleme der Kulturphilosophie. In: Ders.: Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 5, hg. v. Klaus Christian Köhnke, John Michael Krois u. Oswald Schwemmer, Hamburg 2004, S. 29–104, hier S. 89 mit Anm. 171.] 15 [Vgl. Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. In: ECW, Bd. 6, S. 244 ff.] 13
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gig von ihnen behandelt werden können und müssen. Was eine Sprache ihrer »Form«, ihrer Struktur nach ist, das läßt sich bestimmen, auch wenn wir wenig oder nichts über ihre historische Entwicklung wissen. Der Sprachphilosophie und der Sprachwissenschaft ist dieser Weg zuerst durch Wilhelm v. Humboldt gewiesen worden. So hat z. B. Humboldt den Begriff der »polysynthetischen Sprachen« aufgestellt und die Eigenart dieser Sprachen genau beschrieben.16 Als Grundlage hierfür dienten ihm die amerikanischen Eingeborenensprachen, die er hierbei rein in ihrem Bestand analysierte; denn über ihre Entstehung und Entwicklung standen ihm keinerlei Daten zur Verfügung. Etwas Ähnliches wiederholt sich überall, wenn wir es mit Sprachen schriftloser Völker zu tun haben. Carl Meinhof hat in seiner vergleichenden Grammatik der Bantusprachen die Eigentümlichkeiten derjenigen afrikanischen Sprachen studiert, die die Entwicklung der Nomina nicht nach dem sogenannten »natürlichen Geschlecht« – als Masculina, Feminina und Neutra – vornehmen, sondern statt dessen ganz andere Einteilungsprinzipien benutzen, wobei die so entstehenden Klassen jeweilig durch ein besonderes »Klassenpräfix« bezeichnet werden.17 Auch in diesen Analysen konnten historische Erwägungen keinerlei Rolle spielen – aber ihr Fehlen braucht der Sicherheit unseres Wissens um die Sprachstruktur keinerlei Eintrag zu tun. Humboldt hat seine grundlegende Schrift: »Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts« in den Jahren 1830–1835 geschrieben. In dem Jahrhundert, das seitdem verflossen ist, hat die vergleichende Sprachwissenschaft einen gewaltigen Aufschwung genommen – und heute verfügt sie über ein empirisches Material, das Humboldt nicht entfernt zu Gebote stand. Aber in rein logischer Hinsicht dürfen wir sagen, daß Humboldts Leistung noch immer feststeht und daß sie nichts von ihrem Wert verloren hat. Die Grundbegriffe, die er geschaffen hat, haben sich als sichere Führer bewährt; dank ihrer ist es der Forschung zuerst gelungen, sich einen Weg durch diesen Urwald der Sprache zu bahnen. Diese Begriffe aber waren weder naturwissenschaftliche, noch historische Begriffe, sie waren typologische Begriffe. Und das Gleiche gilt für alle Untersuchungen, die sich in denjenigem Kreise bewegen, den man heute mit dem Namen der »Semasiologie«, der sprachlichen Bedeutungslehre zu bezeichnen pflegt. Semasiologische Betrachtun[Vgl. Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (1830–1835). In: Ders.: Werke, hg. v. Albert Leitzmann, Berlin 1907, Bd. 7., 1. Hälfte, § 26, S. 108 f.; statt von polysynthetisch spricht Humboldt von einverleibenden Sprachen, vgl. § 27, S. 119–122, § 36, bes. S. 266–271 mit Erwähnung Duponceaus (S. 266), der 1819 den Begriff polysynthetisch für diese Sprachformen einführte.] 17 [Vgl. Carl Meinhof: Grundzüge einer vergleichenden Grammatik der Bantusprachen, Berlin 1906, bes. S. 1–27; Meinhof spricht nicht vom Klassenpräfix, sondern von Nominalpräfixen, die sich wiederum in Nominalklassen einteilen und weiter differenzieren lassen.] 16
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gen können weder mit naturwissenschaftlichen noch mit historischen Begriffen durchgeführt werden; – sie bedürfen anderer logischer Instrumente. Lassen Sie mich auch dies an einem einzelnen Beispiel erläutern. Ich habe kürzlich eine soeben erschienene Schrift des dänischen Sprachforschers Viggo Brøndal erhalten, die den Titel: Praepositionernes trägt und die von ihm als ein Kapitel aus einer rationalen Bedeutungslehre bezeichnet wird. Was diese rationale Bedeutungslehre, im Unterschied von jeder historischen Grammatik, feststellen will, ist die Funktion, die jede einzelne Wertklasse im Aufbau der menschlichen Rede zu erfüllen hat. Für die Präpositionen kommt Brøndal zu dem Ergebnis, daß ihnen eine sehr wichtige und unentbehrliche Funktion zufällt. Jeder sprachliche Satz bezieht sich auf Gegenständliches; aber jeder drückt zugleich ein bestimmtes Relations-Gefüge aus. Der sprachliche Ausdruck dieses Relations-Gefüges sind nach Brøndal die Praepositionen – und diese Rolle erfüllen sie, gemäß seiner Darstellung, gleichmäßig in den verschiedensten Sprachen. Das Vergleichsmaterial, auf das sich Brøndal stützt, um seine These zu erweisen, erstreckt sich nicht nur auf fast alle Teile der indogermanischen Sprachgruppe, auf das Lateinische, Griechische, die germanischen, die slawischen, die romanischen Sprachen, sondern u. a. auch auf das Ägyptische; und überall findet er, daß die Praepositionen ein und dieselbe Grund-Aufgabe in wesentlich übereinstimmender Weise erfüllen. Von der Sprachwissenschaft blicken wir zu einem anderen zentralen Gebiet der Kulturwissenschaften: – zur Kunstwissenschaft hinüber. Besteht zwischen beiden irgendeine Art der Verbindung – und lassen sie sich logisch unter einen allgemeinen Oberbegriff subsumieren? Man wird zunächst gewiß geneigt sein, diese Frage zu verneinen. Der enge Zusammenhang zwischen Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft liegt auf der Hand – aber zwischen Sprachwissenschaft und Kunstwissenschaft scheint in jedem Fall nur eine sehr lockere Verbindung zu bestehen. Und vom Standpunkt der Einzelwissenschaft wird man gegen jede Parallelisierung beider Bedenken tragen. Die Logik aber muß hier anders urteilen. Denn für ihre Zuordnungen kommt nicht in erster Linie der Inhalt in Betracht, mit dem die Einzelwissenschaften es zu tun haben. Ihr Einteilungsgrund, ihr fundamentum divisionis ist von anderer Art: Nicht die Beschaffenheit des Objekts, sondern die Begriffsform ist hier das Entscheidende. Und wenden wir dieses Kriterium an, so rückt die Frage sofort in ein anderes Licht. Denn ein Blick auf die Kunstwissenschaft lehrt uns, daß sie mit Begriffen arbeitet, die ihrer allgemeinen Struktur nach denen der Sprachwissenschaft nahe verwandt sind und die gewissermaßen zur selben Familie gehören. In beiden Fällen handelt es sich um jene Gruppe, die wir mit dem Namen der Formund Stilbegriffe bezeichnen und die wir ebensowohl gegen die naturwissenschaftlichen wie gegen die historischen Begriffe bestimmt abgrenzen können. Ohne derartige Form- und Stilbegriffe könnte die reine Kunstgeschichte keinen Schritt vorwärts tun – ebensowenig wie die Sprachgeschichte ihrer entbehren kann. Statt mich hier
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in schwierige abstrakte Erörterungen zu verlieren, ziehe ich es auch in diesem Falle vor, den Sachverhalt an ganz bestimmten konkreten Beispielen zu verdeutlichen. Ich knüpfe an Heinrich Wölfflins »Kunstgeschichtliche Grundbegriffe« an – und ich stelle dieses Werk, das auf die Methodik der modernen Kunstwissenschaft einen so starken Einfluß geübt hat, Wilhelm v. Humboldts Schrift gegenüber. Auf den ersten Blick mag eine solche Gegenüberstellung seltsam und gewagt erscheinen. Denn was hat ein Werk, das die Einleitung zu einer Analyse der Kawi-Sprache auf Java bilden sollte, mit Wölfflins Thema: mit der Stilentwicklung in den bildenden Künsten zu tun? Aber lassen wir uns durch derartige Bedenken nicht stören – und befragen wir statt dessen Humboldts und Wölfflins Werk selbst. Beide stimmen zunächst darin überein, daß sie, bevor sie sich in ihr besonderes Thema vertiefen – bevor sie die einzelnen Sprachformen und die einzelnen Kunststile in ihrer Eigenart zu bestimmen und gegen einander abzusondern suchen, eine begriffliche Voruntersuchung verlangen, die sich auf das »Wesen« der sprachlichen Form und auf das Wesen der Darstellungsform der bildenden Künste bezieht. Humboldt führt diese Untersuchung in tiefsinnigen spekulativen Erörterungen, die ihn bisweilen über die Grenzen der empirischen Forschung weit hinauszutreiben scheinen. Aber auch dort, wo er sich der Metaphysik nähert, behält er sein rein methodisches Grundproblem fest im Auge.18 Wölfflin sucht alles rein Spekulative sorgsam fernzuhalten; er will lediglich auf den Tatsachen aufbauen, die ihm die Kunstgeschichte zur Verfügung stellt. Aber er betont, daß diese Tatsachen stumm bleiben müssen, wenn man sich nicht zuvor der Begriffe versichert hat, gemäß denen sie zu interpretieren sind. Hier vor allem sieht er eine Lücke, die sein Buch ausfüllen will. »Die begriffliche Forschung in der Kunstwissenschaft« – so erklärt er schon im Vorwort – »hat mit der Tatsachenforschung nicht Schritt gehalten« (S. VI). In diesem Sinne will Wölfflins Buch nicht eigentlich Kunstgeschichte geben. »Wir geben hier nicht die Geschichte des malerischen Stils« – so sagt er an einer Stelle –, »sondern bemühen uns um den allgemeinen Begriff« (S. 35). Dieser Begriff wird dadurch gefunden und fixiert, daß der malerische Stil scharf und bestimmt vom linearen Stil geschieden und ihm in allen seinen Äußerungsformen gegenübergestellt wird. Auf die inhaltliche Seite dieses Gegensatzes brauchen wir hier nicht näher einzugehen; wir können uns damit begnügen, an die Hauptmomente kurz zu erinnern. Das »Lineare« und das »Malerische« stehen sich nach Wölfflin als zwei verschiedenartige Formen des Sehens gegenüber – sie sind zwei Auffassungsweisen räumlicher Verhältnisse, die auf ganz verschiedene Ziele ausgehen und demgemäß je ein besonderes Moment des Räumlichen erfassen. Das Lineare geht auf die feste plastische Form der Dinge und will sie in voller Schärfe herausarbeiten; das Malerische [Vgl. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, a. a.O. (Anm. 16), S. 45–49.] 18
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geht auf ihre Erscheinung. »Der große Gegensatz des linearen und des malerischen Stils entspricht einem grundsätzlich verschiedenen Interesse an der Welt. Dort ist es die feste Gestalt, hier die wechselnde Erscheinung; dort ist es die bleibende Form, meßbar, begrenzt, hier die Bewegung, die Form in Funktion; dort die Dinge für sich, hier die Dinge in ihrem Zusammenhang« (S. 31). Aber hier setzt nun für uns die Hauptfrage ein. Wie hat Wölfflin diesen Gegensatz des »Linearen« und »Malerischen«, der nach ihm für das Verständnis der Werke der bildenden Kunst unentbehrlich und konstitutiv ist, gewonnen? Hat er ihn einfach aus der Geschichte abgelesen – und sind somit seine Stilbegriffe rein historische Begriffe? Das ist durchaus nicht der Fall. Daß seine Analyse nicht im Leeren schwebt, daß sie sich auf ein gewaltiges historisches Anschauungsmaterial stützt, versteht sich bei einem Forscher vom Range Wölfflins von selbst. Aber auf der andern Seite betont er mit allem Nachdruck, daß das, was diese Analyse herausstellen will, kein einmaliges historisches Geschehen ist, das an einen bestimmten Zeitpunkt gebunden ist und auf ihn beschränkt ist.19 Auch Wölfflins Grundbegriffe sind keineswegs idiographische Begriffe – und ebensowenig sind sie natürlich nomothetische Begriffe im Sinne der Gesetzesbegriffe der erklärenden Naturwissenschaft.20 Sie stellen eine Allgemeinheit von anderer Art und anderer Stufe dar. Sie wird von Wölfflin zunächst an besonderen Fällen, an bestimmten historischen Erscheinungen sichtbar gemacht. Am Gegensatz zwischen der Formensprache der Klassik und des Barock, zwischen dem 16ten und 17ten Jahrhundert, zwischen Dürer und Rembrandt entwickelt er den Sinn des Unterschiedes des »Linearen« und des »Malerischen«. Aber er betont, daß dies alles nur paradigmatische Erläuterungen für beide Begriffe, nicht aber Bestimmungen ihres Inhalts sein sollen. Ihr Inhalt ist derart, daß er die verschiedenartigsten geschichtlichen Phänomene bezeichnen und unter sich befassen kann. Nach Wölfflin gibt es eine Klassik und ein Barock nicht nur in der neueren Zeit und nicht nur in der antiken Baukunst, sondern auch auf einem so ganz fremdartigen Boden wie der Gotik (S. 243).21 Auch lassen sich – wie Wölfflin und Riegl übereinstimmend betonen, Stil-Kategorien nicht dadurch fassen, daß man sie auf einen nationalen oder individuellen Unterschied zurückführt. Nationale und individuelle Differenzen spielen nach Wölfflin in der Entwicklung des linearen und des malerischen Stils sicher eine große Rolle – aber sie bestimmen nicht die Wesensart beider. Diese Wesensart ist etwas so Durchgreifendes und Übergreifendes, daß man sie sich an
[Vgl. Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, München 1915, S. VI.] [Die Unterscheidung zwischen idiographischer und nomothetischer Begriffsbildung in Kultur- und Naturwissenschaften führte Wilhelm Windelband ein, erstmals in einer Straßburger Rektoratsrede Geschichte und Naturwissenschaft 1894, S. 26.] 21 [Zu Cassirers Verweis vgl. Alois Riegl: Kunstgeschichte und Universalgeschichte. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze, hg. v. Karl M. Swoboda, Augsburg u. Wien 1929, S. 4–9, hier S. 7.] 19 20
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ganz verschiedenen Epochen, an ganz verschiedenen nationalen Kulturen und an ganz verschiedenen Individuen zur deutlichen Anschauung bringen kann. So läßt sich auch die Frage nach der Entwicklung des einen Stils aus dem anderen unabhängig von diesen Voraussetzungen stellen und beantworten. Es läßt sich, wie Wölfflin betont, in der Stilgeschichte eine untere Schicht von Begriffen aufdecken, die sich auf die Darstellung als solche beziehen, und es läßt sich eine Entwicklungsgeschichte des abendländischen Sehens geben, für die die Verschiedenheit des individuellen und nationalen Charakters von keiner großen Bedeutung mehr ist (S. 13). »Um zu exemplifizieren«, so betont Wölfflin – »konnten wir natürlich nicht anders verfahren als dies einzelne Kunstwerk heranzuziehen, aber alles was von Raffael und Tizian, von Rembrandt und Velasquez gesagt wurde, sollte doch nur die allgemeine Bahn beleuchten, nicht den besonderen Wert des aufgegriffenen Stückes ins Licht setzen« (S. 237). Wölfflin geht hier so weit, daß er das Ideal einer Kunstgeschichte aufstellt, die eine »Kunstgeschichte ohne Namen« sein würde (S. V). Sie bedürfte keines Namens, weil sie sich in ihrer Fragestellung nicht auf etwas Individuelles, sondern auf etwas Prinzipielles, und insofern Anonymes, richtet: weil sie sich auf die Veränderungen des räumlichen Sehens und auf die hierdurch bedingten Modifikationen des optischen Form- und Raumgefühls bezieht. Stellen wir uns jedoch nunmehr die Frage, was die verschiedenen Form- und Stilbegriffe, die von der Sprachwissenschaft wie von der Kunstwissenschaft gebraucht werden, erst zu eigentlichen Kulturbegriffen macht, so werden wir hierbei auf eine neue Voraussetzung geführt. Sie ist von so fundamentaler und grundsätzlicher Bedeutung, daß man sie geradezu als ein Apriori der Kulturwissenschaft bezeichnen könnte. Wir legen die Annahme zu Grunde, daß die Formbegriffe, auf die wir in der Analyse der Sprache, der Kunst, der Religion geführt wurden, nicht lediglich Ausdrücke für isolierte Erscheinungen sind, sondern daß sie mit einander in einem inneren Zusammenhang stehen – daß sie ein Ganzes bilden, dem wir einen bestimmten »Charakter« beilegen und das wir selbst wieder als eine in sich geschlossene Einheit betrachten und behandeln dürfen. Wir fühlen eine solche Einheit in all den großen Kulturphänomenen; wir glauben sie, wenn wir uns in die Form einer Sprache versenken, wenn wir die ägyptische, die ostasiatische, die griechische Kunst betrachten, wenn wir uns die Gegensätze der großen Kulturreligionen zum Bewußtsein bringen, gewissermaßen mit Händen greifen zu können. Aber wir geraten alsbald in Verlegenheit, sobald wir sie in begrifflicher Strenge bestimmen – sobald wir sie logisch explizieren und definieren sollen. Seit Montesquieus »Esprit des Lois«, seit Herders Geschichts- und Kulturphilosophie hat sich hierfür der Ausdruck »Geist« eingebürgert: Wir sprechen vom Geist der Sprache, vom Geist des Rechts, vom deutschen oder französischen Geist, vom Geist des Mittelalters oder der Renaissance. Daß dieser Ausdruck manche Schwierigkeiten und Zweideutigkeiten in sich schließt – dies haben wir schon früher betont. Aber zu einem grundsätz-
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lichen Skeptizismus wider die Fundamente der Kulturwissenschaft braucht uns dies nicht zu führen. Denn die Tat, die konkrete Arbeit, die in der Kulturwissenschaft geleistet wird, löst schließlich all die Zweifel auf, zu denen uns die bloße Theorie immer wieder hinführt. »Auch in Wissenschaften kann man eigentlich nichts wissen – es muß immer getan sein« – so hat Goethe einmal gesagt.22 Dieser Satz gilt auch hier. Ich will es gleichfalls wieder am Beispiel der Sprachwissenschaft und an dem der Kunstwissenschaft aufzuweisen versuchen. Betrachten wir die Sprache in ihrer rein physischen Erscheinung, so scheint nichts dagegen zu sprechen, daß wir sie einfach als eine Summe von Lauten auffassen. Auch die Verschiedenheit der Sprachen besteht dann in nichts anderem; sie besagt einfach, daß wir uns verschiedener Lautkomplexe bedienen, um dieselben Gegenstände zu bezeichnen. Es sind verschiedene Phoneme, denen wir in den einzelnen Sprachen begegnen; und sie machen, wie es scheint, den einzigen spezifischen Unterschied aus, den wir an dem Genus »Sprache« feststellen können. Eine eingehendere Betrachtung belehrt uns freilich sogleich, daß diese Auffassung oberflächlich ist. Denn der Kern der Sprache liegt nicht in der Phonetik oder Phonologie, sondern in dem, was wir Semantik – was wir die Lehre von der sprachlichen Bedeutung nennen. Und hier nimmt das Problem alsbald eine andere und viel verwickeltere Gestalt an. Die Vorstellung, daß die verschiedenen Sprachen nur dieselbe Masse der unabhängig von ihnen vorhandenen Gegenstände nur mit anderen Wörtern bezeichnen – so sagt Wilhelm v. Humboldt, ist dem Menschen zu natürlich, als daß er sich leicht von ihr losmachen könnte. Dennoch ist diese Auffassung nicht nur ungenügend, sondern sie ist gefährlich. Sie ist dem Sprachstudium verderblich; sie verhindert die Ausdehnung der Sprachkenntnis und macht die wirklich vorhandene Kenntnis tot und unfruchtbar.23 Warum greift Humboldt – der sonst so maßvoll und zurückhaltend ist – gegenüber dieser Ansicht zu so scharfen Ausdrücken der Verwerfung? Dies liegt daran, weil nach ihm diese Auffassung die Sprache zu einem bloßen Aggregat, zu einer beziehungslosen Summe von Einzelheiten, zu einer »rudis indigestaque moles«24 machen würde. Aber jede lebendige Sprache ist etwas ganz anderes. Sie ist eine neue Gesamtanschauung der Welt – eine eigentümliche Weise der intellektuellen und gefühlsmäßigen Synthese. Daher besteht die Verschiedenheit der einzelnen Sprachen niemals allein in der Verschiedenheit von Schällen und Zeichen – sondern in ihr drückt sich eine Verschiedenheit der Weltansichten aus. Wer eine neue Sprache wahrhaft erlernt, d. h. wer sie sich seelisch und geistig zu eigen macht, der hat damit nicht nur eine Menge neuer Vokabeln seinem Gedächtnis eingeprägt und er hat [Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen, Nr. 415.] [Vgl. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, a. a.O. (Anm. 16), Bd. 6, 1. Hälfte, S. 119.] 24 [Vgl. Ovid: Metamorphosen, 1, 7.] 22 23
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nicht nur bestimmte Phoneme mit anderen vertauscht. Er ist vielmehr in eine andere Art des Vorstellens, des Denkens, des Begreifens eingegangen. »Die Erlernung einer fremden Sprache« – so sagt Humboldt – »sollte … die Gewinnung eines neuen Standpunktes in der Weltansicht sein und ist es in der Tat …, da jede Sprache das ganze Gewebe der Begriffe und die Vorstellungsweise eines Teils der Menschheit enthält.«25 Was Humboldt hier für die Sprache ausführt – das ist keineswegs auf ihren Umkreis beschränkt. Es geht vielmehr alle Kulturwissenschaft in gleicher Weise an und gehört insofern zur formalen Theorie der Kulturwissenschaft überhaupt. Wiederum will ich mich damit begnügen, dies am Beispiel der Kunstwissenschaft, und speziell am Beispiel Wölfflins, zu verdeutlichen. Wie Humboldt davon ausgeht, daß sich in jedem Sprachstil eine bestimmte Grundrichtung des Denkens und Vorstellens widerspiegelt – so betont Wölfflin, daß jeder künstlerische Stil ein in sich geschlossenes Ganzes ist, weil sich in ihm eine bestimmte Art des Sehens und Anschauens ausdrückt. Wir können und müssen jeden künstlerischen Stil nach gewissen formalen Momenten beschreiben; aber wir müssen zugleich einsehen, daß alle diese Momente nicht bloße Einzelheiten sind, die beziehungslos neben einander stehen. Es stellt sich in ihnen eine bestimmte Gesamtorientierung, man könnte sagen: eine geistige Einstellung des Auges dar. Solche Differenzen der Einstellung sind, wie Wölfflin betont, weit mehr als eine Angelegenheit des Geschmacks – »bedingend und bedingt enthalten sie die Grundlagen des ganzen Weltbildes eines Volkes« (S. 251). Es ist merkwürdig zu beobachten, daß die Übereinstimmung hier so weit geht, daß selbst die Humboldtschen Ausdrücke bei Wölfflin wiederkehren. »Der lineare und der malerische Stil« – so sagt er – »sind zwei Weltanschauungen, anders gerichtet in ihrem Geschmack und in ihrem Interesse an der Welt – und jede doch imstande, ein vollkommenes Bild des Sichtbaren zu geben« (S. 20). Um diesen Unterschied der Sehweisen zu bezeichnen, greift Wölfflin unwillkürlich zu sprachlichen Analogien. Er spricht davon, daß die bildende Kunst im Laufe der Zeiten die Sprache, die sie spricht, nach Grammatik und Syntax wandelt, und er sieht in der Darstellung dieses Wandels eine der wichtigsten und fruchtbarsten Aufgaben der Kunstgeschichte. Wölfflin ist nicht der Erste und nicht der Einzige, der in dieser Weise die Lautsprache und die Sprache der bildenden Kunst auf einander bezogen und der in beiden den Ausdruck ein und desselben tiefer liegenden Grundproblems gesehen hat. Ähnliche Vergleiche finden sich an vielen anderen Stellen der kunstwissenschaftlichen Literatur – und sie finden sich bezeichnender Weise immer dort, wo man sich in das Wesen des Stilbegriffs vertieft und ihn zum Gegenstand einer ex[Vgl. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, a. a.O. (Anm. 16), Bd. 7, 1. Hälfte, S. 60.] 25
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pliziten theoretischen Erörterung macht. Ähnliche Parallelisierungen habe ich mir aus den Schriften von Konrad Fiedler, Adolf Hildebrand, Gottfried Semper und Alois Riegl, Max Dvořák26 notiert – und ich zweifle nicht, daß ein genauer Kenner der kunstwissenschaftlichen Literatur diese Liste noch erheblich vermehren könnte. Alois Riegl wollte seine Grundgedanken zu einer Historischen Grammatik der bildenden Künste zusammenfassen – und ein Manuskript aus seinem Nachlaß trägt diesen Titel.27 Und Gottfried Semper, der in seiner Stil-Theorie, rein inhaltlich betrachtet, der Antipode Riegls ist, folgt hier dem gleichen Weg. Ich zitiere eine seiner Äußerungen, die mir besonders charakteristisch erscheint, weil sie eine Art Voraussage auf Bestrebungen enthält, die in der Kunstwissenschaft erst viel später hervorgetreten sind. Sie findet sich in Sempers bekanntem Werk »Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten«, das in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts erschienen ist. »Ich glaube den Zeitpunkt nicht fern« – so sagt Semper hier –, »wo die Forschung der Sprachformen und diejenige, die sich mit den Kunstformen beschäftigt, in Wechselwirkung zu einander treten werden, aus welcher Verbindung [Zu Cassirers diesbezüglichen Notizen könnten gehören: Konrad Fiedler, der sich in einer Reihe von Schriften wiederholt zum Verhältnis von Kunst und Sprache sowie zur Sprache der Kunst geäußert hat, vgl. bes. Über Kunstinteressen und deren Förderung (1876). In: Konrad Fiedlers Schriften über Kunst, hg. v. Hermann Konnerth, Bd. 1, München 1913, S. 81–132, bes. S. 126 ff.; Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit (1887). In: Ebd., S. 183–367, bes. S. 191– 236; 257–268; 274–277; 293 f.; 332 f.; ferner in den nachgelassenen Aphorismen und Bruchstükken. In: Ebd., Bd. 2, 1914, den Aphorismen, bes. S. 23; 45; 61; 65; 74 f.; 85; 96; sowie den drei Bruchstücken zu Wirklichkeit und Kunst, ebd., S. 160–180, dort bes. S. 162 f., 170; 248 ff.; 255 f.; 260 f.; zu entsprechenden Vergleichen bei Fiedler und Hildebrand ferner Adolf Hildebrand: Briefwechsel mit Conrad Fiedler, Dresden (1927), hg. v. Günther Jachmann, so Fiedler an Hildebrand, München, 29. November 1881, S. 166–172, bes. S. 171; Fiedler an Hildebrand, München, 13. April 1883, S. 200–205, bes. S. 203 ff.; Hildebrand an Fiedler, Florenz, 7. Juli 1889, S. 282 f., bes. S. 282; Hildebrand an Fiedler, 6. Juli 1890, S. 300–302, bes. S. 301, vgl. auch Hildebrand: Einiges über die Bedeutung von Grössenverhältnissen in der Architektur (1899). In: Ders.: Gesammelte Aufsätze, Strassburg 1909, S. 7–21, hier S. 17 f.; zu Gottfried Semper vgl. unten; Alois Riegl: Spätrömische Kunstindustrie, 2. Aufl., Wien 1927, S. 254 f. u. S. 399; schließlich Max Dvořák zu Sprache, Schriftkultur und Kunst: Die Illuminatoren des Johann von Neumarkt. In: Gesammelte Aufsätze zur Kunstgeschichte, München 1929, S. 74–207, hier S. 120 f.] 27 [Die Bemerkung Cassirers geht evtl. auf eine mündliche Mitteilung zurück; in der Einleitung des Herausgebers Karl M. Swoboda zu den Aufsätzen heißt es mit Bezug auf die Jahre 1898–1900 / 1901 abweichend: »Das Hauptwerk dieser zweiten Periode ist die grandiose, unveröffentlichte ›Formengrammatik der bildenden Künste‹« (1898). In: Riegl: Gesammelte Aufsätze, a. a.O. (Anm. 21), S. 33. Die Schrift erschien erstmals 1966 unter dem von Cassirer zitierten Titel in zwei Fassungen, und dort heißt es in der Einleitung der Herausgeber, a. a.O., S. 9: »Der Titel dieses Buches ist von Riegl selbst gewählt. Er begründet die Wahl der Metapher ›Historische Grammatik‹ selbst (vgl. II, S. 211): ›Jedes Kunstwerk redet seine eigene Kunstsprache, wenn auch die Elemente der Kunst natürlich andere sind als diejenigen der Sprache. Gibt es aber eine Kunstsprache, so gibt es auch eine historische Grammatik derselben, natürlich auch nur im metaphorischen Sinne.‹«] 26
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die merkwürdigsten gegenseitigen Aufschlüsse auf beiden Gebieten hervorgehen müssen«.28 In philosophischer Hinsicht kann meines Erachtens diese Verbindung nur dann fruchtbar werden, wenn man auf die gemeinsame Wurzel der Lautsprache und der künstlerischen Sprache zurückgeht – wenn man in beiden verschiedene Ausprägungen ein und derselben Grundfunktion, der allgemeinen Symbolfunktion sieht.29 Aber noch bleibt eine andere Frage übrig, die wir hier am Schluß noch ins Auge fassen müssen – wenngleich wir sie nur in aller Kürze behandeln können. Haben wir nicht eine naheliegende Lösung übersehen? Sollte es nicht möglich, ja notwendig sein, die Grundbegriffe der Kulturwissenschaft als Wertbegriffe zu bestimmen? Welche zentrale Rolle diese Begriffe im Aufbau der Rickertschen Geschichtslogik spielen, ist bekannt.30 Mir scheint indes, daß auch der hier eingeschlagene Weg nicht zu dem erwünschten Ziele führen kann. Die Reduktion gelingt auch hier nicht; es zeigt sich vielmehr, daß die Form- und Stilbegriffe nicht nur den naturwissenschaftlichen und historischen Begriffen gegenüber, sondern auch gegenüber den Wertbegriffen eine selbständige Stellung einnehmen. Diese Selbständigkeit kann freilich dadurch leicht verdeckt werden, daß sich an alle unsere Kulturbegriffe sofort bestimmte Wertgefühle und Werturteile anzuknüpfen pflegen. Wir können kaum von sprachlichen, künstlerischen, religiösen Gebilden reden, ohne daß wir zu ihnen in irgendeiner Weise Stellung nehmen – daß wir uns für sie oder wider sie entscheiden. Eine solche Entscheidung scheint psychologisch fast unumgänglich zu sein – aber sie ist nicht logisch konstitutiv. Haben wir einmal die Form einer Sprache, eines Kunststils, einer Religion erfaßt: so können wir daran ein bestimmtes Werturteil anknüpfen; wir sagen, welche von diesen Formen die niedere oder höhere, die vollkommene oder unvollkommene, die relativ-fortgeschrittene oder die relativzurückgebliebene ist. Aber um solche Wertvergleichungen anzustellen, müssen wir erst die einzelnen Formen als das, was sie sind, ihrem reinen »Wesen« nach, erfaßt [Zu Cassirers Verweis in seiner Anm. vgl. Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Aesthetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Bd. 1: Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst, 1860, dem Zusammenhang nach S. 1–7, das Zitat findet sich S. 7.] 29 [Vgl. Fiedler: Schriften über Kunst, Bd. 2, a. a.O. (Anm. 26), 1914, bes. S. 74 f., 162 f., der die gemeinsame Wurzel in der Ausdrucksbewegung sieht.] 30 [Vgl. Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 3. verb. Aufl., Tübingen 1915, S. 107: »Deshalb war es bei der Bestimmung des Kulturbegriffs nötig, nicht nur den Wertbegriff überhaupt als entscheidend für die Abgrenzung der Kulturvorgänge gegen die Natur zu betonen, sondern zugleich auch hervorzuheben, daß Kulturwerte entweder allgemein, d. h. von allen gewertet, oder allen Gliedern der Kulturgemeinschaft als gültig wenigstens zugemutet werden. / Diese Allgemeinheit der Kulturwerte ist es, welche die Willkür der geschichtlichen Begriffsbildung beseitigt, und auf der also ihre ›Objektivität‹ beruht.« Vgl. ferner ebd., Kap. XIV. Der Ausdruck Wertgesichtspunkt begegnet zuerst auf S. 128.] 28
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haben. Und diese Frage nach dem Wesen der Form – nach ihrem τí στι, wie Sokrates sagt31 – ist von jeder Frage nach dem Sollen unabhängig. Die Sollensfrage folgt der Seinsfrage, aber sie geht ihr nicht voraus; sie würde ohne sie in der Luft schweben. Wir ziehen es auch hier vor, uns dies an konkreten Beispielen zu vergegenwärtigen, statt in abstrakte Erörterungen einzutreten, die uns zu weit führen würden. Bleiben wir, der Einfachheit wegen, auch hier wieder bei Humboldt und bei Wölfflin stehen. Nachdem Humboldt seine Untersuchung über die verschiedenen Sprachtypen abgeschlossen hat, wirft auch er die Wertfrage auf. Welcher dieser Sprachtypen gebührt der oberste und höchste Platz – und welche anderen müssen wir als relativ-untergeordnet betrachten? Er entscheidet sich für die flektierenden Sprachen – ja er geht so weit zu erklären, daß in ihnen, und nur in ihnen, die Gesetzmäßigkeit der Sprache zum reinen und vollkommenen Ausdruck gekommen sei. Wohl haben auch alle anderen Sprachen – die isolierende, die agglutinierende, die polysynthetische Sprache – an dieser Gesetzmäßigkeit Teil – aber sie erreichen sie nicht vollständig, sie weisen Abweichungen von der »gesetzmäßigen Sprachform«32 auf. Ob Humboldt mit diesem Werturteil Recht hat – ob die flektierenden Sprachen nicht nur eine andere, sondern auch eine vollkommene Sprachform darstellen: dies kann hier dahingestellt bleiben. Aber sicher ist, daß zwischen den verschiedenen Sprachformen kein Wertvergleich möglich gewesen wäre, wenn nicht durch rein strukturelle Betrachtungen die Eigenart jeder einzelnen Form und ihr spezifischer Unterschied festgestellt worden wäre. Und die Aufweisung solcher Strukturdifferenzen hat mit Wertunterscheidungen nicht zu tun; sie muß vielmehr ganz unabhängig von ihnen erfolgen. Einen ganz analogen Sachverhalt finden wir in der Kunstgeschichte. Auch hier fällt es schwer, von einem bestimmten Kunst-Stil zu sprechen, ohne daran sofort ein ästhetisches Urteil anzuknüpfen. Aber dieses Urteil muß, wenn nicht rein subjektiv, um irgendwie fundiert zu sein, an die Erkenntnis dieses Stils anknüpfen und sich auf ihr aufbauen. Man muß die Formunterschiede der ägyptischen und der griechischen Kunst, der Renaissance und des Barock, klar erfaßt haben, um sich zwischen beiden zu entscheiden. Und die Kunst-Wissenschaft als solche kann auf eine solche Entscheidung überhaupt verzichten: denn sie handelt vom Sein, nicht vom Sollen. Stil-Wissenschaft ist nicht Ästhetik – wenngleich sie eine der Grundlagen und der notwendigen Voraussetzungen der Ästhetik ist. Wenn Wölfflin Renaissance und Barock einander gegenüberstellt, so spürt man, namentlich in seinen frühen Schriften, daß das erstere Glied hierbei noch einen besonderen Wertakzent besitzt. In den »Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen« haben beide Be[Vgl. Ernst Cassirer, Die Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Platon. In: ECW, Bd. 16, S. 313–467, hier S. 397.] 32 [Vgl. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, a. a.O. (Anm. 16), Bd. 7, 1. Hälfte, S. 162 ff., 256 f.] 31
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griffe für ihn lediglich eine deskriptive, nicht dagegen eine ästhetisch qualifizierende oder normierende Bedeutung. Die Klassik hat hierbei nicht den Nebensinn des Vorbildlichen oder Mustergültigen.33 Und ebensowenig soll die Tatsache, daß der malerische Stil auf den linearen zu folgen pflegt und sich aus ihm entwickelt, die Behauptung in sich schließen, daß wir es in dieser Umbildung mit einem ›Fortschritt‹, mit einer Höherbildung zu tun haben.34 Wölfflin sieht in beiden Stilformen vielmehr lediglich verschiedene Lösungen eines bestimmten Problems, die an sich ästhetisch gleichberechtigt sind. Innerhalb jedes der beiden Stile können wir das Vollkommene vom Unvollkommenen, das Ausgezeichnete vom Geringen oder Mittelmäßigen scheiden. Aber auf das Ganze desselben lassen sich solche Unterschiede nicht ohne weiteres übertragen. »Die malerische Art« – so sagt Wölfflin – »ist die spätere, und ohne die erste nicht wohl denkbar, aber sie ist nicht die absolut höherstehende. Der lineare Stil hat Werte entwickelt, die der malerische Stil nicht mehr besitzt und nicht mehr besitzen will. Es sind zwei Weltanschauungen, anders gerichtet in ihrem Geschmack und in ihrem Interesse an der Welt, und jede doch imstande, ein vollkommenes Bild des Sichtbaren zu geben.35 … Aus dem verschieden orientierten Interesse an der Welt entspringt jedesmal eine andere Schönheit.«36 In der Tat: Wenn wir in jedem künstlerischen Stil eine bestimmte Formensprache sehen: so können wir das Prädikat »schön« oder »häßlich« so wenig zur Charakteristik eines Stils verwenden, als wir eine Sprache schön oder häßlich nennen. In diesem Sinne hat vor allem Riegl betont, daß es zwar gute und schlechte Kunstwerke, aber keine guten oder schlechten Kunststile gibt – und aus diesem Grunde hat er den Begriff eines »Verfallstils« abgelehnt. Riegl unterscheidet zwei Kunstrichtungen, zwei Arten des »Kunstwollens«: eine plastisch-nahsichtige (der Orientalen) und eine optisch-fernsichtige (wahrscheinlich der indogermanischen Völker). »Jede Richtung, einseitig verfolgt« – so sagt er – »führt notwendig in Öde und Erstarrung; in wechselseitigem, wenn auch oft feindlichem Durchdringen haben sie die fruchtbare Entwicklung bis auf den heutigen Tag gezeitigt.« (Riegl, Gesammelte Aufsätze, Augsburg – Wien 1929, S. 59).37 Wir haben in diesen Betrachtungen, um einen bestimmten Anhaltspunkt zu besitzen, vor allem auf die Formbegriffe der Sprachwissenschaft und der Kunstwissenschaft hingewiesen. Aber die Natur unseres Themas hätte an und für sich eine solche Beschränkung nicht verlangt. Es ist bekannt, daß unmittelbar nachdem Wölfflin
[Vgl. Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, a. a.O. (Anm. 19), S. VI.] [Vgl. ebd., S. 20.] 35 [Vgl. ebd.] 36 [Vgl. ebd.] 37 [Vgl. Alois Riegl: Naturwerk und Kunstwerk, I, 1901. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze, a. a. O. (Anm. 21), S. 52–64, hier S. 59.] 33 34
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seine »Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe« aufgestellt hatte, in der Literaturwissenschaft eine Bewegung einsetzte, die die hier gewonnenen Unterscheidungen auf die Welt der Dichtung anzuwenden suchte. Oskar Walzels Schrift »Gegenseitige Erhellung der Künste« (1917), Fritz Strichs Buch »Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit« (1922) gehen in diese Richtung. Es läßt sich hieraus schließen, daß die Stil- und Form-Unterschiede, die hier aufgestellt waren, von so durchgreifender Bedeutung sind, daß sie sich an ganz verschiedenartigem Material aufweisen lassen. Freilich scheint mir, daß man mit solchen Übertragungen vorsichtig sein muß und daß sie große methodische Gefahren in sich bergen. Kategorien wie die des Linearen und Malerischen, des Flächenhaften und Tiefenhaften, des Tektonischen und Atektonischen wurzeln offenbar in der optischen Sphäre – und sie lassen sich von ihr nicht loslösen, ohne daß sie damit an Prägnanz und an konkreter Bestimmtheit verlieren. Die versuchte ›wechselseitige Erhellung der Künste‹ hat sich meines Erachtens nicht immer als fruchtbar erwiesen; sie hat oft mehr zu einer Verwischung, als zu einer Verdeutlichung geführt. Aber eine falsche Anwendung, die man vom Prinzip der Stilbegriffe gemacht hat, darf uns nicht hindern, ihren Gebrauch innerhalb der ihnen zugemessenen Sphäre anzuerkennen. Wir hätten diesen Charakter auch in einem ganz anderen Kreis, z. B. im Kreis der vergleichenden Mythologie oder der vergleichenden Religionswissenschaft aufzeigen und erläutern können. Was den Mythos betrifft, so habe ich in einer eigenen kleinen Schrift: Die Begriffsform im mythischen Denken (1922) nachzuweisen gesucht, daß auch er seine eigentümlichen Stilkategorien besitzt. Für die Religionswissenschaft sei hier besonders auf Max Webers Analysen über die verschiedene Struktur der großen Kulturreligionen verwiesen.38 Sie bieten auch für den Logiker ein sehr ergiebiges Feld und ein sehr interessantes Problem. Es zeigt sich an ihnen, daß es sozusagen Stil-Unterschiede der Religion gibt, die wir denen der Sprache und der Kunst an die Seite stellen dürfen. Hier aber darf und will ich alle diese wichtigen und schwierigen Probleme nicht mehr in Angriff nehmen. Und ebenso mußte ich eine andere Frage außer Acht lassen, deren Behandlung vielleicht viele unter Ihnen vermißt haben werden. Ist es nicht vergeblich – so werden sich vielleicht manche von Ihnen gefragt haben – nach einer logischen Grundlegung der Kulturwissenschaften zu suchen? Muß nicht die Psychologie hier an Stelle der Logik treten? – und leistet sie uns nicht die eigentliche Lösung des Problems? Die These, daß die Psychologie die eigentliche Prinzipienwissenschaft bildet, auf die sich alle Kulturwissenschaften zurückbeziehen und in irgendeiner Weise aufbauen müssen, ist in der Tat von hervorragenden Forschern vertreten worden. Im Gebiet der Sprachwissen-
[Vgl. v. a. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 3 Bde., Tübingen 1920/1921.] 38
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schaft ist es insbesondere Hermann Paul gewesen, der in seinen »Prinzipien der Sprachgeschichte« diese These mit Nachdruck verteidigt hat.39 Was die Kunstwissenschaft betrifft, so darf hier vor allem auf den von Alois Riegl geprägten Begriff des Kunstwollens hingewiesen werden, der ja in die Erörterungen des Stilproblems so tief eingegriffen und in methodischer Hinsicht eine so entscheidende Rolle gespielt hat. Dieser Begriff scheint ja durchaus der Sphäre der rein psychologischen Betrachtung anzugehören, und durch ihn scheinen auf dem ersten Blick alle Stilfragen auf eine bestimmte psychologische Kategorie zurückgeführt zu werden. Daß indes der Rieglsche Begriff seine eigentliche Fruchtbarkeit erst dann erhält, wenn man ihn nicht in rein psychologistischem Sinne auffaßt, sondern ihn in anderer Weise interpretiert, hat, wie mir scheint, Erwin Panofsky in seinem Aufsatz über den »Begriff des Kunstwollens«, der im Jahre 1920 in der ›Zeitschrift für Ästhetik‹ erschienen ist, überzeugend nachgewiesen; auch auf einen Aufsatz von Edgar Wind, der in der gleichen Zeitschrift im Jahre 192540 erschienen ist, sei hier verwiesen. Ich muß mich jedoch mit diesen kurzen Hinweisen begnügen. Zusammenfassend möchte ich meine eigene Überzeugung dahin aussprechen, daß weder der Naturalismus, noch der Historismus, noch der Psychologismus eine befriedigende Lösung des Problems, das uns hier beschäftigt hat – des Problems der Struktur und des logischen Aufbaus der Kulturwissenschaften –, enthält. Eine vollständige Begründung für diese meine Auffassung konnte ich freilich im Rahmen dieses Vortrags nicht geben. Was ich Ihnen hier vorlegen konnte, ist nicht mehr als eine Skizze. Ich hoffe, sie wird demnächst ergänzt und weiter ausgeführt werden durch eine größere Arbeit, die unter dem Titel: Zur Logik der Kulturwissenschaften im nächsten Jahre in Göteborgs Högskolas Ǻrsskrift erscheinen wird.
[Vgl. Hermann Paul: Prinzipien der Sprachgeschichte, 3. Aufl., Halle a. S. 1898, bes. S. 1–6.[ 40 [Vgl. Edgar Wind: Zur Systematik der künstlerischen Probleme. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 18, 1925, S. 438–486.] 39
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Rasse und Geschichte 1 Rasse und Kultur Es mag überraschen, wenn in einer Schriftenreihe, die sich den Kampf gegen den Rassismus zum Ziel gesetzt hat, vom Beitrag der Menschenrassen zur Weltzivilisation gesprochen wird. Umsonst hätte man also so viel Talent und so viele Bemühungen aufgeboten, um darzulegen, daß nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft die Behauptung, eine Rasse sei der anderen intellektuell überlegen oder unterlegen, jeder Grundlage entbehrt, wenn unterderhand die Gültigkeit des Rassebegriffs doch wiederhergestellt würde, indem man zu beweisen scheint, daß die großen ethnischen Gruppen, die die Menschheit bilden, als solche spezifische Beiträge in das gemeinsame Erbe eingebracht haben. Nichts liegt uns jedoch ferner als eine derartige Behauptung, die lediglich auf eine positive Formulierung der rassistischen Doktrin hinausliefe. Wer die biologischen Rassen durch besondere psychologische Eigenarten zu kennzeichnen versucht, der entfernt sich in jedem Fall von der wissenschaftlichen Wahrheit, ganz gleich, ob er es positiv oder negativ formuliert. Selbst Gobineau, in dem die Geschichte den Vater der rassistischen Theorien sieht, verstand die »Ungleichheit der Menschenrassen« nicht als eine quantitative, sondern als eine qualitative: für ihn waren die ursprünglichen großen Rassen der Menschheit – die weiße, die gelbe und die schwarze Rasse – nicht so sehr ungleich an absolutem Wert als vielmehr in ihren verschiedenen Fähigkeiten. Der Makel der Entartung war für ihn weit mehr mit dem Phänomen der Rassenvermischung als mit der Stellung einer bestimmten Rasse auf einer allgemeinen Wertskala verbunden; die Vermischung war also eine Plage, mit der die ganze Menschheit, ohne Unterschied der Rasse, in zunehmendem Maße geschlagen war. Die Erbsünde der Anthropologie besteht jedoch in der Verwendung des rein biologischen Rassebegriffs (vorausgesetzt übrigens, daß er auch nur in diesem begrenzten Bereich Anspruch auf Objektivität erheben kann, was die moderne Genetik bestreitet) zur Erklärung der unterschiedlichen soziologischen und psychologischen Leistungen der einzelnen Kulturen. Allein durch diese Erbsünde war Gobineau schon in dem Teufelskreis eingeschlossen, der von einem intellektuellen Irrtum, der durchaus guten Glaubens begangen sein konnte, zur zwangsläufigen Legitimierung aller Diskriminierungs- und Ausbeutungsunternehmen führt. Wenn wir also in dieser Studie vom Beitrag der Menschenrassen zur Zivilisation sprechen, so wollen wir damit nicht sagen, bei den kulturellen Beiträgen Asiens oder
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Europas, Afrikas oder Amerikas ließe sich irgendeine Originalität aus der Tatsache herleiten, daß diese Kontinente im großen und ganzen von Bewohnern unterschiedlicher rassischer Herkunft bevölkert sind. Wenn eine solche Originalität vorhanden ist – und das ist ohne Zweifel der Fall –, so rührt sie von den geographischen, historischen und soziologischen Verhältnissen her und nicht von bestimmten Fähigkeiten, die etwas mit der anatomischen oder physiologischen Konstitution der Schwarzen, Gelben oder Weißen zu tun hätten. Wir haben jedoch den Eindruck, durch die Betonung des negativen Aspekts bei der bisher vorliegenden Schriftenreihe bestehe die Gefahr, daß jener andere, ebenso wichtige Aspekt des Lebens der Menschheit zu kurz kommt: nämlich die Tatsache, daß diese sich nicht in gleichförmiger Monotonie entwickelt, sondern in Form ganz unterschiedlicher Gesellschaften und Zivilisationen. Diese intellektuelle, ästhetische und soziologische Verschiedenheit hängt durch keine Ursache-Wirkung-Relation mit jener anderen zusammen, die biologisch zwischen bestimmten feststellbaren Aspekten der menschlichen Gruppierungen vorhanden ist: sie läuft ihr lediglich in einem anderen Bereich parallel, unterscheidet sich von ihr aber zugleich durch zwei wichtige Merkmale. Zunächst existiert sie in einer anderen Größenordnung. Es gibt viel mehr Kulturen als Rassen, denn die einen zählen nach Tausenden, die anderen nach Einern: zwei Kulturen, die von Menschen derselben Rasse hervorgebracht wurden, können sich ebenso oder mehr voneinander unterscheiden als zwei Kulturen von rassisch weit voneinander entfernten Gruppierungen. Zweitens: Im Unterschied zur Verschiedenheit der Rassen, bei denen vor allem ihre historische Herkunft und ihre räumliche Verteilung von Interesse ist, stellt uns die Verschiedenheit der Kulturen vor zahlreiche Probleme, denn man kann sich fragen, ob sie für die Menschheit von Vorteil oder von Nachteil ist, ein Fragenkomplex, der natürlich wieder viele Einzelfragen umfaßt. Schließlich und vor allem muß man sich fragen, worin diese Verschiedenheit eigentlich besteht, selbst auf die Gefahr hin, daß die rassistischen Vorurteile, kaum daß sie ihre biologische Grundlage verloren haben, in einem anderen Bereich neu entstehen. Was wäre aber damit gewonnen, wenn man den Mann auf der Straße so weit gebracht hätte, daß er schwarzer oder weißer Hautfarbe, glattem oder krausem Haar keine intellektuelle oder moralische Bedeutung mehr beimißt, und sich dann über jenes andere Problem ausschwiege, das sich erfahrungsgemäß sofort als nächstes stellt: Wenn es keine angeborenen rassischen Fähigkeiten gibt, wie läßt sich dann erklären, daß die von den Weißen hervorgebrachte Zivilisation jene immensen Fortschritte gemacht hat, während die der farbigen Völker zurückgeblieben sind, entweder auf halbem Wege oder in einem Rückstand von Tausenden oder Zehntausenden von Jahren? Das Problem der Ungleichheit der Rassen kann also nicht dadurch gelöst werden, daß man ihre Existenz verneint, wenn man sich nicht gleichzeitig mit dem der Ungleichheit – oder Verschiedenheit – der Kulturen beschäftigt,
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die in der öffentlichen Meinung, wenn auch nicht theoretisch, so doch praktisch, eng mit jener zusammenhängt.
