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German Pages 510 [512] Year 1992
Coleman · Grundlagen der Sozialtheorie
Scientia Nova Herausgegeben von Rainer Hegselmann, Gebhard Kirchgässner, Hans Lenk, Siegwart Lindenberg, Werner Raub, Thomas Voss
Bisher erschienen u. a. : Robert Axelrod, Die Evolution der Kooperation Karl H. Borch, Wirtschaftliches Verhalten bei Unsicherheit Churchman /Ackoff/Arnoff, Operations Research Erklären und Verstehen in der Wissenschaft Evolution und Spieltheorie Bruno de Finetti, Wahrscheinlichkeitstheorie Richard C. Jeffrey, Logik der Entscheidungen Nagel/Newman, Der Gödelsche Beweis John von Neumann, Die Rechenmaschine und das Gehirn Erhard Oeser, Wissenschaft und Information Howard Raiffa, Einführung in die Entscheidungstheorie Erwin Schrödinger, Was ist ein Naturgesetz? Rudolf Schüßler, Kooperation unter Egoisten: vier Dilemmata Thomas Kws, Rationale Akteure und soziale Institutionen Hermann
Weyl, Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft
James S. Coleman
Grundlagen der Sozialtheorie Band 2 Körperschaften und die moderne Gesellschaft Übersetzt von Michael Sukale
R. Oldenbourg Verlag München 1992
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Sukale unter Mitwirkung von Martina Wiese
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Coleman, James S.: Grundlagen der Sozialtheorie / James S. Coleman. [Aus dem Amerikan. übers, von Michael Sukale unter Mitw. von Martina Wiese]. - München : Oldenbourg. (Scientia nova) Einheitssacht.: Foundations of social theory < d t . > Bd. 2. Körperschaften und die moderne Gesellschaft. -1992 ISBN 3-486-55909-5
Titel der Orginalausgabe: James S. Coleman, Foundations of Social Theory. Cambridge/Mass. : The Belknap Press of Harvard University Press. © 1990 James S. Coleman © der deutschen Ausgabe 1992 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gesamtherstellung: WB-Druck, Rieden a.F.
ISBN 3-486-55909-5
Inhalt des Gesamtwerkes Band I: Handlungen und Handlungssysteme Vorwort Vorwort des Übersetzers 1. Metatheorie: Die Erklärung in der Sozialwissenschaft
Teil I: Elementare Handlungen und Beziehungen 2. Akteure und Ressourcen, Interesse und Kontrolle 3. Handlungsrechte 4. Herrschaftsbeziehungen 5. Vertrauensbeziehungen
Teil II: Handlungsstrukturen 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Soziale Austauschsysteme Von Herrschaftsbeziehungen zu Herrschaftssystemen Vertrauenssysteme und ihre dynamischen Eigenschaften Kollektives Verhalten Das Bedürfnis nach wirksamen Normen Die Realisierung wirksamer Normen Soziales Kapital
Anhang Band II: Körperschaften und die moderne Gesellschaft Teil III: Körperschaftshandeln 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19.
Verfassungen und die Bildung von Körperschaften Das Problem der sozialen Entscheidung Von der individuellen zur sozialen Entscheidung Die Körperschaft als Handlungssystem Rechte und Körperschaften Der Herrschaftsentzug Das Selbst
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Inhalt des
Gesamtwerkes
Teil IV: Die moderne Gesellschaft 20. 21. 22. 23.
Natürliche Personen und die neuen Körperschaften Die Verantwortung der Körperschaften Neue Generationen in der neuen Sozialstruktur Die Beziehung der Soziologie zum sozialen Handeln in der neuen Sozialstruktur 24. Die neue Sozialstruktur und die neue Sozialwissenschaft
Anhang
Band III: Die Mathematik der sozialen Handlung Teil V: Die Mathematik der sozialen Handlung 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34.
Das lineare Handlungssystem Empirische Anwendungen Theoretische Erweiterungen Vertrauen im linearen Handlungssystem Macht, Mikro-Makro-Übergang und intersubjektiver Nutzenvergleich Externalitäten und Normen im linearen Handlungssystem Unteilbare Ereignisse, Körperschaften und kollektive Entscheidungen Zur Dynamik linearer Handlungssysteme Instabile und transitorische Handlungssysteme Die interne Struktur von Akteuren
Anhang
Inhalt des zweiten Bandes Teil III: Körperschaftshandeln 13. Verfassungen und die Bildung von Körperschaften Normen und Verfassungen 3 Positive Sozialtheorie 28 Wandel in einer disjunkten Verfassung: Amerikanische Oberschulen 34 Eine optimale Verfassung 37 Wer sind die elementaren Akteure? 58 14. Das Problem der sozialen Entscheidung Das Aufteilen von Rechten an unteilbaren Gütern 63 Verfassungsfragen zur Aufteilung von Kontrollrechten über gemeinschaftliche Handlungen 67 Intellektuelle Probleme der sozialen Entscheidung 70 Emergente Prozesse und Institutionen für soziale Entscheidung 76 Ethische Theorie: Wie man die richtige Handlung bestimmt Exekutive Entscheidungsfindung 84 Gemeindeinterne Entscheidungsfindung und Konflikte 88 Merkmale der nicht institutionalisierten sozialen Entscheidung 94 15. Von individueller Entscheidung zu sozialer Entscheidung Das Problem der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen 98 Turniere als Institutionen sozialer Entscheidungen 104 Mehrstufige versus einstufige Prozesse in sozialen Entscheidungen 107 Das Wesen von Rechten bei sozialen Entscheidungen 119
viii
Inhalt des zweiten
Bandes
16. Die Körperschaft als Handlungssystem Webers Bürokratiebegriff in Theorie und Praxis 128 Die formale Organisation als eine Spezifizierung von Transaktionen 133 Möglichkeiten zur Erhaltung der Existenzfähigkeit in formalen Organisationen 134 Explizite und implizite Verfassungen 147 Strukturen, die Interesse und Kontrolle miteinander verknüpfen 156 Allgemeine Prinzipien zur Optimierung der internen Struktur der Körperschaft 161 Die sich wandelnde Vorstellung des Unternehmens 164
127
17. Rechte und Körperschaften Die Allokation gemeinschaftlicher Rechte und das Problem öffentlicher Güter 167 Ausübung und Austausch von Rechten 168 Die Verlagerung von Macht auf Akteure mit Nutzungsrechten 173 Entzug von Nutzungsrechten durch Stimmrecht und Austritt
167
183
18. Der Herrschaftsentzug Revolutionstheorien 189 Vergleichende makrosoziale Forschung: Ungleichheit, wirtschaftliche Entwicklung und Unterdrückung 211 Die Rolle der Ideologie in Revolutionen 213 Ein theoretischer Bezugsrahmen für Revolutionen 215
186
19. Das Selbst Probleme des einheitlichen Akteurs 234 Funktionale Komponenten des Selbst 238 Die doppelte Rolle von Interessen 241 Wandlungsprozesse im Akteur 250 Veränderungen im Selbst von Körperschaften
233
265
Inhalt des zweiten Bandes
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Teil IV: Die moderne Gesellschaft 20. Natürliche Personen und die neuen Körperschaften 271 Individuelle Souveränität 271 Sich wandelnde Souveränitätsbegriffe 272 Die Entstehung von Körperschaften in sozialer Organisation und im Recht 275 Beispiele für Interaktionen von natürlichen Personen und Körperschaften 285 Interaktionstypen, die Körperschaften und Personen umfassen 291 Die Verdrängung der Natur durch menschliche Konstrukte 298 21. Die Verantwortung der Körperschaften Verantwortungsvolle Handlungen natürlicher Personen 304 Soziale Ursprünge körperschaftlicher Verantwortung 306 Innerer Wandel und körperschaftliche Verantwortung 310 Steuergesetze und soziale Normen 327 Trittbrettfahrerprobleme im Zusammenhang mit körperschaftlicher Verantwortung 329 Körperschaftliche Verantwortung im Überblick 330 Welche Vorstellung von Körperschaft ist für natürliche Personen am vorteilhaftesten? 332
300
22. Neue Generationen in der neuen Sozialstruktur Der Konflikt zwischen Familie und Körperschaft 335 Verteilung von Einkommen an Kinder in der neuen Sozialstruktur 345 Auswirkungen der neuen Sozialstruktur auf soziales Kapital Die unmittelbare Bedeutung der beiden Sozialstrukturen für die nächste Generation 357
335
348
23. Die Beziehung der Soziologie zum sozialen Handeln in der neuen Sozialstruktur 374 Die soziale Rolle der Sozialtheorie 375 Die Welt des Handelns und die Welt der akademischen Disziplin 381 Die Struktur der Gesellschaft und das Wesen der angewandten Sozialforschung 382 Angewandte Sozialforschung und die Handlungstheorie 395 Wie sollte angewandte Sozialforschung aussehen? 420 Welche Forschung fehlt noch? 422
χ
Inhalt des zweiten
Bandes
24. Die neue Sozialstruktur und die neue Sozialwissenschaft Das Ersetzen des ursprünglichen sozialen Kapitals 429 Unabhängige Existenzfähigkeit, globale Existenzfähigkeit und Verteilung in der neuen Sozialstruktur 433 Formen der Handlungsorganisation 436 Nationalstaaten versus multinationale Körperschaften oder Stimmrecht versus Austritt 439 Die neue Sozialwissenschaft 443
426
Anhang Gesamtes Literaturverzeichnis Deutsches Literaturverzeichnis
449 470
Personenregister
472
Englisches Sachregister Deutsches Sachregister
478 493
TEIL III
KÖRPERSCHAFTSHANDELN
Kapitel 13
Verfassungen und die Bildung von Körperschaften Normen und Verfassungen Mit den Kapiteln 10 und 11, die die Emergenz von Normen behandeln, wurde in diesem Buch ein Übergang eingeleitet. Normen stellen ein supraindividuelles Gebilde dar, also eine anerkannte Menge von Rechten einiger Individuen, die die Handlungen von Individuen, welche Ziele der Normen sind, b e schränken oder anderweitig beeinflussen. In vielen Fällen sind Nutznießer und Zielakteure von Normen ein und dieselben Individuen, wodurch deutlich wird, daß es im Interesse von rationalen Einzelpersonen liegt, bestimmte Handlungen kollektiv zu beschränken (und andere zu bestärken), an denen sich jedes beliebige Individuum beteiligen könnte. In Kapitel 10 wurde d a r gelegt, daß die negativen externen Effekte, die anderen Personen durch g e wisse Handlungen auferlegt werden, sowie die positiven externen E f f e k t e , die sie durch andere Handlungen erfahren, das Bedürfnis nach Normen schaffen (jedoch nicht ihre Existenz gewährleisten). Der supraindividuelle Charakter von Normen zeigt sich nicht nur darin, daß Sanktionen manchmal kollektiv auferlegt werden, wie es der Fall ist, wenn Gruppenmitglieder ein Individuum schneiden, für ein Individuum einen Ruf erzeugen oder ein Individuum mit Lob überhäufen. Er zeigt sich auch darin, daß Akteure innerhalb eines Systems davon ausgehen, daß ein Akteur die Kontrollrechte über eine bestimmte Klasse seiner Handlungen nicht selbst behauptet, sondern daß sie von anderen behauptet werden. Anders ausgedrückt werden die Norm und die Anwendung von Sanktionen, um diese Norm durchzusetzen, von jedem der Nutznießer als legitim angesehen. Diese Legitimität zeigt sich nicht nur, weil Akteure das Recht beanspruchen, Z i e l akteure zu sanktionieren, sondern auch weil Zielakteure die Definition einer Handlung als falsch akzeptieren und auch eine Sanktion akzeptieren, der man sich widersetzen könnte. In extremen Fällen, wie man sie manchmal in primitiven G e s e l l s c h a f t e n vorfindet, äußert sich die Macht einer Norm darin, daß ein N o r m v e r l e t z e r es sogar manchmal nicht ertragen kann, weiterzuleben. 1 Im F a l l e einer konjunkten Norm haben Individuen ein Recht als Individuen aufgegeben und es als Kollektiv übernommen. Dabei handelt es sich um das 1 Beispielsweise beschreibt Park (1974, S. 42-43) e i n e n Fall a u s Jane Richardsons Feldarbeit bei den Kiowa, e i n e m n o r d a m e r i k a n i s c h e n P r ä r i e i n d i a n e r s t a m m , wo ein M a n n vor Scham gestorben war, nachdem F r a u e n des Stammes ihn mit Sanktionen belegt hatten.
4
Körperschaftshandeln
K o n t r o l l r e c h t über die eigenen Handlungen, das in Kapitel 4 untersucht wurde. In diesem Kapitel wurde gezeigt, wie rationale Individuen b e s t i m m t e K o n t r o l l r e c h t e über ihre Handlungen aufgeben können, und zwar entweder gegen eine extrinsische Kompensation oder in der E r w a r t u n g , daß ihnen die Ausübung der H e r r s c h a f t an sich einen Gewinn einbringt. Bei der Schaffung einer konjunkten Norm begründen Individuen, die gleichzeitig Z i e l e der möglichen N o r m und ihre Nutznießer sind, letztendlich eine H e r r s c h a f t s b e ziehung: Als Individuen werden sie zu Untergebenen, da sie das K o n t r o l l recht über eine bestimmte Klasse von Handlungen aufgegeben haben. Und als Kollektiv werden sie zu Vorgesetzten, da sie dieses Recht als Kollektiv oder K ö r p e r s c h a f t erworben haben. In manchen selbständigen D ö r f e r n , Kommunen und S t a m m e s g e s e l l s c h a f t e n gibt es darüber hinaus keine H e r r s c h a f t . Die H e r r s c h a f t des D o r f e s , der Kommune oder des Stammes besteht in dem von ihnen b e h a u p t e t e n Recht, bestimmte Handlungen zu beschränken und andere Handlungen zu b e s t ä r k e n . Das Kollektiv oder die K ö r p e r s c h a f t besteht aus nichts a n d e r e m als dieser Menge von N o r m e n und Sanktionen. In solchen Umgebungen vollbringen Normen alles das, was G e s e t z e in s t ä r k e r legalistischen G e s e l l s c h a f t e n b e wirken, und Gemeinschaftssanktionen e r f ü l l e n alle jene Funktionen, die in einer G e s e l l s c h a f t mit einer institutionalisierten Regierung von rechtlichen Sanktionen und staatlichen Handlungen e r f ü l l t werden. Nicht a l l e Handlungen können jedoch mit H i l f e der Anwendung von Sanktionen durch Mitglieder eines Kollektivs gelenkt w e r d e n . Selbst in solchen geschlossenen G e m e i n s c h a f t e n existiert oft ein f o r m a l e r e r Vorstand, wie aus Zablockis (1980) Beschreibungen von Kommunen ersichtlich wird. D i e ser Vorstand muß dafür Sorge tragen, daß b e s t i m m t e Aufgaben, die für das gemeinsame Wohl e r f o r d e r l i c h sind, erledigt werden (was dem P r o b l e m e n t spricht, für das manchmal präskriptive Normen g e s c h a f f e n werden), und er muß Handlungen einschränken, die negative e x t e r n e E f f e k t e erzeugen (wofür oft proskriptive Normen geschaffen w e r d e n ) . 2 Man könnte behaupten, daß in derartigen Umgebungen von den M i t g l i e dern der Gemeinschaft eine implizite Verfassung g e s c h a f f e n worden ist, indem sie Normen begründet haben (bzw. anhand der Ü b e r t r a g u n g von K o n t r o l l r e c h t e n über b e s t i m m t e Handlungen auf das Kollektiv) und indem sie V e r f a h r e n zur Inkraftsetzung dieser R e c h t e und Sanktionen zur D u r c h s e t zung der Normen und Regeln eingeführt haben.
2 Die Literatur Uber Menge von Regeln malen Prozell erst nen das wichtigste gewährleisten und Zablocki 1980).
K o m m u n e n legt nahe, dal) in vielen K o m m u n e n , w e n n e i n e zu den Leistungsaufgaben f ü r das G e m e i n w o h l über e i n e n foreinmal bestimmt worden ist. i n f o r m a l e G e m e i n s c h a f t s s a n k t i o Lenkungsmittel sind, um die Ausübung dieser H a n d l u n g e n zu negative e x t e r n e E f f e k t e e i n z u s c h r ä n k e n . (Siehe K a n t e r 1973,
Verfassungen
und die Bildung von Körperschaften
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In Kapitel 11 wurde jedoch deutlich, daß für die Einführung und Aufrechterhaltung effektiver Normen bestimmte sozialstrukturelle Bedingungen e r forderlich sind. In vielen Umgebungen, vor allem in großen zersplitterten Gruppen, doch auch in vielen kleineren, sind diese Bedingungen nicht erfüllt. Was in Umgebungen wie den oben beschriebenen informell ausgeführt wird, muß in anderen Umgebungen auf explizitere und formalere Weise ausgeführt werden, wenn Individuen Gewinne erzielen möchten, die denjenigen entsprechen, welche aufgrund von konjunkten Normen in kleinen sozialen Systemen mit einem hohen Grad an Geschlossenheit erzielt werden. Aus diesem Grunde ist es notwendig, sowohl in der sozialen Praxis als auch in der Sozialtheorie die Aufmerksamkeit explizit auf Verfassungen zu richten. Formale Verfassungen in mehr formal organisierten sozialen Systemen lassen sich analog zu den informalen Mengen von Normen und Regeln betrachten, die in kleinen sozialen Systemen mit einem hohen Maß an G e schlossenheit entstehen. Man ersieht aus der Tatsache, daß ein formal aufgesetztes Dokument, das als "Verfassung" für eine Gruppe, eine Organisation oder ein größeres soziales System bezeichnet wird, nur sehr wenig damit zusammenhängt, was Sozialwissenschaftler unter der Verfassung eines solchen Systems verstehen, daß formale Verfassungen ihre soziologischen U r Sprünge in informalen Normen und Regeln haben. Die effektive Verfassung einer Gruppe, einer Organisation oder eines sozialen Systems ist weitaus umfassender als das schriftliche Dokument und beinhaltet die ungeschriebenen Normen und Regeln sowie die geschriebenen. Von daher wird die Untersuchung von verfassungsmäßigen Fragen in diesem Kapitel auf dem soziologischen Ursprung von Verfassungen (in Normen) und den Ergebnissen der Untersuchung von Normen aus den Kapiteln 10 und 11 aufbauen. Wenn die Sozialstruktur nicht eine Norm unterstützt, die effektiv genug ist, um die Interessen der möglichen Nutznießer der Norm zu befriedigen, ergibt sich das Problem der Schaffung einer expliziten Körperschaft, die mächtiger ist als eine Norm oder eine Menge von Normen.
Konjunkte
und disjunkte
Verfassungen
Normen sind konjunkt, wenn Nutznießer und Zielakteure ein und dieselben Personen sind, und disjunkt, wenn es sich dabei um unterschiedliche Personen handelt. Wie ich in Kapitel 10 gezeigt habe, gibt es intermediäre Fälle, doch ich werde mich hier auf diese beiden Extremfälle beschränken. Den konjunkten Normen entsprechen Verfassungen, in denen die Nutznießer von gemeinschaftlich behaupteten Rechten auch die möglichen Zielakteure von gemeinschaftlich geschaffenen Beschränkungen oder Forderungen sind. Diese Struktur ist normalerweise den Theorien eigen, die Verfassungen
327
6
Körperschaftshandeln
als Gesellschaftsverträge auffassen: Diejenigen, die an dem sozialen V e r trag beteiligt sind, kommen überein, sich selbst zu steuern. Bei der Gründung einer Verfassung in dieser Art von Struktur sehen sich ein und dieselben Personen im Hinblick auf die Körperschaft, die sie erzeugen, als Inhaber von zwei Funktionen, nämlich in der Funktion als Nutznießer und in der Funktion als Zielakteur. Ein einzelner Akteur kann als Repräsentant der Gesamtheit betrachtet werden, denn die Interessen des Nutznießers, die eine starke Körperschaft anstreben, und die Interessen des Zielakteurs, die einer starken Körperschaft entgegenstehen, finden sich in jeder einzelnen Person. Verfassungen, die auf diese Art von Struktur aufbauen, bezeichne ich als konjunkte Verfassungen. Mitgliedschaftsgruppen und Organisationen, die durch ihre Mitglieder ins Leben gerufen werden, sind Beispiele für Körperschaften mit konjunkten Verfassungen. Die Verfassungen der USA, von Polen und Frankreich waren vielleicht die ersten Verfassungen von Nationalstaaten, deren ideologische Grundlage ein Gesellschaftsvertrag zwischen gleichberechtigten Bürgern war. Die Realität hat natürlich diesem Ideal nicht entsprochen, da verschiedene Bürger verschiedene soziale Positionen einnehmen.
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Das andere Extrem sind Verfassungen, die von einer Menge von Akteuren geschaffen werden, um eine Körperschaft ins Leben zu rufen, die einer anderen Menge von Akteuren Beschränkungen und Forderungen auferlegt. Nutznießer und Zielakteure sind unterschiedliche Personen. In diesem Falle kann es kein repräsentatives Mitglied geben, weil jeder entweder Nutznießer oder Zielakteur ist und nur eine Interessenmenge vertritt. Verfassungen, die auf diese Art von Struktur aufbauen, bezeichne ich als disjunkte Verfassungen. In der gesamten Geschichte finden sich Beispiele hierfür. In der Feudalgesellschaft wurden die Regeln hauptsächlich von den Adligen aufgestellt, um die Bauern zu beherrschen. Die Ideologie, die der Gründung von marxistisch-sozialistischen Staaten zugrundeliegt, unterstreicht, daß Sozialismus die Diktatur des Proletariat ist. Das heißt, daß Staat und Verfassung durch und für die Arbeiter als Nutznießer gegründet werden, während andere soziale Klassen Ziele der Forderungen und Beschränkungen sind, die der Staat auferlegt. Die Realisierung dieser Theorie hat der Ideologie ebensowenig entsprochen, aber die Ideologie ist die einer disjunkten Verfassung, die besagt, daß die Gesellschaft von einer bestimmten Klasse regiert wird im Gegensatz zu der Ideologie, die der Verfassung der Vereinigten Staaten zugrundeliegt. Es gibt auch Beispiele für disjunkte Verfassungen innerhalb von Nationalstaaten. Die verbreitetste ist vielleicht die Verfassung einer Schule, die von der Gemeinschaft der Lehrer, der Verwaltung und der Eltern geschaffen wird, und deren Beschränkungen und Forderungen den Kindern auferlegt werden, die die Schule besuchen. (In einem späteren Abschnitt werde ich eine
Verfassungen
und die Bildung von Körperschaften
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zentrale verfassungsmäßige Veränderung in amerikanischen Oberschulen untersuchen.) Die Gründung einer Körperschaft anhand einer konjunkten Verfassung schafft keine Grundlage für Konflikte zwischen Personen oder Gruppen, da jeder Interessenkonflikt innerhalb des Individuums liegt. Im Gegensatz dazu kann die Gründung einer Körperschaft anhand einer disjunkten Verfassung nur durch die Ausübung von Zwang stattfinden, der entweder einer existierenden Herrschaftsstruktur (wie in einer Feudalgesellschaft oder in Schulen) eigen ist oder der sich nach einem Bürgerkrieg ergibt (wie in Revolutionen, die von einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse ausgehen).
Konjunkte
Verfassungen
und die Theorie des
Gesellschaftsvertrages
Die Parallele der Situation, in der ein Bedürfnis nach konjunkten Normen besteht, zu den Situationen, die von Moralphilosophen und politischen Philosophen behandelt werden, wird vielleicht am besten durch die Theorie des Gesellschaftsvertrages verdeutlicht, wie ihn z.B. John Locke sieht. Locke (1967 [16901) führt aus, daß rationale Individuen, von denen jedes Naturrechte besitzt, einen gemeinschaftlichen Gesellschaftsvertrag abschließen, bei dem einer zentralen Autorität jene Rechte übertragen werden, weil die Individuen ihre Situation verbessern, wenn die Rechte zentral behauptet und ausgeübt werden. Sie opfern das uneingeschränkte Recht, ihre eigenen Handlungen zu kontrollieren, gegen den Gewinn, den sie erwarten, wenn die Rechte der anderen auf die gleiche Weise eingeschränkt werden. Nozick (o. J. [1974]) hat mit seiner Entwicklung der Theorie eines Minimalstaates die Ideen von Locke übernommen. Laut Nozick beginnen Nachbarn mit Vereinigungen zu gegenseitigem Schutz, an die sie bestimmte Minimalrechte abtreten; zu ihnen gehören das Recht der Gewaltanwendung und das Recht, zugunsten der kollektiven Verteidigung, welche Gewaltanwendung einschließt, besteuert zu werden. Weil weitere Kombinationen die G e winne erhöhen, erweitern sich diese Vereinigungen, bis so etwas wie ein Minimalstaat entsteht. Nozick sagt: "Aus der Anarchie entsteht durch spontane Gruppenbildungen, Vereinigungen zum gegenseitigen Schutz, Arbeitsteilung, Marktverhältnisse, ökonomische Größenvorteile und vernünftiges Eigeninteresse ein Gebilde, das sehr stark einem Minimalstaat ... ähnelt" (o. J. [1974], S. 30). Die Anwendung des gemeinschaftlichen Projektes für drei Akteure, das in Kapitel 10 behandelt wurde, hilft bei der Untersuchung dieser Emergenz. Ich werde das Beispiel leicht abwandeln, so daß es besser zu Nozicks E r ö r t e rung des gegenseitigen Schutzes paßt. Drei Individuen, A t , A 2 und A 3 , regen die Bildung einer Vereinigung zu gegenseitigem Schutz an, zu der sie jeweils
8
Körperschaftshandeln
Tabelle 13.1 Auszahlungen für drei Akteure nach Leisten oder Nichtleisten eines Beitrags für ein Projekt zum gegenseitigen Schutz
Leistet einen Beitrag
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Leistet keinen Beitrag
Leistet einen Beitrag
Leistet keinen Beitrag
Leistet einen Beitrag
Leistet keinen Beitrag
Leistet einen Beitrag
-9, -9, -9
-13, -4, -13
-13, -13, -4
-17, -8, -8
Leistet keinen Beitrag
-4, -13, -13
-8, -8, -17
-8, 17, -8
-12, -12, -12
9 Dollar beisteuern wollen. Ohne die Vereinigung sind sie einer Beraubung ausgesetzt, die jeden von ihnen 12 Dollar kostet. Wird die Vereinigung gegründet und leisten alle ihren Beitrag, verbessern sie sich jeweils um 3 Dollar, da jeder 9 Dollar beiträgt und nicht die Beraubung um 12 Dollar erleidet. Leistet nur einer seinen Beitrag, verringert sich die Beraubung um 4 Dollar für jeden, und wenn zwei einen Beitrag leisten, verringert sich die Beraubung um jeweils 8 Dollar. Die Ergebnisse für jeden sind in Tabelle 13.1 aufgeführt. (Diese Tabelle hat dieselbe Struktur wie Tabelle 10.2; dies zeigt sich, wenn man zu jeder Zahl der Tabelle 12 hinzuzählt.) Wie aus Tabelle 13.1 ersichtlich wird, erhalten alle drei 3 Dollar weniger, wenn sie die Vereinigung, zu der alle einen Beitrag leisten, nicht gründen. Der Beitrag jedes einzelnen Akteurs bedeutet einen positiven externen Effekt mit einem Wert von 4 Dollar für jeden der anderen. Andererseits bedeutet der Beitrag eines Akteurs für diesen einen Verlust von 5 Dollar, weil er 4 Dollar wert ist, ihn jedoch 9 Dollar kostet. Wenn die Akteure die Vereinigung zu gegenseitigem Schutz lediglich mit Hilfe von informalen Sanktionen gründen können, die ausreichen, um die Beitragsleistung jedes einzelnen zu garantieren, sind alle in einer besseren Situation als ohne sie. 3 Können 3 Das beste p r a k t i s c h e Beispiel f ü r eine solche Vereinigung ist vielleicht die Freiwillige F e u e r w e h r , die in m a n c h e n Kleinstädten existiert. Da sie n u r i n f o r m a l e Sanktionen kontrollieren, haben solche Vereinigungen m a n c h m a l Schwierigkeiten, genligend Beiträge zu erhalten, um Ausrüstung zu k a u f e n , oder Freiwillige fUr die Tätigkeit der F e u e r w e h r a n z u w e r b e n . Eine Sanktion, die z u w e i l e n (wenn a u c h selten) a n g e w e n d e t wurde, bestand darin, e i n e n F e u e r a l a r m zu ignorieren, der von der Wohnung eines Nicht-Beitragsleistenden aus erfolgt war.
Verfassungen
und die Bildung von Körperschaften
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sie es nicht, besteht eine Motivation zur Bildung einer Körperschaft (Nozicks Minimalstaat), die nicht von den sozialstrukturellen Bedingungen abhängig ist, die für die Emergenz von Normen erforderlich sind. Wenn Sanktionen allein also nicht ausreichen, jeden zur Beitragsleistung zu bewegen, besitzen sie einen Anreiz zur Gründung einer Körperschaft, der sie Rechte übertragen, die ausreichen, um dieses gemeinschaftliche Ziel zu erreichen. Eine Vereinbarung unter den drei Akteuren, die besagt, daß alle die Kontrolle über ihre Handlungen einer zentralen Autorität übergeben, wäre für alle gewinnbringend, wenn die zentrale Autorität nichts kostet und wenn alle drei sicher sein können, daß die zentrale Autorität von jedem einen Beitrag von 9 Dollar fordert. So erwartet jeder einen möglichen Gewinn aus einer freiwilligen Übertragung von Rechten auf eine zentrale Autorität. Doch wie die Auszahlungsstruktur zeigt, geht jeder das Risiko ein, dann schlechter dazustehen als bei einer individuellen Handlung. In einer Situation mit dieser Struktur wird eine Herrschaftsbeziehung geschaffen. Letztendlich entscheiden die drei Individuen, einen neuen Akteur zu erzeugen, der das Recht b e sitzt, für alle zu handeln. Ich werde diesen neuen Akteur als Körperschaft bezeichnen, denn es handelt sich um ein körperschaftliches Gebilde, das Rechte behauptet, die ihm von seinen Mitgliedern übertragen worden sind. Ich glaube, daß die beschriebene Struktur derjenigen entspricht, die V e r treter der Gesellschaftsvertragstheorie wie Locke als staatenbildend b e schreiben. Es ist auch die Struktur, von der Individuen ausgehen, die irgendeine Möglichkeit gegenseitigen Schutzes (oder beiderseitigen Gewinns) sehen, um einen Gesellschaftsvertrag ins Leben zu rufen, der zu einer freiwilligen Vereinigung führt. Gewerkschaften, Aktiengesellschaften, Unternehmerverbände, Berufsvereinigungen und andere Körperschaften werden im Prinzip auf diese Art und Weise geschaffen. Wenn wir davon ausgehen, daß manche Herrschaftssysteme auf diese Art und Weise geschaffen werden, läßt sich die neu gegründete Körperschaft als Vorgesetzter betrachten und die Mitglieder, die der Körperschaft freiwillig bestimmte Rechte zur Kontrolle oder Beschränkung ihrer Handlungen überlassen haben, als Untergebene. Diese Art eines Herrschaftssystems ist j e doch ein besonderer Fall. Da die Mitglieder das Recht beibehalten, die Handlungen der Körperschaft zu kontrollieren (z.B. mit Hilfe kollektiver Entscheidungen, in denen jeder ein Stimmrecht hat), haben sie einen Akteur geschaffen, der Uber sie Herrschaft ausübt, über dessen Handlungen sie j e doch ihrerseits gemeinschaftlich Herrschaft ausüben. Er ist zugleich ihr Vorgesetzter und ihr Untergebener. Wenn das alles wäre, könnte man dies als eine geniale soziale Erfindung betrachten, mit deren Hilfe sich die G e winne aus gemeinschaftlichem Handeln ohne Kosten erzielen lassen. Natürlich ist das noch nicht alles. Wie wird die neue Körperschaft veranlaßt, so zu handeln, daß ihren Mitgliedern Gewinne erwachsen? Der ein-
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Körperschaftshandeln
fachste Fall wird durch das Projekt zu gegenseitigem Schutz verdeutlicht; dort ist klar, welche Handlung im gemeinsamen Interesse der drei Mitglieder der Vereinigung liegt. Die neue Körperschaft hat also eine verfassungsmäßige Aufgabe zu erfüllen, denn sie muß die Entscheidungsregel bestimmen, anhand derer gemeinschaftliche Handlungen erzielt werden. Die Körperschaft muß die Möglichkeit haben, über ihre Handlungen zu entscheiden, da jedes Mitglied des Kollektivs wie auch jede Untergruppe von Mitgliedern im Kollektiv Interessen hat, die sich teilweise in Konflikt zu den Interessen anderer Mitglieder und Untergruppen befinden. Abbildung 13.1 gibt beispielsweise die Rangfolge der Ergebnisse aus Tabelle 13.1 für jedes Individuum wieder. Individuen besitzen Interessen, die sich zum Teil widersprechen und zum Teil entsprechen. Wenn die Entscheidungsregel für die Körperschaft eine Mehrheitsregel ist, könnten A j und A 2 somit eine Koalition bilden und DDC wählen, was ihrer zweitbevorzugten Wahl, jedoch der letzten Wahl von A 3 gleichkäme. Zwischen A j und A 3 bzw. zwischen A 2 und A 3 sind ebenfalls Koalitionen denkbar. Wenn die Entscheidungsregel Einstimmigkeit fordert, muß eine Regel eingeführt werden, die die Möglichkeit abdeckt, daß keine Einstimmigkeit erzielt wird. Wenn diese Regel lautet (was möglich wäre), daß das Ergebnis DDD sein wird, und wenn keine andere Wahl (z.B. CCC) einstimmig getroffen wird, ergäbe sich die gleiche Situation für das Kollektiv, als wenn seine Mitglieder einzeln handelten, denn dann wäre das E r gebnis ebenfalls DDD. Dieses Problem, bei dem sich alle Individuen in der gleichen Situation befinden, kann mit Hilfe einer Metaregel gelöst werden, die im Interesse aller
Verfassungen
und die Bildung von Körperschaften
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liegen würde; diese Regel müßte besagen, daß Personen in gleichen Situationen gleich behandelt werden sollen oder daß Gesetze keine Unterschiede zwischen verschiedenen Personen machen. Dieses Problem bleibt jedoch ungelöst, wenn Individuen sich nicht in der gleichen Situation befinden. Wenn beispielsweise A t , A 2 und A 3 unterschiedlich reich sind, könnte eine Metaregel festlegen, daß jeder von ihnen Steuern zahlen müßte, doch daß der Beitrag nicht für jeden von vornherein 9 Dollar betragen kann. Die Entscheidung, wieviel jeder einzelne bezahlen müßte, bliebe noch offen. Diese Art von Komplikation ergibt sich selbst in den einfachsten Situationen. In einer komplexeren Situation - und zwar wiederum in einer konjunkten Struktur, wo jeder zugleich Ziel und Nutznießer der möglichen Norm ist - , in der eine größere Anzahl von Individuen anregt, eine Körperschaft zu gründen, die sich mit einer Vielzahl von Handlungen auseinandersetzen soll, welche externe Effekte erzeugen, sind die Komplikationen zahlreicher. Im Rückgriff auf die Situation, die den Ausgangspunkt für Normen bildet, lassen sich diese Komplexitäten untersuchen und angehen. Es gibt mögliche Zielakteure und mögliche Nutznießer einer Norm, und im Falle einer konjunkten Norm handelt es sich hierbei um ein und dieselben Akteure. Die Zielakteure haben Interessen und die Nutznießer ebenso. Die Interessen der Zielakteure sind die Interessen der Individuen, und zwar als Untergebene der Körperschaft, die sie geschaffen haben. Die Interessen der Nutznießer sind die Interessen der Körperschaft und damit des Vorgesetzten, dem sie die H e r r schaft über ihre Handlungen übertragen haben. Wenn man die Interessen von Akteuren als Ziele und Nutznießer untersuchen und diese Interessen gegeneinander abwägen möchte, hilft die Übernahme einer Vorstellung, derer sich Rawls (1975 [1971]) bedient hat - die Vorstellung, daß rationale, eigennützige Akteure sich im Hinblick auf ihre Zukunft hinter einem Schleier des Nichtwissens befinden. Ich werde mich auf diese Vorstellung stützen, wenn ich danach frage, welcherlei Prinzipien die Überlegungen rationaler Individuen bei der Gründung einer Körperschaft und damit bei der Formulierung einer Verfassung lenken. Zunächst werde ich Rawls' Verwendung der Vorstellung beschreiben, um sie von meiner eigenen abzugrenzen. Rawls bediente sich der Vorstellung, indem er fragte, welche Art von Gesellschaft ein Individuum wählen würde, wenn es nicht wüßte, welche Position (oder Menge von Positionen im Laufe seines Lebens) es bekleiden könnte. Rawls behauptete, die erste Frage, die sich ein solches Individuum stellen würde, würde lauten: Welches Maß an Freiheit wäre optimal? Rawls' Antwort ähnelt stark der Antwort von John Stuart Mill: Das Höchstmaß an Freiheit, das mit gleicher Freiheit für alle vereinbar ist. Die zweite Frage würde, nach Rawls, folgendermaßen lauten: Welches Maß und welche Art von Ungleichheiten wäre optimal? Rawls' Antwort lautet, daß nur diejenigen
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Körperschaftshandeln
Ungleichheiten gerecht sind, die dem Nutzen des am wenigsten Bevorzugten dienen. 4 Rawls führt aus, daß jedes rationale Individuum, das völlig von eigennützigen Interessen gelenkt wird, so antworten wird, weil es selbst in die Position des am wenigsten Bevorzugten geraten könnte. Somit gelangt jede Person, indem sie sich in einer Vielzahl möglicher sozialer Positionen sieht, zu einer Regel, die sozial gerecht ist, weil sie die Nachteile, denen die P e r son in verschiedenen sozialen Positionen ausgesetzt wäre, "ausbalanciert". Wie zahlreiche Autoren herausgestellt haben, entspricht Rawls' Ausbalancieren einer spieltheoretischen Minimax-Strategie, nämlich der Strategie, die den höchstmöglichen Verlust minimiert. Die Konsequenzen aus dieser Strategie waren der Ausgangspunkt für schwerwiegende Einwände gegen diese Formulierung. Dennoch handelt es sich um ein eindrucksvolles intellektuelles Hilfsmittel zur Schaffung einer Regel, die eine Gleichheit von Personen erzeugt und die aus den Überlegungen jeder einzelnen Person d a r über entsteht, welche Regel in einer unsicheren Zukunft für sie am günstigsten ist. Dieses Hilfsmittel wandelt das Problem eines interpersonalen Nutzenvergleichs in das Problem eines intrapersonalen Vergleichs um. Im Grunde ist diese Formulierung von grundlegender Bedeutung für die Fairneß der Regeln eines Spiels, denn auf ganz ähnliche Weise müssen diese Regeln festgelegt sein, bevor jeder Spieler weiß, welche Rolle er spielen soll. T a t sächlich gab Rawls dem Aufsatz, in dem die erste (leicht anderslautende) Version dieses Prinzips formuliert wurde, den Titel "Justice as fairness (Gerechtigkeit als Fairneß)" (1958). Der Schleier des Nichtwissens, den Rawls sich vorstellte, gehört zu einer Klasse von Hilfsmitteln, die angewendet werden, um einen interpersonalen Nutzenvergleich in einen intrapersonalen Vergleich umzuwandeln. Ein frühes Hilfsmittel dieser Art wurde von Thomas Hobbes eingeführt, der in seinem Leviathan von einer sogenannten "Regel" sprach, "durch die die natürlichen Gesetzeeinfach überprüft werden können." Diese Regel war laut Hobbes ein "deutlicher Spruch" (easie sum): "Füge einem anderen nicht zu, was du nicht willst, daß man dir zufüge." Hobbes erläutert dies dahingehend, "daß zum Lernen der natürlichen Gesetze nichts weiter erforderlich ist, als daß man, wenn man seine eigenen Handlungen gegen diejenigen eines anderen aufwiegt, die des anderen, wenn sie zu schwer zu sein scheinen, auf die andere Seite der Waage legt und die eigenen an deren Stelle setzt, damit die eige-
4 In seinem f r ü h e r e n Aufsatz "Justice as fairness (Gerechtigkeit als Fairnet)" (1958) gelangte Rawls zu einem weniger präzisen Prinzip: Nur diejenigen Ungleichheiten sind gerecht, die dem Nutzen aller dienen. Dieses frUhere Prinzip lehnt sich eng an das Kriterium der Pareto-Optimalität und das Kaidorsche Kompensationsprinzip an (welches weiter unten in diesem Kapitel noch besprochen wird) und entspricht auch viel mehr als Rawls* späteres Prinzip dem Kriterium, das Spielregeln erfüllen mUssen.