2 Die Verschiedenheit der Kulturen Will man wissen, wie und in welchem Maße sich die Kulturen voneinander unterscheiden, ob diese Unterschiede einander annullieren oder widersprechen, oder ob sie in einem harmonischen Ganzen zusammenlaufen, dann muß man zunächst versuchen, eine Bestandsaufnahme von ihnen zu machen. Aber damit beginnen schon die Schwierigkeiten, denn die Kulturen unterscheiden sich voneinander nicht in der gleichen Art und Weise, auch nicht auf der gleichen Ebene. Wir haben es, erstens, mit verschiedenen Gesellschaften im Raum zu tun, von denen die einen wenig, die anderen weit voneinander entfernt liegen, aber doch, im großen und ganzen, zur selben Zeit existieren. Zweitens müssen wir Formen gesellschaftlichen Lebens berücksichtigen, die zeitlich aufeinander gefolgt sind und die wir nicht aus direkter Erfahrung kennen. Denn jeder Mensch kann sich zwar in einen Ethnographen verwandeln und an Ort und Stelle das Leben einer Gesellschaft teilen, die ihn interessiert; dagegen wird er, selbst als Historiker oder Archäologe, niemals in direkten Kontakt zu einer untergegangenen Zivilisation treten können, sondern nur mit Hilfe von schriftlichen Dokumenten oder figürlichen Denkmälern, die diese Gesellschaft – oder eine andere über sie – hinterlassen hat. Schließlich darf man nicht vergessen, daß die zeitgenössischen Gesellschaften, die die Schrift nicht kannten, genauso wie diejenigen, die wir »wilde« oder »primitive« Gesellschaften nennen, ebenfalls auf frühere Gesellschaftsformen gefolgt sind, deren (selbst indirekte) Kenntnis praktisch unmöglich ist. Eine gewissenhafte Bestandsaufnahme aller Kulturen wird also unendlich viel mehr weiße Kästchen enthalten als solche, in die wir etwas eintragen können. Daraus ergibt sich eine erste Feststellung: die Vielfalt der Kulturen ist, in der Gegenwart faktisch und in der Vergangenheit faktisch und theoretisch, viel größer und reicher als alles, was zu kennen uns je vergönnt sein wird. Aber selbst wenn wir von diesem Gefühl unserer bescheidenen Kenntnismöglichkeiten durchdrungen und von unseren Grenzen überzeugt sind, werden wir auf weitere Probleme stoßen. Was heißt: verschiedene Kulturen? Manche Kulturen scheinen sich voneinander durchaus zu unterscheiden, aber wenn sie von einem gemeinsamen Stamm herleitbar sind, so unterscheiden sie sich nicht im gleichen Maße voneinander wie zwei Gesellschaften, die in keinem Augenblick ihrer Entwicklung in Beziehungen zueinander standen. Das alte Inkareich von Peru unterscheidet sich von dem afrikanischen Reich von Dahomey viel stärker als zum Beispiel England von den heutigen Vereinigten Staaten, obwohl auch diese beiden Gesellschaften als zwei verschiedene behandelt werden müssen. Umgekehrt schei-
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nen bestimmte Gesellschaften, die erst kürzlich in engen Kontakt miteinander getreten sind, das Erscheinungsbild der gleichen Zivilisation zu bieten, obwohl sie auf unterschiedlichen Wegen dahin gelangt sind, was man nicht einfach außer acht lassen kann. In den menschlichen Gesellschaften sind gleichzeitig Kräfte am Werk, die in entgegengesetzten Richtungen wirken: die einen tendieren zur Erhaltung und sogar Verstärkung der Partikularismen, die anderen wirken auf Konvergenz und Affinität hin. Das Studium der Sprache bietet dafür frappierende Beispiele: Während Sprachen gleicher Herkunft die Tendenz haben, sich auseinanderzuentwickeln (z. B. Russisch, Französisch, Englisch), entwickeln Sprachen verschiedener Herkunft, die jedoch in angrenzenden Territorien gesprochen werden, gemeinsame Merkmale. Das Russische hat sich zum Beispiel in mancher Hinsicht von anderen slawischen Sprachen entfernt, sich zugleich aber, zumindest was bestimmte phonetische Erscheinungen angeht, den finno-ugrischen und Turksprachen, die in seiner unmittelbaren geographischen Umgebung gesprochen werden, angenähert. Bei der Untersuchung solcher Tatsachen – ebenso wie verwandter Bereiche der Zivilisation, etwa gesellschaftliche Institutionen, Kunst, Religion – ergibt sich die Frage, ob die verschiedenen Gesellschaften, wenn man ihre gegenseitigen Beziehungen betrachtet, sich nicht durch ein gewisses Optimum an Verschiedenheit unterscheiden, das sie nicht ungefährdet überschreiten und hinter dem sie auch nicht ungefährdet zurückbleiben können. Dieses Optimum müßte variieren, je nach Anzahl, zahlenmäßigem Umfang, geographischer Entfernung und den, sowohl materiellen wie intellektuellen, Kommunikationsmitteln der einzelnen Gesellschaften. Das Problem der Verschiedenheit betrifft nämlich nicht nur das Verhältnis der Kulturen untereinander, es stellt sich auch innerhalb jeder Gesellschaft bei allen Gruppen, aus denen sie sich zusammensetzt: Kasten, Klassen, Berufs- oder Religionsgruppen usw. entwickeln bestimmte Unterschiede, denen jede von ihnen äußerste Wichtigkeit beimißt. Man kann sich sogar fragen, ob diese innere Differenzierung nicht gerade dann zunimmt, wenn eine Gesellschaft in anderer Hinsicht an Umfang und Homogenität gewinnt. Das war vielleicht beim alten Indien der Fall, als sich mit der arischen Hegemonie auch das Kastensystem entwickelte. Wir sehen also, daß die Verschiedenheit der Kulturen kein statischer Begriff ist. Diese Verschiedenheit ist nicht in einer unveränderlichen Mustersammlung oder in einem trocknen Katalog fixierbar. Natürlich können wir sagen, daß die Menschen, aufgrund der geographischen Entfernung, der besonderen Eigenarten der Umwelt und ihrer Unkenntnis voneinander, verschiedene Kulturen hervorgebracht haben. Und doch träfe das nur dann ganz zu, wenn sich jede Kultur oder Gesellschaft in völliger Isolierung von allen anderen entwickelt hätte. Das ist jedoch niemals der Fall, abgesehen von einigen Ausnahmen wie der der Tasmanier (und auch da gilt das nur für eine begrenzte Zeit). Die menschlichen Gesellschaften sind niemals voneinander isoliert. Sogar die, die am stärksten voneinander getrennt erschei-
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nen, bestehen selbst aus verschiedenen Gruppen oder Blöcken. So kann man zwar ohne Übertreibung sagen, daß die nordamerikanischen und südamerikanischen Kulturen viele Jahrtausende lang fast völlig von der übrigen Welt abgeschnitten waren. Aber andererseits bestand dieser abgetrennte Teil der Menschheit aus einer Fülle von großen und kleinen Gesellschaften, die in engem Kontakt zueinander standen. Und neben den Unterschieden, die aus der Isolierung resultieren, stehen die ebenso wichtigen Unterschiede, die von der Nachbarschaft herrühren: dem Wunsch, sich gegeneinander abzusetzen, sich zu unterscheiden, etwas Eignes zu sein. Viele Sitten sind nicht aus einer inneren Notwendigkeit oder einem bestimmten günstigen Ereignis entstanden, sondern allein aus dem Willen, nicht hinter einer benachbarten Gruppe zurückzubleiben, die einen bestimmten Bereich, für den man selbst noch keine Regeln geschaffen, einem bestimmten Gebrauch unterworfen hatte. Die Verschiedenheit der Kulturen darf uns also nicht zu einer aufspaltenden oder gespalteten Betrachungsweise veranlassen. Sie ist weniger eine Funktion der Isolierung als vielmehr der gegenseitigen Beziehung der einzelnen Gruppen.
3 Der Ethnozentrismus Und dennoch scheint die Verschiedenheit der Kulturen den Menschen selten als das vorgekommen zu sein, was sie tatsächlich ist: ein natürliches Phänomen, das von den direkten oder indirekten Beziehungen der Gesellschaften untereinander herrührt. Sie haben in ihr eher eine Art Ungeheuerlichkeit oder Skandal gesehen. Auf diesem Gebiet hat der Fortschritt der Kenntnisse nicht so sehr darin bestanden, diesen Schein zugunsten einer exakteren Auffassung zu zerstören, als vielmehr darin, ihn als Tatsache hinzustellen und herauszufinden, wie man damit fertig werden kann. Die älteste Haltung – die zweifellos auf soliden psychologischen Grundlagen beruht, weil sie bei jedem von uns auftritt, wenn er sich einer unerwarteten Situation gegenübersieht – besteht darin, alle kulturellen Formen, moralische, religiöse, gesellschaftliche, ästhetische, die am weitesten von denen entfernt sind, mit denen wir uns identifizieren, schlicht und einfach abzulehnen. »Gewohnheiten von Wilden«, »das ist nicht von hier«, »so etwas müßte man verbieten« usw. – das sind die üblichen plumpen Reaktionen, die das entsprechende Schaudern, die entsprechende Abwehr gegenüber uns fremden Lebens-, Glaubens- und Denkweisen wiedergeben. Die Antike, zum Beispiel, subsumierte alles, was nicht zur griechischen (später griechisch-römischen) Kultur gehörte, unter dem Begriff »Barbar«; die westliche Zivilisation bediente sich dann des Ausdrucks »Wilder« in der gleichen Weise. Hinter diesen Epitheta verbirgt sich das gleiche Urteil: wahrscheinlich bezieht sich das Wort »Barbar« etymologisch auf das unartikulierte Geräusch des Vogelgezwit-
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schers als Gegensatz zum bedeutungstragenden Wert der menschlichen Sprache, und das französische Wort »sauvage« (Wilder), das »aus dem Wald« bedeutet (vom lateinischen »silvaticus« abgeleitet), erinnert ebenfalls an eine tierische Lebensweise im Gegensatz zur menschlichen Kultur. In beiden Fällen wird die Tatsache einer kulturellen Verschiedenheit einfach geleugnet. Alles, was nicht der Norm entspricht, nach der man selber lebt, wird aus der Kultur in den Bereich der Natur verwiesen. Über das Vorhandensein dieser naiven, aber bei den meisten Menschen tief verwurzelten Auffassung braucht nicht weiter diskutiert zu werden, weil ja unsere Broschüre sie gerade widerlegen soll. Wir wollen nur noch darauf hinweisen, daß sie ein sehr bezeichnendes Paradox enthält. Diese Denkhaltung, die die »Wilden« (oder alle, die man als solche ansehen will) aus der Menschheit ausschließt, ist gerade das ausgeprägteste und auffallendste Merkmal jener Wilden selbst. Bekanntlich ist der Begriff »Menschheit«, der ohne Unterschied der Rasse oder Zivilisation alle Lebensformen der Gattung Mensch einschließt, ziemlich spät aufgekommen und sehr wenig verbreitet. Selbst da, wo er seine höchste Ausbildung erfahren zu haben scheint, steht keineswegs fest – die jüngste Geschichte beweist es –, daß er gegen Mehrdeutigkeiten und Rückbildungen gesichert ist. Aber weiten Teilen der Gattung Mensch scheint dieser Begriff -zig Tausende von Jahren völlig unbekannt zu sein. Die Menschheit endet an den Grenzen des Stammes, der Sprachgruppe, manchmal sogar des Dorfes, so daß eine große Zahl sogenannter primitiver Völker sich selbst einen Namen gibt, der »die Menschen« bedeutet (oder manchmal – mit etwas mehr Zurückhaltung – »die Guten«, »die Hervorragenden«, »die Vollendeten«), was gleichzeitig einschließt, daß die anderen Stämme, Gruppen oder Dörfer keinen Anteil an den guten Eigenschaften – oder sogar an der Natur – des Menschen haben, sondern höchstens aus »Schlechten«, »Bösen«, »Erdaffen« oder »Läuseeiern« bestehen. Manchmal spricht man den Fremden sogar noch jene letzte Stufe an Realität ab, indem man sie als »Fantome« oder »Erscheinungen« ansieht. So kommt es also zu der merkwürdigen Situation, daß zwei Gesprächspartner sich ihre abwertenden Bezeichnungen auf grausame Weise zurückgeben. Als einige Jahre nach der Entdekkung Amerikas die Spanier Untersuchungskommissionen nach den großen Antillen schickten, die erforschen sollten, ob die Eingeborenen eine Seele besäßen, gingen letztere daran, weiße Gefangene einzugraben, um durch Beobachtungen zu prüfen, ob ihre Leiche der Verwesung unterliege. Diese zugleich barocke und tragische Anekdote illustriert das Paradox des kulturellen Relativismus (den wir woanders in anderen Formen wiederfinden können). In dem Maße, wie man eine strenge Trennung zwischen Kulturen und Sitten festzulegen glaubt, identifiziert man sich um so vollständiger mit denjenigen, von denen man sich gerade abzusetzen versucht. Wer diejenigen aus der Menschheit ausschließt, die ihm als die »Wildesten« oder »Barbarischsten« ihrer Vertreter erschei-
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nen, der nimmt nur selbst eines ihrer typischsten Merkmale an. Denn ein Barbar ist ja vor allem derjenige, der an die Barbarei glaubt.1 Die großen philosophischen oder religiösen Systeme der Menschheit – ob es sich nun um Buddhismus, Christentum, Islam oder um Stoizismus, Kantianismus, Marxismus handelt – haben ständig gegen diese irrige Auffassung gekämpft. Aber die bloße Proklamation der natürlichen Gleichheit aller Menschen und der Brüderlichkeit, die sie ohne Ansehen der Rasse oder der Kultur vereinigen sollte, ist intellektuell enttäuschend, weil sie die faktische Verschiedenheit übergeht, die sich der Beobachtung aufzwingt und von der man nicht einfach behaupten kann, daß sie das Problem im Kern nicht berühre, so daß man sie theoretisch und praktisch als nicht vorhanden ansehen könne. Die Präambel der zweiten Unesco-Erklärung über das Rassenproblem weist daher auch gewissenhaft darauf hin, daß das, was den Menschen auf der Straße von der Existenz verschiedener Rassen überzeugt, »die unmittelbare sinnliche Evidenz ist, wenn er einen Afrikaner, einen Europäer, einen Asiaten und einen Indianer nebeneinander sieht«. Die großen Erklärungen der Menschenrechte haben die gleiche Stärke und Schwäche, ein Ideal zu proklamieren und dabei allzuoft außer acht zu lassen, daß der Mensch seine Natur nicht in einer abstrakten Menschheit realisiert, sondern in traditionellen Kulturen, in denen die revolutionärsten Veränderungen ganze Bereiche unangetastet lassen und sich selbst aufgrund einer genau durch Raum und Zeit bestimmten Situation erklären. Der moderne Mensch schwankt zwischen den beiden Versuchungen, entweder die Erfahrungen, die ihn affektiv stören, zu verurteilen, oder die Unterschiede, die er intellektuell nicht versteht, zu leugnen. Um diesem Dilemma zu entgehen, überläßt er sich Hunderten von philosophischen und soziologischen Spekulationen im Hinblick auf müßige Kompromisse zwischen diesen sich widersprechenden Extremen und versucht, sich die Verschiedenheit der Kulturen begreiflich zu machen, indem er alles unterschlägt, was er daran als skandalös und schockierend empfindet. Aber so vielfältig und manchmal sogar bizarr alle diese Spekulationen auch sein mögen, so laufen sie doch alle auf ein einziges Rezept hinaus, das der Begriff falscher Evolutionismus sicher am besten kennzeichnet. Was ist darunter zu verstehen? Es handelt sich hier ganz genau um den Versuch, die Verschiedenheit der Kulturen zu leugnen, aber gleichzeitig so zu tun, als würde man sie voll anerkennen. Denn wenn man die unterschiedliche Beschaffenheit sowohl der alten als auch der entfernten Gesellschaften als Stadien oder Etappen einer einzigen Entwicklung behandelt, die, vom gleichen Ausgangspunkt herkommend, auch zum gleichen Ziel führen muß, Siehe die interessante Diskussion über dieses Thema von Raymond Aron: »Le Paradoxe du même et de l'autre«. In: J. Pouillon und P. Maranda, (Hg.), Échanges et communication, Bd. II, [Den Haag 1970,] S. 943–952. 1
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so wird ihre Verschiedenheit zu einem bloßen Schein. Die Menschheit wird als ein einheitliches, mit sich selbst identisches Wesen gesehen, nur daß sich diese Einheitlichkeit und Identität nicht anders als schrittweise verwirklichen kann und daß die Verschiedenheit der Kulturen lediglich die Momente eines Prozesses illustriert, der eine dahinterliegende Realität verbirgt oder deren Manifestation verzögert. Diese Definition mag angesichts der ungeheuren Siegeszüge des Darwinismus als allzu summarisch erscheinen. Aber um diesen geht es gar nicht, denn der biologische Evolutionismus und der Pseudo-Evolutionismus, den wir hier meinen, sind zwei ganz verschiedene Lehren. Die erste entstand als eine umfassende Arbeitshypothese aufgrund von Beobachtungen, die der Interpretation nur einen geringen Spielraum lassen. Die verschiedenen Typen der Genealogie des Pferdes, zum Beispiel, können nämlich aus zwei Gründen in eine evolutionäre Reihe eingeordnet werden: erstens, zur Erzeugung eines Pferdes ist immer ein Pferd notwendig, und zweitens, die in den übereinandergeschichteten, also nach unten historisch immer älteren Erdschichten enthaltenen Skelette variieren graduell von der jüngsten bis zur archaischsten Form. So ist im höchsten Maße wahrscheinlich, daß das Hipparion der tatsächliche Vorfahre des Equus caballus ist. Die gleiche Schlußfolgerung läßt sich zweifellos für die Gattung Mensch und ihre Rassen ziehen. Geht man aber von den biologischen zu den kulturellen Tatbeständen über, so werden die Dinge kompliziert. Man kann materielle Gegenstände ausgraben und feststellen, daß, je nach der Tiefe der geologischen Schichten, Form und Fabrikationsweise eines bestimmten Gegenstandtyps fortschreitend variieren. Und dennoch setzt ja eine Axt nicht, wie das Tier, physisch eine andere Axt in die Welt. Die Formulierung, eine Axt habe sich aus einer anderen entwickelt, ist also eine metaphorische, ungenaue Ausdrucksweise, die nicht die strenge Wissenschaftlichkeit einer entsprechenden Aussage über biologische Phänomene hat. Was schon für materielle Gegenstände zutrifft, deren tatsächliches Vorhandensein im Erdboden für bestimmbare Epochen bezeugt ist, gilt noch mehr für Institutionen, Religionen und Geschmäcker, deren Vergangenheit uns ganz allgemein unbekannt ist. Der Begriff der biologischen Evolution entspricht einer Hypothese, die einen der höchsten Wahrscheinlichkeitskoeffizienten hat, die man im Bereich der Naturwissenschaften überhaupt antreffen kann, während der Begriff der gesellschaftlichen oder kulturellen Evolution höchstens ein zwar bestechendes, aber gefährlich bequemes Verfahren der Tatsachendarstellung ist. Dieser allzuoft übersehene Unterschied zwischen wahrem und falschem Evolutionismus erklärt sich übrigens aus dem Datum des Aufkommens beider Lehren. Der soziologische Evolutionismus erhielt zweifellos durch den biologischen Evolutionismus einen starken Impuls. Aber er geht ihm zeitlich voraus. Wir brauchen nicht einmal bis zu den antiken und dann von Pascal wieder übernommenen Auf-
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fassungen zurückzugehen, nach denen die Menschheit als ein lebendiges Wesen gesehen wird, das die aufeinanderfolgenden Stadien der Kindheit, Jugend und Reife durchläuft. Auch das 18. Jahrhundert ist reich an solchen Grundschemata, die danach Gegenstand zahlloser Manipulationen werden sollten: die »Spiralen« von Vico, seine »drei Zeitepochen«, die die »drei Zustände« von Comte ankündigen, die »Stufenleiter« von Condorcet. Die beiden Begründer des gesellschaftlichen Evolutionismus, Spencer und Tylor, entwickeln und veröffentlichen ihre Lehre noch vor der Entstehung der Arten von Darwin oder ohne dieses Werk zu kennen. Der gesellschaftliche Evolutionismus, der der wissenschaftlichen Theorie des biologischen Evolutionismus vorausgeht, ist allzuoft die pseudowissenschaftliche Verbrämung eines uralten philosophischen Problems, von dem keineswegs sicher ist, daß es durch Beobachtung und Induktion eines Tages wird gelöst werden können.
4 Archaische und primitive Kulturen Wir haben oben gesagt, daß jede Gesellschaft von ihrem eignen Gesichtspunkt aus die anderen Kulturen in drei Kategorien einteilen könne: die zeitgenössischen Kulturen, die es an einem anderen Ort der Erde gibt; die Kulturen, die sich annähernd im gleichen Raum entwickelt haben, ihr jedoch zeitlich vorausgegangen sind; und schließlich die Kulturen, die es sowohl in früherer Zeit als auch in einem anderen Raum gegeben hat. Wir haben außerdem gesehen, daß diese drei Gruppen in ganz unterschiedlicher Weise erforschbar sind. Was Kulturen der dritten Kategorie angeht, die zugleich keine Schrift, keine Architektur und nur rudimentäre Techniken haben (wie es bei der Hälfte der bewohnten Erde und, je nach den Regionen, bei 90 bis 99% des Zeitraums seit Beginn der Zivilisation der Fall ist), so müssen wir von ihnen sagen, daß wir nichts über sie in Erfahrung bringen können und daß alles, was wir uns von ihnen vorzustellen versuchen, auf reinen Hypothesen beruht. Dagegen ist es sehr verführerisch, zwischen den Kulturen der ersten Kategorie Beziehungen zeitlicher Aufeinanderfolge herzustellen. Wie sollten zeitgenössische Gesellschaften, die weder die Elektrizität noch die Dampfmaschine kennen, nicht an die entsprechende Entwicklungsphase der westlichen Zivilisation denken lassen? Wie sollte man die Eingeborenenstämme, die weder die Schrift noch die Metallurgie kennen, aber Figuren auf Felswände ritzen und Steinwerkzeuge herstellen, nicht mit den archaischen Formen derselben Zivilisation vergleichen können, deren Spuren in den Grotten Frankreichs und Spaniens ihre Verwandtschaft beweisen? Genau hier hat der falsche Evolutionismus allen Spekulationen Tor und Tür geöffnet. Und dennoch ist gerade dieses verführerische Spiel, dem wir uns bei jeder Gelegenheit fast unwillkürlich überlassen, höchst verderblich. (Gefällt sich der westliche Tourist
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nicht darin, im Orient das »Mittelalter«, im Peking der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg das »Zeitalter Ludwigs XIV.« und bei den Eingeborenen Australiens oder Neuguineas die »Steinzeit« wiederzufinden?) Von den untergegangenen Zivilisationen kennen wir nur einige Aspekte, und zwar desto weniger, je älter die entsprechende Zivilisation ist, weil es sich dabei nur um jene Aspekte handeln kann, die die Zerstörungen der Zeit überlebt haben. Trotzdem wird einfach ein Teil für das Ganze genommen, und von der Tatsache, daß einige Aspekte zweier Zivilisationen (einer gegenwärtigen und einer verschwundenen) Ähnlichkeiten aufweisen, wird auf die Analogie aller Aspekte geschlossen. Eine solche Schlußfolgerung ist jedoch nicht nur logisch unzulässig, sondern sie wird auch in vielen Fällen von den Tatsachen widerlegt. Bis in eine relativ junge Epoche hinein besaßen die Tasmanier und die Patagonier Werkzeuge aus zugeschlagenem Stein, die bestimmte australische und amerikanische Stämme noch heute herstellen. Aber die Untersuchung solcher Instrumente hilft uns nur wenig, den Gebrauch der Werkzeuge der paläolithischen Epoche zu erkennen. Wie bediente man sich der berühmten »Faustkeile«, deren Gebrauch immerhin so genau festgelegt sein mußte, daß ihre Form und Herstellungstechnik 100 000 oder 200 000 Jahre lang streng standardisiert geblieben ist, und zwar auf einem Territorium, das sich von England bis nach Südafrika und von Frankreich bis nach China erstreckte? Wozu dienten jene ungewöhnlichen dreieckigen abgeflachten Steine des Levalloisien, die man zu Hunderten in den Ablagerungen findet und über deren Verwendung man noch keine Hypothese gefunden hat? Was waren jene angeblichen »Kommandostäbe« aus Rentierknochen? Worin bestand die Technologie des Tardenoisien, das eine unglaubliche Menge von winzigen abgeschlagenen Steinstückchen in unendlich verschiedenen geometrischen Formen hinterlassen hat, aber sehr wenige Werkzeuge im Maß der menschlichen Hand? Alle diese Ungewißheiten zeigen, daß zwischen den paläolithischen Gesellschaften und bestimmten Eingeborenengesellschaften immer nur eine einzige Ähnlichkeit besteht: sie haben sich zugeschlagener Steinwerkzeuge bedient. Aber schon was die Technologie angeht, können wir nicht mehr sagen. Die Bearbeitung des Materials, die Werkzeugtypen und damit ihre Bestimmung waren sehr unterschiedlich, und die einen lehren uns dabei wenig über die anderen. Wie könnten sie uns gar etwas über die Sprache, die sozialen Institutionen oder über die religiösen Auffassungen lehren? Eine der populärsten Interpretationen des kulturellen Evolutionismus betrifft die Felsmalerei der Gesellschaften des mittleren Paläolithikums, die uns als magische Darstellungen im Zusammenhang mit Jagdriten erklärt werden. Hier wird folgendermaßen argumentiert: die gegenwärtigen primitiven Völker praktizieren Jagdriten, die uns oft keinerlei Nutzwert zu haben scheinen. Die prähistorischen Felsmalereien scheinen, sowohl wegen ihrer Zahl als auch wegen ihrer Lage in den tiefsten Grotten, ebenfalls keinerlei Nutzwert zu haben. Ihre Urheber waren Jäger, also dien-
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ten sie Jagdriten. Man braucht die Argumentation nur wiederzugeben, um schon ihre mangelnde Folgerichtigkeit ermessen zu können. Außerdem ist sie immer vor allem bei Laien verbreitet, denn die Ethnographen kennen diese primitiven Völker, die so gerne von einem pseudowissenschaftlichen Kannibalismus, der sich wenig um die Integrität der Kulturen kümmert, »in einen Topf geworfen« werden, und sie sind sich darüber einig, daß nichts an den beobachteten Fakten irgendeine Hypothese über jene Dokumente erlaubt. Außerdem sind die primitiven »Künste«, mit Ausnahme der südafrikanischen Felsmalereien (die übrigens von manchen als das Werk jüngerer Eingeborenen angesehen werden), ebensoweit vom Magdalénien und Aurignacien entfernt wie von der zeitgenössischen europäischen Kunst. Denn diese Künste zeichnen sich durch einen sehr hohen Stilisierungsgrad aus, der bis zu äußersten Deformationen geht, während die prähistorische Kunst durch einen ergreifenden Realismus gekennzeichnet ist. Man könnte versucht sein, in diesem letzten Merkmal den Ursprung der europäischen Kunst zu sehen. Aber auch das wäre nicht exakt, denn auf demselben Territorium sind der paläolithischen Kunst andere Formen gefolgt, die nicht die gleichen Merkmale hatten. Die Kontinuität des geographischen Fundbereichs ändert nichts an der Tatsache, daß auf demselben Boden sich verschiedene Völker abgelöst haben, die das Werk ihrer Vorgänger nicht kannten oder nicht daran anknüpften und von denen jedes entgegengesetzte Religionen, Techniken und Stile mitbrachte. Durch seinen Zivilisationsstand erinnert zwar auch das präkolumbianische Amerika am Vorabend der Entdeckungen an das europäische Neolithikum. Aber diese Verwandtschaft erweist sich bei näherer Betrachtung ebenfalls als Schein: In Europa bestehen Landwirtschaft und Viehhaltung nebeneinander, während in Amerika die außerordentlich hohe Entwicklung der Landwirtschaft mit dem fast vollständigen Fehlen (oder zumindest einer extremen Begrenzung) der Viehhaltung einhergeht. In Amerika setzt sich das Steinwerkzeug in einer Agrarwirtschaft fort, die in Europa an den Beginn der Metallurgie gebunden ist. Es ist müßig, noch weitere Beispiele anzuführen. Denn die Versuche, Reichtum und Originalität der Kulturen zu erforschen und sie zugleich auf unterschiedlich rückständige Repliken der westlichen Zivilisation zu reduzieren, stoßen auf eine zweite, noch viel größere Schwierigkeit; im großen und ganzen (und mit Ausnahme von Amerika, auf das wir noch zurückkommen werden) haben alle Gesellschaften eine Vergangenheit etwa gleicher Größenordnung hinter sich. Um bestimmte Gesellschaften als »Etappen« der Entwicklung anderer behandeln zu können, müßte man davon ausgehen, daß für letztere etwas geschah, während für jene nichts geschah – oder doch sehr wenig. Daher spricht man auch gern von »geschichtslosen Völkern« (womit man manchmal auch sagen will, daß sie die glücklichsten sind). Diese elliptische Formulierung bedeutet lediglich, daß ihre Geschichte unbekannt ist und bleiben wird, aber nicht, daß sie nicht existiert. In -zig, ja in Hunderten von
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Jahrtausenden hat es auch dort Menschen gegeben, die geliebt, gehaßt, gelitten, geforscht und gekämpft haben. In Wirklichkeit gibt es gar keine kindlichen Völker; alle sind erwachsen, auch diejenigen, die keine Chronik ihrer Kindheit und Jugend verfaßt haben. Man könnte zwar sagen, daß die Gesellschaften ihre Zeit verschieden genutzt haben, daß es für manche sogar verlorene Zeit gewesen ist, daß die einen mit Siebenmeilenstiefeln vorangeeilt sind, während die anderen gebummelt haben. Danach müßte man zwei Arten von Geschichte unterscheiden: eine progressive, sich anreichernde Geschichte, die ihre Funde und Erfindungen akkumuliert und damit große Zivilisationen errichtet, und eine vielleicht ebenso aktive, ebenso viele Talente weckende Geschichte, der es jedoch an synthetischer Begabung fehlt, die gerade das Privileg der ersteren ist. Anstatt daß jede Neuerung an die früheren Neuerungen anschließt und in der gleichen Richtung wirkt, geht sie in einer Art Schlängelpfad unter, dem es nie gelingt, sich auf längere Dauer von der ursprünglichen Richtung zu entfernen. Diese Konzeption erscheint uns viel geschmeidiger und nuancierter als die vereinfachenden Auffassungen, die wir im vorhergehenden Kapitel dargestellt haben. Wir können sie bei unserer Interpretation der Verschiedenheit der Kulturen anwenden, ohne dabei einer von ihnen unrecht zu tun. Aber zuvor müssen noch einige weitere Fragen bedacht werden.
5 Die Idee des Fortschritts Wir müssen zunächst die Kulturen der zweiten Kategorie betrachten, die der Kultur, von der aus man sie sieht, historisch vorangegangen sind. Ihr Fall ist viel komplizierter als die vorher behandelten Fälle. Denn die Hypothese einer Evolution, die sich für die räumlich entfernten zeitgenössischen Kulturen als so unsicher und brüchig erweist, scheint hier schwierig anzweifelbar und durch die Tatsachen sogar belegbar zu sein. Wir wissen durch übereinstimmende Zeugnisse der Archäologie, Vorgeschichte und Paläontologie, daß das gegenwärtige Europa zunächst von verschiedenen Spezies der Gattung Homo bewohnt war, die sich grob zugeschlagener Feuersteine als Werkzeuge bedienten; daß auf die ersten Kulturen andere gefolgt sind, bei denen sich das Zuschlagen der Steine verfeinert, zu dem dann der Steinschliff und die Bearbeitung von Knochen und Elfenbein hinzukommen; daß schließlich Töpferei, Webkunst, Ackerbau und Viehzucht auftreten und sich fortschreitend mit der Metallurgie verbinden, deren Etappen wir ebenfalls unterscheiden können. Die sukzessiven Formen ordnen sich also im Sinn einer Evolution und eines Fortschritts an: die einen sind weiter, die anderen weniger entwickelt. Wenn das alles zutrifft, wie sollten diese Unterscheidungen sich nicht unweigerlich auf die Art und
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Weise auswirken, in der wir zeitgenössische Kräfte behandeln, die analoge Abstände voneinander aufweisen? Unsere früheren Schlußfolgerungen können also wieder in Frage gestellt werden. Die Fortschritte, die die Menschheit seit ihrem Beginn gemacht hat, sind so manifest und eklatant, daß jeder Versuch, sie anzuzweifeln, zu einer rein rhetorischen Übung würde. Und dennoch ist es gar nicht so leicht, sie in eine regelmäßige und fortlaufende Reihe einzuordnen. Vor etwa 50 Jahren bedienten sich die Wissenschaftler dazu äußerst simpler Schemata: Steinzeit des zugeschlagenen Steins, Steinzeit des Steinschliffs, Kupferzeit, Bronzezeit, Eisenzeit. Das alles ist zu bequem. Heute vermuten wir, daß das Schleifen und das Zuschlagen der Steine manchmal gleichzeitig auftraten. Wenn die zweite Technik die erste völlig verdrängt, so ist das nicht das Ergebnis eines aus einer früheren Epoche spontan hervorgebrochenen technischen Fortschritts, sondern ein Versuch, die Metallwaffen und -werkzeuge in Stein zu kopieren, die zweifellos »fortgeschrittenere«, aber im Verhältnis zu ihren Kopisten zeitgenössische Zivilisationen besaßen. Umgekehrt gehört die Töpferei, die man immer der »Steinzeit des Steinschliffs« zugeordnet hat, in bestimmten Gegenden Nordeuropas in die Steinzeit des zugeschlagenen Steins. Was zum Beispiel die Periode des zugeschlagenen Steins, genannt Paläolithikum, angeht, so glaubte man noch vor einigen Jahren, daß die verschiedenen Formen dieser Technik – die respektive die »Kernindustrien«, die »Abschlagindustrien« und die »Klingenindustrien« kennzeichnen – einem historischen Fortschritt in drei Etappen entsprächen, die man Alt-, Mittel- und Jung-Paläolithikum nannte. Heute nimmt man an, daß diese drei Formen koexistiert haben und keine Etappen eines Fortschritts in einer Richtung darstellten, sondern Aspekte oder, wie man sagt, »Fazies« einer sicher nicht statischen, sondern sehr komplexen Variationen und Transformationen unterworfenen Realität. Das Levalloisien, das wir schon erwähnten und dessen Blüte zwischen dem 250. und dem 70. Jahrtausend vor Christi Geburt anzusetzen ist, erreicht in der Zuschlagtechnik eine Perfektion, auf die wir sonst annähernd erst wieder am Ende des Neolithikums stoßen, das heißt 245 000 bis 65 000 Jahre später, und die wir heute wohl kaum reproduzieren könnten. Was für die Kulturen gilt, gilt auch für die Rassen, ohne daß sich (wegen der unterschiedlichen Größenordnungen) irgendeine Korrelation zwischen diesen beiden Ebenen herstellen ließe: In Europa ist der Neandertaler nicht älter als die ältesten Formen des Homo sapiens. Diese lebten vielmehr zur gleichen Zeit oder vielleicht sogar früher. Und es ist nicht ausgeschlossen, daß die verschiedensten Hominiden zur gleichen Zeit, wenn auch nicht im gleichen Raum koexistiert haben: die »Pygmäen« Südafrikas, die »Riesen« Chinas und Indonesiens usw. Wir wiederholen noch einmal: All das soll nicht heißen, daß wir das Vorhandensein eines Fortschritts der Menschheit leugnen, sondern es soll uns nur zu größerer Behutsamkeit veranlassen. Prähistorie und Archäologie neigen heute dazu, ver-
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schiedene Zivilisationsformen, die wir uns bisher in einer zeitlichen Stufenfolge vorstellten, im Raum zu verteilen. Das bedeutet zweierlei: Erstens, der »Fortschritt« (wenn dieser Ausdruck überhaupt noch zur Bezeichnung eines Phänomens geeignet ist, das sich von dem, was man zunächst mit ihm meinte, stark unterscheidet) ist weder notwendig noch kontinuierlich; er vollzieht sich in Sprüngen oder, wie die Biologen sagen, in Mutationen. Diese Sprünge setzen sich nicht immer in der gleichen Richtung fort; sie sind mit Richtungsänderungen verbunden, die man sich wie die verschiedenen Zugmöglichkeiten eines Springers beim Schachspiel vorstellen kann, die nie in einer Richtung verlaufen. Die fortschreitende Menschheit ist kaum einem Wesen ähnlich, das eine Treppe hinaufsteigt, das heißt mit jeder seiner Bewegungen den bereits zurückgelegten Stufen eine neue hinzufügt; sie läßt eher an einen Spieler denken, dessen Glück von mehreren Würfeln abhängt und dem sich mit jedem Wurf immer neue Kombinationen bieten. Was er durch den einen gewinnt, kann er immer durch den anderen verlieren, und nur von Zeit zu Zeit ist die Geschichte kumulativ, das heißt, lassen sich die Zahlen zu einer günstigen Kombination addieren. Daß die kumulative Geschichte nicht das Privileg einer bestimmten Zivilisation oder Epoche ist, zeigt das Beispiel Amerikas am deutlichsten. Dieser riesige Kontinent erlebt die Ankunft des Menschen in kleinen Nomadengruppen, die im Zuge der letzten Vergletscherungen die Beringstraße passieren, zu einem Zeitpunkt, der nicht viel vor dem 20. Jahrtausend liegen dürfte. In dieser Periode gelingt diesen Menschen eine der erstaunlichsten Demonstrationen kumulativer Geschichte, die es auf der Welt gibt: sie erforschen vollständig die Ressourcen einer neuen natürlichen Umwelt, machen sich durch Züchtung (neben einigen Tierarten) die verschiedensten Pflanzenarten als Nahrungsmittel, Heilmittel und Gifte nutzbar und – das ist einmalig – machen giftige Substanzen wie den Maniok zur Grundnahrung und andere zu Stimulans- oder Betäubungsmitteln, sammeln für bestimmte Tierarten bestimmte Gifte oder Betäubungsmittel, von denen jedes eine andere Wirkung hat, und erreichen schließlich in bestimmten Kunstfertigkeiten wie der Webkunst, der Keramik und der Bearbeitung von Edelmetallen den höchsten Perfektionsgrad. Um diese immense Leistung ermessen zu können, braucht man sich nur den Beitrag Amerikas zu den Zivilisationen der Alten Welt zu vergegenwärtigen. An erster Stelle stehen die Kartoffel, der Kautschuk, der Tabak und die Koka (die Grundlage der modernen Anästhesie), die, wenn auch auf verschiedene Weise, vier Pfeiler der westlichen Kultur bilden; dann kommen der Mais und die Erdnuß, die die afrikanische Wirtschaft revolutionieren sollten, vielleicht noch bevor sie sich in der Nahrung Europas verbreiten; dann der Kakao, die Vanille, die Tomate, die Ananas, der Nelkenpfeffer, mehrere Bohnen-, Baumwoll- und Kürbisgewächsarten. Schließlich kannten und benutzten die Mayas die Null, die Grundlage der Arithmetik und, indirekt, der modernen Mathematik, mindestens ein halbes Jahrtausend vor ihrer
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Entdeckung durch indische Gelehrte, von denen sie durch die Araber nach Europa kam. Aus diesem Grund war ihr Kalender in der entsprechenden Zeit vielleicht genauer als der der Alten Welt. Wegen der Frage, ob das politische System der Inkas sozialistisch oder totalitär war, ist schon genug Tinte geflossen. Es gehörte jedenfalls zu den modernsten Formen und war den entsprechenden europäischen Phänomenen um mehrere Jahrhunderte voraus. Das wiederholte Interesse, das neuerdings das Kurare erregt hat, sollte daran erinnern, falls das noch nötig ist, daß die wissenschaftlichen Kenntnisse der Eingeborenen Amerikas über so viele in der übrigen Welt unbenutzte pflanzliche Substanzen uns immer noch wichtige Beiträge liefern können.
6 Stationäre und kumulative Geschichte Diese Erörterung des amerikanischen Beispiels soll uns in unserem Nachdenken über den Unterschied zwischen »stationärer Geschichte« und »kumulativer Geschichte« weiterbringen. Wenn wir nun Amerika das Privileg der kumulativen Geschichte zuerkannt haben, tun wir das dann nicht nur, weil wir ihm die Vaterschaft einer Reihe von Beiträgen zuschreiben, die wir von ihm übernommen haben oder die unseren eigenen ähneln? Wie verhalten wir uns aber gegenüber einer Zivilisation, die eigene Werte hervorgebracht hat, von denen keiner die Zivilisation des Beobachters interessieren könnte? Sähe sich dieser dann nicht veranlaßt, eine solche Zivilisation als stationär zu bezeichnen? Anders gesagt, hängt die Unterscheidung zweier Arten von Geschichte von dem inneren Wesen der Kulturen ab, auf die sie sich bezieht, oder ergibt sie sich nicht vielmehr aus dem ethnozentrischen Standpunkt, auf den wir uns immer stellen, wenn wir eine andere Kultur beurteilen? Wir betrachten danach jede Kultur als kumulativ, die sich in der gleichen Richtung wie unsere eigene entwickelt, deren Entwicklung für uns also eine Bedeutung hat, während die anderen Kulturen uns als stationär erscheinen, nicht immer weil sie es tatsächlich sind, sondern weil ihre Entwicklungskurve für uns nichts bedeutet, nicht mit den Begriffen unseres eigenen Bezugssystems meßbar ist. Daß dem so ist, ergibt sich schon aus einer summarischen Untersuchung der Umstände, unter denen wir die Unterscheidung der beiden Arten von Geschichte treffen, und zwar nicht zur Kennzeichnung anderer Gesellschaften, sondern innerhalb unserer eigenen Gesellschaft. Eine solche Unterscheidung wird nämlich öfter getroffen, als man glaubt. Alte Leute betrachten die Geschichte, die sich während ihres Alters abspielt, im allgemeinen als stationär im Gegensatz zur kumulativen Geschichte, deren Zeuge sie in ihren jungen Jahren waren. Eine Epoche, an der sie nicht mehr aktiv teilhaben, in der sie keine Rolle mehr spielen, hat keinen Sinn mehr. Es passiert nichts, oder, was passiert, hat in ihren Augen negative Merkmale,
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während ihre Enkel diese Epoche mit der ganzen Anteilnahme erleben, die die Älteren schon aufgegeben haben. Die Gegner eines politischen Regimes geben nicht gerne zu, daß sich dieses entwickelt; sie verurteilen es en bloc, verweisen es aus der Geschichte als eine Art monströsen Zwischenakts, nach dessen Ende das Leben erst wieder weitergeht. Ganz anders sehen es die Parteigänger, und zwar desto mehr, je mehr sie intensiv und auf einer höheren Stufe an seinem Funktionieren Anteil haben. Die Geschichtlichkeit oder, besser noch, der Ereignisreichtum einer Kultur oder eines kulturellen Prozesses ist also eine Funktion, nicht ihrer objektiven Eigenschaften, sondern des Standorts, an dem wir uns ihnen gegenüber befinden, und der Zahl und Verschiedenheiten der Interessen, die wir mit ihnen verknüpfen. Der Gegensatz zwischen progressiven und unbeweglichen Kulturen scheint sich also zunächst aus einer unterschiedlichen Scharfeinstellung zu ergeben. Für den Beobachter am Mikroskop, der sich auf einen bestimmten meßbaren Abstand von seinem Objekt eingestellt hat, erscheinen die Körper diesseits oder jenseits dieses Abstands, und sei es nur um einige Hundertstel Millimeter, unklar und verschwommen, oder er sieht sie sogar überhaupt nicht: er sieht über sie hinweg. Ein anderer Vergleich verdeutlicht die gleiche Täuschung. Mit diesem Vergleich erklärt man meist die ersten Bruchstücke der Relativitätstheorie. Um zu zeigen, daß Ausmaß und Geschwindigkeit bei der Fortbewegung von Körpern keine absoluten Werte, sondern Funktionen des Standorts des Beobachters sind, erinnert man daran, daß für einen Reisenden, der am Fenster eines Zuges sitzt, Geschwindigkeit und Länge der anderen Züge variieren, je nachdem, ob diese sich in der gleichen oder in entgegengesetzter Richtung fortbewegen. Ebenso bewegt sich auch jedes Mitglied einer Kultur innerhalb dieser mit, wie der gedachte Reisende in seinem Zug sich mitbewegt. Denn von Geburt an infiltriert uns unsere Umgebung durch Tausende von bewußten und unbewußten Vorgängen mit einem komplizierten Bezugssystem aus Werturteilen, Motivationen, Interessenzentren, einschließlich der reflexiven Auffassung, die uns die Erziehung von der historischen Entwicklung unserer Zivilisation einpflanzt, ohne welche die letztere undenkbar würde oder im Widerspruch zu den tatsächlichen Verhaltensweisen erschiene. Wir bewegen uns buchstäblich mit diesem Bezugssystem, und die kulturellen Phänomene außerhalb unserer Kultur sind nicht beobachtbar ohne die Deformationen, die diese Kultur an ihnen vornimmt, wenn sie uns nicht sogar unfähig macht, überhaupt irgend etwas von jenen wahrzunehmen. In einem sehr großen Maße erklärt sich der Gegensatz zwischen den Kulturen, die sich bewegen, und denen, die sich nicht bewegen, durch den gleichen Standortwechsel, der bewirkt, daß sich für unseren Reisenden ein fahrender Zug bewegt oder nicht bewegt, allerdings mit einem Unterschied, dessen Wichtigkeit an dem Tage evident sein wird – den wir schon von ferne herankommen sehen –, an dem man versuchen wird, eine allgemeine Relativitätstheorie aufzustellen, und zwar
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nicht nach der Art Einsteins, das heißt eine Theorie, die sowohl in den Natur- als auch in den Sozialwissenschaften anwendbar ist: in beiden scheint nämlich alles symmetrisch zu verlaufen, aber in umgekehrter Richtung. Für den Beobachter der physikalischen Welt erscheinen (wie das Beispiel des Reisenden zeigt) die Systeme, die sich in der gleichen Richtung bewegen wie das eigene, als immobil, während die schnellsten diejenigen sind, die sich in andere Richtungen bewegen. Bei den Kulturen ist es genau umgekehrt, weil diese uns um so aktiver erscheinen, je mehr sie sich in der gleichen Richtung wie unsere eigene entwickeln, und stationär, wenn ihre Entwicklungsrichtung von der unseren abweicht. Aber in den Humanwissenschaften hat der Faktor Geschwindigkeit natürlich nur einen metaphorischen Wert. Um einen Vergleich möglich zu machen, muß er durch den Faktor Information und Bedeutung ersetzt werden. Wir wissen, daß man viel mehr Informationen über einen sich parallel zu uns mit ähnlicher Geschwindigkeit fortbewegenden Zug sammeln kann (zum Beispiel die sichtbaren Reisenden zählen) als über einen Zug, der in großer Geschwindigkeit an uns vorbeifährt oder an dem wir vorbeifahren, oder der uns um so kürzer erscheint, als er sich in eine andere Richtung fortbewegt. Im äußersten Fall fährt er so schnell an uns vorbei, daß wir nur einen verschwommenen Eindruck von ihm erhalten, in dem nicht einmal Zeichen der Geschwindigkeit aufgenommen werden; er reduziert sich auf eine vorübergehende Störung des Gesichtsfeldes: das ist gar kein Zug mehr, er bedeutet nichts mehr. Es scheint also eine Relation zu bestehen zwischen dem physikalischen Begriff einer scheinbaren Bewegung und einem zweiten Begriff, mit dem sowohl in der Physik als auch in der Psychologie und Soziologie gearbeitet wird, dem Begriff der Informationsmenge, die zwischen zwei Individuen oder Gruppen »hin und her wechseln« kann in bezug auf die mehr oder weniger große Verschiedenheit ihrer jeweiligen Kulturen. Immer, wenn wir eine Kultur als inert oder stationär qualifizieren, müssen wir uns also fragen, ob dieser scheinbare Immobilismus nicht von unserer Unkenntnis ihrer tatsächlichen, bewußten oder unbewußten, Interessen herrührt und ob diese Kultur, da sie andere Kriterien als unsere eigene hat, nicht uns gegenüber der gleichen Täuschung unterliegt. Anders gesagt, wir erscheinen einander als uninteressant, ganz einfach, weil wir uns nicht ähneln. Die westliche Zivilisation hat sich seit zwei oder drei Jahrhunderten ganz darauf konzentriert, dem Menschen immer wirksamere mechanische Mittel zur Verfügung zu stellen. Nach diesem Kriterium ist die verfügbare Energiemenge pro Kopf der Bevölkerung Ausdruck der mehr oder weniger hohen Entwicklungsstufe der menschlichen Gesellschaften. Die westliche Zivilisation steht dabei in Form der nordamerikanischen an der Spitze, gefolgt von den europäischen Gesellschaften, der sowjetischen und der japanischen, die einen ganzen Block von bald ununterscheidbaren asiatischen und afrikanischen Gesellschaften hinter sich herziehen. Diese Hunderte oder sogar Tausende von sogenannten »unterentwickelten« und
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»primitiven« Gesellschaften, die unter diesem Gesichtspunkt zu einem verschwommenen Ganzen werden (obwohl sie sich auf diese Weise kaum qualifizieren lassen, weil eine solche Entwicklungslinie bei ihnen fehlt oder nur eine sekundäre Rolle spielt), sind dennoch nicht miteinander identisch. Unter anderen Gesichtspunkten verhalten sie sich zueinander wie Antipoden. Je nach dem eingenommenen Gesichtspunkt dürfte man also zu ganz verschiedenen Klassifizierungen kommen. Ist das Kriterium der Grad der Fähigkeit, mit den ungünstigsten geographischen Umweltbedingungen fertig zu werden, dann dürften zweifellos auf der einen Seite die Eskimos, auf der anderen Seite die Beduinen die Palme davontragen. Indien dagegen hat es besser als jede andere Zivilisation verstanden, ein philosophischreligiöses System zu entwickeln, und China eine Lebensweise, die in der Lage ist, die psychologischen Folgen eines demographischen Ungleichgewichts zu verringern. Vor dreizehn Jahrhunderten hat der Islam bereits eine Theorie des Zusammenhangs aller Lebensformen aufgestellt, der technischen, ökonomischen, sozialen und geistigen, die der Westen mit einigen Aspekten des Marxismus und der Entstehung der modernen Ethnologie erst kürzlich wieder entwickelt hat. Es ist bekannt, welchen hervorragenden Platz diese prophetische Vision den Arabern im geistigen Leben des Mittelalters verschafft hat. Der Westen, obzwar Meister der Maschinen, hat doch nur sehr elementare Kenntnisse von der Verwendung und den Kraftquellen jener am höchsten entwickelten Maschine, die der menschliche Körper darstellt. Auf diesem und auf dem angrenzenden Gebiet des Verhältnisses zwischen Körper und Psyche ist der Osten und der Ferne Osten dem Westen um mehrere Jahrtausende voraus; sie haben jene umfassenden theoretischen und praktischen Summae des indischen Joga, der chinesischen Atemtechniken und der Organgymnastik der alten Maoris hervorgebracht. Der erdelose Pflanzenbau, der seit kurzem auf der Tagesordnung steht, wurde jahrhundertelang von bestimmten polynesischen Völkern praktiziert, von denen die übrige Welt auch die Kunst der Navigation hätte erlernen können und die im 18. Jahrhundert den Westen in große Aufregung versetzten, als bekannt wurde, daß ihre soziale und moralische Lebensweise freier und großzügiger war als alles, was man sich je hätte träumen lassen. In allem, was die Familienorganisation und die Harmonisierung der Beziehungen zwischen Familiengruppe und sozialer Gruppe angeht, nehmen die ökonomisch rückständigen Australiden einen gegenüber der übrigen Menschheit so fortgeschrittenen Platz ein, daß man zum Verständnis der bewußt und reflektiert von ihnen entwickelten Regelsysteme die raffiniertesten Formen der modernen Mathematik heranziehen muß. Sie haben zum Beispiel entdeckt, daß die Heiratsverbindungen das Schema sind, zu dem die anderen sozialen Einrichtungen nur das Rankenwerk bilden. Denn selbst in den modernen Gesellschaften, wo die Rolle der Familie sich verringert, ist die Intensität der Familienbande nicht weniger groß: sie beschränken sich lediglich auf einen engeren Kreis, an dessen Peripherie andere Bande, die
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andere Familien miteinbeziehen, jene ersten alsbald ersetzen. Die Verflechtung von Familien mit Hilfe von Heiratsverbindungen kann zur Entstehung enger Verbindungen zwischen einigen Gruppen oder loser Verbindungen zwischen sehr zahlreichen Gruppen führen, aber ob eng oder lose, die Verbindungen halten den ganzen Sozialkörper zusammen und geben ihm seine Elastizität. Mit erstaunlicher Intelligenz haben die Australiden die Theorie dieses Mechanismus entwickelt und eine Bestandsaufnahme der wichtigsten Methoden seines Funktionierens gemacht mit allen Vorzügen und Nachteilen jeder dieser Methoden. Damit haben sie die Stufe der empirischen Beobachtung überschritten und sind zur Erkenntnis der mathematischen Gesetze dieses Systems übergegangen, so daß es keineswegs übertrieben ist, in ihnen nicht nur die Begründer der allgemeinen Soziologie zu begrüßen, sondern auch diejenigen, die als erste das Maß in die Sozialwissenschaften eingeführt haben. Der Reichtum und die Kühnheit in den ästhetischen Erfindungen der Melanesier, ihre Gabe, noch die dunkelsten Produkte der unbewußten Aktivität des Geistes in das soziale Leben einzubeziehen, bilden einen der höchsten Gipfel, den die Menschen in dieser Richtung erreicht haben. Der Beitrag Afrikas ist komplexer, aber auch unaufgeklärter, denn erst neuerdings beginnt man die Wichtigkeit seiner Rolle als kultureller Schmelztiegel der Alten Welt zu ahnen, als ein Ort, wo alle Einflüsse miteinander verschmolzen und entweder wieder zurückwirkten oder aufbewahrt wurden, jedoch immer in veränderter Gestalt mit neuen Bedeutungen. Die ägyptische Zivilisation, deren wichtige Rolle für die Menschheit bekannt ist, ist nur als ein Gemeinschaftswerk Asiens und Afrikas verständlich, und die großen politischen Systeme des alten Afrika, seine juristischen Konstruktionen, seine dem Westen lange verborgen gebliebenen philosophischen Lehren, seine plastischen Künste und seine Musik, in denen methodisch alle Möglichkeiten jedes Ausdrucksmittels erforscht werden, sind ebenso viele Indizien einer außerordentlich fruchtbaren Vergangenheit. Diese ist übrigens direkt bezeugt durch die Perfektion der frühen Bronze- und Elfenbeinbearbeitungstechniken, die bei weitem alles übertreffen, was in Europa zur gleichen Zeit praktiziert wurde. Den amerikanischen Beitrag haben wir schon erwähnt, so daß wir hier nicht noch einmal darauf zurückkommen müssen. Außerdem sind es nicht so sehr diese stückweisen Beiträge, die unsere Aufmerksamkeit verdienen, denn das könnte in uns die doppelt falsche Vorstellung von einer wie ein Harlekinsgewand zusammengeflickten Weltzivilisation entstehen lassen. Man hat schon zu viel Aufhebens davon gemacht, wem jeweils das Verdienst einer Ersterfindung zukommt: den Phöniziern für die Schrift; den Chinesen für das Papier, das Schießpulver, den Kompaß; den Indern für das Glas und den Stahl. Diese Beiträge sind weniger wichtig als die Art, wie jede Kultur sie einordnet, aufnimmt oder ausschließt. Und die Originalität jeder Kultur beruht vielmehr auf ihrer besonderen Weise, Probleme zu lösen und Werte herauszustellen, die für alle Menschen
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annähernd die gleichen sind: denn alle Menschen ohne Ausnahme besitzen eine Sprache, Techniken, eine Kunst, Kenntnisse wissenschaftlicher Art, religiöse Vorstellungen und eine soziale, ökonomische und politische Organisation. Das Mischungsverhältnis ist jedoch in jeder Kultur nicht ganz das gleiche, und die moderne Ethnologie bemüht sich in wachsendem Maße weit mehr, die verborgenen Ursprünge dieser Optionen aufzudecken, als eine Bestandsaufnahme einzelner Wesenszüge zu machen.