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nen Leidenschaften und die Selbstliebe das Gewicht nicht schwerer machen" (1966 [1651], Kap. XV). Immanuel Kants kategorischer Imperativ ("Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne") stellt ein weiteres Hilfsmittel dar, mit dem ein interpersonaler Nutzenvergleich in einen intrapersonalen Vergleich umgewandelt wird. Der kategorische Imperativ ist eine relativ geringfügige Modikation von Hobbes' Regel (obwohl Kant behauptete, daß er sich sehr davon unterscheidet), und beide weisen wiederum starke Ähnlichkeit mit der Goldenen Regel auf. Hobbes' Metapher eines Gleichgewichts, das ermöglicht, die "Naturgesetze" zu erkennen, ähnelt der Vorstellung, daß die Interessen der Nutznießer einer Norm oder gemeinschaftlichen Handlung und die Interessen der Zielakteure dieser Handlung gegeinander abgewogen werden. Hobbes stellte sich jedoch eine Interaktion zwischen zwei Personen vor, und seine Regel oder sein "deutlicher Spruch" basiert, wie Baumrin (1988) herausstellt, darauf, daß die Interessen beider Personen gleiches Gewicht haben. Die Vorstellung, als Zielakteur und Nutznießer Interessen gegeneinander abzuwägen, erlaubt auf beiden Seiten eine beliebige Anzahl von Akteuren und geht nicht davon aus, daß die Interessen verschiedener Akteure gleiches Gewicht besitzen. Bei der Beantwortung der Frage, wie rationale Akteure Verfassungen bilden (und nicht der Frage, die Hobbes, Kant oder Rawls stellten, nämlich, was die Akteure tun sollten), gehe ich wie Rawls davon aus, daß sie ihre Interessen hinter einem Schleier des Nichtwissens gegeneinander abwägen. Wenn man jedoch die verfassungserzeugende Situation von der normerzeugenden Situation ableitet, zeigt sich, daß die Fragen, die Rawls für rationale Akteure stellt, nicht im geringsten auf die Konstruktion einer Verfassung für eine Körperschaft anwendbar sind - gleichgültig, ob es sich um einen Staat oder um eine Organisation handelt. Die richtigen Fragen haben ihren Ursprung in zwei Interessenmengen, nämlich den Interessen, die Akteure als Untergebene der so gegründeten Körperschaft besitzen werden (analog zu den Interessen der Zielakteure einer Norm), und den Interessen der Körperschaft selbst (analog zu den Interessen der Nutznießer einer Norm). Der Schleier des Nichtwissens ist in diesem Falle von besonderer Art: Nachdem sich jedes Individuum die Fragen gestellt hat, die seine Interessen als Zielakteur und als Nutznießer diktieren, kennt es für eine bestimmte Klasse von Ereignissen die Anzahl der Ziele einer gemeinschaftlichen Handlung und die Anzahl der Nutznießer, und jedes Individuum weiß, welche Kosten die gemeinschaftliche Handlung den Zielakteuren und welche Gewinne sie den Nutznießern bringt. Kein Individuum aber kennt seine eigene Position als Zielakteur oder Nutznießer, sei es fur ein bestimmtes Ereignis oder für alle Ereignisse der Klasse, die es erfährt. Das Individuum weiß nicht, ob es stets Zielakteur, stets
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Nutznießer oder - mit der Häufigkeit, die für die Gesamtbevölkerung e r wartet wird - manchmal Zielakteur und manchmal Nutznießer sein wird. Das Problem, dem sich jedes Individuum gegenübersieht, ist ganz einfach zu beschreiben. Welche Rechte sollen gemeinschaftlich und welche Rechte individuell behauptet werden? Für jede Klasse von Handlungen gilt die F r a ge, ob das Kontrollrecht über Handlungen dieser Klasse gemeinschaftlich oder individuell behauptet werden soll. Dieses Problem läßt sich als eine Variante des Problems betrachten, das sich dem zukünftigen Untergebenen stellt, wenn eine Herrschaftsbeziehung geschaffen wird, wie in Kapitel 4 erörtert wurde. Soll er die Herrschaft über eine bestimmte Klasse von Handlungen übertragen oder das Kontrollrecht selbst behalten? Mit dieser Sichtweise des Problems übernimmt man die Perspektive einer Philosophie der Naturrechte, in der Rechte in Individuen ihren Ursprung haben und nur gemeinschaftlich behauptet werden, nachdem jedes einzelne Individuum sie einer neu geschaffenen Körperschaft übertragen hat. Von diesem philosophischen Standpunkt aus sollte man das Problem j e doch nicht betrachten, denn, wie in Kapitel 3 ausgeführt wurde, existiert kein Recht ohne eine bestimmte Form von Konsens. Die angemessene Position zur Betrachtung des Problems ist, daß Rechte aus einem Konsens heraus entstehen und ohne Konsens nicht existieren. Rechte sind nicht Individuen eigen, sondern entstehen nur Uber einen Konsens; der Konsens selbst aber erfordert den Rückgriff auf Individuen. Rationale Individuen müssen sich also bei der Formulierung einer Verfassung diesem Problem von vornherein stellen. Die Antwort hängt davon ab, wie ein Individuum seine Interessen als Ziel einer gemeinschaftlichen Handlung innerhalb dieser Klasse von Ereignissen gegen seine Interessen als Nutznießer einer solchen Handlung abwägt. Für eine einzelne Klasse gemeinschaftlicher Projekte wie dem in Kapitel 10 oder eine einzelne Klasse räuberischer Handlungen, wie der, die zu der Vereinigung zu gegenseitigem Schutz aus Tabelle 13.1 führt, läßt sich das Problem auf einfache Weise lösen. In jeder Organisation oder jedem Staat sind jedoch verschiedene gemeinschaftliche Projekte denkbar wie auch v e r schiedene Angriffe von außen und verschiedene Arten individueller Handlungen, die auf andere externe Effekte ausüben (einschließlich negativer e x t e r ner Effekte, wie z.B. aufgrund von Diebstahl, oder positiver externer Effekte, wie jene, die aus heroischen Handlungen resultieren). Wie das Beispiel des gemeinschaftlichen Projekts aus Kapitel 10 und das Beispiel der Vereinigung zu gegenseitigem Schutz in diesem Kapitel zeigen, kann man sich gemeinsame Aktivitäten ebenfalls so vorstellen, daß sie sich aus individuellen Handlungen zusammensetzen, die auf andere externe Effekte ausüben. Einige Handlungen, die externe Effekte erzeugen, bringen schwerwiegende externe Effekte hervor, andere dagegen nicht. Für jede Klasse von Handlungen muß das Individuum, das sich hinter einem Schleier des Nichtwissens
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befindet, abschätzen, wie stark seine Interessen als mögliches Ziel der gemeinschaftlichen Handlung relativ zu seinen Interessen als möglicher Nutznießer der Handlung sein werden. Die Frage läflt sich genauso formulieren wie die generelle Frage aus Kapitel 4: Im Hinblick auf welche Handlungen bin ich daran interessiert, einer Körperschaft Kontrollrechte zu übertragen? Die Frage verlangt ein Abwägen der Interessen des Individuums als Ziel der gemeinschaftlichen Handlung und seiner Interessen als Nutznießer. Solange alle Individuen gleiche Erwartungen in bezug auf ihre Rollen als Zielakteure oder Nutznießer gemeinschaftlicher Handlungen hegen - und das tun sie, falls man von einem Schleier des Nichtwissens ausgeht - , werden sie sich einig darüber sein, welche Handlungen von Individuen und welche Handlungen von der Körperschaft kontrolliert werden sollen. Welches Kriterium wird ein rationaler Akteur bei der Bestimmung der Handlungen anwenden, deren Kontrollrechte auf die Körperschaft übertragen werden sollen? Er wird das Kriterium der Rationalität anwenden: Es werden dann Rechte in bezug auf eine Handlung der Körperschaft übertragen, wenn die Gewinne (oder Kosten), die aus der Ausführung der Handlung resultieren - errechnet aus allen Situationen, in denen man sich e r w a r tungsgemäß in dieser Position befindet - geringer sind als die Kosten (oder Gewinne), die aus externen Effekten der Handlung resultieren - errechnet aus allen Situationen, in denen man sich erwartungsgemäß in dieser Position befindet. Wenn Rechte über die Handlung der Körperschaft übertragen w e r den, entspricht die erste dieser beiden Positionen der des Zielakteurs und die zweite der des Nutznießers der gemeinschaftlichen Handlung. Es ist festzuhalten, daß die Struktur, wenn auch nicht der Inhalt, dieses Kriteriums dem von Rawls entspricht. Das Individuum, das sich hinter dem Schleier des Nichtwissens befindet, wägt die Kosten aus den gemeinschaftlich behaupteten Rechten (in den Situationen, in denen es Zielakteur der gemeinschaftlichen Handlung wäre) gegen die Gewinne dieser gemeinschaftlich behaupteten Rechte ab (in den Situationen, in denen es Nutznießer der gemeinschaftlichen Handlung wäre). Hier wird, wie in Rawls' Formulierung, ein interpersonaler Nutzenvergleich in einen intrapersonalen Vergleich umgewandelt. Rawls setzt jedoch voraus, daß Rechte gemeinschaftlich behauptet werden, und stellt eine Hilfsfrage ("Welche Ungleichheiten sind gerecht?"), die von dieser Rechtsallokation ausgeht. Ich stelle die Frage, die der Rechtsallokation logisch gesehen vorausgeht. Man könnte behaupten, daß sich meine Antwort nicht von dem ersten Prinzip unterscheidet, das sich nach Rawls hinter dem Schleier des Nichtwissens ausprägt, nämlich dem Prinzip des Höchstmaßes an Freiheit. Wenn aber Rawls dieses Prinzip ernst genommen hätte, hätte sich sein zweites Prinzip über das optimale Maß an Ungleichheiten auf die Entscheidung darüber gründen müssen, welche Rechte
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die Individuen sich als Kollektiv übertragen wollten bzw. welche Rechte sie beabsichtigten einzuschränken. Die Antwort auf diese Frage hätte dann die Rechte eingeschränkt, die dem Kollektiv verfügbar wären, um Ungleichheiten in der Gesellschaft zu reduzieren. Wie verschiedene Autoren herausgestellt haben, hat beispielsweise Rawls' zweites Prinzip zur Folge, daß die Ungleichheiten, die die Familie hervorruft, aufgehoben werden, was bedeutet, daß der Staat das Recht hat, Eltern ihre Kinder bei oder kurz nach der Geburt wegzunehmen. 5 Dies wiederum bedeutet den Verlust der Elternrechte an den Staat oder, in Rawls' Terminologie, die Einschränkung einer Freiheit. Es ist bestenfalls fragwürdig, ob Individuen hinter einem Schleier des Nichtwissens mit einer solchen Einschränkung einverstanden wären. Es ist wichtig, daß man diese Beschränkung der Übertragung von Kontrollrechten über den Gesellschaftsvertrag auf die Körperschaft deutlich macht, denn manche Theoretiker tun dies nicht. Rousseau übersieht diesen Punkt (was ihn, nach Talmon 1952, zum Vater der modernen totalitären D e mokratie macht), wie auch Rawls. Abgesehen vom Kriterium der Rationalität wird später in diesem Kapitel noch ein weiterer Grund offenbar werden, warum die Beschränkung von Rechten deutlich gemacht werden muß, wenn ich die Fähigkeit von einmal existierenden Körperschaften untersuche, durch Zwangsausübung über ihre Stellvertreter weitere Rechte von denjenigen zu erwerben, die sie ins Leben gerufen haben.
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Paradox
Wie wichtig die Unterscheidung zwischen individuell behaupteten und gemeinschaftlich behaupteten Rechten ist, läßt sich bei der Untersuchung eines Paradoxes nachvollziehen, das Sen (1970) beschrieben hat. Sen versucht zu zeigen, daß eine politische Philosophie des Liberalismus mit dem Kriterium der Pareto-Optimalität unvereinbar ist. Die Bedeutung und Paradoxie dieser Unvereinbarkeit, falls sie tatsächlich existiert, besteht darin, daß ParetoOptimalität ein Kriterium ist, das politische Maßnahmen nach ihren Konsequenzen für jedes Individuum einzeln bewertet, während der Liberalismus eine politische Philosophie ist, die politische Maßnahmen nach der Freiheit bewertet, die sie jedem einzelnen Individuum einräumen. Somit wird bei keinem der beiden Kriterien das freiheitliche Wohl eines Individuums gegen dasjenige eines anderen abgewogen (wie es z.B. beim Utilitarismus ge-
S Die Anwendung von Rawls' zweitem Prinzip w ü r d e e r f o r d e r l i c h m a c h e n , d a t der Staat tatsächlich u n e i n g e s c h r ä n k t e H e r r s c h a f t beim Ausmerzen von U n g l e i c h h e i t e n auslibt. die in der Familie und sonstwo i h r e n Ursprung haben. In Coleman (1974a) wird diese im w e s e n t l i c h e n totalitäre Folgerung von Rawls' T h e o r i e erörtert.
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schieht). Es wäre ein schwerer Vorwurf gegen den Liberalismus, wenn sich tatsächlich herausstellen würde, daß er mit der Pareto-Optimalität unvereinbar ist. Um sein Paradox zu verdeutlichen, führt Sen den Fall zweier Personen an, die sich nicht über das Lesen von D. H. Lawrence' Lady Chatterley und ihr Liebhaber einigen können. Sen nennt die beiden Zimperliese (Prude) und Lustmolch (Lascivious). möchte am liebsten, daß beide das Buch lesen. Zimperliese möchte am liebsten, daß keiner das Buch liest. Die zweitbeste Lösung für Lustmolch ist, daß Zimperliese das Buch liest, wenn sie es nicht beide lesen. Zimperliese möchte auch lieber das Buch selber lesen, als daß sie Lustmolch es lesen läßt, wenn einer von ihnen es lesen muß. Die Präferenzen sind in Tabelle 13.2 aufgeführt. Zimperliese präferiert die Ergebnisse D, B, C und A (in dieser Reihenfolge), und Lustmolch präferiert A, B, C und D. Eine Verfassung, die auf einer politischen Philosophie des Liberalismus basiert, würde beiden das Recht zugestehen, zu bestimmen, was sie lesen. Das heißt, daß Zimperliese das Recht hätte, entweder die obere oder die untere Zeile der Matrix zu wählen. Lustmolch hätte das Recht, entweder die linke oder rechte Spalte der Matrix zu wählen. Nach dieser Rechtsverteilung wird Zimperliese sich entscheiden, Lady Chatterley und ihr Liebhaber nicht zu lesen, und Lustmolch wird sich entscheiden, es zu lesen, was Ergebnis C entsprechen würde. Wie Sen herausstellt, ziehen beide aber Β C vor. Ergebnis C ist nicht Paretooptimal, weil beide Teilnehmer dieses Ergebnis weniger bevorzugen als E r gebnis Β (Zimperliese liest Lady Chatterley und ihr Liebhaber und Lustmolch liest es nicht). Der verwirrende Aspekt dieser offenkundigen Unvereinbarkeit liegt in der allgemeinen Motivation, die der Vorstellung Pareto-optimaler Schritte zugrunde liegt, und ihrer Ähnlichkeit mit der Motivation des Liberalismus. Es geht um folgendes. Wenn der Schritt von einer Maßnahme zu einer anderen die Situation einer Person verbessert, wird diese befürworten, daß dieser Schritt vollzogen wird, und wenn ein solcher Schritt niemand anderem schaTabelle 13.2 Wahlmöglichkeiten und Ergebnisse für Zimperliese und Lustmolch laut Sens Paradox Lustmolch liest
Zimperliese liest
Ja
Nein
Ja
A
Β
Nein
C
D
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Körper sc h aftsh
andeln
det, sollten keine Einwände gegen ihn vorliegen. Er w ä r e sozial e r s t r e b e n s w e r t , da er zu einem Zustand führen würde, der b e s s e r ist als der u r s p r ü n g liche Zustand. Zumindest eine Person befindet sich dann in einer b e s s e r e n Situation, und keine befindet sich in einer s c h l e c h t e r e n . Dieselbe V o r s t e l lung von Individuen, die ihre Stimme abgeben, um ihre P r ä f e r e n z e n zum Ausdruck zu bringen, liegt der politischen Philosophie des Liberalismus zugrunde. Dennoch befinden sich die beiden V o r s t e l l u n g e n in offenkundigem W i d e r s p r u c h zueinander. W a r u m ? 337
Wie Bernholz (1987) gezeigt hat, läßt sich Sens Paradox leicht lösen, wenn man auf die übliche Definition von Liberalismus s t a t t auf die enge D e finition zurückgreift, die Sen v e r w e n d e t . Nach der üblichen Definition haben Individuen die Freiheit, Rechte und Ressourcen auszutauschen. Sowohl L u s t molch als auch Z i m p e r l i e s e haben ein I n t e r e s s e an einem Austausch, der Z i m p e r l i e s e K o n t r o l l r e c h t e darüber verleiht, was Lustmolch liest, wofür Lustmolch K o n t r o l l r e c h t e darüber e r h ä l t , was Z i m p e r l i e s e liest. Dann würde Z i m p e r l i e s e Lustmolch vorschreiben, nicht Lady Chatterley und ihr Liebhaber zu lesen, und Lustmolch würde Z i m p e r l i e s e vorschreiben, es zu lesen, womit das P a r e t o - o p t i m a l e Ergebnis, nämlich B, realisiert würde. Trotz dieser einfachen Lösung offenbart sich in Sens Paradox ein grundlegender Unterschied zwischen P a r e t o - O p t i m a l i t ä t und individuellen R e c h ten. Der Schlüssel zu der Inkonsistenz zwischen Liberalismus und P a r e t o Optimalität liegt in der Rechtsverteilung, von der beide ausgehen. Damit immer ein P a r e t o - o p t i m a l e r Schritt möglich ist, b e d e u t e t dies, v o r a u s g e s e t z t daß keine besonderen Bedingungen vorliegen, die z.B. äußerst komplexe Austauschhandlungen nach sich ziehen, daß a l l e M a ß n a h m e n z e n t r a l kont r o l l i e r t werden müssen - trotz des offenkundigen Individualismus, auf dem die Idee der P a r e t o - O p t i m a l i t ä t b a s i e r t . Wenn die Veränderung, die für eine bestimmte Person eine Verbesserung bedeuten würde und anderen nicht schadet, nicht von dieser Person kontrolliert wird, gibt es, falls kein w o h l wollender Despot existiert, niemanden, der zu diesem Schritt motiviert w ä r e und genügend Macht hätte, ihn auszuführen. Im F a l l e von Z i m p e r l i e s e und Lustmolch könnte sich die Situation beider durch eine Wendung von Ergebnis C zu Ergebnis Β v e r b e s s e r n , doch keiner von beiden hat das Recht, eine s o l che Maßnahme zu e r g r e i f e n . Eine kollektive Entscheidung von beiden w ä r e e r f o r d e r l i c h , um diesen P a r e t o - o p t i m a l e n Schritt zu tun, doch nach der Rechtsverteilung, von der Sen ausgeht, werden Rechte nicht kollektiv, sondern individuell behauptet, was dem Liberalismus entspricht. H i e r muß ich kurz einen Begriff e r l ä u t e r n . Wenn ich von einem w o h l w o l lenden Despoten spreche, meine ich nicht nur einen A l l e i n h e r r s c h e r , dem alle Regierungsgewalt ü b e r t r a g e n wurde, sondern auch das Volk, dem a l l e Regierungsgewalt ü b e r t r a g e n wurde. In einer absoluten D e m o k r a t i e (in der alle R e c h t e kollektiv b e h a u p t e t w e r d e n ) kann das V o l k genauso viel
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und Willkür ausüben wie ein einzelner Despot. Die wesentliche Unterscheidung, die zum Verstehen von Sens Paradox beiträgt, liegt zwischen der Kontrolle von Handlungen durch eine einzelne Körperschaft und der Kontrolle durch Individuen. Die Unterscheidung zwischen einem einzelnen r e gierenden Akteur, der von einer kollektiven Entscheidung gesteuert wird, bei der individuelle Präferenzen eine Rolle spielen, und einem einzelnen regierenden Akteur, der vom Willen eines Alleinherrschers gesteuert wird, ist zweitrangig. Sen hat nun ein System eingerührt, in dem Lustmolch Kontrollrechte über die Wahl ausübt, welche für Zimperliese am bedeutendsten ist (ob Lustmolch das Buch liest oder nicht), und Zimperliese Kontrolle über die Wahl hat, die für Lustmolch am bedeutendsten ist (ob Zimperliese das Buch liest oder nicht). In dieser Situation sind die externen Effekte der Handlung des anderen auf die eigene Befriedigung größer als die direkten Effekte der eigenen Handlung - und dies gilt Tür beide Parteien. Genau dies aber ist die Bedingung, unter der Pareto-Optimalität und Liberalismus (wie Sen ihn definiert) in Widerspruch zueinander stehen. Pareto-Optimalität bedeutet, daß Anpassungen gemacht werden müssen, bei denen die Gewinne jedes Individuums oder seine Präferenzen von Ergebnissen berücksichtigt werden, und Liberalismus bedeutet, daß Individuen ihre eigenen Handlungen kontrollieren. Der Individualismus der Pareto-Optimalität ist ein Individualismus des Gewinns, doch der Individualismus des Liberalismus ist ein Individualismus der Kontrollrechte. Ein wohlwollender Despot, der eine totale Kontrolle ausübt, kann den Schritt tun, der Pareto-Optimalität zum Ergebnis hat, wobei der Individualismus des Gewinns beibehalten wird - indem er sicherstellt, daß nicht die Befriedigung einer Person vermindert wird, wenn sich die Befriedigung einer anderen Person erhöht. Eine individualistische Kontrolle kann dies nur e r reichen, wenn Personen diejenigen Ereignisse kontrollieren, die Für sie von größtem Interesse sind, oder wenn sie über einen Austausch Kontrolle über diese Ereignisse erlangen können. Dieser Unterschied läßt sich besser verstehen, wenn man drei politische Philosophen — Jeremy Bentham, Jean Jacques Rousseau und John Stuart Mill - und den ökonomischen Soziologen Vilfredo Pareto miteinander vergleicht. Bentham stellte sich ein einziges soziales Optimum vor, "das größte Glück für die größte Anzahl". Dieses Optimum wird mittels eines impliziten interpersonalen Vergleichs erreicht, den ein wohlwollender Despot vornimmt. Der Despot ist jedoch nicht durch Paretos Prinzip, dem Prinzip vom Individualismus des Gewinns, gebunden, weil der interpersonale Vergleich ihm zu sagen erlaubt, ob der Gewinn einer Person größer ist als der Verlust einer anderen, und er daher einigen einen Verlust zufügen kann, um Für andere einen größeren Gewinn zu erzielen. Für Bentham ist der wohlwollende
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Despot eine Legislative. In seinem Constitutional Code sagt er: "Warum sollte man der Legislative alle Kompetenzen einräumen? ... Weil sie dann eher in der Lage ist, den Willen des obersten Gesetzgebers in die Tat umzusetzen und die Interessen und die Sicherheit der Staatsbürger zu fördern ... Jegliche Beschränkung steht dem allgemeinen Glücksprinzip entgegen" (1983 [1841], S. 119). Für Rousseau stellt die individuelle Kontrolle den Naturzustand dar. Beim Schaffen eines Gesellschaftsvertrags übergibt jedes Individuum jedoch dieses Kontrollrecht dem Gemeinwillen. Wie Bentham hat Rousseau die Vorstellung eines einzigen sozialen Optimums, das von einem wohlwollenden Despoten, dem Gemeinwillen, geschaffen wird. Wie auch bei Bentham kann das Wohl einiger Rousseaus sozialem Optimum zum Opfer fallen. Im Gegensatz zu Bentham hat Rousseau jedoch nicht die Vorstellung, daß der wohlwollende Despot als Kriterien für die Schaffung des sozialen Optimums individuelle Nutzen heranzieht. Beim Abschließen des Gesellschaftsvertrages haben Individuen nicht nur individuelle Kontrollrechte aufgegeben, sondern auch individuelle Nutzen. Es gibt nicht nur einen Gemeinwillen, der für das Kollektiv Handlungen ergreift. Das soziale Optimum wird mit Hilfe des Nutzens für das Kollektiv in Gestalt eines supraindividuellen Gebildes definiert. Mills Position ist das andere Extrem zu Rousseau. Wie Rousseau geht Mill in seinem Werk Über die Freiheit (1974 [1859]) von Individuen aus, die die Kontrollrechte über ihre eigenen Handlungen behaupten. Für Mill aber behalten die Individuen die meisten dieser Rechte. Die Folgen für andere Individuen bilden das Entscheidungskriterium dafür, welche Rechte dem Kollektiv übertragen werden sollten. Die Kontrollrechte über die Handlung verbleiben nur dann nicht in der Hand des Individuums, wenn die Folgen für andere relativ zu den Folgen für das Individuum selbst bedeutend sind (hier verwendet Mill implizit denselben interpersonalen Vergleich wie Bentham, allerdings auf der früheren Stufe der Verfassungsformulierung). Paretos Optimalitätskriterium entspricht dem Benthams insofern, als seine Realisierung einen wohlwollenden Despoten erfordern kann. Es unterscheidet sich von Benthams insofern, als seine Realisierung anhand einer getrennten Überprüfung von Gewinnen oder Präferenzen von Ergebnissen jedes einzelnen Individuums erfolgt. Es gibt also für Pareto nicht ein einziges soziales Optimum, wie für Bentham, sondern eine Menge sozialer Optima, die nicht miteinander verglichen werden können - es sei denn, daß der Despot bereit wäre, die Gewinne der einen Person zugunsten der Gewinne einer anderen zu verringern, wozu er nach Paretos Kriterium nicht bereit ist. In diesem Sinne basiert Pareto-Optimalität auf einem Individualismus des G e winns. Diese vier Theoretiker lassen sich in bezug auf drei Dimensionen miteinander vergleichen:
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1. Die Handlung wird individuell oder kollektiv kontrolliert. 2. Gewinne aus Ergebnissen charakterisieren Individuen oder das Kollektiv. 3. Wenn die Gewinne Individuen charakterisieren, werden sie einzeln oder vergleichend b e w e r t e t .
In T a b e l l e 13.3 sind diese vier Theoretiker gemäß der obigen Diskussion sechs Feldern zugewiesen worden, die sich aus diesen drei Dimensionen e r geben. Ein Vergleich zwischen Bentham und Rousseau zeigt, wo sich die beiden im Hinblick auf die Dimensionen der Tabelle entsprechen und wo sie sich unterscheiden. In Vom Gesellschaftsvertrag (1977 11756]) sagt Rousseau unmißverständlich, daß, obwohl der Gemeinwille in individuellen P r ä f e r e n z e n auf der Verfassungsebene seinen Ursprung hat, alle Kontrollrechte nach Formulierung der Verfassung einem einzelnen regierenden Akteur ü b e r t r a gen werden, dessen Aufgabe darin besteht, den Gemeinwillen aufzunehmen und in seinem Namen zu handeln. Benthams Position ist hier weniger scharf, weil die kollektive Entscheidung, die von einer gesetzgebenden V e r s a m m lung gefällt wird, auch nach Formulierung der Verfassung die treibende K r a f t für Regierungshandlungen bleibt. Aufgrund dieses Unterschieds wird Bentham in Tabelle 13.3 unter "Gewinne charakterisieren Individuen" und Rousseau unter "Gewinne charakterisieren das Kollektiv" eingeordnet. Daß Bentham, so wie Rousseau, in der Zeile der kollektiven Kontrolle aufgerührt ist, ist seinem Kriterium des größten Glücks für die größte Anzahl zuzuschreiben wie auch seinen bereits zitierten Aussagen. Wenn Handlungen keine externen Effekte aufwiesen, wären Mill und P a reto im selben Feld von Tabelle 13.3 aufgeführt. Wenn die Handlung jedes Tabelle 133 Klassifikation politischer Philosophien nach Individualismus von Kontrolle und Gewinnen Gewinne charakterisieren Individuen individuell beweitete Gewinne Individuelle Kontrolle
1
Kollektive Kontrolle
4
Pareto
Gewinne charakterisieren das Kollektiv
vergleichend bewertete Gewinne 2
MUI
3
5
Bentham
6
Rousseau
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einzelnen nur Auswirkungen auf ihn selber hat, ruft die von eigennützigen Individuen behauptete Kontrolle ihrer Handlungen dieselben Handlungen hervor wie die Kontrolle durch einen wohlwollenden Despoten. W e n n aber Handlungen ausreichend große e x t e r n e E f f e k t e haben, zeigen sich U n t e r schiede zwischen Mill und P a r e t o . Aufgrund solcher e x t e r n e r E f f e k t e muß P a r e t o Feld 4 zugeordnet werden, weil er den Individualismus bei der B e wertung von Gewinnen aufrecht erhält - auf Kosten des Individualimus in bezug auf K o n t r o l l r e c h t e . Mill wird dagegen Feld 2 zugeordnet, weil e r individuelle K o n t r o l l r e c h t e aufrecht e r h ä l t , während er den V e r g l e i c h zwischen der G r ö ß e interner E f f e k t e und e x t e r n e r E f f e k t e zuläßt. Jede dieser beiden Positionen wirft jedoch P r o b l e m e auf. Für P a r e t o stellt sich die folgende Frage. W i e können Individuen ihre r e l a t i v e n Bewertungen verschiedener Ergebnisse zum Ausdruck bringen, wenn sie keine Handlung ausführen dürfen, die diese P r ä f e r e n z bekundet? Im Hinblick auf das früher beschriebene Beispiel, das Sen anführt, hieße das: Wie kann zum Ausdruck gebracht werden, daß Z i m p e r l i e s e Ergebnis Β (vgl. T a b e l l e 13.2) Ergebnis C vorzieht, wenn Zimperliese, nach Sens Rechtsallokation, nur zwischen den Ergebnispaaren A und Β bzw. C und D wählen darf? Das Prinzip der a u f g e deckten P r ä f e r e n z e n b e d e u t e t , daß P r ä f e r e n z e n nur durch ihre Aufdeckung zum Ausdruck gebracht werden können, d.h. durch das T r e f f e n einer W a h l . Und der Ü b e r g a n g von Ergebnis C zu Ergebnis Β würde in diesem F a l l e , g e mäß der P a r e t o - O p t i m a l i t ä t , bedeuten, daß das Recht der Wahlausübung z u rückgezogen und ein wohlwollender Despot angenommen werden müßte, wobei weder Z i m p e r l i e s e noch Lustmolch in der Lage sind, eine P r ä f e r e n z zum Ausdruck zu bringen. Diese Schwierigkeit legt nahe, daß eine nicht d i f f e r e n z i e r e n d e Anwendung des Kriteriums der P a r e t o - O p t i m a l i t ä t auf Ergebnisse oder soziale Zustände mit dem Ignorieren von K o n t r o l l r e c h t e n über b e s t i m m t e E l e m e n t e solcher Zustände gleichbedeutend ist. Die Tatsache, daß dem Begriff der P a r e t o Optimalität eine explizite Berücksichtigung von K o n t r o l l r e c h t e n fehlt, e r zwingt die Vorstellung eines Despoten, der das uneingeschränkte Recht b e sitzt, a l l e möglichen Maßnahmen zu kontrollieren, der jedoch wohlwollend und liberal ist und eine Maßnahme nur dann e r g r e i f t , wenn niemandem Schaden zugefügt wird und jemand einen Gewinn e r f ä h r t . Aus Mills Position ergeben sich ebenfalls Schwierigkeiten. Mill v e r t r i t t die Vorstellung (welche in seinem Zitat in Kapitel 4 f e s t g e h a l t e n ist), daß R e c h t e nach Formulierung der Verfassung individuell behauptet werden s o l len, mit Ausnahme der Situation, in der ein V e r g l e i c h der direkten E f f e k t e und e x t e r n e n E f f e k t e der Handlung eines Individuums erbringt, daß e r s t e r e so bedeutend sind, daß die Kontrolle kollektiv e r f o l g e n sollte. D a r a u s aber folgt auf der Verfassungsebene genau das Gegenteil zu Mills Liberalismus: O b w o h l R e c h t e a u f d i e s e r E b e n e i n d i v i d u e l l b e h a u p t e t w e r d e n , ist e i n e
Art
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von kollektiver Entscheidung erforderlich, die direkte Effekte einer lung mit externen Effekten vergleicht, um zu bestimmen, welche nach Formulierung der Verfassung weiterhin individuell behauptet sollen und welche Rechte so bedeutende externe Effekte nach sich daß die Kontrolle nun zentral erfolgen sollte.
23 HandRechte werden ziehen,
Diese Probleme lassen sich weiter erhellen, wenn weitere politische Philosophen in Tabelle 13.3 aufgenommen werden. Beispielsweise ergibt sich aus Rawls' Eine Theorie der Gerechtigkeit (1975 [1971]), daß die Anwendung seiner zwei Prinzipien (ein Höchstmaß an Freiheit im Einklang mit gleicher Freiheit für alle und Ausmerzung aller Ungleichheiten außer denjenigen, die dem am wenigsten Bevorzugten einen Gewinn verschaffen) erfordern würde, daß nach Formulierung der Verfassung alle Rechte zentral behauptet w e r den. Denn wenn dies nicht der Fall wäre, gäbe es keine Möglichkeit (nach Rawls' Kriterium), unerwünschte Ungleichheiten auszumerzen, die sich im Verlaufe von Alltagsaktivitäten ergeben, wie z.B. Ungleichheiten aufgrund des familiären Hintergrundes. Somit gliedert sich Rawls in die untere Zeile von Tabelle 13.3 ein. Es ist jedoch nicht klar, in welche Spalte er gehört. Die alleinige Berücksichtigung des Nutzens des am wenigsten Bevorzugten ist nahezu gleichbedeutend mit der Berücksichtigung von Gewinnen, die das Kollektiv charakterisieren, weil der Nutzen des am wenigsten bevorzugten Individuums ein einzelnes Kriterium für das Kollektiv als Ganzes darstellt und nicht den Nutzen jedes einzelnen Individuums berücksichtigt. Folglich weist Rawls' Position Ähnlichkeiten mit Rousseaus Position auf, der Feld 6 zugewiesen worden ist. Da andererseits ein Vergleich von Nutzenniveaus (implizit) notwendig ist, um das am wenigsten bevorzugte Individuum zu b e stimmen, weist Rawls einige Gemeinsamkeiten mit Bentham auf, der sich in Feld 5 befindet. Rawls' Annahme, daß Individuen auf der Verfassungsebene hinter einem Schleier des Nichtwissens eine Wahl treffen, bedeutet jedoch, daß Rechte individuell behauptet und Gewinne kollektiv bewertet werden, was eine Zuordnung zu Feld 1 nahelegen würde. Für Rawls entsteht nach Formulierung einer Verfassung nur deswegen ein allgemein anerkanntes Prinzip und nicht pure Anarchie, weil jeder einzelne sich hinter einem Schleier des Nichtwissens befindet und somit alle unabhängig voneinander zu denselben Gerechtigkeitsprinzipien gelangen. Die Tatsache, daß Rawls auf der Ebene der Verfassungsformulierung in Feld 1 zu gehören scheint, nach Formulierung der Verfassung jedoch in Feld 5 oder 6, macht es verständlich, warum seine Theorie so vielfältige Deutungen erfährt. Diese Untersuchung von Sens Paradox und den Positionen verschiedener politischer Philosophen in bezug auf die jeweils vorhandenen Dimensionen des Handelns bezeugt die Bedeutung der Rechtsallokation für die Formulierung einer Verfassung. Sie bezeugt auch die zentrale Stellung von externen E f fekten - sowohl unökonomischer als auch ökonomischer Externalitäten - in
24
Körper
schaftshandeln
einer Verfassungstheorie, denn nur aufgrund der Existenz von externen E f fekten zeigen sich die meisten entscheidenden Probleme, die verschiedene philosophische Positionen voneinander scheiden. Nur anhand der Existenz von externen E f f e k t e n läßt sich eine Philosophie mit einem Individualismus der Kontrolle, wie Mills Liberalismus, von einer Philosophie abgrenzen, die einen Individualismus bei der Bewertung von Konsequenzen vertritt, wie bei Paretos Optimalitätskriterium.
Gemeinschaftliches Handeln zur zur Förderung öffentlicher Güter
Verhinderung
öffentlicher
Ungiiter
und
Jedes Individuum, das sich in bezug auf seine zukünftige Stellung hinter dem Schleier des Nichtwissens befindet, wägt Interessen als Nutznießer gegen Interessen als Zielakteur ab, wobei dieses Abwägen für verschiedene K l a s sen von Handlungen jeweils anders ausfällt. Dies führt zu einer Verfassung, in der bestimmte Rechte von Individuen als Individuen und bestimmte Rechte von eben diesen Individuen als Kollektiv, d.h. von der K ö r p e r s c h a f t , behauptet werden. Ist die Körperschaft ein Staat, stellen die individuell b e h a u p t e ten Rechte bürgerliche Freiheiten dar, während die kollektiv behaupteten die Macht des Staates verkörpern. In der Verfassung der Vereinigten Staaten spezifiziert die Bill of Rights gemeinsam mit späteren Zusatzartikeln den Kern der von Individuen behaupteten Rechte. Andere Teile der Verfassung spezifizieren Rechte, die von den Vereinigten Staaten behauptet werden. Eine Differenzierung zwischen zwei breitgefaßten Klassen von Handlungen hat bedeutende Folgen Tür das Abwägen der Interessen von Zielakteuren bzw. Nutznießern. Diese beiden Klassen umfassen Handlungen mit negativen externen Effekten und Handlungen mit positiven externen Effekten. Der Unterschied läßt sich vielleicht am besten verdeutlichen, wenn man Positionen untersucht, die von bestimmten politischen Philosophen v e r t r e t e n werden. 342
John Stuart Mill berücksichtigt nur negative e x t e r n e E f f e k t e . Er stellt folgende Frage: "Wo ist denn nun also die gerechte G r e n z e für die H e r r schaft des Individuums über sich selbst? Und wo beginnt die Autorität der G e s e l l s c h a f t ? " (1974 [18591, S. 103). Wie wird diese Frage, wenn sie nicht nur in bezug auf individuelle Souveränität, sondern auf der Stufe der V e r fassungsformulierung vom Individuum gestellt wird, von einem rationalen Individuum beantwortet? Für Mill gibt das Individuum nur dann seine Souveränität auf, wenn seine Handlungen die Interessen anderer schwerwiegend beeinträchtigen. Wie Mill sagt, "sollte man die Frage [ob man sich mit der Handlungsweise eines einzelnen b e f a ß t l , nicht erörtern, wenn die Handlung nur die Interessen des Betreffenden selbst angeht oder die anderer mit ihrem Willen"(1974 C1859Í, S. 104).
Verfassungen
und die Bildung von Körperschaften
25
Doch es gibt noch eine zweite Möglichkeit, diese fundamentale Frage zu beantworten, die mit positiven externen Effekten zu tun hat. Dies wird anhand der Arbeit von Nozick (o. J. [1974]) deutlich, der manchmal als ein ebenso entschiedener Vertreter des Liberalismus wie Mill betrachtet wird. Nozick geht zunächst, wie Mill, von Naturrechten aus, doch seine Frage nimmt eine andere Perspektive an: Welche Rechte und Ressourcen werden rationale Akteure freiwillig einem Kollektiv übertragen? Nozicks Antwort darauf lautet, daß sie nicht in einem Zustand der Anarchie verharren, sondern einige Minimalrechte und Ressourcen einer sogenannten vorherrschenden Schutzvereinigung übertragen werden, weil jedem einzelnen Gewinne aufgrund wechselseitiger positiver externer Effekte aus den Schutzhandlungen aller erwachsen. Als negative externe Effekte sieht Nozick nur diejenigen, die aus der räuberischen Handlung entstehen, gegen die die vorherrschende Schutzvereinigung einschreiten soll. 6 Die Rechte und Ressourcen, die notwendig sind, um einen Beitrag zu der vorherrschenden Schutzvereinigung zu gewährleisten, sind jedoch möglicherweise viel umfangreicher als diejenigen, die nur zur Verhinderung negativer externer Effekte erforderlich sind. Die von Nozick gestellte Frage ist Teil einer umfassenderen Frage: W e l che Übertragung von Rechten auf eine Körperschaft ergibt Tür ein Individuum, das am Erreichen bestimmter Ziele interessiert ist, die Mischung aus kollektivem und individuellem Handeln, die diese Ziele am besten realisiert? Diese Frage setzt, wie die von Mill gestellte Frage, voraus, daß das Individuum Interessen als Nutznießer einer gemeinschaftlichen Handlung (d.h. als Nutznießer der gemeinschaftlichen Projekte) besitzt und auch Interessen als Zielakteur (als Beitragsleistender zu den gemeinschaftlichen Projekten). In der Antwort auf diese Frage sind die Interessen des Nutznießers einer gemeinschaftlichen Handlung relativ zu denen des Zielakteurs normalerweise stärker, als es für Mills Frage gilt. Nozicks Fragestellung behandelt die Körperschaft im wesentlichen als ein Instrument (oder als den Stellvertreter) der Mitglieder des Kollektivs. Sie sieht die Handlung der Körperschaft als eine Alternative zu individuellem Handeln an und fragt, welche Rechtsallokation zwischen diesen beiden Akteuren die Ziele des Individuums am effektivsten verwirklicht.
6 Die Ä h n l i c h k e i t , die Nozicks v o r h e r r s c h e n d e Schutzvereinigung mit den Schutztruppen a u f w e i s t , die in m a n c h e n n a h e z u a n a r c h i s t i s c h e n Stadtvierteln von Banden organisiert werden, zieht die Frage nach sich, w e l c h e Institutionen denn in Noz i c k s idealem System existieren, um den Z w a n g zu v e r h i n d e r n , den solche vorh e r r s c h e n d e n Schutzvereinigungen ausüben k ö n n e n - ein Zwang, der Nozicks Begriff individueller Rechte g e n a u entgegengesetzt ist. D a i Nozick e i n e r solchen G e f a h r relativ w e n i g A u f m e r k s a m k e i t schenkt, ist ein Indiz ftlr e i n e a l l g e m e i n e Blindheit gegenüber der Bedeutung sozialer Institutionen auf Seiten von Moralphilosophen, die sich n a h e z u ausseht ¡eftlich mit a b s t r a k t e n Prinzipien b e s c h ä f t i g e n .
26
Körperschaftshandeln D a s P r o b l e m b e s t e h t n a t ü r l i c h darin, daß M i l l s F r a g e und N o z i c k s F r a g e
343
d i e s e l b e R e c h t s m e n g e b e t r e f f e n , obwohl sie v e r s c h i e d e n e F r a g e n d a z u s t e l l e n . E s kann d u r c h a u s sein, daß sich die R e c h t s a l l o k a t i o n , die f ü r die B e s c h r ä n k u n g n e g a t i v e r e x t e r n e r E f f e k t e optimal ist, für die E r z e u g u n g p o s i t i v e r e x t e r n e r E f f e k t e nicht im g e r i n g s t e n in o p t i m a l e r W e i s e a u s w i r k t . U m zu b e s t i m m e n , wann die G e s e l l s c h a f t das R e c h t
haben sollte,
bei
H a n d l u n g e n e i n z u s c h r e i t e n , die n e g a t i v e e x t e r n e E f f e k t e auf a n d e r e haben, b z w . die S o u v e r ä n i t ä t des Individuums e i n z u s c h r ä n k e n , w e n d e t M i l l ein e i n f a ches K r i t e r i u m an: "Sobald irgend e t w a s in d e r H a n d l u n g s w e i s e eines e i n z e l nen den B e l a n g e n a n d e r e r A b b r u c h tut, hat die G e m e i n s c h a f t R e c h t s g e w a l t ü b e r ihn " (1974 [1859], S. 104), denn "die b ö s e n F o l g e n seines
Handelns
f a l l e n dann nicht auf ihn, sondern auf a n d e r e , und die G e m e i n s c h a f t , als B e s c h ü t z e r i n a l l i h r e r M i t g l i e d e r , muß V e r g e l t u n g an ihm ü b e n , muß ihm Leid z u f ü g e n zu d e m a u s d r ü c k l i c h e n Z w e c k der B e s t r a f u n g und d a f ü r s o r g e n , daß sie s t r e n g genug a u s f ä l l t " (S. 109-110). In N o z i c k s F r a g e s t e l l u n g wird die K ö r p e r s c h a f t j e d o c h als ein I n s t r u m e n t der M i t g l i e d e r b e t r a c h t e t , mit d e s s e n H i l f e einige i h r e r
Ziele
realisiert
w e r d e n , und h a t somit nur mit positiven e x t e r n e n E f f e k t e n zu tun, die H a n d lungen von Individuen a u f e i n a n d e r ausüben können. D a s h ä u f i g s t e Z i e l d i e s e r A r t , für das R e g i e r u n g e n gebildet w u r d e n , ist g e g e n s e i t i g e V e r t e i d i g u n g . D e r positive e x t e r n e E f f e k t ä u ß e r t sich darin, daß V e r t e i d i g u n g ein ö f f e n t l i c h e s G u t für eine M e n g e g e o g r a p h i s c h b e n a c h b a r t e r Individuen d a r s t e l l t .
Eine
P e r s o n , die sich s e l b s t v e r t e i d i g t , v e r t e i d i g t damit g l e i c h z e i t i g a n d e r e in ihrer Umgebung. In a n d e r e n F o r m e n s o z i a l e r O r g a n i s a t i o n , in die m a n a b s i c h t l i c h e i n t r i t t , kann das e n t s p r e c h e n d e ö f f e n t l i c h e G u t e t w a s sein, das d e r k o l l e k t i v e n V e r teidigung v e r g l e i c h b a r ist. P e r s o n e n , die in e i n e m H a n d w e r k a r b e i t e n , k ö n nen sich in W o h l f a h r t s g e n o s s e n s c h a f t e n z u s a m m e n s c h l i e ß e n , u m sich g e g e n U n g l ü c k s f ä l l e a b z u s i c h e r n (vgl. die E r ö r t e r u n g von B e r u f s g e n o s s e n s c h a f t e n für D r u c k e r in L i p s e t , T r o w und C o l e m a n 1956), und A r b e i t e r in H a n d w e r k oder I n d u s t r i e können sich in einer G e w e r k s c h a f t o r g a n i s i e r e n , u m in T a r i f v e r h a n d l u n g e n mit ihren A r b e i t g e b e r n e i n z u t r e t e n . In a n d e r e n F ä l l e n
ver-
spricht m a n sich von der O r g a n i s a t i o n einen f i n a n z i e l l e n G e w i n n , wie bei e i n e r M e n g e von A n l e g e r n , die ein U n t e r n e h m e n g r ü n d e n w o l l e n . In a l l e n diesen F ä l l e n spiegelt die V e r f a s s u n g oder G r ü n d u n g s u r k u n d e d e r K ö r p e r s c h a f t das g e m e i n s a m e I n t e r e s s e a m Z u s a m m e n l e g e n von R e s s o u r c e n w i d e r wie auch das Z i e l , die K ö r p e r s c h a f t mit einer M e n g e v o n R e c h t e n zu v e r s e hen, die sie in die L a g e v e r s e t z t , die g e m e i n s c h a f t l i c h e n Z i e l e zu e r r e i c h e n . D i e v e r f a s s u n g s m ä ß i g e F r a g e , die sich ein r a t i o n a l e r A k t e u r s t e l l e n muß, z e r f ä l l t somit in z w e i g r u n d l e g e n d e T e i l f r a g e n , und für j e d e muß d e r A k t e u r sich in der R o l l e eines N u t z n i e ß e r s sowie eines Z i e l a k t e u r s des
gemein-
schaftlichen H a n d e l n s sehen. D a s z e n t r a l e P r o b l e m b e s t e h t darin, daß diese
Verfassungen
und die Bildung von Körperschaften
27
beiden Teilfragen nicht unabhängig voneinander beantwortet werden können. Die Souveränität, die das rationale Individuum aufgeben kann, um negative externe Effekte einzuschränken - oder um, wie Hayek (1976, S. 8) es ausdrückt, "Regeln gerechten individuellen Verhaltens" zu begründen und durchzusetzen - , reicht möglicherweise nicht aus, um die kollektiven Gewinne zu erzielen, die dasselbe rationale Individuum erlangen möchte, indem es gemeinsam mit anderen Rechte auf die Körperschaft Uberträgt. Überdies sind dabei vielleicht zwingend Rechte eingeschlossen, die, sind sie erst einmal der Körperschaft Ubertragen worden, gegen das Individuum eingesetzt werden könnten, und zwar letztendlich in dem Sinne, daß es mittels dieser Rechte gezwungen würde, weitere Rechte aufzugeben, die es sich vorbehalten hatte. Für ein öffentliches Gut ist geradezu charakteristisch, daß das rationale Individuum nicht freiwillig zu seiner Bereitstellung beiträgt. Folglich wird die Freiheit von Zwang im Hinblick auf eine bestimmte Klasse von Handlungen wahrscheinlich ein Recht sein, das es in der Phase der Verfassungsformulierung aufgeben wird, um positive externe Effekte zu erzielen. Beispielsweise erklärt sich das rationale Individuum möglicherweise mit einer Einberufung zum Militär einverstanden, die die kollektive Verteidigung zu Kriegszeiten gewährleisten soll. Das Recht, zur Zahlung von Steuern gezwungen zu werden, wird nahezu notwendigerweise zu den Rechten gehören, die das rationale Individuum in der Phase der Verfassungsbildung aufgibt, um in den Genuß der Gewinne zu kommen, die durch die Kombination individueller Ressourcen zum Erreichen gemeinschaftlicher Ziele bereitgestellt werden. Dieses Recht wird nicht nur in zivilisierten Gesellschaften aufgegeben, sondern auch in freiwilligen Organisationen wie Gewerkschaften, die Mitgliedschaftsbeiträge und Streikabgaben verlangen. Das Aufgeben von Rechten wie diesen kann die Büchse der Pandora öffnen, denn die Körperschaft, die unbeschränkte Besteuerungsrechte innehat, kann sich alle Ressourcen aneignen, um ein beliebiges Ziel zu erreichen. Hayek (1981 [1976]) drückt es folgendermaßen aus:
Obwohl die Aufrechterhaltung einer spontanen Ordnung der Gesellschaft die primäre Bedingung der allgemeinen Wohlfahrt ihrer Mitglieder ... ist, müssen wir ... kurz ein anderes Element des Gemeinwohls erwägen ... Es gibt viele Arten von Diensten, die Menschen sich wünschen, die aber nur erbracht werden können, wenn die Mittel unter Zwang erhoben werden, weil derartige Dienstleistungen nicht auf diejenigen beschränkt werden können, die bereit sind, dafür zu bezahlen. Sobald einmal ein Zwangsapparat existiert und vor allem, wenn dieser Apparat das Zwangsmonopol besitzt, ist es selbstverständlich, daß er auch damit betraut wird, die Mittel für die Bereitstellung solcher 'kollektiver Güter' aufzubringen...
344
28
Körperschaftshandeln
Die gesamte Geschichte der Entwicklung öffentlicher Einrichtungen ist eine Geschichte fortwährenden Kampfes, besondere Gruppen daran zu hindern, den Regierungsapparat zum Nutzen des Kollektivinteresses dieser Gruppen zu mißbrauchen. Dieser Kampf ist gewiß nicht mit der gegenwärtigen Tendenz beendet, alles als Gemeininteresse zu definieren, wofür sich eine Mehrheit, die sich aus einer Koalition organisierter I n t e r essen bildet, entscheidet. (S. 20-21)
So führt die Untersuchung der vollständigen Verfassungsfrage, welche das rationale Individuum sich stellt, von einer beschränkten Körperschaft, die lediglich die Macht hat, die Regeln zu wahren, die Individuen von der Zufügung gegenseitigen Schadens abhalten, zu einer Körperschaft, die Rechte und Zwangsmacht besitzt, Individuen alle Ressourcen wegzunehmen, die sie selbst zu beliebigen eigennützigen Zwecken nötig hat. Diese Art von Körperschaft ist nicht eine bloße dominante Schutzvereinigung, wie Nozick sie sieht, ein Minimalstaat, dem lediglich Rechte zur kollektiven Verteidigung übertragen worden sind. Sie ist eine vollwertige Körperschaft, die Zwangsmacht über ihre Mitglieder ausübt. Die Frage, die sich dann stellt, lautet einfach, wie die Ziele der Körperschaft so eingeschränkt werden können, daß sie die Interessen des rationalen Individuums als Nutznießer wie auch als Ziel der gemeinschaftlichen Handlung wahrnimmt.
Positive Sozialtheorie
345
Die Hilfsmittel, die Moralphilosophen und politische Philosophen im Zusammenhang mit der Festlegung der kollektiv behaupteten Rechtsmenge und der individuell behaupteten Rechtsmenge als sinnvoll erachten (deutlicher Spruch, kategorischer Imperativ, Schleier des Nichtwissens) weisen vom Standpunkt einer positiven Sozialtheorie aus einen grundlegenden Mangel auf. Dieser Mangel ist der Rolle zuzuschreiben, die diese Hilfsmittel bei der Umwandlung eines interpersonalen Nutzenvergleichs in einen intrapersonalen Vergleich spielen. Jede Person wägt die Gewinne (oder Kosten), die sie als Akteur aus einer Handlung erwartet, gegen die Kosten (oder Gewinne) ab, denen sie sich als eine der Personen, die von externen Effekten der Handlung betroffen sind, gegenübersieht. Wenn aber dieses Abwägen v e r wendet wird, um alle interpersonalen Interessenkonflikte in intraindividuelle Konflikte umzuwandeln, dann muß entweder vorausgesetzt werden, daß jede Person völlig unwissend in bezug auf ihre zukünftigen Aktivitäten ist oder daß alle Personen letztendlich die gleiche Mischung zukünftiger Aktivitäten aufweisen. Beide Voraussetzungen treffen für bestehende G e s e l l s c h a f t e n o f -
Verfassungen
und die Bildung von Körperschaften
29
fenkundig nicht zu. Wenn eine positive Sozialtheorie von diesen Voraussetzungen ausgehen würde, könnte sie darüber hinaus auch nicht Konflikte zwischen Personen oder Gruppen erklären, die auftreten, wenn Körperschaften ins Leben gerufen werden. Läßt man diese Voraussetzungen außer acht, bleibt die Tatsache bestehen, daß jeder Akteur seine Interessen als Nutznießer gemeinschaftlichen H a n delns gegen seine Interessen als Zielakteur abwägt, doch die Mischung wird für Personen in verschiedenen Positionen unterschiedlich sein - und zwar abhängig von der erwarteten Interessenmischung als Nutznießer und Zielakteur in dieser Position. 7 Die von Person zu Person unterschiedlichen Interessenmischungen erzeugen verschiedene Präferenzen im Hinblick auf Rechtsübertragungen auf die Körperschaft, und diese Präferenzunterschiede wiederum erzeugen interpersonale Interessenkonflikte. Im gesamten sozialen System findet ein Abwägen von Interessen statt, doch in diesem Prozeß spielt Macht eine bedeutende Rolle. Das Interesse jedes einzelnen Akteurs zugunsten einer Rolle als Nutznießer oder Zielakteur erhält je nach der Macht dieses Akteurs an Gewicht. Wie in Kapitel 31 gezeigt wird, wird zur Lösung dieses Interessenkonfliktes die Rechtsallokation angestrebt, die von den gewichtigsten Interessen befürwortet wird. Die Lösung wird ohne offenen Konflikt erfolgen, wenn die schwächere Seite ihre relative Stärke richtig einschätzt. Dagegen wird sie nach einem offenen Konflikt erfolgen, wenn die schwächere Seite ihre relative Stärke ausreichend überschätzt. So erfordert der Übergang von den normativen Überlegungen der politischen Philosophie zu einer positiven Sozialtheorie das Lüften des Schleiers des Nichtwissens insofern als verschiedene Individuen unterschiedliche Interessenmischungen als Nutznießer und Zielakteur voraussehen. Dies führt zu einer wichtigen Frage.
Welche Folgen hat es, wenn nicht jedes Individuum gleichermaßen nießer und Ziel der gemeinschaftlichen Handlung ist?
Nutz-
Die oben eingeführte Vorstellung, nach der die Wahl einer Verfassung hinter einem Schleier des Nichtwissens stattfindet, trifft viel eher auf polnische Adlige des sechzehnten Jahrhunderts zu, die über den Umfang der Rechtsmenge entscheiden mußten, die ihrem König übertragen werden sollte, als auf die Ehefrau eines Leibeigenen einer dieser Adligen - oder auch auf
7 Die U n t e r s c h e i d u n g z w i s c h e n Person und Tätigkeit oder z w i s c h e n Person und Position ist hier e b e n f a l l s von Bedeutung. In dem Malte, in dem e i n e Person sich zuk ü n f t i g in einer a n d e r e n Position sehen k a n n , k a n n a u c h die M i s c h u n g der von ihr e r w a r t e t e n Interessen als Nutznie6er und Z i e l a k t e u r variieren.
30
Körperschaftshandeln
A n g e h ö r i g e der polnischen M i t t e l s c h i c h t von 1948, die e r l e b t e n , wie d u r c h die I n t e r v e n t i o n eines N a c h b a r s t a a t e s , der Sowjetunion, ü b e r ihnen ein S t a a t e r r i c h t e t w u r d e . D i e F r a u des L e i b e i g e n e n h ä t t e die H e r r s c h a f t s ü b e r t r a g u n g auf d e n König lediglich als G i p f e l einer b e r e i t s b e s t e h e n d e n h i e r a r c h i s c h e n H e r r s c h a f t s s t r u k t u r e m p f u n d e n , i n n e r h a l b d e r e r sie sich u n t e r i h r e m E h e 346
mann befand, der seinerseits dem Adligen unterstellt w a r . D e r Angehörige der p o l n i s c h e n M i t t e l s c h i c h t von 1948 h ä t t e die S t a a t s g r ü n d u n g als g e w a l t s a m e H a n d l u n g e m p f u n d e n , die e n t w e d e r von einer g e s e l l s c h a f t l i c h e n K l a s se, den A r b e i t e r n , v o l l f ü h r t w o r d e n w ä r e , u m (mit H i l f e d e r
Sowjetunion)
eine z e n t r a l e H e r r s c h a f t u n t e r der K o n t r o l l e d i e s e r K l a s s e zu b e g r ü n d e n und i h r e I n t e r e s s e n zu v e r f o l g e n , oder a b e r von e i n e m N a c h b a r s t a a t ,
der
Sowjetunion, u m eine z e n t r a l e H e r r s c h a f t u n t e r d e r e n K o n t r o l l e zu b e g r ü n den und i h r e I n t e r e s s e n zu v e r f o l g e n . Beide S z e n a r i e n u n t e r s c h e i d e n
sich
g r u n d l e g e n d von der Bildung einer k o n j u n k t e n V e r f a s s u n g , wie sie von p o l i t i s c h e n Philosophen g e s e h e n w u r d e , die eine M e n g e u n a b h ä n g i g e r Individuen an den A n f a n g s t e l l e n , die a l l e die v o l l k o m m e n e R e c h t s g e w a l t ü b e r
ihre
H a n d l u n g e n b e s i t z e n . Von S t a a t e n kann m a n j e d o c h b e h a u p t e n ,
ihre
daß
G r ü n d u n g so vor sich geht. E s gibt einsichtige G r ü n d e für die Behauptung, daß die m e i s t e n
Staaten
von e i n e r M e n g e von Individuen g e g r ü n d e t w e r d e n , wie es d e r von H o b b e s g e p r ä g t e n V o r s t e l l u n g e n t s p r i c h t , wobei die S t a a t e n j e d o c h einer
anderen
M e n g e von Individuen a u f g e z w u n g e n w e r d e n , die zu wenig R e s s o u r c e n b e s i t zen, u m eine s o l c h e G r ü n d u n g zu v e r h i n d e r n . D i e M e n g e d e r Individuen, die den S t a a t g r ü n d e n ( a l l e r d i n g s e r s t n a c h den e i n z e l n e n I n t e r e s s e n k o n f l i k t e n und P r o b l e m e n der k o l l e k t i v e n E n t s c h e i d u n g , die in d e n
vorangegangenen
A b s c h n i t t e n b e s c h r i e b e n w u r d e n ) , können b e i s p i e l s w e i s e A d l i g e sein, die ein g r o ß e s V e r m ö g e n b e s i t z e n oder sogar D ö r f e r , die i h r e r H e r r s c h a f t u n t e r s t e hen, wie es im P o l e n des s e c h z e h n t e n J a h r h u n d e r t s der F a l l w a r . E s können weiße, w o h l h a b e n d e , m ä n n l i c h e H a u s h a l t s v o r s t ä n d e sein, wie b e i d e r G r ü n dung d e r V e r e i n i g t e n S t a a t e n im a c h t z e h n t e n J a h r h u n d e r t . E s kann sich u m den L a n d a d e l wie zur Z e i t der M a g n a C h a r t a oder h e u t z u t a g e in m a n c h e n s ü d a m e r i k a n i s c h e n L ä n d e r n h a n d e l n . O d e r es kann das P r o l e t a r i a t sein, wie in Rußland nach der R e v o l u t i o n von 1917. In a l l e n F ä l l e n a b e r wird d e r S t a a t als A g e n t von lediglich einer U n t e r m e n g e d e r j e n i g e n g e g r ü n d e t , die er von nun an r e g i e r e n w i r d . T r o t z
der von H o b b e s
entwickelten
einnehmenden
M e t a p h e r , daß sich a l l e M e n s c h e n im K r i e g g e g e n e i n a n d e r b e f i n d e n , ist diese Situation nicht der einzige Ausgangspunkt, von d e m aus S t a a t e n mit H e r r s c h a f t über die H a n d l u n g e n von B ü r g e r n e n t s t e h e n . O f t e n t s t e h e n sie d u r c h die Ausübung von Z w a n g s m a c h t einer U n t e r g r u p p e oder Schicht ü b e r
eine
a n d e r e . D a s heißt, daß eine S t a a t s g r ü n d u n g o f t m a l s n a c h einer R e v o l u t i o n , e i n e m S t a a t s s t r e i c h oder e i n e r E r o b e r u n g e r f o l g t - also n a c h e i n e r Aktion, die die Anwendung von G e w a l t e i n s c h l i e ß t .
Verfassungen und die Bildung von
Körperschaften
31
Tabelle 13.4 Auszahlungen fur drei Akteure unter kollektiver Herrschaft mit asymmetrischen Ergebnissen
Leistet einen Beitrag
Leistet einen Beitrag
Leistet keinen Beitrag
Leistet keinen Beitrag
Leistet einen Beitrag
Leistet keinen Beitrag
Leistet einen Beitrag
Leistet keinen Beitrag
24,6,6
12,15,3
12,3,14
0, 12,12
12, 3, -9
12, -9, 3
0, 0, 0
24, -6,
Auch wenn zur Gründung eines Staates G e w a l t e r f o r d e r l i c h gewesen ist, ist es möglich, daß der Staat selbst bei denjenigen, die gegen seine Gründung Widerstand geleistet haben, Legitimität erlangt. Wenn sich beispielsweise die Situation aller unter der H e r r s c h a f t des S t a a t e s v e r b e s s e r t , obwohl einige mehr Gewinne e r z i e l t haben als andere, ist die Entwicklung von Legitimität (d.h. das Ü b e r t r a g e n von H e r r s c h a f t auf den S t a a t ) wahrscheinlich. B e t r a c h ten wir z.B. die Auszahlungsmatrix in T a b e l l e 13.4. Wenn vor der Gründung eines H e r r s c h a f t s s y s t e m s die von den drei A k t e u r e n gewählten Handlungen D, D und D waren, gibt es vier mögliche Handlungskombinationen für eine K ö r p e r s c h a f t , die zumindest für alle gut und für einige besser wären: C C C , C C D , C D C und C D D . Ein H e r r s c h a f t s s y s t e m mag nur mittels Ausübung von Zwang, die auf einen Kampf folgt, begründet werden, weil jeder einzelne die E r g e b nisse ganz unterschiedlich einstuft. Akteur 1 b e w e r t e t C C C am höchsten, Akteur 2 b e w e r t e t b e w e r t e t C D C am höchsten, und Akteur 3 b e w e r t e t b e w e r t e t C C D am höchsten. Unabhängig davon, wie der Kampf ausgeht, wird das Ergebnis für jeden einzelnen günstiger sein als der ursprüngliche Zustand, f a l l s einer der drei A k t e u r e gewinnt und K o n t r o l l e über das H e r r s c h a f t s s y s t e m e r l a n g t . Mit der autoritären K o n t r o l l e durch Akteur 1, 2 oder 3 (wie in einer Aristokratie) v e r b e s s e r t sich die Situation jedes einzelnen aufgrund der Produktivität, die durch das Ergebnis C C C , C D C oder C C D , verglichen mit dem ursprünglichen Zustand D D D , e r z i e l t wird. Auch wenn für die A k t e u r e unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten dafür existieren, inwieweit sie N u t z nießer und Z i e l a k t e u r e der gemeinschaftlichen Handlung werden, w e r d e n a l l e Nettonutznießer sein, und von allen ist zu e r w a r t e n , daß sie der K ö r p e r s c h a f t K o n t r o l l r e c h t e über diese Handlung ü b e r t r a g e n .
347
32
Körperschaftshandeln
Tabelle 13 J
Auszahlungen für drei Akteure unter kollektiver Herrschaft, wobei zumindest ein Akteur immer in einer schlechteren Situation ist als bei dem Ergebnis DDD
Leistet einen Beitrag
Leistet keinen Beitrag
A,
A„
Leistet einen Beitrag
Leistet keinen Beitrag
Leistet einen Beitrag
Leistet keinen Beitrag
Leistet einen Beitrag
-2,3,3
A 6,1
-4,1,6
-6,4,4
Leistet keinen Beitrag
4, -1, -1
2, 2, -3
2, -3, 2
0, 0, 0
W e n n b e i der G r ü n d u n g einer
Herrschaftsstruktur
Gewalt
angewendet
w i r d , muß das E r g e b n i s j e d o c h nicht unbedingt eines sein, das die S i t u a t i o n j e d e s e i n z e l n e n v e r b e s s e r t . In T a b e l l e 13.5 wird ein F a l l d a r g e s t e l l t , in d e m kein a n d e r e s E r g e b n i s für a l l e A k t e u r e günstiger ist als das
anarchistische
E r g e b n i s D D D , auch wenn j e d e r a n d e r e Z u s t a n d p r o d u k t i v e r ist ( g e m e s s e n an d e r S u m m e der E r g e b n i s s e ) . In einer s o l c h e n Situation w ä r e ein K a m p f u m die Bildung einer S t a a t s h e r r s c h a f t zu e r w a r t e n . E r l a n g t A k t e u r 1, 2 oder 3 die K o n t r o l l e , wird das E r g e b n i s j e w e i l s D C C , C D C oder C C D sein. E r l a n gen die A k t e u r e 1 und 2 die K o n t r o l l e g e m e i n s a m , wird das E r g e b n i s
DDC
l a u t e n ; bei den A k t e u r e n 1 und 3 l a u t e t es D C D und bei den A k t e u r e n 2 und 3 C D D . K e i n e s davon ist das p r o d u k t i v s t e E r g e b n i s , und b e i j e d e m E r g e b n i s gilt, daß sich die Situation eines A k t e u r s g e g e n ü b e r d e m a n a r c h i s t i s c h e n Z u stand v e r s c h l e c h t e r t . Von e i n e r s o l c h e n K o n f i g u r a t i o n ist nicht z u e r w a r t e n , daß sie in d e n A u g e n des A k t e u r s , d e s s e n Situation sich v e r s c h l e c h t e r t , L e g i t i m i t ä t e r l a n g t . G e m ä ß e i n e r n o r m a t i v e n T h e o r i e d e r Bildung k o n j u n k t e r V e r f a s s u n g e n wie
Gesellschaftsverträge,
die hinter
einem
Schleier
des
N i c h t w i s s e n s a b g e s c h l o s s e n w e r d e n , ließe sich in e i n e m s o l c h e n F a l l keine V e r f a s s u n g f o r m u l i e r e n . In j e g l i c h e T h e o r i e einer V e r f a s s u n g s f o r m u l i e r u n g m ü ß t e u n t e r s o l c h e n U m s t ä n d e n Z w a n g mit eingehen - und z w a r nicht nur in der P h a s e n a c h F o r m u l i e r u n g d e r V e r f a s s u n g , n a c h d e m d e r
Körperschaft
R e c h t e ü b e r t r a g e n w u r d e n , sondern schon w ä h r e n d d e r V e r f a s s u n g s f o r m u lierung. D i e e m p i r i s c h e U n t e r s u c h u n g der P e r i o d e der S t a a t e n g r ü n d u n g e n t h ü l l t in v i e l e n F ä l l e n einen U n t e r s c h i e d z w i s c h e n d e n Individuen, die a m e h e s t e n in die R o l l e des N u t z n i e ß e r s d e r g e m e i n s c h a f t l i c h e n H a n d l u n g k o m m e n , und
Verfassungen
und die Bildung von Körperschaften
33
denjenigen, die am ehesten in die Rolle des Ziels der gemeinschaftlichen Handlung kommen. Zu ersteren gehört die relativ kleine Menge von Personen, die den Staat ins Leben rufen und die man im allgemeinen als Staatsgründer {founding fathers) betrachtet. Im Falle der Vereinigten Staaten gehörten zu dieser Menge ein Teil der politischen und wirtschaftlichen Elite aus den dreizehn Kolonien und die Führer des Unabhängigkeitskrieges, aus denen die Urheber und Unterzeichner der Verfassung ausgewählt wurden. Im Falle der Sowjetunion waren es die Führer der Bolschewiki, die die Revolution geplant und eine bedeutende Rolle bei ihrer Durchführung gespielt h a t ten. Im Falle Englands war es der Landadel. Im Falle Israels waren es Kibbuzmitglieder, Mitglieder der zionistischen Bewegung und der sozialistischen Arbeiterbewegung sowie Führer im Unabhängigkeitskrieg.
348
Für alle diese Personen sind die Überlegungen des Nutznießers der gemeinschaftlichen Handlung dominierend. Die von Ludwig XIV geprägte Formel "L'état, c'est moi" stellt ihre Position prototypisch dar. Ihre Identifikation mit dem neuen Staat ist stärker als ihre Aufmerksamkeit bezüglich ihrer eigenen Interessen und der Interessen anderer als Ziele der Staatshandlungen. Weil diese Personen die Abfassung der formalen Verfassung und die Gründung staatlicher Institutionen kontrollieren, berücksichtigt die V e r f a s sung normalerweise eher die Interessen der Nutznießer als die der Zielakteure. Obwohl man sich vorstellen kann, daß ein Gesellschaftsvertrag unter rationalen Individuen zu einer optimalen Verfassung führt, führt die H e t e r o genität unter Individuen im Hinblick auf Macht und im Hinblick auf die Mischung der Interessen als Nutznießer und Zielakteure somit fast zwangsläufig dazu, daß der Körperschaft übermäßig viele Rechte übertragen werden. Es ist beispielsweise möglich, daß das Fehlen einer Formulierung grundlegender Rechte von Individuen in der Verfassung der Vereinigten Staaten (was bald durch die Hinzufügung der Bill of Rights als den ersten zehn Zusatzartikeln korrigiert wurde) auf diese Asymmetrie zurückzufuhren war. Die Frühgeschichte vieler Staaten, die als Demokratien organisiert sind, weist eine Periode auf, in der Wahlen ein großes Maß an Vertrauen in die Staatsgründer widerspiegeln. Kandidaten beschwören nahezu gar nicht individuelle Interessen, dagegen sehr stark allgemeine Interessen - und damit die Interessen des Nationalstaates als Körperschaft. Die Periode wird oft durch eine entscheidende Wahl beendet, in der ein Kandidat zum ersten Mal aufgrund von parteilichen Appellen an eine bestimmte soziale Gruppe gewählt wird, die durch Merkmale wie Regionalität, soziale Schicht, Einwandererstatus oder irgendein anderes Kriterium definiert ist. In den Vereinigten Staaten erfolgte dies 1828 mit der Wahl von Andrew Jackson. In Israel war die Wahl von Menachem Begin 1977 durch parteiliche Appelle gekennzeichnet, die sich zum ersten Mal an Juden östlicher Herkunft richteten. In Großbritannien, wo die Regierungselite nicht aus Staatsgründern eines neuen
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34
Körper
schafIshandeln
Staates bestand, sondern aus Überlieferern der Traditionen des Landadels, war der Wandel gekennzeichnet durch den Aufstieg der Labour Party, die die Liberalen als eine der beiden großen politischen Parteien ersetzten.
Wandel in einer disjunkten Verfassung: Amerikanische Oberschulen Der bisher in diesem Kapitel beschriebene verfassungsmäßige Prozeß ist für konjunkte Verfassungen relevant, die von der Menge von Akteuren begründet werden, die der Herrschaft der Körperschaft unterworfen sein werden, oder von einer Untergruppe dieser Akteure. Es gibt jedoch auch disjunkte V e r f a s sungen. Diejenigen, die die - implizite oder explizite - Verfassung begründen, sind disjunkt zu denen, die der Körperschaftsautorität unterstellt sein werden. Das heißt, daß die hauptsächlichen Nutznießer gemeinschaftlich behaupteter Rechte und ihre hauptsächlichen Zielakteure disjunkt sind. Die hauptsächlichen Nutznießer begründen den verfassungsmäßigen Rahmen der Herrschaft, und die hauptsächlichen Zielakteure sind der Herrschaft unterstellt. Das folgende Beispiel wird zeigen, daß sich ein Wandel in der relativen Macht von Zielakteuren und Nutznießern im Falle einer disjunkten Verfassung stark auf die Anzahl der gemeinschaftlich behaupteten Rechte auswirken kann. Das Beispiel betrifft die impliziten Verfassungen, die Oberschulen der Vereinigten Staaten aufweisen. (Ein ähnlicher Wandel hat sich auch in einigen westlichen Gesellschaften vollzogen, doch ich werde die entsprechenden Fälle außer acht lassen.) Ich werde mich auf den wahrscheinlich bedeutendsten Wandel unter solchen Verfassungsänderungen zwischen 1960 und 1980 konzentrieren: das Ausmaß der Herrschaft des Lehrerkollegiums über die Schüler. Die implizite Verfassung einer Oberschule wird nicht über einen Prozeß geschaffen, wie ich ihn in früheren Abschnitten dieses Kapitels beschrieben habe. Es findet keine Rechtsübertragung von den Kindern auf die Schule statt, die Eltern oder Vormunde der Kinder haben ihre Kontrollrechte über die Handlungen der Kinder der Schule übertragen. Schulen arbeiten von a l tersher nach dem Prinzip in loco parentis, indem sie anstelle der Eltern Herrschaft ausüben. Mit der Delegation von Herrschaft wird eine implizite Verfassung geschaffen. Die Schule wird zu einer Körperschaft, die b e stimmte Rechte über Handlungen von Schülern besitzt, die wiederum von der Schulleitung oder Stellvertretern der Schulleitung ausgeübt werden. Die von einer Schule behauptete Rechtsmenge wird nur zum Teil gesetzlich festgesetzt. Ein beträchtlicher Anteil wird durch eine gemeinschaftsinterne Verfassung festgelegt. Diese Verfassung wird im Grunde von Eltern der Schüler formuliert, die durch den Aufsichtsrat der Schule und andere Organe a g i e r e n , w e l c h e in I n t e r a k t i o n m i t d e r S c h u l l e i t u n g d i e R e c h t s m e n g e d e f i n i e -
Verfassungen
und die Bildung von Körperschaften
35
ren, die von der Schule behauptet wird. Einzelne Eltern geben stillschweigend ihr Einverständnis zu der Verfassung, wenn sie ihre Kinder an der Schule anmelden. Wenn neue Kohorten von Kindern in die Schule kommen, weisen sie eine andere Herrschaftsbeziehung zu ihren Eltern als ihre Vorgänger auf. Es gibt auch Änderungen in dem Ausmaß an Herrschaft, die von Eltern auf die Schule übertragen wird. Beispielsweise waren Schulen vor fünfzig oder mehr Jahren noch befugt, Schüler körperlich zu züchtigen, indem man einen Schüler z.B. mit dem Lineal auf die Hand oder einem Gürtel auf den Hosenboden schlug. Dann aber vollzog sich ein verfassungsmäßiger Wandel, und dieses Recht wurde nach und nach der Herrschaft der Schulen entzogen, da immer mehr Eltern der Schule diese Befugnis nicht mehr übertragen wollten. Schließlich wurde den Schulen das Recht, körperliche Züchtigungen durchzurühren, gesetzlich entzogen. Seit dem Zweiten Weltkrieg und vor allem seit den frühen sechziger Jahren haben drei soziale Veränderungen die rechtswirksamen Verfassungen von Schulen grundlegend gewandelt. Dies hat dazu geführt, daß sich die Menge der gemeinschaftlich behaupteten Rechte bis zu einem Punkt verringert hat, an dem viele Schulen einen Rückfall in den von Hobbes beschriebenen Zustand eines anarchistischen Krieges erleben, in dem jeder gegen jeden kämpft. Die erste dieser Veränderungen endete damit, daß Eltern weniger Autorität über ihre Kinder ausübten und das Alter, in dem die elterliche Autorität über viele Handlungen ihrer Kinder von den Eltern aufgegeben wird, herabgesetzt wurde. Bis in die sechziger Jahre hinein wurde die Autorität über Konsum, Freizeit, Kleidung und sexuelle Aktivitäten ihrer Kinder von den meisten amerikanischen Eltern während der gesamten Oberschulzeit ausgeübt. Seitdem haben immer mehr Eltern während der ersten oder mittleren Oberschuljahre ihrer Kinder die Autorität über diese Bereiche aufgegeben. Die implizite Verfassung der Familie hat sich gewandelt, was hauptsächlich auf die gewachsene Macht der Kinder zurückzuführen ist. Deren Ressourcen haben sich im Verhältnis zu den Ressourcen der Eltern vermehrt, weil die auf Großfamilie und Nachbarschaft gegeründete Sozialstruktur geschwunden ist und das Angebot an kommerziell erzeugten Freizeitangeboten zugenommen hat. Wenn Eltern Uber ihre Kinder keine Autorität mehr ausüben, können sie diese Autorität auch nicht der Schule übertragen. Eine zweite Veränderung hat die Grundlage des Konsenses geschwächt, der zwischen Personen aus dem Einzugsgebiet einer Schule bestand. Die Grundlage des örtlichen Konsenses war eine funktionale Gemeinschaft, die sich um einen bestimmten Ort gruppierte. Diese auf Nachbarschaft fundierte Gemeinschaft ist nun im Schwinden begriffen, und zwar hauptsächlich wegen der Erweiterung des Beförderungssystems, die die Trennung von Arbeits-
350
36
Körperschaftshandeln
platz und Wohnort erlaubt, und außerdem auch wegen der großen Zahl von Frauen, die auf den Arbeitsmarkt drängen, was Vereinigungen auf Gemeinschaftsbasis einen großen Teil ihrer Grundlage entzieht. Aufgrund dieser Abnahme eines örtlichen Konsenses findet eine Variation der elterlichen Autorität, die ansonsten zwischen Gemeinschaften zu beobachten wäre, innerhalb von Gemeinschaften statt. Eine große Anzahl von Oberschulen haben in ihren Bereichen einige Eltern zu verzeichnen, die einen Großteil der Autorität über ihre jugendlichen Kinder aufgegeben haben und diese Autorität nicht auf die Schule übertragen. Eine dritte Veränderung ist das vermehrte Vorkommen von Gerichtsverfahren, die von einem einzelnen Akteur zur Beilegung von Streitigkeiten initiiert werden können (was wiederum zum Teil auf das Schwinden konsenserzeugender Strukturen zurückzuführen ist). Diese drei Veränderungen zusammengenommen haben beispielsweise dazu geführt, daß viele Schulen mit Eltern zu tun haben, die bereit sind, gegen die schulische Ausübung von Autorität über ihr Kind gerichtlich vorzugehen. In den sechziger Jahren gab es eine Reihe von Prozessen, die Eltern gegen die schulische Disziplinierung ihrer Kinder wegen Kleiderfragen angestrengt hatten. Die langen Haare von Jungen waren dabei ein wichtiges Thema. Schließlich wurden rechtliche Präzedenzfälle geschaffen, die den Schulen viel weniger Autorität als vorher über die Kleidung von Schülern zugestand. Schulische Autorität ist immer noch in vielerlei Fällen ein Anlaß für Eltern, vor Gericht zu ziehen. Die Autorität der Schule nimmt weiter in dem Maße ab, wie die Autorität von Eltern über ihre Kinder abnimmt. Es liegt auf der Hand, daß die Existenzfähigkeit von Schulen als Institutionen, die ihre v e r fassungsmäßige Autorität von der der Eltern ableiten, die sich in der geographischen Nähe der Schule befinden, schwindet. Diese drei Veränderungen in der Sozialstruktur außerhalb der Schule haben letztendlich die Bedingungen zerstört, von der die impliziten Verfassungen amerikanischer Oberschulen abhingen. Die Verfassungen sind im Grunde Gesellschaftsverträge zwischen Eltern gewesen, die in geographisch eingegrenzten Gebieten leben. Zwei Möglichkeiten für die Schaffung neuer V e r fassungen für Oberschulen scheinen durchführbar zu sein, von denen die eine radikaler als die andere ist. Die weniger radikale Alternative besteht darin, eine disjunkte Verfassung beizubehalten, deren Vertragsparteien weiterhin die Eltern sind (womit man das Prinzip in loco parentis als die Grundlage der schulischen Autorität über die Kinder aufrechterhält), aber "wohnhaft in der hiesigen Gegend" als Definitionsmerkmal der Eltern auszuschalten, die den Gesellschaftsvertrag abschließen. Stattdessen würde der Gesellschaftsvertrag von Eltern abgeschlossen, die eine bestimmte Schule für ihre Kinder auswählen. Die Kinder würden einer Schule nicht aufgrund ihres Wohnorts z u g e w i e s e n w e r d e n , s o n d e r n n a c h d e r W a h l i h r e r E l t e r n , so w i e
private
Verfassungen
und die Bildung von Körperschaften
37
Schulen nach einem Gutscheinsystem oder sogenannte "magnet schools" im öffentlichen Sektor ausgewählt werden. 8 Diese Alternative läßt sich jedoch nur verwirklichen, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind. Die Bevölkerungsdichte des Gebiets muß so groß sein, daß eine Schulwahl ohne lange Anfahrtwege möglich ist, und die Eltern der Oberschüler müssen genügend Autorität behalten, um sie der Schule übertragen zu können. Wenn die erste Bedingung nicht erfüllt ist, gibt es keine Wahlmöglichkeit (obwohl Oberschulen natürlich kleiner sein können als zur Zeit). Wenn die zweite Bedingung nicht erfüllt ist, sind die Eltern nicht die richtigen Partner für den Gesellschaftsvertrag, da sie nicht die Autorität besitzen. In diesem Falle wäre eine konjunkte Verfassung die angemessene Verfassungsform, wobei die OberschUler selbst Partner des Gesellschaftsvertrages wären. Weil zweifelsohne weiterhin eine generelle von Erwachsenen auferlegte Schulpflicht bis zum 16. Lebensjahr bestehen würde, wären die Verfassungen nicht völlig endogen (wie sie es z.B. in Jugendbanden sind), sondern würden sich bestimmten gesetzlich auferlegten Beschränkungen fugen. Verträge, die den gesetzlichen Richtlinien entsprechen würden, könnten von der Schulleitung oder vom Lehrerkollegium entworfen werden, und Jugendliche (nicht Eltern) würden eine Auswahl aus verschiedenen Verträgen treffen, die von unterschiedlichen Schulen angeboten würden. An diesem verfassungsmäßigen Wandel in Oberschulen zeigt sich, inwiefern eine Veränderung in der relativen Macht verschiedener Akteure (in diesem Falle Eltern und Kinder) bedeutende Folgen für eine disjunkte V e r fassung hat. Das Beispiel ist besonders interessant, da eine Schule eine e x treme Körperschaftsform ist, die mittels einer disjunkten Verfassung ins L e ben gerufen wurde. Der Wandel ist auch deshalb von besonderem Interesse, weil er möglicherweise zu einer konjunkten Verfassungsgrundlage Tür die Schule führt.