7 Der Stellenwert der westlichen Zivilisation Gegen eine solche Argumentation ließe sich vielleicht einwenden, ihr Charakter bleibe theoretisch. Rein logisch, könnte man sagen, ist denkbar, daß jede Kultur unfähig ist, eine andere Kultur richtig zu beurteilen, weil eine Kultur nicht aus sich herauskann und ihre Urteile demnach in einem unüberwindlichen Relativismus befangen bleiben. Aber man sehe sich nur um, man beobachte nur, was seit einem Jahrhundert in der Welt passiert, und man wird merken, daß all diese Spekulationen hinfällig werden. Weit davon entfernt, sich gegeneinander abzukapseln, erkennen vielmehr alle Zivilisationen nach und nach die Überlegenheit der westlichen Zivilisation an. Erleben wir nicht, wie die gesamte Welt fortschreitend ihre Techniken, ihre Lebensweise, ihre Zerstreuungen, ja sogar ihre Kleidung übernimmt? Wie Diogenes die Bewegung durch Gehen bewies, so beweist die Entwicklung der Kulturen von den riesigen Völkermassen Asiens bis zu den verlorenen Stämmen im brasilianischen oder afrikanischen Urwald durch eine einhellige, in der Geschichte noch nie dagewesene Option für die westliche Zivilisation, daß diese allen anderen Zivilisationsformen überlegen ist: die »unterentwickelten« Länder werfen den anderen in den internationalen Gremien ja nicht vor, daß sie sie verwestlichen, sondern daß sie ihnen nicht schnell genug die Mittel zur Verwestlichung geben. Wir berühren hier den empfindlichsten Punkt unserer Darlegung: Es wäre also sinnlos, die Eigenständigkeit der Kulturen gegen sie selbst zu verteidigen. Außerdem ist es für einen Ethnologen außerordentlich schwierig, ein Phänomen wie die Universalisierung der westlichen Zivilisation richtig einzuschätzen, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens ist das Vorhandensein einer Weltzivilisation ein Faktum, das wahrscheinlich in der Geschichte einmalig ist oder dessen Vorläufer in einer fernen Vorgeschichte zu suchen wären, über die wir so gut wie nichts wissen. Zweitens herrscht über die Dauerhaftigkeit dieses Phänomens große Ungewißheit. Tatsache ist, daß seit anderthalb Jahrhunderten die westliche Zivilisation den Trend hat, sich, entweder total oder mit einigen ihrer Hauptbestandteile wie der Industrialisierung, auf die ganze Welt auszubreiten. Und insoweit die anderen Kulturen etwas von ihrem traditionellen Erbe zu erhalten versuchen, beschränkt sich dieser Ver-
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such im allgemeinen auf den Überbau, d. h. auf die anfälligsten Bestandteile, von denen man annehmen kann, daß sie durch die tiefgreifenden Veränderungen, die sich vollziehen, weggefegt werden. Aber das Phänomen ist im Gang, und wir kennen noch nicht die Ergebnisse. Wird es auf eine vollständige Verwestlichung des Erdballs mit einigen Varianten, der russischen oder der amerikanischen, hinauslaufen? Oder werden synkretistische Formen auftauchen, deren Möglichkeit sich in der islamischen Welt, in Indien oder China andeutet? Oder hat der Sog in diese eine Richtung schon seinen Höhepunkt erreicht und läuft wieder zurück, weil die westliche Welt, wie jene prähistorischen Riesentiere, einer physischen Expansion erliegt, die mit den inneren Mechanismen ihrer Existenz unvereinbar ist? Unter Berücksichtigung all dieser Vorbehalte wollen wir versuchen, den Prozeß einzuschätzen, der sich vor unseren Augen abspielt und dessen Akteure, Förderer oder Opfer wir bewußt oder unbewußt sind. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß diese Option für die westliche Lebensweise oder einige ihrer Bestandteile weit davon entfernt ist, so spontan zu sein, wie der Westen es gerne annimmt. Sie ist weniger das Ergebnis einer freien Entscheidung als des Fehlens anderer Möglichkeiten. Die westliche Zivilisation hat in der ganzen Welt ihre Soldaten, Niederlassungen, Plantagen und Missionare etabliert; sie hat, direkt oder indirekt, in das Leben der farbigen Völker eingegriffen; sie hat ihre traditionelle Lebensweise von Grund auf umgewälzt, indem sie entweder ihre eigne durchsetzte oder Verhältnisse schuf, unter denen sich die vorhandenen Strukturen auflösten, ohne daß sie durch andere ersetzt wurden. Die unterjochten oder desorganisierten Völker hatten also keine andere Wahl, als die Ersatzlösungen, die man ihnen bot, zu akzeptieren oder, wenn sie dazu nicht bereit waren, darauf zu hoffen, daß sie sich ihnen so weit anpassen könnten, um sie mit ihren eignen Waffen schlagen zu können. Fehlt eine solche Ungleichheit im Kräfteverhältnis, so geben sich die Gesellschaften nicht so leicht selbst auf. Ihre Weltanschauung ähnelt eher der jener armen Stämme Ostbrasiliens, unter denen zu leben dem Ethnographen Curt Nimuendajú gelungen war und deren Mitglieder jedesmal, wenn er nach einem Aufenthalt in den Zivilisationszentren wieder zu ihnen zurückkehrte, vor Mitleid schluchzten bei dem Gedanken an die Leiden, die er erlitten haben mußte so weit entfernt von dem einzigen Ort – ihrem Dorf –, an dem zu leben ihnen lebenswert erschien. Durch diese Einschränkung haben wir die Frage jedoch nur verlagert. Wenn es nicht die freiwillige Zustimmung ist, die die westliche Überlegenheit begründet, ist es dann nicht jene größere Energie, über die sie verfügt und die es ihr eben gerade ermöglicht hat, diese Zustimmung zu erzwingen? Genau das ist der Kern. Denn jenes ungleiche Kräfteverhältnis gehört nicht in den Bereich der kollektiven Subjektivität wie die Fälle einer Option, die wir oben erwähnten. Es ist ein objektives Phänomen, das nur die Nennung der objektiven Ursachen erklären kann.
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Wir wollen hier keine Kulturphilosophie betreiben, über das Wesen der von der westlichen Zivilisation vertretenen Werte kann man ganze Bände schreiben. Wir greifen nur die offensichtlichsten auf, die am wenigsten bestritten werden. Sie reduzieren sich, wie mir scheint, auf zwei: die westliche Zivilisation strebt – nach Leslie White – danach, einerseits die Energiemenge pro Kopf der Bevölkerung ständig zu vergrößern, andrerseits das menschliche Leben zu schützen und zu verlängern, und etwas verkürzt kann man sagen, der zweite Aspekt ist eine Modalität des ersten, da ja die vorhandene Energiemenge absolut zunimmt mit der Dauer und dem Interesse der individuellen Existenz. Ebenso wird man, wieder etwas verkürzt, ohne weiteres zugeben können, daß diese Merkmale von kompensatorischen, gewissermaßen bremsenden Erscheinungen begleitet sein können wie die großen Massaker, die die Weltkriege darstellen, und die Ungleichheit bei der Aufteilung der verfügbaren Energie zwischen den Individuen und Klassen. Danach wird man als nächstes feststellen, daß sich die westliche Zivilisation diesen Aufgaben zwar mit einer Ausschließlichkeit gewidmet hat, in der vielleicht ihre Schwäche liegt, aber daß sie damit nicht allein steht. Alle Gesellschaften, angefangen von den allerfrühesten, haben sich in dieser Weise verhalten, und gerade die sehr weit zurückliegenden, ganz archaischen Gesellschaften, die wir gerne mit den »wilden« Völkern der Gegenwart gleichsetzen, haben auf diesem Gebiet die entscheidendsten Fortschritte gemacht. Auch heute noch bilden diese den größten Teil von dem, was wir Zivilisation nennen. Wir leben immer noch von den ungeheuren Entdeckungen dessen, was man ohne jede Übertreibung die neolithische Revolution nennt: Ackerbau, Viehzucht, Töpferei, Weberei. All diese »Zivilisationstechniken« haben wir seit 8 000 oder 10 000 Jahren nur perfektionieren können. Bestimmte Geister haben nun aber die mißliche Neigung, nur den jüngsten Entdeckungen das Verdienst von Anstrengung, Intelligenz und Phantasie zuzuerkennen, während jene, die von der Menschheit in ihrer »barbarischen« Periode gemacht worden sind, nur das Ergebnis des Zufalls sein sollen und ihnen daher kaum ein Verdienst zukommt. Diese irrige Auffassung erscheint uns so schwerwiegend und weit verbreitet und so sehr geeignet, eine exaktere Erkenntnis des Verhältnisses zwischen den Kulturen zu verhindern, daß wir es für unentbehrlich halten, sie ausführlich zu widerlegen.
8 Zufall und Zivilisation Man liest in ethnologischen Abhandlungen – und zwar nicht in den schlechtesten – oft, der Mensch verdanke die Kenntnis des Feuers dem Zufall des Blitzes oder eines Waldbrandes; der Fund eines auf diese Weise zufällig gebratenen Wildes habe ihn auf das Kochen der Nahrungsmittel gebracht, die Erfindung der Töpferei resultiere
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aus dem Vergessen eines Tonkügelchens in der Nähe des Feuers. Danach hätte der Mensch anfangs in einer Art technologisch goldenem Zeitalter gelebt, in dem man Erfindungen ebenso leicht pflücken konnte wie Obst oder Blumen. Erst dem modernen Menschen wären die Anstrengungen mühseliger Arbeit und die Erleuchtungen des Genies vorbehalten. Diese naive Auffassung rührt von einer vollständigen Unkenntnis der Kompliziertheit und Differenziertheit der für die elementarsten Techniken erforderlichen Operationen her. Zur Herstellung eines verwendungsfähigen Werkzeugs aus zugeschlagenem Stein genügt es nicht, daß man so lange auf einen Stein schlägt, bis er zersplittert: das hat man gemerkt, als man versuchte, die hauptsächlichsten prähistorischen Werkzeugtypen zu reproduzieren. Bei dieser Gelegenheit – und ebenso bei der Beobachtung der gleichen Technik bei den Eingeborenen, die sie noch heute beherrschen – hat man die Kompliziertheit der dazu unentbehrlichen Vorkehrungen entdeckt, die manchmal bis zur vorherigen Herstellung regelrechter »Zuschlagungsapparate« gehen: Hämmer mit Gegengewicht zur Kontrolle des Anschlags und seiner Richtung, Stoßdämpfer zur Vermeidung einer Vibration, die den Steinsplitter weiter zersplittert. Außerdem sind erhebliche Kenntnisse über Fundstellen, Förderung, Widerstand und Struktur des verwendeten Materials, ein gezieltes Muskeltraining, Kenntnis der »Handgriffe« usw. nötig, mit einem Wort, eine ganze »Lithurgik«, die, mutatis mutandis, den verschiedenen Bereichen der Metallurgie entspricht. Natürliche Feuersbrünste können zwar manchmal Schmor- oder Brateffekte haben, aber auch hier ist schwer denkbar (außer bei vulkanischen Erscheinungen, deren geographische Verbreitung begrenzt ist), daß sie auch Siede- oder Kocheffekte durch Dampf haben. Diese Kochmethoden sind jedoch nicht weniger allgemein verbreitet als die anderen. Es besteht also gar kein Anlaß, den Akt der Erfindung, der für die letzteren Methoden erforderlich war, für die Erklärung der ersteren auszuschließen. Die Töpferei bietet hierfür ein ausgezeichnetes Beispiel, weil nach einer sehr verbreiteten Auffassung es angeblich nichts Einfacheres gebe, als einen Tonklumpen auszuhöhlen und am Feuer zu verfestigen. Man versuche es einmal. Zunächst muß man nämlich Tonsorten finden, die zum Brennen geeignet sind, und wenn eine große Anzahl natürlicher Bedingungen dazu erforderlich sind, so reicht doch keine davon aus, denn kein Ton, dem nicht ein inertes Material beigemischt wird, das hinsichtlich seiner besonderen Eigenschaft ausgewählt ist, würde nach dem Brand ein brauchbares Gefäß abgeben. Dazu müssen Modellierungstechniken entwickelt werden, die jene Glanzleistung ermöglichen, daß man ein formbares Material, das nicht »stehen bleibt«, während einer nennenswerten Zeit im Gleichgewicht hält und gleichzeitig verformt; schließlich muß man das besondere Brennmaterial, die Form der Feuerstelle, den Grad der Hitze und die Dauer des Brennens herausfin-
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den, die es fest und wasserdicht machen, unter Vermeidung aller Gefahren des Zerbrechens, Zersplittern und Sichverformens. Dieses Beispiel ließe sich um viele andere ergänzen. All diese Operationen sind viel zu zahlreich und viel zu kompliziert, als daß man sie mit dem Zufall erklären könnte. Isoliert genommen erbringt jede von ihnen nichts, nur ihre ausgedachte, gewollte, gesuchte und durchexperimentierte Kombination führt zum Erfolg. Sicher spielt auch der Zufall dabei eine Rolle, aber er allein ergibt noch kein Resultat. Ungefähr 2 500 Jahre hat die westliche Welt das Vorhandensein der Elektrizität gekannt – die zweifellos durch Zufall entdeckt wurde –, aber dieser Zufall blieb ergebnislos bis zu den gezielten und von den Hypothesen eines Ampère und eines Faraday geleiteten Bemühungen. Bei der Erfindung des Bogens, des Bumerangs oder des Blasrohrs, der Entstehung von Landwirtschaft und Viehzucht hat der Zufall keine größere Rolle gespielt als bei der Entdeckung des Penicillins – bei der man sie übrigens kennt. Man muß also sorgfältig unterscheiden zwischen der Vermittlung einer Technik von einer Generation zur anderen, die dank der Beobachtung und täglichen Übung immer relativ leicht vor sich geht, und der Erfindung oder Verbesserung von Techniken innerhalb jeder Generation. Letztere setzen immer die gleiche imaginative Potenz und die gleichen verbissenen Anstrengungen einiger Individuen voraus, ganz gleich um welche besondere Technik es jeweils geht. Die Gesellschaften, die wir primitiv nennen, haben ebenso ihren Pasteur oder Palissy wie die anderen.2 Wir werden gleich auf die Phänomene Zufall und Wahrscheinlichkeit stoßen, aber an anderer Stelle in einer anderen Rolle. Wir ziehen sie nicht heran, um uns die Erklärung von Erfindungen leichtzumachen, sondern um eine Erscheinung zu interpretieren, die auf einer anderen Realitätsebene liegt: nämlich, daß trotz einer bestimmten Dosis von Phantasie, Erfindungsgeist und schöpferischer Anstrengung, von der wir annehmen können, daß sie während der ganzen Menschheitsgeschichte ungefähr konstant bleibt, diese Kombination nur in bestimmten Perioden und an bestimmten Orten zu wichtigen kulturellen Mutationen führt. Denn dazu sind die rein psychologischen Faktoren nicht ausreichend: sie müssen zunächst mit einer ähnlichen Orientierung bei einer genügenden Anzahl von Individuen vorhanden sein, damit der Erfinder sofort einer Anhängerschaft sicher sein kann. Und diese Bedingung hängt selbst wieder von dem Zusammentreffen einer ganzen Anzahl anderer Faktoren historischer, ökonomischer und soziologischer Art ab. Zur Erklärung der Unterschiede im Verlauf der Zivilisationen müßte man also ganze Bündel von Ursachen heranziehen, die so komplex und verschiedenartig sind, daß sie unerkennbar wären, sowohl aus praktischen wie sogar aus theoretischen Gründen, Vgl. [Claude Lévi-Strauss,] Das wilde Denken [(erstmals Paris 1962), 3. Aufl., Frankfurt am Main 1979], S. 25–29. 2
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zum Beispiel das bei allen Beobachtungstechniken unvermeidliche Auftreten von Störungen. Um ein Knäuel von so zahlreichen und dünnen Fäden entwirren zu können, müßte man nämlich die betrachtete Gesellschaft (und die sie umgebende Welt) einer jeden Augenblick berücksichtigenden ethnographischen Globalstudie unterziehen. Abgesehen von dem riesigen Umfang eines solchen Unternehmens sind die Ethnographen, die immerhin in einer unendlich viel kleineren Größenordnung arbeiten, bekanntlich oft in ihren Beobachtungen durch die subtilen Veränderungen behindert, die schon durch ihre Anwesenheit in der Gruppe hervorgerufen werden, die Gegenstand ihrer Untersuchung ist. Auch die Meinungsumfragen in den modernen Gesellschaften, die eines der wirksamsten Sondierungsmittel sind, modifizieren ja eben diese Meinung allein durch ihre Anwendung, weil diese den Faktor einer Selbstreflexion in die Öffentlichkeit einführt, der bis dahin fehlte. Dieser Tatbestand rechtfertigt die Einführung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs in die Sozialwissenschaften, mit dem in einigen Zweigen der Physik, etwa der Thermodynamik, schon lange gearbeitet wird. Wir kommen noch darauf zurück. Im Augenblick müssen wir uns nur in Erinnerung rufen, daß die Komplexität der modernen Entdeckungen nicht von einer größeren Häufigkeit oder einer besseren Nutzbarmachung der Genialität bei unseren Zeitgenossen herrührt. Ganz im Gegenteil, denn wir haben ja erkannt, daß im Lauf der Jahrhunderte jede Generation, um Fortschritte zu machen, dem von früheren Generationen vererbten Kapital nur eine ständige Anlage hinzuzufügen brauchte. Jenen früheren Generationen schulden wir neun Zehntel unseres Reichtums und sogar noch mehr, wenn man einmal spaßeshalber das Datum des Auftretens der wichtigsten Entdeckungen auf das annähernde Datum des Beginns der Zivilisation bezieht. Man wird dann feststellen, daß die Landwirtschaft im Laufe einer jüngeren Phase entstanden ist, die 2% dieser Dauer entspräche; das Auftreten der Metallurgie entspräche 0,7%, des Alphabets 0,35%, der Galileischen Physik 0,035% und des Darwinismus 0,009%.3 Die ganze wissenschaftliche und industrielle Revolution des Westens entspricht etwa einem halben Tausendstel des Gesamtlebens der Menschheit. Man sollte also vorsichtig sein mit der Behauptung, daß sie ihre Bedeutung total verändern werde. Ebenso steht fest – und das ist die endgültige Formulierung, die wir unserem Problem glauben geben zu können –, daß hinsichtlich der technischen Erfindungen (und der wissenschaftlichen Reflexion, die sie ermöglicht) die westliche Zivilisation sich als kumulativer erwiesen hat als die anderen, daß sie dem gemeinsamen neolithischen Anfangskapital Verbesserungen hat hinzufügen können (alphabetische Schrift, Arithmetik und Geometrie), von denen sie einige übrigens rasch vergessen hat, daß sie aber nach einer Stagnation von etwa 2 000 oder 2 500 Jahren (ungefähr vom 1. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung bis zum 18. Jahrhundert) sich plötzlich 3
Leslie A. White, The Science of Culture [New York 1949], S. 356.
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als der Brennpunkt einer industriellen Revolution herausgestellt hat, die an Umfang, Universalität und Folgenschwere nur in der neolithischen Revolution ein Äquivalent hat. Zweimal in ihrer Geschichte und in einem Abstand von ungefähr 10 000 Jahren hat die Menschheit also eine Menge von Erfindungen, die in die gleiche Richtung gingen, akkumulieren können, und sowohl diese Anzahl als auch diese Kontinuität haben sich in einer Zeitspanne konzentriert, die kurz genug war für das Zustandekommen hochgradiger technischer Synthesen. Diese Synthesen haben signifikante Veränderungen in den Beziehungen des Menschen zur Natur hervorgerufen und ihrerseits weitere Veränderungen möglich gemacht. Die Vorstellung von einer durch Katalysatoren ausgelösten Kettenreaktion kann diesen Prozeß illustrieren, der sich bis jetzt zweimal, und nur zweimal, in der Geschichte der Menschheit abgespielt hat. Wie hat sich das abgespielt? Zunächst darf man nicht vergessen, daß woanders und zu anderen Zeitpunkten, aber in verschiedenen Bereichen der menschlichen Tätigkeit, sich andere Revolutionen haben abspielen können, die die gleichen kumulativen Merkmale hatten. Wir haben oben dargelegt, warum unsere eigene industrielle Revolution und die neolithische Revolution (die jener zeitlich vorausgegangen, aber von den gleichen Bestrebungen gekennzeichnet ist) die einzigen sind, die uns als solche erscheinen, weil wir sie mit unserem Bezugssystem erfassen können. Alle anderen Veränderungen, die sich mit Sicherheit vollzogen haben, sind für uns nur fragmentarisch oder völlig verzerrt erkennbar. Sie haben für den modernen westlichen Menschen keinen Sinn (jedenfalls nicht ihren vollen Sinn); sie können für ihn sogar so gut wie nicht existent sein. Zweitens sollte ihn das Beispiel der neolithischen Revolution (der einzigen, die sich der moderne westliche Mensch einigermaßen vorstellen kann) zu etwas mehr Bescheidenheit veranlassen, was den Vorrang angeht, den er für eine bestimmte Rasse, ein bestimmtes Gebiet oder Land in Anspruch zu nehmen versucht sein könnte. Die industrielle Revolution ging von Westeuropa aus, griff dann auf die Vereinigten Staaten und schließlich auf Japan über; seit 1917 beschleunigt sie sich in der Sowjetunion, morgen wird sie sicher woanders auftreten; von einer Jahrhunderthälfte zur anderen strahlt sie mit mehr oder weniger großer Stärke von ihren verschiedenen Zentren aus. Was bedeuten angesichts der Jahrtausende jene Fragen der Priorität, auf die wir so stolz sind? Innerhalb von etwa 1 000 oder 2 000 Jahren wurde gleichzeitig die neolithische Revolution im ägäischen Becken, in Ägypten, im Vorderen Orient, im Industal und in China ausgelöst; und seit der Anwendung des Radiokarbon-Tests bei der Bestimmung archäologischer Perioden können wir vermuten, daß das amerikanische Neolithikum viel älter ist, als man früher annahm, und nicht viel später begonnen hat als in der Alten Welt. Es ist wahrscheinlich, daß drei oder vier kleine Täler bei diesem
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Wettstreit eine Priorität von einigen Jahrhunderten in Anspruch nehmen können. Was wissen wir heute schon davon? Dagegen ist gewiß, daß die Prioritätsfrage keine Bedeutung hat, eben weil die Gleichzeitigkeit derselben technischen Umwälzungen (gefolgt von sozialen Umwälzungen) in so riesigen Territorien und so weit auseinander liegenden Gebieten beweist, daß sie nicht vom Genie einer Rasse oder Kultur abhingen, sondern von Bedingungen, die so allgemein sind, daß sie außerhalb des Bewußtseins der Menschen liegen. Wir können daher sicher sein, daß die industrielle Revolution, wenn sie nicht zuerst in West- und Nordeuropa aufgetreten wäre, sich eines Tages an einem anderen Punkt der Erde abgespielt hätte. Und wenn sie sich, was wahrscheinlich ist, auf die gesamte bewohnte Erde ausdehnen sollte, so wird jede Kultur soviel spezielle Beiträge dazu liefern, daß der Historiker der zukünftigen Jahrtausende die Frage, wer die Priorität von ein oder zwei Jahrhunderten für sich in Anspruch nehmen kann, zu Recht als müßig ansehen wird. Nachdem das geklärt ist, müssen wir eine neue Einschränkung, wenn nicht der Gültigkeit, so doch der wissenschaftlichen Strenge der Unterscheidung zwischen stationärer und kumulativer Geschichte machen. Diese Unterscheidung ist nicht nur, wie wir oben ausgeführt haben, von unseren Interessen abhängig, sondern sie kann niemals ganz klar sein. Was die technischen Erfindungen angeht, so ist sicher, daß keine Periode, keine Kultur absolut stationär ist. Alle Völker besitzen und verändern, verbessern oder vergessen Techniken, die komplex genug sind, um ihnen eine Beherrschung ihrer Umwelt zu ermöglichen. Andernfalls wären sie seit langem untergegangen. Es besteht also nicht so sehr ein Unterschied zwischen kumulativer und nicht-kumulativer Geschichte; jede Geschichte ist kumulativ, nur mit Gradunterschieden. Die alten Chinesen und die Eskimos, zum Beispiel, waren in der Mechanik schon sehr weit, und beinahe wären sie zu dem Punkt gelangt, wo eine »Kettenreaktion« den Übergang von einer Zivilisation zur anderen hervorruft. Oder denken wir an das Beispiel des Schießpulvers: die Chinesen hatten technisch schon alle diesbezüglichen Probleme gelöst außer dem seiner Einsetzung für massive Resultate. Von den alten Mexikanern behauptet man oft, daß sie das Rad nicht kannten; das ist nicht wahr, denn sie stellten Tiere auf Rollen für Kinder her; bis zum Wagen bedurfte es nur noch eines weiteren Schrittes. Das Problem der (für jedes Bezugssystem) relativen Seltenheit »kumulativerer« gegenüber »weniger kumulativen« Kulturen reduziert sich also auf ein bekanntes Problem der Wahrscheinlichkeitsrechnung: nämlich die Bestimmung der relativen Wahrscheinlichkeit einer komplizierten Kombination gegenüber anderen gleichartigen, aber weniger komplizierten Kombinationen. Beim Roulettespiel, zum Beispiel, kommt eine Folge von zwei aufeinanderfolgenden Zahlen ziemlich häufig vor (7 und 8, 12 und 13, 30 und 31); eine Folge von drei aufeinanderfolgenden Zahlen ist schon selten und eine von vier noch seltener. Und nur einmal bei einer äußerst hohen Anzahl von Spielen entsteht vielleicht eine Reihe von sechs, sieben oder acht
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aufeinanderfolgenden Zahlen. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf lange Reihen konzentrieren (wenn wir etwa auf Reihen von fünf aufeinanderfolgenden Zahlen setzen), dann erscheinen uns die kürzeren Reihen als ungeordnet. Dabei vergessen wir, daß sie sich von unseren Reihen nur durch den Wert eines Ausschnitts unterscheiden und von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachtet vielleicht eine ebenso große Regelmäßigkeit enthalten. Gehen wir in unserem Vergleich noch weiter. Ein Spieler, der alle seine Gewinne auf immer längere Reihen übertrüge, könnte nach Tausenden oder Millionen von Spielen die Hoffnung verlieren, jemals eine Reihe von neun aufeinanderfolgenden Zahlen zu sehen, und zu dem Schluß kommen, daß es besser gewesen wäre, früher aufzuhören. Dennoch kann ein anderer Spieler, der nach der gleichen Regel, aber auf Reihen anderer Art setzt (zum Beispiel einen bestimmten Wechsel von Rot und Schwarz oder gerade und ungerade), ebendort signifikante Kombinationen erkennen, wo der erste Spieler nur Unordnung wahrnimmt. Die Menschheit entwickelt sich nicht in einer Richtung. Und wenn sie auf einer bestimmten Ebene stationär oder gar regressiv zu sein scheint, so bedeutet das nicht, daß sie von einem anderen Gesichtspunkt aus nicht der Ausgangspunkt wichtiger Veränderungen ist. David Hume hat sich einmal damit beschäftigt, ein Scheinproblem aufzuheben, das sich viele Menschen stellen, nämlich warum nicht alle Frauen hübsch sind, sondern nur eine kleine Minderheit. Er konnte mühelos nachweisen, daß diese Frage keinen Sinn hat. Wenn alle Frauen wenigstens so hübsch wie die schönste wären, würden wir sie banal finden und würden unsere Wertschätzung der kleinen Minderheit vorbehalten, die vom gemeinsamen Modell abwiche. Ebenso ist es, wenn wir an einem bestimmten Fortschrittstyp interessiert sind, weil wir auch dann nur den Kulturen ein Verdienst zuerkennen, die diesen Fortschritt im höchsten Maße verwirklichen, und den anderen gegenüber gleichgültig bleiben. Fortschritt ist also niemals etwas anderes als ein maximales Fortschreiten in einer von den Vorlieben eines jeden vorausbestimmten Richtung.
9 Das Zusammenwirken der Kulturen Wir müssen schließlich unser Problem unter einem letzten Gesichtspunkt betrachten. Ein Spieler wie der, von dem in den vorigen Abschnitten die Rede gewesen ist, der immer nur auf die längsten Reihen setzte (welche er sich auch immer denken mag), liefe große Gefahr, sich zu ruinieren. Das gilt jedoch nicht für eine Koalition von Spielern, die auf die an absolutem Wert gleichen Reihen setzten, aber an mehreren Roulettetischen, und sich das Privileg vorbehielten, die für die Kombinationen eines jeden günstigen Ergebnisse zusammenzulegen. Wenn ich zum Beispiel allein mit 21 und 22 gewonnen habe und nun zur Fortsetzung meiner Reihe die 23 brauche,
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so besteht eindeutig eine größere Chance, daß sie bei zehn Tischen erscheint als bei einem einzigen. Diese Situation ähnelt der der Kulturen, denen es gelungen ist, die kumulativsten Geschichtsformen hervorzubringen. Diese extremen Formen sind nie das Resultat isolierter Kulturen gewesen, sondern immer die Sache von Kulturen, die willentlich oder unwillentlich ihre verschiedenen Spiele miteinander kombiniert und durch verschiedene Mittel (Wanderungen, Übernahmen, Handelsbeziehungen, Kriege) jene Koalitionen hervorgebracht haben, deren Modell wir uns gerade vorzustellen versuchten. Genau an diesem Punkt wird die Absurdität greifbar, die darin besteht, eine Kultur als der anderen überlegen zu erklären. Denn insofern eine Kultur allein ist, kann sie niemals »überlegen« sein. Wie dem isolierten Spieler werden ihr immer nur kurze Reihen einiger Bestandteile gelingen, und die Wahrscheinlichkeit, daß sie in ihrer Geschichte eine lange Reihe »gewinnt«, ist (ohne theoretisch ausgeschlossen zu sein) so gering, daß eine unendlich viel längere Zeit nötig wäre, als die gesamte Entwicklung der Menschheit dauert, damit man hoffen könnte, daß sich eine solche Chance ergibt. Aber – wir haben es oben gesagt – keine Kultur ist allein; jede Kultur tritt immer in Koalition mit anderen Kulturen auf, und nur das ermöglicht ihr kumulative Reihen. Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer langen Reihe hängt natürlich von Reichweite, Dauer und Variabilität des Koalitionssystems ab. Daraus ergeben sich weitere Folgerungen. Im Laufe dieser Untersuchung haben wir uns mehrfach gefragt, wie es kommt, daß die Menschheit während neun Zehnteln ihrer Geschichte stationär geblieben ist, ja mehr noch, daß die ersten Zivilisationen 200 000 bis 500 000 Jahre alt sind und sich die Lebensbedingungen erst im Laufe der letzten 10 000 Jahre verändern. Wenn unsere Analyse stimmt, so kann der Grund dafür nicht sein, daß der paläolithische Mensch weniger intelligent, weniger begabt war als sein neolithischer Nachfahre, sondern ganz einfach, daß in der Menschheitsgeschichte eine Kombination vom Grad n eine Zeitdauer t gebraucht hat, bis sie entstand; sie hätte auch sehr viel früher oder sehr viel später zustande kommen können. Diese Tatsache hat ebensowenig Bedeutung wie die Anzahl der Spiele, die ein Spieler abwarten muß, bis sich eine bestimmte Kombination ergibt: Diese Kombination wird beim ersten Schlag, beim tausendsten, beim millionsten oder gar nicht entstehen können. Aber während dieser ganzen Zeit hört die Menschheit, wie der Spieler, nicht auf zu spekulieren. Ohne es immer zu wollen und ohne sich dessen genau bewußt zu sein, »stürzt sie sich in kulturelle Geschäfte«, in »zivilisatorische Spekulationen«, die alle von unterschiedlichem Erfolg gekrönt sind. Manchmal steht sie kurz vor dem Erfolg, manchmal verspielt sie frühere Gewinne wieder. Die großen Vereinfachungen, die durch unsere Unkenntnis der meisten Aspekte der prähistorischen Gesellschaften möglich sind, können jenen unsicheren und verzweigten Weg illustrieren, denn nichts ist frappierender als jene Rückfälle, die von der Höhe des Levalloisien zur
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Mittelmäßigkeit des Moustérien, vom Glanz des Aurignacien und Solutréen zur Roheit des Magdalénien und schließlich zu den extremen Kontrasten der verschiedenen Aspekte des Mesolithikums führen. Was für die Zeit gilt, gilt auch für den Raum, es muß nur anders ausgedrückt werden. Die Chance einer Kultur, jenes komplexe Ensemble von Erfindungen aller Art zu totalisieren, das wir eine Zivilisation nennen, ist Funktion der Anzahl und der Verschiedenheit der Kulturen, mit denen sie – oft unwillentlich – daran arbeitet, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln. Anzahl und Verschiedenheit, sagen wir. Ein Vergleich zwischen der Alten Welt und der Neuen Welt am Vorabend der Entdeckungen kann diese doppelte Notwendigkeit gut illustrieren. Europa war zu Beginn der Renaissance der Treff- und Fusionspunkt der verschiedensten Einflüsse: griechische, römische, germanische und angelsächsische Traditionen, arabischer und chinesischer Einfluß. Das präkolumbianische Amerika hatte rein quantitativ nicht weniger kulturelle Kontakte, weil ja die amerikanischen Kulturen in Beziehung zueinander standen und die beiden Amerika zusammen eine weiträumige Hemisphäre bilden. Während aber die Kulturen, die sich auf dem europäischen Boden gegenseitig befruchten, das Produkt einer Zehntausende von Jahren alten Differenzierung sind, haben die Kulturen Amerikas, dessen Bevölkerung neueren Datums ist, weniger Zeit gehabt, zu divergieren; sie bieten ein relativ homogeneres Bild. Obwohl man nicht sagen kann, das kulturelle Niveau von Mexiko oder Peru sei im Moment der Entdeckung niedriger gewesen als das Europas (wir haben gesehen, daß es ihm in mancher Hinsicht sogar überlegen war), waren die verschiedenen Aspekte der Kultur bei ihm vielleicht weniger gut miteinander verflochten. Neben erstaunlichen Errungenschaften sind die präkolumbianischen Zivilisationen voll von Lücken, sie haben sozusagen »Löcher«. Sie weisen außerdem das Phänomen des Nebeneinanders noch unentwickelter und bereits aufgegebener Formen auf, das übrigens weniger widersprüchlich ist, als es scheint. Ihre wenig flexible und nur schwach differenzierte Organisation erklärt wahrscheinlich ihren Zusammenbruch gegenüber einer Handvoll Eroberer. Und der tiefere Grund dafür kann darin gesehen werden, daß die kulturelle »Koalition« in Amerika Partner verband, die sich weniger voneinander unterschieden als die der Alten Welt. Es gibt also keine kumulative Gesellschaft an und für sich. Eine kumulative Geschichte ist keine Eigenschaft bestimmter Rassen oder Kulturen, die sich durch sie von anderen unterscheiden. Sie resultiert eher aus ihrem Verhalten als aus ihrer Natur. In ihr manifestiert sich eine bestimmte Existenzweise der Kulturen, die nichts anderes ist als ihre Art des Zusammenspiels. Daher kann man sagen, die kumulative Geschichte ist die Geschichtsform, die für jene sozialen Superorganismen kennzeichnend ist, die die Gesellschaftsgruppen darstellen, während die stationäre Geschichte – vorausgesetzt, daß sie wirklich existiert – das Kennzeichen jener niederen Lebensweise der isolierten Gesellschaften ist.
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Das einzige Verhängnis, der einzige Makel, der eine Menschengruppe treffen und an der vollen Entfaltung ihrer Natur hindern kann, ist, isoliert zu sein. Auf diese Weise wird deutlich, wie ungeschickt und unbefriedigend jene Versuche sind, mit denen man sich im allgemeinen zufriedengibt, um den Beitrag der Menschenrassen und -kulturen zur Zivilisation zu kennzeichnen. Man zählt Wesenszüge auf, man tüftelt an Ursprungsfragen herum, man unterscheidet Prioritäten. So gut gemeint die Absicht solcher Bemühungen auch sein mag, so sind sie doch müßig, weil sie ihr Ziel dreifach verfehlen. Erstens ist das Verdienst einer Erfindung, das man der einen oder anderen Kultur zuerkennt, nie sicher. Zweitens können kulturelle Beiträge immer in zwei Gruppen eingeteilt werden. Auf der einen Seite haben wir Wesenszüge, isolierte Errungenschaften, deren Wichtigkeit leicht zu ermessen und begrenzt ist. Daß der Tabak aus Amerika gekommen ist, ist eine Tatsache, aber schließlich und trotz des ganzen zu diesem Zweck von den internationalen Institutionen entfalteten guten Willens können wir nicht jedesmal, wenn wir eine Zigarette rauchen, vor Dankbarkeit gegenüber den Indianern dahinschmelzen. Der Tabak ist ein köstlicher Beitrag zur Lebenskunst, so wie andere nützlich sind (zum Beispiel der Kautschuk); wir verdanken ihnen zusätzliche Genüsse und Erleichterungen, aber wenn es sie nicht gäbe, wären die Grundfesten unserer Zivilisation nicht erschüttert; und bei dringendem Bedürfnis hätten wir sie auch erfinden oder etwas andres an ihre Stelle setzen können. Das äußerste Gegenteil davon (natürlich gibt es eine ganze Reihe von Zwischenformen) sind die Beiträge, die einen systematischen Charakter haben, das heißt der besonderen Art entsprechen, in der eine Gesellschaft die gesamten menschlichen Bestrebungen artikuliert und befriedigt. Die unverwechselbare Originalität und Natur dieser Lebensstile oder patterns, wie die Angelsachsen sagen, sind unleugbar, aber da sie ebenso viele ausschließende Entscheidungen darstellen, wäre kaum verständlich, wie eine Zivilisation vom Lebensstil einer anderen profitieren kann, ohne sich selbst aufzugeben. Tatsächlich können die Kompromißversuche nur auf zwei Resultate hinauslaufen: entweder auf eine Desorganisation und Auflösung des pattern einer der Gruppen oder auf eine originale Synthese, die dann aber im Auftauchen eines dritten pattern besteht, das nicht mehr auf die beiden anderen zurückgeführt werden kann. Es geht übrigens gar nicht einmal darum, ob eine Gesellschaft vom Lebensstil der benachbarten Gesellschaften profitieren kann, sondern ob und wieweit es ihr gelingt, sie zu verstehen oder auch nur kennenzulernen. Wir haben gesehen, daß sich auf diese Frage keine kategorische Antwort geben läßt. Drittens, es gibt keinen Beitrag, von dem nicht jemand profitiert. Wenn es nun aber konkrete Kulturen gibt, die sich in Zeit und Raum situieren lassen und von denen man sagen kann, daß sie etwas »beigetragen« haben und es auch weiterhin tun, was ist dann jene »Weltzivilisation«, die von allen diesen Beiträgen profitiert haben soll? Es ist keine von allen anderen unterschiedene Zivilisation, die den glei-
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chen Realitätskoeffizienten aufweist. Wenn wir von Weltzivilisation sprechen, so bezeichnen wir damit nicht eine Epoche oder Menschengruppe: wir verwenden einen abstrakten Begriff, dem wir einen entweder moralischen oder logischen Wert beimessen: einen moralischen Wert, wenn wir den vorhandenen Gesellschaften damit ein Ziel weisen, einen logischen Wert, wenn wir die durch Analyse erkennbaren gemeinsamen Elemente der verschiedenen Kulturen mit einer Vokabel bezeichnen wollen. In beiden Fällen muß man sich darüber im klaren sein, daß der Begriff »Weltzivilisation« sehr dürftig und schematisch ist und daß sein intellektueller und affektiver Inhalt keine große Dichte aufweist. Kulturelle Beiträge abschätzen wollen, die eine tausendjährige Geschichte haben und mit dem ganzen Gewicht der Gedanken, Leiden, Begierden und Mühen der Menschen belastet sind, die sie hervorbrachten, indem man sie ausschließlich über den Leisten einer Weltzivilisation schlüge, die sich erst gerade als Hohlform abzeichnet – das hieße diese Beiträge verarmen, sie ihrer Substanz berauben und nur ein fleischloses Gerippe zurücklassen. Wir haben vielmehr zeigen wollen, daß der wirkliche Beitrag der Kulturen nicht in der Liste ihrer besonderen Erfindungen besteht, sondern in dem »differentiellen Abstand«, den sie voneinander haben. Das Gefühl der Dankbarkeit und Bescheidenheit, das jedes Mitglied einer jeden Kultur gegenüber allen anderen empfinden kann und muß, kann sich nur auf eine einzige Überzeugung gründen: daß die anderen Kulturen sich von seiner eigenen auf die verschiedenste Art unterscheiden, und das sogar dann, wenn die eigentliche Natur dieser Unterschiede ihm entgeht oder es ihm trotz all seiner Bemühungen nur unvollständig gelingt, in sie einzudringen. Andererseits haben wir den Begriff »Weltzivilisation« als eine Art Grenzbegriff angesehen oder als eine verkürzte Bezeichnung eines komplexen Prozesses. Denn wenn unsere Beweisführung stimmt, dann gibt es keine und kann es auch keine Weltzivilisation in dem absoluten Sinn geben, den dieser Ausdruck oft hat, weil Zivilisation eine Koexistenz von Kulturen einschließt, die ein Maximum von Verschiedenheit untereinander aufweisen, ja weil Zivilisation gerade in einer solchen Koexistenz besteht. Die Weltzivilisation kann nichts anderes sein als die weltweite Koalition von Kulturen, von denen jede ihre Originalität bewahrt.