Eine optimale Verfassung Wenn man Normen als Vorläufer von Verfassungen ansieht, kann man ebensogut wie nach der Optimalität einer Norm nach der Optimalität einer V e r fassung fragen. Im Hinblick auf eine einzelne Klasse von Handlungen mit
8 Einige "magnet schools" weisen einen expliziten Gesellschaftsvertrag auf. Der Elternteil (und in manchen Schulen auch das Kind) unterzeichnet einen Vertrag, der die Regeln spezifiziert, mit denen sich der Unterzeichner einverstanden erklärt. (Magnet schools sind Agglomerate von frei wählbaren Uberregionalen Schulen, die in den 70er und 80er Jahren in den USA mancherorts eingerichtet wurden, um ein Gegengewicht zu den Gemeinde- und Bezirksschulen zu schaffen, deren Besuch früher und Uberall und vielerorts noch heute Pflicht war oder ist. [Anm. d. UbersJ)
38
Körper
schaftshandeln
e x t e r n e n E f f e k t e n gibt es zwei r e l e v a n t e Z u s t ä n d e d e r R e c h t s a l l o k a t i o n . In d e m einen w e r d e n die R e c h t e v o m A k t e u r b e h a u p t e t , im a n d e r e n von denen, auf die sich die e x t e r n e n E f f e k t e a u s w i r k e n . B e s t e h t der z w e i t e
Zustand,
kann m a n s a g e n (anhand der in K a p i t e l 10 g e g e b e n e n D e f i n i t i o n einer N o r m ) , daß eine N o r m diese K l a s s e von H a n d l u n g e n s t e u e r t . D i e s e r Z u s t a n d , in d e m eine N o r m e x i s t i e r t , ist o p t i m a l , wenn die K o s t e n (oder G e w i n n e ) d e r e x t e r n e n E f f e k t e für diejenigen, die sie e r f a h r e n , g r ö ß e r sind als die G e w i n n e (oder K o s t e n ) d e r H a n d l u n g für d e n A k t e u r . W e n n m a n davon a u s g e h t , daß es z w e i E r g e b n i s s e gibt, von d e n e n das eine die I n t e r e s s e n des A k t e u r s und das a n d e r e die I n t e r e s s e n a n d e r e r A k t e u r e f ö r d e r t , dann ist dies die B e d i n gung, u n t e r d e r das E r g e b n i s , das die I n t e r e s s e n des A k t e u r s f ö r d e r t , als ine f f i z i e n t oder n i c h t - o p t i m a l b e z e i c h n e t w e r d e n könnte. D i e s b e d e u t e t , wie in f r ü h e r e n K a p i t e l n a u s g e f ü h r t w u r d e , daß die I n t e r e s s e n (oder N u t z e n ) v e r s c h i e d e n e r P e r s o n e n v e r g l e i c h b a r sind, und dies w i e d e r u m heißt, daß es eine M e n g e von R e s s o u r c e n gibt, die j e d e r A k t e u r b e s i t z t , sowie T r a n s a k t i o n e n , die diese R e s s o u r c e n u m f a s s e n , w o d u r c h j e d e m e i n z e l n e n eine r e l a t i v e M a c h t v e r l i e h e n wird. Die r e l a t i v e M a c h t v e r l e i h t den I n t e r e s s e n d e r A k t e u r e in d i e s e m V e r g l e i c h ein b e s t i m m t e s
Gewicht.
(All dies wird noch p r ä z i s e r in den K a p i t e l n 30 und 31 b e h a n d e l t . ) E s ist möglich, über die s o z i a l e E f f i z i e n z von E r g e b n i s s e n h i n a u s z u g e h e n und die s o z i a l e E f f i z i e n z e i n e r R e c h t s a l l o k a t i o n zu b e t r a c h t e n . Sozial e f f i z i e n t e E r g e b n i s s e e r f o r d e r n v i e l l e i c h t , daß A k t e u r e n R e c h t e a b g e k a u f t w e r den, die ihnen u r s p r ü n g l i c h z u g e t e i l t w o r d e n w a r e n , wobei die K ä u f e r a n d e r e A k t e u r e sind, für die die R e c h t e einen g r ö ß e r e n W e r t b e s i t z e n . E i n e sozial e f f i z i e n t e R e c h t s a l l o k a t i o n - z w i s c h e n Individuum und K o l l e k t i v - ist eine, die w e n i g e r R e c h t s k ä u f e z u m E r z i e l e n sozial e f f i z i e n t e r E r g e b n i s s e e r f o r dert. Die Idee einer sozial e f f i z i e n t e n oder o p t i m a l e n V e r f a s s u n g ist lediglich eine G e n e r a l i s i e r u n g der oben g e n a n n t e n V o r s t e l l u n g von einer auf v i e l e H a n d l u n g s k l a s s e n . Für j e d e K l a s s e ließe sich d i e s e l b e F r a g e s t e l l e n , die zu einer A l l o k a t i o n von R e c h t e n über diese K l a s s e von H a n d l u n g e n Führt - wobei die R e c h t e in die H ä n d e des Individuums g e l e g t w e r d e n , das die H a n d l u n g a u s f ü h r t , oder in die H ä n d e des K o l l e k t i v s . H a b e n wir es mit der e x p l i z i t e n V e r f a s s u n g e i n e r f o r m a l o r g a n i s i e r t e n K ö r p e r s c h a f t zu tun (von e i n e r einigung bis zu e i n e m S t a a t ) , w e r d e n die N o r m e n des i n f o r m a l e n
Ver-
sozialen
S y s t e m s zu R e g e l n oder G e s e t z e n der f o r m a l e n K ö r p e r s c h a f t .
Drei Stufen
der
Optimalität
Die A l l o k a t i o n von R e c h t e n über eine b e s t i m m t e K l a s s e von E r e i g n i s s e n weist drei O p t i m a l i t ä t s s t u f e n auf. Z w e i davon b e t r e f f e n konjunkte V e r f a s -
Verfassungen
und die Bildung von Körperschaften
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sungen, in denen Nutznießer und Zielakteure der gemeinschaftlichen Handlung ein und dieselben Akteure sind, und eine betrifft disjunkte Verfassungen, in denen Nutznießer und Zielakteure verschiedene Akteure sind. Die drei Optimalitätsstufen sind individuelle Optimalität, utilitaristische Optimalität und erzwungene Optimalität.
1. Individuelle Optimalität. Wenn eine Rechtsallokation individuell optimal ist, befindet sich jeder Akteur mit dieser Allokation entweder in einer b e s seren Situation oder in einer Situation, die mindestens ebensogut ist, wie sie bei einer anderen Allokation wäre. Wenn ein gemeinschaftlich behauptetes Recht individuell optimal ist, sind die Interessen jedes einzelnen Akteurs als Nutznießer der gemeinschaftlichen Handlung genauso groß oder größer als seine Interessen als Zielakteur. Es leuchtet beispielsweise ein, daß durch die gemeinschaftliche Kontrolle des Rechts, jemanden zu töten (diese Handlung auszuführen oder sie einzuschränken und zu sanktionieren) die Situation jeder einzelnen Person des Kollektivs besser wird, als sie es bei einer individuellen Kontrolle dieses Rechts wäre. Wenn ein individuell behauptetes Recht individuell optimal ist, sind die Interessen jedes einzelnen Akteurs als Ziel der gemeinschaftlichen Handlung genauso groß oder größer als seine Interessen als Nutznießer. 9 Es leuchtet beispielsweise ein, daß es für jeden einzelnen besser ist, das Recht auf private Zusammenkünfte zu behaupten, als wenn nur die Körperschaft das Recht hat, solche Treffen einzuberufen oder andere davon abzuhalten und diejenigen zu sanktionieren, die sich an solchen Treffen beteiligen. Diese Optimalitätsstufe erfordert keinen interpersonalen Nutzenvergleich. Der gesamte Interessenkonflikt zwischen Zielakteuren und Nutznießern findet innerhalb individueller Akteure statt. Dies entspricht dem, was in Kapitel 30 als reine konjunkte Norm bezeichnet wird. 2. Utilitaristische Optimalität. Ist das Kriterium der individuellen Optimalität nicht erfüllt, ist es für einige Akteure besser, wenn ein Recht der Körperschaft zugeteilt wird, und für andere ist es besser, wenn das Recht Individuen zugeteilt wird, obwohl ein und dieselben Akteure an beiden Allokationen ein Interesse (d.h. als Nutznießer und als Zielakteur) haben können. Diese Optimalität wird als diejenige Rechtsallokation definiert, die durch die stärkeren Interessen gestützt wird. Um zu bestimmen, auf welche Allokation dies zutrifft, werden die Interessen gemäß der Macht von Akteuren in ihren r e -
9 W e n n das g e m e i n s c h a f t l i c h (individuell) b e h a u p t e t e Recht nicht gleichzeitig individuell optimal sein soll, sollten die beiden Aussagen f o l g e n d e r m a ß e n ergänzt w e r den: "und das Interesse zumindest e i n e s Akteurs als Z i e l a k t e u r ( N u t z n i e t e r ) größer ist als sein Interesse als Nutznießer (Zielakteur)."
40
Körperschaftshandeln
gelmäßigen Transaktionen gewichtet, d.h. nach dem Wert der Ressourcen, die sie in diese Transaktionen einbringen. Diese Optimalitätsstufe erfordert einen interpersonalen Vergleich. Der Interessenkonflikt zwischen Zielakteuren und Nutznießern findet nur zum Teil innerhalb von individuellen Akteuren statt; zum Teil wird er auch zwischen Akteuren ausgetragen. Die in Kapitel 30 gegebene Definition einer konjunkten Norm (jedoch keiner reinen) entspricht dieser Rechtsallokation. 3. Erzwungene Optimalität. Wenn einige Akteure Nutznießer der gemeinschaftlichen Handlung und andere Akteure Ziele dieser Handlung sind, sind die Interessen verschiedener Akteure einander entgegengesetzt, und alle Konflikte werden zwischen Akteuren ausgetragen. Unter diesen Umständen ist die optimale Rechtsallokation diejenige, die die stärkere Interessenmenge und damit die Interessen von Akteuren vertritt, die die Ressourcen mit dem größten Wert besitzen. 354
Bei dieser Optimalitätsstufe bevorzugt die Rechtsallokation eine Menge von Akteuren auf Kosten der anderen Menge. Wenn die Rechte der Körperschaft zugeteilt worden sind, könnte man sich fragen, warum sich diejenigen, die zu Zielakteuren der gemeinschaftlichen Handlung werden, mit einer solchen verfassungsmäßigen Allokation einverstanden erklärt haben. Darauf gibt es drei mögliche Antworten: Erstens ist denkbar, daß die hier beschriebene Rechtsallokation auf eine einzelne Klasse von Handlungen zutrifft. Die Akteure, die in bezug auf diese Klasse Zielakteure sind, sind in anderen Fällen vielleicht Nutznießer und finden es so in ihrem Gesamtinteresse, der Verfassung zuzustimmen. Zweitens ist folgendes denkbar. Selbst wenn für die Zielakteure individuell behauptete Rechte besser wären als gemeinschaftlich behauptete, könnte es sein, daß gemeinschaftlich behauptete Rechte für sie immer noch besser sind als gar keine Rechtsallokation. Ihr Mangel an hoch bewerteten Ressourcen, der dafür verantwortlich ist, daß ihre Interessen in der Verfassung übergangen werden, könnte ohne die Existenz einer Rechtsallokation zu einer Verwundbarkeit führen, die ihre Situation möglicherweise verschlechtern würde. Drittens ist denkbar, daß die Zielakteure mit der verfassungsmäßigen A l lokation nicht einverstanden sind. Sie werden vielleicht durch ihren Mangel an Macht daran gehindert, der Verfassung effektiv entgegenzutreten, welche auch trotz ihrer Opposition ins Leben gerufen wird. Erfüllt eine Verfassung lediglich das Kriterium der erzwungenen Optimalität, entstehen Interessenkonflikte nur zwischen Akteuren, und die Sieger des Konflikts können den Verlierern die Verfassung aufzwingen.
Verfassungen Ökonomische
und die Bildung von Körperschaften
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Effizienz
Die Kriterien für die Optimalität von Verfassungen, wie ich sie beschrieben habe, haben dieselbe begriffliche Struktur als Grundlage wie das Kriterium der ökonomischen Effizienz. Daher ist es von Bedeutung, daß diese Kriterien nicht auf enge Effizienz hin interpretiert werden, was verschiedene Formen annehmen kann. Die Kriterien umfassen ökonomische Effizienz nicht in dem Sinne einer effizienten Rechtsallokation, die einen finanziellen Wert besitzt. Diese Vorsicht ist wichtig, denn die theoretische Rechtsposition lautet, daB nach richterlichen Entscheidungen Rechte nach dem Gewohnheitsrecht der Partei zugesprochen werden sollten (und auch normalerweise zugesprochen werden), für die sie von größerem ökonomischen Wert sind (siehe Posner 1986). Obwohl dies manchmal den genannten Optimalitätskriterien entspricht, ist es nicht immer der Fall, denn manche wertvollen Ressourcen (d.h. diejenigen, die Ergebnisse beeinflussen können) befinden sich nicht auf dem Markt, werden normalerweise nicht gegen Geld eingetauscht und w e r den normalerweise nicht nach ihrem Geldwert taxiert. Ebenso darf Optimalität, wie ich sie beschrieben habe, nicht mit der E f f i zienz vom Standpunkt eines einzelnen Akteurs oder vom Standpunkt einer einzelnen Interessenmenge aus verwechselt werden. In sie geht eine G e wichtung entgegengesetzter Interessen ein und nicht so sehr eine Effizienz im Sinne des effizientesten Mittels zum Erreichen eines bestimmten Ziels. Diese Art von Effizienz illustriert die Vermutung von Posner (1987), daß die Ursache für das absolute Verbot von Folterungen durch den Staat in der Verfassung der Vereinigten Staaten darin liegt, daß Folter kein effizientes Mittel ist, um Informationen zu gewinnen. Nicht nur die Korrektheit der in dieser Behauptung enthaltenen Aussage muß in Zweifel gezogen werden (denn die Anwendung von Folter zur Hervorlockung militärischer Informationen aus gefangenen feindlichen Soldaten ist weitverbreitet, und einige militärische Befehlshaber glauben, daß man dieser Methode zur Hervorlockung von Informationen nur wirksam entgegengetreten kann, indem man Offiziere mit Giftkapseln versorgt, die diese im Falle ihrer Folterung einnehmen sollen); darüber hinaus geht diese Verwendung von Effizienz als einem v e r f a s sungsmäßigen Kriterium nur von der Sichtweise eines Staates aus, der das Ziel hat, Informationen zu erhalten. Es scheint plausibler, daß das in der Verfassung verankerte Folterverbot aus dem Abwägen der Interessen von Akteuren als Nutznießer und als Zielakteure dieser gemeinschaftlichen Handlung heraus entstanden ist, wobei die Interessen möglicher Zielakteure schwerer gewogen haben als diejenigen möglicher Nutznießer. 1 0
10 Diese Vermutung wird durch die Tatsache unterstutzt, daB es einige Staaten gibt, in denen nur Menschen gefoltert werden, die keine Staatsbürger sind, Staatsbürger
42
Körperschaftshandeln
Wie wird eine optimale Verfassung
erreicht?
Die K r i t e r i e n für eine optimale Verfassung sind oben so angeführt worden, als geschähe das Abwägen von I n t e r e s s e n automatisch oder irgendein außenstehender wohlwollender Despot nähme das Abwägen vor. Keines von beiden t r i f f t zu. Die A k t e u r e , deren I n t e r e s s e n b e t r o f f e n sind und die zukünftig von der K ö r p e r s c h a f t , die sie ins Leben rufen, gelenkt werden, wägen die I n t e r essen selber ab. W e n n die Rechtsallokation in bezug auf eine K l a s s e von Handlungen das K r i t e r i u m der höchsten O p t i m a l i t ä t s s t u f e , nämlich individuelle Optimalität, e r f ü l l t , dann könnte dieser Teil der Verfassung im G r u n d e von j e d e m b e l i e bigen einzelnen Akteur v e r f a ß t werden, den man nach dem Zufallsprinzip aus dem Kollektiv ausgewählt hat. W e n n dies für a l l e Handlungsklassen z u t r ä f e , würde j e d e r Akteur alle I n t e r e s s e n des gesamten Kollektivs v e r k ö r pern, und die ganze Verfassung für das Kollektiv könnte von j e d e m beliebigen Akteur v e r f a ß t werden, der dann eine V e r f a s s u n g mit optimalen R e c h t s a l l o kationen s c h a f f e n würde. Beim Schritt von der obersten zur zweiten und dann zur dritten Stufe der Optimalität wird die r e l a t i v e Macht verschiedener Akteure" zunehmend r e l e vant. Wenn M a c h t unabhängig von der Rechtsallokation zu definieren w ä r e , w ä r e die Rechtsallokation eigentlich optimal, wenn die Beteiligung von A k teuren an der Formulierung der Verfassung im Verhältnis zu ihrer individue l l e n Macht im System stünde (und vorausgesetzt, die Beteiligung jedes einzelnen A k t e u r s entspräche ebensogut den I n t e r e s s e n dieses Akteurs). Dies ist jedoch nicht der Fall, denn die Macht nach Formulierung der V e r f a s s u n g hängt von der K o n t r o l l e von Ressourcen ab, und Rechte, die in einer V e r fassung zugewiesen werden, gehören zu den Ressourcen, die beim Bestimmen von Macht eine Rolle spielen. Man könnte aber sagen, daß eine V e r f a s s u n g eine optimale Rechtsallokation aufweist, wenn die Macht im Handlungssys t e m nach Formulierung der Verfassung im Verhältnis zu der Beteiligung jedes einzelnen A k t e u r s an der Formulierung der V e r f a s s u n g zugesprochen wird. Weil aber die systeminterne Macht nach Formulierung der V e r f a s s u n g teilweise durch die verfassungsmäßige Rechtsallokation bestimmt wird, könnte eine Anzahl verschiedener verfassungsmäßiger Allokationen optimal sein, je nachdem, wer den Kampf um die Verfassung gewinnt. Diese A l l o k a tionen würden leicht verschiedene Systeme erzeugen. Dennoch ist eine V e r fassung optimal, wenn in dem entstehenden System die R e c h t e für j e d e einjedoch nicht: soweit ich weift, tritt der u m g e k e h r t e Fall in k e i n e m Land a u f . Personen, die k e i n e Staatsbürger sind, sind weder Parteien bei der F o r m u l i e r u n g der V e r f a s s u n g noch bei ihrer k o n t i n u i e r l i c h e n Modifikation durch die jeweiligen Bürger, und somit spielen ihre Interessen beim Abwägen der Interessen als Nutznießer und als Z i e l a k t e u r k e i n e Rolle.
Verfassungen
und die Bildung von Körperschaften
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zelne Klasse von Handlungen in Ubereinstimmung mit den Interessen derer zugeteilt werden, die, nach Formulierung der Verfassung, nach Macht gewichtete Interessen besitzen, die stärker sind als die konkurrierenden nach Macht gewichteten Interessen. Eine optimale Verfassung kann umfassende Rechtsbeschränkungen beinhalten, weil verschiedene Akteure unterschiedliche unveräußerliche Ressourcen besitzen. Beispielsweise ergibt sich in sozialistischen Systemen ein offenkundiges Problem, wenn Privateigentum abgeschafft wird, aber den Individuen weiterhin Auswanderungsrechte zugestanden werden. Da die persönlichen Ressourcen in Gestalt von Fertigkeiten und Erfahrung variieren und da Akteure andere Gesellschaften finden können, in denen sie das Recht behalten, die Produktionsgewinne aus der Anwendung dieser Fertigkeiten auszuschöpfen, werden, solange der Staat kein Auswanderungsverbot erteilt, die fähigsten Mitglieder auswandern. (Weil diese persönlichen Ressourcen produktiv sind und somit innerhalb des Systems einen Wert erzeugen, wird es Orte geben, an denen Personen einen Teil ihres Wertes für sich behalten können. Es wird sich, mit anderen Worten, eine Form von Eigentumsrechten entwikkeln, weil verschiedene Staaten oder Orte um die produktivsten Personen konkurrieren werden.) Wenn also eine untergeordnete Klasse nach einer Revolution Eigentumsrechte abschafft, muß sie auch die Auswanderungsrechte effektiv abschaffen. Dies beseitigt jedoch möglicherweise flir Individuen in der nächsten Generation den Anreiz, die persönlichen Ressourcen zu erwerben, durch die sie produktiv werden, so daß ein solches System zu einem niedrigeren Produktivitätsniveau verurteilt sein kann. Wie dieses Beispiel zeigt, kann eine erzwungene Optimalität eine großenteils, wenn auch nicht völlig, willkürliche Rechtsallokation hervorrufen. Die Sieger eines Konflikts können ein System schaffen, in dem sie und ihre Nachfolger zumeist die Nutznießer der Körperschaftshandlungen sind, während die Besiegten zumeist die Rolle der Zielakteure einnehmen. Die Sieger können jedoch nicht die unveräußerlichen persönlichen Ressourcen der Besiegten ignorieren, die ihnen ein Potential für den Umsturz oder die Modifikation der Verfassung verleihen. Sklavenaufstände und Meutereien sowie andere Formen von Revolten verdeutlichen dies.
Das Interesse
von Mitgliedern,
Agenten einer Körperschaft
zu
kontrollieren
Das Interesse, das das Mitglied als Nutznießer gemeinschaftlicher Handlungen und das Mitglied als Zielakteur dieser Handlungen fast einhellig teilen, ist das Interesse, den Agenten zu kontrollieren. Selbst ein so einfaches System wie das obige Beispiel einer Körperschaft mit drei Mitgliedern, A t , A 2 und A 3 , kann die strukturellen Möglichkeiten für Agenten aufzeigen, auf
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Körperschaftshandeln
Kosten von Mitgliedern Gewinne zu erzielen. Nehmen wir an, daß die Mitglieder eine Körperschaft ins Leben gerufen haben, die das Kontrollrecht über ihre Beiträge besitzt, und daß sie nun ein Nicht-Mitglied zum Agenten ernennen, der gemeinschaftliche Handlungen ausführen soll. Wie kann der Beauftragte - im Hinblick auf die in Abbildung 13.1 gewichteten Ergebnisse dazu gebracht werden, CCC zu wählen, wenn man von den Auszahlungen im oberen linken Feld von Tabelle 13.1 ausgeht, statt irgendeine andere Kombination von Handlungen auszuwählen? Beispielsweise hat A t ein Interesse daran, den Beauftragten zur Wahl von DCC zu bewegen, denn dies würde den Nettoverlust von A t auf 4 Dollar reduzieren, während der Nettoverlust der beiden anderen auf jeweils 13 Dollar ansteigen würde. A^ hätte also einen möglichen Zuwachs von 5 Dollar zu verzeichnen, falls nicht das Ergebnis CCC, sondern das Ergebnis DCC gewählt würde, und einen Teil davon könnte A j dazu verwenden, den Beauftragten zur Wahl von DCC zu veranlassen. A 2 oder A 3 haben das gleiche Interesse an einer Bestechung des Beauftragten, damit CDC bzw. CCD gewählt wird. Damit bietet sich dem Beauftragten ein Gewinnpotential, indem er eine dieser drei besonderen Interessen fördert und an dessen Gewinn teilhat. Ein geringerer Gewinn bietet sich dem Beauftragten, wenn zwei Mitglieder eine Koalition bilden. Jeweils zwei Mitglieder haben insgesamt einen Zuwachs von 2 Dollar, den sie verwenden können, um den Beauftragten zu dem Ergebnis zu bewegen, das für sie beide von gemeinschaftlichem Interesse ist. Das Bilden einer Zweierkoalition e r fordert jedoch eine gewisse Organisation. Diesem Beispiel entsprechen in der Realität die Beziehungen zwischen Personen, die - gewählt oder ernannt - Regierungspositionen einnehmen, und Akteuren, die von ihnen regiert werden. Da die Inhaber der Positionen wie alle anderen Individuen Interessen haben und da individuelle Mitglieder des Kollektivs oder intermediäre Körperschaften innerhalb des Kollektivs einen Gewinn von Regierungshandlungen erwarten können, durch die sie auf Kosten anderer Akteure bevorzugt würden, gibt es ein Potential für die Kollusion zwischen den Regierungsmitarbeitern und einer Gruppe der regierten Akteure. Die Kollusion kann zu suboptimalen kollektiven Handlungen führen. Im obigen Beispiel bleibt dem Mitglied oder den Mitgliedern, gegen deren Interessen der Beauftragte handelt, nur die Möglichkeit, sich aus dem Kollektiv zurückzuziehen. Diese Handlung wäre unter den gegebenen Umständen rational, denn als unabhängiger Akteur verliert man weniger (12 Dollar), als wenn man seine Mitgliedschaft im Kollektiv aufrechterhält (17 Dollar oder 13 Dollar). Nur wenn diese Möglichkeit gewährleistet bleibt (d.h. wenn j e des Mitglied das Recht behält, sich ohne zusätzlichen Kosten zurückzuziehen), hat der Beauftragte einen Anreiz, Sonderinteressen zu ignorieren und gemeinschaftliche Interessen zu verfolgen. D i e A n w e n d u n g d e r R ü c k z u g s m ö g l i c h k e i t als ein M i t t e l , d e n A g e n t e n z u
Verfassungen
und die Bildung von Körperschaften
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veranlassen, im gemeinsamen Interesse zu handeln, gehört zu einer allgemeineren Strategie, nämlich der Strategie, die Motivation des Agenten so zu strukturieren, daß er im gemeinsamen Interesse handeln wird. Können die Interessen des Beauftragten angemessen strukturiert werden, kommt es möglicherweise dazu, daß seine Interessen mit den gemeinschaftlichen Interessen der Mitglieder konjunkt sind. Auf das Beispiel aus Tabelle 13.1 bezogen würde dies heißen, daß die Interessen des Beauftragten mit den gemeinschaftlichen Interessen der Mitglieder des Kollektivs konjunkt sind, wenn sie so gelenkt werden können, daß das Ergebnis CCC von ihm am höchsten b e wertet wird. Dieses Ergebnis bietet die größten Gewinne aus einer Kollektivierung, und gleichzeitig ist es das Ergebnis, bei dem jedes Mitglied einen Gewinn erzielt. Folglich liegt es in diesem Falle auf der Hand, welche Wahl das Gemeininteresse am meisten fördert. Das einzige Problem für das Kollektiv besteht darin, Tür den Beauftragten Anreize zu schaffen, nach denen Ergebnis CCC von ihm am höchsten (und CCD, CDC oder DCC am zweithöchsten, CDD, DCD oder DDC am dritthöchsten und DDD am vierthöchsten) bewertet wird. Dieses Problem wurde bereits in Kapitel 7 diskutiert, wo der Prinzipal mit dem Problem konfrontiert wird, den optimalen Anreiz für einen Agenten zu schaffen. In diesem einfachen Beispiel kann die vom Beauftragten gewählte Rangfolge, nach der CCC am höchsten und DDD am niedrigsten b e wertet wird, herbeigeführt werden, indem man eine Regel aufstellt, die besagt, daß jedes Mitglied des Kollektivs das Recht behält, sich ohne Kosten zurückzuziehen. Da das einzige Ergebnis, von dem jedes einzelne Mitglied profitiert, CCC ist, kann der Beauftragte nur diese Handlung wählen, um Rückzüge zu vermeiden (und DDD wäre die einzige Handlung, die den Rückzug aller Mitglieder nach sich ziehen würde). Diese Regel hätte jedoch zur Folge, daß der Beauftragte eher CDD, DCD oder DDC am zweithöchsten und CCD, CDC oder DCC am dritthöchsten bewerten würde (weil er der Mehrheit gegenüber der Minderheit den Vorzug gibt), als umgekehrt. Wird die Regel, die den Rückzug erlaubt, mit einer Steuer kombiniert, die den Beauftragten mit einem Prozentsatz der Profite jedes einzelnen Individuums, das aus der gemeinschaftlichen Handlung einen Nettogewinn erfährt, entschädigt, läßt sich die optimale Rangfolge erzielen (allerdings mit Kosten für die Mitglieder). In diesem Beispiel gibt es ein Ergebnis, nämlich CCC, das sowohl den größten Nettogewinn aus der gemeinschaftlichen Handlung als auch die gleichmäßigste Gewinnverteilung nach sich zieht. Daß ein und dasselbe E r gebnis diese beiden Eigenschaften aufweist, ist für dieses Beispiel spezifisch; parallel dazu kann es eine Gesellschaft geben, in der die Politik, die den größten Wirtschaftswachstum bewirkt, auch die Politik ist, in der die G e winne am gleichmäßigsten verteilt sind. Das Beispiel aus Tabelle 13.1 zeigt,
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Körperschaftshandeln
daß eine solches Übereinstimmung von Maßnahmen möglich ist. Wenn aber die Kriterien der höchsten Produktivität und der gerechten Verteilung nicht von ein und demselben Ergebnis erfüllt werden, wird das Problem der Schaffung einer optimalen Anreizstruktur für den Beauftragten komplexer, als es in diesem einfach gelagerten Beispiel der Fall ist. Weil es nicht einen einzelnen Prinzipal gibt, werden die Konflikte zwischen den Kriterien nicht intern innerhalb eines Individuums als Prinzipal gelöst, sondern müssen zwischen Individuen gelöst werden, die die Körperschaft bilden. Hier gehen die Interessen von Zielakteur und Nutznießer auseinander. Als Nutznießer der gemeinschaftlichen Handlung hat das Individuum ein Interesse an der Maximierung des gemeinschaftlichen Produktes - in dem betreffenden Beispiel wäre dies die Maximierung der Gewinne aus dem gegenseitigen Schutz. Als Ziel der gemeinschaftlichen Handlung hat das Individuum ein Interesse an der Minimalisierung seines möglichen Mitgliedsbeitrags. Diesen Interessen entsprechen zwei Prinzipien, die zum Erreichen einer gemeinschaftlichen Handlung angewendet werden. Eines wurde von Kaldor (1939) formuliert und besagt, daß eine geplante Änderung der Politik vorgenommen werden sollte, wenn diejenigen, die von der Änderung profitieren würden, in der Lage sind, die Verlierer zu entschädigen, und dennoch ihre Situation gegenüber vorher zu verbessern. Nach diesem Kriterium ergäbe sich für die Ergebnisse aus dem Beispiel eine Rangfolge nach dem Gesamtgewinn für das Kollektiv, also in der Reihenfolge von CCC, CCD, CDD, DDD (wobei die Permutationen von CCD und CDD diesen beiden Ergebnissen entsprechend an zweiter bzw. dritter Stelle eingefügt würden). Eine nähere Betrachtung würde zeigen, daß der Schritt von einem beliebigen niedriger bewerteten Ergebnis zu einem beliebigen höher bewerteten Ergebnis einen Gewinn nach sich zieht - wenn auch nicht für alle drei Mitglieder, so doch für eines oder zwei - und daß das eine Mitglied oder die beiden Mitglieder den oder die anderen für Verluste aus dem vorgenommenen Zug entschädigen können und dennoch im Vorteil bleiben. Das Prinzip von Kaldor sagt nicht eindeutig, ob die Entschädigung tatsächlich erfolgen sollte. Wenn man das Prinzip so interpretiert, daß sie erfolgen sollte, kann man das Prinzip so beschreiben, daß es sowohl das Kriterium der höchsten Produktivität und das der gerechten Verteilung anwendet, das Kriterium der Produktivität jedoch als erstes zur Anwendung kommt. Das von Rawls (1974) vorgestellte Differenzprinzip ist das zweite Prinzip, mit dessen Hilfe der Konflikt von Effizienz und Gerechtigkeit beim Erreichen einer gemeinschaftlichen Handlung gelöst werden kann. Dieses Prinzip besagt, daß (unter der Bedingung, daß gleiche Freiheit für alle gewährt wird) die gerechte Politik diejenige ist, die dem am wenigsten Bevorzugten den größten Gewinn verschafft. Geht man davon aus, daß Rawls' Prinzip H a n d l u n g e n n a c h i h r e r N ä h e z u e i n e r g a n z und g a r g e r e c h t e n P o l i t i k b e w e r -
Verfassungen und die Bildung von
Rang 1
Körperschaften
Kaldors Prinzip
Rawls' Prinzip
Mehlheitsregel
ccc
ccc
CDD, DCD, DDC
DDD
CCC
CCD, CDC,
DDD
Rang 2
CCD, CDC, 1
Rang 3
CDD, DCD, DDC
Rang 4
DDD
CDD, DCD, DDC
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CCD, CDC, DCC
Abb. 13.2 Rangfolge der Ergebnisse nach Kaldors Entschädigungsprinzip, Rawls' Prinzip und der Mehrheitsregel
tet, werden die Ergebnisse aus dem Beispiel in die Rangfolge C C C , D D D , C C D , C D D gebracht. 1 1 Diese Rangfolge unterscheidet sich grundlegend von der, die nach Anwendung von Kaldors Prinzip entsteht; vor a l l e m steigt das Ergebnis D D D aufgrund seiner Gerechtigkeit vom l e t z t e n auf den zweiten P l a t z auf. Rawls' Prinzip kann als ein Prinzip beschrieben werden, das sowohl das K r i t e r i u m der höchsten Produktivität als auch das der g e r e c h t e n Verteilung anwendet, jedoch, im Gegensatz zu Kaldors Prinzip, das G e r e c h tigkeitskriterium zuerst in Anwendung bringt. Ein drittes Prinzip zur Lösung des Konflikts von Effizienz und G e r e c h t i g keit bei der W a h l einer gemeinschaftlichen Handlung läflt sich als Prinzip der demokratischen W a h l Uber eine M e h r h e i t s r e g e l bezeichnen. (Dies kann man als das Prinzip beschreiben, nach dem der B e a u f t r a g t e gewählt wird oder mit dessen H i l f e eine Rangfolge durch eine direkte Wahl bestimmt wird.) N a c h diesem Prinzip werden die Ergebnisse in die Rangfolge C D D , C C C , D D D , C C D gebracht. Diese Rangfolge unterscheidet sich von den beiden anderen noch mehr, als diese sich voneinander unterscheiden (siehe Abbildung 13.2). Es läflt sich als Prinzip c h a r a k t e r i s i e r e n , das der G e r e c h tigkeit einen höheren S t e l l e n w e r t einräumt als der E f f i z i e n z , das jedoch die Menge der Individuen, auf die das Bewertungskriterium Gerechtigkeit a n g e wendet wird, auf eine Mehrheit der Mitglieder beschränkt. Dies hat zur Folge, dal) diejenige Handlung am höchsten b e w e r t e t wird, die nach Rawls' Prinzip am niedrigsten b e w e r t e t wird. Diese drei Prinzipien stellen drei mögliche Grundlagen zur Lenkung g e ll Die Auszahlungen flir diese vier Ergebnisse lauten -9. -9, -9 f u r CCC; -12. -12, -12 flir DDD; -13, -13, -4 f ü r CCD; -17, -8, -8 CUr CDD. Die jeweils erste
Auszahlung
geht an den "am w e n i g s t e n Bevorzugten", und die Rangfolge entsteht n a c h der Höhe dieser Auszahlungen. Es ist f e s t z u h a l t e n , dal) Rawls' Prinzip von e i n e m interperson a l e n Nutzenvergleich ausgeht, um den am wenigsten Bevorzugten h e r a u s z u f i n d e n .
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Körperschaftshandeln
meinschaftlichen Handelns dar. Wie die Unterscheide zwischen diesen Prinzipien zeigen, führen die konkurrierenden Interessen der Individuen, die sich zusammenschließen, um eine Körperschaft zu gründen, zu höchst unterschiedlichen Prinzipien, nach denen ihre Handlungen gesteuert werden. Das Problem der Mitglieder, den Agenten (d.h. die Funktionäre) der Körperschaft zu kontrollieren, ist ein generelles Problem, dem ich mich nun zuwenden werde.
Die effektive Kontrolle von Agenten ternes soziales Kapital
einer Körperschaft:
Internes
und
ex-
Nachdem eine Körperschaft erst einmal von Individuen mit gemeinsamen Interessen gegründet worden ist (beispielsweise gründen Personen mit dem gleichen Beruf eine Gewerkschaft, oder Mitglieder einer sozialen Schicht gründen nach einer von einer bestimmten Schicht getragenen Revolution einen Staat) und Funktionäre als ihre Agenten eingesetzt worden sind, sind die Mitglieder oft nicht in der Lage, die Agenten zu kontrollieren. Wie und warum es dazu kommt, läßt sich mit einer Reihe soziologischer Forschungen zeigen, die mit der Arbeit von Robert Michels beginnt. Michels untersuchte die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, wobei er einer einzigen Frage auf den Grund ging: Wie kam es, daß diese politische Partei, die eine explizit demokratische Verfassung hatte, letztendlich von einer kleinen Oligarchie kontrolliert wurde, die aus den höchsten Funktionären bestand? Trotz der demokratischen Vorschriften in der Verfassung der Partei waren die amtierenden Führer in der Lage, die Politik zu v e r folgen, die sie selbst bevorzugten (Expansion auf Kosten von Prinzipien und Kooperation mit bürgerlichen Parteien, um, z.B. durch Bildung einer Koalitionsregierung, die Parteienstabilität zu gewährleisten); sie waren in der L a ge, im Amt zu bleiben, und sie waren in der Lage, den Mitgliedern das Recht zur Selbstverwaltung, das sie verfassungsmäßig behaupteten, wirksam zu entziehen. Michels (1970 [1915]) gab auf diese Frage eine pessimistische Antwort, welche er als sein "ehernes Gesetz der Oligarchie" formulierte: "Die Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten Uber die Delegierenden. Wer Organisation sagt, sagt Oligarchie" (S. 370-371)*. Er zeigte auf,
* Der letzte Satz findet sich nur im englischen Text, den Michels nach der italienischen Fassung des Textes noch selbst herausgegeben und verändert hatte. Der Satz ist hier eingefügt und aus dem Englischen ins Deutsche Ubertragen worden. (Anm. d. Übers.)
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49
daß aus der bloßen Schaffung organisatorischer Herrschaft zwei Dinge folgen: Erstens erzeugt sie eine Menge von Interessen, die sich von denen der Mitglieder als Gesamtheit unterscheiden und die die Interessen der Führer umfaßt, ihre Positionen zu behalten, jedoch nicht auf sie beschränkt ist. Michels drückte dieses Prinzip folgendermaßen aus: "Es ist ein unabänderliches Sozialgesetz, daß in jedem durch Arbeitsteilung entstandenen Organ der Gesamtheit, sobald es sich konsolidiert hat, ein Eigeninteresse, ein Interesse an sich selbst und für sich selbst, entsteht" (S. 366). Zweitens verleiht die Schaffung organisatorischer Herrschaft jenen Führern den größten Teil der Ressourcen, die der Organisation eigen sind. Dazu gehören ein Monopol über die Mittel zur Kommunikation mit der Mitgliedschaft, ein Monopol über Quellen des persönlichen Status und der Präsenz vor der Mitgliederschaft, Kontrolle über die Handlungen intermediärer Funktionäre (die wegen der Förderung ihrer Karrieren von den Führern abhängig sind) und Kontrolle über das Vermögen der Organisation. Michels arbeitete zwei Dinge über die Sozialdemokratische Partei Deutschlands heraus. Erstens hatte die Gründung der Partei den Führern soziales Kapital an die Hand gegeben, und zwar in Form der organisatorischen Ressourcen, die fur gemeinschaftliches Handeln erforderlich waren. Zweitens lieferte, trotz der verfassungsmäßigen Allokation von Rechten an die Mitglieder, kollektiv von ihren Führern Rechenschaft verlangen zu dürfen, weder die Sozialstruktur der Partei noch ihre interne politische Organisation den Mitgliedern genügend soziales Kapital, um ihnen die Verfolgung ihrer Interessen zu erlauben, wenn diese Interessen den Interessen der kleinen Elite, die die Organisation kontrollierte, entgegengerichtet waren. In den späten vierziger Jahren suchte Seymour Martin Lipset, der über Michels' pessimistische Schlußfolgerungen und die dies bestätigenden Beweise fur eine oligarchische Kontrolle in der Sowjetunion und in anderen sozialistischen Staaten Osteuropas bestürzt war, nach Hinweisen, die gegen die Universalität des ehernen Gesetzes der Oligarchie sprachen. Das Ergebnis war eine Untersuchung (Lipset, Trow und Coleman 1956) der International Typographical Union (ITU), die Michels' Gesetz nicht bestätigte. Entgegen dem üblichen Muster oligarchischer Kontrolle in Gewerkschaften existierte zur ITU stets eine Oppositionsgruppe, es gab häufig Neubesetzungen von Ämtern, und aus den hinteren Reihen kamen neue Führer. In ihrer internen Demokratie war sie unter den nordamerikanischen Gewerkschaften nahezu einzigartig. Das Schema einer stets existierenden Oppositionsgruppe wurde von Geheimbünden innerhalb der Gewerkschaft ins Leben gerufen, die trotz einer Gewerkschaftsregel von 1896 existierten, welche solche Bünde als illegal erklärte (S. 38). Die formale Struktur der ITU enthielt also Elemente, die der Gründung von Institutionen, die eine demokratische Kontrolle und den Schutz von Mitgliederrechten unterstützten, eigentlich hinderlich waren.
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Körper
schaftshandeln
Dennoch erlebte die demokratische Kontrolle in der ITU eine Blütezeit, und die Rechte der Mitglieder wurden geschützt. Im Gegensatz dazu konnte in vielen anderen Gewerkschaften eine oligarchische Kontrolle nicht verhindert werden, obwohl dort in der Verfassung verankerte Vorschriften existieren, die ausdrücklich die Rechte der Mitglieder auf Kontrolle der Gewerkschaftspolitik bewahren sollen. Die Untersuchung der ITU ergab, daß die Mitglieder eine Kontrolle ihrer Gewerkschaft hauptsächlich deswegen immer wieder durchführen konnten, weil die sozialen Organisationen, die im Rahmen ihres Berufs begründet wurden, soziales Kapital lieferten. Viele Drucker hatten sich in verschiedenen Organisationen zusammengeschlossen, darunter Geheimbünde, die schon in den frühen Tagen der Gewerkschaft existierten, und verschiedene Clubs, die ihren Mitgliedern wertvolle Dienstleistungen anboten. Der Monotype Club war beispielsweise die inoffizielle Arbeitsvermittlungsstelle Tür Arbeiter an Monotype-Druckern im Bereich von New York City (Lipset, Trow und Coleman 1956, S. 227). Diese Organisationen lieferten das soziale Kapital, das eine Oppositionsgruppe zum Überleben brauchte, auch wenn ihre Anhänger nicht an der Macht waren. Somit besaßen Mitglieder innerhalb der größeren örtlichen Gewerkschaften das nötige soziale Kapital, um örtliche Funktionäre mittels demokratischer politischer Prozesse zu kontrollieren. Aufgrund dieser politischen Aktivität innerhalb der größeren örtlichen G e werkschaften entwickelten die Funktionäre eine Abhängigkeit von der Unterstützung durch Mitglieder statt von einer Protektion durch die internationalen Funktionäre. Diese Unabhängigkeit erlaubte den Ortsgruppen, auf internationaler Ebene die Aufgabe zu erfüllen, die auf der örtlichen Ebene von den Clubs geleistet wurde, indem sie als soziales Kapital Tür die politische Opposition dienten. Beispielsweise fungierte die Ortsgruppe in San Francisco viele Jahre lang als eine starke Basis für die Independent Party, während die Ortsgruppe in New York eine starke Basis der Progressive Party war. Das Beispiel der ITU zeigte, daß Michels' ehernes Gesetz der Oligarchie nicht immer zutraf, und lieferte eine Reihe von Bedingungen (wenn auch nicht die einzigen), unter denen es nicht zutraf. Wenn man davon ausgeht, daß Funktionäre bei der Kontrolle des Führungsapparates Interessen entwikkeln werden, die sich von den Interessen der gelenkten Individuen unterscheiden und ihnen manchmal auch entgegenstehen, wandelt sich das Problem zu der Frage, wie man die zweite Komponente, die zur Erfüllung des von Michels geprägten Gesetzes nötig ist, überwinden kann: das von den Funktionären behauptete Kontrollmonopol über das verfügbare soziale Kapital, das es ihnen erlaubt, ihre Macht aufrechtzuerhalten und das Kontrollrecht der Mitglieder über das Kollektiv zu untergraben. In der ITU wurde dieses Monopol durch die Organisation zwischen den Mitgliedern durchbrochen, die auf der h ö c h s t e n E b e n e die F o r m einer O p p o s i t i o n s g r u p p e
annahm,
Verfassungen
und die Bildung von Körperschaften
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welche wirksam gegen Amtsinhaber um die Ergebenheit der Mitglieder buhlen konnte. Die Wurzeln dieser höchsten Organisationsebene lagen jedoch in tieferen Ebenen (soziale Clubs und örtliche Gewerkschaftsgruppen). Die Organisation auf diesen intermediären Ebenen hatte ihre Grundlage wiederum auf der tiefsten Ebene, in dem sozialen Kapital, das durch die Interaktion zwischen Mitgliedern geschaffen wurde und das außerhalb der Kontrolle von Gewerkschaftsfunktionären lag. Somit stellt paradoxerweise eine Organisationsform eine Ausnahme zu Michels' Gesetz dar. Eine Organisation kann Oligarchie zur Folge haben, doch das Gegenmittel zur Oligarchie ist eine Organisation innerhalb der O r ganisation (wie z.B. Oppositionsgruppen, die sich halten können, auch wenn sie nicht an der Macht sind). Die Möglichkeit zu solcher Organisation ist nicht immer gegeben, denn sie erfordert ein soziales Kapital, das von der offiziellen Struktur unabhängig ist. In der ITU wurde es von den starken und aktiven Ortsgruppen und Clubs bereitgestellt, die wichtige Aufgaben für die Mitglieder erfüllten und ihre unabhängige Stärke wahrten. Bei vielen anderen Gewerkschaften erzeugt die Beschäftigung der Mitglieder nicht das e r forderliche soziale Kapital. Auf jeder Organisationsebene besteht die Gefahr der Oligarchie bzw. die Gefahr, daß Führer die Interessen von Mitgliedern untergraben und ihnen einige ihrer Rechte nehmen. Dieser Gefahr kann im Prinzip durch Organisation auf der nächsttieferen Ebene bis hinunter zur tiefsten Ebene begegnet werden, wodurch eine effektive Opposition gegen diese Führer begründet werden kann. Dann sind die intermediären Ebenen der Organisation abhängig von den Mitgliedern unter ihnen und nicht von den Funktionären über ihnen. Eine organisierte Oppositionspartei, die der Mitgliederschaft eine A l t e r native bietet, mit deren Hilfe das oligarchische Monopol der Körperschaftsagenten durchbrochen werden kann, ist ein öffentliches Gut, zu deren Gründung kein Mitglied oder keine Menge von Mitgliedern einen Anreiz besitzt. Andere Organisationen jedoch, die existieren, weil sie Mitgliedern private Güter zur Verfügung stellen (das beste Beispiel in der ITU ist der Monotype Club), können das soziale Kapital darstellen, anhand dessen das Trittbrettfahrerproblem überwunden werden kann. Wenn sie auf der untersten Ebene existieren, schafft dies eine zumindest teilweise Unabhängigkeit der Funktionäre auf dieser Ebene von denen auf der nächsthöheren Ebene. Diese unabhängigen Funktionäre liefern eine Grundlage für die Überwindung des Trittbrettfahrerproblems auf der nächsthöheren Ebene usw. All dies hängt jedoch anscheinend davon ab, daß das Trittbrettfahrerproblem auf der untersten Ebene überwunden wird, denn dies schafft eine Abhängigkeit der jeweils höheren Ebenen von den Mitgliedern unter ihnen statt lediglich von den Funktionären aus den höheren Ebenen. Es ist eine Tatsache, daß einer Oppositionsstruktur, die erst einmal exi-
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Körperschaftshandeln
stiert, auch Legitimität zugestanden wird, und Funktionäre, die sie zu z e r stören suchen, erleiden vielleicht eine ihnen von den Mitgliedern beigebrachte Niederlage durch die Wahlurne. 1 2 Die Legitimität, die auf solche Weise entsteht, entwickelt sich aufgrund der Organisation und ist nicht aus sich selbst heraus wirksam. Besteht sie erst einmal, erhält eine solche Oppositionsstruktur viel Unterstützung, die sie am Leben erhält. Das schwierigere Problem ist, wie sie zunächst einmal ins Leben gerufen werden kann.
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Es ergibt sich dann folgende Frage. Wird das von Michels aufgeworfene Problem mit anderen Mitteln überwunden als denen, die die Untersuchung der ITU aufgezeigt hat? Kann die oligarchische Tendenz einer Führungsorganisation ohne eine von der Basis abhängige soziale Organisation überwunden werden, welche das soziale Kapital bereitstellt, das für eine effektive Opposition gegen beliebige Gruppen machthabender Funktionäre erforderlich ist? Es gibt Hinweise darauf, daß das soziale Kapital, welches dem von Funktionären behaupteten entgegengestellt werden soll, aus einer anderen Quelle stammen kann, die außerhalb der Körperschaft und ihrer Mitgliederschaft liegt. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen. Das erste sind, auf nationa1er Ebene, die Wirkungen internationaler öffentlicher Meinung und ihre Äußerung in Handelsboykotten und anderen Aktionen, die auf die Wahrung der Rechte von Schwarzen durch die südafrikanische Regierung abzielten. Das zweite, auf der Ebene staatsinterner Organisation, ist das 1976 in Deutschland verabschiedete Mitbestimmungsgesetz, mit dem der Staat sich in die Organisationsstruktur von Geschäftsunternehmen einschaltete, um verfassungsmäßig verankerte Rechte von Arbeitern und institutionelle Strukturen zu formulieren, die diese Rechte schützen sollten. In diesen beiden Fällen übten außenstehende Akteure einen gewissen Einfluß auf die Ausweitung individueller Rechte oder auf den Schutz dieser Rechte vor Eingriffen der lenkenden Körperschaft aus. Der Einfluß ähnelt dem der unabhängigen internen sozialen Organisation, die ich bereits erörtert habe. Die Stellung der Akteure außerhalb der betreffenden Körperschaft erzeugt eine unabhängige Organisationsbasis für die Teilkontrolle der Handlungen amtierender Funktionäre. Das Potential des extern erzeugten sozialen Kapitals als ein Instrument zur Kontrolle von Funktionären einer Körperschaft wird in Zukunft wahrscheinlich noch anwachsen. Die neuen Kommunikationsmedien haben die Grenzen von Organisationen, selbst von Nationalstaaten, sehr viel durchlässiger gemacht, als sie früher waren.
12 So etwas geschah 1919 in der ITU, als ein Streik, den die New Yorker Ortsgruppe initiiert hatte, von den Funktionären der ITU unterdrückt wurde. Diese Aktion r ü h r t e z u d e r E n t m a c h t u n g des P r ä s i d e n t e n d e r I T U b e i d e r n ä c h s t e n W a h l .
Verfassungen Verfassungsmäßige
und die Bildung von Körperschaften
Strategien zur Kontrolle
von Agenten durch
53
Mitglieder
Im vorangehenden Abschnitt wurden zwei Quellen von sozialem Kapital b e schrieben, auf die Individuen zurückgreifen können, um Funktionäre einer Körperschaft, deren Mitglieder sie sind, zu kontrollieren. So kann soziales Kapital durch eine Organisation bereitgestellt werden, die innerhalb der Mitgliederschaft besteht, jedoch von einer Kontrolle durch Funktionäre unabhängig ist. Oder soziales Kapital wird durch eine externe Organisation e r zeugt, von der Mitglieder jedoch profitieren können. Es gibt allerdings noch andere Möglichkeiten zur Kontrolle von Funktionären, von denen einige in Verfassungen verankert sind. Die erste besteht in der verfassungsmäßigen Beschränkung körperschaftlicher Macht, indem bestimmte Rechte den Individuen überlassen bleiben, wie ich in früheren Abschnitten dargelegt habe. Solche verfassungsmäßigen Formulierungen individueller Rechte haben nur dann einen Wert, wenn es gleichzeitig Ressourcen oder Gruppen gibt, die die Ressourcen besitzen, welche zur Anwendung dieser Rechte notwendig sind (die, mit anderen Worten, soziales Kapital zur Verfügung haben, wie es im vorangehenden Abschnitt erörtert wurde). Die Verfassung der Sowjetunion beinhaltet beispielsweise eine größere Bandbreite von Rechten als die V e r fassung der Vereinigten Staaten. Die sowjetische Regierung konnte jedoch viele dieser Rechte aufheben. Ich werde nun mehrere andere verfassungsmäßige Strategien beschreiben.
DIE KONFRONTIERUNG DER INTERESSEN VERSCHIEDENER AGENTEN
Ein
Mittel zur Kontrolle von Agenten, das in der politischen Theorie entwickelt und in der Praxis verwirklicht worden ist, ist die Anwendung genau der Macht, die aus einer Regierungsorganisation entsteht, um die Regierungsmacht zu kontrollieren. Es geht um eine stark gegliederte Regierungsform, die aus verschiedenen Abteilungen zusammengesetzt ist, die sich in ihren Handlungen überprüfen und als Gegenpole zueinander fungieren. Diese Idee wurde im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert in der englischen und französischen politischen Philosophie entwickelt; sie wurde als Prinzip von Montesquieu (1951 [1748]) formuliert und am weittragendsten in der amerikanischen Verfassung realisiert. 1 3 Eine solche Struktur schließt die Möglichkeit mit ein, daß der Regierungszweig, der negative externe Effekte einschränken soll, die Individuen sich gegenseitig auferlegen - normalerweise
13 E i n f a c h e r e Ausprägungen dieser Ideen f i n d e n sich in politischen Systemen der Antike. Adcock (1964) beschreibt beispielsweise e i n e R e g i e r u n g s f o r m im alten Rom, bei der zwei Konsuln gleichzeitig regierten und beide das Recht hatten, die Handlungen des jeweils a n d e r e n mit e i n e m Veto zu belegen.
364
54
Körperschaftshandeln
die Judikative - , den h a n d e l n d e n Z w e i g d e r R e g i e r u n g ( E x e k u t i v e oder L e g i s l a t i v e oder b e i d e ) als ein Individuum b e t r a c h t e t , das individuellen
Mit-
g l i e d e r n des K o l l e k t i v s n e g a t i v e e x t e r n e E f f e k t e a u f e r l e g e n kann und somit e b e n s o l c h e n r e c h t l i c h e n B e s c h r ä n k u n g e n wie denen u n t e r w o r f e n ist, die d i e sen Individuen a u f e r l e g t w e r d e n . D a m i t diese M ö g l i c h k e i t a u s g e s c h ö p f t w e r den kann, ist n a t ü r l i c h zumindest e r f o r d e r l i c h , daß die R e g i e r u n g keine I m m u n i t ä t g e g e n ü b e r S t r a f v e r f o l g u n g genießt, w a s a l l e r d i n g s häufig b e i w e i t e m nicht z u t r i f f t . D i e g e g l i e d e r t e oder v e r z w e i g t e R e g i e r u n g s f o r m ist eine p o l i t i s c h e E r f i n dung, die M i c h e l s ' E r k e n n t n i s zur A n w e n d u n g b r i n g t , daß die S c h a f f u n g von O r g a n i s a t i o n s e i n h e i t e n mit s p e z i a l i s i e r t e n Funktionen I n t e r e s s e n e r z e u g t , die für die E i n h e i t e n s p e z i f i s c h sind. J e d e r R e g i e r u n g s z w e i g
wird
Interessen
e n t w i c k e l n , die in e i n e m g e w i s s e n A u s m a ß in K o n f l i k t zu den I n t e r e s s e n a n d e r e r Z w e i g e s t e h e n . E i n e z e n t r a l e F r a g e l a u t e t , ob dieser
Interessenkon-
flikt z w i s c h e n v e r s c h i e d e n e n Z w e i g e n des H e r r s c h a f t s s y s t e m s d a z u dienlich ist, die R e c h t e von Individuen zu s c h ü t z e n . D i e A n t w o r t ist u n k l a r . P a r l a m e n t a r i s c h e S y s t e m e , von denen die m e i s t e n e u r o p ä i s c h e n S t a a t e n
regiert
w e r d e n , sind eine weniger g e g l i e d e r t e R e g i e r u n g s f o r m mit w e n i g e r Ü b e r p r ü f u n g e n und G e g e n g e w i c h t e n
als das d r e i g e t e i l t e
System der
Vereinigten
S t a a t e n . D o c h die G e s e l l s c h a f t e n , die von ihnen r e g i e r t w e r d e n , w e i s e n eine genauso
s t a r k e u n a b h ä n g i g e w i r t s c h a f t l i c h e Basis
wie
die U S A
auf
und
s c h ü t z e n individuelle R e c h t e w a h r s c h e i n l i c h nicht w e n i g e r e f f e k t i v .
MACHTBESCHNEIDENDE ENTSCHEIDUNGSREGELN
Ein a n d e r e s in V e r f a s -
sungen v e r a n k e r t e s H i l f s m i t t e l zur K o n t r o l l e von A g e n t e n ist die A n w e n d u n g von E n t s c h e i d u n g s r e g e l n , die die H a n d l u n g s m a c h t d e r K ö r p e r s c h a f t b e s c h n e i den. Die e x t r e m s t e E i n s c h r ä n k u n g dieser A r t ist die v e r f a s s u n g s m ä ß i g e V o r s c h r i f t , daß die K ö r p e r s c h a f t (oder ihre A g e n t e n ) nur mit d e r e i n s t i m m i g e n Z u s t i m m u n g i h r e r M i t g l i e d e r h a n d e l n kann. B u c h a n a n und T u l l o c k
(1962)
sowie B u c h a n a n (1984 [1975]) d i s k u t i e r e n dieses Prinzip r e c h t a u s f ü h r l i c h , und W i c k s e l l (1958 [ 1 8 9 6 ] ) t r a t im Z u s a m m e n h a n g mit der S t e u e r f r a g e in S c h w e d e n zur Z e i t der J a h r h u n d e r t w e n d e d a f ü r ein, w o b e i e r eine Z u k u n f t vor A u g e n h a t t e , in der eine M e h r h e i t , b e s t e h e n d aus den E n t e i g n e t e n , eine M e h r h e i t s r e g e l als M i t t e l zur K o n f i s z i e r u n g a n w e n d e n w ü r d e . Die A n w e n d u n g einer E n t s c h e i d u n g s r e g e l , die die H a n d l u n g s m a c h t
einer
K ö r p e r s c h a f t e i n s c h r ä n k t , ist in d e r P r a x i s i m m e r schon v e r b r e i t e t g e w e s e n . E i n e E n t s c h e i d u n g s r e g e l , mit d e r ein Individuum die K ö r p e r s c h a f t z u m H a n deln b e w e g e n kann, ist das eine E x t r e m . E i n e R e g e l , die
Einstimmigkeit
v e r l a n g t , ist das a n d e r e E x t r e m . R e g e l n , die z w a r keine E i n s t i m m i g k e i t , j e doch m e h r als die e i n f a c h e M e h r h e i t v e r l a n g e n , s t e l l e n eine g e w i s s e s c h r ä n k u n g d a r , sind aber s c h w ä c h e r als eine E i n s t i m m i g k e i t s r e g e l .
Be-
Verfassungen
und die Bildung von Körperschaften
55
Ein großer Mangel bei der Anwendung machtbeschneidender Entscheidungsregeln liegt darin, daß sie die Fähigkeit der Körperschaft, für die Interessen der Mitglieder zu handeln, einschränken. Daher besteht eine verfassungsmäßige Strategie darin, die Beschränkungen der Handlungsmacht über einen gewissen Zeitraum hinweg variieren zu lassen. Da das Interesse an individuell zu erreichenden Zielen und kollektiv zu erreichenden Zielen sich im Laufe der Zeit verändert, kann die Verfassung so formuliert werden, daß sie der Körperschaft bedingt und nur vorübergehend Macht zugesteht, wobei die Möglichkeit besteht, das Zugeständnis der Macht zu widerrufen, wenn die Bedingungen dies rechtfertigen. In den meisten Verfassungen ist eine solche Vorkehrung enthalten, wie z.B. Vorkehrungen für die Erklärung des Kriegsrechts oder der War Powers Act in den Vereinigten Staaten. Eine G e fahr besteht natürlich darin, daß - wenn der Widerrufungsmechanismus nicht widerstandsfähig genug ist - genau die Macht, die den Agenten gegeben wird, ihnen erlaubt, einen Rückfall in den status quo ante zu verhindern, und somit einen fortschreitenden Verlust individueller Rechte erwirkt.
VERFASSUNGSMÄSSIG
VERANKERTE U N T E R T Ä N I G K E I T EINER
HÖHEREN
AUTORITÄT GEGENÜBER Ein möglicher Schutzschild gegen den Staat, der sich als bedeutsam herausgestellt hat, ist die verfassungsmäßige Anerkennung einer Menge von "höheren Gesetzen", wie sie Buchanan (1984 [19751, S. 18) erörtert hat. In der politischen Philosophie findet sich diese Anerkennung beispielsweise in der Theorie des Naturrechts, wie sie hauptsächlich von Thomas von Aquin und anderen katholischen Gelehrten entwickelt wurde, um göttliche Autorität oder die Autorität der Kirche in Relation zur weltlichen Autorität zu definieren. In der Praxis ist religiöser Gehorsam schon oft eingesetzt worden, um der Staatsgewalt entgegenzutreten, wie Coleman (1956) erörtert. Neuere Beispiele sind der Aufstand der Solidarität gegen den polnischen Staat von 1980, der von der katholischen Kirche unterstützt wurde, und der Sturz des Schah, den von ihrer Religion getriebene Moslems 1979 im Iran vollzogen. In beiden Fällen bestand nicht nur eine Menge von Überzeugungen, die der Autorität des Staates Widerstand leistete, sondern auch eine religiöse Organisation innerhalb der Gesellschaft, die diese Überzeugungen nährte, und ein außenstehender Bezugspunkt (die Kirche in Rom, der Ayatollah Khomeini in Paris). Das zweite Beispiel zeigt auch im umgekehrten Sinne, wie wichtig die verfassungsmäßig verankerte Anerkennung einer höheren Autorität ist. In einem Staat, der auf religiöse Gesetze gegründet ist, so wie der iranische Staat nach 1979, repräsentiert der Staat die religiöse Autorität und ist keiner höheren Autorität Ehrerbietung schuldig. Es wird somit schwierig, eine höhere Autorität anzurufen, um der Autorität des Staates zu begegnen.
56
Körper
schaftshandeln
REICHWEITE DER RECHTSPRECHUNG UND KONKURRIERENDE
AKTEURE
Die externen Effekte verschiedener Handlungen weisen verschieden große Reichweiten auf. Dies führt zu einigen bedeutsamen Fragen zur Bildung einer Körperschaft. Insbesondere freiwillige Vereinigungen innerhalb eines Staates (wie Gewerkschaften, Berufsverbände und Unternehmerverbände) haben natürliche Grenzen, die über die gleichen Reichweiten einer Anzahl positiver und negativer externer Effekte für die Mitglieder der Vereinigungen (die aus dem gleichen Beruf oder der gleichen Industrie kommen) definiert werden. Von daher ist es für ein Individuum hinter einem Schleier des Nichtwissens nur natürlich zu sagen: "Die Befugnisse der Vereinigung sollten so weit gehen und nicht weiter, und ich sollte ihr diese Kontrollrechte übertragen und keine anderen."
366
Eine ebenso natürliche Grundlage eines Staates könnte eine gemeinsame Sprache oder ein gemeinsamer ethnischer Hintergrund oder beides sein. 14 Die Existenz eines Nationalstaates, der ein Gewaltmonopol Uber eine genau umrissene Bevölkerung besitzt, ergibt sich nicht deutlich und zwangsläufig aus den Präferenzen rationaler Akteure, die auf gegenseitig auferlegte e x terne Effekte reagieren, wozu auch die positiven externen Effekte der kollektiven Verteidigung gehören. Es ist denkbar, daß alternative soziale Strukturen vorgezogen würden. Eine Alternative wäre beispielsweise eine Regierung, die in einer bestimmten geographischen Region, jedoch nicht über eine festgelegte Population, d.h. keine Bürgerschaft, ein Gewaltmonopol ausüben. Jedes Indiviuum wäre jederzeit in der Lage, sich die Rechtsprechung auszusuchen, der es sich unterordnen möchte. Eine andere Alternative, die im Laufe der Geschichte schon immer für nomadische Völker charakteristisch war, sind Stammesregierungen, die ein Gewaltmonopol Uber die miteinander verbundenen Mitglieder einer Gruppe besitzen, jedoch kein festgelegtes geographisches Territorium beherrschen. Was ist nun die optimale Reichweite der Rechtsprechung eines bestehenden Staates über bestimmte Untergruppen von Handlungen? Mit anderen Worten, welches Ausmaß an Föderalismus oder Dezentralisierung der Regierung ist für das regierte Individuum optimal? Ein wichtiger Teilaspekt der Antwort auf diese Frage betrifft die Reichweite von externen Effekten. Die Reichweite einer Rechtsprechung wird durch die Reichweite der externen 14 FUr Staaten stellt sich das Problem der Mitgliedschaft in e i n e m f u n d a m e n t a l e r e n Sinne. Der Anspruch w a l i s i s c h e r Nationalisten auf Souveränität und v e r g l e i c h b a r e Ansprüche von Litauern, Basken oder A r m e n i e r n f u h r e n zu der Frage, wo diese G r e n z e n liegen sollten, w e n n m a n davon ausginge, daft der Staat von souveränen Individuen g e s c h a f f e n wird. Am Ende des Ersten Weltkriegs stellte Woodrow Wilson diese Frage, die die G r ü n d u n g n e u e r Staaten in Mitteleuropa n a c h sich zog. Am Ende des Zweiten Weltkriegs in Jaita w u r d e diese Frage nicht n a c h d r ü c k l i c h gestellt, und dies h a t t e zur Folge, daft Osteuropa u n t e r die H e r r s c h a f t der Sowjetunion geriet.
Verfassungen
und die Bildung von Körperschaften
57
Effekte definiert, und die Anzahl der durch sie abgedeckten Handlungen wird durch die gemeinsame Reichweite von externen Effekten und auch durch Überlappungen verschiedener Handlungen bestimmt. Andere Faktoren, wie die Wirksamkeit und Unwirksamkeit von Größenmaßstäben, müssen ebenfalls berücksichtigt werden. Der wichtigste Punkt, der mit der Untersuchung der Reichweite von externen Effekten nicht abgedeckt wird, ist jedoch die Wirkung, die entweder Konsolidierungen oder Dezentralisierung auf die Macht der Körperschaft haben, im Interesse ihrer Mitglieder zu handeln, und auf die Macht der Agenten, die Interessen der Mitglieder zu vernachlässigen. Wahrscheinlich läßt sich hierzu kein generelles Prinzip ableiten; die Möglichkeit, konkurrierende Körperschaften einzusetzen, um die Macht ihrer jeweiligen Agenten zu reduzieren, muß wohl von Fall zu Fall untersucht werden. Es liegt auf der Hand, daß es in bestimmten sozialen Systemen, in denen ein hohes Maß an sozialer und wirtschaftlicher Interdependenz besteht, sehr viele verschiedene Rechtsprechungen gibt, die sich gegenseitig überschneiden. Beispielsweise wurden bei einer Untersuchung nahezu 1400 Regierungen im Bereich von New York City ausgemacht, zu denen z.B. die New Yorker Hafenbehörde oder der Schulbezirk Scarsdale gehörten, die alle eine unterschiedliche Rechtsprechung aufwiesen (Wood 1961). Es liegen einige Arbeiten von Ökonomen über das Problem der optimalen Rechtsprechung vor (siehe Breton 1974, Breton und Scott 1978). Besondere Fälle hierbei sind die Fragen nach der optimalen Größe von Schulbezirken und Schulen. Beim Versuch, die Größe von Schulbezirken und Schulen zu optimieren, hat man bisher meistens nicht alle Eigenschaften berücksichtigt, in denen Individuen auftreten können (als Schüler, Eltern, Lehrer oder Steuerzahler), sondern nur die letzte der genannten Eigenschaften, und ist überdies dem Gutdünken von Verwaltungsbehörden unterworfen. 1 5 Als letzten Punkt, der die Reichweite von Körperschaften betrifft, denen Kontrollrechte Ubertragen werden, möchte ich auf externe Effekte eingehen, die Staatengrenzen überschreiten. Beispiele hierfür sind der saure Regen, der durch die Industrie eines bestimmten Landes verursacht wird und in einem anderen Land niedergeht, und die weltweite Ausrottung der Wale auf-
15 Es ist beispielsweise belegt, d a l die optimale GröAe einer Oberschule in den Vereinigten Staaten u n t e r 500 Schillern liegt, u m "gute Ergebnisse" f ü r den D u r c h schnittsschUler zu e r r e i c h e n , und bei ca. 1000 Schillern, um ökonomische E f f i z i e n z zu g e w ä h r l e i s t e n . (Siehe Coleman und H o f f e r 1987, die letzteres indirekt und ersteres direkt belegen.) Doch z e n t r a l e Regierungsbehörden e r z w i n g e n Konsolidier u n g e n und s c h a f f e n damit Schulgrößen, die beide Werte Ubersteigen, so da Β die Schulen weder f ü r den Schiller noch flir den Steuerzahler optimal sind. Die Macht, die den Behörden erlaubt, so etwas zu tun. ist ein Beispiel flir die M a c h t v e r m e h rung, die a u s der G r ü n d u n g von K ö r p e r s c h a f t e n resultiert, worauf in diesem Kapitel an a n d e r e r Stelle eingegangen wird.
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Körperschaftshandeln
g rund der Walfangpraktiken von ein oder zwei Staaten. Es sind internationale Verbände mit mehr oder weniger Zwangsmacht gegründet worden, die für einige dieser Bereiche rechtlich zuständig sind - womit sich erneut die Frage stellt, ob rationale Individuen hinter einem Schleier des Nichtwissens einer einzelnen Körperschaft, dem Staat, ein Gewaltmonopol übertragen würden. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde die Antwort "nein" lauten. Die jetzige Existenz des Nationalstaates als eine Form der Organisation sozialer Tätigkeiten ist möglicherweise noch ein Relikt der historischen U r sprünge autoritärer sozialer Organisationen in verwandtschaftlich verbundenen Gruppen wie Sippen oder Stämmen. Da Verwandtschaft immer mehr ihre führende Rolle als Grundlage sozialer Organisation verliert, eröffnen sich vielleicht Möglichkeiten sozialer Gebilde, die von dem modernen Nationalstaat völlig verschieden sind.
Wer sind die elementaren Akteure? Bisher habe ich vorausgesetzt, daß natürliche Personen die elementaren Akteure sind. Eine Verfassung wurde als ein Mittel betrachtet, Rechte zwischen einer Körperschaft und natürlichen Personen aufzuteilen. Dies muß jedoch nicht der Fall sein. Bei der Formulierung der Verfassung für eine b e stimmte Körperschaft können auch bestimmte andere Körperschaften die elementaren Akteure sein. Als beispielsweise die Verfassung der Vereinigten Staaten formuliert wurde, gab es dreizehn fest umrissene Kolonien, die bis zu diesem Zeitpunkt die Hauptakteure des Systems gewesen waren. Die Verfassung der Vereinigten Staaten ging von zwei Mengen elementarer Akteure aus, indem sie explizit zwei parlamentarische Versammlungen ins L e ben rief: das Repräsentantenhaus, in dem jeder Bürger gleichermaßen v e r treten werden sollte, und den Senat, in dem jeder Staat gleichermaßen von zwei Senatoren vertreten werden sollte, unabhängig davon, wieviele Einwohner er hatte. Zusätzlich fielen bestimmte Residualrechte, die in der Verfassung nicht ausdrücklich erwähnt waren, wieder an die Staaten zurück. Tatächlich betrafen die Diskussionen in der verfassungsgebenden Versammlung von 1787 nicht das Gleichgewicht zwischen den Rechten von Personen und Rechten der Bundesregierung, sondern das Gleichgewicht zwischen den Rechten von Staaten und Rechten der Bundesregierung. In den meisten F ä l len kann man davon sprechen, daß in den Beratungen über die Verfassung, die zur Gründung der Vereinigten Staaten führten, eher die Mitgliederstaaten die relevanten Individuen waren als natürliche Personen. Auf ähnliche Weise wurden bei der Gründung des modernen Libanon von 1945 die wichtigsten religiösen Gruppen verfassungsmäßig explizit als Akt e u r e a n e r k a n n t , w o b e i C h r i s t e n und M o s l e m s g e t r e n n t v e r t r e t e n
wurden,
Verfassungen
und die Bildung von Körperschaften
59
obwohl die Regierung nicht ausdrücklich föderativ ist. Es gibt andere Beispiele, bei denen körperschaftliche Gebilde innerhalb einer Körperschaft als die elementaren Akteure betrachtet werden, aus denen sich das übergeordnete körperschaftliche Gebilde zusammensetzt. Die elementaren Akteure bei den Vereinten Nationen sind Nationalstaaten. Laut den Gründungsurkunden eines Unternehmens ist jegliche Art von Akteur, ob individuell oder körperschaftlich, der Anteile an den Stammaktien besitzt, ein elementarer Akteur für die Führung des Unternehmens, dessen Kontrollanteil proportional zu den Aktienanteilen ist, die er besitzt. In Unternehmerverbänden sind die Mitglieder selber Unternehmen. In allen diesen Fällen kann man die von mir als elementar bezeichneten Akteure aus einem einzigen Grund als elementar betrachten: Die Körperschaft, deren Mitglieder sie sind, hat nicht das Recht, ihre internen Abläufe zu bestimmen. Alle diese Rechte werden von jedem einzelnen Mitglied selbst behauptet.
Funktionale
Komponenten
als intermediäre
Akteure
Es gibt jedoch eine andere Klasse von Körperschaften, bei denen die E x i stenz körperschaftlicher Gebilde innerhalb der übergeordneten Körperschaft ausdrücklich anerkannt wird, aber die Rechte, die internen Abläufe dieser Gebilde zu bestimmen, vom übergeordneten Akteur behauptet werden. Ein Beispiel hierfür stammt aus Westdeutschland, nachdem in den frühen siebziger Jahren in den verschiedenen Bundesländern neue Gesetze erlassen worden waren, die die Leitung von Universitäten betrafen. In Westberlin forderte das Gesetz beispielsweise (obwohl es 1982 schließlich wieder annulliert wurde), daß das leitende Organ einer Universität zu je einem Drittel aus Professoren, Studenten und sonstigen Lehrenden bestehen sollte. Das Verfahren, nach dem jede dieser drei Gruppen ihre Vertreter wählte, war gesetzlich vorgeschrieben und wurde nicht etwa von der Gruppe oder der Universität bestimmt. In der Nationalen Akademie der Wissenschaften in den Vereinigten Staaten werden kollektive Entscheidungen über die Zulassung neuer Mitglieder mit Hilfe eines dreistufigen Wahlverfahrens gefällt. Die erste Auswahl wird innerhalb von Disziplinen ("Sektionen" genannt) getroffen, dann wählen Gruppen von Disziplinen ("Klassen" genannt) unter diesen Kandidaten aus, und schließlich gibt es eine Wahl aus der gesamten Mitgliederschaft, mit Quoten für jede Klasse. In der frühen Geschichte der ITU wurden die meisten wichtigen Entscheidungen von einem Exekutivrat getroffen, der aus dem Präsidenten und den Vizepräsidenten bestand, welche von jedem durch die Gewerkschaft repräsentierten Berufszweig gewählt wurden. Auch hier wurde das Verfahren für Wahlen innerhalb der Unterab-
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369
Körperschaftshandeln
teilungen auf der Ebene der Gewerkschaft als ganzer festgelegt und nicht innerhalb der Unterabteilung. In keinem dieser Fälle lassen sich die körperschaftlichen Gebilde innerhalb der übergeordneten Körperschaft als elementare Akteure bezeichnen, wie es für die oben genannten Beispiele der Vereinten Nationen und Unternehmerverbände der Fall war. Vielmehr sind sie untergeordnete Körperschaften mit Teilkontrollrechten über die Handlungen der übergeordneten Körperschaft, die ihrerseits Kontrollrechte über die internen Abläufe jener untergeordneten Körperschaften besitzt. Solche Untereinheiten scheinen normalerweise so etwas wie funktionale Komponenten des übergeordneten Akteurs darzustellen. Die Professoren, die sonstigen Lehrenden und die Studentenschaft sind drei wichtige funktionale Komponenten einer Universität, so wie A r beitnehmer und Aktionäre (Arbeit und Kapital) die beiden wichtigsten funktionalen Komponenten eines Geschäftsunternehmens sind. Die Behauptung von Kontrollrechten Uber gemeinschaftliche Handlungen in solchen Gebilden hat man sich nicht so vorzustellen, daß diese Rechte von individuellen Akteuren behauptet werden, wie z.B. den Professoren in einer Universität oder den Arbeitnehmern in einem Unternehmen. Vielmehr werden sie gemeinschaftlich von den Untereinheiten selbst und damit den untergeordneten Körperschaften behauptet, nämlich von der Gesamtheit der Professoren oder der Gesamtheit der Arbeitnehmer eines Unternehmens. Dies zeigt sich sofort an dem Gewicht, das die Stimme eines Individuums hat. Wenn beispielsweise eine Universität mit der früher beschriebenen Führungsstruktur vierzig Studenten pro Professor hätte, wäre man versucht zu sagen, daß ein Student laut Verfassung ein Vierzigstel der Macht eines Professors besäße. Einige kurze Überlegungen zeigen aber bald, daß dies eine irrige Vorstellung ist. Gäbe es nur noch halb so viele Studenten, würde die studentische Repräsentation in der Universitätsleitung dennoch gleichbleiben, wobei jeder Student ein Zwanzigstel der Macht eines Professors erhielte. Eine solche Struktur sollte vielmehr so gesehen werden, daß die Kontrollrechte über die übergeordnete Körperschaft (die Universität) der intermediären oder untergeordneten Körperschaft (der Studentenschaft) übertragen werden. Andererseits werden die Kontrollrechte Uber die intermediäre Körperschaft den individuellen Mitgliedern übertragen - und es ist die übergeordnete Körperschaft, nicht die intermediäre, die bestimmt, wie diese Rechte zugewiesen werden. Obwohl die erfolgte Beschreibung der Allokation von Rechten korrekt zu sein scheint, wird nicht klar, wann eine solche funktionale Unterstrukturierung einer Körperschaft notwendig oder sinnvoll ist. Im allgemeinen scheint die Unterstrukturierung wichtig zu sein, wenn die gemeinschaftliche Handlung aus irgendeiner funktionalen Interdependenz zwischen den intermediären Teilen resultiert, von denen jeder eine besondere Rolle innerhalb der K ö r p e r s c h a f t s p i e l t , in d e n e n a b e r j e w e i l s
der A u s t a u s c h von
Individuen
Verfassungen
und die Bildung von Körperschaften
61
denkbar ist. Dies trifft auf die deutsche Universität oder das Industrieunternehmen zu. In Fällen wie der Nationalen Akademie der Wissenschaften scheint die Unterstrukturierung jedoch aus einem anderen Grunde aufzutreten, und zwar nicht wegen der funktionalen Interdependenz zwischen v e r schiedenen Rollen, sondern um zu verhindern, daß die bestehende Sozialstruktur (die jedes Individuum dazu bringt, sich für nur ein Interesse - in diesem Falle eine akademische Disziplin - einzusetzen) zur Folge hat, daß eine Untergruppe dominiert. Im Libanon scheint die Bedeutung der Religion in der Sozialstruktur dafür verantwortlich zu sein, daß Individuen in der Verfassung gemäß ihrer Religion vertreten werden. Zusätzlich zu den oben beschriebenen Strukturen gibt es noch eine weitere. Diese wird anhand der Entscheidungsfindung in Gemeinden verdeutlicht, wie sie von Dahl (1961 ), Banfield und Wilson (1963) und Laumann und Pappi (1976) untersucht worden ist. Kommunale Entscheidungen über die Lage eines Krankenhauses oder eines Flughafens oder ähnliche Entscheidungen, die explizit vom Bürgermeister oder dem Stadtrat kontrolliert werden, werden möglicherweise informell von den wenigen Akteuren in der Gemeinde kontrolliert, deren Interesse direkt betroffen sein wird. Dies sind normalerweise nicht natürliche Personen oder intermediäre Körperschaften, die der kommunalen Regierung unterstellt sind. Es sind vielmehr Körperschaften, die von dieser Regierung unabhängig sind, wie Banken, lokale Unternehmen, Zweigstellen nationaler Unternehmen oder Behörden der nationalen Regierung. Die Kontrollrechte solcher Akteure werden nicht durch ein Verfahren wie Wahlen oder Kündigung formal anerkannt. Stattdessen kann man sich diese Rechte als Teil der informalen Verfassung der Gemeinde vorstellen, die sich beispielsweise äußern, wenn ein Bürgermeister weiß, daß er erst von einem bestimmten Akteur in der Gemeinde "grünes Licht erhalten" muß, bevor er ein Projekt weiterführt. Es erscheint am sinnvollsten, die Einflußprozesse und Prozesse des sozialen Austausche, die die kollektive Entscheidung in solchen Fällen bestimmen, nicht als Teil der informalen Verfassung zu behandeln, sondern sie als separate Prozesse der expliziten Analyse zu überlassen. Hier genügt die Feststellung, daß diese unabhängigen Körperschaften in einer Gemeinde wohl keine formalen Kontrollrechte über Handlungen der Gemeinde haben, sondern Ressourcen besitzen, die für die Akteure mit formaler Kontrolle von Interesse sein können, und somit in der Lage sind, Kontrolle über das E r gebnis zu erlangen.