10 Der doppelte Sinn des Fortschritts Stehen wir nun nicht vor einem doppelten Paradox? Wenn wir die Begriffe in dem Sinne verstehen, den wir ihnen gegeben haben, so wissen wir, daß jeder kulturelle Fortschritt Funktion einer Koalition zwischen den Kulturen ist. Diese Koalition besteht in der (bewußten oder unbewußten, willentlichen oder unwillentlichen, beabsichtigten oder zufälligen, gesuchten oder erzwungenen) Zusammenlegung der
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Chancen, die jede Kultur in ihrer historischen Entwicklung hat; schließlich haben wir gesehen, daß eine solche Koalition desto fruchtbarer war, je unterschiedlicher die Kulturen waren, zwischen denen sie zustande kam. Danach haben wir es also offenbar mit widersprüchlichen Bedingungen zu tun. Denn dieses Zusammenspiel, aus dem jeder Fortschritt resultiert, wird zwangsläufig über kurz oder lang zu einer Homogenisierung dessen führen, was jeder Spieler einbringt. Und wenn die Unterschiedlichkeit eine Anfangsbedingung ist, so werden andererseits die Gewinnchancen um so schwächer, je länger die Partie fortgesetzt wird. Gegen diese unvermeidliche Folge gibt es, so scheint mir, nur zwei Mittel. Das eine besteht darin, daß jeder Spieler in seinem Spiel »differentielle Abstände« provoziert; das ist durchaus möglich, weil ja jede Gesellschaft (die nach unserem Modell der »Spieler« ist) aus einer Koalition von verschiedenen Gruppen besteht, konfessionellen, ökonomischen und Berufsgruppen, und der gesellschaftliche Einsatz sich aus den Einsätzen aller dieser Mitglieder zusammensetzt. Die sozialen Ungleichheiten sind das auffälligste Beispiel dieser Lösung. Die beiden großen Revolutionen, die wir zur Illustration herangezogen haben, die neolithische und die industrielle Revolution, waren nicht nur von einer Differenzierung des Sozialkörpers begleitet, wie Spencer richtig gesehen hat, sondern auch von der Einführung differentieller Status zwischen den einzelnen Gruppen, vor allem in ökonomischer Hinsicht. Man hat seit langem festgestellt, daß die neolithischen Entdeckungen rasch zu einer sozialen Differenzierung geführt hatten mit der Entstehung der großen Stadtkonzentrationen und der Herausbildung der Staaten, Kasten und Klassen im alten Orient. Das gleiche gilt für die industrielle Revolution, die durch das Auftauchen eines Proletariats bedingt war und neue, intensivere Ausbeutungsformen der menschlichen Arbeit hervorbrachte. Bisher neigte man dazu, diese sozialen Veränderungen als Folge der technischen Veränderungen anzusehen und in einem Ursache-Wirkung-Verhältnis aufeinander zu beziehen. Wenn unsere Interpretation zutrifft, so muß die Vorstellung einer Kausalitätsbeziehung (mit der dementsprechenden zeitlichen Aufeinanderfolge) aufgegeben werden – wozu die modernen Wissenschaften ja ganz allgemein neigen – zugunsten des Begriffs einer funktionalen Korrelation zwischen den beiden Phänomenen. Nebenbei bemerkt mag uns die Anerkennung der Tatsache, daß der technische Fortschritt die Entwicklung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zum historischen Korrelat hatte, zu einer gewissen Zurückhaltung bei den Bekundungen des Stolzes veranlassen, den das erste der genannten beiden Phänomene so gern bei uns hervorruft. Das zweite Mittel ist weitgehend vom ersten bedingt: Es besteht darin, auf freiwilliger Basis oder mit Gewalt neue, diesmal äußere Partner in die Koalition hineinzubringen, deren »Einsätze« sich stark von denen unterscheiden, die den ursprünglichen Bund kennzeichnen. Auch diese Lösung ist versucht worden, und wenn sich mit dem Begriff Kapitalismus im großen und ganzen die erste Lösung
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bezeichnen läßt, so läßt sich die zweite Lösung mit den Begriffen Imperialismus oder Kolonialismus illustrieren. Die koloniale Expansion des 19. Jahrhunderts hat es dem industriellen Europa in großem Maße ermöglicht (und das gewiß nicht nur zu seinen eignen Gunsten), eine Spannkraft zu erneuern, die ohne Einführung der kolonisierten Völker in den Kraftstrom viel schneller hätte erlahmen können. Man sieht also, daß in beiden Fällen das Mittel darin besteht, die Koalition zu erweitern, entweder durch innere Differenzierung oder durch die Aufnahme neuer Partner; letztlich gilt es immer, die Zahl der Spieler zu erhöhen, das heißt die Komplexität und Unterschiedlichkeit der Anfangssituation wiederherzustellen. Man sieht aber auch, daß solche Lösungen den Prozeß nur vorläufig verlangsamen können. Ausbeutung kann es nur innerhalb einer Koalition geben: zwischen zwei Gruppen, einer herrschenden und einer beherrschten, bestehen Kontakte und bildet sich ein Austausch. Trotz der Einseitigkeit der Beziehung, die sie scheinbar miteinander verbindet, müssen auch sie bewußt oder unbewußt ihre Einsätze zusammenlegen, und fortschreitend neigen ihre Gegensätze dazu, sich allmählich zu verringern. Die sozialen Verbesserungen einerseits und die schrittweise Erreichung der Unabhängigkeit der kolonisierten Völker andererseits machen uns zu Zeugen dieses Phänomens; und obwohl noch ein langer Weg in diesen beiden Richtungen zurückzulegen ist, wissen wir schon heute, daß die Dinge sich unweigerlich in dieser Weise weiterentwickeln werden. Vielleicht muß man ja das Auftauchen antagonistischer politischer und sozialer Systeme als eine dritte Lösung interpretieren; man kann sich vorstellen, daß durch eine Differenzierung, die sich jedesmal auf einer anderen Ebene wiederholt, in veränderlichen und die Menschen immer wieder überraschenden Formen, dieser Zustand eines Ungleichgewichts erhalten werden kann, von dem das biologische und kulturelle Überleben der Menschheit abhängt. Anders als widersprüchlich kann man sich jedenfalls schwer einen Prozeß vorstellen, der sich auf folgende Weise definieren läßt: Um Fortschritte machen zu können, müssen die Menschen zusammenarbeiten; im Laufe dieser Zusammenarbeit stellen sie fest, daß die Beiträge, deren ursprüngliche Unterschiedlichkeit gerade das war, was ihre Zusammenarbeit fruchtbar und notwendig machte, sich einander schrittweise angleichen. Aber selbst wenn dieser Widerspruch unaufhebbar ist, so ist es die heilige Pflicht der Menschheit, seine beiden Pole gleichermaßen im Sinn zu behalten, niemals den einen ausschließlich zugunsten des anderen aus den Augen zu verlieren, sich einerseits vor einem blinden Partikularismus zu hüten, der dazu neigt, das Privileg des Menschseins nur einer Rasse, Kultur oder Gesellschaft vorzubehalten, aber andererseits auch niemals zu vergessen, daß keine Fraktion der Menschheit auf die Gesamtheit anwendbare Formeln hat und daß eine Menschheit, die in einer Art Einheitsleben aufginge, undenkbar ist, weil sie dann eine verknöcherte Menschheit wäre.
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In dieser Hinsicht haben die internationalen Institutionen eine immense Aufgabe vor sich und tragen eine schwere Verantwortung. Beides ist komplexer, als man denkt. Denn die Mission der internationalen Institutionen ist eine doppelte; sie besteht auf der einen Seite im Beseitigen und auf der anderen Seite im Erwecken. Sie müssen zunächst der Menschheit helfen und dazu beitragen, daß die toten Unterschiede, die wertlosen Rückstände von Arten der Zusammenarbeit, deren Vorhandensein im Zustand verfaulter Rudimente eine ständige Infektionsgefahr für den internationalen Körper darstellt, so wenig schmerzhaft und gefährlich wie möglich absterben. Sie müssen beschneiden, notfalls amputieren und das Entstehen anderer Anpassungsformen fördern. Gleichzeitig müssen sie aber leidenschaftlich darauf achten, daß, wenn diese neuen Arten den gleichen funktionalen Wert wie die vorhergehenden besitzen sollen, sie diese nicht reproduzieren dürfen oder nach dem gleichen Modell konzipieren können, ohne daß sie zu immer kraftloseren und schließlich ohnmächtigen Lösungen werden. Sie müssen vielmehr wissen, daß die Menschheit reich an unvorhergesehenen Möglichkeiten ist, von denen jede bei ihrem Auftreten die Menschen immer verblüffen wird; daß sich der Fortschritt nicht nach dem bequemen Bild jener »verstärkten Ähnlichkeit« vollzieht, mit dem wir uns in unserer Trägheit zur Ruhe setzen wollen, sondern daß er voller Überraschungen, Brüche und Skandale ist. Die Menschheit hat es ständig mit zwei einander widersprechenden Prozessen zu tun, von denen der eine zur Vereinheitlichung strebt und der andere zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Differenzierung. Die Stellung jeder Epoche oder jeder Kultur im System, die Orientierung, nach der sie sich in es einfügt, sind so beschaffen, daß nur einer der beiden Prozesse ihr sinnvoll erscheint, während der andere als Negation des ersten aufgefaßt wird. Aber zu sagen – wozu man geneigt sein könnte –, daß die Menschheit sich zur gleichen Zeit, in der sie sich schafft, zerstört, zeugt ebenfalls von einer unvollständigen Sicht der Dinge. Es handelt sich vielmehr um zwei verschiedene Arten, sich zu schaffen, die sich auf zwei entgegengesetzten Ebenen und Stufen abspielen. Daß es notwendig ist, in einer von Monotonie und Uniformität bedrohten Welt die Verschiedenheit der Kulturen zu erhalten, ist gewiß den internationalen Institutionen nicht entgangen. Sie begreifen auch, daß es dazu nicht genügt, lokale Traditionen zu hätscheln und vergangenen Zeiten noch eine Frist zu gewähren. Das Faktum der Verschiedenheit ist zu erhalten, nicht der historische Inhalt, den jede Epoche ihm gegeben hat und den keine über sich selbst hinaus verlängern kann. Man muß also das Gras wachsen hören, verborgene Möglichkeiten fördern, alle Berufungen zu gemeinsamem Leben, die die Geschichte parat hält, erwecken; man muß auch bereit sein, ohne Überraschung, Abscheu und Empörung ins Auge zu fassen, was alle jene neuen sozialen Ausdrucksformen unweigerlich an Ungewohntem aufweisen werden. Toleranz ist keine kontemplative Einstellung, die dem, was
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war oder ist, mit Nachsicht begegnet. Es ist eine dynamische Haltung, die darin besteht, was sein will, vorauszusehen, zu verstehen und zu fördern. Die Verschiedenheit der menschlichen Kulturen ist hinter uns, um uns und vor uns. Die einzige Forderung, die wir in dieser Hinsicht erheben können (und die für jeden einzelnen entsprechende Pflichten schafft), ist, daß sie sich in Formen realisierte, von denen jede ein Beitrag zur größeren Generosität der anderen sei.
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›Nachahmung der Natur‹ Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen
I. Fast zwei Jahrtausende lang schien es, als sei die abschließende und endgültige Antwort auf die Frage, was der Mensch in der Welt und an der Welt aus seiner Kraft und Fertigkeit leisten könne, von Aristoteles gegeben worden, als er formulierte, die ›Kunst‹ sei Nachahmung der Natur, um damit den Begriff zu definieren, mit dem die Griechen das ins Reale wirkende Können des Menschen insgesamt erfaßten: den Begriff der τéχνη. Mit diesem Ausdruck bezeichneten die Griechen mehr als das, was wir heute ›Technik‹ nennen; sie verfügten hier über einen Inbegriff für alle Fertigkeiten des Menschen, werksetzend und gestaltend wirksam zu werden, der das ›Künstliche‹ ebenso wie das ›Künstlerische‹ (worin wir heute so scharf unterscheiden) umfaßt. Nur in diesem weiten Sinne dürfen wir übersetzend den Ausdruck ›Kunst‹ gebrauchen. ›Kunst‹ nun besteht nach Aristoteles darin, einerseits zu vollenden, was die Natur nicht zu Ende zu bringen vermag, andererseits (das Naturgegebene) nachzuahmen.1 Die Doppelbestimmung hängt mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs von ›Natur‹ als produzierendem Prinzip (natura naturans) und produzierter Gestalt (natura naturata) eng zusammen. Es läßt sich aber leicht sehen, daß in dem Element der ›Nachahmung‹ die übergreifende Komponente liegt: denn das Aufnehmen des von der Natur Liegengelassenen fügt sich doch der Vorzeichnung der Natur, setzt bei der Entelechie des Gegebenen an und vollstreckt sie.2 Dieses Einspringen der ›Kunst‹ für die Natur geht so weit, daß Aristoteles sagen kann: wer ein Haus baut, tut nur genau das, was die Natur tun würde, wenn sie Häuser sozusagen ›wachsen‹ ließe.3 Natur und ›Kunst‹ sind strukturgleich: die immanenten Physik II, 8; 199 a 15–17: λυς τε τéχνη τà μèν πιτελε φúσις δωνατε περγáσασθαι, τà δè μιμεται. 2 Vgl. die Formulierung Politik IV, 17; 1337 a 1–2: πσα γàρ τéχνη καì παιδεíα τò προσλεπον βοúλεται τ!ς φúσευς ναπληρο"ν. 3 Physik II, 8; 199 a 12–15. Die Natur ist sozusagen autotechnisch, vergleichbar dem Arzt, der sein Können auf sich selbst anwendet (199 b 30–32). Zurückgewiesen wird die Unterstellung, daß solche Autotechnizität mit einsichtiger Absicht identisch sei (199 b 26–28). Aristoteles stellt jene uns (zumindest hypothetisch) unausweichliche Ursituation, in der noch nichts ist oder auch nur etwas von bestimmter Spezifität noch nicht ist, gar nicht vor. Da alles seiner Spezifität nach immer schon da ist, existiert der Moment, in dem etwas allererst ›ausgedacht‹ und aus der Vorstellung in die Realität überführt werden müßte, für Aristoteles nicht. Das Denken denkt prinzipiell dem Seienden nur nach. 1
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Wesenszüge der einen Sphäre können für die der anderen eingesetzt werden. Es ist also sachlich begründet, wenn die Tradition die aristotelische Definition auf die Formel ars imitatur naturam verkürzt hat, wie schon Aristoteles selbst sie in Gebrauch nimmt.4 Worin nun aber kann der aktuelle Sinn dessen liegen, daß wir den Voraussetzungen und geschichtlichen Wandlungen dieser Formel nachgehen sollten? Besteht der Mensch der Neuzeit nicht seit langem darauf, ein ›schöpferisches‹ Wesen zu sein, und hat er nicht der Natur die Konstruktion schroff entgegengestellt? Und seit der Parmigianino 1523 sein Selbstbildnis aus dem entstellenden Konvexspiegel malte – also das Natürliche im Künstlichen nicht sich bewahren und steigern, sondern sich brechen und transformieren ließ5 –, ist im Kunstwerk die Signatur des schaffenden Menschen als des um seine Potenz Wissenden immer schärfer artikuliert worden. Als Selbsterprobung und Bezeugung seiner genuinen Seinsmächtigkeit ist die Kunst dem neuzeitlichen Menschen erst zur eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens6 geworden, und an der Frage nach der Verbindlichkeit der Natur für das Kunstwerk hat sich das Bewußtsein der Absolutheit dieses Tuns wesentlich kondensiert. Die Ausmessung des Spielraums der artistischen Freiheit, die Entdeckung der Unendlichkeit des Möglichen gegenüber der Endlichkeit des Faktischen, die Lösung des Naturbezuges durch die historische Selbstvergegenständlichung des Kunstprozesses, innerhalb dessen sich Kunst immer wieder an und aus Kunst generiert7 – das sind Grundvorgänge, die nichts mehr mit der aristotelischen Formel zu tun zu haben scheinen. Es ist oft gesagt und gezeigt worden, daß die Welt, in der wir leben, eine Welt bewußter, ja pathetischer Überbietung, Entmachtung und Entstaltung der Natur, eines tiefen Ungenügens am Gegebenen ist. Mag erst André Breton für den Surrealismus die ›ontologische‹ Formel gegeben haben, daß das Nichtseiende genau
Physik II, 2; 194 a 21 f. Meteor. IV, 3; 381 b 3–7. Vgl. Katalog der Ausstellung »Der Triumph des europäischen Manierismus« (Amsterdam, Rijksmuseum 1955) Nr. 88. 6 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. Vorwort an Richard Wagner (Ges. Werke, MusarionAusg. III, 20). 7 Vgl. W. Hofmann, in: Studium Generale VIII, 9 (1955). Schon Kant hat das Moment der Nachahmung verschoben auf das fortzeugende Verhältnis von Kunst zu Kunst, während die Natur durch das Medium des ›Genies‹ die letztlich produktive Urinstanz der Kunst ist, aber in einem Sinne, der nicht Nachahmung, sondern Hervorbringung durch Freiheit impliziert (Kritik der Urteilskraft I, 1, 2, § 43 u. 46). Genie ist dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegen zu setzen; indem es aber als die Natur im Subjekte verstanden werden muß, ist hier eine letzte formale Verbindlichkeit der Natur supponiert, die keinen Erklärungswert mehr hat. Exemplarisch sichtbar ist nur noch der historische Prozeß, in dem das Produkt eines Genies zum Beispiel wird der Nachfolge für ein anderes Genie, welches dadurch zum Gefühl seiner eigenen Originalität aufgeweckt wird, so daß Kunst Schule macht – und für diese ist die schöne Kunst sofern Nachahmung, der die Natur durch ein Genie die Regel gab (§ 49). 4 5
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so ›wirklich‹ (intense) sei wie das Seiende, so ist doch dies der exakte Ausdruck für die Möglichkeit des modernen Kunstwillens insgesamt, für die terra incognita, deren Unbetretenheit die Geister anlockt. Das Werk bezieht sich nicht hindeutend und präsentierend auf ein anderes, ihm vorgehendes Sein, sondern es ist originär in seinem Seinsanteil an der Welt des Menschen. Ein neues Bild ist ein einmaliges Ereignis, eine Geburt, die das Weltbild, wie es der Menschengeist erfaßt, um eine neue Form bereichert.8 Das Neue zu sehen und hervorzubringen, ist nicht mehr eine Sache triebhafter ›Neugier‹ im Sinne der mittelalterlichen curiositas, sondern es ist zum metaphysischen Bedürfnis geworden: der Mensch sucht das Bild zu bewahrheiten, das er von sich selbst hat. Nicht weil Not erfinderisch macht, ist ›Erfindung‹ der signifikative Akt in der modernen Welt; und nicht, weil unsere Wirklichkeit so mit technischen Strukturen durchsetzt ist, tauchen sie in den Kunstwerken der Zeit abbildlich auf – hier ist vielmehr die prägende Kraft des homogenen Impulses zu verspüren, der auf Artikulation eines radikalen Selbstverständnisses des Menschen drängt. Woher aber die Gewalt und Mächtigkeit, mit der dieses Selbstverständnis sich zu verstehen geben will? Eben diese Frage wird man nicht zureichend beantworten können, wenn man nicht ins Auge faßt, wogegen sich der neuzeitliche Begriff des Menschen von sich selbst durchzusetzen hatte. Das vehemente Pathos, mit dem das Attribut des Schöpferischen dem Subjekt hinzugewonnen worden ist, wurde angesichts der überwältigenden Geltung des Axioms von der ›Nachahmung der Natur‹ aufgeboten. Diese Auseinandersetzung ist noch nicht abgeschlossen, während schon neue Formeln zu triumphieren scheinen. Aber es ist nicht nur eine politische Weisheit, daß sich der Besiegte für den Sieger im Augenblick des Sieges aus dem Feind in eine Hypothek verwandelt. Läßt ein Widerstand nach, gegen den alle Kräfte aufgeboten werden mußten, so tragen die mobilisierten Energien leicht über die erstrebte Position hinaus.
II. Ich versuche zunächst, den geschichtlichen Raum genauer zu bestimmen, in dem sich diese Auseinandersetzung abspielt. Ungreifbar, wie die ›Anfänge‹ nun einmal bei allem Geschichtlichen sind, ist der terminus a quo, den ich wähle, schon eine Gestalt ausgeprägter Frühreife unseres Problems: ich meine die Figur des Idiota in den drei Dialogen des Nikolaus von Cues aus dem: Jahre 1450. Zur Charakterisierung dieser Dialogfigur genügt es nicht, das neue Selbstbewußtsein des ›Laien‹ im 15. Jahrhundert, wie es sich hier reflektiert, soziologisch aus dem Gegensatz gegen 8
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den Kleriker herzuleiten. Der Cusaner konfrontiert seinen Idiota sowohl mit dem Philosophen als dem Vertreter der Scholastik wie auch mit dem Rhetor als dem Repräsentanten des humanistischen Typus.9 Sicher ist der cusanische ›Laie‹ mitbestimmt durch den Gegensatz der Mystik und der Devotio moderna gegen den Schul- und Bildungshochmut der Zeit. Aber die Ironie des Tones, in dem dieser illiteratus den Leuchten der Wissenschaft begegnet, der gleichsam demokratische Stil, in dem er ohne Rücksicht auf die Ungleichheit der Voraussetzungen mitzureden beansprucht, haben doch noch ein anderes Fundament: es deutet sich eine neue Prägung des Menschen an, der sich selbst aus dem heraus versteht und seine Geltung rechtfertigt, was er tut und kann – aus seiner ›Leistung‹, würden wir sagen. Der historisch keineswegs selbstverständliche Verbund von Leistung und Selbstbewußtsein ist an dem cusanischen Idiota greifbar, und zwar gerade in der Hinsicht, die uns hier beschäftigt. Im zweiten Kapitel des Dialoges »De mente« führt der ›Laie‹ seinen Gesprächspartnern, dem Philosophen und dem Rhetor, vor, was sein eigenes Handwerk, die ihren Mann nur bescheiden nährende und im öffentlichen Kurs so niedrig notierte Löffelschnitzerei, ihm selbst für sein Selbstverständnis und seine Selbstwertung bedeutet. Zwar ist auch diese ›Kunst‹ Nachahmung, aber nicht Nachahmung der Natur, sondern Nachahmung der ars infinita Gottes selbst, und zwar insofern diese originär, urzeugend, schöpferisch ist, nicht aber insofern sie faktisch diese Welt geschaffen hat. Coclear extra mentis nostrae ideam non habet exemplar. Der Löffel, kein Hochprodukt gerade der Kunst, ist doch etwas absolut Neues, ein in der Natur nicht vorgegebenes Eidos, und der schlichte ›Laie‹ ist der Mann, der das hervorbringt: non enim in hoc imitor figuram cuiuscunque rei naturalis. Die Formen von Löffeln, Töpfen, Tellern, die der ›Laie‹ herstellt, sind rein technische Formen, und es ist von der Freude über diesen Sachverhalt bis zu seiner Akzentuierung am Produkt selbst als Grundzug des modernen industrial design kein Sprung mehr nötig. Der Mensch blickt nicht mehr auf die Natur, den Kosmos, um seinen Rang im Seienden abzulesen, sondern auf die Dingwelt, die sola humana arte entstanden ist.10
Vgl. die Einführung des Vf. zu den Idiota-Dialogen in: Nikolaus von Cues, Die Kunst der Vermutung. Auswahl aus den Schriften. Bremen 1957 (Slg. Dieterich) S. 231 ff. Der hier herangezogene Text ebd. S. 272. 10 Es ist für den ›mittelalterlichen‹ Aspekt des Cusaners überaus charakteristisch, daß in der hier besprochenen Aussage des Idiota noch ein versteckter Bezug auf die Doppeldefinition der ›Kunst‹ bei Aristoteles enthalten ist: ars mea est magis perfectoria quam imitatoria figurarum creatarum et in hoc infinitae arti similior. Es wird unterstellt, daß die beiden Teile der aristotelischen Definition eine generelle Differenz implizieren (statt einer spezifischen) und daß sie alternativ gelten; da also der Idiota nicht eine ars imitatoria für die seine halten kann, bleibt ihm nur übrig, an die ars perfectoria anzuknüpfen, da ihm eine dritte Möglichkeit terminologisch gar nicht zugänglich ist, obwohl die zuvor gegebene Darstellung dessen, was er tut, überhaupt kei9
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Wichtig an unserer Stelle ist weiter, daß sich der Idiota mit seiner ›Leistung‹ ausdrücklich absetzt gegen das, was Maler und Bildhauer zustande bringen, die doch ihre exemplaria a rebus hernähmen – non tamen ego, ich aber nicht! Es ist von unschätzbarer signifikativer Bedeutung, daß hier das ganze Pathos des schöpferischoriginären Menschen und der Bruch mit dem Nachahmungsprinzip beim technischen, nicht beim künstlerischen Menschen hervortreten. Diese Differenz wird hier wohl zum ersten Male positiv betont, und darin liegt wesentlich der Wert des Zeugnisses, wenn man sich gegenwärtig hält, wie fast ausschließlich sich in der Folge die Bezeugung des Schöpferischen auf bildende Künste und Poesie konzentriert: daß dort der Autor von sich selbst und seiner schaffenden Spontaneität zu sprechen beginnt, gehört seit dem Ende des Mittelalters geradezu zur Erscheinungsform der Kunst. Die Geschichte des technischen Geistes dagegen ist überaus arm an solchen Selbstzeugnissen ihrer Träger. Das ist nicht nur ein typologisches Phänomen, das den nüchternen Mann der Konstruktion charakterisiert. Es ist auch nicht nur ein soziologisches Phänomen der öffentlichen Wertung und Aufmerksamkeit, die sich erst mit der Beachtung der artes mechanicae durch die französische »Enzyklopädie« der geistigen Ursprungssphäre des technischen Produkts zuwenden. Es ist vor allem ein Phänomen der ›Sprachlosigkeit‹ der Technik. Für den Dichter und Künstler war schon in der Antike ein Arsenal von Kategorien und Metaphern, bis ins Anekdotische hinab, bereitgestellt worden, das zumindest in der Negation zu sagen gestattete, wie sich der schöpferische Prozeß neuerdings verstanden wissen wollte. Für die herankommende technische Welt stand keine Sprache zur Verfügung, und es versammelten sich hier wohl auch kaum die Menschen, die sie hätten schaffen können. Das hat schließlich zu dem erst heute – da die technische Sphäre erstrangig gesellschaftsfähig geworden ist – kraß auffallenden Sachverhalt geführt, daß die Leute, die das Gesicht unserer Welt am stärksten bestimmen, am wenigsten wissen und zu sagen wissen, was sie tun. Autobiographien von großen Erfindern sind – im Gegensatz zur raffiniert gesteigerten Selbstdeutung des modernen Künstlers – von oft rührender Ohnmacht der Sprache dem Phänomen gegenüber, das sie verständlich machen wollen. Nur ein Beispiel: Orville Wright hat der Erfindung der ersten Flugmaschine die typische Stilisierung gegeben, daß die Brüder Wright sechs Jahre vor ihrem ersten Flug in Kitty Hawk ein Buch über Ornithologie in die Hand bekommen hätten und ihnen dabei aufgestoßen sei, warum der Vogel eine Fähigkeit besitzen sollte, die der Mensch nicht durch maßstäbliche Nachbildung der physischen nen sachlichen Anhalt dafür bietet, daß er etwas von der Natur unvollendet Liegengelassenes aufnimmt und ›vollendet‹, es sei denn das Material, das er verwendet. Hier zeigt sich, wie die Geschichte des menschlichen Geistes durch Definitionen (und das heißt: durch den Anspruch auf Endgültigkeit) kanalisiert werden kann.
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Mechanismen sich aneignen könnte.11 Das ist noch genau der Topos, den Leonardo da Vinci vier Jahrhunderte zuvor gebraucht hatte12 – er freilich, und selbst noch Lilienthal13, mit Recht, da sie wirklich eine homomorphe Konstruktion erstrebten. Der Hiatus liegt zwischen Lilienthal und Wright: die Flugmaschine ist gerade dadurch wirkliche Erfindung, daß sie sich von der alten Traumvorstellung der Nachahmung des Vogelflugs freimacht und das Problem mit einem neuen Prinzip löst. Die Voraussetzung des Explosionsmotors (der seinerseits eine wirkliche Erfindung repräsentiert) ist dabei noch nicht einmal so wesentlich und charakteristisch wie die Verwendung der Luftschraube, denn rotierende Elemente sind von reiner Technizität, also weder von imitatio noch von perfectio herzuleiten, weil der Natur rotierende Organe fremd sein müssen. Ist es etwa zu kühn, wenn man behauptet, daß das Flugzeug so in der Immanenz des technischen Prozesses darinsteht, daß es auch dann zu dem Tage von Kitty Hawk gekommen wäre, hätte nie ein Vogel die Lüfte belebt? Aber die Berufung auf den schon vorhandenen und das Fluggeschäft gottgegebenerweise ausübenden Vogel hat gar nicht so sehr die Funktion einer genetischen Erklärung. Sie ist vielmehr der Ausdruck für das mehr oder weniger bestimmte Gefühl der Illegitimität dessen, was der Mensch da für sich beansprucht. Der Topos der Naturnachahmung ist eine Deckung gegenüber dem Unverstandenen der menschlichen Ursprünglichkeit, die als metaphysische Gewaltsamkeit vermeint ist. Solche Topoi fungieren in unserer Welt, wie in modernen Kunstausstellungen die naturalistischen Titel unter abstrakten Bildern stehen. Das Unformulierbare ist das Unvertretbare. Das Paradies war: für alles einen Namen zu wissen und durch den Namen sich geheuer zu machen. Wo das λóγον διδóναι (in seinem Doppelsinn!) versagt, neigen wir dazu, von ›Dämonie‹ der Sache zu sprechen, wie die vielgebrauchte ›Dämonie der Technik‹ für unsere Thematik belegt. Eine solche Problematik wie die der modernen Technik ist dadurch gekennzeichnet, daß wir zwar ein ›Problem‹ empfinden, es zu formulieren aber in unausgesetzter Verlegenheit sind. Diese Verlegenheit eben soll hier auf die Geltung der Formel von der ›Kunst‹ als Nachahmung der Natur zurückgeführt werden, indem ich zu zeigen versuche, daß und weshalb diese Idee unsere metaphysische Tradition derart beherrscht hat, daß für die Konzeption des authentischen Menschenwerkes kein Spielraum blieb. Das How we invented the Airplane. In: Harper’s Magazine, 1953 Juni. Tagebücher und Aufzeichnungen. Dt. v. Th. Lücke. Zürich 1952. S. 307: Du mußt die Flügel eines Vogels samt den Brustmuskeln, den Bewegern dieser Flügel, anatomisch untersuchen. Und du mußt das gleiche auch beim Menschen tun, um darzulegen, welche Möglichkeit im Menschen steckt, wenn er sich durch Flügelschlagen in der Luft halten will. Hier kommt neben der ars imitatoria auch in unmittelbarem Zusammenhang die ars perfectoria zur Geltung, also der ganze Aristoteles. 13 Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. 2. Aufl. München 1910. 11 12
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schöpferische Selbstbewußtsein, das an der Grenze von Mittelalter und Neuzeit aufbrach, fand sich ontologisch unartikulierbar: als die Malerei nach ihrer ›Theorie‹ zu suchen begann, assimilierte sie sich die aristotelische Poetik; der schöpferische ›Einfall‹ metaphorisierte sich als entusiasmo und in den Ausdrücken einer säkularisierten illuminatio. Verlegenheit der Artikulation angesichts des Übergewichts der metaphysischen imitatio-Tradition und der Renaissancegestus der Rebellion gehören zusammen. Das ontologisch fraglos Gewordene bildet eine Zone der Legitimität, in der sich neue Verständnisweisen nur gewaltsam durchsetzen können. Man denke an den ›Ausbruch‹ des Originalgenies noch im 18. Jahrhundert, der im Idealismus sozusagen systematisch aufgefangen wurde. Erst im historischen Nachhinein sieht man, was der Versuch des Cusaners hätte bedeuten können, mit der Ironie seines löffelschnitzenden Idiota die bestürzende Idee vom Menschen als einem seinsoriginären Wesen so zu formulieren, daß sie als notwendige Konsequenz und legitime Explikation der theologischen Auffassung vom Menschen als dem gottgewollten Ebenbild Gottes, als dem (in der Hermetik vorformulierten) alter deus, hervortrat. An seiner geschichtlichen Wirksamkeit gemessen, ist dieser Versuch, die Neuzeit gleichsam als immanentes Produkt des Mittelalters heranzuführen – ein Unternehmen, innerhalb dessen die metaphysische Legitimierung des Attributs des Schöpferischen für den Menschen nur eine Komponente darstellt –, nicht gelungen. Wir haben den Idiota des Cusaners als historisches Indiz, nicht als geschichtsbildende Energie zu betrachten. Denn das Fazit der neuzeitlichen Geistesgeschichte ist der Antagonismus von Konstruktion und Organismus, von Kunst und Natur, von Gestaltungswillen und Gestaltgegebenheit, von Arbeit und Bestand. Das menschliche Schaffen sieht seinen Wirkungsraum sich durch das Gegebene benommen. Nietzsche hat auch diesen Sachverhalt am schärfsten formuliert, wenn er im »Zarathustra« sagen läßt, daß wer ein Schöpfer sein will im Guten und Bösen, der muß ein Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen. Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die schöpferische.14 Hier ist der Nihilismus funktional dem seinsoriginären Anspruch des Menschen zugeordnet; aber sogleich ist zu fragen, ob nicht das, was hier wie ein Seinsgesetz ausgesprochen ist, vielmehr die geschichtliche Situation kennzeichnet, in der der Mensch seine schöpferische Freiheit durch eine bestimmte (eben die hier näher zu ergründende) metaphysische Tradition verstellt findet. Der Antinaturalismus des 19. Jahrhunderts ist getragen von diesem Gefühl der Beengung der authentischen Produktivität des Menschen durch einen lästigen Bedingungshorizont. Das neue Pathos der Arbeit richtet sich gegen die Natur: Comte prägt den Ausdruck ›Antinatur‹, Marx und Engels sprechen von ›Antiphysis‹. Die Natur hat nicht nur ihre exemplarische Gesammelte Werke. Musarion-Ausg. XIII, 149; ich zitiere nach dem etwas abweichenden Selbstzitat Nietzsches in »Ecce Homo« (Werke XXI, 277). 14
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Verbindlichkeit verloren und ist zum Objekt nivelliert worden, dessen theoretische und praktische Bemeisterung seine Bedeutung ausschöpft; sie ist vielmehr so etwas wie die Gegeninstanz des technischen und künstlerischen Willens geworden. Ihre Wirkung auf die emotionelle Empfänglichkeit des Menschen erweckt Mißtrauen: das In-sich-Beruhende, Ausreifende, Zu-sich-Zurückkehrende der Natur hat den Charakter der Versuchung für die Eindeutigkeit des menschlichen Werkwillens angenommen.15 In unserem Jahrhundert hat sich dazu die Erfahrung eingestellt, daß das natürliche Material einerseits, die physische Ausstattung des Menschen andererseits auf eine lästige Weise den Anforderungen nicht gewachsen sind, die das technische Werk an sie stellt. Eine eigentümliche Trägheit enthüllt sich als Qualität des Organischen; das Konzept, sie zu überwinden, ist zuerst in der Idee der ›organischen Konstruktion‹ des »Arbeiters« von Ernst Jünger rücksichtslos entwikkelt worden. Das ist, in Andeutungen, der terminus ad quem des geschichtlichen Prozesses, dessen metaphysischen terminus a quo wir hier betrachten wollen. Die metaphysische Exklusivität des Naturbegriffes hat, wie sich näherhin zeigen wird, den legitimen Spielraum des authentisch menschlichen Werks eliminiert, oder richtiger: unvorgesehen gelassen; am Ende des gewaltsamen Gegenzuges ist der Natur selbst durch den absoluten Anspruch des Werkes in Technik und Kunst ihr Geltungsbereich bestritten. Und nicht zufällig hat die Kunst in der Philosophie seit dem Idealismus überall dort, wo man nach dem, was ›Sein‹ ist, glaubt fragen zu können, eben den exemplarischen Rang eingenommen, den in der Antike und der von ihr abhängigen Metaphysik die Natur innehatte. Vielleicht hat sich vor dem Leser unsere These nun so weit präzisiert, daß ohne Zumutung eines Gedankensprunges formuliert werden kann, das neuzeitliche Pa-
Niemand hätte das greifbarer verbildlichen können als Bert Brecht, der in einer seiner »Geschichten vom Herrn Keuner«, betitelt »Herr K. und die Natur«, sagen läßt: Ich würde gern mitunter aus dem Haus tretend ein paar Bäume sehen … Der Irrealis ist wie eine versteckte Fußangel in der Quasi-Idylle, die sich nun entfaltet, wo der ›besondere Grad von Realität‹ des Naturgebildes gegenüber der bloßen Relativität des Gebrauchsgegenstandes gefeiert wird, das beruhigend Selbständige, von mir Absehende der Bäume, ja es wird schließlich die Hoffnung ausgesprochen, es möchte an diesen Bäumen etwas Unverwertbares, nicht Materialhaftes sein. Aber diese scharfsichtige Phänomenologie eines untergründigen Naturbedürfnisses endet mit einem Ordnungsruf, dessen Stilisierung auf Beiläufigkeit – der Nachsatz ist in Klammern gesetzt und beginnt: Herr K. sagte auch … – nur paideutische Taktik ist: Es ist nötig für uns, von der Natur einen sparsamen Gebrauch zu machen. Ohne Arbeit in der Natur weilend, gerät man leicht in einen krankhaften Zustand, etwas wie Fieber befällt einen. Ohne Arbeit in der Natur zu weilen, perhorresziert denn auch den Zeitgenossen (nicht nur den marxistischer Observanz, wenn es ihn gibt); der moderne Arbeitsgarten zeigt das genauso wie die diversen Formen der Begleitung der vorgeblich Naturbedürftigen durch technisches Gerät, das den Natureindruck neutralisiert. 15
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thos der authentisch menschlichen Hervorbringung in Kunst und Technik entspringe der Widersetzlichkeit gegen die metaphysische Tradition der Identität von Sein und Natur und die Bestimmung des Menschenwerkes als ›Nachahmung der Natur‹ sei die genaue Konsequenz dieser Identität gewesen. Hier wird nun freilich eine gründlichere Untersuchung der historischen Basis unumgänglich.
III. Es lohnt sich, mit einem Blick in das zehnte Buch der platonischen »Politeia« zu beginnen. Bekanntlich führt Plato hier seine Polemik gegen die Dichtung und darstellende Kunst überhaupt, und zwar mit einer Argumentation, die nicht so sehr auf deren negative Wirkungen abgestellt ist, als vielmehr ihre Herkunft, ihren ontologischen Fundierungszusammenhang ins Auge faßt. Daß die Kunst die Natur nachahmt, ist dabei nicht nur eine Feststellung, sondern schon der entscheidende Einwand. Um diesen Einwand besonders scharf zu profilieren, wählt Plato als Paradigma zwei elementare Gebrauchsgegenstände (σκεúη), Bett und Tisch. Der Handwerker (δημιοωργóς) stellt sie her, der Maler ζυγρ$φος stellt sie nur dar. Der Handwerker ist aber nicht auch der ›Erfinder‹ von Bett und Tisch, denn kein Handwerker bringt deren Idee als solche hervor.16 Hier haben wir eine Definition von Erfindung in der Negation vorausgesetzt: sie ist das Hervorbringen der Idee selbst. Woher aber nimmt der Handwerker die Ideen von Bett und Tisch, da er sie doch nicht selbst hervorbringt und auch nicht derartige Grundgestalten in der gegebenen Realität vorfindet? Die Antwort darauf lautet: es gibt in der Ideenwelt für Tisch und Bett genau so Ideen wie für die schon vorhandenen Weltdinge.17 Der Handwerker hat diese Ideen als etwas ihm Vorgegebenes im geistigen Blick, wenn er solche Zeugdinge herstellt; der Maler aber blickt nicht auf die Idee selbst, sondern auf das ihr schon Nachgebildete. Ihm dies zum Vorwurf zu machen, daraus eine Kritik der nachbildenden Künste abzuleiten, impliziert nun aber notwendig die Prämisse, daß Nachahmung etwas Negatives ist. Zwar gebraucht Plato den Ausdruck ›Nachahmung‹ durcheinander und füreinander mit dem der ›Teilhabe‹, oft für ein und denselben Sachverhalt; aber es ist doch deutlich zu erkennen, daß μéθεξις ein positives Vorzeichen hat, indem es die Beziehung des realen Dinges zu der Eigentlichkeit seiner Idee betont, während μíμησις eher die Negativität der Differenz zwischen Urbild und Abbild, den Defekt des phänomenalen gegenüber dem idealen Sein akzentuiert.18 Nachahmung heißt eben: das Nachgeahmte selbst nicht 16 17 18
596 B: ο γáρ ποω τ&ν δéαν α τ'ν δημιοωργε ο δεìς τ(ν δημιοωργ(ν. 596 B: λλà δéαι γé ποω περì τα"τα τà σκεúη… Aristoteles läßt allerdings nur eine nominale Differenz zu: Metaph. 1, 6; 987 b 10–13. Für
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sein.19 Kunst ist also nur ein Seinsderivat, im Beispiel des abgebildeten technischen Gegenstandes sogar erst ›an dritter Stelle vom eigentlich Seienden entfernt stehend‹.20 Der Handwerker mag mit dem Bedürfnis entschuldigt sein, dem sein Werk Genüge tun will – womit aber kann der Maler sich rechtfertigen? Diesen negativen Aspekt der Ideenmimesis hat die weitere Geschichte des Platonismus so verstärkt, daß schließlich schon die erste Nachahmung, die Begründung des sichtbaren Kosmos durch den Weltdemiurgen, ein negatives Vorzeichen bekommen mußte. Diese neuplatonische Einseitigkeit muß man im Auge behalten, wenn man das Motiv verstehen will, das gerade den spätmittelalterlichen Platonismus an der Überwindung der Mimesis-Formel für das Kunstwerk so stark beteiligt sein ließ: daß ›Nachahmung der Natur‹ eine die Würde des Menschenwerks in Frage stellende Bestimmung sein könnte, ist von der aristotelischen Tradition her (die sie sich vor allem zu eigen gemacht hatte) niemals verstanden worden bzw. auch nur verstehbar geworden. Für Plato selbst freilich muß dem mit der Methexis-Vorstellung verbundenen positiven Aspekt wohl noch der Vorrang gegeben werden. Es läßt sich das leicht verstehen, wenn man die ursprüngliche Frontstellung der sokratisch-platonischen Ideenlehre gegen die Sophistik bedenkt. In der griechischen Sophistik ist der Gedanke der absoluten Setzung, der im Vorgegebenen unbegründeten θéσις, zuerst gedacht worden.21 Aber dieser Vorstellung fehlt noch alles, was einmal den Begriff des ›Schöpferischen‹ qualifizieren sollte. Staat, Sprache, Sitte sind hier zwar durch menschliche Setzung entstanden und menschlicher τéχνη unterworfen, und die ›Geschichte‹ wird zum erstenmal in der sophistischen Rhetorik als Produkt menschlichen Machens begriffen – aber dieser Leistung kommt doch nichts Auszeichnendes zu, vielmehr ist ihr ›technischer‹ Zug Ausdruck einer Bedürftigkeit des Menschen, eines Mangels an natürlicher Mitgift, an vorfindlicher Ordnungsstruktur. Auch fehlte es der Sophistik an einem Begriff des geistigen Subjekts, dem eine solche metaphysische ›Auszeichnung‹ hätte zugeschrieben werden können. ›Setzung‹ ist zwar Kontrastbegriff zu ›Natur‹, aber gerade dadurch gerät sie in die Nähe der bloßen τúχη, in der dieser Gegensatz generell ausgedrückt ist. Was mußte geschehen, um der hier zum erstenmal ausgebildeten Vorstellung einer absoluten Spontaneität ihn ist aber auch die Ambivalenz des Sachverhaltes, dem Plato gerecht zu werden hat, nicht mehr aktuell. 19 So deutlich bei Demokrit, fr. 39 Diels: γαθòν ) ε*ναι χρεẁν ) μιμεσθαι. Selbst in der Ableitung menschlicher Leistungen vom tierischen bei Demokrit (Weben, Stopfen, Hausbau, Gesang: fr. 154 Diels) durch Nachahmung kommt der Vorrang dessen, der etwas von Natur besitzt, gegenüber der Armut dessen, der es nur übernimmt, klar heraus. 20 599 A: τριττà πéχοντα το" -ντος. 21 Die Einbeziehung der Sophistik geht auf eine Diskussion meiner These mit D. Henrich zurück.
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menschlichen Handelns ihre metaphysische Dignität zu verschaffen? Die Antwort ist im nachhinein leicht zu geben: die ›Setzung‹ bekommt ihre metaphysische Würde erst dadurch, daß sie als theologischer Begriff, als Attribut des Göttlichen entdeckt wird. Erst die Transplantation einer Vorstellung auf den theologischen Nährboden macht sie virulent, um in der Geschichte des menschlichen Selbstverständnisses jene Attraktion auszuüben, die – von der mystischen Sehnsucht nach der .μοíυσις θε/ bis zur trotzigen Usurpation göttlicher Attribute in dem, was man die Hybris der Renaissance genannt hat – den Willen bewegt. Es geht also hier gar nicht primär um die Frage, wo die Authentizität der menschlichen Werksetzung zuerst konzipiert wurde, sondern wo sie zu ihrem einzigartigen metaphysischen Rang gekommen ist, der das Denken einer Epoche auf diese Idee zentrieren konnte. Not hat zwar seit je erfinderisch gemacht, wie das Sprichwort sagt, aber sie vermag der Idee der Erfindung nicht den Glanz zu geben, der zu ruheloser Selbstbestätigung in dieser Qualität treibt. Die sophistische Thesis begründet Schein, nicht Sein, sie hat keinen Bezug zur Wahrheit: τéχνη und λ&θεια bleiben einander fremd. In diese Grundlosigkeit des menschlichen Tuns Grund zu bringen, Seinsbezug, Verbindlichkeit – das war das Motiv der Ideenlehre und der ihr korrelaten Mimesis-Vorstellung. Der Handwerker, der Bett und Tisch herstellt, macht etwas Neues nur im Hinblick auf die phänomenale Welt, nicht aber im Hinblick auf den idealen Kosmos, in dem es die Ideen dieser Zeugdinge immer schon gibt. Wenn Plato nun sagt, diese Ideen bedeuteten das Bett bzw. den Tisch ν τ0 φúσει22, dann ist der spezifisch platonische Ursinn der Formel von der ›Nachahmung der Natur‹ greifbar: die Natur nachzuahmen, heißt, die Idee nachzubilden. Wie nun aber weiter? Ist die Idee selbst noch auf einen Ursprung hin befragbar oder ist sie das ursprungslos Absolute selbst? Ist die Vorstellung eines schöpferischen Aktes der platonischen Metaphysik fremd? Der Platonismus der Tradition jedenfalls hat diesen Eindruck erweckt; es wird sich zeigen, wie es dazu kam. An unserer Stelle jedoch, im zehnten Buch der »Politeia«, wird ausdrücklich gesagt, es sei der Gott, der wahrhaft Hervorbringer des eigentlich seienden Bettes – nicht irgendeines beliebigen, wie es irgendein beliebiger Handwerker herstellt – sein wollte und es so in der Einheit seiner Natur als ›Idee‹ begründete.23 Dreimal kurz hintereinander insistiert Plato auf dieser Aussage, und er nennt den wesenbegründenden Gott den φωτοωργóς. Hier ist Schöpfung als Akt der Urzeugung von Wesenheit zum erstenmal erfaßt und zum Attribut der Gottheit gemacht. Man sollte denken, diese Konzeption des Schöpfungsbegriffs in seiner Radikalität hätte spätestens in dem Augenblick erkannt und anerkannt werden müssen, als es darum ging, die biblische Schöpfungsidee mit den Mitteln der antiken 22 23
597 BC. 597 D.
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Metaphysik zu artikulieren und traditionsfähig zu machen. Aber, wie oft genug nachgewiesen worden ist, hat sich in dieser Funktion ein anderes Element des platonischen Werkes durchgesetzt: der Demiurgenmythos des »Timaios«. Im Demiurgen wird die Präfiguration des biblischen Schöpfergottes gesehen werden. Aber der Demiurg ist nicht schöpferisch. Er ist – seiner Handlungsstruktur, nicht seinem metaphysischen Range nach – genau so Handwerker wie der Tischler im zehnten Buch der »Politeia«. Der Demiurg des »Timaios« hat eine kosmologische, keine ontologische Begründungsfunktion: er soll erklären, weshalb es überhaupt neben dem Ideenkosmos noch sein phänomenales Pendant gibt, also eine Verlegenheit der platonischen Philosophie überbrücken, an der dann Aristoteles so nachhaltig Anstoß nahm. Die Funktion des Demiurgen ist eine dienstbare, dem absoluten Sein der Ideen untergeordnete; nicht auf diesem ›Schöpfer‹, sondern auf seinem Werkmodell liegt der metaphysische Akzent. Er bringt nur das eigentlich Seiende (das man sich als zur Selbstmitteilung drängend vorstellen muß, wie es die Neuplatoniker getan haben) zur faßbaren Erscheinung, er übersetzt es in die Sinnensprache. Ob das Urbild solcher ›Verkündigung‹ bedarf, ist eine unwichtige Frage, allerdings nur so lange wie der Demiurg nicht selbst der Gott ist, der als Prinzip des Guten gerechtfertigt werden muß. Eben diese Identifizierung des Demiurgen mit Gott wird aber schon im ersten vorchristlichen Jahrhundert eingeleitet und beherrscht den christlichen Platonismus. Daß in der geschichtlichen Rezeption der φωτοωργóς der »Politeia« keinen Widerhall findet und statt dessen der δημιοωργóς des »Timaios« die maßgebende Vorstellung wird, bedeutet, daß der Begriff der ›Schöpfung‹ mit den kategorialen Mitteln des Strukturschemas der ›Nachahmung‹ ausgelegt werden mußte. So wenig es hier schon um das Verständnis menschlicher Spontaneität ging, so wesentlich wurde dieses doch hier vorentschieden, wenn man den typischen Prozeß der theologischen Inkubation der begrifflichen Elemente der Selbsterfassung der Subjektivität in Rechnung stellt. Die Übertragung der Demiurgenvorstellung auf den Gottesbegriff impliziert die entscheidende Sanktion des Prinzips der ›Nachahmung der Natur‹. Aber noch in einem weiteren Punkt bringt der »Timaios« eine wichtige Modifikation der im zehnten Buch der »Politeia« dargestellten Position. Aristoteles berichtet uns den – angesichts des bisher Dargelegten – erstaunlichen Sachverhalt, daß es nach Ansicht der Akademie für künstliche Dinge, wie das Haus oder den Ring, keine Ideen gäbe.24 Wie ist es dazu gekommen, daß bei Plato oder in seiner Schule die Ideen der technischen Gegenstände wieder aufgegeben worden sind? Vom »Timaios« her läßt sich das leicht einsehen. Der Demiurg bildet im vorgegebenen Stoff die vorgegebenen Urbilder nach; aber er waltet dabei nicht nach Belieben, nicht auswählend. Für ihn gilt das Prinzip des optimalen Effekts: der von ihm verfertigte 24
Metaph. I, 9; 991 b 6 f. Positiv formuliert: Metaph. XII, 3; 1070 a 18–20.