Die Antwort auf die Frage, wer ein elementarer Akteur mit Teilkontrollrechten über gemeinschaftliches Handeln ist, läßt sich wie folgt zusammenfassen: In vielen Fällen ist der elementare Akteur eine natürliche Person. In
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62
Körperschaftshandeln
anderen Fällen (wie bei den Vereinten Nationen) ist der elementare Akteur selbst eine Körperschaft. In manchen Fällen (wie bei einem Unternehmen, das sowohl natürliche Personen und Unternehmen als Aktionäre aufweist) kann der e l e m e n t a r e Akteur entweder eine natürliche Person oder eine K ö r perschaft sein. Es gibt jedoch noch komplexere F ä l l e wie die oben genannten, in denen zwischen intermediären Akteuren im Hinblick auf die gemeinschaftliche Handlung oder die Sozialstruktur, der die Körperschaft ü b e r g e ordnet ist, eine Interdependenz besteht. Das Fehlen einer vollständigen Souveränität vieler intermediärer Körperschaften äußert sich darin, daß ihre Verfassungen, die festlegen, wie sie selbst von ihren Mitgliedern kontrolliert werden, auf der Ebene der übergeordneten Körperschaft begründet werden.
Kapitel 14
Das Problem der sozialen Entscheidung In Kapitel 11 wurde gezeigt, inwiefern es die Existenz von Handlungen mit externen Effekten rational sein läßt, Rechte auf eine Bank für Handlungsrechte zu übertragen. Und in Kapitel 13 wurden Bedingungen aufgezeigt, unter denen es für rationale Individuen von Interesse ist, einer Körperschaft Kontrollrechte über bestimmte Handlungen zu übertragen. Alle diese Ü b e r tragungen werden mit der Annahme vorgenommen, daß die betreffenden Rechte dann so ausgeübt werden, daß die Situation der Individuen daraufhin besser wird, als sie es gewesen wäre, wenn die Individuen die Rechte individuell behauptet hätten. Selbst wenn Rechte also, wie in früheren Kapiteln aufgezeigt wurde, zunächst einmal von Individuen behauptet werden (zumindest wenn man von der philosophischen Vorstellung der Naturrechte ausgeht), werden diese Individuen nicht immer alle ihre Rechte weiterhin individuell behaupten. Jedes Individuum wird eine bedingte Übertragung einiger Rechte auf eine Körperschaft vornehmen, die durch den Erwerb dieser Rechte ins Leben gerufen wird. In vielen Fällen ist es für Individuen jedoch nicht rational, eine solche Übertragung vorzunehmen, solange sie nicht eine gewisse Kontrolle Uber die Handlungen zurückbehalten, die die Körperschaft ergreifen wird, da diese Handlungen Ereignisse sind oder hervorrufen, die für sie Folgen tragen. Das Problem besteht dann darin, wie die Kontrolle Uber diese gemeinschaftlichen Handlungen unter einer Anzahl von Individuen aufgeteilt werden kann. Dieses Problem stellt sich in einer Vielzahl von Kontexten. Die hervorstechendsten Fälle sind soziale Entscheidungen innerhalb von demokratischen Nationalstaaten und freiwilligen Organisationen, doch das Problem stellt sich auch in Gemeinden, wo Entscheidungen Uber kommunale Fragen getroffen werden müssen, und in Unternehmen, wo Entscheidungen über ökonomische Fragen zu fällen sind. Daß dieses Problem nicht in allen Fällen gleich gut gelöst werden kann, zeigt sich in einer Anzahl von Phänomenen, wie dem Sturz einer Regierung in manchen Nationalstaaten, zuweilen nach einer Revolution, der Auflösung einer Gemeinschaft, die in mehrere Splittergruppen z e r fallen ist, oder die unerwünschte Übernahme eines Unternehmens.
Das Aufteilen von Rechten an unteilbaren Gütern Es ist möglich, die Rechte, die teilbaren GUtern eigen sind, auf verschiedene Art und Weise, wie es in Kapitel 3 beschrieben wurde, aufzuteilen. Was
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aber ist mit den Rechten, die unteilbaren Handlungen oder Ereignissen anhaften? Wie lassen sich diese Rechte aufteilen? Nehmen wir an, es gibt eine Verfassung mit den folgenden Eigenschaften:
Die Menge der Rechte, die kollektiv und nicht individuell behauptet werden sollen, ist in der Verfassung festgelegt worden. Die Verteilung der Kontrollrechte über die kollektiv behaupteten Rechte ist in der Verfassung festgelegt worden (z.B. in Gestalt einer gleichmäßigen Kontrolle für alle Personen, die als Mitglieder oder Bürger bezeichnet werden). Die spezifische Form der Kontrollrechte ist nicht in der Verfassung festgelegt worden.
Die Verfassung verleiht jeder einzelnen Person die gleiche Kontrolle über kollektive Handlungen, läßt jedoch die Frage offen, ob diese Kontrollrechte über ein mehr oder weniger kontinuierliches Plebiszit ausgeübt werden sollen, über eine Legislative, deren Abgeordnete in regelmäßigen Wahlen gewählt werden, über einen einzelnen Beauftragten, der regelmäßig gewählt wird oder auf eine andere Art und Weise. Eine Vorstellung von der Struktur der Rechte, die kollektiven Handlungen eigen sind, kann einen Einblick in diese verschiedenen Formen der Ausübung von Rechten sowie in andere mögliche Formen vermitteln. Als Anhaltspunkt für die Betrachtung dieses Problems möchte ich auf verschiedene Punkte hinweisen.
1. In nahezu jedem Kollektiv muß nicht eine einzelne kollektive Handlung ergriffen werden, sondern einen Strom von Handlungen, der sich über einen gewissen Zeitraum erstreckt. Aus dieser Tatsache ergibt sich die begrenzte Teilbarkeit zeitlich andauernder kollektiver Handlungen, da die Handlungen in diesem Strom separate Handlungen sind. 1 2. Verschiedene kollektive Handlungen sind für verschiedene Mitglieder der Körperschaft von unterschiedlichem Interesse. Im Extremfall kann es vorkommen, daß eine Handlung für niemanden außer einer Untergruppe von Mitgliedern von Interesse ist. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, daß Kon1
V e r s c h i e d e n e F l i h r u n g s s y s t e m e h a b e n sich d i e s e z e i t l i c h e A u f t e i l b a r k e i t k o l l e k t i v e r H a n d l u n g e n z u N u t z e n g e m a c h t . Ein Beispiel h i e r f ü r ist die von Z a b l o c k i (1980, S. 233) u n t e r s u c h t e A s t a r - K o m m u n e . w o n a c h e i n a n d e r a l l e n M i t g l i e d e r n f ü r j e w e i l s e i n e W o c h e die u n u m s c h r ä n k t e K o n t r o l l e Uber E n t s c h e i d u n g e n , die die K o m m u n e b e t r a f e n . Ubertragen w u r d e .
Das Problem der sozialen Entscheidung
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trollrechte über bestimmte gemeinschaftliche Handlungen (mit oder ohne kompensierendem Austausch von Rechten) auf Untergruppen des Kollektivs übertragen werden. 3. Ein häufig benutztes Mittel zur Aufteilung von Kontrolle über gemeinschaftliche Handlungen auf die Mitglieder sind Wahlstimmen, doch eine Wahlstimme kann die Interessen der Mitglieder nur unvollkommen auf die Ebene der gemeinschaftlichen Handlung übermitteln. Die verschiedenen Schwachpunkte, die hierbei zu beobachten sind, werden in diesem Kapitel später noch untersucht; einer ist jedoch recht subtil: Eine Wahlstimme e r kennt nur Individuen als Eigentümer von Rechten an und teilt die Kontrolle über gemeinschaftliche Handlungen so auf, daß soziales Kapital (siehe K a pitel 12), das verschiedene Mitglieder in unterschiedlichem Umfang besitzen, ignoriert wird. So wird, gewissermaßen von vornherein, denjenigen, die soziales Kapital zur Verfügung haben, viel mehr Macht übertragen als denjenigen, denen soziales Kapital fehlt. Dieser Schwachpunkt läßt sich auch in bezug auf die Tatsache beschreiben, daß eine gemeinschaftliche Handlung ein öffentliches Gut ist und daß das Individuum die falsche Handlungseinheit darstellt, da individuelle Maximierung zu kollektiver Suboptimierung führt (d.h. die individuelle Maximierung veranlaßt jedes einzelne Individuum, keine Stimme abzugeben). Man kann diesen Mangel einer Wahlstimme auch so beschreiben, daß Sozialwissenschaftler von der utilitaristischen Vision Jeremy Benthams irregeführt worden sind, der die Maximierung des sozialen Wohls einfach als Aggregation individueller Nutzen ansah. Dieses Bild führt dann zu einer simplen Aggregation von Wahlstimmen, was die oben genannten Probleme nach sich zieht. 4. Es wird manchmal davon ausgegangen, daß ein Individuum über eine kollektive Entscheidung, bei der es zwei Alternativen gibt, eine Teilkontrolle nur mittels einer Wahlstimme ausüben kann, wobei diese Handlung binär ist. Dies ist jedoch nicht der Fall. Beispielsweise kann die Verfassung der Körperschaft ein mehrstufiges Verfahren vorschreiben, bei dem das Individuum auf jeder Stufe verfassungsmäßige Rechte besitzt. So wird in der Verfassung der Vereinigten Staaten ein mehrstufiges Entscheidungsverfahren für das Erlassen von Gesetzen gefordert. Ein Bürger, der das Recht hat, in Kongreßund Präsidentschaftswahlen seine Stimme abzugeben, besitzt Teilkontrolle über jede einzelne der Körperschaften, die am Treffen der Entscheidung b e teiligt sind: über das Repräsentantenhaus, den Senat und den Präsidenten. Dabei handelt es sich lediglich um eine mögliche Struktur, mit deren Hilfe ein mehrstufiges Entscheidungsverfahren die mehrfache und damit vielsagendere Beteiligung von Individuen ermöglicht. 5. In Kollektiven, die über einen gewissen Zeitraum hinweg bestehen, ist das Fällen von Entscheidungen kein isoliertes Ereignis. Es wird von umfassender Wahlagitation, Organisation und oft auch Parteienbildung begleitet.
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Offensichtlich treten diese Aktivitäten auf, weil die Beteiligten sie als nützlich für die Verfolgung ihrer Interessen ansehen, d.h. weil sie sich von ihnen das Ergebnis versprechen, an dem sie interessiert sind. Dennoch w e r den diese Aktivitäten nicht verfassungsmäßig gefördert. Manchmal werden sie sogar durch Regeln, die Parteien oder Splittergruppen verbieten, eingeschränkt. Daß in den theoretischen Voraussetzungen der Allokation von Rechten (und damit der Allokation von Wahlstimmen) solche Aktivitäten nicht vorgesehen werden, obwohl sie weitverbreitet sind, legt nahe, daß diese Voraussetzungen und somit auch die Rechtsallokation unvollkommen sind. Was dies für die Praxis bedeutet, ist nicht ganz klar, doch es heißt zumindest, daß das individualistische Recht der Stimmabgabe bei einer undifferenzierten einstufigen kollektiven Entscheidung diejenigen Rechte ignoriert, in denen der soziale Kontext oder die soziale Organisation eine Rolle spielt.
Diese Punkte, die das Wesen unteilbarer gemeinschaftlicher Handlungen b e treffen, zeigen Möglichkeiten auf, die Kontrollrechte über diese Handlungen aufzuteilen, von denen in formalen Entscheidungsregeln nicht generell G e brauch gemacht wird. Beispielsweise bedeutet die Tatsache, daß normalerweise eher eine Sequenz gemeinschaftlicher Handlungen existiert als eine isolierte Handlung, daß Individuen Rechte verliehen werden könnten, die sich über eine Klasse dieser Handlungen erstrecken, und daß die Individuen die Rechte so zuteilen dürften, wie es ihnen innerhalb dieser Klasse als günstig erscheint. Diese Möglichkeit eröffnet ein weiteres Maß an Freiheit für die von Individuen vorgenommene Allokation von Ressourcen auf eine Menge kollektiver Handlungen. Wäre die Anzahl der Personen sehr gering und die Anzahl der Handlungen sehr groß, würde dies ein Mittel sein, mit dem die Beschränkung der Unteilbarkeit von Handlungen aufgehoben würde. Eine Person würde ihre Ressourcen einsetzen, um die Kontrolle über diejenigen kollektiven Handlungen zu erlangen, die sie am meisten interessieren, eine andere würde diejenigen zu kontrollieren suchen, die sie am meisten interessieren usw.
374
Ein Kollektiv, in dem die Anzahl der Personen klein und die Anzahl der Handlungen groß ist, ist die Familie, und viele familiäre Entscheidungen werden folgendermaßen getroffen: Ausgehend von der ursprünglichen v e r fassungsmäßigen Verteilung von Rechten, die die relative Macht bestimmen (wobei die Verteilung natürlich ungleichmäßig ausfallen kann), erlangt der Ehemann und Vater Kontrolle Uber die kollektiven Aktivitäten, die ihn am meisten interessieren, die Ehefrau und Mutter erlangt Kontrolle über die kollektiven Aktivitäten, die sie am meisten interessieren, und die Kinder e r langen Kontrolle über die kollektiven Aktivitäten, die sie am meisten interessieren (beispielsweise, was die Familie am Samstag unternimmt) - und dies a l l e s relativ zu ihrer ursprünglichen
Macht.
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In einem Kollektiv, wo es eine große Anzahl gemeinschaftlicher Handlungen und eine geringe Anzahl von Mitgliedern gibt, wird das einer Wahlstimme eigene Trittbrettfahrerproblem überwunden. In einem größeren Kollektiv besteht das Trittbrettfahrerproblem so lange, wie der maximierende Akteur das Individuum ist und dieses seine individuellen Interessen maximiert, denn die große Anzahl an Individuen bedeutet, daß die Handlung eines Individuums sehr geringe Auswirkungen auf seine erwarteten Gewinne hat, wohingegen die Handlungen aller anderen zusammengenommen seine erwarteten Gewinne stark beeinflussen.
Verfassungsfragen zur Aufteilung von Kontrollrechten Uber gemeinschaftliche Handlungen Einige Probleme bei der Aufteilung von Kontrollrechten über gemeinschaftliche Handlungen stellen sich auf der Ebene der Verfassungsformulierung. Auf dieser Stufe werden Regeln festgelegt, nach denen die Körperschaft Handlungen ergreift, und diese umfassen auch die Aufteilung der Kontrollrechte Uber gemeinschaftliches Handeln. Einige Probleme bleiben für das Individuum j e doch auch nach Formulierung dieser Regeln bestehen, und sie betreffen die Frage, wie es seine Rechte auf rationale Art und Weise wahrnimmt. Die Probleme, die für die Körperschaft auf der Ebene der Verfassungsformulierung bestehen, sind die folgenden (sie sind, wie aus der Aufstellung ersichtlich ist, nicht völlig unabhängig voneinander):
1. Welche Form sollen Teilkontrollrechte über gemeinschaftliches Handeln, die unter verschiedenen Individuen aufgeteilt werden, annehmen? Das Stimmrecht bei einer kollektiven Entscheidung, das einer spezifischen Entscheidungsregel unterliegt, ist die übliche Form eines solchen Rechts, doch es gibt auch andere Möglichkeiten, die im vorangegangenen Abschnitt aufgezeigt wurden. Auch wird sich herausstellen, daß Rechte in Gestalt von Stimmrechten einige unerwünschte Eigenschaften aufweisen. 2. Unabhängig von der Form, die diese Rechte annehmen, wird es unter den verschiedenen Individuen Meinungsverschiedenheiten darüber geben, welche Handlung die Körperschaft in jedem betreffenden Fall e r greifen soll. Welche Regeln oder Verfahren werden diese Meinungsverschiedenheiten auf eine Weise beheben, daß die folgenden Kriterien berücksichtigt werden? a. Die Regeln, die eine gemeinschaftliche Handlung herbeiführen, sollten Kriterien der Konsistenz oder Rationalität erfüllen. Ein Beispiel
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Körperschaftshandeln für eine Menge solcher Kriterien sind die von Arrow (1951 ) formulierten Axiome, der den Beweis erbrachte, daß es keine Regel zur Aggregation von Stimmen gibt, die allen seinen Kriterien genügt. Ich werde Arrows Axiomenmenge als das Konsistenzkriterium bezeichnen. In der Folgezeit sind eine Reihe von Untersuchungen angestellt worden, um eine Möglichkeit der Aggregation von Stimmen zu finden, die im Hinblick auf dieses Kriterium die geringsten Mängel aufweist. 2 b. Die Regeln sollten zu gemeinschaftlichen Handlungen hinfuhren, die die Interessen der Mitglieder getreu widerspiegeln. Ich werde dies als Kriterium der Veridikalität bezeichnen. (Ein solches Kriterium taucht in Arrows Axiomen als die Bedingung auf, daß es eine positive Assoziation zwischen individuellen und sozialen Werten gibt. Dies unterscheidet sich natürlich grundlegend von dem Kriterium kollektiver Rationalität. Wie Arrow betont, stellen seine Axiome zusammengenommen Kriterien bürgerlicher Souveränität und Konsistenz, bzw. kollektiver Rationalität, dar [1951, S. 311.) c. Die Regeln sollten zu gemeinschaftlichen Handlungen führen, die mit so großem Nachdruck vollzogen werden, daß sie wirksam sind. Ich werde dies als Kriterium des Handlungspotentials bezeichnen. d. Die Regeln sollten zu Handlungen führen, die nicht die Körperschaft zerstören, indem sie eine Abspaltung oder Revolte einiger Mitglieder hervorrufen. Ich werde dies als Kriterium der Nichtentzweibarkeit bezeichnen. 3. Das Trittbrettfahrerproblem, das bei jedem unteilbaren Ereignis auftaucht, veranlaßt leicht jedes Individuum in einem großen Kollektiv, sein Teilkontrollrecht über die Handlungen des Kollektivs nicht auszuüben. Eine Konsequenz des Trittbrettfahrerproblems lautet, daß es für ein Individuum irrational ist zu wählen, falls nicht außerordentlich wenige Mitglieder beteiligt sind, wenn der Akt des Wählens ihm Kosten verursacht. Die Tatsache, daß sich viele Individuen an Wahlen beteiligen, obwohl es ihnen Kosten und Mühe bereitet und auch angesichts dessen, daß ihre Stimme das Wahlergebnis nur unbedeutend beeinflussen wird, wird manchmal als Wahlparadox bezeichnet (siehe Riker und Or-
2 Viele dieser Arbeiten sind in den Zeitschriften Public Choice, Journal of Economic Theory. Social Choice and Weifare und American Political Science Review erschienen. Der Begriff "Konsistenz" ist auch in einem engeren Sinne in der Literatur zu sozialen Entscheidungen verwendet worden (siehe Young 197S, Fishburn 1977). wo davon die Rede ist, dal) eine Entscheidung konsistent sei, wenn die Menge von Alternativen, die eine kombinierte Gruppe auswählt, aus Alternativen besteht, die getrennt voneinander von zwei Untergruppen gewählt werden, aus denen die gröAere Gruppe besteht. Hier verwende ich den Begriff mit der Bedeutung Transitivität der s o z i a l e n E n t s c h e i d u n g , u m e i n e P r ä f e r e n z o r d n u n g fUr d a s K o l l e k t i v z u e r r e i c h e n .
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deshook 1973). Wie sich dieses scheinbar irrationale Verhalten mit der rationalen Emergenz einer Norm, wählen zu sehen, erklären läßt, ist in Kapitel 11 dargelegt worden (und wird in Kapitel 30 weiter untersucht). Diese Erklärung beschreibt jedoch nur, wie eine Norm, die zur Beteiligung an einer Wahl führt, unter rationalen Individuen entstehen kann. Sie zeigt nicht auf, wie eine Körperschaft das Wahlparadox überwinden könnte, und sie zeigt noch weniger auf, wie das allgemeine Trittbrettfahrerproblem beim Fällen von Entscheidungen durch Körperschaften Uberwunden werden kann.
Diese Probleme sind im Grunde dem Problem untergeordnet, dem sich die Körperschaft beim Übergang von der Mikro- zur Makroebene gegenübersieht. Rechte zur Bestimmung von Handlungsrichtungen werden auf der Individualebene behauptet, doch Handlungen müssen auf der Körperschaftsebene ergriffen werden. Dieses Mikro-Makro-Problem ist ein Problem der institutionellen Planung: Wie können diese Teilkontrollrechte kombiniert werden, damit sie zu einer Ausrichtung gemeinschaftlichen Handelns führen, die die Kriterien der Konsistenz, der Veridikalität, des Handlungspotentials und der Nichtentzweibarkeit erfüllt? Dieses Problem wird manchmal als ein Aggregationsproblem beschrieben, bei dem die aggregierten Rechte Wahlstimmen sind. Diese Art der Beschreibung ist auf zweierlei Weise inkorrekt. Erstens besteht die Verknüpfung von Rechten oder Ressourcen der Individualebene zu einem Ergebnis der Makroebene, wie bei jedem Übergang von der Mikro- zur Makroebene, nicht in einer bloßen Aggregation, sondern beinhaltet gewisse Interaktionen. Die Tatsache, dal) das Problem der institutionellen Planung lediglich als Aggregationsproblem betrachtet worden ist, war die Ursache für viele Mängel in Institutionen, die zum Fällen kollektiver Entscheidungen konstruiert worden sind. Zweitens ist diese Beschreibung des Problems inkorrekt, da sie davon ausgeht, daß die individuell behaupteten Rechte die Form von Wahlstimmen annehmen müssen, wie sie zur Zeit definiert sind. Diese Annahme verhindert aber die Suche nach einer Rechtsform, die erlauben würde, daß die Lösung des Mikro-Makro-Problems eher den vier oben genannten Kriterien gerecht wird. Wahlstimmen sind ein unvollkommenes und überholtes Mittel, um den Übergang von der Mikro- zur Makroebene zu vollziehen; sie sind nur in einigen Hinsichten besser als eine Lotterie, deren Gewinner die gemeinschaftliche Handlung bestimmt (und letztendlich in mancherlei Hinsicht auch schlechter als eine Lotterie). Weil es ein Problem institutioneller Planung ist, ist dieses Mikro-MakroProblem etwas anders geartet als die meisten anderen in diesem Werk dis-
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kutierten Probleme, bei denen es weniger auf optimale Planung ankommt als vielmehr auf ein angemessenes Modell für einen bereits existierenden Ü b e r gang von der Mikro- zur Makroebene. Die intellektuelle Aufgabe bleibt j e doch teilweise, sich autonome Prozesse angemessen vorzustellen, denn manche kollektiven Entscheidungen werden ohne eine explizite institutionelle Planung getroffen. Ihre Untersuchung wird bei der Entwicklung institutioneller Planung hilfreich sein. Überdies entstehen, selbst beim Vorhandensein von Institutionen, die nach ihrer verfassungsmäßigen Definition soziale Entscheidungen hervorrufen sollen, weitere Institutionen aufgrund der zielgerichteten Handlungen von Individuen im System. Politische Parteien werden beispielsweise von den meisten Verfassungen nicht verlangt oder spezifiziert (und mache Verfassungen erklären sie sogar für ungesetzlich), doch in vielen politischen Systemen entstehen sie spontan. Wenn man versteht, warum solche Institutionen ins Leben gerufen werden, erhält man auch einen gewissen Einblick in den übergeordneten Prozeß des Mikro-Makro-Überganges wie auch in die Schwächen bestehender institutioneller Strukturen beim Vollziehen des Übergangs. In diesem Kapitel werden die ersten beiden der drei oben aufgeführten Probleme der Körperschaft untersucht. (Das dritte Problem wird in Kapitel 31 kurz behandelt.) Nach der Untersuchung einiger natürlich entstehender Institutionen in Kontexten, denen formale Entscheidungsregeln fehlen, werde ich als erstes das Problem der Schaffung einer institutionellen Struktur untersuchen, die "gute" Ergebnisse zeitigt. Die relative Güte eines Ergebnisses richtet sich danach, inwiefern es den vier Kriterien der Konsistenz, der Veridikalität, des Handlungspotentials und der Nichtentzweibarkeit genügt. Ich werde mich anschließend dem ersten der aufgeführten Probleme zuwenden, wo danach gefragt wird, welche Form die individuell behaupteten Teilkontrollrechte annehmen sollten.
Intellektuelle Probleme der sozialen Entscheidung
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Seitdem die Revolutionen in Amerika und Frankreich Kontexte geschaffen haben, in denen formale kollektive Entscheidungen von Seiten des Volkes oder seinen Stellvertretern an die Stelle einiger Entscheidungen treten konnten, die von einzelnen Staatsoberhäuptern getroffen wurden, haben Fragen im Zusammenhang mit kollektiven Entscheidungen intellektuelle Probleme aufgeworfen, die für soziales Handeln von direkter Relevanz sind. Zwei der ersten Theoretiker kollektiver Entscheidungen, der Marquis de Condorcet und Jean Charles de Borda, wurden durch die Französische Revolution und die geistigen Umtriebe, die ihr voraufgingen, inspiriert. Viele der nachfolgenden A r b e i t e n zu kollektiven Entscheidungen haben sich der
Aufgabe
gewid-
Das Problem der sozialen Entscheidung
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met, auf die auch ihre Bemühungen gerichtet waren, auf die Aufgabe nämlich, eine Entscheidungsregel zu entwerfen, die unter allen Bedingungen den Willen des Volkes getreu wiedergibt. Frühere demokratische Entscheidungsverfahren, wie die im klassischen Griechenland oder im Britischen Parlament angewandten, inspirierten offensichtlich nicht zu einer solchen intellektuellen Aktivität. Es hat jedoch andere Kontexte gegeben, wie z.B. die amerikanische und Französische Revolution, die einen Impuls zur Auseinandersetzung mit diesen Problemen gegeben haben. Dies war z.B. auch in den Colleges der englischen Universitäten Oxford und Cambridge der Fall; dort hatten Lewis Carroll und andere aufgrund der Notwendigkeit, Rektoren zu wählen, die Frage aufgeworfen, wie man zu Entscheidungsregeln mit wünschenswerten Eigenschaften gelangen könne. 3 Black (1970) hat die frühe Geschichte dieser intellektuellen E n t wicklungen zusammengefaßt. Mehr als jedes andere Ereignis hat die Französische Revolution die Aufmerksamkeit von Intellektuellen auf die Frage gelenkt, wie sich der Wille des Volkes oder Rousseaus Gemeinwille über Wahlverfahren am besten offenbaren könnte. Hierbei sind zwei Teilprobleme zu berücksichtigen. Das eine ist ein Definitionsproblem: Was genau ist der "Gemeinwille"? Daran schließt sich das Problem an, wie der Gemeinwille, nachdem er definiert worden ist, mit Hilfe eines Verfahrens oder einer Regelmenge realisiert werden kann, welche ein bestimmtes Verhalten von Individuen herbeiführen und dieses Verhalten auf irgendeine Weise aggregieren. Die Vorstellung, die Richtung des kollektiven Handelns zu finden, die den Gemeinwillen oder den Willen des Volkes zum Ausdruck bringt, erinnert zumindest in einer Hinsicht an frühere Formen der sozialen Entscheidung, die vielleicht am besten durch das Verfahren des Gottesurteils verdeutlicht wird. Die theoretische Grundlage eines Gottesurteils bestand in der Vorstellung einer übernatürlichen Macht, die den Angeklagten vor den Naturgewalten retten würde, falls er unschuldig sei. In den frühen Ideen von Volkssouveränität und sicher auch in Rousseaus Schriften, die diese Ideen zum Teil begründeten, war die Vorstellung eines überindividuellen Willens, der nur entdeckt werden mußte, offensichtlich. Obwohl theoretische Arbeiten zur sozialen Entscheidung eine solche Vorstellung aufgegeben haben, sollte festgehalten werden, daß allein die Tatsache ihrer Verbreitung einen gewissen Wert Für die Entwicklung eines "guten" 3 Diese Wahlen haben immer wieder das Interesse am Fällen kollektiver Entscheidungen aufgezeigt. Von C. F. Snow stammt der Roman The Maslers (1951). der die fiktionale Wahl eines neuen Rektors an einem College in Cambridge zum Thema hat. In Kapitel 17 wird auf eine Episode aus diesem Roman Bezug genommen und dabei die Frage nach der Legitimität bestimmter Transaktionen bei kollektiven Entscheidungen gestellt.
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Entscheidungsverfahrens haben könnte. Sie könnte der getroffenen Entscheidung Legitimität verleihen, selbst wenn das angewendete Verfahren letztendlich Mängel aufweisen würde. Man könnte folgendermaßen argumentieren: Solange man davon ausging, daß Rechte göttlichen Ursprungs waren und von Gott auf den Monarchen übergingen, war die Legitimität der Handlungen des Monarchen - sowie der Handlungen, die unter der Vollmacht des Monarchen ausgeführt wurden - gewährleistet. Rechte konnten jederzeit auf Gott zurückgeführt werden, von dem sie ausgingen, und jegliche Handlung von Personen, die diese Rechte behaupteten, war legitim. Als die Lehre der Naturrechte und der Volkssouveränität im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert an Bedeutung gewann, wurde dieser Weg, über den gemeinschaftliche Handlungen ihre Legitimität erlangen konnten, versperrt. Dennoch erübrigte sich mit der Übertragung von Souveränität auf das Volk nicht die Notwendigkeit, eine letztendliche Legitimationsquelle für gemeinschaftliche Handlungen zu Finden. Dieser Notwendigkeit wurde mit der Vorstellung eines Gemeinwillens oder des Willen des Volkes entsprochen, der gewissermaßen schon vor und unabhängig von den Verfahren existierte, die zum Treffen sozialer E n t scheidungen herangezogen wurden. Ein jedes dieser Verfahren war lediglich ein Mittel, den Gemeinwillen zu entdecken. Es bleiben jedoch einige, nicht weniger schwerwiegende, Probleme bestehen. Das bedeutendste ist Condorcets Paradox, das besagt, daß konsistente individuelle Präferenzen mittels einer Mehrheitsregel zu inkonsistenten sozialen Entscheidungen führen können. Arrow (1951) bewies, daß keine Entscheidungsregel, nach der (laut seinen Axiomen) konsistente individuelle Präferenzen oder Stimmen aggregiert werden, stets in konsistenten sozialen Entscheidungen resultiert. 4 Bevor ich mich der Untersuchung dieses Paradoxons und einiger seiner Folgen zuwende, ist es sinnvoll, näher auf die Unterschiede zwischen Teilkontrollrechten über unteilbare Ereignisse und Besitzrechten über private, teilbare und veräußerliche Güter einzugehen. Zu diesem Zweck möchte ich den Ubergang von der Mikro- zur Makroebene in diesen zwei Fällen miteinander vergleichen. Bei Besitzrechten Uber private Güter ist der Markt ein zentrales Medium, um eine solche Transaktion auszufuhren. Das System b e ginnt mit individuellen Besitztümern und Präferenzen und endet mit einer Umverteilung von Besitztümern, die durch Preise bestimmt wird, die aus den
4 Das von Condorcet v o r g e s c h l a g e n e V e r f a h r e n z u m Erzielen einer kollektiven Entscheidung a n g e s i c h t s dieses Paradoxons behielt die Vorstellung einer "korrekten" Wahl bei. wobei individuelle Stimmabgaben lediglich als U r t e i l e von Individuen betrachtet w u r d e n , die möglicherweise f a l s c h sind. Condorcet schlug vor. die zyk l i s c h e Kette an ihrem s c h w ä c h s t e n Glied a u f z u b r e c h e n , wobei die kleinste Stimm e n z a h l als Irrtum gewertet w e r d e n sollte (Young und Levenglich 1978. Young 1987). In K a p i t e l
15 w i r d d i e s w e i t e r
diskutiert.
Das Problem der sozialen Entscheidung
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Transaktionen auf der Mikroebene entstehen. (Der Markt ist nicht das einzige Medium für eine solche Umverteilung; die Umverteilung mit Hilfe der Intervention einer zentralen Autorität mittels Kontingentierung oder Preiskontrolle ist eine weitere Alternative.) Der Vergleich sozialer Entscheidungen mit einem ökonomischen Markt ist aufschlußreich. Im Falle eines Marktes ist der Ausgangspunkt das Individuum, das Kontrolle (oder Kontrollrechte) über irgendeinen Anteil von j e dem einzelnen Gut aus einer Anzahl privater und teilbarer Güter besitzt. Der institutionelle Kontext ist ein Kontext, in dem Vereinbarungen durchgesetzt werden (oder sich, bei gleichzeitiger Lieferung, selbst durchsetzen) und die Rechte des Privateigentums berücksichtigt werden. Verbundene Institutionen, wie Banken, Tauschmittel, Kreditsysteme, Treuhandverträge usw. können sich entwickeln, doch diese neu entstehenden Institutionen sollten von den fundamentalen Regeln unterschieden werden, die zur Einleitung des Prozesses notwendig sind. In einem solchen Kontext kontrollieren Individuen nicht alles, was sie interessiert, doch da die Güter teilbar und veräußerlich sind und keine externen Effekte haben, können die Individuen ihre Ressourcen einsetzen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen - zumindest im Rahmen der Budgetbeschränkungen, die ihnen durch ihre ursprünglichen Ressourcen auferlegt werden. Dabei erzeugen sie das Systemergebnis, das der Güterverteilung entspricht, welches aus Tauschhandlungen resultiert. Dieses Ergebnis ergibt sich Stück für Stück in dem Maße, in dem Individuen Tauschhandlungen vornehmen, die sie der neuen Gleichgewichtsverteilung immer näher bringen. Bei sozialen Entscheidungen, die unteilbare Ereignisse betreffen, ist die Lage anders. Die ursprünglichen Ressourcen der Individuen besitzen normalerweise die Form von Rechten irgendwelcher Art, die Ergebnisse der Entscheidungen der Körperschaft beeinflussen zu dürfen. Stimmrechte sind wahrscheinlich die herkömmlichste Form dieser Rechte. Die Individuen sind jedoch nicht in der Lage, ihre Bedürfnisse im Hinblick auf diese Entscheidungen inkrementell zu befriedigen, wie sie es in Wirtschaftsmärkten tun können. Sie können die Kontrolle Uber eine Entscheidung, die sie interessiert, nicht kaufen, wie sie ein privates, teilbares Gut kaufen können - und dies nicht nur, weil das Kaufen von Stimmen illegal ist. Zwei Eigenschaften des Ergebnisses einer sozialen Entscheidung ergeben sich aus der Unteilbarkeit des Ereignisses. Die erste besteht darin, daß das Ergebnis des Ereignisses alles oder nichts lautet, so daß das Prinzip des sinkenden Grenznutzens nicht gilt. Die zweite besteht darin, daß die Konsequenzen aus dem Ereignis die Eigenschaften eines öffentlichen Gutes aufweisen. Wenn jemand die teilweise oder totale Kontrolle über das Ergebnis besitzt, zieht er daraus nicht mehr Gewinne als aus der Kontrolle, die ein anderer ausübt, der das gleiche Ergebnis favorisiert.
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Die Frage in bezug auf die Handlung des Individuums lautet dann, inwiefern diese beiden Unterschiede in den Ressourcen - wenn überhaupt - seine Motivation und somit seine Handlung beeinflussen. Das Fehlen des sinkenden Grenznutzens bedeutet, daß sein Anreiz, eine weitere Kontrolleinheit zu e r langen, nicht immer in dem Maße kleiner wird, wie es mehr Kontrolle erhält. Im Falle einer Mehrheitsentscheidungsregel steigt der Anreiz für das Individuum, weitere Stimmen zu kontrollieren, wahrscheinlich an, solange es sich dem Punkt nähert, an dem es die H ä l f t e der Stimmen kontrolliert, und wird Null, wenn dieser Punkt überschritten ist. 3 Ein Gedankenexperiment soll verdeutlichen, von welch grundlegender Bedeutung das Fehlen des sinkenden Grenznutzens für Stimmen als Ressourcen ist. Gehen wir von folgender Entscheidungsregel aus: Wenn ηχ Stimmen von η Stimmen für ein positives Ergebnis abgegeben werden und n - n t Stimmen für ein negatives Ergebnis abgegeben werden, dann bestimmt ein W a h r scheinlichkeitsmechanismus, ob das Ergebnis, mit der Wahrscheinlichkeit rij/n, positiv sein wird oder, mit der Wahrscheinlichkeit (n-nj/n, negativ. Wie stark wird angesichts einer solchen Entscheidungsregel der Anreiz für ein rationales Individuum, mehr Stimmen zu kontrollieren, durch die Anzahl der bereits von ihm kontrollierten Stimmen beeinflußt? Nicht im geringsten! Die Auswirkung jeder einzelnen Stimme auf das erwartete Ergebnis (und somit auf den erwarteten Nutzen des Individuums) ist die gleiche, ganz unabhängig von der Anzahl, die es bereits kontrolliert.
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Damit eine auf Wahlstimmen fundierte Entscheidungsregel den sinkenden Grenznutzen beinhalten könnte, müßte die Wahrscheinlichkeit eines Ergebnisses, das in Einklang mit der Präferenz des Individuums steht, nach und nach, jedoch zunehmend langsamer, ansteigen, während die Anzahl der von ihm kontrollierten Stimmen zunimmt. Eine solche Entscheidungsregel ist denkbar, findet sich aber in der gegenwärtigen Praxis nicht. Würde eine solche Entscheidungsregel angewendet, würde dies bedeuten, daß es irgendeinen Anreiz gäbe, die Kontrolle Uber weitere Stimmen, zusätzlich zur eigenen, zu erlangen (obwohl der Anreiz insgesamt gesehen nicht stärker wäre als bei bestehenden Entscheidungsregeln) und daß dieser Anreiz mit der Anzahl der kontrollierten Stimmen abnehmen würde, so daß irgendein Gleichgewicht möglich wäre. Wie ich in Kapitel 31 zeigen werde, ist eine solche Bedingung jedoch nicht vonnöten, damit ein Gleichgewicht entsteht. Die zweite problematische Eigenschaft eines Ereignisses, über das anhand einer kollekiven Entscheidung abgestimmt werden muß, besteht darin, daß die Auswirkungen des Ereignisses für ein Individuum ein und dieselben sein
S Ich sage "wahrscheinlich", weil sein Anreiz davon abhängt, wie es die H a n d l u n g e n der a n d e r e n einschätzt. In Coleman (1968b) wird der G r e n z n u t z e n e i n e r W a h l s t i m m e ausführlicher untersucht.