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Kosmos ist das Beste, was überhaupt entstehen konnte (κáλλιστος τ(ν γεγονóτυν), und der Demiurg wird durch sein Werk als 1ριστος τ(ν α τíυν qualifiziert.25 Die Ideenlehre selbst, in ihrer ontologisch-ethischen Doppelfunktion, macht diese Feststellung unumgänglich: die Ideen sind ja nicht nur Vorlagen, wie dieses Werk gemacht werden kann, sondern zugleich verpflichtende Normen, daß es so gemacht werden soll. Daraus folgert Plato sowohl die Einzigkeit des realen Kosmos als auch seine Vollständigkeit hinsichtlich des idealen Modells.26 Das aber heißt nun: der Demiurg schöpft das Potential der Ideen aus, das Reale repräsentiert erschöpfend das Ideale. Alles Mögliche ist schon da, und für das Werk des Menschen bleiben keine unverwirklichten Ideen übrig. Diese gravierende Abweichung vom zehnten Buch der »Politeia« macht die Frage nach der Herkunft des menschlichen Werkes zur bleibenden Verlegenheit des Platonismus. Aristoteles hat die einzig mögliche Konsequenz gezogen: alles hergestellte ›Neue‹ geht auf schon Daseiendes zurück. Die Idee der vollständigen Entsprechung von Möglichkeit und Wirklichkeit läßt nicht zu, daß der Mensch geistig originär wirken kann. Ontologisch bedeutet das: durch das Menschenwerk kann das Seiende nicht ›bereichert‹ werden, oder anders ausgedrückt: im Werk des Menschen geschieht essentiell nichts. Das menschliche Gebilde hat keine ihm eigene und eigentliche Wahrheit. Kein Wunder also, daß es der traditionellen Metaphysik nichts zu sagen hatte.27
IV. Bei Plato ist bereits die ganze Konzeption angelegt, für die Aristoteles die traditionsgängige Formel gefunden hat. Die Ewigkeit der Urbilder wird zur Ewigkeit der realen Welt selbst, und die Vollständigkeit der Entsprechung zwischen Ideen und Erscheinungen wird zur Einzigkeit und Vollständigkeit des Kosmos im Hinblick auf den Begriff der Möglichkeit. Das Moment der Exemplarität ist mit dieser aristotelischen Transformation geschwächt: warum die Natur nachgeahmt werden soll, war von Plato her besser zu verstehen, insofern die reale Welt als das schlechthin bestfundierte Werk erschien, dem gegenüber auf anderes zu sinnen unsinnig sein mußte. 29 A. 30 CD, 31 A. So auch F. M. Cornford, Plato’s Cosmology. London 1937. S. 40 f.: The intelligible Living Creature corresponds to it, whole to whole, and part to part. 27 Der antike Platonismus hat es sich mit dieser Hypothek sauer werden lassen, wie W. Theiler (Die Vorbereitung des Neuplatonismus. Berlin 1930) gezeigt hat. An der Exklusivität der Ideen für die φúσει -ντα wird festgehalten (z. B. Chalcidius [ed. Wrobel 333, 8]: ideae sunt exempla naturalium rerum). Man hilft sich, wie in aller »Scholastik«, mit nominalen Differenzierungen, denen begriffliche Deckung fehlt, so mit der schon bei Plato anklingenden Unterscheidung von δéα und ε*δος. Das Eidos wird die ins Werk gesetzte Idee. 25 26
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Hier wird die Stoa wieder ansetzen. Was aber bei Aristoteles eindeutiger als bei Plato heraustritt, ist die Notwendigkeit, warum ein Werk immer nur Wiederholung der Natur sein kann. Natur ist der Inbegriff des überhaupt Möglichen. Geist kann gar nicht anders bestimmt werden denn als eine Fähigkeit in bezug auf das All des Schon-Seienden. Möglich ist immer nur, was seiner μορφ& nach schon wirklich ist: der Kosmos ist das All des Wirklichen und des Möglichen zugleich. So ist das immanente Gesetz aller Bewegung (in dem weitesten Sinn von Veränderung, den dieser Begriff bei Aristoteles hat) die ewige Selbstwiederholung des Seins. Diese Grundstruktur übergreift Ding und Geist, Natur und ›Kunst‹, sie ist letztlich die innere Struktur des absoluten Seienden der aristotelischen Metaphysik: der ›unbewegte Beweger‹ ist die reine geistige Form der Selbstwiederholung in der νóησις νο&σευς, im sich selbst denkenden Denken. Diese in sich verschlossene Selbstgenügsamkeit des Absoluten ist ebensowenig nach außen schöpferisch wie nach innen zeugerisch (wie erstaunlich, daß die christliche Theologie sie dennoch zum Modell nahm!). Die Selbstwiederholung des Absoluten geht im Kosmos in die Struktur der ›Nachahmung‹ über: dieses Prinzip erklärt schon die ungetrübte Kreisform der ersten Sphärenbewegung als liebende Assimilation an das rein in sich zurückkehrende Höchste, es spiegelt sich im Kreislauf des Wassers der Meteorologie28, es ist das Grundgesetz aller generativen Prozesse, in denen das Zeugende immer nur wieder seine eigene Wesensform produziert. Am allgemeinsten schließlich: Seiendes kommt nur aus Seiendem.29 Die τéχνη steht in dieser kosmischen Prozeßordnung tief unten: der Produzierende wiederholt ja nicht sich selbst; nur mittelbar – eben durch das notwendige Angewiesensein auf ›Nachahmung‹ – ist der technische Akt in die kosmische Grundstruktur zurückgebunden, ist er nicht bloße βíα oder τúχη. So ist auch die ›Kunst‹ noch für den Kosmos ›gerettet‹, ihm funktional inkorporiert, bezeugt seine Einzigkeit und Vollständigkeit. Im Grunde ist die Theologisierung des Kosmos, die erst die Stoa vollziehen wird, hier schon beschlossen. Wo das Seiende als ganzes absolut ist, kann es ›Bereicherung‹ an Sein nicht geben, selbst durch Gott nicht. Der Wille hat keine Seinsmacht; er kann nur wollen, was schon ist, kann nur– wie der Gott auch – ›in Bewegung halten‹. Die Homogeneität der aristotelischen Lehre von der Erkenntnis innerhalb dieses Ganzen seiner Metaphysik versteht sich von selbst.30 Meteor. I 9; 346 b 16–347 a 5. Metaph. XII, 2; 1069 b 19. XII, 3; 1070 a 8. Vgl. hierzu [H. Blumenberg, Das Verhältnis von Natur und Technik als philosophisches Problem. In:] Studium Generale 4, 463 f. (1951). 30 S. H. Butcher, Aristotle’s Theory of Poetry and Fine Art. 4. Aufl. London 1927. S. 126 weist z. B. mit Recht darauf hin, daß man den Ausdruck φαντασíα bei Aristoteles nicht genau durch ›Imagination‹ wiedergeben könne, worin an image-making power bedeutet werde. An der noch direkteren Wiedergabe mit ›Phantasie‹ läßt sich ein ähnlicher differenzierender Bedeutungszuwachs entnehmen, um dessen ontologische Möglichkeit es uns hier gerade geht. Davon darf 28 29
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In der Interpretation der aristotelischen Mimesis ist wiederholt auf die Bedeutung des dynamischen Naturbegriffs hingewiesen worden, der nicht so sehr den gegebenen eidetischen Gesamtbestand bedeutet, als vielmehr den Inbegriff der generativen Prozesse, die diesen Bestand jederzeit bedingen: the creative force, the productive principle of the universe.31 Es ist die klassische Unterscheidung von natura naturans und natura naturata. Einen entscheidenden ontologischen Zuwachs gegenüber Plato vermag ich auch dann nicht zu sehen: selbst wenn man, ohne Rücksicht auf die letzte Gestalt der platonischen Lehre, die Statik der Ideenwelt unterstellt, ist doch in der Funktion des Demiurgen die initiierende Dynamik konzentriert. Dies alles – Ideen, Stoff, Demiurg – muß Aristoteles im Naturbegriff unterbringen; das führt zur Mehrdeutigkeit, die auf die Mimesis-Vorstellung übergeht. ›Nachahmung der Natur‹ bedeutet so nicht nur Reproduktion eines eidetischen Bestandes, sondern Nachvollzug des produktiven Vorganges: art in general imitates the method of nature.32 Ich kann dieser Unterscheidung für unsere Fragestellung keine entscheidende Bedeutung beimessen, da doch für Aristoteles alle generativen Prozesse der Natur durch einen unverrückbaren eidetischen Bestand reguliert sind. Die Natur wiederholt sich in ihrer Selbstproduktion ewig – was erlaubt, ihr creative forte zuzuschreiben? Hier sind offenkundig Implikationen des modernen, durch die Evolution bestimmten Naturbegriffs herangetragen, die dann konsequent dazu führen, daß das πιτελεν in der aristotelischen Definition der ›Kunst‹ überdeutet wird. Inwiefern kann die Natur überhaupt einer Vollendung bedürfen? Mangel heißt hier jedenfalls nie so etwas wie eine ›Leerstelle‹, sondern nur das je faktisch noch nicht erreichte Werdeziel. Wenn Aristoteles sagt, es sei Sache des Künstlers, die Naturdinge nachzuahmen, wie sie sein sollen33, so bedeutet das nicht den Hinweis auf irgendeine diesen Gegenständen transzendente Norm, sondern die ›Extrapolation‹ aus dem Werdeprozeß auf das Werdeziel, von der γéνεσις auf ihr τéλος. Damit es sich die ›Kunst‹ nicht am jeweilig faktischen Zustand des Seienden man auf Aristoteles nichts zurückfließen lassen. Um so weniger verstehe ich die geheimnisvolle Bemerkung bei Butcher (a. a.O. S. 127 Anm. I): The idea of a creative power in man which transforms the materials supplied by the empirical world is not unknown either to Plato or Aristotle, but it is not a separate faculty or denoted by a distinct name. Für die Bedeutungsgeschichte von ›Phantasie‹ ist es charakteristisch, wie spät erst originäre Momente zufließen, und nicht weniger, daß es ein Vertreter der sog. ›zweiten Sophistik‹ im 3. nachchristl. Jahrhundert war, der eine neue Definition von φαντασíα als creative imagination (Liddell-Scott) gab: Philostrat in seiner Apollonius-Vita (ed. Kayser VI, 19), wo ausdrücklich die ›Phantasie‹ der ›Nachahmung‹ entgegengestellt wird, und zwar im Hinblick auf das Mehr, das in den Götterstatuen eines Phidias oder Praxiteles enthalten ist, das Mehr an Ungesehenem, Unvorgegebenem: μíμησις μèν γàρ δημιοωργ&σει 2 ε*δεν, φαντασíα δè καì 2 μ' ε*δεν. 31 S.H. Butcher, a. a.O. S. 116. 32 S.H. Butcher, a. a.O. S. 117. 33 Poetik XXV, 146o b II, 35.
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genug sein läßt, sondern es auf das darin gestaltend wirksame Werdeziel, die ντελéχεια, absieht, ist die generative Seite des Naturbegriffs für die Mimesis wesentlich, aber dies doch nur deshalb, weil nach und trotz der Beseitigung der Ideen eben immer noch so etwas wie ›Idealität‹ benötigt wird, um zu verstehen, was den Menschen in seinem Werk, vor allem: was ihn im Kunstwerk bestimmt. Sollte die Natur einmal ihre eidetische Konstanz verlieren, würde auch die aristotelische Lehre von der ›Kunst‹ ihr Fundament einbüßen: wo ist der Natur noch eine Form des Seinsollens abzugewinnen, wenn an Stelle der ewig wiederholten endlichen Ontogenesis die von Mutation und Selektion induzierte unendliche Phylogenesis den Begriff der natura naturans bestimmt? Dieser Hinweis auf Späteres soll nur hier schon andeuten, daß philosophische Grundvorstellungen nicht beliebige Renaissancen haben können. Der Kern der aristotelischen Lehre von der τéχνη ist, daß dem werksetzenden Menschen keine wesentliche Funktion zugeschrieben werden kann. Was man die ›Welt des Menschen‹ nennen wird, gibt es hier im Grunde nicht. Der werksetzende und handelnde Mensch stellt sich in die Konsequenz der physischen Teleologie: er vollbringt, was die Natur vollbringen würde, ihr – nicht sein – immanentes Sollen. τéχνη und φúσις sind gleichsinnige Konstitutionsprinzipien, das eine bewirkt von außen, was das andere von innen zustande bringt.34 Verfertigung ist an die Entsprechung zu Wachstum gebunden. Das technisch-ästhetische Werk hat daher auch immer nur einen verweisenden Sinn, keinen ihm seinseigenen Wahrheitsgehalt. Die Möglichkeit, am Kunstwerk etwas nur da Aufgehendes zu erfahren, ist noch ungedacht, das Werk ist noch kein Medium der Selbsterkenntnis und Selbstbestätigung des Menschen. Im Hellenismus bietet die ps.-aristotelische Schrift »Über den Kosmos« eine nicht unbedeutsame Variation der Mimesis-Vorstellung durch ihre Einbeziehung heraklitischer Motive.35 Die Mimesis wird nicht primär auf den eidetischen Bestand der Natur bezogen als vielmehr auf ihre formale Struktur (wobei man ›formal‹ nicht im Sinne der aristotelisch-scholastischen forma zu verstehen hat). Der Kosmos ist, nach Heraklit, ein Gefüge aus Gegensätzen, die sich nicht aufheben, so wie eine Polis aus Armen und Reichen, Jungen und Alten, Schwachen und Starken, Schlechten und Guten eine Einheit bildet. Die Natur realisiert sich in Gegensätzen, wie dem Männlichen und Weiblichen, dem Trockenen und Feuchten, dem Warmen und Kalten. Und eben darin ahmt die ›Kunst‹ die Natur nach, etwa wenn die Malerei gegensätzliche Farben verwendet, die Musik aus hohen und tiefen Tönen Harmonien bildet, Metaph XII, 3; 1070 a 7 f.: μèν τéχνη ρχ& ν 3λλ4, δè φúσις ρχ' ν α τ/. De mundo 5; 396 a 33–b 22. Es ist sicher falsch, auch das Mimesis-Element dieses Zusammenhanges schon Heraklit zuzusprechen, wie es Michaelis (Art. μιμéομαι in: Theolog.Wörterbuch zum NT IV, 662) tut, wohl veranlaßt durch das Gesamtzitat bei Diels 22 B 10. 34 35
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die Schreibkunst Vokale und Konsonanten zusammenfügt. Hier ist zweifellos durch die Formalisierung der Mimesis ›Spielraum‹ für die Authentizität des Werkes gewonnen, aber die Heterogeneität von Musik oder Sprache (Schrift) gegenüber irgendeinem Naturvorgang ist noch nicht gesehen. Die Stoa hat das metaphysische Fundament der Mimesis eindeutig verstärkt, indem sie Vollständigkeit und Vollkommenheit des Kosmos zu Prädikaten von theologischer Dignität erhob. Trotzdem hat sich die Stellung des Menschen gesteigert durch die universale Fassung des Teleologiegedankens: Die Natur ist auf den Menschen hin angelegt, und das menschliche Werk ist Annahme und Vollzug dieser Disposition. Die τéχνη erhält geradezu eine religiöse Sanktion, wenn etwa Poseidonios das Färberhandwerk auf die Sonne zurückführt, die die Farbenpracht des Vogelgefieders, der Blumen und Minerale erzeugt und die menschliche ›Kunst‹ gleichsam in ihren Dienst stellt.36 Zwischen Natur und Technik gibt es keine definierbare Grenze mehr, eine einzige νéργεια ist am Werke: ›Kunst‹ ist Natur mit anderen Mitteln. Wie hier durch den christlichen Schöpfungsbegriff die Schranke zwischen der Natur als Gotteswerk und der ›Kunst‹ als Menschenwerk wieder aufgerichtet wird, läßt sich gerade am Beispiel des Färberhandwerks sehr hübsch zeigen: bei einigen patristischen Autoren findet sich eine Polemik gegen textile Finessen mit der Begründung, Gott hätte die Schafe farbig geschaffen, wenn er sich für den Menschen farbige Kleidung gewünscht hätte. Tertullian weitet das zu einer sehr charakteristischen Polemik gegen die ars aus: Gott hat an nichts Wohlgefallen, was er nicht selber hervorgebracht hat. Konnte er nicht auch purpurrote oder stahlblaue Schafe erschaffen? Wenn er es vermochte, so hat er es eben nicht gewollt; was Gott aber nicht machen wollte, das darf man auch nicht machen … Was nicht von Gott kommt, muß notwendig von dessen Widersacher kommen.37 Hier ist also schon die ›Dämonie der Technik‹ vorgeprägt, indem Natur und ›Kunst‹ in ein dualistisches Schema gebracht sind. Dazu bedurfte es freilich erst einer neuen Grundauffassung von der Natur als Willensausdruck Gottes und der noch impliziten Voraussetzung anderer als der so gewollt-faktischen Seinsmöglichkeiten. Aber ich habe, um einer besonders charakteristischen Differenz willen, vorgegriffen. Bei Poseidonios bedeutete Nachahmung der Natur nur einen äußeren Aspekt der Homogeneität des einen, durch Natur und Mensch hindurchgehenden Gesamtprozesses. Aus der Theorie der Nachahmung wird eine Theorie der Wesensrelation, aus dem Erfinden wird ein Ablesen, ein Urteilen, ein Unterscheiden dessen, was in der Natur geschrieben steht. Vorbild wird die Natur nicht erst vom Menschen aus, sondern bereits von sich aus, und der Mensch wird zur Erfüllung der Natur nach ihren wesentDiodor, Bibl. histor. II, 57, 7: ο5 (sc. το" λíοω) τ'ν φωσικ'ν νéργειαν τàς θνητàς τéχνας μιμησαμéνας … μαθητρíας γενομéνας τ!ς φúσευς. 37 De cultu fem. I, 8 (übers. v. H. Kellner). 36
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lichen, nicht nach ihren zufälligen Möglichkeiten.38 Die ›Erfindung‹ als Auffindung der Naturvorzeichnung wird zum Amt der Weisen, so daß erstmalig die klassische Theorie unmittelbar in die Werksetzung übergeht und die Philosophie als Wurzel auch der materiellen Kultur erscheint. Die Polemik Senecas gegen Poseidonios richtet sich weniger gegen diese Grundkonzeption als gegen die ›Höhenlage‹, auf die hier die technischen Fertigkeiten als höchste Konsequenzen der Natur selbst versetzt werden, wodurch das theoretische Ideal – wie auch bei Cicero – seinen absoluten Rang einbüßt. Mit eben demselben Prinzip der Teleologie argumentiert Seneca genau andersherum: die vollkommen auf den Menschen zentrierte Natur gibt volles Genügen, macht Technik und Arbeit überflüssig, gibt ihnen den Charakter des Luxus.39 Es bedarf keiner ›Nachahmung der Natur‹, weil die Natur für alles Notwendige einsteht. Es gibt keinen legitimen Übergang von der Natur zur ›Kunst‹. Schon hier sind ›Kunst‹ und Hybris im Grunde eins, gehen aus dem Ungenügen an der natürlich-göttlichen providentia hervor. Der Mensch selbst – seine künstlichen Bedürfnisse, sein Überdruß am facilis actus vitae – treibt die artes hervor: ad parata nati sumus: nos omnia nobis difficilia facilium fastidio fecimus … Sufficit ad id natura, quod poscit.40 Das Instruktive an diesem Gegensatz ist, daß aus ein und demselben metaphysischen Prinzip ganz entgegengesetzte Folgerungen gewonnen werden. Während Poseidonios die Idee der Mimesis aus ihren immanenten Prämissen so übersteigert, daß sie sich beinahe selbst aufhebt durch die Zirkelvorstellung einer sich selbst nachahmenden Natur, sieht Seneca das authentisch Menschliche des Ungenügens an der teleologischen Vorsorge der Natur, die Unendlichkeit der sich selbst potenzierenden Bedürfnisse, die Lust am [Ü]berflüssigen zum ersten Mal – freilich mit negativem Vorzeichen – als Wurzel des technischen Arbeits- und Werkwillens. ›Nachahmung‹ hat hier im Grunde ihren Sinn verloren, da der Antrieb zur ›Kunst‹ gerade im Ausschlagen der Verbindlichkeit und in der Bestreitung der Vollständigkeit der Natur gesehen wird. Die negative Einstellung hat hier, wie so oft, die Sicht für das Wesentliche geschärft.
K. Reinhardt, Poseidonios. München 1921. S. 400. Vgl. die verdichtete Formel für diesen Zusammenhang, bezogen auf die Kunst der Rhetorik, bei (Cicero), De ratione dicendi ad C. Herennium (ed. Marx) III, 22, 37: Imitetur ars igitur naturam et, quod ea desiderat, id inveniat, quod ostendit, sequatur. 39 Ep. mor. XC, 16: Simplici cura constant necessaria: in delicias laboratur. Non desiderabis artifices, si sequere naturam. 40 Ep. mor. XC, 18. 38
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V. Die Geschichte der Zersetzung und Entwurzelung der Mimesis-Idee ist aber nicht, wie es das Beispiel der Polemik Senecas gegen Poseidonios vermuten lassen könnte, ein Vorgang des Aufbrechens ihrer inneren Widersprüchlichkeit; es ist vielmehr ein Prozeß, der durch neue, äußere, nämlich theologische Ideen inauguriert wurde. Freilich ist es nicht damit getan zu sagen, die biblische Schöpfungslehre habe hier ganz neue Voraussetzungen eingebracht; vielmehr wird sich zeigen, daß dieser Impuls sehr wohl in die bestehende Seinsauffassung eingefangen werden konnte. Die beiden Elemente, die sich als konstitutiv für die Mimesis-Vorstellung herausgeschält haben – exemplarische Verbindlichkeit und essentielle Vollständigkeit der Natur –, scheinen sich zunächst sehr wohl mit dem Schöpfungsbegriff zu vertragen. Ja, man muß sagen, daß die Verbindlichkeit der gegebenen Natur durch den Gedanken, in ihr manifestiere sich der Wille des Schöpfers, verstärkt worden ist, wie das Beispiel aus Tertullian schon belegt hat. Und zunächst wird gar nicht gesehen, daß diese Begründung der Verbindlichkeit auf einen Willensakt doch die Notwendigkeit der gegebenen Welt als der erschöpfenden Realisierung des Möglichen in Frage stellt; so muß Tertullian in unserem Zitat die göttliche Willensäußerung im natürlichen Sachverhalt so formulieren, daß Gott eben das Nichtgewollte nicht geschaffen habe und daß er das Nichtgeschaffene nicht wolle. Aber was ist dieses Nichtgewollt-Nichtgeschaffene? Eine in der Natur nicht vertretene Seinsmöglichkeit? Diese zwingende Konsequenz ist noch nicht ausdenkbar: sie impliziert die Faktizität und Unvollständigkeit der Natur, einen Spielraum des Möglichen für das ›Künstliche‹. Dieses Beispiel vermag zu zeigen, in welche ontologischen Konsequenzen das Willensmoment im Schöpfungsbegriff hineintreibt: die verschärfte Begründung der Verbindlichkeit einer Natur, in der Gott sein Wollen dekretiert, hat zum unausbleiblichen Korrelat die Unbestreitbarkeit der nichtgewollten Möglichkeiten, für die sich freilich erst eine unfromme und spitzfindige Neugierde ausdrücklich interessieren wird. Von diesem Zusammenhang her gesehen ist die oft vorgetragene These nicht zutreffend, das christliche, aus dem Schöpfungsbegriff gespeiste neue Seinsverständnis sei zum erstenmal von Augustin geschlossen expliziert worden. Vielmehr war es gerade dieser Denker, der die immanenten Konsequenzen des Schöpfungsgedankens in der antiken Ontologie auffing. Es ist freilich richtig, daß er mit der Reduzierung der materia prima auf das absolute nihil die creatio ex nihilo allseitig gegen den Dualismus abgesichert hat. Aber es ist falsch, hier das wirklich wesentliche Problem zu sehen. Entscheidend ist, daß der schöpferische göttliche Geist nun mit dem platonischen mundus intelligibilis identifiziert wird. Idee und demiurgische Potenz sind nun zwar in einer Instanz vereinigt, aber nichts hat sich daran geändert, daß der mundus intelligibilis noch ein Ganzes darstellt – Platos ζ/ον νοητóν –, das nur integral in den mundus sensibilis umgesetzt werden kann. Hier steht Augustin
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ganz im Bann der Pedanterie, mit der der Neuplatonismus die Entsprechungen von physischer und noetischer Welt durchexerziert hatte.41 Der göttliche Willensakt, der die Schöpfung beschließt, kann sich nur auf die fixierte Totalität des einen Ideenkosmos beziehen; also nur das Daß der Schöpfung, nicht ihr Was ist faktisch geworden. Der Begriff der Allmacht ist bei Augustin noch nicht in Berührung gekommen mit dem Begriff der Unendlichkeit. Damit aber bleibt er auf dem Boden der antiken Kongruenz von Sein und Natur stehen. Es gibt zum gegebenen Bestand der Schöpfung keine Alternative, auch für den Schöpfer nicht, und nach dem Schöpfungsakt kann nichts von essentieller Ursprünglichkeit mehr hervorgebracht werden. Wie sich endliche Welt und unendliche Potenz der Gottesmacht, Seinswirklichkeit und Seinsmöglichkeit zueinander verhalten mochten, das durchzudenken und zu seinen Konsequenzen zu führen, blieb dem Mittelalter als eines seiner schwierigsten und trächtigsten Themen aufgegeben. Dieser den antiken Charakter der Ontologie Augustins festhaltenden These hat (als ich sie in München vortrug) H. Deku widersprochen, der in einer eigenen subtilen Studie die Geschichte des possibile logicum bei Augustin beginnen läßt42, also die Geschichte der Herausbildung eines den idealen wie realen Kosmos übergreifenden Bereiches der Seinsmöglichkeit, den wir hier als ›Spielraum‹ schöpferischer Ursprünglichkeit überhaupt betrachten. Deku beruft sich vor allem auf Augustins Traktat »De spiritu et littera«, wo sich in der Tat der Begriffsgebrauch von possibilitas konzentriert. Aber dieser Begriff tritt hier – wie überhaupt bei Augustin – nur im Zusammenhang der pelagianischen Kontroverse auf, also im Rahmen der Gnadentheologie. Es geht um die Frage nach der möglichen Sündenlosigkeit des Menschen, der possibilitas non peccandi, also um die Frage nach einer möglichen Qualität des menschlichen Handelns, die es aus sich selbst haben kann: einer possibilitas naturalis im Unterschied zu dem nur aus der Gnade entspringenden Heilsstatus.43 Gott steht also gar nicht als Seinsgrund, sondern als Heilsgrund in der Betrachtung, ebenso das ›Können‹ des Menschen nur hinsichtlich seiner Qualität der Heilswürdigkeit. Der Traktat »De spiritu et littera« ist an den Tribunen Marcellinus gerichtet, der schon Adressat einer früheren Schrift »De peccatorum meritis et remissione« gewesen war, und beantwortet den auf diese frühere Schrift hin gemachten EinZ. B. Plotin, Enn. V, 8, 3, wo die Weltverdopplung ins Detail so durchgeführt ist, daß die ursprünglich logische Struktur des Ideenreiches zugunsten der Genauigkeit einer Vorlage der physischen Welt völlig verlorengeht. Welt erscheint dadurch nur in dieser einen verbindlichen Gestalt als denkbar. Auch der von W. Theiler (a. a.O. S. 30) beschriebene Vorgang des rangmäßigen Stellungstausches zwischen den Ideen und dem Demiurgen, durch den schon Philo die Ideen als -ργανον dem Schöpfergott mit Hilfe der Logosspekulation subordiniert, hat die absolute Exemplarität der Ideen als eines integralen Bestandes nicht berührt. 42 H. Deku, Possibile Logicum. In: Philosophisches Jahrbuch LXIV, S. 10. 43 Augustinus, De natura et gratia XLIV, 52. 41
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wand, wie man behaupten könne, daß Sündlosigkeit dem Menschen prinzipiell bei gutem Willen und mit Hilfe der Gnade erreichbar sei, wenn man doch zugleich zugeben müsse: nemo tam perfectae iustitiae in hac vita vel fuerit, vel sit, vel futurus sit – mit anderen Worten: wie man als möglich behaupten könne, was als wirklich nicht vorkomme.44 Dieser Marcellinus zumindest denkt ganz im Horizont der antiken Ontologie: die Möglichkeit wird nur ausgewiesen durch die Wirklichkeit bzw. durch das ›eigentlich Seiende‹ der Ideen. Die Argumentation ist aufs engste verwandt der des Lukrez, der gegen die Schöpfung einwendet: wie können die Götter Schöpfer der Natur sein, wenn es ihnen doch dazu an dem exemplum fehlt, welches erst die schon wirkliche Natur geben kann: si non ipsa dedit speciem natura creandi.45 In der uns nicht überlieferten Einrede des Marcellinus muß eben diese Position bezogen worden sein, wenn Augustin darauf schreiben kann: Absurdum enim tibi videtur dici, aliquid fieri posse cuius desit exemplum.46 Es wird nun gezeigt, daß die biblische Offenbarung einen neuen Leitfaden für die apud Deum facilia bietet, denn hier macht Gott über das ihm Mögliche selbst Mitteilung und das ›Wort‹ tritt an Stelle der ›Sache‹ als ein Beleg eigener Art: die Rede vom Kamel, das durch ein Nadelöhr gehen, der Glaube, der Berge versetzen kann – quod tamen nusquam factum, vel legimus, vel audivimus47. Trotzdem berühren diese theologischen Possibilitätserwägungen die ontologische Basis der augustinischen Metaphysik nicht, denn überall ist hier nur die Rede von der Möglichkeit Gottes, sein eigenes Schöpfungswerk Mensch in seinem ursprünglichen konstitutiven Sein – platonisch: in der Entsprechung zu seiner Idee – wiederherzustellen. Der Horizont des ideal präformierten Kosmos wird durch die Fragen nach der Möglichkeit des menschlichen Heils nicht erweitert, sondern nur reintegriert. Wenn also festgestellt wird: omnia possibilia sunt Deo48, so enthält dieses omnia noch keinerlei Anzeichen für ein mögliches Mehr im Verhältnis zum faktisch Geschaffenen, die Korrelation von mundus intelligibilis und mundus sensibilis ist vielmehr nur durch die Urschuld des Menschen und an ihm defekt geworden, und um die Möglichkeit der Restitution dieses Defekts geht es. Am posse non peccare des Menschen festzuhalten, ist dabei ein logisches Erfordernis: denn ohne diese Möglichkeit könnte auch nicht sinnvoll vom posse peccare mehr gesprochen werden. Der Mensch ist eben zu definieren als ein Wesen, das über sein Kongruenzverhältnis zu seiner Idee selbst verfügt. Aber diese Freiheit ist ganz innerhalb der Grenzen der Idealität gesehen.
Diese Allgemeinheit der Fragestellung kommt am deutlichsten in der Formulierung der Retractationes II, 27 heraus: quomodo … posse fieri cuius rei desit exemplum. 45 De rerum natura V, 181–186. 46 De spir. et litt. I, 1. 47 De spir.et litt. XXXV, 62. 48 De spir.et litt. V, 7. 44
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Nun ist nicht daran zu zweifeln, daß der bereits seit dem Hellenismus in die Kosmogonie eingeführte und von Augustin vollends virulent gemachte Faktor des Willens einen ›Störbegriff‹49 ersten Ranges für die Fortgeltung der antiken Ontologie darstellt und einen ent-necessitierenden Einfluß auf das Wirklichkeitgewordene49 ausgeübt hat; doch war es noch nicht Augustin, der sich in seinem Seinsverständnis dadurch so gründlich gestört sah, daß er den vorgegebenen Sichthorizont wirklich irgendwo durchbrochen hätte. Ich glaube, auch den Grund dafür angeben zu können: die Eliminierung der materia prima und der mit dieser notwendig verbundenen Tendenz zum Dualismus war das sich vordrängende, durch den Manichäismus aktualisierte Problem. So glaubt man, ganz dicht an unserer Fragestellung zu sein, wenn man Augustin zwischen creatum und creabile unterscheiden sieht, um dann aber enttäuscht festzustellen, daß sich der Ausdruck creabile eben auf das materielle Substrat bezieht, das er in sein tu fecisti eingeschlossen wissen will.50 Wo von dem die Rede ist, was noch nicht ist, aber sein kann, geht es immer um das aristotelische, mit der Materie identifizierte Seinkönnen als formale Unbestimmtheit.51 Die Betonung des Willens im Schöpfungsbegriff hat ihre Grenze in der antignostischen Position, die die Schöpfung als rationalen Akt zu fassen gebietet: … quis audeat dicere Deum irrationabiliter omnia condidisse?52 Was aber ›rational‹ hier heißen kann, läßt sich nur nach dem Leitfaden der Entsprechung von noetischer und realer Welt, also nach dem Modell des platonischen Demiurgen, auslegen. Damit aber bleiben die Begriffe der ›Allmacht‹ und der ›Unendlichkeit‹ notwendig getrennt, denn das infinitum ist im antiken Verständnis mit Rationalität unvereinbar, es ist das hyletische 1πειρον. Unter den Attributen Gottes taucht die ›Unendlichkeit‹ noch nicht auf. Aber erst wenn die potentia Gottes als potentia infinita gesehen wird, tritt die logische Nötigung auf, das possibile nicht mehr von der potentia (und den in ihr implizierten Ideen) her, sondern umgekehrt die potentia vom possibile her zu definieren.53
Briefl. Formulierungen von H. Deku. Confessiones XII, 19, 28: Verum est quod non solum creatum atque formatum, sed etiam quidquid creabile atque formabile est, tu fecisti ex quo sunt omnia. (Auf die Stelle hat mich G. Gawlick hingewiesen.) 51 De vera religione XVIII, 36: Ita omne quod est inquantum est, et omne quod nondum est inquantum esse potest, ex Deo habet (sc. esse et esse posse). Der Kontext dieser Stelle ist auch im Hinblick auf den oben diskutierten Zusammenhang von De spiritu et littera insofern aufschlußreich, als hier der theologische Begriff der salus mit dem des bonum identifiziert und auf dem Boden der antiken Voraussetzungen als integritas naturae – platonisch: als Entsprechung zu der Idee – ausgelegt wird. 52 De diversis quaestionibus LXXXIII, q. 46. 53 Für die Herleitung des possibile vom posse zitiere ich die versio latina von De natura hominis des Nemesius von Emesa (ed. Burkhard) c. 34: tria igitur haec sunt ad invicem se habentia: potens, potestas, possibile, potens quidem essentia, potestas vero a qua habemus posse, possibile autem, quod secundum potestatem natum est fieri. 49 50
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Damit erst wird der logische Umfang des Möglichkeitsbegriffes maßgebend und zugleich der Ideenkosmos für die Frage, was das omnia als Umfang der omnipotentia bedeute, gleichgültig. Das hat zur Folge: der Begriff der Rationalität wird auf den der Widerspruchslosigkeit reduziert, während noch bei Augustin der Begriff der ratio nicht von dem der exemplarischen Idee zu lösen war, also einen endlich-gegenständlichen Bezug implizierte. Jetzt erst kann der für unsere Frage nach dem ontologischen ›Spielraum‹ des Schöpferischen entscheidende Schritt Fuß fassen: der als endlich gedachte Kosmos schöpft das unendliche Universum der Seinsmöglichkeiten – und das heißt: der Möglichkeiten der göttlichen Allmacht – nicht aus und kann es nicht ausschöpfen. Er ist notwendig nur ein faktischer Ausschnitt dieses Universums, und es bleibt ein Spielraum unverwirklichten Seins – der freilich noch auf lange unbefragtes Reservat Gottes sein wird und zu der Frage des Menschen nach seinen eigenen Möglichkeiten noch nicht in Bezug tritt. Aber zum erstenmal wird in der Erörterung des Allmachtsbegriffs dieser Spielraum überhaupt ontologisch impliziert und als Hintergrund der Weltrealität mitverstanden. Das ist primär ein eminent religiöser Gedanke, insofern nicht nur das Daß der Welt seine Selbstverständlichkeit verloren hat, sondern auch das Was nun als ein Akt besonderer göttlicher Entscheidung verstanden werden kann. Zugleich aber ist hier auch die Basis der philosophischen Kritik erweitert, auf der eine Fülle allmählich bewußtseinsbildender Fragen entsteht. Die Welt als Faktum – das ist die ontologische Voraussetzung für die Möglichkeit der Erwägung, schließlich für den Antrieb und die Lokkung, im Spielraum des Unverwirklichten, durch das Faktische nicht Ausgefüllten, das originär Menschliche zu setzen, das authentisch ›Neue‹ zu realisieren, aus dem Angewiesensein auf ›Nachahmung der Natur‹ ins von der Natur Unbetretene hinaus vorzustoßen.
VI. Für das Mittelalter freilich lag hier noch nichts Lockendes: alle spekulative Kühnheit wird daran gewendet, den Möglichkeiten Gottes, nicht denen des Menschen, bis zum äußersten nachzugehen. Es wird noch eines weiteren entscheidenden Motivs bedürfen, damit der Mensch die theologisch entdeckte Inkongruenz von Sein und Natur für sich als Möglichkeit schöpferischer Originalität erkennen und ergreifen konnte. Der initialzündende Kontakt der Begriffe Allmacht und Unendlichkeit scheint im 11. Jahrhundert zustande gekommen zu sein, als die Theologie durch den Angriff der ›Dialektiker‹ vom Schlage des Berengar von Tours, vor allem gegen die Transsubstantiationslehre, genötigt wird, den Begriff der göttlichen Allmacht zu systematisieren. Hier ist vor allem Petrus Damiani mit seiner Schrift »De divina
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omnipotentia« federführend54, aus deren zwölftem Kapitel ich hier nur die charakteristische rhetorische Frage zitiere: Quid est, quod Deus non valeat nova conditione creare? Das Sein der Welt bekommt nun jene eigentümliche Zufälligkeit, Widerruflichkeit und hypothetische Ersetzbarkeit, die erst im ausgehenden Mittelalter mit seiner Faktizitätsangst aus logischen zu emotionalen – das heißt: vom Menschen auf sich selbst bezogenen – Elementen werden. Ich vermag keine Darstellung dieses Transformationsprozesses zu geben. Mir geht es darum, etwas über das Anwachsen der Inkongruenz von Sein und Natur und damit über die Relevanz des Spielraumes der schöpferischen Ursprünglichkeit auszumachen. Diesen Prozeß darf man sich weder als ›organisch‹ vorstellen noch ihm die eherne Gangart geschichtlicher Notwendigkeit beilegen, die er a posteriori – und noch dazu im selektiven Präparat, auf das jede derartige Untersuchung angewiesen ist – an sich zu haben scheint. Es läßt sich leicht sehen, daß die Rolle, die die Scholastik in diesem Vorgang der Umbildung der ontologischen Prämissen spielt, wenig ins Konzept einer ›geschichtlichen Notwendigkeit‹ paßt. Daß man sich die Reantikisierung durch die Aristotelesrezeption auch nicht als zu gewaltsame Reversion denken darf, ergibt sich schon aus der für Augustin gewonnenen Einsicht, wie stark der Fortbestand antiker Implikationen ohnehin war. Um so reizvoller ist es, gerade in der Neubelebung der antiken Metaphysik durch die Hochscholastik die oft unscheinbaren, aber signifikanten Verformungen wahrzunehmen, die belegen, was schon nicht mehr rückgängig zu machen war. Ontologische Voraussetzungen, die wir bei Augustin in Geltung sahen, ohne daß sie ausdrücklich formuliert zu werden brauchten, werden nun nach scholastischer Manier ›quaestionsreif‹. Aufschlußreich im Hinblick auf unser Augustin-Ergebnis ist eine Stelle bei Albertus Magnus, die sich polemisch gegen den Fons vitae des Avicebron (Ibn Gabirol) mit seiner Identifizierung von metaphysischem Lichtprinzip und Willen richtet: voluntas non potest esse primum.55 Die Funktion des göttlichen Willens bezieht sich nur auf die Existenz der Welt, auf den Befehl ut fiat, nicht aber auf die forma operis, den essentiellen Seinsbestand, der auch hier die Selbstverständlichkeit des ideal präformierten Ganzen hat. Noch bei Thomas von Aquino ist diese Position nicht überschritten. Trotzdem zeigt sich für das Prinzip der Nachahmung der Natur eine Lockerung insofern, als neben dieses noch die Idee der Nachahmung Gottes als weiterer Fundierungszu-
Die Bedeutung dieses Autors für die Geschichte des Möglichkeitsbegriffs ist von A. Faust, Der Möglichkeitsgedanke II, 72–95 (Heidelberg 1932) dargestellt worden. 55 Albertus Magnus, De causis et processu universitatis I tr. 3 c. 4: Primum enim et operi proximum, in quo primi est potentia agendi, est illud, quod dat formam operi, et non illud, quod iubet et praecipit opus fieri; lumen autem intellectus universaliter agentis est forma operis opus determinans ad rationem et formam, voluntas autem non est nisi praecipiens ut fiat. 54
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sammenhang tritt.56 Das gab es formal schon bei Aristoteles, bei dem ja die reine Kreisbewegung der ersten Sphäre Nachahmung des unbewegten Bewegers war; aber damit ist auch die Ergiebigkeit dieses Bezuges erschöpft. Deshalb mußte Aristoteles die Genesis z. B. des Hauses so erklären, daß der Architekt hier etwas zustande bringt, was die Natur ebenso entstehen lassen würde, das heißt: er muß sich das künstliche Gebilde als Naturprodukt vorstellen, um dann diese hypothetische Vorstellung nachzuahmen. So wurde die universale Geltung der Mimesis gewahrt. Thomas schränkt die Nachahmung der Natur auf das ein, was die Natur auch tatsächlich hervorbringen kann57; gerade das Haus aber ist reines Kunstding: semper fit ab arte, sicut domus omnis est ab arte. Natürlich besteht hier noch gar kein Gegensatz, aber der Akzent ist doch anders gelegt. Noch deutlicher wird das im Physikkommentar, wo die eingangs zitierte fundamentale Stelle II, 8; 199 a 15–17 zur Sprache kommt. Die Thomas vorliegende lateinische Version hat: ars alia quidem perficit quae natura non potest operari…, wozu der Kommentar erläutert: dicit quod ars quaedem facit, quae natura non potest facere.58 Das ist radikaler formuliert als es bei Aristoteles gemeint gewesen sein kann, der doch immer das schon Angelegte, das schon Unterwegs-Seiende der Natur voraussetzt, wenn er von der vollendenden Arbeit des Menschen spricht. Weshalb aber die Nachahmung der Natur so erkennbar an Unausweichlichkeit verloren hat, weshalb die ›Kunst‹ aus dem Naturzusammenhang heraustreten kann, das ist bei Thomas nicht zur Ausdrücklichkeit gebracht. Wohl aber bei seinem Zeitgenossen Bonaventura, der den Versuch, den Schöpfungsbegriff mit Hilfe der aristotelischen Beweger-Metaphysik auszulegen, nicht mitmacht, weil ihm in der Mechanik dieser Konzeption das Moment eines göttlichen Willens, der sich in seinem Werk mitteilen will, verlorenzugehen droht. ›Mitteilung‹ nämlich bedeutet, daß die unendliche Macht Gottes sich gerade nicht sozusagen ›automatisch‹ exekutiert, sondern sich im Endlich-Faßbaren beschränkt und vernehmbar macht für ein endliches Wesen.59 In der Welt bekundet sich ein Summa theol. I q. 9 a. 1 ad 2: …suam similitudinem diffundit (sc. divina sapientia) usque ad ultima rerum: nihil enim esse potest quod non procedat a divina sapientia per quamdam imitationem… 57 Summa c. Gent. II, 75 ad 3: In his autem quae possunt fieri et arte et natura, ars imitatur naturam… 58 In octo libros Physicorum Aristotelis expositio II, lect. 13 n. 4 (ed. Maggiòlo p. 126). Um zu zeigen, wie der aristotelische Sinn authentischer getroffen werden kann, zitiere ich noch die Übersetzung des Johannes Argyropylos (ed. Bekker III, 109 b): atque ars omnino alia perficit, quae natura nequit perficere, alia imitando naturam facit. 59 Breviloquium II 1, 1 : universitas machinae mundialis producta est in esse ex tempore et de nihilo, ab uno principio primo, solo et summo; cuius potentia, licet sit immensa, disposuit tamen omnia in certo pondere, numero et mensura. In dieser faktischen Bestimmtheit ist ontologisch der ›Anreiz‹, nachzumessen, nachzuzählen, nachzuwägen, verwurzelt, der den empirischen Weg der Erkenntnis eröffnet. 56
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Ausdruckswille, der nicht alles Mögliche, sondern etwas Bestimmtes zu verstehen geben will: multa, non omnia – vieles, nicht alles, holt Gott aus dem Schatze seiner Möglichkeiten hervor, um sich dem Geschöpf in seiner Größe zu erweisen.60 Rein gefühlsmäßig interpretierend möchte man sagen, die Differenz zwischen multa und omnia sei hier nur als ein ›Rest‹ verstanden, dem Menschen vielleicht wohlweislich und liebevoll vorenthalten, kein Grund jedenfalls, sich als im Seinsbesitz und -zugang verkürzt zu empfinden. Aber schon Wilhelm von Ockham, der die franziskanische Tradition zu ihren Konsequenzen forciert, wird die Formel Bonaventuras umkehren, indem er das multa auf die andere Seite bringt, auf die Seite des Nichtgewollt-Unverwirklichten: Gott kann vieles schaffen, was er nicht schaffen will.61 Man spürt geradezu, wie hier ein quälendes, bohrendes Bewußtsein der Faktizität entspringen muß, die anschwellende Frage, weshalb diese und keine andere Welt ins Sein gerufen wurde, eine Frage, der nur noch das nackte augustinische Quia voluit als Un-Antwort entgegengeschleudert werden konnte. Die rationale Anstößigkeit weckt das Bewußtsein der Unerträglichkeit dieser Faktizität: unversehens verlagert sich der Akzent von dem im Geschaffenen empfundenen göttlichen Willensaus-
II. Sent. 1, 2, 1, 1 concl. (ed. Quaracchi II, 39–40): Propter ergo immensitatis manifestationem multa de suis thesauris profert, non omnia, quia effectus non potest aequari virtuti ipsius primae causae. Die aristotelisierende Begründung für einen ganz heterogenen Sachverhalt ist charakteristisch. Trotzdem war sich Bonaventura der Differenz zu Aristoteles viel klarer bewußt als Thomas, ja er dachte bereits so ›geschichtlich‹, daß er Aristoteles dafür loben konnte, daß er in der Frage der Ewigkeit der Welt folgerichtig und seinen eigenen Prinzipien gemäß gedacht habe. 61 Quodlib. VI q. 1 Deus multa potest facere quae non vult facere (zit. nach R. Seeberg, Dogmengeschichte III, 715). Hier wird der Zusammenhang unseres Problems mit dem ›Nominalismus‹ Ockhams greifbar: der Realismus der universalia erweist sich als unvereinbar mit dem strikten Begriff der creatio ex nihilo. Das universale als das im Konkreten beliebig Wiederholte und Wiederholbare hat nur einen Sinn, solange das Universum des Seinsmöglichen ein endliches Ganzes ist (wie der mundus intelligibilis), dem Existenz gleichsam nur ›zugeführt‹ wird (distinctio realis). Im Begriff der potentia absoluta ist nun aber ein unendliches All des Möglichen impliziert; das macht die Deutung des Individuellen als ›Wiederholung‹ eines Universellen sinnlos. Schöpfung bedeutet nun für jedes Geschöpf das ex nihilo seiner essentia. Nur so wird ausgeschlossen, wie Wilhelm argumentiert, daß Gott durch die Erschaffung eines Seienden seine potentia einschränkt, weil durch die Setzung eines universale im Bereich desselben nur noch ›Nachahmung‹, nicht aber creatio möglich wäre, denn creatio est simpliciter de nihilo, ita quod nihil essentiale vel intrinsecum rei simpliciter praecedat in esse reali. Der Universalienrealismus würde bedeuten, daß per consequens omnia producta post primum productum non crearentur, quia non essent de nihilo (I. Sent. dist. 2 q. 4 D). Wieviel Raum das Reich des Möglichen schon bietet, zeigt sich daran, daß Wilhelm gegen seinen Vorgänger Duns Scotus den Satz, Gott allein besitze schöpferische Potenz, für nicht beweisbar erklärt (Quodlib. VII, 23). Dies ist noch nicht die Investitur des Menschen mit dem Attribut des Schöpferischen; aber es löst den Begriff potentiell aus seiner exklusiven Theologizität heraus und läßt erwarten, daß er sich als transplantabel erweisen wird. 60
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druck auf den im Nichtgeschaffenen implizierten Vorenthaltenheitscharakter. Wir können diesen Prozeß der Umakzentuierung am ehesten ablesen an den sorgenden Versuchen, ihm zu begegnen, ihn aufzufangen, ja ihm Positivität zu geben. Am vielfältigsten spiegelt sich diese Anstrengung wohl im Werk des Nikolaus von Cues. Der Cusaner hat in seiner frühen Phase den Versuch Leibnizens vorweggenommen, das Nichtgeschaffensein des Ungeschaffenen dadurch zu rechtfertigen, daß er die wirkliche Welt als die höchste Form der Realität hinstellt, als Selbstverschwendung des schöpferischen Prinzips, als Deus creatus.62 Aber in diesem verchristlichten Neuplatonismus ist eine immanente Gegenläufigkeit zweier Elemente der spekulativen Theologie enthalten: einerseits erfordert die maximale Fassung des Begriffs der Vollkommenheit von Schöpfer und Werk zu sagen, Vollkommeneres habe nicht gemacht werden können, andererseits erfordert die maximale Fassung des Begriffs der göttlichen Macht zu sagen, kein wirkliches Werk dieses Schöpfers realisiere je das Äußerste dessen, was er an Größe und Perfektion hätte leisten können. Aus diesem Dilemma ist nicht herauszukommen. In der Schrift De beryllo hat der Cusaner fast zwei Jahrzehnte später die Schöpfung nach dem Modell der positiven Rechtssatzung betrachtet, wobei er zweimal das Digesten-Zitat heranzieht, nach dem der Herrscherwille Rechtskraft hat.63 Am Ende seines Denkweges, in der Schrift De ludo globi, hat der Cusaner den Versuch gemacht, seine beiden früheren Positionen zu harmonisieren, indem er sie auf eine Verschiedenheit des Aspekts zurückführt: von Gott her betrachtet gibt es einen Spielraum der Möglichkeit, von der Welt her betrachtet nicht.64 Das beruht auf einer Metaphysizierung des Möglichkeitsbegriffs: Gott hat nicht nur das Mögliche oder aus dem Möglichen verwirklicht, indem er schuf, sondern er hat die Möglichkeit selbst geschaffen: et fieri posse ipsum factum est. Das ist deutlich dazu bestimmt, Fragen zu entkräften und auszuschließen, die sich akut aufdrängten. Versucht Nikolaus von Cues das noch durch eine Metaphysizierung der Logik, so wird es Luther durch die Radikalisierung des Ausschließlichkeitsanspruches der Theologie tun. Mit deutlicher Wendung gegen die Formel Ockhams besteht er darauf, daß ›Allmacht‹ keinen logisch explikablen Sinn
De docta ignorantia II, 2: Quoniam ipsa forma infinita non est nisi finite recepta, ut omnis creatura sit quasi infinitas finita aut Deus creatus, ut sit eo modo, quo hoc melius esse possit; ac si dixisset creator: Fiat, et quia Deus fieri non potuit, qui est ipsa aeternitas, hoc factum est, quod fieri potuit Deo similius. 63 Quod principi placuit legis vigorem habet (Ulpian, Digesta I, 4, 1). Das ist ausdrücklich auf die Unfähigkeit der antiken Metaphysik gemünzt, den Schöpfungsakt auszulegen: Cur autem sic sit et non aliter constitutum, propterea non sciret, nisi quod demum resolutus (!) diceret: Quod principi etc. (De beryllo XXIX; cf. cap. XVI). Als biblische Autorität wird Eccl. VIII, 17 zitiert: Omnium operum Dei nulla est ratio. 64 De ludo globi I: …perfectiorem et rotundiorem mundum atque etiam imperfectiorem et minus rotundum potuit facere Deus, licet factus sit ita perfectus, sicut esse potuit. 62
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außerhalb des Schriftsinns hat und eben nicht jene Macht bedeutet, mit der Gott vieles nicht wirkt, was er wirken kann.65 Die potentia absoluta Gottes, deren Unfaßbarkeit noch den jungen Luther ängstete wie das späte Mittelalter insgesamt, ist nun als von Gott selbst durch das Instrument der Offenbarung auf die potentia ordinata beschränkt zu denken; über diese gnädige Selbstbeschränkung Gottes hinauszufragen, nimmt das Odium des Ausschlagens des Gnadenaktes an. Nur indem man die Frage nach dem unendlichen Spielraum der Möglichkeit nicht stellt, entzieht man sich der drohenden Ungewißheit dessen, was er offen läßt.
VII. Aber die Gewalt der einmal aufgebrochenen Fragen ließ sich nicht eindämmen; wohin sie führen, sehen wir schon bei Descartes fast in ganzem Umfang ausgesprochen. Bei ihm wird die Philosophie zur Systematik des Möglichen; von der Seinsmöglichkeit her wird die Seinswirklichkeit nun verstanden. Darauf beruht die neue Bedeutung der Hypothese, die dem Erkenntniswillen am konstruierbaren möglichen Seinszusammenhang Genüge verschafft und demgegenüber die Frage nach dem faktischen Nexus gleichgültig werden läßt. Dem Willen zur Konstruktion ist es irrelevant, ob zufällig die Natur nachgeahmt wird oder ob eine dort nicht realisierte Lösung Platz greift; das normative Prinzip der Ökonomie ist eine Idee des menschlichen Geistes für seine Leistungen, nicht für die Produktionen der Natur. Die Prinzipien der möglichen Welten sind so unendlich fruchtbar, daß eine Übereinstimmung der aus ihnen deduzierten hypothetischen Konstruktionen mit der wirklichen Welt nur noch Zufall sein kann.66 Schon ist bei Descartes erkennbar, wie sich die Idee der Freiheit gerade auf die Unabhängigkeit der rationalen Formel vom faktisch Gegebenen bezieht: am Beispiel einer machina valde artificiosa demonstriert er die vis ingenii als so originär seinsmächtig, ut ipsam (sc. machinam) nullibi unquam visam per se excogitare potuerit.67 Der Mensch ›wählt‹ sich seine Welt, wie Gott aus dem Möglichen die eine zu schaffende Welt wählte. Leibniz wird noch einmal versuchen, diese Welten durch seine prästabilierte Harmonie zu verklammern und durch den metaphysischen Optimismus den Druck der unendlichen Möglichkeiten zu balancieren. Als aber dieser bodenlose Optimismus um die Mitte des 18. Jahr-
Werke (Weimar) XVIII, 718: omnipotentiam vero Dei voco non illam potentiam, qua multa non facit quae potest, sed actualem illam, qua potenter omnia facit in omnibus, quomodo scriptura vocat eum omnipotentem. 66 Principia philosophiae III, 4: Principia … tam vasta et tam foecunda, ut multo plura ex iis sequantur, quam in hoc mundo aspectabili contineri videamus. 67 Princ. phil. I, 17. 65
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hunderts zusammenbricht, tritt das ganze Ärgernis der Tatsache hervor, daß die Seinswirklichkeit im Reich der Seinsmöglichkeit nur ein beliebiger Punktwert sein sollte. Welche Rechtfertigung gibt es noch für das Möglichbleiben des Möglichen? Die Natur wird zum faktischen Resultat mechanischer Konstellationen – was kann sie noch der Mimesis durch das Menschenwerk verbindlich machen und empfehlen? Der Zufälligkeit der natürlichen Formationen tritt nun das Menschenwerk – als ästhetisches wie als technisches – mit seiner Notwendigkeit entgegen. Was von Leibniz’ bester aller möglichen Welten ontologisch nachhaltig übrigbleibt, ist nicht die »beste Welt«, sondern die Unendlichkeit der möglichen Welten, die eben dann bewußtseinsattraktiv wird, wenn die wirkliche Welt nicht mehr die ausgewählt-beste glaubhaft repräsentiert. O. Walzel hat, ohne den metaphysischen Hintergrund zu ahnen, die Verbindungslinie von Leibniz zur Idee des schöpferischen Genies um die Mitte des 18. Jahrhunderts angezeigt.68 Er hat vor allem sichtbar gemacht, wie der Vergleich Gottes mit dem schöpferischen Künstler schon das Sich-Vergleichen des Künstlers mit Gott enthält; logisch war hier zwischen Renaissance und Sturm und Drang nichts mehr hinzuzufügen. Entscheidend wichtig ist aber der Umstand, daß die Dichtung nun in dem Vergleich eine singuläre Bedeutung bekommt. Während der Vergleich Gottes mit dem Baumeister und bildenden Künstler in die Antike zurückreicht, wird nun der Dichter zum bevorzugten ›Schöpfer‹, und das nicht zufällig, sondern – wie für uns nun leicht durchsichtig ist – auf Grund der Zersetzung der Mimesis-Idee. Noch Leonardo hatte in seinem »Trattato della Pittura« die Gottähnlichkeit des Malers gerade damit begründet, daß er in der Nachahmung der Natur ihren Schöpfer nachahme. Und der Aufstand des Manierismus gegen die Mimesis hatte de facto nur eine ostentative Deformation der Natur zuwege gebracht. In der Tradition der Poetik ist die Auflehnung gegen die imitatio primär gegen die Bindung der Stilmittel an den Kanon der Antike gerichtet, als Bestehen auf der Individualität der Aussageform gegen das System der aristotelischen Poetik und den Ciceronianismus.69 Aber schon J. C. Scaliger definiert in seiner Poetik von 1561 den Unterschied zwischen der Dichtung und allen anderen Künsten so, daß nur die Tätigkeit des Dichters ein condere sei, die aller übrigen Künstler ein narrare, ein Nacherzählen im Unterschied zur Seinssetzung des Poeten, der als alter deus eine natura altera zu begründen vermag.70 Diese Idee ist aber noch ohne ontologisches Fundament; sie erhält es erst durch Leibniz, der selbst aber keine Folgerungen aus der Unendlichkeit der möglichen Welten gezogen hat71, wegen seines metaphysischen Optimismus nicht ziehen konnte. Erst
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Das Prometheussymbol von Shaftesbury zu Goethe. 2. Aufl. München 1932. Vgl. A. Buck, Italienische Dichtungslehren. Tübingen 1952. Die Stelle ist ausführlich wiedergegeben bei O. Walzel, a. a.O. S. 45 f. Walzel, a. a.O. S. 51.
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die »Schweizer« stellten zwischen der Vorstellung des schöpferischen Dichters und der Idee der möglichen Welten den zündenden Kontakt her, der die Bedeutung der Kunst als einer metaphysischen Thätigkeit für die Folgezeit statuierte. J. J. Breitingers zweibändige »Critische Dichtkunst« von 1740 ist eine ästhetische Verwertung von Leibnizens Lehre der möglichen Welten.72 Der Dichter findet sich in der Lage Gottes vor der Erschaffung der Welt angesichts der ganzen Unendlichkeit des Möglichen, aus der er wählen darf; darum ist – und nun kommt die erstaunlichste Formulierung, die man sich in unserem Zusammenhang erwünschen könnte! – die Poesie eine Nachahmung der Schöpfung und der Natur nicht nur in dem Wirklichen, sondern auch in dem Möglichen. So mächtig ist die in der metaphysischen Tradition verwurzelte Urformel von der ›Nachahmung der Natur‹, daß ihre Sanktion für die Deutung des menschlichen Werkes auch dann nicht entbehrt werden kann, wenn das genaue Gegenteil ihrer genuinen Bedeutung gesagt, ja ›proklamiert‹ werden soll! Noch das unendliche Mögliche nimmt hier die Konsistenz der platonischen Ideen an, wenn irgend die Rede von der ›Nachahmung‹ noch einen Sinn behalten soll. Auch J. J. Bodmer spricht in seiner ebenfalls 1740 erschienenen »Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie« fast in denselben Worten davon, daß die Dichtung die Materie ihrer Nachahmung allezeit lieber aus der möglichen als aus der gegenwärtigen Welt nimmt.73 An dem Beispiel Miltons wird gezeigt, wie der Dichter das Gegebene überschreitet, ja das Nichts darzustellen vermag gerade dadurch, daß er durch eine metaphysikalische Handlung alles hinauswirft, was die Welt zur Welt macht, und das Nichts als etwas vorstellt, wodurch er die Schöpfung vor der Schöpfung vorausgeholet hat. Und auch hier wieder die stupende Formulierung, daß die Dichter nach ihrer Kunst mittelst der Nachahmung Dinge hervorbringen, die nicht sind. Das 19. Jahrhundert hat die Faktizitätscharaktere der Natur entscheidend verschärft. Was als Natur vor uns steht, ist das Resultat ungerichteter mechanischer Prozesse, der Kondensation wirbelnder Urmaterie, des Wechselspiels zufällig streuender Mutationen mit dem brutalen Faktum des Kampfes ums Dasein. Dieses Resultat mag alles sein – nur ästhetischer Gegenstand wird es nicht sein können. Wie könnte der Zufall die überraschende Evidenz des Schönen hervorbringen? So läßt sich das bis dahin Undenkbare verstehen, daß die Natur häßlich wird, wie es Franz Marc berichtet: Bäume, Blumen, Erde, alles zeigte mir in jedem Jahr mehr häßliche, gefühlswidrige Seiten, bis mir erst plötzlich die Häßlichkeit der Natur, ihre Unreinheit voll zum Bewußtsein kam.74 Den ontologischen Hintergrund genauer angesprochen hat der französische Maler Raoul Dufy, als er auf den Vorwurf, er mache zu kurzen 72 73 74
Walzel, a. a.O. S. 39; dort das folgende Zitat. Walzel, a. a.O. S. 43 für dieses und die folgenden Zitate. Dieses und weitere Zeugnisse bei H. Sedlmayr, Verlust der Mitte. Salzburg 1948. S. 158.
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Prozeß mit der Natur, erwiderte: Die Natur, mein Herr, ist eine Hypothese…75 Im ästhetischen Naturerlebnis drängt sich nun bereits der Vorbehalt der unendlich vielen möglichen Welten auf, denn wir können seit Descartes naturwissenschaftlich nicht mehr mit Gewißheit sagen, welche dieser Möglichkeiten in der Natur verwirklicht ist, sondern nur, mit welcher dieser Möglichkeiten wir funktional zurechtkommen. Diese Natur hat nichts mehr gemein mit dem Naturbegriff der Antike, auf den sich die Mimesis-Idee bezieht: das selbst nicht herstellbare Urbild alles Herstellbaren. Dagegen ist Herstellbarkeit aller Phänomene die universelle Antizipation der experimentellen Naturforschung, und Hypothesen sind Entwürfe von Anweisungen für die Herstellung von Phänomenen. Die Natur ist folgerichtig zum Inbegriff möglicher Produkte der Technik geworden. Der Rest an exemplarischer Verbindlichkeit ist damit aus der Natur ausgetrieben. Für den Techniker konnte die Natur mehr und mehr zum bloßen Substrat werden, dessen gegebene Konstitution der Verwirklichung konstruktiver Zwecke eher im Wege steht als sie fördert. Nur durch die Reduzierung der Natur auf ihren nackten Material- und Energiewert wird eine Sphäre reiner Konstruktion und Synthese möglich. So ergibt sich der auf den ersten Blick paradoxe Sachverhalt, daß in einem Zeitalter höchster Geltung der Wissenschaft von der Natur zugleich deren Gegenstand in seinem Seinsrang für den Menschen nivelliert worden ist.
VIII. Nun erst läßt sich die positive Bedeutung ermessen, die der Auflösung der Identität von Sein und Natur zukommt. Der Entwertungsprozeß der Natur ist nur deshalb nicht schlechthin ein nihilistischer Vorgang, weil der Glaube möglich geworden ist, daß das Sichtbare im Verhältnis zum Weltganzen nur isoliertes Beispiel ist, und daß andere Wahrheiten latent in der Überzahl sind 76, und daß diese Welt nicht die einzige aller Welten ist.77 So deutet die Kunst nicht mehr auf ein anderes exemplarisches Sein hin, sondern sie ist selbst dieses für die Möglichkeiten des Menschen exemplarische Sein: das Kunstwerk will nicht mehr nur etwas bedeuten, sondern es will etwas sein. Aber ist nicht dieses Sein, das eine der unendlich vielen gleichsam neben der Natur liegengebliebenen Möglichkeiten aufnimmt, ebenso faktisch und beliebig wie das der Natur? Um diesen Kern bewegen sich alle Fragen, die durch die ÜberwinZit. in: Geschichte der modernen Malerei. Fauvismus und Expressionismus (Skira). Genf 1950. S. 69 ff. 76 Paul Klee, zit. in der Monographie von W. Haftmann, München 1950. S. 71. 77 Paul Klee, Über die moderne Kunst. Bern 1945. S. 43. 75
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dung der Mimesis-Bindung aufgeworfen worden sind. Wir stehen wohl noch zu sehr im Auslauf des agonalen Prozesses dieser Überwindung, um uns bestimmte Antworten zutrauen zu dürfen. Wir sind auf Hypothesen angewiesen, wo wir dem entfliehen wollten, was ›nur Hypothese‹ ist. Aber manches deutet darauf hin, daß die Phase der gewalttätigen Selbstbetonung des Konstruktiven und Authentischen, des ›Werkes‹ und der ›Arbeit‹, nur Übergang war. Die Überwindung der ›Nachahmung der Natur‹ könnte in den Gewinn einer ›Vorahmung der Natur‹ einmünden. Während der Mensch ganz dem hingegeben scheint, sich in der metaphysischen Thätigkeit der Kunst seiner originären Potenz zu vergewissern, stellt sich unvermutet im Geschaffenen eine Ahnung des Immer-schon-Daseienden ein, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei.78 Ich denke an ein in der Bewußtheit seiner Antriebe so paradigmatisches Lebenswerk wie das von Paul Klee, an dem sich zeigt, wie im Spielraum des frei Geschaffenen sich unvermutet Strukturen kristallisieren, in denen sich das Uralte, Immer-Gewesene eines Urgrundes der Natur in neuer Überzeugungskraft zu erkennen gibt. So sind Klees Namengebungen nicht die üblichen Verlegenheiten der Abstrakten, an Assoziationen im Vertrauten zu appellieren, sondern sie sind Akte eines bestürzten Wiedererkennens, in dem sich schließlich ankündigen mag, daß nur eine Welt die Seinsmöglichkeiten gültig realisiert und daß der Weg in die Unendlichkeit des Möglichen nur die Ausflucht aus der Unfreiheit der Mimesis war. Sind die unendlichen Welten, die Leibniz der Ästhetik beschert hat, nur unendliche Spiegelungen einer Grundfigur des Seins? Wir wissen es nicht, und wir wissen auch nicht, ob wir es je wissen werden; aber es wird unendlich oft wieder die Probe darauf gemacht werden. Wäre das aber nicht ein Zirkel, der uns genau dahin zurückführt, wo wir aufgebrochen waren? Die Anzeichen eines solchen Zirkels schrecken heute viele, die fürchten, alle Kühnheiten könnten vergeblich gewesen sein. Aber eben das ist ein Irrtum. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob wir das Gegebene als das Unausweichliche hinzunehmen haben oder ob wir es als den Kern von Evidenz im Spielraum der unendlichen Möglichkeit wiederfinden und in freier Einwilligung anerkennen können. Das wäre, worum es letztlich ging, die Verwesentlichung des Zufälligen.79*
Kant, Kritik der Urteilskraft I 1, 2 § 45. Paul Klee, zit. b. W. Haftmann, a. a.O. S. 71. * Der Gedankengang ist zuerst im November 1956 auf Einladung der Philosophischen Fakultät der Universität München vorgetragen worden. 78 79
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Über kulturelle Kristallisation*
Seit mehr als hundert Jahren haben sich die Amerikaner und Europäer eine noch nie dagewesene Wirklichkeit aufgebaut: sie haben die technischen und industriellen Erfindungen in einen großen Zusammenhang gebracht, ihn wie eine neue Erde als Bedingung ihres Weiterlebens betreten und sich in einer neuen Umwelt eingerichtet, die an Gewaltsamkeit und zugleich Künstlichkeit alle Vergleichbarkeiten hinter sich läßt. Die physische und die geistige Überzeugungskraft der modernen Kultur haben sich als unwiderstehlich erwiesen. Ein Volk und ein Kontinent nach dem anderen haben sich entschlossen oder haben gerade den Entschluß gefaßt, ihre ältesten Traditionen abzustreifen, die substantiellen Selbstverständlichkeiten des Gewachsenen preiszugeben, um sich Einlaß in diese Welt zu verschaffen. Dieser gewaltige Prozeß, der das äußere und das innere Gesicht der Menschheit bis zur Unkenntlichkeit verändern wird, wie Max Weber schon im Jahre 1908 voraussagte, war von Katastrophen in entsprechenden Dimensionen begleitet, und es ist Tatsache, daß der erste vierjährige technisierte Krieg sogleich das erste Gesamterlebnis der Menschheit mit sich gebracht hat, ein Erlebnis, das tatsächlich um die Erde herumgriff. In Deutschland ist dieser generationenlange und in den Einzelheiten oft überaus schmerzliche Vorgang der Industrialisierung von vornherein mit dem hellen und wachen Bewußtsein einer der geistig regsten Nationen dieser Erde beobachtet worden. Die geschichtliche Reflexion hat das Epochale des Vorganges sofort erkannt. Wir haben gleichzeitig die neuen Maschinen und Sitten erfunden, unter ihnen gelitten und ihre Früchte geerntet, haben sie beobachtet und ihre Folgen registriert. Es genügt vielleicht, wenn man den phantastischen Umfang der Auswirkungen sich klar machen will, darauf hinzuweisen, daß vor etwa 100 Jahren – im Jahre 1867 – der Verbrennungsmotor von Otto erfunden wurde, und im selben Jahre erschien das Buch »Das Kapital« von Marx. Im gleichen Jahre hat übrigens Bismarck das allgemeine Wahlrecht im Norddeutschen Bunde eingeführt. Die Ereignisse haben sich
* [In der Erstveröffentlichung des Vortrages (1961) findet sich folgende einleitende Bemerkung: Meine Damen und Herren, erlauben Sie bitte, daß ich zuerst meinen Dank für die ehrende Einladung ausspreche. Ich bin der Aufforderung, hier zu sprechen, gerne gefolgt, weil es sich um Gedanken handelt, von denen ich gestehe, daß sie sich in einem noch wenig erforschten und übersehbaren Gelände bewegen, und da habe ich die Gewohnheit, ehe ich drucken lasse, erst den Versuch zu machen, in freier Rede die Überlegungen zu überprüfen.]
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also gleichzeitig als Wissenschaft umgesetzt, sie haben eine schnelle und schlagkräftige Formulierung von Programmen und politischen Richtungen mit sich gebracht. Der Prozeß der Aufrichtung dieses neuen Naturmilieus, in dem wir leben, vollzog sich über erbitterte Gegnerschaften hinweg – Gegnerschaften jeder Art: politische, wirtschaftliche, ideelle, künstlerische. Und das, was man Kulturkritik nennt, stellt nur einen Teil solcher Auseinandersetzungen dar, übrigens einen völlig berechtigten, in dem sich das Unbehagen und die Ratlosigkeit und das Leiden der irgendwie Nicht-Überzeugten doch in Argumenten und vernünftig auszusprechen versuchen. Eine solche kritische, beteiligte und leidenschaftliche Auseinandersetzung fehlt nie bei den bedeutenden Schriftstellern und Philosophen dieser Zeit, man findet sie bei Scheler, bei Musil, bei Benn, bei Thomas Mann. In dem ungeheuren Durcheinander der Stimmen, die das vorige Jahrhundert und dieses ausdrückten und auslegten, glaubt man oft zu keiner Orientierung mehr kommen zu können, und Sie wissen, daß noch Benn unter dem Eindruck eines vollständigen und nihilistischen Chaos gestanden hat. Dennoch glaube ich, daß sich bereits gewisse Stabilisierungen feststellen lassen, und man kann vielleicht schon versuchen, die Zustände beschreibend zu umschreiten. Sie bewegen sich nicht mehr so richtungslos und unvorhersehbar, und etwas von dem, was ich »Kristallisation« nenne, scheint sich anzudeuten. Dabei muß man vor allem auf das achten, was nicht mehr vorkommt, so zum Beispiel nicht mehr jene Blindheit gegenüber den Lebensgesetzen der Technik und der Industrie, die noch aus jeder Seite von Nietzsche spricht. Ich selbst erinnere mich noch genau der Entrüstung, mit der ich irgendwo eine Bemerkung Spenglers las – ich war damals Student – und die etwa so lautete: er hoffe, daß seine Schriften dazu beitragen würden, aus Philosophie-Studenten Techniker zu machen. Heute erscheint mir ein solcher Rat als durchaus plausibel. Aus solchen Gründen richte ich Ihre Aufmerksamkeit darauf, daß die im vorigen Jahrhundert und noch sehr tief in dieses hinein sehr häufigen Versuche völlig aufgehört haben, das aufgestöberte Durcheinander von allen Ideen und Motiven aus allen Zeiten und Windrichtungen so zu ordnen, daß man es von einer bestimmten Wissenschaft aus organisierte, die damit natürlich sofort eine Art Überzuständigkeit bekam. Da man an der Popularisierbarkeit von Wissenschaften noch keinen Zweifel hatte, so lag darin zugleich der Anspruch einer geistigen Neuorganisation der Gesellschaft, also ein missionarischer. Das hatte von der Philosophie her Nietzsche versucht, dessen Entwurf die Biologie und Physik bis zur Kultur- und Religionsgeschichte umgriff, und der, mit ungemeiner Geschicklichkeit an jede Zeitaktualität anknüpfend, aus diesen Motiven heraus nun ein gegenchristliches Bekehrungspathos auflud. Er stellt ein deutliches Beispiel für das dar, was ich eben hier in dieser Überlegung als geschichtlich vergangen und nicht mehr wiederherstellbar beschreiben will, nämlich für die »große Schlüsselattitüde«, d. h. ein Unternehmen, das aus einer Gesamtschau heraus eine Weltinterpretation und darin eine einleuchtende
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Handlungsanweisung geben möchte. So etwas ist weltgeschichtlich in der christlichen Religion zuerst aufgetreten, und insofern handelt es sich bei den neuen Systemen, wie schon oft bemerkt wurde, um eine Verweltlichung der ursprünglich christlichen Kombination von Weltentwurf und Handlungsanweisung, an jedermann gerichtet. Diese Verhaltensform ist offenbar in 2 000 Jahren derartig einverseelt worden, daß sie nun auch von ganz diesseitigen Interessen besetzt werden konnte. So hat man wiederholt versucht, die Erklärungsgrundsätze und die Sachanschauungen bestimmter Einzelwissenschaften ins Universelle auszuweiten und daran ethische Folgerungen anzuschließen. In dieser Weise hat Darwin seine Zoologie zu einer Entwicklungsgeschichte des Menschen ausgebaut[,] und die Grundgedanken vom Kampf um das Dasein und vom Überleben des Geeigneten, mit denen er den Artwandel erklärte, wurden zugleich als eine biologische und ethische Rechtfertigung der englischen Konkurrenzwirtschaft verstanden. Die Wirkung solcher Gedanken war außerordentlich, weil man sich in seiner Unmittelbarkeit als wirtschaftender Europäer in die Mitte des Lebensstromes versetzt fühlen konnte. Der rüstige Fortschritt des Industriezeitalters glaubte sich aus den Gesetzen des Daseins selbst heraus gerechtfertigt. Systeme dieser Art, also philosophische oder wissenschaftlich übersteigerte Gesamtauslegungen des Lebens, mit daraus abgeleiteten ethischen Forderungen, machen das aus, was man Weltanschauung nennt. Solche Weltanschauungen dienten als Ersatzreligion, sie waren ja auch fast immer atheistisch. In dieser Weise muß man auch die Psychoanalyse Freuds beurteilen. Sie enthielt zwar keine Aussagen über die Außenwelt, aber deren Deutung im Sinne des naturwissenschaftlichen Mechanismus der Zeit war einfach als selbstverständlich vorausgesetzt. Die großartige und originelle Psychologie Freuds bezog doch der Idee und dem Anspruch nach die gesamte menschliche Kultur- und Sittengeschichte einschließlich der Künste in sich ein und hat auch diesen Anspruch mit Werkproben belegt. Und was die ethische Seite betrifft, so lag in der Befreiung des Menschen von Schuldgefühlen und von Gott etwas von dem alten Schwung der Aufklärung, wenn auch ein später durchdringender Pessimismus über die Glücksmöglichkeiten des Menschen bei dem alternden Autor einen resignierten Grundton hergab. Auch fehlten nicht Andeutungen von sozialistischen Gedanken, und so stand er dem einflußreichsten aller Systeme nahe, dem von Marx, der eine tiefdurchdachte Mischung von Geschichtsphilosophie und Wirtschaftslehre mit ganz eindeutigen Handlungsanweisungen im Sinne des Klassenkampfes verband, um so wirkungsvoller, als er sich nicht nur an Gebildete wendete, sondern an Kollektivschicksale anknüpfte und eine Organisation der Solidarität der Benachteiligten betrieb. Das sind nur einige Beispiele von Weltanschauungen mit ihrer zugleich theoretischen und praktischen Abzweckung. Und als Haltung, als inneres Bedürfnis des Menschen nenne ich so etwas die große Schlüsselattitüde. Es gab bis tief in dieses
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Jahrhundert hinein kaum einen Philosophen, der nicht in diesem Sinne wirksam werden wollte, und man kann sagen, daß überhaupt das weltanschauliche Prestige, das die Wissenschaft schlechthin im vorigen Jahrhundert und bis in dieses hinein genoß, ihr von innen her zugeschrieben wurde. Denn zuletzt hat man doch von den Wissenschaften Aufschluß über die großen Fragen erwartet, die da heißen, »Was können wir wissen?« und »Was sollen wir tun?«. Die dritte der kantischen Fragen »Was dürfen wir hoffen?« war schon so gut wie beantwortet, wenn man im Sinne dieses bürgerlichen Zeitalters an einen innerweltlichen Fortschritt zum Besseren glaubte. Und ich meine nun, es ist von sehr großer Wichtigkeit für unser Zeitverständnis und Selbstverständnis sich klarzumachen, daß eben diese geistige Haltung jetzt historisch geworden ist. Ich will damit sagen, so etwas kann jetzt nicht mehr neu entstehen, während damals die innere Form der Wissenschaft dahin drängte. Die große Schlüsselattitüde lebt in sehr vielen Menschen noch als eine Art leeres Modell, aber dieses läßt sich nicht mehr von den Sachen her mit Weltinhalt oder ethisch mit eindeutigen Anweisungen füllen. Der Marxismus hält sich als Theorie deswegen, weil die erfolgreiche politische Durchsetzung in einem Weltreich ihn institutionalisiert hat, wie denn überhaupt Ideen nur überleben, wenn sie als Institutionen verkörpert werden. Alle anderen damals rivalisierenden Systeme haben nur noch eine literaturgeschichtliche Bedeutung, wie die Philosophie Nietzsches, oder der weltanschauliche Gehalt ist verdunstet, und sie sind ins Fachliche eingeengt wie die Psychoanalyse. Ich möchte Sie nun befassen mit den verschiedenen Erscheinungen, die verständlich werden, wenn man diese Ansicht hat. Der erste und hier kurz zu berührende Gedanke betrifft die Religion und ihre Stabilisierung, ein Ereignis, das vor hundert Jahren völlig unwahrscheinlich schien, sich heute übrigens auch keineswegs auf den Umkreis der christlichen Religion beschränkt. Nachdem jene atheistischen Ersatzsysteme mit Ausnahme des Marxismus verschwunden sind, bleibt die Religion mindestens in foro interno als moralische Autorität unwiderlegt zurück, wobei sie allerdings die technisch industrielle Durchgestaltung der Außenwelt völlig aus ihrer Beurteilung entläßt, sich also im Hinblick auf ihre Außenwirkung auf das Menschliche beschränkt, d. h. sozialisiert. Jetzt aber will ich mich der Erklärung zuwenden, warum keine weltanschaulichen Angebote mehr entstehen. Es gibt dafür praktische und theoretische Gründe. Zuerst hat sich gezeigt, daß die Realisierung von Ideen, also die Zurechtbiegung der Wirklichkeit derart, daß sie der Reinheit der Idee ähnelt, stets ein Vorhaben ist, bei dem es blutig zugeht. Die Wirklichkeit fügt sich nicht dem Ideal, das sich deswegen an ihr rächt. Nach zwei Weltkriegen, die mit ungeheuerlichen Opfern unter der Fahne von Ideen geführt worden sind, scheinen bloß noch diejenigen Ideen und Weltanschauungen die Zukunft für sich zu haben, die bereits in die Funktionsordnung, in die
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Betriebsgesetze großer Industriegesellschaften eingegangen sind, die im geschichtlichen Verlauf zur wirklichen Verfassung solcher großen Industriegesellschaften wurden, und die also jetzt als teuer bezahlte Wirklichkeit jeder Diskussion entrückt sind. So steht es mit den West- und Osthälften der Erde. Man kann sich gar nicht vorstellen, daß neue Ideensysteme mit demselben weltgestaltenden Anspruch, mit dem vor hundert Jahren der Marxismus oder vor 80 Jahren noch Nietzsche auftraten, überhaupt gehört werden könnten – das liegt nicht mehr in den Möglichkeiten der Epoche. Und folglich bietet die Philosophie den Anblick, den sie zeigt. Das Ende der Philosophie im Sinne der Schlüsselattitüde kann an Bedeutung schwer überschätzt werden, denn von Voltaire bis ins 20. Jahrhundert gingen von da die Explosionen aus, aber auch die langsamen und endgültigen chemischen Veränderungen im Geiste des Menschen. Es ist aber auch eine von übersteigerten Einzelwissenschaften ausgehende Ersatzreligion, so wie es etwa der Darwinismus oder der Biologismus einmal versuchten, nicht mehr real möglich, ganz abgesehen noch davon, daß der Biologismus auch politisch in Deutschland kompromittiert wurde. Der heutige Zustand der Wissenschaften selbst nämlich läßt eine Ausweitung ihrer Resultate in weltanschaulichem und ethischem Sinne nicht mehr zu. Diese Versuche damals waren geknüpft an ein verhältnismäßig primitives Entwicklungsstadium der Wissenschaften, das heute überschritten ist, und in dem man den Zusammenhangsgrad der Erscheinungen noch überschätzte. Hier schlägt, wie Sie gleich merken, das Thema der Spezialisierung ein. Jede seriöse Wissenschaft ist so weit in ein Geäst von Einzelfragestellungen auseinandergegangen, daß sie sich gegen die Zumutung einer Allkompetenz aufs entschiedenste wehren würde, sie hätte dann nämlich überhaupt keine Sprache. Es gibt heute eine durchgebildete chemische oder physiologische, es gibt eine durchgebildete psychologische usw. Fachsprache mit eindeutig charakterisierten Sachverhalten auf umschriebenem Gebiet, und eine jede dieser Fachsprachen – ich nenne noch die juristische oder medizinische – übt Zustimmungszwang aus, d. h. wer in diese Tatsachengebiete eindringen will, der kann sich der Einsicht nicht entziehen, daß die jeweils eigensinnigen Begriffsbildungen, die dort gebraucht werden, die Sachen genau treffen. Was es aber nicht gibt, ist eine querlaufende, eine übergeordnete und alle diese Einzelgebiete oder auch nur einige von ihnen umgreifende Sachsprache mit Zustimmungszwang. Das gibt es nicht. Womit gesagt ist: über den Kosmos der Wissenschaften schlechthin kann man nur dilettantisch reden. Damit wird die Trennung des Fachmanns vom Laien endgültig. Die Begriffe und die Problemstellungen jeder Fachwissenschaft werden bei dem heute erreichten Grad der Spezialisierung so anschauungsfern und so abstrakt, daß sie für Dritte, die keinen langen Anmarsch hinter sich haben, überhaupt unverständlich sind. Auch ein guter und ausgebildeter Kopf kann sein Interesse an Sachgebieten, die nicht
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gerade sein eigenes Arbeitsfeld betreffen, nur in untergeordneten Rücksichten und auf einer nicht mehr aktuellen Ebene befriedigen, und so haben denn die Versuche zur Popularisierung schwieriger Theorien überhaupt aufgehört. In den 20er Jahren erschienen zahlreiche Schriften, die versuchten, die Theorien Einsteins in die Sprache des gebildeten Laien zu übersetzen. So etwas unternimmt man heute einfach nicht mehr, denn auf sehr vielen Sachgebieten, ich nenne hier sogar auch die Soziologie, ist im Zuge der immer weiter vorgetriebenen Spezialisierung bereits die Verständigung unter Fachgenossen erschwert, ist die Herstellbarkeit einer Übersicht innerhalb des Gebietes selbst schon problematisch. Folglich überläßt man außerhalb des eigenen Arbeitsgebietes ohne weiteres den anderen die Kompetenz, die Information und die Zuständigkeit, d. h. man delegiert sein Urteil. Die Wissenschaften erhalten damit denselben Stil, der in der modernen Gesellschaft, vor allem in der Wirtschaft, in der Verwaltung und in der Politik überall obwaltet. Überall ist der Informierte vom Nicht-Informierten, ist der Sachkenner vom Laien, ist der Berufserfahrene vom Dilettanten getrennt, und vor allem hat sich dieser Zustand durchgesetzt, er ist reibungslos eingewöhnt und wird akzeptiert. Dabei entstehen ganz merkwürdige Erscheinungen, wenn auf Gebieten, auf denen bisher die Zuständigkeit von jedermann anerkannt war, die Unzugänglichkeit der Expertenthematik erscheint. So in den Künsten, wo es eine dem Laien schwer verständliche Kunst für Künstler gibt, voll von hochbewußter Kennerschaft. Es ist kaum mehr möglich, sich eine volkstümliche Literatur oder Malerei vorzustellen, die nicht zugleich rückständig und platt wäre. So weit war man in den 20er Jahren noch keineswegs, als zum Beispiel die Kunst Barlachs zugleich volkstümlich war, aber auch repräsentativ als Ausdrucksmittel für ihre Zeit. Auch das liegt schon hinter uns. Unter diesen Umständen ist es klar, daß globale Weltbilder innerhalb der Wissenschaften nicht erstellt werden können, ebensowenig wie Grundlagenreformen irgendwo im Gesamtsystem der Praxis; denn Grundlagenreformen in der Verwaltung oder im Erziehungswesen sind gleicherweise unmöglich, sie müßten angesichts der Fülle der Daten, die dort existieren, in einer Abstraktionshöhe, in einer Unanschaulichkeit gedacht werden, bei der nur Dilettanten sich noch einbilden könnten, daß man dann noch an der Sache bliebe. Ich verweile noch bei dem Zustand der Wissenschaften und beschreibe ihre institutionelle Verfestigung. Es ist bekannt, daß nicht nur an Hochschulen die Naturwissenschaften betrieben werden, sondern mit weit größerem Einsatz an Personal und Mitteln in den großen Industriewerken und in staatlichen Laboratorien, wo zum Beispiel die Kernforschung konzentriert ist. Der institutionelle Rahmen der medizinischen Wissenschaften liegt in den Kliniken vor Augen, sie sind ebenfalls zugleich Forschungsstätten, er liegt vor allem in dem sozial so entscheidenden Einrichtungssystem der Krankenversicherung, einem riesigen Verrechnungs-, Verwal-
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tungs- und Leistungsgebäude, das in Deutschland 75 Prozent der Gesamtbevölkerung beherbergt. Die juristische Wissenschaft wiederum pflegen wir von der Seite her zu sehen, wo sie den Anblick eines großen rationalen Systems von Begriffen und Normen bildet, das man in den Gesetzbüchern geordnet findet; so wird sie ja auch gelehrt. Will man dagegen dieses System funktionieren sehen, dann muß man auf die zahlreichen Einrichtungen blicken, in denen die Juristen es täglich in Handlungen übersetzen: nicht nur auf die Gerichte und Anwaltsbüros, sondern auf Parlamente und ihre Rechtsausschüsse, auf die übernationalen Organisationen wie die OEEC mit ihren Vertragswerken, auf die Rechtsabteilungen der Industriebetriebe, auf die zahllosen Ämter der allgemeinen Verwaltung und der Sonderverwaltungen, die alle deswegen juristisch korrekt handeln müssen, weil jeder Verwaltungsakt bestreitbar ist, auf die Rathäuser, auf die Zentralbüros der Gewerkschaften usw. Ich habe nun vorhin gesagt, daß sich ein zusammenhängendes Weltbild aus den Wissenschaften heraus nicht mehr erstellen läßt, und so etwas außerhalb der Wissenschaften zu versuchen, wäre ja noch absurder. Jetzt kommen wir zu der Einsicht, daß dieser Mangel deswegen nicht so bedenklich ist, weil alle diese Wissenschaften eben doch zusammenhängen, zwar nicht in den Köpfen, dort ist die Synthese gerade nicht zu erreichen, wohl aber in der Wirklichkeit der Gesamtgesellschaft. Als Teilfunktion in dem ungeheuren Überbau einer Industriegesellschaft sind sie alle am Werke. Der Zusammenhang also besteht in der gesellschaftlichen Praxis, dort aber ist er so durchdringend wie der Sauerstoff. In jedem Brotlaib steckt heute Chemie, und sie kreist in unserem Blut, in jedem Haus steckt statische Berechnung, in jedem Ortswechsel Maschinenbautechnik, in jeder Verwaltungshandlung Jurisprudenz. Und wenn ich als Soziologe einmal eine Formel gebrauche oder eine »Meinung« äußere, so fällt mir doch bisweilen ein, daß sie schon zu den statistisch ausgezählten gehört. So verhält es sich mit allen praktikablen Wissenschaften, sie alle arbeiten eingegossen in die Superstruktur des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Deswegen sind sie alle in voller und ungebrochener Entwicklung, sie sind im Weiterausbau zum Fortschreiten gezwungen, vor Erstarrung und Konfuzianismus gerade wegen dieser Verflechtung mit der praktischen Realität bewahrt. Eine Ausnahme machen nur die Philosophie und die klassischen Altertumswissenschaften, die, seit sie nicht mehr als selbstverständlich gelten, sich in einer Krise ihrer Selbstbegründung befinden. Sonst aber habe ich Ihnen die culture encadrée beschrieben, die in eine Supermaschine, welche mit einer Kapazität von 50 Millionen Menschenkräften arbeitet, eingebaute Kultur der Wissenschaften. Dort gibt es keine Selbstzweifel, dort gilt die Selbstverständlichkeit der schrittweisen Weiterentwicklung, also auch des Fortschritts. An keiner Stelle aber begegnet man heute innerhalb dieses Gesamtsystems, dessen Imprägnierung an immanenter Wissenschaftlichkeit dauernd steigt, jener großen geistigen Hoffnung, jener überspannten und enttäuschungsreichen, aber
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doch begeisternden und belebenden Erwartung neuer Räume, die sich nun endlich aufschließen und uns staunend einlassen würden, wie sie in den ideologischen Ansprüchen des vorigen Jahrhunderts noch lag. Man kann heute sagen, daß diese jugendliche Kraft den ersten Weltkrieg gerade noch überstand, aber den zweiten nicht mehr. Wir wollen jetzt, um unser Bild abzurunden, uns zwei Welthälften denken, eine östliche und eine westliche, jede mit gewaltigen Verdichtungszentren dieser industriell-technisch-szientifischen Kultur. In jedes dieser Systeme ist eine politische Ideologie eingearbeitet, jedes ist bis in die letzten Fasern durchgefärbt von einer solchen, sie durchdringen jeweils die innere Form des Menschseins und setzen sich fort bis in die Äußerlichkeiten des Alltags. Dabei ist die demokratische Idee die ältere, die elastischere, sie geht mit vielerlei Regierungsformen zusammen, sie ist weltoffen und nach links hin erstaunlich tolerant, sie besteht mehr in Haltung und Gesittung als in Lehre und Dogma. Die marxistische dagegen ist szientifisch, buchmäßig, gelehrt, doktrinär und prinzipiell, sie setzt eindeutige Gegnerschaften und engagiert definitiv, sie ist dem Anspruch nach universal, macht Aussagen über die objektive Welt im materialistischen Sinne. Beide Ideologien stehen sich in ihrer Auffassung vom Menschen exklusiv gegenüber, sie haben unverträgliche Auffassungen davon, was für den Menschen gut ist, es sind zwei Ethiken, die genau so im Blutkreislauf dieser Riesensysteme pulsieren wie die Wissenschaften, von denen vorhin die Rede war. Wenn Sie diese bisher gegebene Zustandsanalyse für annähernd richtig halten, so haben Sie bereits den Beleg für das, was ich »kulturelle Kristallisation« nenne. Der Ausdruck ist insofern vielleicht mißverständlich[,] als er an Anorganisches erinnert, er stammt übrigens von dem italienischen Soziologen Vilfredo Pareto, doch hat er bei ihm einen etwas anderen Inhalt. Ich fand ihn aber brauchbar und würde vorschlagen, mit dem Wort Kristallisation denjenigen Zustand auf irgendeinem kulturellen Gebiet zu bezeichnen, der eintritt, wenn die darin angelegten Möglichkeiten in ihren grundsätzlichen Beständen alle entwickelt sind. Man hat auch die Gegenmöglichkeiten und Antithesen entdeckt und hineingenommen oder ausgeschieden, so daß nunmehr Veränderungen in den Prämissen, in den Grundanschauungen zunehmend unwahrscheinlich werden. Dabei kann das kristallisierte System noch das Bild einer erheblichen Beweglichkeit und Geschäftigkeit zeigen, vorhin habe ich gerade gesagt, daß an zahllosen Einzelstellen dauernd Fortschritte getan werden. Es sind Neuigkeiten, es sind Überraschungen, es sind echte Produktivitäten möglich, aber doch nur in dem schon abgesteckten Feld und auf der Basis der schon eingelebten Grundansätze, diese werden nicht mehr verlassen. Viele Menschen haben das Bedürfnis, den Gesamtzustand, in dem wir leben, irgendwie restaurativ oder so ähnlich zu nennen. Ich glaube, daß das falsch ist. Das sind Begriffe, die aus einer früheren Weltperiode und nicht aus der Analyse des Gegebenen ge-
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nommen sind. Ich möchte vorschlagen, sie fallenzulassen und dafür den hier gewählten Ausdruck Kristallisation einzusetzen, der – wie gesagt – den Detailfortschritt der auseinandergezweigten Einzelwissenschaften gerade nicht ausschließt, sondern einschließt. Wenn Sie diese Vorstellungen haben, werden Sie selbst in einem so erstaunlich bewegten und bunten Bereich, wie dem der modernen Malerei, im Grunde der Dinge Kristallisation wahrnehmen. Die letzten großen Ereignisse sind da um das Jahr 1910 herum passiert. Damals hat man sich von der Außenwelt abgewendet und angefangen, die Kunst auf das Subjektive einzuspielen, hat angefangen, von der Malerei her das Subjekt auszuloten, und das ergibt nicht unendlich viele Fundamentalmöglichkeiten, sondern zählbare, es sind drei, vier, fünf, mehr nicht. Diese sind in schneller Folge entwickelt worden, man hat sie nie wieder preisgegeben und keine neuen gefunden, sondern auf dieser Basis hat sich jetzt das ereignet, was dann kommt, nämlich die Ausfaltung, das Ausspielen des sichtbar Werdenden, das Entwickeln des nunmehr Möglichen. Damit sind wir beschäftigt, aber wir vergessen dabei, daß diese großen Revolutionen ja lange hinter uns liegen. Es ist außerordentlich unwahrscheinlich, daß noch weitere Grundlagenveränderungen im System sind, und deshalb ist der Begriff Avantgardismus eigentlich etwas komisch, er ist überholt. Die Bewegung geht ja gar nicht nach vorwärts, sondern es handelt sich um Anreicherungen und um Ausbau auf der Stelle, wer heute von Avantgardismus spricht, der meint nur Bewegungsfreiheit als Programm, aber die ist ja längst zugestanden. Die eben hier angedeutete Situation ist in kultureller Hinsicht überall als ähnlich gegeben, ich habe den Ausdruck Kristallisation hierfür vorgeschlagen und bitte Sie zu merken, daß die Buntheit, die Fülle und Wandelbarkeit der umspielenden Erscheinungen die Starrheit der Grundentscheidungen verhüllt. Man muß beide Seiten zusammen sehen. Und wenn wir jetzt zu dem vorhin berührten Thema der beiden großen Welthälften mit ihren Basisideologien zurückkehren, dann ist vielleicht meine Folgerung weniger überraschend, wenn ich sage, daß ideengeschichtlich nichts mehr zu erwarten ist, sondern daß die Menschheit sich in dem jetzt vorhandenen Umkreis der großen Leitvorstellungen einzurichten hat, natürlich mit der dann noch dazuzudenkenden Mannigfaltigkeit von allerlei Variationen. So sicher die Menschheit religiös angewiesen ist auf die seit sehr langer Zeit ausformulierten großen Typen von Heilslehren, so sicher ist sie auch in ihrem zivilisatorischen Selbstverständnis festgelegt, wobei ich nur die plausible Voraussetzung mache, daß die sogenannten Entwicklungsvölker keine positive dritte Ideologie finden werden. Denn Globalideologien dieser Art einschließlich der historisch bereits überlebten, wie des Faschismus oder der nicht zur Entwicklung gekommenen Ansätze, wie der Heilslehren von Rousseau oder Nietzsche, sind ausnahmslos europäische Resultate, das gibt es außerhalb dieses Bereiches nicht. Ich exponiere mich also mit der Voraussage, daß die Ideengeschichte abgeschlossen ist, und daß wir im Posthistoire angekommen sind, so daß
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der Rat, den Gottfried Benn dem einzelnen gab, nämlich »Rechne mit deinen Beständen«, nunmehr der Menschheit als ganzer zu erteilen ist. Die Erde wird demnach in der gleichen Epoche, in der sie optisch und informatorisch übersehbar ist, in der kein unbeachtetes Ereignis von größerer Wichtigkeit mehr vorkommen kann, auch in der genannten Hinsicht überraschungslos. Die Alternativen sind bekannt, so wie auch auf dem Felde Religion, und sind in allen Fällen endgültig. Bisher habe ich Ihnen beschrieben, daß wir mit der Endgültigkeit der jetzt vorhandenen ideologischen Systeme zu rechnen haben, die sich auf die beiden politischen Erdhälften verteilten und dort ganz in die Zustände eingegangen und zu Einrichtungen materialisiert sind. Es ist, wie gesagt, völlig unwahrscheinlich, daß irgendwo eine neue Ideologie auftritt, sie kann sich, wie ich zeigte, auch nicht aus den Wissenschaften heraus erheben, denn diese sind in sich durchspezialisiert, aufs äußerste verästelt und ausgefaltet, und nur in einem viel primitiveren Zustand konnte man glauben, daß die Mechanik oder die Biologie oder die Psychologie unseren Bedürfnissen nach einem umfassenden Überblick genügen würden. Es ist nicht möglich, sich aus der Vogelschau einen Überblick über das System aller Wissenschaften mit einer Ganzheitsübersicht zu beschaffen, und zwar ist das grundsätzlich nicht möglich, weil sich eben nur Inseln von Zusammenhang herstellen lassen, die Wissenschaften sonst aber im allgemeinen sich mit ihren komplizierten Sondersprachen voneinander entfernen. Die verschiedenen Kapitel des Wißbaren, sagte ich einmal an anderer Stelle, gehen nicht mehr in einen Einband hinein. Wenn wir astronomisch den Eindruck haben, daß das Weltall nach allen Richtungen auseinander fliegt, so steht es mit unserem Wissensbestand um unsere irdische Wirklichkeit nicht viel anders, und es ist kein Bewußtseinsort denkbar, von dem aus man alles in den Blick bekäme, d. h. keine Philosophie im alten Sinne. Fortschritt aber gibt es überall da, wo das Zusammenspiel einer technisch und industriell hochentwickelten Gesellschaft Wissenschaft funktionsnotwendig braucht, oder wo sich Forschung übersetzen läßt in Praktikabilität. Denken Sie zum Beispiel an die verschiedenen Zweige der Chemie, der Medizin, der Statistik, der Jurisprudenz, wie denn auch die Soziologie zum Glück einen praktischen Arm hat, das ist die nicht sehr beliebte Umfrageforschung, in der sie aber doch ein beachtliches Maß von Wirksamkeit erreicht. In unserer Gesellschaft nimmt daher der Grad an innerer Imprägnierung mit jederlei Fachkunde und theoretischem Fachwissen unaufhörlich zu. Es gibt also ein gesellschaftseigenes Niveau allgemeiner Wissenschaftlichkeit, das nötig ist, um den Betrieb auf dem laufenden zu halten, und dieses Niveau steigt. Schon in den mittleren Rängen der Verwaltung oder der Industriebetriebsführung wird dem einzelnen Arbeitsplatz doch ein erstaunliches Potential von abstrakter Informiertheit zugeschrieben. Es wäre absurd, an all diesen Dingen die Sinnfrage anzubringen, wir leben in einer prinzipienpluralistischen Gesellschaft von höchster Dynamik und in einer unabschließbaren, exzentrischen Welterfahrung.