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können - gleichgültig, ob es das Ergebnis kontrolliert oder nicht. Die Auswirkungen sind nicht auf diejenigen beschränkt, die die Kontrolle über das Ergebnis besitzen und ausüben. Wenn andere, die dasselbe Ergebnis wie ich bevorzugen, das Ereignis kontrollieren, profitiere ich von diesem Ergebnis, gerade so, als hätte ich selbst die Kontrolle besessen und ausgeübt. Wenn andere, die ein anderes Ergebnis bevorzugen, das Ereignis kontrollieren, b e komme ich die Auswirkungen dieses Ergebnisses zu spüren. Die eigene Kontrolle über eine Stimme bringt nicht mehr Gewinne als die Kontrolle durch einen anderen, der die gleiche Wahl trifft. Die Anreizunterschiede, die durch diese zweite Eigenschaft hervorgerufen werden, können sehr groß sein; sie hängen von der Anzahl der Personen ab, die eine Teilkontrolle über die kollektive Entscheidung besitzen. Handelt es sich um eine große Anzahl, ist das Ergebnis (und somit die Auswirkung für das Individuum) nahezu unabhängig von der Stimmabgabe des Individuums. Ein weiteres Gedankenexperiment wird verdeutlichen, inwiefern sich eine kollektive Entscheidung in bezug auf ein Ereignis, das auf alle Beteiligten Auswirkungen hat, von der individuellen Kontrolle privater, teilbarer Güter unterscheidet. Nehmen wir an, es muß eine kollektive Entscheidung über ein Ereignis getroffen werden, das η mögliche Ergebnisse hat und sich unter der Kontrolle von η Individuen berindet. Ergebnis ι repräsentiert Individuum i, das ein Konsumgut erhält. Jedes Individuum besitzt lediglich das Interesse, das Gut zu erhalten, oder das Interesse, es nicht zu erhalten; das heißt, daß Individuum i nur ein Interesse am Ergebnis i gegenüber allen anderen E r gebnissen besitzt. Da die Entscheidungsregel jede beliebige plausible Regel sein kann, können wir von einer Mehrheitsregel ausgehen. Das Ereignis ist, wie zuvor, unteilbar, und führt somit zum Fehlen des sinkenden Grenznutzens und liefert keine Grundlage für das Erreichen eines Gleichgewichts mit Hilfe von Tauschhandlungen. Allerdings gehen wir nun nicht mehr von der zweiten Eigenschaft des Ereignisses aus, die es von einem privaten, teilbaren Gut unterschied. Nur wenn das Individuum das Ereignis kontrolliert, wird es das Ergebnis erfahren, an dem es interessiert ist. Das Trittbrettfahrerproblem ist also ausgeschaltet. Wenn Verträge in einem Tätonnement-Prozeß widerrufbar wären und wenn jedes Individuum andere Ressourcen zur Verfügung hätte, die es zum Erwerb von Stimmen einsetzen könnte, dann würden von einem der Individuen genügend Stimmen erworben, um die Kontrolle über das Ereignis zu e r langen. Dies wäre das Individuum, das sowohl so viele Ressourcen besäße, um die Stimmen anderer kaufen zu können, als auch ein großes Interesse an dem Gut, das aufgrund der kollektiven Entscheidung verteilt würde. Der Prozeß würde formal einer Auktion entsprechen, bei der das siegreiche G e bot unter allen anderen Bietern gleichmäßig aufgeteilt würde und das G e botsrecht verfassungsmäßig bestimmt wäre. (Die formale Untersuchung in
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Körperschaftshandeln
Teil V wird zeigen, daB das Individuum, das die Kontrolle über das Ereignis erlangt, dasjenige sein wird, welches, nach den in Kapitel 2 eingeführten Begriffen, das größte Produkt von Macht und Interesse aufzuweisen hat.) Wie kommt also, wenn wir von den soeben beschriebenen Unterschieden zwischen Besitzrechten an privaten Gütern und Teilkontrollrechten über ein unteilbares Ereignis ausgehen, eine soziale Entscheidung zustande, wenn keine formalen Entscheidungsverfahren angewandt werden?
Emergente Prozesse und Institutionen für soziale Entscheidung Es ist von Nutzen, das A u f t r e t e n sozialer Entscheidungen in verschiedenen Kontexten zu untersuchen, in denen formale Institutionen zur Entscheidungsfindung fehlen oder fast nie auftreten. Dazu gehört die Kleingruppe.
Natürliche
Entscheidungsprozesse
in
Kleingruppen
Entscheidungen in Kleingruppen werden beispielsweise in Kommunen gefällt. Kommunen sind geschlossene Handlungssysteme, die wenige Verbindungen zur Außenwelt haben. Im Hinblick auf formale Macht gibt es oft wenig U n terschiede zwischen den Mitgliedern. Es gibt vielleicht irgendeine Z u l a s sungsvoraussetzung, die zur Aufnahme in die Kommune e r f ü l l t sein muß, wie z.B. das Erreichen eines bestimmten A l t e r s oder eine kollektive Entscheidung der Mitglieder Uber die Aufnahme eines neuen Mitglieds. Viele Kommunen verfügen über keine formale Entscheidungsregel. Jede Entscheidung wird, nach einer ausfuhrlichen Diskussion, per Konsens getroffen, jedoch ohne ein formales Verfahren, mit dessen Hilfe P r ä f e r e n z e n beurteilt und dann aggregiert werden. Es gibt aber einen ausgedehnten Prozeß der Entscheidungsfindung, der mit anfänglichen Meinungsverschiedenheiten beginnt und schließlich zu einer Einigung gelangt. Ein solcher Entscheidungsfindungsprozeß ist nicht auf Kommunen b e schränkt, sondern ist für viele informelle Kleingruppen und Komitees charakteristisch. Der Prozeß ist jedem vertraut, der schon einem Komitee angehört hat oder Mitglied einer Kleingruppe war, die zu einer Entscheidung kommen mußte. Ich werde nur die wichtigsten Punkte nennen, ohne näher darauf einzugehen oder Beispiele zu geben. Erstens gibt es keine formale Entscheidungsregel. Zweitens besteht der allgemeine Wunsch der Mitglieder, einen Konsens zu finden, d.h. zu einer letztendlichen Entscheidung zu kommen, die die Zustimmung aller hat. Drittens besteht oft der Wunsch auf Seiten aller oder der meisten Mitglieder, eine Abstimmung zu vermeiden. Viertens beinhaltet der Prozeß nicht nur das D a r l e g e n der eigenen Position,
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sondern auch eine ausfuhrliche Diskussion. Die Mitglieder besitzen meistens unterschiedliches "Gewicht", und es kommt manchmal vor, daß sich eine Person mit großem Gewicht zu Beginn der Diskussion für eine Alternative einsetzt und daß daraufhin andere, die sich möglicherweise dagegen geäußert hätten, ihre Meinung nicht äußern. Wie läßt sich die Theorie dieses Buches auf eine kollektive Entscheidung dieser Art beziehen? Dazu müssen wir die in Kapitel 2 dargelegte Begriffsstruktur wieder aufgreifen. Dort (und, auf formalere Weise, in Kapitel 25) wird die Macht eines Akteurs in einem Handlungssystem als die Kontrolle des Akteurs über diejenigen Dinge definiert, an denen Akteure des Systems interessiert sind. Anhand einer einfachen und direkten Anwendung der Theorie kann das Ergebnis einer kollektiven Entscheidung in einem Kleingruppenkontext vorhergesagt werden: Wenn zwei Alternativen bestehen, ohne daß irgendwelche Modifikationen möglich sind, und wenn es im Interesse einiger Mitglieder liegt, das eine Ergebnis zu favorisieren, sowie im Interesse anderer Mitglieder, das andere Ergebnis zu favorisieren, wird dasjenige E r gebnis gewählt, das die größere Summe der gewichteten Mitgliederinteressen auf sich vereinigen kann. Wie bereits erklärt, entspricht das Gewicht eines Akteurs seiner Macht. Wie kommt ein solches Ergebnis laut der Theorie zustande? Die Frage stellt sich besonders nachdrücklich, wenn die Theorie zu der Voraussage führt, daß sich eine Minderheit durchsetzen wird, denn der Weg von einer Minderheit, die ein Ergebnis favorisiert, zu einer einstimmigen Favorisierung dieses Ergebnisses bedeutet einen extremen Wandel. Die einfachste Voraussage würde lauten, daß sich die Position, die zu Beginn von der Mehrheit vertreten wird, schließlich durchsetzen wird. Die Voraussage, daß sich eine Minderheitsposition durchsetzt, kann Zustandekommen, weil, oberflächlich gesagt, diejenigen in der Minderheit ein größeres Gewicht haben bzw. größere Macht oder ein größeres Interesse an dem Ergebnis oder beides. Um es, gemäß der in Teil V ausgearbeiteten formalen Theorie, präziser zu sagen: Die Voraussage ist möglich, weil die Minderheit stärkere gewichtete Interessen an dem Ergebnis hat als die Mehrheit. Die Prozesse, in denen eine Minderheitsposition schließlich einstimmige Unterstützung erfährt, sind, nach der Theorie, Prozesse, in denen Akteure sich an Tauschhandlungen beteiligen, Kredite einfordern oder Versprechen machen. Bei allen diesen Aktivitäten spielt das Interesse eines Akteurs eine Rolle, insofern als es bestimmt, wieviele seiner Ressourcen er einbringen soll, um die Entscheidung zu beeinflussen. Außerdem spielt die Macht eines Akteurs eine Rolle, denn seine Macht wird vom Umfang seiner Ressourcen bestimmt, wozu auch der Wert seiner Versprechen und die Menge an Kredit gehört, auf die er sich berufen kann. Seine Macht entspricht seiner Budgetbeschränkung in einem Tauschsystem für teilbare Güter.
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Die Theorie ermöglicht eine zweite und möglicherweise andere Voraussage; hierzu müssen wir wieder zur Begriffsstruktur aus Kapitel 2 zurückkehren, wo herausgestellt wurde, daß Ergebnisse von Ereignissen Auswirkungen auf andere Ereignisse haben können, an denen Akteure ein Interesse haben. Diese Auswirkungen, die Abhängigkeiten zwischen Ereignissen schaffen, können dazu führen, daß der Gehalt des betreffenden Ereignisses folgende Konsequenzen hat: Da die Mitglieder des Kollektivs wissen, daß das Ereignis nicht unabhängig von allen anderen Ereignissen ist, an denen sie interessiert sind, rücken möglicherweise zusätzliche Interessen in den Vordergrund, wenn die Auswirkungen der jeweiligen Ereignisse auf andere Ereignisse, an denen Mitglieder interessiert sind, in der Diskussion offenbar werden. Nach der Theorie besteht die Aufgabe der ausfuhrlichen Diskussion darin, die Abhängigkeit anderer Ereignisse von der zu treffenden Entscheidung deutlich zu machen. Wenn eine ausführliche Diskussion stattfindet, werden Interessen an anderen Ereignissen mit eingebracht. Das Ergebnis sieht möglicherweise anders aus, als es ohne die Diskussion aussehen würde. Obwohl die Gewichte der verschiedenen Mitglieder gleich bleiben, wird ein größerer Anteil an Interessen einiger oder aller Mitglieder ins Spiel gebracht, und somit können sich Unterschiede zwischen den gewichteten Interessen ergeben. Man kann vielleicht zu der Überzeugung gelangen, daß die Entscheidung eher auf der Grundlage des Gehalts des betreffenden Ereignisses gefällt worden ist als auf der Grundlage einer reinen MachtausUbung, doch die Macht behält ihre Relevanz. Der einzige Unterschied besteht darin, daß die Auswirkungen der Entscheidung auf verschiedene andere Ereignisse in den Entscheidungsfindungsprozeß eingehen.
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Somit sagt die Theorie dieses Werkes zwei mögliche Ergebnisse einer kollektiven Entscheidung in einer Kleingruppe voraus, die davon abhängen, ob die Auswirkungen der Entscheidung auf andere Interessen ausführlich diskutiert werden. Einstimmigkeit ist für Kaldors Kompensationsprinzip (siehe Kapitel 13 und 29) von Bedeutung. Wenn diejenigen, denen eine gemeinschaftliche Handlung einen Verlust einbringt, nicht von denjenigen entschädigt werden können, die einen Gewinn erzielen, so daß es keine absoluten Verlierer gibt, ist die Handlung möglicherweise nicht die, die vom Standpunkt der Körperschaft, wie sie verfassungsmäßig festgelegt worden ist (d.h. mit der spezifischen gemeinsamen Verteilung von Macht und Interessen, die unter ihren Mitgliedern zu finden ist) ergriffen werden sollte. Die Kompensation besteht hier im Einfordern von Verbindlichkeiten durch Mitglieder, die kraft des Kredites, den sie haben, innerhalb des Systems Macht besitzen. Mit anderen Worten kann man behaupten, daß die gemeinschaftliche Handlung auf jedes Mitglied des Kollektivs externe Effekte ausübt. Wenn die ( g e w i c h t e t e n ) p o s i t i v e n e x t e r n e n E f f e k t e d e r H a n d l u n g nicht g r ö ß e r sind a l s
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die (gewichteten) negativen externen Effekte, führt das Ergebnis der kollektiven Entscheidung zu einem Nettoverlust. Die nach Tauschhandlungen e r zielte Einstimmigkeit gewährleistet, daß es nicht zu einem Nettoverlust kommen wird. Ich sollte noch kurz auf die Handlungen eingehen, die Mitglieder von Kleingruppen in der ausführlichen Diskussion vollziehen, welche die Auswirkungen einer Entscheidung auf andere Ereignisse, an denen Mitglieder interessiert sind, offenlegt. Hierbei findet eine neue Handlung statt, die bisher noch nicht erwähnt worden ist. Von Akteuren werden entweder neue Ereignisse in das System eingeführt oder Abhängigkeitsbeziehungen aufgezeigt, die zwischen dem Ergebnis der betreffenden sozialen Entscheidung und anderen Ereignissen, mit denen das Kollektiv oder einzelne Mitglieder konfrontiert werden, bestehen. Indem sie die Aufmerksamkeit auf zuvor ignorierte Ereignisse oder zuvor ignorierte Abhängigkeiten anderer Ereignisse von diesem spezifischen lenken, verändern sie das Handlungssystem, in dem die soziale Entscheidung stattfindet. Wie sich später in diesem Kapitel noch zeigen wird, wenn Gemeinschaftskonflikte erörtert werden, tritt diese Art des Vorgehens in manchen Konfliktformen im Zusammenhang mit sozialen Entscheidungen außerordentlich häufig auf. Die beiden oben getroffenen Voraussagen weisen bestimmte unbefriedigende Aspekte auf. Beispielsweise ist in keiner davon die Rede, was geschehen würde, wenn es drei oder mehr Ergebnisalternativen gäbe. Doch genau diese Situation hat schon immer im Brennpunkt wissenschaftlicher Untersuchungen gestanden, angefangen von Condorcets Paradox in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts Uber Arrows Theorem aus den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts bis hin zu der Suche nach anreizkompatiblen Wahlstrukturen in der Gegenwart. Ich werde später auf diesen Aspekt zurückkommen. Ein zweiter unbefriedigender Aspekt besteht darin, daß offensichtlich beide Voraussagen etwas außer acht lassen, das, aufgrund empirischer Beobachtungen, ein wichtiges Element der Entscheidungsfindung in konjunkten Kollektiven zu sein scheint. Es handelt sich hierbei um die von Mitgliedern getroffene Unterscheidung zwischen Eigeninteressen (oder eigennützigen Interessen) und Gruppeninteressen. Die Mitglieder scheinen zu zögern, Eigeninteressen vorzubringen, und äußern manchmal ihre Mißbilligung, wenn ein anderes Mitglied dies tut. Es ist weit verbreitet, eine Unterscheidung zwischen dem, was für das Individuum gut ist, und dem, was für die Gruppe gut ist, zu t r e f fen, und dies geschieht nicht nur in Kleingruppen, sondern auch in großen Kollektiven und selbst (wenn auch weniger häufig) bei disjunkten Körperschaften wie z.B. Geschäftsunternehmen. Es hat den Anschein, daß in den Überlegungen, die kollektiven Entscheidungen vorausgehen, oft ein normativer Prozeß mitwirkt. Falls ich mich
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nicht irre, bewirkt diese Norm, daß Mitglieder davon abgehalten werden, Interessen zum Ausdruck zu bringen, die von anderen im Kollektiv nicht geteilt werden. Kann die Theorie die Emergenz einer solchen Norm erklären? Diese Frage ist eindeutig zu bejahen. Das Treffen einer kollektiven Entscheidung ist ein Kontext, in dem die Handlung jedes einzelnen Akteurs, sofern sie das Ergebnis beeinfluBt, externe Effekte auf jeden anderen individuellen Akteur ausübt und auch Konsequenzen für die Körperschaft hat. Unter solchen Umständen ist eine Norm, von der alle profitieren, eine konjunkte Norm, die besagt, daß niemand eine Position einnehmen solle, die nicht durch Gewinne für das Kollektiv oder alle seine Mitglieder gerechtfertigt werden kann. Eine solche Norm wird in Opposition zu Handlungen stehen, die die Gemeinschaft spalten, weil diese die Mitglieder auf zweierlei Weise schädigen können. Erstens verletzen sie die Interessen einiger Mitglieder des Kollektivs als Individuen, und zweitens verletzen sie das von allen geteilte Interesse an der Wahrung eines starken und effektiven Kollektivs. 384
Da eine solche Norm im Interesse aller Mitglieder des Kollektivs liegt, kann man davon ausgehen, daß sie sich entwickeln und eine gewisse Durchsetzungskraft haben wird. Dies führt zu einer Voraussage, die sich generell von den zwei früher genannten unterscheidet: Das Ergebnis einer kollektiven Entscheidung wird eher gemeinschaftliche Interessen befriedigen, oder Z i e le, auf die das Kollektiv ausgerichtet ist, als ein Ergebnis, das den beiden früher aufgestellten Voraussagen entsprechen würde. Ist es aber möglich zu sagen, ob ein Ergebnis in gewissem Sinne "besser" ist als die anderen? Diese Art von Frage stellen sich Moralphilosophen, und es ist nützlich, ihre Sichtweise anzunehmen. Dies wird zu Problemen führen, die mit den in Kapitel 3 behandelten eng verwandt sind.
Ethische Theorie: Wie man die richtige Handlung bestimmt Das Hauptanliegen der Moralphilosophen besteht in der Bestimmung dessen, was recht ist. Für einige Moralphilosophen ist dies hauptsächlich eine Frage, die eine Einzelperson betrifft. Sie fragen danach, wie ein Individuum, eine natürliche Person, wissen kann, welche Handlungsweise moralisch v e r t r e t bar ist. Kants kategorischer Imperativ ist die bekannteste Antwort auf diese Frage. Für andere Moralphilosophen, wie Rawls (1975 [1971]) oder Nozick (o. J. 119741), geht es um ein soziales Problem. Sie fragen danach, welche politische Maßnahme oder welches Gesetz moralisch, richtig oder gerecht ist. Diese Frage stellt sich nicht einer Person, sondern einer Körperschaft, die normalerweise aus einer Gesellschaft mit einem leitenden Agenten und einer Gesetzesmenge besteht. Es ist eine Frage, die an jene (oder von denj e n i g e n ) g e s t e l l t wird, die einen g e w i s s e n E i n f l u ß auf die M a ß n a h m e n
Körperschaft haben.
der
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Entscheidung
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Weist dieses zentrale Anliegen von Moralphilosophen irgendeine Gemeinsamkeit mit dem Begriff des Rechts auf, wie ich ihn erörtert habe, oder, allgemeiner gesagt, mit positiver Sozialtheorie? Ich glaube, daß dies der Fall ist - trotz des Unterschieds zwischen normativer Theorie und positiver Theorie. Tatsächlich hilft der hier geschaffene theoretische Rahmen, einige Argumente von Moralphilosophen zu bewerten, so daß es leichter wird zu bestimmen, was die richtige Handlung oder die richtige politische Maßnahme ist. Moralphilosophen wählen als Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen häufig ein bestimmtes Grundprinzip, das definiert, was recht ist oder wie man das Rechte herausfinden kann.6 Das langlebigste dieser Prinzipien ist möglicherweise die Menge der Variationen von Kants kategorischem Imperativ, der seinerseits eine Variante der Goldenen Regel darstellt: "Behandle andere so, wie du dir von anderen behandelt zu werden wünschst." Ein solches Prinzip legt nicht genau fest, was recht ist, sondern gibt ein Verfahren an, mit dessen Hilfe man zwischen einer richtigen und einer falschen Handlung unterscheiden kann. So ein Prinzip geht eine Stufe tiefer als ein Prinzip, das bestimmte Handlungen als richtig oder falsch einstuft (so wie die Festlegung, daß das Töten einer anderen Person immer falsch und die Hilfe einer anderen Person gegenüber immer richtig ist). Weil es zu einer Entscheidung über das Rechte oder das Falsche führt, die auf der Erwägung von Handlungen in bestimmten sozialen Kontexten basiert, ist ein derartiges Prinzip mit einer positiven Theorie sozialen Handelns potentiell vereinbar.
Effizienz
und Ethik
Viele Grundprinzipien der ethischen Theorie ähneln in gewisser Weise der Goldenen Regel. Ein solches Prinzip setzt eine Person (oder mehr als eine Person) voraus, die sich vorstellt, daß sie sich als Handlungsobjekt in der Lage einer oder mehrerer anderer Personen befindet, und die Handlung von dieser Perspektive aus bewertet. Dies wurde vielleicht am deutlichsten von Hobbes mit seinem Begriff des deutlichen Spruches zum Ausdruck gebracht (siehe Kapitel 13). Dieses Prinzip findet sich nicht nur in vielen normativen Theorien, wo es bestimmt, was ein Akteur tun sollte, sondern auch in vielen positiven sozialpsychologischen Theorien. Cooleys (1902) Spiegel-Selbst, Adam Smiths (1977 [1753]) Sympathiebegriff und ähnliche Vorstellungen anderer Sozialpsychologen bringen allesamt die Idee zum Ausdruck, daß viele Handlungen von Individuen durch eine voraufgehende Bewertung der betref6 Vergleiche Herzog (1985), der argumentiert, daft ein angemessenes System der Moralphilosophie nicht von einem solchen Prinzip ausgehen kann.
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fenden Handlung aus der Sichtweise anderer bestimmt werden. Rawls' (1975 [1971]) Metapher von Personen, die sich im Hinblick auf ihre zukünftigen Positionen hinter einem Schleier des Nichtwissens befinden, bedient sich dieses Prinzips, obwohl es sich hier schon einer eigennützigen Rationalität annähert. 7 (Rawls' Schleier des Nichtwissens macht es überflüssig, sich in die Lage eines anderen zu versetzen. Wegen des Schleiers des Nichtwissens ist es praktisch das gleiche, sich in Gedanken auf den Positionen zu sehen, die man in der Zukunft einnehmen könnte, oder sich vorzustellen, Positionen einzunehmen, die von anderen eingenommen werden.) Wenn sich jede einzelne Person korrekt in die Positionen anderer versetzen und eine Handlung oder eine politische Maßnahme aus diesen Perspektiven beurteilen würde, wären sich alle einig über die Auswirkung, die eine bestimmte Handlung oder Maßnahme auf eine Person in einer bestimmten Position haben würde. Nehmen wir der Einfachheit halber an, daß es im Hinblick auf eine bestimmte politische Maßnahme nur zwei relevante Positionen gibt, nämlich die Position einer Frau und die Position eines Mannes. Soll die Maßnahme direkt bewertet werden und haben alle Personen in der Bewertung eine gleichberechtigte Stimme, wird das Ergebnis davon abhängen, ob Männer oder Frauen sich in der Überzahl befinden. Wenn sich j e doch jeder Mann und jede Frau in die Position anderer Personen des Systems versetzt, wird jeder Mann und jede Frau die Gewinne (oder Kosten) für die Männer gegen die Kosten (oder Gewinne) für die Frauen abwägen. Das heißt, daß jeder nicht nur die Anzahl der Männer bzw. der Frauen, auf die sich die Maßnahme auswirken wird, in Betracht zieht, sondern auch die Intensität der Auswirkung. Jeder wird die Interessen der Profitierenden gegen die Interessen der Geschädigten abwägen, und alle werden zu der gleichen Gesamtauswertung kommen. Das Problem wird per Konsens gelöst, weil alle die Maßnahme auf die gleiche Art und Weise bewerten, denn sie haben die Interessen aller anderen Personen des Systems internalisiert. Eigeninteressen werden nicht ausschlaggebender sein als die Interessen jedes einzelnen anderen. Jeder wird im Namen der Gesamtheit sprechen.
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Dies ist das Ziel kollektiver Entscheidungsfindung in vielen Kleingruppen und festgefugten Gemeinschaften. Es spiegelt sich in der Konsens-Entscheidungsregel wider, die man in vielen Kommunen findet, und auch im Widerstreben der Mitglieder, in solchen Gruppen Abstimmungen durchzuführen. In einem solchen Entscheidungsfindungsprozeß ist es nicht so, daß die Interessen eines jeden Akteurs, die von einem anderen internalisiert worden sind, von diesem als gleich bewertet werden. Es ist die Bedeutung jedes einzelnen für das System als ganzes (was ich als Macht im System bezeichnet 7 Nozicks (o. J. [1974]) Moralphilosophie beinhaltet jedoch nicht diesen P r o z e t , sich in die Lage a n d e r e r z u
versetzen.
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habe), was den internalisierten Interessen einer anderen Person Gewicht verleiht. Die obige Beschreibung ist eine Idealisierung des Entscheidungsfindungsprozesses in kleinen, festgefügten Gruppen. Sie ist eine Idealisierung insofern, als die völlige Ausblendung von Eigeninteressen, von der oben die Rede war, selten oder niemals stattfindet. Sie ist auch deshalb eine Idealisierung, weil es selten der Fall ist, dafl jedes Mitglied eines Kollektivs die Interessen der anderen und die Bedeutung jedes einzelnen für das Funktionieren des Kollektivs genau einschätzen kann. Doch sie ist nicht nur eine Idealisierung des ablaufenden Prozesses. Sie ist eine Beschreibung des normativen Ideals, das jedes Mitglied der Gruppe in sich trägt und das besagt, wie Handlungen und Maßnahmen bewertet werden sollten. Nehmen wir an, dieses Ideal wird in einem bestimmten Fall realisiert. Ich behaupte, daß der Entscheidungsfindungsprozeß dann zu einem sozial effizienten Ergebnis führen wird, und zwar auf eine Weise, die genau dem von Coase (i960) geprägten Markt für externe Effekte entspricht, der dazu dienen soll, ein sozial effizientes Ergebnis zu erzielen. In Coase' Analyse werden Interessen für und wider ein bestimmtes Ergebnis nach den Ressourcen (Geld) gewichtet, die die Befürworter und Gegner für die Sicherstellung dieses Ergebnisses einzusetzen bereit sind. Die Bedeutung eines Akteurs, die das Gewicht ausmacht, die seinen Interessen beigemessen wird, entspricht seinem Vermögen. Dieses Gewichten seiner Interessen wird automatisch durch die Geldmenge bestimmt, die er aufzugeben bereit ist, damit das von ihm bevorzugte Ergebnis erzielt wird (natürlich abgesehen von Trittbrettfahrerproblemen). 8 Für die Effizienz, die über die interne Gleichgewichtsfindung, die beim Treffen einer Entscheidung zu einem Konsens führt, e r reicht wird, entspricht die Bedeutung eines Akteurs seiner Bedeutung für das Funktionieren des Systems, wie sie von jeder einzelnen der Personen, die die interne Gleichgewichtsfindung vornehmen, eingeschätzt wird. Dies habe ich in Kapitel 2 als Macht beschrieben, und in Kapitel 25 werde ich eine formale Definition dazu liefern. Was ist dann das ethisch oder moralisch richtige Ergebnis? Ich würde sagen, es ist dasjenige Ergebnis, das durch einen solchen Prozefl des inneren Abwägens von Interessen, den jeder einzelne Akteur durchführt, zustandekommt. Keiner handelt mehr in seinem eigenen Interesse, sondern jeder handelt im Interesse des Kollektivs, das als Körperschaft gesehen wird. Wenn man davon ausgeht, daß jeder Akteur die Interessen und die Bedeutung 8 In Kapitel 30 und 31 wird dies im f o r m a l e n Modell a n h a n d einer E i g e n s c h a f t der Cobb-Douglas-Nutzenfunktion z u m Ausdruck gebracht. Der Wert der Ressourcen, die ein Akteur e i n e m Ereignis o p f e r n wird, entspricht e i n e m Anteil seines Ges a m t v e r m ö g e n s (oder seiner Macht), wobei dieser Anteil sein Interesse an dem Ereignis widerspiegelt.
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jedes anderen Akteurs korrekt einschätzt, wird jeder dasselbe Ergebnis favorisieren - das sozial effiziente und moralisch richtige Ergebnis, das für das Kollektiv als Körperschaft optimal ist. Dies ist gleichzeitig das Ergebnis, zu dem die dritte Voraussage im vorangegangenen Abschnitt fuhrt. Laut dieser Voraussage entsteht eine konjunkte Norm, nach der jeder Akteur den anderen als Kollektiv das Recht überträgt, sein Handeln zu bestimmen (und damit seine Unterstützung eines spezifischen Ergebnisses der sozialen Entscheidung). Dennoch kommt es oft nicht zur Entwicklung von Normen, selbst wenn ein Bedürfnis nach ihnen vorhanden ist, solange nicht eine starke G e schlossenheit besteht; aus diesen sozialstrukturellen Gründen läßt sich ein solches Ideal am ehesten in Kleingruppen verwirklichen. Aus dieser Argumentation folgt unter anderem, daß das moralisch oder ethisch korrekte Ergebnis endogen, also von den Mitgliedern des Systems selbst, bestimmt wird. Wenn beispielsweise die Mitglieder der JonestownGemeinschaft in Guayana wußten, was sie taten, und den oben beschriebenen inneren Abwägungsprozeß vollzogen hatten, als sie Jim Jones' Aufforderung folgten, das vergiftete Kool-Aid zu trinken, war das Ergebnis moralisch korrekt. Es folgt aber auch, daß es andere Systeme geben kann, aus deren P e r spektive sich eine Handlung beobachten läßt, so daß sich externe Beobachtungspunkte ergeben, um die Moralität einer Handlung zu beurteilen. In diesen Systemen läuft der Prozeß genauso ab wie in dem System, in dem die Handlung stattfindet. So könnte zum Beispiel jede einzelne Person der amerikanischen Gesellschaft als Gesamtheit die Handlung in Jonestown auf die beschriebene Weise werten, und es könnte ein Konsens entstehen, der b e sagt, daß die Handlung nicht effizient, nicht sozial optimal und nicht korrekt ist. So würde die Handlung vom Standpunkt des externen Systems aus als moralisch falsch bewertet werden. Es ist wichtig festzuhalten, daß solche Beobachtungspunkte nur für ein bestimmtes soziales System charakteristisch sind. Es gibt außerhalb eines sozialen Systems nie einen absoluten Beobachtungspunkt, von dem aus eine moralische Beurteilung gefällt werden kann.
Exekutive Entscheidungsfindung Soziale Entscheidungen können durch bestimmte charakteristische Prozesse, die der exekutiven Entscheidungsfindung eigen sind, weiter erhellt werden. Ein Phänomen, das für viele exekutive Entscheidungsfindungsprozesse typisch ist, ist der starke Konsens über einen Handlungsverlauf. Oft geschieht etwas wie folgt: Ein Diktator (den ich als Befehlshaber bezeichnen werde) muß für die Körperschaft, deren Handlungen er steuert, Entscheidungen t r e f f e n . Die Alternativen, unter denen er wählen soll, müssen ihm von ir-
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gendwem präsentiert werden, und dies kann durch Mitarbeiter des Befehlshabers geschehen (welche ich als Höflinge bezeichnen werde). Vorausgesetzt, daß Höflinge nur durch ihr persönliches Fortkommen motiviert werden (analog zur Motivation einer politischen Partei, ihre Kandidaten zum Sieg zu rühren) und daß das Fortkommen davon abhängt, daß sie die Alternative anbieten oder unterstützen, die letztendlich von dem Befehlshaber gewählt wird, dann wird jeder Höfling versuchen, diejenige Alternative vorzustellen oder zu verteidigen, von der er glaubt, daß der Befehlshaber sie auswählt. Wenn also alle optimal informiert sind, werden sich alle dem einen Punkt, nämlich der Position nähern, die von dem Befehlshaber am stärksten favorisiert wird. Dies führt zu sogenannter Kriecherei, was zur Folge hat, daß der Befehlshaber von einer Schar Jasager umgeben ist - ein Phänomen, das in hierarchischen Organisationen oft zu beobachten ist. Ein Höfling, der für eine Alternative eintritt, die sich von der bevorzugten Position des Befehlshabers beträchtlich unterscheidet, während die anderen Höflinge die bevorzugte Alternative unterstützen, wird in die Isolation geraten. Der Befehlshaber wird feststellen, daß die anderen Höflinge übereinstimmend die von ihm u r sprünglich favorisierte Position befürworten. Er fühlt sich in seiner Meinung bestätigt und beurteilt die Höflinge, die sie bekräftigen, als weise, einsichtig und scharfsinnig. Natürlich hat er recht, was Weisheit, Scharfsinn und Einsicht der Höflinge betrifft; was ihm jedoch entgeht, ist, daß sie das Ziel verfolgen, die von ihm favorisierte Alternative zu unterstützen, und nicht, eine Alternative vorzustellen, die sich auf lange Sicht als die beste erweisen wird. Es lassen sich einige Parallelen zu der Kriecherei von Höflingen in Formen der sozialen Entscheidung entdecken, die nicht der exekutiven Entscheidungsfindung zuzuordnen sind. Bei der Entscheidungsfindung in Kleingruppen kann man jedes Mitglied als eine Kombination aus Befehlshaber (der Belohnungen für die anderen bereithält) und Höfling (der an Belohnungen von seiten der anderen interessiert ist) betrachten. Das Gruppenmitglied bevorzugt, mit anderen Worten, ein bestimmtes Ergebnis, das es objektiv gesehen als bestes erachtet, doch darüber hinaus ist es an Belohnungen durch die anderen Gruppenmitglieder interessiert (analog zum Interesse des Höflings an seinem Fortkommen). In diesem Falle legt die Symmetrie der Struktur nahe, daß, falls alle Positionen zunächst den gleichen Abstand voneinander haben und alle Mitglieder aufgrund der Gewinne, die sie füreinander bereithalten, die gleiche Macht besitzen, alle Gruppenmitglieder sich auf einen zentralen Punkt zubewegen, der dem letztendlichen Ergebnis der Entscheidung entspricht. In Wirklichkeit ist es unwahrscheinlich, daß das Gleichgewicht zwischen positionalen Interessen und Interessen an Belohnungen oder der Besitz solcher Belohnungen von Seiten der Gruppenmitglieder (d.h. Macht) oder der Ab-
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stand der Positionen voneinander eine solch reine Symmetrie aufweist. Wenn ein Gruppenmitglied an der von ihm bevorzugten Position stärker interessiert ist als andere, wird deren größeres relatives Interesse an Belohnungen wahrscheinlich zu seiner Position hinführen. Wenn ein Mitglied Belohnungen bereithält, die Tür andere von größerem Interesse sind, wird deren Interesse an diesen Belohnungen wahrscheinlich zu seiner Position hinführen. 9 All dies ist jedoch nur eine weitere Möglichkeit, die Funktionsweise gewichteter Interessen, wie sie oben beschrieben wurde, zu beschreiben.
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Die Entscheidungsfindung in Kleingruppen ist nicht die einzige Form sozialer Entscheidungen, in der eine Struktur existiert, die sich mit der eines Befehlshabers, der von Höflingen umgeben ist, vergleichen läßt. Politische Parteien in einem Zwei-Parteien-System kann man als Höflinge des Durchschnittswählers bezeichnen, wenn man dem von Downs (1968 [1957]) vorgegebenen allgemeinen Rahmen folgt. Downs, der sich auf frühere Arbeiten von Hotelling bezog, zeigte auf, daß in einem Zwei-Parteien-System beide Parteien Wahlprogramme oder Kandidaten präsentieren, die der vom Durchschnittswähler bezogenen Position entsprechen, falls nur eine relevante Dimension exisiert, falls die Parteien die Positionen der Bürger im Hinblick auf diese Position als gegeben voraussetzen und falls die Parteien kein anderes Ziel verfolgen, als an die Macht zu gelangen. Das Paradoxe dabei ist natürlich, daß die zwei Parteien, wenn sie rational handeln, den Wählern Alternativen anbieten würden, die deren Wahlmöglichkeiten auf ein Mindestmaß beschränken. Und obwohl man hoffen kann, daß das letztendliche E r gebnis einer kollektiven Entscheidung, in der zwei Parteien ihre Positionen nach rationalen Gesichtspunkten bestimmen und die Wähler eine rationale Wahl treffen, ein Ergebnis ist, das die geringste Distanz zwischen der Politik und den Positionen der Wähler aufweist, kommt dies nur in ganz besonderen Fällen vor. In diesem Sinne führt rationales Verhalten in einer solchen Struktur zu einem unplausiblen Ergebnis. 1 0 Insoweit als Downs' Arbeit 9 Jan is (1972) n e n n t v e r s c h i e d e n e Beispiele f ü r die E n t s c h e i d u n g s f i n d u n g in Gruppen. wo die Ergebnisse (ihm) nicht optimal e r s c h e i n e n . Er n e n n t die Prozesse, die zu diesen Ergebnissen f ü h r e n . "Gruppendenken". Es ist w a h r s c h e i n l i c h , daft m a n in bezug auf ein nicht optimales Ergebnis e i n e n Konsens e r r e i c h e n k a n n , weil die Macht im System ganz u n g l e i c h verteilt ist und so zu einem Ergebnis f ü h r t , das stark von der u r s p r ü n g l i c h e n Position des mächtigsten A k t e u r s abhängig ist. U n t e r a n d e r e m f ü h r t Janis die Invasion in der Schweinebucht als Beispiel an: Einer der Akteure w a r Präsident Kennedy und ein a n d e r e r sein Bruder Robert. Wenn der Präsident oder sein Bruder (dessen Macht e b e n f a l l s groß war) in s e i n e r u r s p r ü n g l i c h e n Position die Invasion b e f ü r w o r t e n würde, w ü r d e sich das Ergebnis stark dan a c h a u s r i c h t e n . Wie dieses Beispiel zeigt. Uberschneidet sich der Fall e i n e s Bef e h l s h a b e r s und seiner Höflinge mit diesem a l l g e m e i n e r e n Fall, w e n n einige der Höflinge u n a b h ä n g i g e Macht besitzen. 10 Andererseits werden die Parteien, obwohl sie nicht g e n e r e l l die Alternative gewählt haben werden, die in der Mitte der Wählervorlieben liegt, die Medianposition getroffen haben, indem
sie die E n t s c h e i d u n g e n
der
Wähler
antizipieren. Die
Bedin-
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das Verhalten von politischen Parteien in einem Zwei-Parteien-System korrekt beschreibt, kann man diese also als Höflinge betrachten, die dem Durchschnittswähler nach dem Munde reden. 11
Strukturierter
Dissens
Was den Fall des Befehlshabers und seiner Höflinge angeht, so ist es sinnvoll, nach möglichen Reaktionen auf Kriecherei zu suchen. Der rationale Befehlshaber, dem es nicht darum geht, einen bestimmten Höfling zu fördern, sondern der eine Alternative wählen möchte, die sich auf die Körperschaft günstig auswirkt, hat ein Interesse daran, Kriecherei zu verhindern. Eine Institution, die dabei hilfreich sein kann, möchte ich als strukturellen Dissens bezeichnen. 1 2 Es gibt verschiedene Ausprägungen davon, doch eine Variante funktioniert folgendermaßen. Es wird eine Diskussion zwischen Befehlshaber und Höflingen oder auch nur unter den Höflingen abgehalten, um mögliche Alternativen herauszufinden. In dieser Diskussion müssen die einzelnen Alternativen nicht verteidigt werden, so daß die Höflinge nicht miteinander wetteifern müssen, wer die bevorzugte Alternative unterstützen darf. Nachdem alle Alternativen vorgelegt worden sind, werden alle durchführbaren Alternativen willkürlich auf die einzelnen Höflinge verteilt, die dann die Aufgabe haben, die - günstigen und ungünstigen - Auswirkungen der jeweiligen Alternative herauszuarbeiten. (Bei einer weiteren Variante hat der Höfling die Aufgabe, die ihm zugewiesene Alternative vorzubringen und sie zu verteidigen.) Mit Hilfe der Institution des strukturierten Dissens wird das Interesse des Höflings an seinem Fortkommen davon abgelenkt, diejenige Alternative h e r gung, unter der dies nicht zutreffen wilrde. wäre, daft beide Parteien die Position des Durchschnittswählers falsch eingeschätzt haben. In diesem Falle wurden beide einen Kandidaten präsentieren, der neben dem Median liegt. 11 Es hat eine beträchtliche Menge von Arbeiten nach der von Downs gegeben, die seine Theorie so modifiziert haben, daft sie besser dem tatsächlichen Verhalten von Parteien entspricht. Ich zeige beispielsweise an anderer Stelle, daft, falls man eine Partei nicht mehr als einen monolithischen Akteur betrachtet, der mit einer Handlung die Chance seiner Machtergreifung maximieren will, sondern als eine ideologisch schiefe Untermenge der Wählerpopulation, deren Mitglieder alle die erwartete Befriedigung aus diesem Ergebnis maximieren wollen, und falls Unsicherheit darüber besteht, wo der Durchschnittswähler einzuordnen ist, das Ergebnis die Wahl der Kandidaten sein wird, die nicht der Position des Durchschnittswählers entsprechen, sondern die sich irgendwo zwischen diesem Punkt und dem Durchschnittswähler der Partei, die sie vertreten, befinden (Coleman 1971). 12 Diese Institution hat sich in der Präsidentschaft der Vereinigten Staaten während der Amtszeiten verschiedener Präsidenten und an anderen Stellen in der amerikanischen Regierung herausgebildet. In der NASA gibt es eine Variante, die sich ungebundene politische Rundschau (nonadvocacy policy review) nennt.