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Von hier aus gesehen muß einem die Epoche der großen diesseitigen Gestaltungsideologien, die 1789 begann, schon als recht vergangen erscheinen, sie ist offenbar abgeklungen, und nur das wird noch konserviert, dessen Institutionalisierung schon seit langem gelungen ist. Die verschiedenen revolutionären Ideensysteme engagierten ja ab 1789 den einzelnen Menschen in einem unmittelbaren Handelnkönnen, sie appellierten an die physische Mithilfe des einzelnen bei der Errichtung des Wunschreiches. Das entsprach ja doch einem primitiveren Bewußtsein von den Problemen der Gesellschaft. Man brauchte Gläubige, Fanatiker, Avantgardisten für das große Handgemeinwerden und für das Unternehmen, die Sozialordnung mittels Handfeuerwaffen umzustülpen. Heute aber ist es, wie Riesman in seinem Buch »Die einsame Masse« sehr richtig sagt, unmöglich geworden, ein Programm aufzustellen, das die Beziehungen zwischen dem wirtschaftlichen und dem politischen Leben entscheidend verändern könnte. Ein solches Programm fände in der gewaltigen, eingespielten Maschine, in der auch die Betriebsverluste eingeplant sind, gar keine Fugen zum Eingreifen. Die bis heute durchgeretteten Ideologien haben also keinen neu auftretenden Rivalen zu befürchten, sie bezeichnen ebenso definitive Möglichkeiten wie die Religionen, deren Stabilisierung nun, hundert Jahre nachdem sie unter dem Ansturm totaler naturwissenschaftlicher Weltbilder in großer Gefahr schwebten, eins der großen unerwarteten Ereignisse ist; diese haben die Gefahrenzone offenbar passiert, in die sie im Abendland mit der Aufklärung geraten sind, und in Asien durch den Ansturm der weißen Kultur, der jetzt abgeschlagen ist. Somit wäre zu sagen, daß man auf ideologischen und religiösen Gebieten mit der Endgültigkeit der heute ausformulierten Zustände zu rechnen hat, so daß sich die geistige Energie der Menschen in der Weiterentwicklung der Einzelheiten des großen wissenschaftlich durchorganisierten Überbaus manifestieren wird, wobei die Künste und schönen Wissenschaften mit reizvoller Unverantwortlichkeit einen Kernbestand von Ernstaufgaben sozusagen umspielen, von Ernstaufgaben, wie sie ganz elementar aus der Drastik des Lebenwollens von allen entstehen. Dieses Lebenwollen von allen wird aber nun auf einem praktisch und informatorisch klein gewordenen Erdball zu einem Problem ersten Ranges und geradezu zu dem vordringlichsten Politikum. Wenn das Gesagte einigermaßen zutrifft und realistisch ist, dann ergibt sich als weitere Folge, wie die beiden großen Vorhaben, die zur Zeit für die Planung und allmähliche Verwirklichung anstehen, sich in das Ganze einfügen. Es gibt heute zwei Politika ersten Ranges in Deutschland, nämlich die sogenannte Entwicklungshilfe und die Frage der Reorganisation der Hochschulen. Das zuletzt genannte Problem entsteht aus dem gewaltigen Andrang von Studierenden an den Hochschulen. Man hat da künftig mit einer Viertelmillion im Jahr zu rechnen, und es entsteht einfach die Frage, ob die Einrichtungen und die vorhandenen Kapazitäten und auch ob die innere Form des Wissenschaftsbetriebes diesem Ansturm gewachsen ist. Dahinter
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erheben sich aber noch größere Probleme. Jenes Emporschnellen der Studentenzahlen in Deutschland bildet nur die Teilphase eines Weltvorganges. In Amerika, in Rußland und in Japan, in Indien – überall das gleiche Bild. Die Intelligenzberufe erweisen sich als überwältigend attraktiv für die Existenzpläne immer größerer Massen. Aufstieg und erfolgreiche Wirksamkeit erscheinen hier als gekoppelt. Unwägbar ist der mächtige Einfluß der Atmosphäre der Öffentlichkeit, in die man glaubt, mit dem Intelligenzberuf einzutreten, und an der nicht teilzuhaben, allmählich geradezu als Seinsverlust empfunden wird. Wie sich nun diese Schichten auf die Dauer mit ihrer eigenen Vielzahl, mit den herabgesetzten Chancen ihrer Gestaltungsmacht, über die ich bisher ja eigentlich gesprochen habe, und mit den im großen Durchschnitt enttäuschenden Lebenserfolgen abfinden werden, kann noch niemand sagen; die aktuellen Vordringlichkeiten stehen noch davor. Und eng mit diesen Tendenzen verbunden ist ein anderer Imperativ: es muß auf jeden Fall die Qualität an geistiger Leistung behauptet werden, die seit vielen Jahrzehnten in das industriell-technisch-wissenschaftliche System hineingegeben wurde. Die sehr wichtige Frage, ob einer der Brennpunkte wissenschaftlicher Anstrengung, der immer bei uns gelegen hat, von Deutschland abwandert, müßte einmal wirklich objektiviert und untersucht werden. Wir wissen noch gar nicht, wie man dieses lebenswichtige Problem, diese Frage exakt formulieren müßte, es scheint aber etwas an Beschaulichkeit, Genügsamkeit und Zerstreutheit in unserer Jugend zu liegen, was hier zu Besorgnissen Anlaß gibt. Beide eben erwähnten Aspekte – die Erhaltung des Niveauanspruchs und die Verlegenheiten aus dem Massenzudrang – könnte man sich ja gemeinsam so behandelt denken, daß an ein sehr viel rigoroseres Ausleseverfahren sehr drastische Forderungen und Prämien geknüpft würden. Aber genau gerade zu diesem Ausleseverfahren geben die bestehenden Hochschuleinrichtungen die Handhabe nicht her. Das andere Politikum liegt in der Entwicklungshilfe vor Augen, und die Popularität dieses Unternehmens bei uns hängt nach Umfrageergebnissen damit zusammen, daß man hier eine neue Chance im Wettlauf zwischen West und Ost erblickt. Das ist vielleicht nicht falsch, und in der Art, wie wir diese Aufgabe sehen, spüre ich doch etwas von der alten ideologischen Verve, mit der wir Deutsche über Reformation und Marxismus hin immer wieder die Welt versorgt haben. Aber dahinter zeigen sich dann doch schon ganz großzügige Aufgaben, denen gewachsen zu sein viel schwerer ist. Zunächst ist die Buntheit der tatsächlichen und uns unbekannten Verhältnisse, auf die man sich jeweils einlassen würde, unbeschreiblich, und schon für die Erhebungen, die man anstellen müßte, um zu wissen, in welchem Raume man eigentlich operieren will, haben wir noch kaum die richtige Einstellung, geschweige denn die Apparatur, sondern hier hört man doch recht harmlose Vorstellungen, die alten Kolonialvölkern nicht so nahe liegen würden. Wenn es sich nun in den wichtigsten Fällen nur darum handelt, den ungeheuren Bevölkerungsdruck
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solcher Populationen produktionsmäßig überhaupt erst einmal irgendwie einzuholen, und wenn das ganze Unternehmen damit unter Zeitdruck gerät, dann wird es wahrscheinlich, daß eine steigende Zahl von Experten an Ort und Stelle sich einrichten und über lange Zeit am Platz bleiben müssen, eine Zumutung, auf die die Geister und Herzen wohl noch keineswegs vorbereitet sind. Schließlich das größte Fragezeichen: mit welchen Leitgedanken wollen wir eigentlich diejenigen unter uns ausrüsten, die von hier aus oder an Ort und Stelle die konkrete Verantwortung übernehmen sollen? Die kolonialistische Selbstsicherheit der ohne weiteres in Anspruch genommenen Vorbildlichkeit und Maßgeblichkeit des weißen Mannes ist liquidiert. Ein spezifisch christliches Ethos würde wahrscheinlich gar keine zugeordnete Antwort finden, keine Gegenseitigkeit, weil die Partner sich aus ihren eigenen Traditionen heraus darauf nicht überall mehr einlassen. Und das allgemeine humanitäre Gefühl ist nicht so deutlich, daß es im Einzelfall Maßstäbe des Verhaltens hergibt. Das dieser weltweiten und, wie ich denke, uns auf Jahrzehnte beschäftigenden Aufgabe entsprechende Ethos scheint mir im Grunde noch nicht ausgesprochen zu sein, vielleicht weil sich hier eine Ferneethik ausbildet, ein tatbereites Gefühl der Verantwortlichkeit für abstrakte Partner. Man spürt in dem Willen, eine Abwehrfront gegen das Elend aufzurichten, den Haß gegen die äußersten Grade der Erniedrigung, der Dumpfheit und der Brutalität des Leidens, die man nicht länger dulden will. Dies ist, wie ich glaube, die Folge der Ungeheuerlichkeiten der beiden Weltkriege, die man ja doch als einen einzigen Vorgang von dreißigjähriger Dauer sehen muß, und von diesem Vorgang müssen wir annehmen, daß er nie Vergangenheit, nie wirklich überlebt und überstanden werden wird. Sondern er hat sich unauslöschlich in das Bewußtsein der Menschheit eingebrannt, ihre Selbstbegegnung vollzog sich in diesem außer Kontrolle geratenen Feuerbrand, und diese Erfahrung ist es, von der ich glaube, daß sie sich jetzt als Ethos umsetzt, in bestimmte Antriebe, denn es gibt eine Leidenschaft gegen entwürdigende Zustände, die tatbereit ist und sich keine parteigängerischen Gesinnungen vorschalten will, die sich unmittelbar im Gefühl selbst kundgibt und sich vor allem im Wirksamen, Naheliegenden und Herstellbaren ausdrücken will. Vielleicht kündigt sich hierin eine neue nüchterne und praktische Wendung der Moral an, man kann es hoffen, denn auf die Dauer ist ja doch das immer wieder erlebte Zurückbleiben unseres Handelns hinter den leicht gedachten Ideologien unerträglich, die Gewissensbelastung unwürdig, die sich aus der Uneinholbarkeit der Forderungen solcher Ethik ergibt. Innerhalb der voll entwickelten, abstrakten und naturfernen Industriekultur, inmitten ihrer Statistiken, Informationsnetze, Rechenmaschinen und Automaten erscheinen auf einmal die nackten biologischen Probleme der Übervölkerung, der Lebensverlängerung, der Geburtenbeschränkung und Welternährung. Und so mag die Aufforderung unwiderlegbar überzeugen, daß es jetzt gilt, die Wirklichkeit der offensichtlich empörenden Not anzugreifen – das wäre Fortschritt.
MICHEL FOUCAULT
Was ist Aufklärung?
Wenn heutzutage eine Zeitschrift ihren Lesern eine Frage stellt, so tut sie dies, um sie nach ihrer Ansicht zu einem Thema zu fragen, zu dem jeder bereits seine Meinung hat: Man läuft nicht Gefahr, groß etwas dazuzulernen. Im 18. Jahrhundert wurde das Publikum vornehmlich zu Problemen befragt, auf die man eben noch keine Antwort hatte. Ob das effizienter war, weiß ich nicht; amüsanter aber war es. Immerhin veröffentlichte aufgrund dieser Gewohnheit ein deutsches Periodikum, die Berlinische Monatsschrift, im Dezember 1784 eine Antwort auf die Frage: Was ist Aufklärung?1 Und diese Antwort stammte von Kant. Ein Text zweiten Ranges, vielleicht. Doch, wie mir scheint, tritt mit ihm eine Frage diskret in die Geschichte des Denkens ein, die zu beantworten die moderne Philosophie nicht imstande war, von der sie sich aber auch nie frei zu machen vermochte. Und unter unterschiedlichen Formen wiederholt sie sie jetzt bereits seit zwei Jahrhunderten. Von Hegel bis Horkheimer oder Habermas, über Nietzsche oder Max Weber, gibt es kaum eine Philosophie, die, direkt oder indirekt, nicht mit ebendieser Frage konfrontiert gewesen wäre: Was ist das also für ein Ereignis, das man die Aufklärung2 nennt und das zum Teil zumindest bestimmend ist für das, was wir heute sind, was wir heute denken und was wir heute tun? Stellen wir uns vor, die Berlinische Monatsschrift gäbe es noch heute, und sie würde ihren Lesern die Frage stellen: »Was ist moderne Philosophie?«, vielleicht könnte man ihr darauf als Echo zurückgeben: Die moderne Philosophie ist die Philosophie, die auf die seit nunmehr zwei Jahrhunderten so sehr unbedachtsam aufgeworfene Frage: Was ist Aufklärung?,3 eine Antwort zu geben versucht. Verweilen wir einige Augenblicke bei dem Text von Kant. Aus mehreren Gründen verdient er unsere Aufmerksamkeit. 1) Auf ebendiese Frage hatte auch Moses Mendelssohn in derselben Zeitschrift gerade einmal zwei Monate zuvor geantwortet. Doch Kant war dieser Text nicht bekannt, als er seinen eigenen verfasste. Gewiss, es kommt zu diesem Zeitpunkt nicht zum ersten Mal zur Begegnung der deutschen philosophischen Bewegung mit
[In: Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784, Bd. IV, S. 481–491; in: Werke, herausgegeben von W. Weischedel, Band XI, Frankfurt am Main 1964, S. 51–61 (»Was ist Aufklärung?« im Original deutsch).] 2 [Aufklärung hier und im Folgenden im Original deutsch.] 3 [Im Original deutsch.] 1
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den neuen Entwicklungen der jüdischen Kultur. Bereits seit rund dreißig Jahren befand sich Mendelssohn, begleitet von Lessing, an diesem Kreuzungspunkt. Doch bis dahin war es darum gegangen, der jüdischen Kultur im deutschen Denken ein Bürgerrecht zu geben – was Lessing in Die Juden4 zu leisten versucht hatte – oder auch Probleme freizulegen, die dem jüdischen Denken und der deutschen Philosophie gemeinsam sind: Mendelssohn hatte dies in den Gesprächen über die Unsterblichkeit der Seele5 getan. Mit den beiden in der Berlinischen Monatsschrift erschienenen Texten erkennen die deutsche Aufklärung und die jüdische Haskala, dass sie derselben Geschichte angehören; sie suchen zu bestimmen, welchem gemeinsamen Prozess sie unterstehen. Und vielleicht war dies eine Art anzukündigen, das gemeinsame Schicksal anzunehmen, von dem man weiß, zu welchem Drama es führen sollte. 2) Doch da ist mehr. In sich selbst und innerhalb der christlichen Tradition stellt dieser Text ein neues Problem dar. Gewiss nicht das erste Mal sucht das philosophische Denken über seine eigene Gegenwart zu reflektieren. Doch, schematisch gesprochen, kann man sagen, dass diese Reflexion bis dato drei Hauptformen angenommen hatte: – Man kann die Gegenwart als zu einem bestimmten Zeitalter der Welt gehörend darstellen, unterschieden von den anderen durch gewisse eigene Züge oder getrennt von den anderen durch irgendein dramatisches Ereignis. So erkennen in Platons Politikos die Teilnehmer des Gesprächs, dass sie einer dieser Umwälzungen der Welt angehören, in der diese einen Umsturz erfährt, mit all den negativen Folgen, die das haben kann; – man kann auch die Gegenwart befragen, um in ihr die Vorzeichen eines nahen Ereignisses zu entschlüsseln zu versuchen. Damit hat man das Prinzip einer Art historischer Hermeneutik, für die Augustinus ein Beispiel abgeben könnte; – man kann gleichfalls die Gegenwart als einen Übergangspunkt hin zum Aufgang einer neuen Welt analysieren. Das beschreibt Vico im letzten Kapitel der Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker;6 »heute« sieht er »eine vollendete Humanität über alle Länder verbreitet […], da wenige große Monarchen diese Welt der Völker regieren«; »doch überall erstrahlt das christliche Europa von so viel Humanität, dass hier Überfluss herrscht an allen Gütern, die das menschliche Leben beglücken können«. Nun stellt allerdings Kant die Frage der Aufklärung auf eine ganz andere Art und Weise: weder ein Zeitalter der Welt, zu der man gehört, noch ein Ereignis, dessen [Lessing, G. E., Die Juden (1749), Berlin 1754.] [Mendelssohn, M., Phädon oder Über die Unsterblichkeit der Seele, Berlin 1767, 1768.] 6 [Vico, G., Principi di una scienza nuova d‘intorno alla communa natura delle nazioni, Neapel 1725; dt.: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Hamburg 1990.] 4 5
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Zeichen man wahrnimmt, noch der Aufgang einer Vollendung. Kant definiert die Aufklärung auf beinahe gänzlich negative Weise als einen Ausgang.7 In seinen anderen Texten über die Geschichte geschieht es, dass Kant Fragen nach dem Ursprung stellt oder die innere Zweckmäßigkeit eines Geschichtsverlaufs definiert. In dem Text über die Aufklärung betrifft die Frage die reine Aktualität. Er sucht nicht die Gegenwart von einer Totalität oder einer zukünftigen Vollendung her zu verstehen. Er sucht einen Unterschied: Welchen Unterschied führt sie heute gegenüber gestern ein? 3) Ich werde nicht auf die Einzelheiten des Textes eingehen, der trotz seiner Kürze nicht immer sehr klar ist. Ich möchte einfach nur drei oder vier Züge daran festhalten, die mir wichtig erscheinen, um zu verstehen, wie Kant die philosophische Frage der Gegenwart gestellt hat. Kant weist sogleich darauf hin, dass dieser für die Aufklärung bezeichnende »Ausgang« ein Prozess ist, der uns aus dem Zustand der »Unmündigkeit« befreit. Unter »Unmündigkeit« versteht er einen gewissen Zustand unseres Willens, der uns veranlasst, die Autorität von jemand anderem zu akzeptieren, um uns in Bereiche zu führen, in denen es darauf ankommt, von der Vernunft Gebrauch zu machen. Kant gibt drei Beispiele: Wir sind im Zustand der Unmündigkeit, wenn ein Buch an unserer statt Verstand hat, wenn ein Seelsorger für uns Gewissen hat, wenn ein Arzt an unserer Stelle über unsere Diät entscheidet (beiläufig sei angemerkt, dass sich daran ohne weiteres die Ordnung der drei Kritiken erkennen lässt, obgleich der Text es nicht ausdrücklich sagt). Jedenfalls wird die Aufklärung durch die Veränderung des zuvor existierenden Verhältnisses zwischen Willen, Autorität und Vernunftgebrauch bestimmt. Es ist zudem festzustellen, dass von Kant dieser Ausgang auf ziemlich zwiespältige Weise vorgestellt wird. Er charakterisiert ihn als eine Tatsache, einen im Ablauf befindlichen Prozess; aber er stellt ihn auch als eine Aufgabe und eine Pflicht dar. Vom ersten Absatz an macht er darauf aufmerksam, dass der Mensch selbst für seinen Zustand der Unmündigkeit verantwortlich ist. Es ist also so zu verstehen, dass er nur durch eine Veränderung, die er selbst an sich selbst vollziehen wird, daraus wird herausgehen können. Bezeichnenderweise sagt Kant, dass diese Aufklärung einen »Wahlspruch« hat: Nun ist dieser Wahlspruch ein Unterscheidungsmerkmal, mit dem man dafür sorgt, dass man erkannt wird; aber es ist auch eine Anordnung, die man sich selbst gibt und die man den anderen vorschlägt. Und wie lautet diese Anordnung? Aude sapere, »habe den Mut, die Kühnheit zu wissen«. Man muss es also so sehen, dass die Aufklärung zugleich ein Prozess ist, an dem die Menschen kollektiv beteiligt sind, und ein Akt des Mutes, den jeder persönlich vollbringen muss. Sie sind zugleich Elemente und Handelnde desselben Prozesses. 7
[Im Original deutsch.]
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Sie können in dem Maße seine Akteure sein, wie sie daran teilnehmen; und er kommt in dem Maße zustande, wie die Menschen entscheiden, seine willentlichen Akteure zu sein. Eine dritte Schwierigkeit taucht dabei in dem Text von Kant auf. Sie liegt in der Verwendung des Wortes Menschheit.8 Man weiß um die Wichtigkeit dieses Wortes in der Kant’schen Geschichtsauffassung. Muss man es so verstehen, dass das gesamte Menschengeschlecht in den Prozess der Aufklärung einbezogen ist? In diesem Fall muss man sich vorstellen, dass die Aufklärung eine geschichtliche Veränderung ist, die die politische und soziale Existenz aller Menschen auf der Erdoberfläche berührt. Oder muss man es so verstehen, dass es sich um eine Veränderung handelt, die das betrifft, was die Menschlichkeit des menschlichen Wesens ausmacht? Und damit stellt sich die Frage, was diese Veränderung ist. Doch auch dabei ist Kants Antwort nicht frei von einer gewissen Zwiespältigkeit. Jedenfalls ist sie, so einfach sie scheinbar daherkommt, recht komplex. Kant bestimmt zwei wesentliche Bedingungen dafür, dass der Mensch aus seiner Unmündigkeit heraustritt. Und diese zwei Bedingungen sind sowohl geistig als auch institutionell, sowohl ethisch als auch politisch. Die erste dieser Bedingungen ist die, dass klar unterschieden ist, was dem Gehorsam und was dem Vernunftgebrauch untersteht. Um den Zustand der Unmündigkeit kurz und bündig zu charakterisieren, zitiert Kant den geläufigen Ausdruck: »räsoniert nicht, sondern gehorcht!«; das ist ihm zufolge die Form, in der die militärische Disziplin, die politische Macht und die religiöse Autorität gewöhnlich zur Ausübung kommen. Die Menschheit wird nicht dann mündig werden, wenn sie nicht mehr zu gehorchen haben wird, sondern wenn man ihr sagen wird: »Gehorcht, und ihr werdet räsonieren können, soviel ihr wollt.« Es ist anzumerken, dass das hier gebrauchte deutsche Wort räsonieren9, das man auch in den Kritiken findet, sich nicht auf einen beliebigen Gebrauch der Vernunft bezieht, sondern auf einen Gebrauch der Vernunft, worin diese keinen anderen Zweck hat als sie selbst; räsonieren10 ist räsonieren, um zu räsonieren. Und Kant gibt Beispiele, die ebenfalls scheinbar völlig trivial sind: seine Steuern zahlen, doch über das Steuerwesen räsonieren können, soviel man will, das charakterisiert den Zustand der Mündigkeit; oder auch, wenn man Seelsorger ist, den Dienst an seiner Gemeinde sicher versehen, den Grundsätzen der Kirche entsprechend, der man angehört, doch über das Thema der religiösen Dogmen räsonieren, wie man will. Man könnte meinen, dass nichts daran sich deutlich von dem unterscheidet, was man seit dem 16. Jahrhundert unter Gewissensfreiheit versteht: das Recht zu den8 9 10
[Im Original deutsch.] [Im Original deutsch.] [Im Original deutsch.]
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ken, wie man will, vorausgesetzt, man gehorcht, wie man muss. Nun, genau da führt Kant eine andere Unterscheidung ein, und das auf recht überraschende Weise. Es handelt sich um die Unterscheidung zwischen dem Privatgebrauch und dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft. Doch fügt er sogleich hinzu, dass die Vernunft in ihrem öffentlichen Gebrauch frei und in ihrem Privatgebrauch eingeschränkt sein muss. Was wortwörtlich das Gegenteil von dem ist, was man gewöhnlich Gewissensfreiheit nennt. Doch muss man das etwas genauer fassen. Was ist nach Kant der Privatgebrauch der Vernunft? In welchem Bereich findet sie ihre Ausübung? Der Mensch macht, sagt Kant, Privatgebrauch von seiner Vernunft, wenn er »Teil der Maschine« ist; das heißt, wenn er eine Rolle in der Gesellschaft zu spielen und Funktionen auszuüben hat: Soldat sein, Steuern zu zahlen haben, für eine Gemeinde verantwortlich sein, Regierungsbeamter sein; all das macht aus einem menschlichen Wesen ein besonderes Segment in der Gesellschaft; es findet sich dadurch in eine bestimmte Position gesetzt, in der es Regeln anzuwenden und besondere Zwecke zu verfolgen hat. Kant verlangt nicht, dass man einen blinden und blöden Gehorsam praktiziert, sondern dass man von seiner Vernunft einen diesen bestimmten Umständen angemessenen Gebrauch macht; und die Vernunft muss sich somit diesen besonderen Zwecken unterwerfen. Es kann folglich darin keinen freien Gebrauch der Vernunft geben. Wenn man umgekehrt nur räsoniert, um von seiner Vernunft Gebrauch zu machen, wenn man als vernunftfähiges Wesen (und nicht als Teil einer Maschine) räsoniert, wenn man als Glied der vernunftfähigen Menschheit räsoniert, dann muss der Gebrauch der Vernunft frei und öffentlich sein. Die Aufklärung ist also nicht nur der Prozess, durch den die Individuen sich ihrer persönlichen Denkfreiheit versicherten. Es gibt Aufklärung, sobald allgemeiner Gebrauch, freier Gebrauch und öffentlicher Gebrauch der Vernunft zur Deckung kommen. Nun führt uns dies allerdings zu einer vierten Frage, die man an diesen Text von Kant zu stellen hat. Man begreift sicher, dass der allgemeine Gebrauch der Vernunft (außerhalb jedes besonderen Zweckes) Sache des Subjekts selbst als Individuum ist; man begreift genauso auch, dass die Freiheit dieses Gebrauchs auf rein negative Weise durch das Fehlen einer jeden gegen es gerichteten Verfolgung gewährleistet sein kann; doch wie lässt sich ein öffentlicher Gebrauch dieser Vernunft gewährleisten? Die Aufklärung darf, wie man sieht, nicht einfach nur als ein allgemeiner, die gesamte Menschheit betreffender Prozess begriffen werden; sie darf nicht nur als eine den Individuen vorgeschriebene Pflicht begriffen werden: Sie tritt jetzt als ein politisches Problem in Erscheinung. Es stellt sich jedenfalls die Frage, wie der Gebrauch der Vernunft die öffentliche Form annehmen kann, die dafür notwendig ist, und wie der Mut zu wissen am helllichten Tage ausgeübt werden kann, wenn die Individuen gleichzeitig so exakt wie eben möglich Gehorsam leisten. Und so schlägt Kant zum Schluss Friedrich II. kaum verhohlen eine Art Vertrag vor. Man könnte
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ihn den Vertrag des rationalen Despotismus mit der freien Vernunft nennen: Der öffentliche und freie Gebrauch der autonomen Vernunft wird die beste Gewährleistung des Gehorsams sein, unter der Bedingung jedoch, dass der politische Grundsatz, dem Gehorsam zu leisten ist, selbst der allgemeinen Vernunft konform ist. Belassen wir es dabei mit diesem Text. Ich bin überhaupt nicht darauf aus, ihn als eine potentiell adäquate Beschreibung der Aufklärung anzusehen; und kein Historiker, denke ich, könnte sich mit ihm zufrieden geben, um die sozialen, politischen und kulturellen Umgestaltungen zu analysieren, die Ende des 18. Jahrhunderts zustande kamen. Dennoch glaube ich, dass man trotz seines Gelegenheitscharakters, und ohne ihm einen überzogenen Platz im Kant’schen Werk geben zu wollen, die Verbindung herausheben muss, die zwischen diesem kurzen Artikel und den drei Kritiken besteht. Er beschreibt nämlich die Aufklärung als den Moment, in dem die Menschheit, ohne sich irgendeiner Autorität zu unterwerfen, von ihrer eigenen Vernunft Gebrauch machen wird; nun ist aber genau in diesem Moment die Kritik vonnöten, weil sie die Rolle hat, die Bedingungen festzulegen, unter denen der Gebrauch der Vernunft rechtmäßig ist, um das zu bestimmen, was man erkennen kann, was man tun muss und was man hoffen darf. Ein unrechtmäßiger Gebrauch lässt zusammen mit der Illusion den Dogmatismus und die Heteronomie entstehen; und umgekehrt kann der rechtmäßige Gebrauch der Vernunft, sowie er in seinen Grundsätzen eindeutig bestimmt worden ist, in seiner Autonomie als gesichert gelten. Die Kritik ist gewissermaßen das Logbuch der in der Aufklärung mündig gewordenen Vernunft, und umgekehrt ist die Aufklärung das Zeitalter der Kritik. Man muss auch, glaube ich, den Bezug zwischen diesem Text von Kant und den anderen der Geschichte gewidmeten Texten unterstreichen. Diese suchen in der Mehrzahl die innere Zweckbestimmtheit der Zeit sowie den Punkt zu bestimmen, auf den die Geschichte der Menschheit hinführt. Nun setzt aber die Analyse der Aufklärung, indem sie diese als den Übergang der Menschheit in ihren Zustand der Mündigkeit bestimmt, die Aktualität im Verhältnis zu jener Gesamtbewegung und ihren Grundrichtungen an. Doch zugleich zeigt sie, wie in diesem aktuellen Moment jeder sich auf eine gewisse Weise verantwortlich für diesen Gesamtprozess erweist. Die Hypothese, die ich vortragen möchte, ist die, dass dieser kleine Text gewissermaßen ein Scharnier zwischen der kritischen Reflexion und der Reflexion über die Geschichte bildet. Es ist eine Reflexion Kants über die Aktualität seines Unternehmens. Es ist sicher nicht das erste Mal, dass ein Philosoph die Gründe angibt, die er hat, sein Werk in diesem oder jenem Moment zu unternehmen. Aber es scheint mir das erste Mal zu sein, dass ein Philosoph auf solch eine Weise, eng und von innen heraus, eine Verbindung zwischen der Bedeutung seines Werkes im Verhältnis zur Erkenntnis, einer Reflexion über die Geschichte und einer eigenständi-
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gen Analyse des einzigartigen Moments, in dem er schreibt und aufgrund dessen er schreibt, herstellt. Die Reflexion über »heute« als Differenz in der Geschichte und als Beweggrund für eine eigenständige philosophische Aufgabe scheint mir das Neuartige an diesem Text zu sein. Und indem ich ihn so betrachte, scheint es mir, als könne man darin einen Ausgangspunkt erkennen: den Aufriss dessen, was man die Haltung der Modernität nennen könnte. Ich weiß, dass häufig von der Moderne als einer Epoche oder jedenfalls als einer Gesamtheit charakteristischer Merkmale einer Epoche gesprochen wird; man ordnet sie auf einem Kalender an, auf dem ihr eine mehr oder weniger naive oder archaische Prämoderne vorausgegangen und eine rätselhafte und beunruhigende »Postmoderne« gefolgt sein soll. Und man fragt sich dann, ob die Moderne die Fortsetzung der Aufklärung und ihre Entwicklung darstellt, oder ob man sie im Verhältnis zu den Grundprinzipien des 18. Jahrhunderts als Bruch oder Abweichung ansehen muss. Mit Bezug auf den Text von Kant frage ich mich, ob man die Moderne nicht eher als eine Haltung denn als eine Geschichtsperiode ansehen kann. Mit Haltung meine ich einen Beziehungsmodus im Hinblick auf die Aktualität; eine freiwillige Wahl, die von einigen getroffen wird, und schließlich eine Art und Weise zu denken und zu fühlen, und auch eine Art und Weise zu handeln und sich zu verhalten, die zugleich eine Zugehörigkeit bezeichnet und sich als eine Aufgabe darstellt. Ein wenig sicherlich wie das, was die Griechen ein ethos nannten. Folglich glaube ich, dass es besser wäre, statt die »moderne Periode« von den »prä-« oder »postmodernen Perioden« unterscheiden zu wollen, zu erforschen, wie die Haltung der Modernität seit ihrer Ausbildung sich im Kampf mit den Haltungen einer »Gegenmoderne« befand. Um diese Haltung einer Modernität kurz zu charakterisieren, werde ich ein Beispiel aufnehmen, das nahezu unumgänglich ist: Es handelt sich um Baudelaire, denn bei ihm kann man allgemein ein besonders geschärftes Bewusstsein der Modernität im 19. Jahrhundert erkennen. 1) Man versucht häufig, die Modernität durch das Bewusstsein von der Diskontinuität der Zeit zu charakterisieren: der Bruch mit der Tradition, das Gefühl des Neuartigen, das Schwindelerregende der Geschehnisse. Und genau das scheint Baudelaire zu sagen, wenn er die Modernität durch »das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige«11 definiert. Doch für ihn heißt modern sein nicht, diese fortwährende [Baudelaire, C., Le Peintre de la vie moderne, in: Œuvres complètes, Paris 1976, Bd. II, S. 695; dt.: Der Maler des modernen Lebens, in: Sämtliche Werke/Briefe, herausgegeben von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost, Bd. 5, München 1989, S. 226.] 11
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Bewegung anzuerkennen und zu akzeptieren; es heißt im Gegenteil, eine bestimmte Haltung gegenüber dieser Bewegung einzunehmen; und diese schwierige willentliche Haltung besteht darin, sich etwas vom Ewigen zu Eigen zu machen, das nicht jenseits des gegenwärtigen Augenblicks noch hinter ihm, sondern in ihm ist. Die Modernität unterscheidet sich von der Mode, die nichts anderes tut als dem Lauf der Zeit zu folgen; sie ist die Haltung, die es ermöglicht, das zu erfassen, was es im gegenwärtigen Moment an »Heroischem« gibt. Die Modernität hat nichts mit einer Empfänglichkeit für die flüchtige Gegenwart zu tun; sie ist ein Wille, die Gegenwart zu »heroisieren«. Ich werde mich damit begnügen zu zitieren, was Baudelaire über das Malen zeitgenössischer Persönlichkeiten sagt. Baudelaire macht sich über jene Maler lustig, die das Erscheinungsbild der Männer des 19. Jahrhunderts allzu hässlich fanden und deshalb nur antike Togen wiedergeben wollten. Dennoch wird für ihn die Modernität der Malerei nicht in der Einführung schwarzer Roben in ein Tafelbild bestehen. Der moderne Maler wird derjenige sein, der diesen düsteren Gehrock als »das notwendige Kleidungsstück für unsere […] Epoche« zeigen wird. Er ist derjenige, der in der Lage sein wird, in dieser Mode des Tages die wesentliche, durchgehende und beharrende Beziehung sichtbar zu machen, die unsere Epoche mit dem Tod unterhält. »… der schwarze Frack und der Gehrock haben nicht nur ihre politische Schönheit, als ein Ausdruck der allgemeinen Gleichheit, sondern auch ihre poetische Schönheit, als Ausdruck der öffentlichen Gemütsverfassung; – ein unabsehbarer Heereszug von Leichenbittern, politischen Leichenbittern, verliebten Leichenbittern, bürgerlichen Leichenbittern. Wir tragen jeder etwas zu Grabe.«12 Um diese Haltung der Modernität zu bezeichnen, macht Baudelaire mitunter von einer Litotes Gebrauch, die sehr bezeichnend ist, weil sie sich in der Gestalt einer Vorschrift darstellt: »Sie haben nicht das Recht, die Gegenwart zu verachten.« 2) Diese Heroisierung ist selbstverständlich ironisch. Es geht in der Haltung der Modernität keineswegs darum, den vorübergehenden Moment zu sakralisieren, um zu versuchen, ihn aufrechtzuerhalten oder ihn zu verewigen. Es geht vor allem nicht darum, ihn wie eine flüchtige und interessante Kuriosität einzusammeln: Das wäre, was Baudelaire als Haltung »Flanerie« nennt. Die Flanerie begnügt sich damit, die Augen offen zu halten, die Aufmerksamkeit schweifen zu lassen und in der Erinnerung eine Sammlung anzulegen. Dem Menschen der Flanerie stellt Baudelaire den Menschen der Modernität gegenüber: »So geht er, läuft er, sucht er. […] Dieser Mann […], dieser mit einer tätigen Einbildungskraft begabte Einsame, der die große Wüste der Menschen unablässig durchwandert, hat ganz gewiss ein höheres Ziel als das eines bloßen Flaneurs, ein noch allgemeineres Ziel als das augenblickliche [»De l’héroisme de la vie moderne«, in: Œuvres complètes, Bd. II, S. 494; dt.: »Der Heroismus des modernen Lebens«, in: Sämtliche Werke/Briefe, Bd. I, München 1977, S. 281.] 12
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Schauvergnügen. Er ist nach etwas auf der Suche, das die Modernität zu nennen man mir erlauben möge; da es nun einmal kein besseres Wort gibt für das, was mir vorschwebt. Für ihn geht es darum, der Mode das abzugewinnen, was sie im Vorübergehenden an Poetischem enthält, aus dem Vergänglichen das Ewige herauszuziehen.« Und als Beispiel für die Moderne führt Baudelaire den Zeichner Constantin Guys an. Dem Anschein nach ein Flaneur und Sammler von Kuriositäten, bleibt er »überall der Letzte […], wo das Licht noch leuchtet, die Poesie noch erklingt, das Leben wimmelt, Musik ertönt; überall, wo eine Leidenschaft sein Auge fesseln kann, überall, wo der natürliche Mensch und der Mensch der Konvention sich in bizarrer Schönheit zeigen, überall, wo die Sonne die raschen Freuden des verderbten Tieres beleuchtet!«13 Aber man darf sich nicht täuschen lassen. Constantin Guys ist kein Flaneur; zum modernen Maler schlechthin macht ihn in den Augen Baudelaires, dass er sich, wenn alle Welt sich zur Ruhe begibt, an die Arbeit macht und sie verklärt. Eine Verklärung, die nicht die Annullierung des Wirklichen, sondern das schwierige Spiel zwischen der Wahrheit des Wirklichen und der Ausübung der Freiheit ist; die »natürlichen« Dinge werden dabei »mehr als natürlich«, die »schönen« Dinge werden dabei »mehr als schön«, und die besonderen Dinge erscheinen »von begeistertem Leben erfüllt wie die Seele ihres Urhebers«.14 Für die Haltung der Modernität ist der hohe Wert der Gegenwart untrennbar vom hartnäckigen Bemühen, ihn bildlich darzustellen, ihn anders bildlich darzustellen, als er ist, und ihn zu verwandeln, nicht, indem man ihn zerstört, sondern indem man ihn in dem, was er ist, erfasst. Die Baudelaire’sche Modernität ist eine Übung, in der die äußerste Aufmerksamkeit für das Wirkliche mit der Praxis einer Freiheit konfrontiert wird, die dieses Wirkliche zugleich achtet und ihm Gewalt antut. 3) Indessen ist für Baudelaire die Modernität nicht einfach nur Form der Beziehung zur Gegenwart: Sie ist auch der Modus einer Beziehung, die man zu sich selbst herstellen muss. Die gewollte Haltung der Modernität ist mit einer unerlässlichen Asketik verbunden. Modern sein heißt nicht, sich selbst zu akzeptieren, so wie man im Fluss der vorübergehenden Momente ist; es heißt, sich selbst zum Gegenstand einer komplexen und strengen Ausarbeitung zu machen: das, was Baudelaire, dem Vokabular der damaligen Zeit entsprechend, »Dandyismus« nennt. Ich werde nicht die Seiten in Erinnerung rufen, die nur zu bekannt sind: die Seiten über die »grobe, irdische, schmutzige« Natur; die Seiten über die unerlässliche Auflehnung des Menschen gegen sich selbst; die Seite über die »Doktrin der Eleganz«, die »ihren ehrgeizigen und demütigen Anhängern« eine despotischere Disziplin auferlegt als die schrecklichsten der Religionen, und zu guter Letzt die Seiten über die Asketik des 13 14
[Baudelaire, C., Le Peintre de la vie moderne, S. 693–694; dt.: S. 224–225.] [Ebd., S. 694; dt.: S. 224–225.]
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Dandys, der aus seinem Körper, aus seinem Verhalten, aus seinen Gefühlen und Leidenschaften, aus seiner Existenz ein Kunstwerk macht. Der moderne Mensch ist für Baudelaire nicht derjenige, der zur Entdeckung seiner selbst, seiner Geheimnisse und seiner verborgenen Wahrheit aufbricht; er ist derjenige, der sich selbst zu erfinden sucht. Diese Modernität befreit nicht den Menschen in seinem eigenen Sein; sie nötigt ihn zu der Aufgabe, sich selbst auszuarbeiten. 4) Zu guter Letzt möchte ich nur noch ein Wort anschließen. Diese ironische Heroisierung der Gegenwart, dieses Spiel der Freiheit mit dem Wirklichen zum Zwecke seiner Verklärung, diese asketische Ausarbeitung seiner selbst begreift Baudelaire nicht so, als könnten sie in der Gesellschaft selbst oder im politischen Körper stattfinden. Sie können nur an einem anderen Ort zustande kommen, den Baudelaire die Kunst nennt. Ich beanspruche nicht, mit diesen wenigen Zügen das komplexe geschichtliche Ereignis, das die Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts war, oder die Haltung der Modernität in den unterschiedlichen Formen, die sie im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte annehmen konnte, zusammenzufassen. Ich wollte zum einen die Verwurzelung einer Art philosophischen Fragens, das zugleich die Beziehung zur Gegenwart, die geschichtliche Seinsweise und die Konstitution seiner selbst als autonomes Subjekt problematisiert, in der Aufklärung hervorheben; ich wollte zum anderen deutlich machen, dass der Faden, der uns auf diese Weise mit der Aufklärung verbinden kann, nicht die Treue zu den Elementen einer Lehre, sondern vielmehr die permanente Reaktivierung einer Haltung ist, das heißt eines philosophischen ethos, das man als permanente Kritik unseres geschichtlichen Seins charakterisieren könnte. Dieses ethos möchte ich ganz kurz charakterisieren. A. Negativ. 1) Dieses ethos impliziert zunächst einmal die Zurückweisung dessen, was ich die »Erpressung« zur Aufklärung nennen möchte. Ich denke, dass die Aufklärung als Gesamtheit politischer, ökonomischer, sozialer, institutioneller und kultureller Ereignisse, von denen wir noch zu einem großen Teil abhängen, einen vorzüglichen Analysebereich darstellt. Ich denke auch, dass sie als Unternehmen, den Fortschritt der Wahrheit und die Geschichte der Freiheit durch ein Band direkter Beziehung zu verbinden, eine philosophische Frage formuliert hat, die uns gestellt bleibt. Ich denke schließlich – ich habe das für den Text von Kant zu zeigen versucht –, dass sie eine bestimmte Art zu philosophieren definiert hat. Doch heißt das nicht, dass man für oder gegen die Aufklärung sein muss. Genau genommen heißt das sogar, dass man all das zurückweisen muss, was sich in Gestalt einer simplifizierten und autoritären Alternative darstellen würde: Entweder Sie akzeptieren die Aufklärung und Sie bleiben in der Tradition ihres Rationalismus (was von manchen als positiv und von anderen dagegen als ein Vorwurf angesehen wird), oder Sie kritisieren die Aufklärung und versuchen daraufhin, diesen Ratio-
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nalitätsprinzipien zu entgehen (was nochmals einmal als gut und einmal als schlecht aufgefasst werden kann). Und aus dieser Erpressung kommt man nicht dadurch heraus, dass man »dialektische« Feinheiten einführt, indem man zu bestimmen sucht, was es an Gutem und an Schlechtem in der Aufklärung hat geben können. Wir müssen versuchen, die Analyse unserer selbst als geschichtlich zu einem gewissen Teil durch die Aufklärung bestimmter Wesen durchzuführen. Was eine Reihe historischer Untersuchungen impliziert, die so genau wie möglich sein müssen: Und diese Untersuchungen werden nicht rückblickend auf den »wesentlichen Rationalitätskern« hin ausgerichtet sein, den man in der Aufklärung vorfinden kann und den man, wie auch immer die Dinge liegen, bewahren sollte; sie werden auf die »aktuellen Grenzen des Notwendigen« hin ausgerichtet sein: das heißt auf das hin, was für die Konstitution unserer selbst als autonome Subjekte nicht oder nicht mehr unerlässlich ist. 2) Diese permanente Kritik unserer selbst muss die stets allzu leichtfertigen Verwechslungen zwischen Humanismus und Aufklärung vermeiden. Man darf niemals vergessen, dass die Aufklärung ein Ereignis oder eine Gesamtheit von Ereignissen und komplexen Geschichtsprozessen ist, die in einem bestimmten Moment der Entwicklung der europäischen Gesellschaften entstanden sind. Diese Gesamtheit enthält Elemente gesellschaftlicher Umgestaltungen, Typen politischer Institutionen, Wissensformen, Projekte zur Rationalisierung der Erkenntnisse und der Praktiken und technologische Veränderungen, die sich nur sehr schwer in einem Wort zusammenfassen lassen, auch wenn viele dieser Phänomene gegenwärtig noch wichtig sind. Dasjenige, das ich herausgehoben habe und das mir die Grundlage einer vollständigen philosophischen Reflexionsform zu sein scheint, betrifft allein den Modus eines reflexiven Verhältnisses zur Gegenwart. Der Humanismus ist etwas ganz anderes: Er ist ein Thema oder eher eine Gesamtheit von Themen, die mehrfach im Laufe der Zeit in den europäischen Gesellschaften wieder hervorgetreten sind; diese stets mit Werturteilen verbundenen Themen haben in ihrem Inhalt sowie in den Werten, an denen sie festgehalten haben, offensichtlich stets sehr variiert. Zudem haben sie als kritisches Differenzierungsprinzip gedient: Es hat einen Humanismus gegeben, der sich als Kritik des Christentums oder der Religion im Allgemeinen darstellte; es hat einen christlichen Humanismus im Gegensatz zu einem asketischen und viel stärker theozentrischen Humanismus gegeben (und zwar im 17. Jahrhundert). Im 19. Jahrhundert hat es einen misstrauisch, feindselig und kritisch zur Wissenschaft eingestellten Humanismus gegeben, und einen anderen, der [im Gegenteil] seine Hoffnung in ebendiese Wissenschaft legte. Der Marxismus ist ein Humanismus gewesen, und ebenso der Existentialismus und der Personalismus; es gab eine Zeit, in der man die humanistischen Werte, repräsentiert vom Nationalsozialismus, hochhielt und in der selbst die Stalinisten behaupteten, sie seien Humanisten.
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Daraus darf man nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass alles das, was sich auf den Humanismus berufen konnte, zu verwerfen ist, sondern dass die humanistische Thematik an sich selbst zu biegsam, zu verschiedenartig und zu unbeständig ist, um der Reflexion als Achse zu dienen. Und es ist eine Tatsache, dass zumindest seit dem 17. Jahrhundert das, was man Humanismus nennt, stets genötigt war, sich auf bestimmte Auffassungen vom Menschen zu stützen, die der Religion, der Wissenschaft und der Politik entlehnt sind. Der Humanismus dient dazu, den Auffassungen vom Menschen, auf die zurückzugreifen er genötigt ist, Farbe und eine Rechtfertigung zu geben. Nun glaube ich allerdings, dass man genau dieser so häufig wiederkehrenden und stets vom Humanismus abhängigen Thematik das Prinzip einer Kritik und einer permanenten Erschaffung unserer selbst in unserer Autonomie entgegensetzen kann: das heißt ein Prinzip, das im Zentrum des geschichtlichen Bewusstseins steht, das die Aufklärung von sich selbst hatte. Von diesem Gesichtspunkt aus würde ich eher eine Spannung zwischen Aufklärung und Humanismus als eine Identität sehen. Jedenfalls erscheint es mir gefährlich, sie zu vermischen, und im Übrigen auch historisch unrichtig. Auch wenn die Frage des Menschen, der menschlichen Gattung und des Humanismus über das gesamte 18. Jahrhundert hinweg wichtig war, hat sich doch, wie ich glaube, die Aufklärung selbst sehr selten für einen Humanismus gehalten. Auch sollte es die Mühe wert sein, darauf einzugehen, dass über das 19. Jahrhundert hinweg die Geschichtsschreibung des Humanismus im 16. Jahrhundert, deren bedeutende Vertreter solche Leute wie Sainte-Beuve oder Burckhardt waren, stets von der Aufklärung und vom 18. Jahrhundert abgehoben und mitunter diesen ausdrücklich entgegengesetzt wurde. Das 19. Jahrhundert hatte zumindest ebenso sehr die Neigung, sie entgegenzusetzen, wie sie zu vermischen. Jedenfalls glaube ich, dass man sich ganz so, wie man sich der intellektuellen und politischen Erpressung, »für oder gegen die Aufklärung zu sein«, entziehen muss, auch der historischen und moralischen Neigung zum Zusammenwerfen entziehen muss, die das Thema des Humanismus und die Frage der Aufklärung vermischt. Eine Analyse ihrer komplexen Beziehungen im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte wäre eine Arbeit, die zu leisten und die wichtig wäre, um das Bewusstsein, das wir von uns selbst und von unserer Vergangenheit haben, ein wenig zu entwirren. B. Positiv. Doch muss man, diese Vorkehrungen berücksichtigend, dem offensichtlich einen positiveren Inhalt geben, was ein philosophisches ethos sein kann, das in einer Kritik dessen besteht, was wir mittels einer historischen Ontologie unserer selbst sagen, denken und tun. 1) Dieses philosophische ethos lässt sich als eine Grenzhaltung charakterisieren. Es handelt sich nicht um ein Verweigerungsverhalten. Man muss der Alternative des Draußen und des Drinnen entkommen; man muss an den Grenzen sein. Die Kritik ist gerade die Analyse der Grenzen und die Reflexion über sie. Doch während
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die Kant’sche Frage die Frage nach den Grenzen war, auf deren Überschreitung die Erkenntnis verzichten muss, scheint es mir, dass die kritische Frage heute in eine positive Frage verkehrt werden muss: Welcher Anteil an dem als universal, notwendig und obligatorisch Gegebenen ist singulär, kontingent und willkürlichen Zwängen geschuldet? Es geht alles in allem darum, die in der Form notwendiger Begrenzung ausgeübte Kritik in eine praktische Kritik in der Form möglicher Überschreitung umzuwandeln. Was offensichtlich zur Folge hat, dass die Kritik nicht mehr in der Suche nach formalen Strukturen von universalem Wert praktiziert wird, sondern als historische Untersuchung, welche die Ereignisse durchläuft, die uns dazu veranlasst haben, uns als Subjekte dessen, was wir tun, denken und sagen, zu konstituieren und zu erkennen. In diesem Sinne ist diese Kritik nicht transzendental und hat nicht zum Ziel, eine Metaphysik möglich zu machen: Sie ist genealogisch in ihrer Finalität und archäologisch in ihrer Methode. Archäologisch – und nicht transzendental – in dem Sinne, dass sie nicht versuchen wird, die allgemeinen Strukturen jeder Erkenntnis oder jeder möglichen moralischen Handlung herauszulösen, sondern die Diskurse zu behandeln, die das, was wir denken, sagen und tun, als gleichermaßen historische Ereignisse zum Ausdruck bringen. Und diese Kritik wird in dem Sinne genealogisch sein, als sie nicht aus der Form dessen, was wir sind, ableiten wird, was uns zu tun oder zu erkennen unmöglich ist; sie wird vielmehr aus der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeit herauslösen, nicht mehr das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken. Sie sucht nicht die am Ende zur Wissenschaft gewordene Metaphysik möglich zu machen; sie sucht die endlose Arbeit der Freiheit so weit und so umfassend wie möglich wieder in Gang zu bringen. 2) Doch damit es sich nicht einfach nur um die Behauptung oder den leeren Traum der Freiheit handelt, muss meines Erachtens diese historisch-kritische Haltung auch eine experimentelle Haltung sein. Ich meine, dass diese an den Grenzen unserer selbst geleistete Arbeit einerseits einen Bereich historischer Untersuchungen eröffnen und sich andererseits an der Realität und der Aktualität erproben muss, und zwar sowohl, um die Stellen zu erfassen, an denen Veränderung möglich und wünschenswert ist, als auch, um die genaue Form zu bestimmen, die dieser Veränderung gegeben werden muss. Folglich muss sich diese historische Ontologie unserer selbst von all jenen Projekten abwenden, die global und radikal sein wollen. In der Tat weiß man aus der Erfahrung, dass die Anmaßung, dem System der Aktualität dadurch entgehen zu wollen, dass man umfassende Programme zu einer anderen Gesellschaft, einer anderen Denkungsart, einer anderen Kultur oder einer anderen Weltanschauung ausgibt, in Wirklichkeit nur zur Fortführung der schädlichsten Traditionen geführt hat. Ich ziehe die sehr gezielten Umgestaltungen vor, die seit zwanzig Jahren in ei-
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ner bestimmten Anzahl von Bereichen stattgefunden haben und die unsere Weisen zu sein und zu denken, die Autoritätsbeziehungen, die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern, die Art und Weise, wie wir den Wahnsinn oder die Krankheit wahrnehmen, betreffen; ich ziehe diese bloß partiellen Umgestaltungen vor, die im Wechselspiel zwischen der historischen Analyse und der praktischen Haltung gegenüber den Verheißungen des neuen Menschen getätigt wurden, die über das 20. Jahrhundert hinweg von den übelsten politischen Systemen immer wieder verkündet wurden. Ich werde folglich das der kritischen Ontologie unserer selbst eigene philosophische ethos als eine historisch-praktische Erprobung der Grenzen, die wir überschreiten können, und damit als Arbeit von uns selbst an uns selbst, insofern wir freie Wesen sind, charakterisieren. 3) Doch dürfte der folgende Einwand mit Sicherheit völlig legitim sein: Läuft man mit der Beschränkung auf derartige stets partielle und lokale Untersuchungen oder Erprobungen nicht Gefahr, sich durch allgemeinste Strukturen bestimmen zu lassen, was das Risiko beinhaltet, dass wir uns ihrer weder bewusst sein noch sie beherrschen können? Darauf zwei Antworten. Es stimmt, dass man auf die Hoffnung verzichten muss, jemals einen Standpunkt zu erreichen, der uns den Zugang zur vollständigen und endgültigen Erkenntnis dessen geben könnte, was unsere historischen Grenzen auszumachen vermag. Und von diesem Standpunkt aus ist die theoretische und praktische Erfahrung, die wir von unseren Grenzen und ihrer möglichen Überschreitung erhalten, selbst stets begrenzt, festgelegt und muss folglich neu gestartet werden. Doch dies heißt nicht, dass jede Arbeit nur in der Unordnung und der Kontingenz durchgeführt werden kann. Diese Arbeit hat ihre Allgemeinheit, ihre Systematizität, ihre Homogenität und ihren Einsatz. Ihr Einsatz. Er wird durch das angezeigt, was man »das Paradox (der Verhältnisse) zwischen Fähigkeit und Macht« nennen könnte. Man weiß, dass die große Verheißung oder die große Hoffnung des 18. Jahrhunderts oder eines Teils des 18. Jahrhunderts im gleichzeitigen und proportionalen Anwachsen der technischen Fähigkeit, auf die Dinge einzuwirken, und der Freiheit der Individuen im Verhältnis zueinander bestand. Im Übrigen kann man sehen, dass durch die gesamte Geschichte der abendländischen Gesellschaften (darin findet sich vielleicht die Wurzel ihres einzigartigen – so besonderen, in ihrem Verlaufsweg [von den anderen] so verschiedenen und so universalisierenden, im Verhältnis zu den anderen dominierenden – historischen Geschicks) der Erwerb der Fähigkeiten und der Kampf um die Freiheit die durchgängigen Elemente dargestellt haben. Nun sind aber die Beziehungen zwischen dem Anwachsen der Fähigkeiten und dem Anwachsen der Autonomie nicht so einfach, wie das 18. Jahrhundert das glauben konnte. Man hat sehen können, welche Formen von Machtbeziehungen durch verschiedenartige
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Technologien (ob nun Produktionen zu ökonomischen Zwecken, Einrichtungen zum Zweck sozialer Regulierungen oder Kommunikationstechniken) befördert wurden: Die sowohl kollektiven als auch individuellen Disziplinen und die Normierungsverfahren, ausgeübt im Namen der Macht des Staates, der Erfordernisse der Gesellschaft oder der Regionen der Bevölkerung, sind Beispiele dafür. Es geht somit um den folgenden Einsatz: Wie lassen sich das Anwachsen der Fähigkeiten und die Intensivierung der Machtbeziehungen entkoppeln? Homogenität. Was zur Untersuchung dessen führt, was man die »praktischen Gesamtheiten« nennen könnte. Es handelt sich darum, dass man zum homogenen Referenzbereich nicht die Vorstellungen nimmt, die die Menschen von sich selbst haben, und auch nicht die Bedingungen, die sie bestimmen, ohne dass sie es wissen. Sondern das, was sie tun, und die Art und Weise, wie sie es tun. Das heißt die Rationalitätsformen, die die Weisen des Tuns organisieren (das, was man ihren technologischen Aspekt nennen könnte), und die Freiheit, mit der sie in diesen praktischen Systemen handeln und dabei auf das reagieren, was die anderen tun, und bis zu einem gewissen Punkt die Regeln des Spiels modifizieren (das, was man die strategische Seite dieser Praktiken nennen könnte). Die Homogenität dieser historisch-kritischen Analysen wird folglich durch diesen Bereich der Praktiken mit ihrer technologischen Seite und ihrer strategischen Seite gesichert. Systematizität. Diese praktischen Gesamtheiten gehören drei großen Bereichen an: dem der Herrschaftsbeziehungen über die Dinge, dem der Handlungsbeziehungen zu den anderen und dem der Beziehungen zu sich selbst. Dies heißt nicht, dass es sich dabei um drei einander völlig fremde Bereiche handelt. Man weiß natürlich, dass die Herrschaft über die Dinge über die Beziehung zu den anderen erfolgt; und dies impliziert immer auch Beziehungen zu sich, und umgekehrt. Vielmehr handelt es sich um drei Achsen, deren spezifischer Charakter und deren Verbindung zu analysieren ist: die Achse des Wissens, die Achse der Macht und die Achse der Ethik. Mit anderen Worten, die historische Ontologie unserer selbst hat auf eine offene Reihe von Fragen zu antworten; sie hat es mit einer unbestimmten Anzahl von Untersuchungen zu tun, die man, so sehr man nur will, vervielfältigen und verfeinern kann; doch sie alle entsprechen folgender Systematisierung: Wie sind wir als Subjekte unseres Wissens konstituiert worden; wie sind wir als Subjekte konstituiert worden, die Machtbeziehungen ausüben oder erleiden; wie sind wir als moralische Subjekte unserer Handlungen konstituiert worden. Allgemeinheit. Schließlich haben diese historisch-kritischen Untersuchungen in dem Sinne einen ganz besonderen Charakter, dass sie sich stets auf ein Material, eine Epoche, ein Korpus an Praktiken und bestimmten Diskursen beziehen. Doch zumindest auf der Stufe der westlichen Gesellschaften, von denen wir ausgehen, haben sie ihre Allgemeinheit: in dem Sinne, dass sie bis hin zu uns immer wieder aufgetaucht sind; etwa das Problem der Beziehungen zwischen Vernunft und Wahn-
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sinn oder Krankheit und Gesundheit oder Verbrechen und Gesetz; das Problem des Raums, den man den Sexualbeziehungen einzuräumen hat; usw. Doch spreche ich diese Allgemeinheit nicht an, um zu sagen, dass man sie in ihrer metahistorischen Kontinuität durch die Zeit hindurch nachzeichnen, und auch nicht, dass man ihren Variationen nachgehen muss. Es gilt herauszubekommen, in welchem Maße das, was wir davon wissen, die Formen der Macht, die darin zur Ausübung kommen, und die Erfahrung, die wir von uns selbst machen, nur historische Gestalten bilden, die durch eine gewisse Form einer Problematisierung bestimmt werden, welche Gegenstände, Handlungsregeln und Selbstbeziehungsmodi definiert. Die Untersuchung der Problematisierungen (ihrer Modi, das heißt von dem, was weder anthropologische Konstante noch chronologische Variation ist) ist also die Art und Weise, wie man Fragen von allgemeiner Bedeutung in ihrer historisch einzigartigen Form analysiert. Ein Wort als Resümee, um zum Schluss zu kommen und zu Kant zurückzukehren. Ich weiß nicht, ob wir jemals mündig werden. Viele Dinge in unserer Erfahrung überzeugen uns, dass das historische Ereignis der Aufklärung uns nicht mündig gemacht hat, und dass wir es noch nicht sind. Dennoch scheint mir, dass man dieser kritischen Frage nach der Gegenwart und nach uns selbst, die Kant in seiner Reflexion über die Aufklärung formuliert hat, einen Sinn geben kann. Mir scheint, dass das sogar eine Art zu philosophieren ist, die seit den letzten zwei Jahrhunderten nicht ohne Bedeutung und auch nicht ohne Wirkung war. Die kritische Ontologie unserer selbst darf man sicher nicht als eine Theorie, eine Lehre und noch nicht einmal als ein durchgängiges, in Akkumulation begriffenes Wissenskorpus ansehen; man muss sie als eine Haltung, als ein ethos, als ein philosophisches Leben begreifen, bei dem die Kritik dessen, was wir sind, zugleich historische Analyse der uns gesetzten Grenzen und Probe auf ihre mögliche Überschreitung ist. Diese philosophische Haltung muss in einer Arbeit verschiedenartiger Untersuchungen zum Ausdruck kommen; diese haben ihre methodologische Kohärenz in der sowohl archäologischen als auch genealogischen Untersuchung von Praktiken, die gleichzeitig als technologischer Rationalitätstypus und als strategische Spiele der Freiheiten in den Blick genommen werden; sie haben ihre theoretische Kohärenz in der Definition der historisch einzigartigen Formen, in welchen die Allgemeinheiten unserer Beziehung zu den Dingen, zu den anderen und zu uns selbst problematisiert wurden. Sie haben ihre praktische Kohärenz in dem darauf verwandten Bemühen, die historisch-kritische Reflexion an konkreten Praktiken zu erproben. Ich weiß nicht, ob man heute behaupten muss, dass die kritische Arbeit noch den Glauben an die Aufklärung impliziert; sie benötigt, denke ich, stets die Arbeit entlang unseren Grenzen, das heißt eine geduldige Arbeit, die der Ungeduld der Freiheit Gestalt gibt.
HERBERT SCHNÄDELBACH
Plädoyer für eine kritische Kulturphilosophie ›Gesellschaft‹ ist veraltet, ›Kultur‹ wieder modern Schon als Adorno seinen kulturkritischen Essay über die Kulturkritik schrieb – im Jahre 1949 –, war das Wort ›Kulturkritik‹ dabei, zu veralten. Heute ist es gänzlich altmodisch geworden, denn es ruft Erinnerungen an Spenglers Untergang des Abendlandes, Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen oder Ortega y Gassets Aufstand der Massen hervor. Kulturkritik – das war in den zwanziger und dreißiger Jahren ein breiter Strom besorgten Räsonnements über die Mechanisierung und Technisierung, Vermassung und Entindividualisierung, Kommerzialisierung und Bürokratisierung des Lebens in der industriellen Zivilisation, wobei in der Regel eine Vorstellung »wahrer« Kultur als Kontrastfolie diente. Es waren vor allem linke Intellektuelle, die sich schon damals über diesen Kulturbegriff lustig machten: über die »ewigen Werte«, die unsterblichen »Kulturgüter« und den Kult bürgerlicher Innerlichkeit, die damit beschworen wurden. Nach 1945 war diese Sicht gründlich diskreditiert, denn alle Kultur hatte Hitler und Auschwitz nicht verhindert. Noch in der Negativen Dialektik heißt es: »Alle Kulturen nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll. Indem sie sich restaurierte nach dem, was in ihrer Landschaft ohne Widerstand sich zutrug, ist sie gänzlich zur Ideologie geworden … Wer für Erhaltung der radikal schuldigen und schäbigen Kultur plädiert, macht sich zum Helfershelfer, während, wer der Kultur sich verweigert, unmittelbar die Barbarei befördert, als welche Kultur sich enthüllte … Kulturkritik und Barbarei sind nicht ohne Einverständnis« [Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt a.M. 1966, S. 357 f. und 359]. So hatte das Wort ›Kultur‹ in den ersten Nachkriegsjahren einen ideologischen Klang; es roch nach Restauration, nach Nichts-gelernt-Haben. Statt dessen verbreitete sich die Rede von ›Gesellschaft‹, ja dieser Ausdruck wurde geradezu zum Erkennungszeichen des modernen linken Intellektuellen. Die Aversion der deutschen Konservativen gegen alles, was mit ›sozial-‹ beginnt, die bis auf Heinrich von Treitschkes Denunziation der Soziologie als sozialistisch zurückgeht, bot hier eine willkommene Profilierungschance; diesen Leuten überließ man die Kultur gern und wandte sich der Gesellschaft zu, wobei man sich weniger von der angelsächsisch dominierten Soziologie als von der kritischen Gesellschaftstheorie des Neomarxismus inspirieren ließ. So kann ich mich selbst noch genau an den Aha-Effekt erinnern, den für uns Frankfurter der fünfziger Jahre die Einsicht hatte, daß eben alles »gesellschaftlich vermittelt« sei.
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Daß wir heute darüber lächeln, zeigt an, daß sich der Wind des Zeitgeistes erneut gedreht hat: heute ist ›Gesellschaft‹ altmodisch und ›Kultur‹ wieder modern. Die Dezentrierung des Gesellschaftsbegriffs hat mit dem Vakuum zu tun, das das Nachlassen der Überzeugungskraft marxistischer Theorieprogramme im allgemeinen Bewußtsein hinterlassen hat. Fast scheint es gar keine Gesellschaftstheorie mehr zu geben; manchen erscheinen Habermas und Luhmann wie wissenschaftsgeschichtliche Fossilien, die sich von der Soziologie längst verabschiedet haben. Das Wort ›Kultur‹ hingegen kann man heute wieder in den Mund nehmen, ohne in den Verdacht des Konservatismus oder des Ideologischen schlechthin zu geraten; es ist in durch Verwissenschaftlichung gereinigter Gestalt in unseren Diskurs zurückgekehrt. Die Gründe liegen in der postmarxistischen Rezeption der amerikanischen cultural anthropology ebenso wie in den Wirkungen des französischen Strukturalismus und Neostrukturalismus. So signalisiert der Ausdruck ›Kultur‹ nicht mehr das Höhere der gebildeten Stände – Streichquartett, Rilke und den Kunstverein –, sondern den »ethnologischen Blick« aufs Fremde und Eigene.
Die Ausdrücke ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹ sind austauschbar geworden. Diese Rückkehr des Begriffs ist aber keine Wiederkehr des Gleichen; man kann dies der Tatsache entnehmen, daß in unserem Sprachgebrauch der Kultur nicht mehr wie ehedem die Zivilisation entgegengesetzt wird. Wenn wir die Ausdrücke ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹ auch einfach austauschen können – und dabei vielleicht Norbert Elias folgen –, so legen wir keinen Wert mehr auf den Wertgegensatz, auf den sie einmal festgelegt waren. Die wissenschaftliche Rede über Kultur ist wertfrei. Das war sie ehedem keineswegs – auch bei Adorno nicht –, ja die Kulturkritik insgesamt hatte ja von der Frage nach ›Sinn und Wert‹ der Kultur gelebt; sie als ›Müll‹ zu bezeichnen, war sicher eine Ohrfeige für die Kulturbeflissenen, aber in Kontexten einer wertfreien Rede von Kultur, Kulturen und Subkulturen machte dies wenig Sinn. Hier stellt sich die Frage, ob der verwissenschaftlichte Kulturbegriff überhaupt mit Kulturkritik in Verbindung zu bringen ist; er sendet keine kulturpolitischen Signale mehr aus wie damals, als man am Wortgebrauch den Konservativen erkannte, und so reden wir heute vom »Kulturkonservatismus«, um deutlich zu sein. Auch die Reichweite des Kulturbegriffes hat sich verändert. Für Adorno und die Linke insgesamt war die Kultur ›Überbau‹, d. h. ein Teil der Gesellschaft, der sich fälschlicherweise für das Ganze hält. Die kulturkonservative Opposition ›KulturZivilisation‹ stellte ebenfalls die Kultur als einen Teilbereich dar – aber wovon sind Kultur und Zivilisation Teilbereiche? Hier liegt es uns nahe zu antworten: Teil der Gesamtkultur, wobei wir dann mit ›Kultur‹ den Inbegriff menschlicher und von Menschen gemachter Lebensverhältnisse meinen, der nicht Natur ist. So operieren
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wir in der Regel mit zwei Kulturbegriffen und fassen die Kultur im engeren Sinn als Teilbereich oder Teilsystem der Kultur im weiteren Sinne auf. Kultur im engeren Sinne – das ist das, wofür wir in Hamburg den Kultursenator haben, was Ländersache ist und wofür es nirgends genug Geld gibt. Dann aber sprechen wir auch von Kulturen, die wir irgendwo in der Mitte zwischen dem Biotop des Menschen auf diesem Planeten und dem Ressort der Kultusverwaltung ansiedeln; wir sind offenbar der Überzeugung, daß Kultur überhaupt nur in verschiedenen Kulturen existiert: in der westlichen, chinesischen oder Hopi-Variante usf. An dieser Stelle beginnen die Fragen nach der Einheit der Kultur, nach kulturellen Universalien und den unerwünschten Nebenfolgen des Kulturrelativismus; wer hier Einheits- und Allgemeinheitsgedanken zu verteidigen wagt, gerät unweigerlich in den Verdacht des westlich-imperialistischen Ethnozentrismus. Es ist erstaunlich, daß solcher Pluralismus genau in dem Maße wächst, in dem sich die Weltkultur auf planetarische Vernetzung und Uniformierung zubewegt.
Kultur ohne Kulturkritik? Solche Bereichsunterscheidungen für den Kulturbegriff führen auf die Frage nach dem Ort der Kulturkritik. Geht man von Adorno aus, so könnte man meinen, Kulturkritik sei eine Angelegenheit des ›Überbaus‹, d. h. der aporetische Versuch einer Selbstkritik des Teilbereichs ›Kultur‹, die nur vor dem Hintergrund einer kritischen Theorie des gesellschaftlichen Ganzen Sinn mache. In genauer Analogie zur Marxschen Religionskritik, die die Tatsache der Selbstentfremdung des Menschen in der Religion nicht dieser selbst anlastet, sondern den gesellschaftlichen Verhältnissen, die Religion erforderlich machen, greift hier die Kritik der Kulturkritik über den kulturellen Bereich im engeren Sinn hinaus und deutet die Tatsache der Kulturkritik als Index der Kritikwürdigkeit des Gesamtzusammenhanges, in dem Kulturkritik stattfindet. Dieser Angriff auf die Totalität, die Adorno ›Gesellschaft‹ nennt, und wofür wir heute den verwissenschaftlichten und wertfreien Kulturbegriff einsetzen, war niemals ein »linkes« Monopol, sondern nur die marxistische Deutung jener Totalität als einer antagonistischen Klassengesellschaft. Nachdem solche Deutungen angesichts der unübersehbaren Vielfalt kultureller Lebensformen ihre Überzeugungskraft verloren haben, stellt sich uns die Frage, ob sich auch unabhängig von Marxschen Inspirationen ein innerer Zusammenhang zwischen Kultur und Kulturkritik herstellen läßt: Kann es kritikfreie Kultur geben? Wie läßt sich die Intuition verteidigen, daß Kultur ohne Kulturkritik genau die Barbarei wäre, gegen die sie sich ständig abzugrenzen versucht? Obwohl sich diese Frage sicher nicht auf der begrifflichen Ebene entscheiden läßt, ist doch daran zu erinnern, daß Kritik ja nicht – wie die Kulturkonservativen fürch-
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ten – einfach dasselbe ist wie Ablehnen, Schlechtmachen, Negieren, sondern dem Wortsinn nach ›Unterscheiden‹ meint und damit ein Beurteilen anhand ausweisbarer Kriterien. Der Marxsche Kritikbegriff und auch der der älteren kritischen Theorie weist demgegenüber eine erhebliche negativistische Zuspitzung auf, die sich nur so lange verteidigen läßt, wie die kritisierende Theorie Grund hat, sich als Teil eines realhistorischen Emanzipationsprozesses zu verstehen. Bei Marx erscheint die Kritik als Vollstreckung eines Todesurteils, das die Geschichte längst über das Kritisierte verhängt hat. Mit dem Abschied vom Marxismus mußten auch die radikalsten Kulturkritiker zum moderaten Wortsinn von ›Kritik‹ zurückkehren und überdies anerkennen, daß das Beurteilen des Kulturellen gemäß ausweisbarer Kriterien nur in der kritisierten Kultur selbst stattfinden kann; eine andere kulturelle Basis der Kulturkritik steht nicht zur Verfügung. Nicht jede Kultur ist notwendig kulturkritisch. Jahrtausendelang lebten die Menschen in der Kultur – und viele tun es heute noch – ohne Kulturkritik. Vor der Kultur waren sie wohl noch keine Menschen, aber zu Menschen wurden sie nicht erst durch die Erfindung der Kulturkritik. Erst als sie ihre Lebenswelt von der Natur unterscheiden lernten, konnten sie sie als Kultur zum Thema machen und sich dann kritisch darauf beziehen. (Wer kritisiert schon die Natur?) Offenbar gewannen die Menschen durch jene Unterscheidung auch erst eine Vorstellung von der Natürlichkeit der Natur, von der sie das ›Kultürliche‹ abheben konnten. So kann man die These wagen, daß nur in Kulturen, die sich – wenn auch nur in Umrissen – einen Begriff von sich als Kultur machen und in diesem Sinn reflexiv geworden sind, ein innerer, d. h. nicht bloß zufälliger Zusammenhang zwischen Kultur und Kulturkritik besteht. Vorformen dieses Reflexivwerdens finden wir im Mythos: etwa in der Geschichte vom Sündenfall, derzufolge es Kultur im Paradies nicht gibt, sondern die ist »Mühe und Arbeit« als Strafe für die Sünde. Explizit reflexiv wird in unserer Tradition die Kultur erst in der sophistischen Aufklärung im Griechenland des 5. vorchristlichen Jahrhunderts; den Kulturkonservativen von damals mußte sie als gefährlich und zersetzend erscheinen, weil sie ständig die tradierten kulturellen Selbstverständlichkeiten daraufhin befragte, ob sie wirklich von Natur oder nicht doch vom Menschen gemacht seien. Das Gefährliche lag in dem Legitimationsentzug, der vor dem Hintergrund einer Naturreligion dem vermeintlich Natürlichen der Tradition durch solche Nachweise droht; was nicht natürlich ist, gerät prinzipiell in den Bereich menschlicher Verfügung und ist dann nicht mehr sakrosankt.
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Kulturkritik ist immer zugleich auch Kritik der Kulturkritik So ist die Kulturkritik der unvermeidliche und unabschließbare Begleitdiskurs des Lebens in reflexiv gewordenen Kulturen. Der Kulturkonservative beansprucht, das dem Bestand der Kultur Zuträgliche vom Abträglichen unterscheiden zu können, und indem er mit dieser Vorgabe gegen die Kulturkritik zu Felde zieht, kritisiert er in ihr eben ein kulturelles Phänomen; auch er ist Kulturkritiker, nur mit anderen normativen Leitvorstellungen als der Kulturkritiker, den er angreift. Der Naturalist hingegen möchte die Differenz zwischen Natur und Kultur durch eine Interpretation der Kultur als Natur aufheben, muß sie also zumindest voraussetzen; er kritisiert das kulturalistische Selbstmißverständnis der Kultur und ist insofern ebenfalls Kulturkritiker, kann aber auch durch die durchschlagendste naturalistische Interpretation die als Natur interpretierte Kultur nicht in bloße Natur zurückverwandeln, weil zumindest diese Interpretation selbst nicht bloße Natur sein kann. Die Crux der Sache ist, daß – wie die Beispiele des Konservatismus und Naturalismus zeigen – in reflexiv gewordenen Kulturen die Kriterien und Maßstäbe der Kulturkritik immer mit zur Debatte stehen, woraus folgt: die Kulturkritik ist immer auch und zugleich Kritik der Kulturkritik. Auf diese Weise setzt sich die Reflexivität von Kulturen, die Kulturkritik hervorbringt, in der Kulturkritik selbst fort. Auch prämoderne Kulturen kennen Kulturkritik – man denke an die alttestamentlichen Propheten, an Laotse oder Buddha; deswegen macht die Tatsache der Reflexivität noch nicht die Modernität von Kulturen aus. Modern sind Kulturen erst dann, wenn sich die Kulturkritik in ihnen nicht mehr an mythischen, religiösen oder transzendenten Autoritäten orientiert, sondern das Bewußtsein davon gewonnen hat, daß die Kriterien und Maßstäbe, denen sie folgt, im kulturkritischen Diskurs selbst gerechtfertigt werden müssen. Moderne Kulturkritik ist vollständig reflexiv; dadurch unterscheidet sie sich von ihren prämodernen Vorformen. Wie alle Kulturkritik ist auch sie ein Teil der »Mühe und Arbeit«, die die Kultur als das Unwahrscheinliche und Nichtselbstverständliche auch in der Moderne nun einmal kostet. Sie ist nicht die Kulturzerstörung, als die sie die Konservativen gern denunzieren, sondern dies wäre das gewaltsame Stillstehen von Kulturkritik, das alle totalitären Systeme versuchen; das Ende der Kulturkritik wäre nicht die Versöhnung, sondern die Barbarei. Die Faszination des Totalitären hat etwas zu tun mit der Verheißung, uns endlich und auf einen Streich von der »Mühe und Arbeit« zu befreien, die Leben in modernen Kulturen nun einmal kostet, d. h. uns von der Kulturkritik zu erlösen. Wir können uns nur dadurch zur Modernität bekennen, daß wir solche »Entlastungen« zurückweisen. So ist es letztlich kein rein objektiver Tatbestand, sondern unser eigenes kulturelles Selbstverständnis, das uns den inneren Zusammenhang zwischen Kultur und Kulturkritik als unauflösbar erscheinen läßt.
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Grundlinien klassischer Kulturkritik Die Grundlinien klassischer Kulturkritik lassen sich am besten mit Hilfe dreier Begriffspaare nachzeichnen: Kultur und Natur, Kultur und Zivilisation, Kultur und Leben. Das erste Begriffspaar steht für die Idee, in der Kulturkritik auf kulturexterne Gesichtspunkte und Instanzen zurückzugreifen, während das zweite Begriffspaar die Strategien von Kulturkritik repräsentieren soll, die an dieser Stelle kulturinterne Unterscheidungen ins Spiel bringen. Das dritte Begriffspaar schließlich verweist den Zusammenhang von Kultur und Kulturkritik an eine beide umfassende Totalität im Hintergrund – eben das »Leben« –, und es war die Grundüberzeugung der Lebensphilosophie, die den kulturkritischen Diskurs in unserem Jahrhundert maßgeblich bestimmte, daß nur so eine zugleich tragfähige und kritische Kulturphilosophie möglich sei; ihr »Stammvater« ist Nietzsche.
Kultur und Natur Sich kritisch gegen die Kultur zu wenden und sich dabei auf die Natur zu berufen – das ist uns auch aus unserer Gegenwart vertraut. Wer dächte hier nicht an die Grünen aller Schattierungen, an die Öko-Bewegung und an die Alternativen, die die falschen Bedürfnisse im Namen der wahren, »natürlichen« kritisieren und ihnen gemäß zu leben versuchen. Was sich hier als friedlich und freundlich präsentiert, kann in anderen Zusammenhängen ein ganz anderes Gesicht zeigen. Auch der Sozialdarwinismus, der nur dem Stärkeren ein Lebensrecht zuspricht, beruft sich auf die Natur, vom Nationalsozialismus ganz zu schweigen, der die Weltgeschichte als einen gigantischen Rassenkampf ansah. Warum sollten die Männer nicht den Frauen die Gleichstellung verweigern mit dem Argument, sie seien von Natur die Stärkeren? Was spricht eigentlich dagegen, Schwerbehinderte und Todkranke dem Tod zu überlassen, hätten sie doch unter natürlichen Bedingungen ohnehin keine Chance? Wenn wir Gene manipulieren, tun wir nichts anderes als das, was die Natur in langen Zeiträumen auch tut; also: was ist dagegen einzuwenden? Man sieht: »die« Natur ist ein problematischer Kronzeuge im Prozeß gegen die Kultur. Alle kritischen Berufungen auf sie machen immer zwei Voraussetzungen: daß sie einmal unabhängig sei von der Kultur als dem zu Kritisierenden und daß sie zum anderen einen Maßstab des Richtigen und Falschen abgebe. In der ersten Prämisse steckt immer noch das Erbe des griechischen Wortes phýsis, das das unabhängig vom Menschen Wachsende, Entstehende und Vergehende und deswegen seiner Verfügung Entzogene meint. Die zweite Prämisse, daß der Naturbegriff normativ gehaltvoll sei, war bei den Griechen von allem Anfang an mit der ersten verbunden, denn der Hintergrund ihrer Naturreligion sorgte dafür, daß das Natürliche, »Physische« immer zu-
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gleich als das Wohlgeordnete (kósmos), Gute und Heile angesehen wurde. In vielen Varianten haben seitdem Philosophen die Kultur im Namen der Natur kritisiert. Die Kyniker, von denen vor allem Diogenes im Faß berühmt ist, praktizierten »natürliches« Leben zum Entsetzen der Zeitgenossen; sie waren die Hippies des Altertums. Der höchste Grundsatz der Stoa war »Gemäß der Natur leben!«, und ihr verdanken wir die Idee des Naturrechts, auf die sich seitdem zahllose Menschen im Widerstand gegen die bloße Macht berufen haben. Noch die als »rationalistisch« verschriene Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts ruft die Natur als die höchste Instanz an und nicht die Vernunft, die selbst zur natürlichen Ausstattung des Menschen gehört; ›Natur‹ wird hier meist als ›innere‹ Natur, als das ›natürliche Wesen‹ des Menschen verstanden, d. h. als der Inbegriff seiner Triebe, Bedürfnisse, Interessen und Fähigkeiten. Die naturwissenschaftliche Objektivierung der äußeren Natur ist damals schon so weit fortgeschritten, daß sich in kulturkritischen Kontexten – und die Aufklärungsphilosophie ist Bestandteil einer breiten kulturrevolutionären Bewegung – niemand mehr auf die Physiker beruft. Gleichwohl hat der schreckliche Naturalismus unseres Jahrhunderts, von dem schon die Rede war, auch Wurzeln, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen.
Eine tiefgreifende Ambivalenz Die neuzeitliche naturalistische Kulturkritik beruft sich also vor allem auf die Natur des Menschen, die sie nach antikem Vorbild als etwas der menschlichen Verfügung Entzogenes und zugleich normativ Verbindliches versteht. Dabei fällt von vornherein eine tiefgreifende Ambivalenz auf. Die Naturrechtstheorien, die einen kritischen Maßstab für die Beurteilung positiv-rechtlicher Machtverhältnisse formulieren wollen, beschreiben den »natürlichen« Menschen als den Menschen im Naturzustand; was der Mensch dort ist, soll das Kriterium des Menschlichen sein. Gleichzeitig aber beschreiben diese Theorien den Naturzustand als etwas, was die Menschen verlassen müssen, um Kultur hervorzubringen und sich selbst zu entwickeln und zu kultivieren. Damit greift die Ambivalenz auf die Kultur selbst über, denn die erscheint gleichzeitig als dasjenige, was Kritik verdient und wogegen man die Natur beschwört, und als das Erstrebenswerte und Wertvolle, um dessentwillen die Menschen den Naturzustand verlassen. So wird in der Aufklärung die Kultur im Namen der Kultur kritisiert, aber um der Kultur willen, wie umgekehrt die Natur in einem als das Maßstäbliche und das zu Verlassende erscheint. Es ist zu vermuten, daß diese Ambivalenz des Naturbegriffs nichts Ursprüngliches ist, sondern die Projektion der Ambivalenz der Kultur selber in die Natur, denn es ist die Ambivalenz der Kultur, die die Unauflöslichkeit von Kultur und Kulturkritik stiftet und den Hintergrund bildet, vor dem die Natur kulturkritisch beschwo-
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ren wird. Es ist die philosophische Leistung Rousseaus, für diese Paradoxie ein theoretisches Modell gefunden zu haben, das ihr den Anschein des Widersinnigen nimmt; Kultur und Kulturkritik vereinigt er in der Gedankenfigur »Entfremdung«. Ihr zufolge haben die Menschen, als sie den Naturzustand verließen, ihre wahre Natur nicht verloren, sondern sie haben sich ihr nur entfremdet, sind ihr fremd geworden; dies ist jedoch zugleich die notwendige Voraussetzung für die Entfaltung der Menschlichkeit des Menschen in der Kultur, die gleichwohl normativ stets an seine Natürlichkeit zurückgebunden bleibt. Das Entfremdungsmodell gestattet es somit, Einheit und Differenz zwischen Natur und Kultur des Menschen in einer evolutionären Perspektive zusammenzudenken. Ein kynisches, sozialdarwinistisches oder rassistisches »Zurück zur Natur!« wäre mit Rousseau unvereinbar, und doch wird ihm dieser Slogan immer wieder fälschlicherweise zugeschrieben. Aber auch der Hurra-Optimismus der Fortschrittsgläubigen, die sich über jeden neugewonnenen Abstand von der Natur freuen, hat mit Rousseau nichts zu tun, denn er ist ja zugleich der erste moderne Kultur- und Fortschrittskritiker, der der Aufklärung die Gegenrechnung aufmacht und ihre Kosten anmahnt. Das Entfremdungstheorem ist somit die Grundlage für eine aufgeklärte Kritik der Aufklärung selber. Solcher »Dialektik der Aufklärung« verdankt Rousseau seine unbeschreibliche Wirkung, die bis heute unvermindert anhält.
Das Ende des Naturalismus in der Kulturkritik Kant sagt von Rousseau, er habe ihn »zurecht gebracht«. In seinen sogenannten »kleinen« Schriften folgt er Rousseau sehr genau, wenn er den »mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte« beschreibt und die »Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« entwirft. Die Differenzen treten dort auf, wo es um die Bestimmung und Einschätzung der natürlichen Ausstattung des Menschen geht. Die hatte Rousseau wie folgt beschrieben: Der natürliche Mensch verfügt über natürliche Selbstliebe und Mitgefühl mit seinesgleichen ebenso, wie er frei und »perfektibel« ist. Kant sieht nun, daß die Berufung auf natürliche Tatsachen im Menschen unvereinbar ist mit der These der Willensfreiheit, denn Willensfreiheit heißt, daß der Mensch seinen natürlichen Regungen folgen kann oder auch nicht. Der »Stimme der Natur« kann der Mensch gehorchen, wenn er will; aber er kann sich ihr auch widersetzen, und darum hat er alles, was in der Kultur im argen liegt, selbst zu verantworten. Der Kulturkritiker kann somit nicht der Natur die Schuld geben, aber er kann sich Kant zufolge auch nicht auf die Natur berufen, weil es in der Macht des nichtnatürlichen, freien Willens des Menschen liegt, welche Autorität er anerkennt und welche Normen gelten sollen. Die moralphilosophische These Kants, daß nichts in der Welt sei, was uneingeschränkt gut genannt werden könne, als ein guter
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Wille, bedeutet das Ende des Naturalismus auch in der Kulturkritik. Die Willensfreiheit macht die Emanzipation des Menschen von der Natur vollständig; wenn wir sie zugrunde legen – wofür nach Kant die Tatsache der Moralität spricht – wird das Verhältnis von Kultur und Kulturkritik zu einer rein kulturinternen Angelegenheit. Kant gibt damit das Entfremdungsmodell Rousseaus nicht auf, sondern deutet es nur kulturalistisch um, so daß es nicht die Fremdheit zwischen menschlicher Natur und Kultur betrifft, sondern die Fremdheit des Menschen in der Kultur, was konfliktträchtige Distanz der Menschen untereinander und gegenüber ihren eigenen kulturellen Normen einschließt.
Kultur und Zivilisation Daß im Übergang von Rousseau zu Kant das Verhältnis von Kultur und Kulturkritik zu einem vollständig kulturinternen Verhältnis wird, bedeutet den Übergang zur vollständigen Reflexivität der Kultur und damit in die vollendete Modernität. Ist die Natur als kulturkritische Appellationsinstanz neutralisiert, stellt sich die Frage, woran man jetzt noch appellieren kann, wenn doch die Kulturkritik den Umkreis der zu kritisierenden Kultur nicht mehr verlassen kann. An dieser Stelle fällt das Stichwort ›Kultur und Zivilisation‹. Es eröffnet die Möglichkeit, Kultur mit kulturellen Mitteln zu kritisieren, und zwar dadurch, daß ein Sektor der Gesamtkultur positiv ausgezeichnet und dann normativ gegen die anderen Sektoren ins Feld geführt wird. So jedenfalls geschah es in Deutschland, wo ›Kultur versus Zivilisation‹ der alles bestimmende kulturkritische Topos war – zumindest bis in die fünfziger Jahre. Seitdem hat die Verwissenschaftlichung des Kulturbegriffs auch das Konzept ›Zivilisation‹ erfaßt. Vor allem dem Einfluß von Norbert Elias ist es zuzuschreiben, daß dieses Wort nicht mehr bloß dazu herhalten muß, all das zu bezeichnen, was in der kulturellen Gegenwart abzulehnen ist. Den Jungen heute sind die mit ›Kultur versus Zivilisation‹ gemeinten Entgegensetzungen ziemlich fremd geworden, mit denen über viele Jahrzehnte der kulturkritische small-talk bestritten wurde. Immer meinte ›Kultur‹ das Höhere, die ewigen Werte, die innere Bildung, das Seelisch-Tiefe und Künstlerische, während ›Zivilisation‹ in der Regel mit dem Technischen, bloß Nützlichen und kommerziell Erfolgreichen assoziiert wurde. So ist ›Kultur versus Zivilisation‹ ein Grundelement der deutschen Ideologie im Widerstand gegen den Westen, die Amerikanisierung, die Urbanität, die lebensweltlichen Folgen der Industrialisierung. Kulturintern hängt dieser Topos mit dem Gegensatz zwischen dem Besitz- und Bildungsbürgertum zusammen; fast könnte man ihn auf die Formel reduzieren: »Gymnasium oder Realschule«. Die Entgegensetzung von Kultur und Zivilisation ist nicht immer bloße Ideologie gewesen. Für Kant ist die spezifische Differenz zwischen Kultur und Zivilisation die
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Moralität; solange wir uns nur den geltenden Regeln der Zivilisation gemäß verhalten, sind wir noch nicht kultiviert, weil uns dann das fehlt, was wir eine moralische Identität nennen würden. Kant versteht unter Kultivierung die Versittlichung des Menschen, die von der bloßen Zivilisierung allein nicht zu erwarten ist. Wenn dann Humboldt Kultur und Zivilisation wie innere und äußere Bildung entgegensetzt, ist mit ›innerer Bildung‹ kein bloßer Kult der Innerlichkeit gemeint, sondern die Ausbildung einer Persönlichkeit, deren moralische Identität in vernünftiger Autonomie besteht. Mit dem Humboldtschen Bildungsbegriff geht im 19. Jahrhundert auch die moralisch-sittliche Differenzierung zwischen Kultur und Zivilisation verloren, von dem Glauben an die versittlichende Kraft der Wissenschaft ganz zu schweigen. Nietzsche entmoralisiert den Kulturbegriff, ohne das kulturkritische Schema ›Kultur und Zivilisation‹ aufzugeben. Kultur wird für ihn etwas, was nur ästhetisch wahrgenommen werden kann; sie ist ein ästhetisches Phänomen und als solches zu beurteilen. Auf diese Weise erhebt Nietzsche die ästhetische Kultur zum Kriterium und Maßstab von Kulturkritik überhaupt; sie ist der Gradmesser für das Aufblühen oder die décadence des kulturellen Ganzen. Spengler ersetzt die Ästhetisierung der Kultur durch eine Biologisierung des Gegensatzes von Kultur und Zivilisation. Am décadence-Motiv Nietzsches hält er fest, präsentiert dann aber in kühner Analogie zur Pflanzenwelt die Kultur als die Blütezeit und die Zivilisation als Spät- und Endstadium, d. h. das Verwelken eines kulturellen Organismus. Die Zivilisation wird ferner mit dem Mechanischen, Technischen, Bürokratischen, Seelenlosen in Verbindung gebracht; ihre reine Verkörperung findet sie nach Spengler im Imperialismus, denn der will Ausdehnung statt kultureller Tiefe. In zahlreichen Transformationen hat der Gegensatz ›Kultur und Zivilisation‹ bis heute überlebt, auch wo er terminologisch anders gefaßt und in andere als Nietzschesche oder Spenglersche Kontexte eingerückt ist. Immer bleibt die Idee leitend, in kulturkritischen Kontexten einen Sektor der Gesamtkultur gegen andere Sektoren auszuspielen, wobei der Hang zur Dichotomisierung auffällt: Warum eigentlich steht immer eines gegen ein anderes und nicht gegen ein Zweites, Drittes und Viertes? 1959 präsentiert C. P. Snow seine These von den »Zwei Kulturen«, was eine umfangreiche kulturkritische Debatte auslöst. Arnold Gehlen und Joachim Ritter unterscheiden zwischen technisch-wissenschaftlicher und kultureller Modernisierung; sie und ihre Nachfolger weisen der Kultur die Aufgabe zu, die unvermeidlichen Folgeschäden der technisch-wissenschaftlichen Modernisierung zu kompensieren, was nur mit konservativen Strategien möglich ist. Hannah Arendt und Reinhart Maurer unterscheiden zwischen einer Kultur des Handelns und einer Kultur des Machens und warnen vor den gesamtkulturellen Folgeschäden einer Reduktion des Machens auf das Handeln. Selbst die Unterscheidung von Jürgen Habermas zwischen System und Lebenswelt, die seine kritische Gesellschaftstheorie tragen soll, muß als
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Nachklang solcher kulturinternen kulturkritischen Entgegensetzungen verstanden werden, die im Modell ›Kultur und Zivilisation‹ einmal ihr Urbild hatten.
Kultur und Leben Warum noch – wie angekündigt – ein drittes Begriffspaar: ›Kultur und Leben‹? Der Übergang dazu ergibt sich aus der Überlegung, daß der spannungsreiche Zusammenhang von Kultur und Kulturkritik, der sich in den klassischen Entgegensetzungen ›Kultur und Natur‹ und ›Kultur und Zivilisation‹ manifestiert, seinerseits den spannungsreichen Zustand des kulturellen Ganzen anzeigt. In Wahrheit war die Kulturkritik ja niemals bloß auf den Teilbereich ›Kultur‹ oder den ›Überbau‹ beschränkt, wenn sie sich auch dort vollzog und das Lieblingsthema des allgemeinen Kulturgesprächs bildete. Nicht nur in Hegels Rede von der »Welt des sich entfremdeten Geistes« finden wir den kulturkritischen Angriff auf ein Ganzes der conditio humana, für dessen Zustand die Existenz von Kulturkritik selber ein Symptom darstellt. Nach Hegel wird dieses Ganze aber nicht mehr ›Geist‹ genannt, Nietzsche und Dilthey erfinden dafür den Terminus ›Leben‹. Was wir anhand der Formel ›Kultur und Zivilisation‹ unterscheiden mögen, ist ihnen zufolge immer schon Bestandteil eines umgreifenden Lebenszusammenhanges. Dieser Gedanke wird selber kulturkritisch nutzbar, sobald man das Totalitätskonzept ›Leben‹, normativ gewandt, an die kulturellen Phänomene heranträgt; dann kann man sie daraufhin einschätzen, ob sie dem Leben zuträglich sind oder nicht, die Lebendigkeit steigern oder hemmen. Von hier aus gewinnt der Begriff der ›Krankheit‹ die kulturkritische Bedeutung, die er in unserem Jahrhundert vor allem in der kulturkonservativen und präfaschistischen Publizistik erreichte. Wer dächte hier nicht an die Mobilisierung des »gesunden Volksempfindens« gegen die »entartete Kunst« und die »krankhafte Kritiksucht« der Intellektuellen? Das Nietzschesche Thema der décadence ist hier auf eine schreckliche Weise trivialisiert. Es ehrt Thomas Mann, daß er trotz seiner Nietzsche-Verehrung ein Gegenkonzept präsentiert: ihm zufolge sind kulturelle Spitzenleistungen ohne Krankheit – oder was die Umwelt so nennt – nicht zu haben. Geht man von Adorno aus, so mag es erscheinen, als sei Kulturkritik eine Affäre des ›Überbaus‹, d. h. der aporetische Versuch einer Selbstkritik des gesellschaftlichen Teilbereichs ›Kultur‹, die nur vor dem Hintergrund einer kritischen Theorie des gesellschaftlichen Ganzen Sinn mache. Wie gezeigt, ist der Ausgriff auf die Totalität keineswegs ein Monopol »linker« Kulturkritik, sondern dieses Monopol betrifft nur die Auffassung dieser Totalität als Gesellschaft. Daraus erklärt sich auch die auffällige Gemeinsamkeit der argumentativen Grundfiguren, die die Kulturkritiker aller Couleur in der Zeit zwischen den Weltkriegen benutzen, was auch die
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Dialektik der Aufklärung einschließt. Die philosophischen Wurzeln dieses Buches führen zu Schopenhauer und Nietzsche und nicht primär zu Marx. Das Wort ›Verdinglichung‹, das noch Adornos gesellschaftskritische Analysen auf Schritt und Tritt bestimmt, kommt bei Marx nur an entlegener Stelle vor; als kulturkritisches Signalwort stammt es von Nietzsche, und es wird später zur Grundfigur von Simmels Diagnose der »Tragödie der Kultur«. Kulturkritik als Verdinglichungskritik ist näher bei Nietzsche als bei Hegel oder Marx, weil deren Dialektik keine Priorität der Dynamik vor der Statik oder des Prozeßhaften vor dem Dinghaften kennt; Dialektik ist keine reine Dynamik, sondern die Einheit von Dynamik und Statik.
Für eine kritische Kulturphilosophie Das Wort ›Kulturkritik‹ mag einer vergangenen Zeit angehören – wie aber steht es mit der Sache, für die es einmal stand? Läßt der Bedeutungswandel des Begriffs ›Kultur‹, der ihn vollständig auf Wissenschaftlichkeit und Wertfreiheit festzulegen scheint, überhaupt noch einen kritischen Umgang mit dem Gesagten zu? Wie steht es um den philosophischen Anteil der Selbstkritik, ohne die moderne Kultur nicht existiert? Ich meine, dieser Anteil besteht in einer kritischen Kulturphilosophie, die sich zwar nicht mehr unmittelbar – wie in den zwanziger und dreißiger Jahren – als Bestandteil des allgemeinen kulturkritischen Diskurses verstehen kann, ihn dafür aber ebenso kritisch zu begleiten versucht wie die Entwicklung unserer Gesamtkultur. Die beiden polemischen Fronten einer solchen kritischen Kulturphilosophie sind schon angedeutet worden: der Naturalismus und der Kulturrelativismus. Gegen den Naturalismus gilt es, kritisch auf der Unterscheidung von Natur und Kultur zu bestehen, die menschliche Lebenswelt auf den Bereich dessen einzugrenzen, was in unserer Macht steht und wofür wir verantwortlich sind und bleiben. Der Kulturphilosophie kann es nicht nur um die Grundlagenprobleme der Kulturwissenschaften gehen; sie hat auch die Aufgabe, die Möglichkeit vernünftiger Praxis in einer Welt zu sichern, die immer mehr zur Domäne naturwissenschaftlicher Thematisierungsweisen wird. Hätte der Kulturrelativismus das letzte Wort, zerfiele die Menschenwelt in eine beziehungslose Pluralität unterschiedlicher Menschenwelten – Kulturen und Subkulturen –, die jeweils ihr Maß in sich selbst haben. In normativer Hinsicht mag dies zunächst als erstrebenswert erscheinen, weil es dem Imperialismus der einen dominierenden Weltkultur den Boden entzieht, aber schwierig wird es dann, wenn sich der Folterer ebenso auf seine kulturellen Traditionen beruft wie vielleicht anderswo der Verteidiger von Frauendiskriminierung oder Kinderarbeit. Das Hauptproblem des Kulturrelativismus ist die Kommunikation zwischen den verschiedenen Kulturen, die zwar stattfindet, vom Kulturrelativisten aber weder erklärt noch als
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tatsächlich gelingend dargestellt werden kann, wobei von dem Problem, wie er seine eigene Position als zutreffend für alle Kulturen – also nicht kulturrelativistisch – vertreten will, sogar noch abgesehen werden kann; es ist gewissermaßen »sein« Problem. Rätselhaft ist auch, wie der Kulturrelativist, der das Fremde jeder anderen Kultur in seiner Fremdheit zu bestätigen und vor »absolutistischen« Übergriffen zu bewahren sucht, dieses Fremde überhaupt als Fremdes wahrnehmen will, denn er hat doch nur seine eigene, kulturrelative Perspektive. Wenn es zutrifft, daß der Mensch »von Natur aus ein Kulturwesen« ist (Gehlen), stellt der Kulturrelativismus die Einheit der Menschengattung in Frage, was angesichts einer sich immer weiter homogenisierenden Weltkultur eine wenig plausible Strategie ist. Die relativistische Skepsis ist fruchtbar, solange sie ethnozentrische Beschränkungen unseres Blicks aufs kulturell Fremde zum Bewußtsein bringt; zur fixen Position geronnen, ist sie steril und überdies selbstwidersprüchlich. So stellt sich der kritischen Kulturphilosophie ein doppeltes Grenzziehungsproblem: den naturalistischen Dogmatismus aus- und den relativistischen Skeptizismus einzugrenzen. Die erste Aufgabe kritischer Kulturphilosophie ist die Explikation eines wissenschaftlich fruchtbaren und zugleich für ethisch-politische Erwägungen anschlußfähigen Begriffs von Kultur selber; der aber ist voraussetzungsfrei nicht zu haben. Nach der wissenschaftlichen Neutralisierung dieses Begriffs kommt die Kulturphilosophie nur dann zum Ziel, wenn sie sich als Element des kritischen Selbstbewußtseins der Kultur begreift, der sie angehört. Nur so führt ein Weg von der Tatsache der Kulturkritik, die man wertfrei zu konstatieren vermag, zu einem kritischen Kulturbegriff. So muß die Kulturphilosophie den Zusammenhang von Kultur und Kulturkritik zu ihrer eigenen Sache machen. Da Vernunft- oder Rationalitätskritik in der Gegenwart das alles bestimmende kulturkritische Thema bildet, der altmodisch gewordene Kulturpessimismus heute als allgemeiner Vernunftpessimismus wieder auflebt, stellt sich uns die Aufgabe einer kritischen Theorie der Rationalität, die eine vernünftige Vernunftkritik in moderner Gestalt auf den Weg zu bringen vermag. Der Weg von der Vernunft- zur Kulturkritik, den in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts viele Philosophen gegangen sind, müssen wir heute wieder in umgekehrter Richtung zurücklegen, weil der Kulturbegriff nach dem Abschluß seiner wissenschaftlichen Formalisierung und Neutralisierung nicht mehr zum philosophischen Grundbegriff taugt; vor allem aber vermag er keinen inneren Zusammenhang zwischen Kultur und Kulturkritik zu stiften. Nur die Selbstvergewisserung der Vernünftigkeit des animal rationale in einer philosophischen Theorie der Rationalität vermag die Unauflöslichkeit jenes Zusammenhanges zu sichern und der kritischen Kulturphilosophie, die ihm angehört, ihre unabweisbaren Aufgaben zu stellen: Kultur, Kritik und Vernunft sind unabhängig voneinander nicht zu haben.
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