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Körperschaftshandeln
auszufinden und zu unterstützen, die der Befehlshaber akzeptieren wird, und auf die neue Aufgabe, zu zeigen, welche Auswirkungen eine ihm willkürlich zugewiesene Alternative hat, hingeleitet. Der Höfling ist nun in einer Situation, in der sein Fortkommen nicht mehr durch Kriecherei begünstigt wird; es wird vielmehr dadurch gefördert, daß er seinen Scharfsinn beim Aufzeigen der Konsequenzen seiner Alternative unter Beweis stellt.
Gemeindeinterne Entscheidungsfindung und Konflikte Eine Untersuchung der Prozesse, die gemeindeinterne Entscheidungsfindung ausmachen, welche außerhalb von institutionalisierten Kanälen stattfindet, kann den Mikro-Makro-Ubergang, der in einer sozialen Entscheidung endet, weiter erhellen. Ein Konflikt in einer Gemeinde entzündet sich typischerweise an einem bestimmten Ereignis, über das eine soziale Entscheidung getroffen werden muß. In Community Conflict (Coleman 1957) untersuche ich eine Reihe solcher Konflikte. Bei dem Ereignis handelte es sich in vielen Fällen um die Entscheidung, ob das Trinkwasser der Gemeinde fluorisiert werden sollte. In anderen Fällen ging es um schulinterne Ereignisse. Manchmal lag die formale Autorität, die soziale Entscheidung zu treffen, mittels Volksentscheid bei den Bürgern. Manchmal lag sie bei einer Abgeordnetenversammlung, dem Stadtrat oder einer Schulkommission. In noch anderen Fällen lag sie bei einem Bevollmächtigten, wie dem Bürgermeister oder dem Schulinspektor. Somit beginnt der Entscheidungsfindungsprozeß in solchen Situationen nicht mit einer Menge von Akteuren und Ereignissen, wie bei Anwendungen der Theorie in früheren Kapiteln angenommen worden war, sondern mit einem Ereignis. Die Akteure und Ereignisse, die für das Ergebnis des Ereignisses von Bedeutung sind, sind nicht von vornherein festgelegt. Das Ereignis, das in einer derartigen Situation im Mittelpunkt steht und über das in einer sozialen Entscheidung abgestimmt werden soll, werde ich als Konfliktereignis bezeichnen. Welche anderen Ereignisse und Akteure zusätzlich in den Prozeß eingehen, hängt möglicherweise von den strategischen Handlungen von Akteuren ab, die ursprünglich ein Interesse an dem Ergebnis des Konfliktereignisses haben. Zum Beispiel richtete sich um 1950 eine kleine Gruppe von Bürgern in Pasadena, Kalifornien, gegen einen Schulinspektor, die entweder ihn aus seinem Amt vertreiben oder die "progressiven" pädagogischen Praktiken ändern wollte, die er in das System eingeführt hatte (Hurlburd 1950). Diese beiden Ereignisse - sein Fortbestehen oder sein Rücktritt als Schulinspektor und die Fortführung oder Änderung seiner pädagogischen Praktiken - kann man sich a l s d i e E r e i g n i s s e v o r s t e l l e n , ü b e r d i e in e i n e r s o z i a l e n E n t s c h e i d u n g
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stimmt werden sollte. Der Schulinspektor besaß die Herrschaft über das letztere Ereignis, und die Schulkommission besaß die Herrschaft über das erstere Ereignis. Zu der kleinen Gruppe von Bürgern zählten keine Mitglieder der Schulkommission, und außerdem besaß sie nur einen sehr geringen Kontrollanteil über die Wahl der Schulkommission, da sie weniger als zehn Mitglieder umfaßte. Eine ihrer Handlungen bestand darin, eine Zusammenkunft "betroffener Eltern" einzuberufen (sie selbst hatten keine Kinder auf der Schule), um mit ihnen die Probleme zu besprechen, die die Kinder mit dem Lesenlernen hatten. Bei diesem Treffen, dem eine Anzahl von E l tern beiwohnten, machten die Mitglieder der Urhebergruppe keinen Versuch, Personen zu finden, die ihr Interesse an der Ablehnung des Schulinspektors und seiner progressiven Praktiken teilten. Stattdessen lenkten sie die A u f merksamkeit auf ein anderes Ereignis, an dem die Eltern interessiert waren, nämlich auf die Probleme ihrer Kinder beim Lesenlernen. Sie brachten zwei ihrer Meinung nach kausale Zusammenhänge zur Sprache: die Abhängigkeit der progressiven Praktiken von dem Schulinspektor, was nicht schwer zu beweisen war, und die Abhängigkeit der Leselernprobleme von diesen progressiven Praktiken, die weniger schlüssig war, doch die die betreffenden Eltern bereit waren zu akzeptieren. Somit führten sie Uber die Zusammenkunft eine neue Menge von Akteuren (betroffene Eltern) und ein neues Ereignis (die Leseleistungen von Kindern) in das Handlungssystem ein. Dies vollbrachten sie mit Hilfe von zwei neuen logischen Verknüpfungen, nämlich einer empfundenen Abhängigkeit des neuen Ereignisses, an dem diese neuen Akteure interessiert waren, von den zwei Konfliktereignissen, an denen sie selber ein Interesse hatten. In diesem Beispiel, das eine Klasse von Handlungen illustriert, die in gemeindeinternen Konflikten ergriffen werden, brachte eine Menge von Akteuren, die keine Kontrolle über zwei Konfliktereignisse besaßen, in das Handlungssystem ein neues Ereignis und neue Akteure ein, indem sie in diesen Akteuren ein indirektes Interesse an den Konfliktereignissen wachriefen. Dies ist nicht die einzige Möglichkeit, neue Akteure und Ereignisse in die Entscheidungsfindung von Gemeinden einzuführen, doch es scheint sich um eine von zwei generellen Möglichkeiten zu handeln. Die zweite Möglichkeit, wie interessierte Parteien die Menge von Akteuren und Ereignissen typischerweise erweitern, geht von derselben strukturellen Asymmetrie aus. Ein Akteur oder eine Menge von Akteuren besitzt die Kontrolle über ein Ereignis, und ein anderer Akteur oder eine andere Menge von Akteuren besitzt diese Kontrolle nicht, ist aber daran interessiert, daß eine umgekehrte Handlungsrichtung zu derjenigen eingeschlagen wird, die der kontrollausübende Akteur verfolgt. Von diesem Punkt an unterscheiden sich jedoch die Handlungen der interessierten Parteien. Sie finden andere Akteure, die ihnen gegenüber auf irgendeine Weise verpflichtet
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sind oder über die sie eine gewisse Macht ausüben, und welche wiederum eine gewisse Macht Uber den Akteur oder die Akteure ausüben, die das Konfliktereignis kontrollieren. Ich möchte ein Beispiel nennen, das zwar keinen typischen gemeindeinternen Konflikt umfaßt, aber dennoch eine nicht institutionalisierte soziale Entscheidung ist. Der eine Akteur in diesem Beispiel war die polnische Regierung, die das Konfliktereignis - das Ausstellen eines Fasses für eine polnische Bürgerin - kontrollierte. Der Akteur, der am Ausstellen des Passes interessiert war, war der Ehemann der polnischen Bürgerin, ein Amerikaner. Er brachte einen weiteren Akteur in den Konflikt ein, der ein Ratgeber des amerikanischen Präsidenten war und Kontrolle über einige Dinge ausübte, die Tür die polnische Regierung von Interesse war. So wurde der neue Akteur eingeführt, und zwar nicht, indem Ereignisse, an denen er interessiert war, mit dem Konfliktereignis verknüpft wurden, sondern indem die interessierte Partei ihre verallgemeinerte Kontrolle über den neuen Akteur (die auf unspezifierten Krediten oder Verpflichtungen basierte) ins Spiel brachte, um ihn dazu zu bewegen, seine Kontrolle über Ereignisse, an denen die polnische Regierung interessiert war, geltend zu machen. In diesem Fall war die Ereignismenge, die die interessierte Partei kontrollierte, sehr diffus und bezog sich entweder auf vergangene Handlungen, die ihr ein gewisses Guthaben bei dem neuen Akteur verschafft hatten, oder auf zukünftige Ereignisse, die sie kontrollieren würde und die Tür den neuen Akteur von Interesse sein könnten. Die Ereignismenge, die der neue Akteur kontrollierte und an der die polnische Regierung interessiert war, war ähnlich diffus. In gewissem Sinne kann man daher von institutionalisierten Beziehungen sprechen, von denen die eine zwischen zwei Körperschaften (der amerikanischen und der polnischen Regierung) und die andere zwischen zwei Personen bestand. Das Handlungssystem als Ganzes dagegen ist nicht institutionalisiert. Der Ehemann, der über das Ereignis, an dem er interessiert war, keine Kontrolle ausübte, besaß keine institutionalisierte Beziehung zur polnischen Regierung. Es gab keine fest umrissene Menge von Ereignissen und Akteuren mit einer Menge möglicher Tauschhandlungen, so daß zwischen den Akteuren ein erkennbares und anerkanntes Machtgefälle bestand. Und schließlich hing das Ergebnis des Konfliktereignisses offensichtlich davon ab, welche anderen Akteure und Ereignisse in das Handlungssystem eingebracht werden würden. Bei der Erklärung von Verhalten, wie es in den beiden oben genannten Beispielen zu beobachten ist, kann man weiterhin von einer Theorie zielgerichteten Handelns ausgehen, die auf einem Maximierungsprinzip basiert. Die von jedem einzelnen Akteur erreichte Maximierung wird jedoch eine Maximierung innerhalb einer spezifischen Menge von Beschränkungen sein, die aufgrund seines eigenen Strategierepertoires und anderer intellektueller Attribute entstehen. Dies kann anhand der beiden angeführten Beispiele
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deutlicht werden. Im ersten Beispiel hat die kleine Gruppe, die den Schulinspektor loswerden wollte, vielleicht folgenden Handlungsplan verfolgt. Zuerst haben die Mitglieder sich Möglichkeiten ausgedacht, wie Akteuren, die ihr Interesse teilten, eine Teilkontrolle über die Konfliktereignisse übertragen werden könnte, wobei sie sowohl die Strategie entwarfen, eine Abhängigkeit der bestehenden Interessen anderer Akteure an den Konfliktereignissen zu schaffen, als auch die Strategie, Akteure zu finden, über die sie eine gewisse Kontrolle ausübten und die ihrerseits Kontrolle über die Konfliktereignisse erlangen könnten. Dann einigten sie sich auf die erste dieser beiden generellen Handlungsklassen, welche den höchstmöglichen Ertrag aus ihrer Investition an Zeit, Mühe und anderen Ressourcen zu versprechen schien. Nachdem sie diese Maximierung durchgeführt hatten, ergriffen sie eine Handlung aus der ersten Handlungsklasse (das Schaffen einer Abhängigkeit der bestehenden Interessen anderer Akteure an den Konfliktereignissen), indem sie diejenigen Akteure und Ereignisse auswählten, die den Ertrag aus der Investition von Ressourcen zu maximieren schienen. Obwohl dieser Handlungsplan eine vernünftige Strategie zu sein scheint, gibt es vielleicht noch eine bessere. Möglicherweise hätte eine einstufige Maximierung zu einer anderen Handlungsrichtung geführt, die einen größeren Ertrag erbracht hätte. Oder vielleicht hätte sich eine bessere Strategie grundlegend von den beiden oben beschriebenen unterschieden und hätte eine völlig andere Klasse von Handlungen umfaßt. Von daher handelte die Gruppe in Pasadena sozusagen mit beschränkter Rationalität, die ganz allgemein für Akteure charakteristisch ist. Vielleicht versuchen Akteure, rational zu sein, doch bei diesem Versuch erweisen sie sich als mehr oder weniger raffiniert. In dem Maße, wie die Komplexität der ihnen gestellten Aufgabe zunimmt, weichen ihre Handlungen möglicherweise immer mehr von der objektiv wirksamsten Handlung ab. Zum Teil rührt dieses menschliche Versagen von der Notwendigkeit her, aus dem Gedächtnis die möglichen Akteure und Ereignisse hochzuholen, die mit dem Konfliktereignis in Verbindung gebracht werden können, und zu überlegen, auf welche Weise man sie miteinander verknüpfen könnte. Da nicht alle Personen ein gleich gutes Gedächtnis haben und diese Dinge nicht gleich gut einschätzen können, wird die Effizienz, mit der sie ihre Ziele verfolgen, unterschiedlich ausgeprägt sein, auch wenn man von Unterschieden in den allgemeinen Strategien, die sie in Erwägung ziehen, absieht. Dies läßt sich mit einem Beispiel verdeutlichen, das dem Konflikt in Pasadena ähnelt, bei dem es um den Schulinspektor ging. Dieser Konflikt e r folgte ungefähr zur gleichen Zeit in Scarsdale, New York, und hatte einen ähnlichen Anlaß (Shaplen 1950). Es hatte sich eine kleine Bürgergruppe ("Das Zehnerkomitee") gegründet, die sich dagegen wehrte, daß ein Buch von Howard Fast, einem amerikanischen Autor, der sich zum Kommunismus
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bekannte, in die Schulbibliothek, aufgenommen wurde. Das Komitee wollte dieses Buch und andere Bücher verbannen, doch der Schulbibliothekar, der die Kontrolle darüber besaß, lehnte ihre Forderung ab. Daraufhin versuchten sie, die Kontrolle über das Konfliktereignis zu erlangen, indem sie vom Schulinspektor die Entlassung des Bibliothekars forderten. Auch dieser lehnte ab. Als nächstes versuchten sie, die Haltung anderer Personen dem Konfliktereignis (also der Aufnahme des Buches in die Schulbibliothek) gegenüber zu verändern, indem sie Passagen des Buches bei Zusammenkünften vorlasen. Mit dieser Strategie gelang es ihnen jedoch nur, wenige zu bekehren, weil sie fälschlicherweise davon ausgingen, daß viele andere Personen der Gemeinde ihr Interesse daran teilten, Werke von Kommunisten aus der Schulbibliothek zu verbannen. Wenn sie so vorgegangen wären wie die Gruppe in Pasadena und ein Ereignis gefunden hätten, an dem viele andere Personen aus der Gemeinde bereits ein starkes Interesse hatten, und dann versucht hätten, zwischen diesem Ereignis und dem Konfliktereignis (oder auch mit dem Schulinspektor, der die Person kontrollierte, die die Kontrolle Uber das Konfliktereignis besaß) eine Verbindung herzustellen, hätten sie vielleicht mehr Erfolg gehabt. Die Strategie, die sie anwandten, war nicht von Erfolg gekrönt. In Konflikten bei Gemeindeentscheidungen ist es im allgemeinen so, daß die Einführung neuer Themen ein zentraler Bestandteil der Strategie ist, die die Kerngruppe der Akteure, die an einem bestimmten Ergebnis am stärksten interessiert sind, anwendet. Im Hinblick auf den Begriffsrahmen dieses Werkes ist das Einführen neuer Themen gleichbedeutend mit der H e r s t e l lung einer Abhängigkeit bestimmter Ereignisse von anderen Ereignissen. Normalerweise sind die neuen Ereignisse, wie bei dem Konflikt in Pasadena, Ereignisse, an denen einige Personen interessiert sind, die aber bisher noch nicht in einen Kausalzusammenhang mit dem Ereignis gebracht worden sind, Uber das eine soziale Entscheidung getroffen werden soll. Das zentrale neue Thema in dem Beispiel aus Pasadena waren die schlechten Leseleistungen der Kinder, das eingeführt wurde, indem den Eltern die Abhängigkeit der Leseleistungen von der progressiven Erziehung bewußt gemacht wurde. Welche Themen strategisch eingeführt werden, wird offensichtlich davon abhängen, wer die formale Autorität über das Ergebnis des Konfliktereignisses innehat. Wenn sie bei einer Menge von Bürgern in ihrer Eigenschaft als Wähler liegt, dann werden die neu eingeführten Themen (die in das System eingebracht werden) im Normalfall zahlreicher sein, als wenn sie bei einer Körperschaft wie einem Stadtrat oder einem einzelnen Beauftragten liegt. Dies hängt mit der größeren Bandbreite von Ereignissen zusammen, an denen Wähler interessiert sind. Manchmal, wie bei dem Beispiel aus Pasadena, wird die formale Autorität von einer Art Hierarchie ausgeübt: Der Schulinspektor b e s a ß Autorität über den Lehrplan, die S c h u l k o m m i s s i o n b e -
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saß A u t o r i t ä t über das V e r w e i l e n des Schulinspektors im A m t , und die B ü r ger b e s a ß e n Autorität über die Zusammensetzung der Schulkommission. Die in diesem Abschnitt beschriebenen Strategien sind in den Teilen b, c und d von Abbildung 14.1 d a r g e s t e l l t . E t ist das Konfliktereignis, über das eine soziale Entscheidung g e f ä l l t werden soll, A t ist der A k t e u r (oder die A k t e u r e ) , der die f o r m a l e Autorität über dieses Ereignis b e s i t z t , und A 2 und A 3 sind A k t e u r e , die an dem Ergebnis des Ereignisses ein I n t e r e s s e haben. Die in Teil b d a r g e s t e l l t e S t r a t e g i e besteht in der Einführung neuer Themen
(a) Anfangsstadium
A,
(b) Einführung der Abhängigkeit von E , von E.
(c) Einführung der Abhängigkeit von E 2 von E } durch eine strategische Variante
(d) Einführung von Akteuren, über die man einige Kontrolle hat Abb. 14.1 Strategien zur Erlangung von Kontrolle über ein Konfliktereignis (E. )
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in eine gemeindeinterne Entscheidung, zu der Bürger als Wähler die formale Autorität besitzen. A 2 führt die Abhängigkeitsverbindung zwischen E t und dem neuen Thema E 2 ein. Dabei verfolgt A 2 das Ziel, in A t ein abgeleitetes Interesse an E t wachzurufen, bzw. A j dazu zu bewegen, dasselbe Ergebnis, nämlich E t , zu favorisieren, das auch A 2 bevorzugt. Teil c zeigt die von der Kleingruppe in Pasadena verfolgte Strategie und ist eine Variante der Strategie aus Teil b. Hier ist A 1 der Schulinspektor, und A 3 steht fur BürgerWähler. Die durch A 2 hergestellte Verbindung zwischen dem Lehrplan ( E j und den Leseleistungen (E 2 ) soll das Interesse von A 3 in die soziale E n t scheidung einbringen, da A 3 (indirekt, über die Schulkommission) das V e r bleiben von A j im Amt kontrolliert. Die Strategie in Teil d entspricht dem Beispiel mit dem polnischen Paß und weist grundlegende Unterschiede zu den ersteren auf. A 2 bringt A 3 mit ein, bei dem A 2 einen sozialen Kredit (E 2 ) hat. A 3 ist ein Akteur, der etwas kontrolliert, das Tür den autoritativen Akteur A j von Interesse ist.
394 Merkmale der nicht institutionalisierten sozialen Entscheidung Aus der in diesem Kapitel durchgeführten Untersuchung von Prozessen in sozialen Entscheidungen, die über formale institutionelle Strukturen hinausgehen oder außerhalb von ihnen liegen, lassen sich verschiedene allgemeine Merkmale des Ubergangs von der Mikro- zur Makroebene ableiten.
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1. Normalerweise findet das Einfordern eines entweder direkt oder indirekt besessenen Kredits (d.h. der Gebrauch von Macht) von Akteuren statt, die Kontrollrechte oder Teilkontrollrechte über die soziale Entscheidung besitzen. Dieser Prozeß wird offenbar bei der Entscheidungsfindung in Kleingruppen, der Entscheidungsfindung in Gemeinden und in Fällen wie dem Beispiel mit dem polnischen Paß. 2. Die Relevanz der potentiellen Macht von Akteuren zeigt sich, selbst wenn von der Macht kein Gebrauch gemacht wird, in der Unterstützung, die bestimmten Alternativen gewährt wird, sowie in der Einführung von A l t e r nativen. Dies verdeutlicht das kriecherische Verhalten, das Höflinge gegenüber Befehlshabern oder schwache Mitglieder von Kleingruppen gegenüber mächtigen Mitgliedern an den Tag legen. Die Kriecherei politischer Parteien gegenüber dem Durchschnittswähler ist ein ähnliches Phänomen, wobei die Parteien allerdings nur auf die in der Wahlstimme verkörperte Macht abzielen und nicht auf eine Macht, die außerhalb der Verfassung liegt. Wie der gerade erwähnte Prozeß basiert dieser auf keiner der vier Kriterien für d i e G ü t e e i n e s E r g e b n i s s e s , d i e i c h f r ü h e r in d i e s e m K a p i t e l g e n a n n t
habe.
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Er leitet sich von Eigeninteressen der Mitglieder ab und nicht von körperschaftseigenen Interessen. 3. Es besteht ein normativer Druck auf einen Konsens hin, gegen die Unterstützung von Ergebnissen, die sich im Hinblick auf das kollektive Wohl nicht rechtfertigen lassen und gegen die Durchführung einer Abstimmung über die Entscheidung. Dies zeigt sich deutlich bei der Entscheidungsfindung in Kleingruppen und rührt anscheinend von zwei der erwähnten vier Kriterien her, die besagen, daß das Ergebnis ein großes Handlungspotential aufweist und nichtspaltend ist. Dieser Druck scheint jedoch in größeren Kollektiven und weniger festgefugten Kollektiven (wie einem Wohnbezirk im Vergleich zu einer Kommune) viel schwächer zu sein. Die Tatsache, daß der Druck auf einen Konsens hin abnimmt, wenn sich die Individuen weniger mit der Gruppe identifizieren, scheint daher zu rühren, daß jedes Individuum eher als Agent seines eigenen Selbst als Objekt und weniger als Agent der Körperschaft als Objekt handelt (siehe Kapitel 19, wo Komplexitäten im Selbst erörtert werden). 4. Oft besteht eine Institution, die Informationen über Auswirkungen der alternativen Ergebnisse beschaffen soll und welche von den persönlichen Interessen der Akteure, die diese Informationen liefern, unabhängig ist. Die gebräuchlichste Institution dieser Art ist das offene Diskutieren der Auswirkungen von Ergebnissen. Wenn die Machtverteilung jedoch eine starke Schiefe aufweist, besteht für die weniger mächtigen ein Anreiz, in einer unstrukturierten Diskussion kriecherisches Verhalten an den Tag zu legen. Der Rückgriff auf eine Institution, um diesem Anreiz entgegenzuwirken, mag im Interesse eines mächtigen Befehlshabers liegen (wenn auch nicht im Interesse mächtiger Gruppenmitglieder, solange niemand genügend Macht besitzt, um eine bestimmte Entscheidung herbeizuführen), was sich dann darin äußern kann, daß der Befehlshaber irgendeine Form des strukturierten Dissens einführt. Die Motivation hierzu scheint sich von dem zweiten Kriterium für die Güte eines Ergebnisses, also dem Kriterium der Veridikalität, herzuleiten. 5. In der Phase, die einer Entscheidung voraufgeht, wird die Aufmerksamkeit auf die Abhängigkeit anderer Ereignisse von dem Ergebnis der kollektiven Entscheidung gelenkt. Dabei werden die indirekten Auswirkungen von Ergebnissen sichtbar gemacht. Dies ist in der ausfuhrlichen Diskussion bei der Entscheidungsfindung in einer Kleingruppe zu beobachten wie auch bei der Einführung neuer Themen in einem gemeindeinternen Entscheidungsfindungsprozeß und bei exekutiver Entscheidungsfindung, in der die Institution des strukturierten Dissens wirksam wird. Es scheint, daß sich mit Hilfe dieses Prozesses das Kriterium der Veridikalität leichter einhalten läßt.
Das Lenken der Aufmerksamkeit auf die Abhängigkeit anderer Ereignisse von dem Ereignis, über das anhand einer sozialen Entscheidung entschieden
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Körper
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werden soll, weist offensichtlich Parallelen zur Tagesordnung (agenda) auf, einem Arbeitsgebiet, das sich für die formale Theorie der sozialen Entscheidung als äußerst relevant erwiesen hat. Eine Ursache für die Bedeutung einer Tagesordnung liegt in der Interdependenz verschiedener Ereignisse, über die ein bestimmtes Kollektiv zu entscheiden hat. 1 3 Wegen dieser Interdependenz kann die Kontrolle der Tagesordnung zum wichtigsten Element beim Beschließen von Ergebnissen werden.
13 W e n n e i n S t i m m e n l a u s c h s t a t t f i n d e t , ergibt s i c h e i n e z w e i t e M ö g l i c h k e i t der Int e r d e p e n d e n z von E r e i g n i s s e n zur Tagesordnung: W e n n die A k t e u r e /' und j V e r s p r e c h e n darüber a u s g e t a u s c h t h a b e n , w i e s i e in z w e i E r e i g n i s s e n a b s t i m m e n w e r d e n , und das E r e i g n i s , fUr das / s e i n e S t i m m e v e r s p r o c h e n hat, z u e r s t a u f der T a g e s o r d n u n g steht, m ufi er sein V e r s p r e c h e n als e r s t e r e i n l ö s e n .
Kapitel IS
Von individueller Entscheidung zu sozialer Entscheidung In Kapitel 14 wurde untersucht, wie kollektive Entscheidungen gefällt w e r den, ohne daß formale Institutionen zur Übersetzung individueller Präferenzen in eine soziale Entscheidung vorhanden sind. In diesem Kapitel werden einige Aspekte formaler Regeln untersucht, mit deren Hilfe Körperschaften Entscheidungen treffen, die auf den Präferenzbekundungen ihrer Mitglieder basieren. Diese formalen Regeln sind Mechanismen, anhand derer sich der Übergang von der Mikroebene der individuellen Handlung (z.B. Wählen) zur Makroebene der sozialen Entscheidung vollzieht. Die einfachsten Mechanismen dieser Art sind Regeln über verschiedene Formen der Stimmabgabe, darüber, wie Stimmen ausgezählt werden, und über das Kriterium zur Bestimmung des siegreichen Kandidaten. Die in diesem Kapitel untersuchten Probleme reihen sich in diejenigen ein, mit denen sich die zahlreichen Arbeiten zur sozialen Entscheidung auseinandersetzen. Ich werde mich darauf konzentrieren, wie Kollektive es zuwege bringen (oder scheitern), eine möglichst hohe Konsistenz der sozialen E n t scheidung zu erreichen (dies entspricht dem ersten der vier Kriterien Tür die Güte eines Ergebnisses aus Kapitel 14), wenn unter den Mitgliedern des Kollektivs, die alle berechtigt sind, das Ergebnis zu beeinflussen, Unstimmigkeiten herrschen. Das Problem, eine Konsistenz zu erreichen, kann als intellektuelles Problem, das Paradox von Condorcet, formuliert werden, das Theoretiker der sozialen Entscheidung seit langem beschäftigt. Ich werde das Paradox an einem Beispiel verdeutlichen: Wenn sich in einer Wahl mehr als zwei Kandidaten zur Verfügung stellen, die Wahl als eine Abfolge von Zweikämpfen (pairwise contests) abgewickelt wird und jeder Verlierer ausscheidet, wird das Ergebnis, bei bestimmten Präferenzverteilungen zwischen den Wählern, von der Reihenfolge der Zweikämpfe abhängen. Das einfachste Beispiel hierfür ist eine Wahl mit drei Wählern, Tom, John und Steve, und drei Kandidatinnen, Barbara, Carol und Denise; es wird eine Mehrheitsregel angewandt. Nehmen wir an, die Präferenzen von Tom, John und Steve sehen folgendermaßen aus:
1. Platz 2. Platz 3. Platz
Tom Barbara Carol Denise
John Carol Denise Barbara
Steve Denise Barbara Carol
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Dann würde in einer Abfolge von Zweikämpfen zur Bestimmung der Siegerin Barbara Carol mit Toms und Steves Stimmen schlagen und Denise Barbara mit Johns und Steves Stimmen. Dies scheint aber falsch zu sein, denn Carol würde Denise mit Toms und Johns Stimmen schlagen. Hätte die Abfolge mit einem anderen Zweikampf begonnen, hätte das Ergebnis anders gelautet. Arrow (1951 ) hat bewiesen, daß es keine Entscheidungsregel gibt, die Condorcets Paradox immer umgeht, wenn die Wähler ihre Präferenzordnungen bekunden (oder ihre Stimme gemäß ihrer Präferenzordnung abgeben). Gibbard (1973) und Satterthwaite (1975) erweiterten dieses Resümee dahingehend, daß sie zeigten, daß keine Entscheidungsregel strategiegesichert ist.
Das Problem der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen Zu Arrows Axiomen, die eine konsistente (oder rationale) soziale Entscheidung definieren, zählt jedoch eines, das umstritten ist - die Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen. Dieses Axiom besagt, daß die kollektive Entscheidung zwischen zwei Alternativen nicht von Präferenzänderungen im Hinblick auf andere Alternativen beeinflußt werden sollte, solange die Präferenzen der Individuen im Hinblick auf die zwei Alternativen gleichbleiben. Aufgrund dieses Axioms werden bestimmte Entscheidungsregeln unzulässig, die ansonsten plausibel erscheinen. Beispielsweise schließt es Aggregationsverfahren aus, die es Mitgliedern des Kollektivs erlauben, die relative Intensität ihrer Präferenzen zum Ausdruck zu bringen. Diese Verfahren werden ausgeschlossen, weil die Intensität von Präferenzen immer in Relation zu den erwogenen Alternativen steht, und wenn sich die Stellung einer Alternative in einer Präferenzordnung ändert, wird sich auch die P r ä f e r e n z intensität für andere Alternativen - je nach Mitglied unterschiedlich - ändern. 1 Wird gegen das Axiom der Unabhängigkeit von irrelevanten Alterna-
1 Da k a r d i n a l e Nutzen eine Intensität a u s d r u c k e n , k ö n n t e m a n n a i v e r w e i s e d e n k e n , daA eine Entscheidungsregel möglich wäre, die Nutzen der Mitglieder fUr jede Alternative zu addieren, wobei die Alternative mit der höchsten P u n k t z a h l den Sieg davonträgt. Es hätte den Anschein, als w u r d e n Intensitäten in die B e r e c h n u n g einbezogen, ohne daA das Unabhängigkeitsaxiom verletzt wird. Doch bei diesem Verf a h r e n w ü r d e nicht berücksichtigt. daA bei Entscheidungen z w i s c h e n e i n e r bestimmten Menge an Alternativen nicht der absolute Nutzen e i n e r Alternative f ü r die Intensität der P r ä f e r e n z von Bedeutung ist, sondern ihr Nutzen als das Ergebnis, das zu den Ergebnissen a n d e r e r Alternativen a u s der M e n g e in Relation steht. Die von e i n e m Mitglied e m p f u n d e n e P r ä f e r e n z i n t e n s i t ä t e i n e r Alternative g e g e n über einer a n d e r e n wird vielleicht unbedeutend, w e n n e i n e dritte Alternative sich plötzlich scharf von diesen beiden abhebt, oder wird s t ä r k e r , w e n n sich der Nutzen der dritten Alternative sich nicht m e h r bedeutend von dem der a n d e r e n beiden unterscheidet. Arrow (1951. S. 32-33) v e r d e u t l i c h t dies an e i n e m Beispiel mit von Neumann-Morgenstern-Nutzen.
Von individueller
Entscheidung
zu sozialer Entscheidung
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tiven verstoßen, erreichen kollektive Handlungen vielleicht nicht mehr das Maß an Konsistenz, das man normalerweise von als rational bezeichneten individuellen Handlungen erwartet. Dies bedeutet, daß man die Körperschaft nicht als rationalen Akteur ansehen kann, der die gleichen Handlungsprinzipien verfolgt wie ein rationales Individuum, wenn nicht eine von zwei Bedingungen erfüllt ist: Die Körperschaft fügt sich dem Willen eines einzelnen Individuums (eines Diktators), oder der Zusammensetzung der Körperschaft sind Grenzen gesetzt, so daß die Interessen aller Mitglieder eine gewisse Kohärenz aufweisen. 2 Am häufigsten ist die Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen anhand der Hinzufiigung oder Streichung einer Alternative verdeutlicht worden. Dies ist formal gesehen nicht äquivalent zu einem Positionswechsel einer Alternative, die bereits in die Menge aufgenommen worden ist, weil die Menge der Alternativen sich verändert. Dennoch ergeben sich die gleichen Unregelmäßigkeiten, und die Beispiele in diesem Kapitel beinhalten das Hinzufügen oder Tilgen einer irrelevanten Alternative. Befolgen die Handlungen von Individuen das Axiom der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen? Wenn sich die offensichtliche Irrationalität oder Inkohärenz, die sich auf der Körperschaftsebene zeigt, auch auf der Individualebene finden läßt, liegt der Fehler vielleicht nicht bei den Verfahren sozialer Entscheidungen, sondern beim Axiom selbst.
Unabhängigkeit von irrelevanten
Alternativen
in individuellen
Entscheidungen
Ein Aufsatz von Tversky (1972) ist ein guter Ausgangspunkt für die Untersuchung der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen bei individuellen Entscheidungen. Tversky legt eine eindrucksvolle Belegsammlung vor, die beweist, daß Entscheidungen, die von Personen unter Gewißheit getroffen werden, gegen das Prinzip der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen verstoßen. Er sagt: ... Daten zeigen, daß das Prinzip der Unabhängigkeit von irrelevanten A l ternativen auf eine Weise verletzt wird, die nicht ohne weiteres mit der Anordnung von Entscheidungsalternativen erklärt werden kann. Genauer gesagt hat es den Anschein, daß die Hinzufügung einer Alternative zu einer dargebotenen Menge eher denjenigen Alternativen "schadet", die der 2 Diese K o h ä r e n z l ä t t sich im Hinblick auf P r ä f e r e n z e n als eine eingipflige P r ä f e r e n z o r d n u n g beschreiben.. Die B e s c h r ä n k u n g , die zuerst von Black (1958) eingef ü h r t wurde, ist von z a h l r e i c h e n Autoren u n t e r s u c h t worden. K r a m e r (1972) zeigt. daB diese B e s c h r ä n k u n g bis h i n z u m trivialen Fall vollständiger Einstimmigkeit v e r s c h ä r f t werden kann, w e n n m e h r als eine Entscheidungsdimension existiert.
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Körperschaftshandeln
hinzukommenden Alternative ähnlich sind, als denen, die sich von ihr unterscheiden. (S. 283)
Schon ein einfaches Gedankenexperiment kann zeigen, daß Theorien der probabilistischen Entscheidung, die aus Rationalitätsaxiomen folgen, gegen common sense-Uberlegungen verstoßen. Im Zusammenhang mit einer Kritik an Luces probabilistischer Theorie des Wahlverhaltens führt Tver sky ein Beispiel an (das ursprünglich von Debreu, 1960, genannt wurde): "Nehmen wir an, daß Sie zwischen den folgenden drei Musikaufnahmen wählen können: einer Suite von Debussy ... und zwei verschiedenen Aufnahmen ein und derselben Beethoven-Sinfonie ... Nehmen wir an, daß die beiden Beethoven-Aufnahmen von gleich guter Qualität sind und Sie unschlüssig sind, ob Sie Ihre Schallplattensammlung um eine Debussy- oder eine BeethovenAufnahme erweitern möchten" (S. 282). Aus Luces Theorie und der Unschlüssigkeit des Wählers hinsichtlich der Frage, ob er zwischen den beiden Beethoven-Aufnahmen bzw. zwischen einer dieser beiden und der DebussyAufnahme wählen soll, ergibt sich eine Wahrscheinlichkeit von etwa 1/3 für die Wahl der Debussy-Aufnahme. Doch, wie Tversky fortfährt, ist dieser Schluß "intuitiv nicht akzeptabel, da der grundlegende Konflikt zwischen Debussy und Beethoven von der Hinzufugung einer weiteren Beethoven-Aufnahme wahrscheinlich nicht berührt wird" (S. 283). Tversky stellt darauf eine Wahltheorie vor, die er Aussonderung nach Aspekten nennt, mit der das beobachtete Verhalten erklärt werden soll. Die allgemeine Idee hinter der Theorie legt er folgendermaßen dar:
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Nehmen wir an, daß jede einzelne Alternative aus einer Menge von Aspekten oder Merkmalen besteht und daß in jedem Schritt des Prozesses ein Aspekt (aus den in den bereitgestellten Alternativen enthaltenen) ausgewählt wird, und zwar mit einer Wahrscheinlichkeit, die seinem Gewicht entspricht. Mit der Auswahl eines Aspektes werden alle Alternativen ausgesondert, die diesen Aspekt nicht aufweisen, und der Prozeß dauert an, bis eine einzige Alternative Ubrigbleibt. Ist ein Aspekt allen bereitstehenden Alternativen eigen, wird keine Alternative ausgesondert und ein neuer Aspekt ausgewählt. Folglich beeinflussen Aspekte, die allen zur Wahl stehenden Alternativen eigen sind, nicht die Wahrscheinlichkeiten der E n t scheidung. (S. 284-285)
Wie Tversky zeigt, scheint diese oder eine ähnliche Regel bei individuellen E n t s c h e i d u n g e n a n g e w a n d t zu w e r d e n . D o c h E n t s c h e i d u n g e n , die in
Überein-
Von individueller Entscheidung zu sozialer Entscheidung
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Stimmung mit dieser Regel getroffen werden, verstoßen gegen das Axiom der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen. Somit unterscheidet eine Befolgung des Axioms nicht zwischen individuellen und sozialen Entscheidungen. Wenn Individuen eine Wahl treffen, indem sie als Kriterium nacheinander verschiedene Aspekte der Alternativen anwenden, wie Tversky behauptet, und wenn keiner der Aspekte die Wahl allein bestimmt (d.h. wenn kein Aspekt dominierend ist), dann verletzen die Entscheidungen der Individuen ebenfalls das Axiom. Dies legt nahe, daß, selbst wenn ein Verfahren für soziale Entscheidungen vorstellbar wäre, durch das das Axiom der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen nicht verletzt wird, Personen dies nicht als plausibel ansehen würden - genauso, wie sie auch die Voraussage aus Luces Theorie in bezug auf die Entscheidung zwischen Debussy- und Beethoven-Aufnahmen nicht als plausibel bezeichnen würden. Es scheint jedoch, daß Individuen bessere Algorithmen für das Treffen von Entscheidungen mit mehreren Alternativen entworfen haben als Kollektive. Im Beispiel mit den Debussy- und Beethoven-Aufnahmen verringert die Hinzufügung einer zweiten, ähnlichen, Beethoven-Aufnahme nicht die Wahrscheinlichkeit, daß Debussy gewählt wird, und auch nicht die Wahrscheinlichkeit, daß irgendeine der beiden Beethoven-Aufnahmen gewählt wird, obwohl die Wahl einer bestimmten Beethoven-Auf nähme unwahrscheinlicher wird. Das folgende Beispiel zeigt, daß die Existenz mehrfacher Alternativen weitreichendere Auswirkungen auf soziale Entscheidungen haben kann.
Soziale Entscheidung
zwischen drei Kandidaten: Ein Beispiel
1983 gab es bei der Bürgermeistervorwahl der Demokraten in Chicago drei Kandidaten - Jane Byrne, Ritchie Daley und Harold Washington. Byrne und Daley waren Weiße, Washington war ein Schwarzer. Die Wahl war größtenteils rassenkonform. Daley bewarb sich als letzter. Meinungsumfragen, die Byrne und Washington einander gegenüberstellten, ergaben einen Sieg für Byrne, was die Tatsache widerspiegelte, daß die schwarzen Wähler zwar eine große Minderheit, aber eben doch eine Minderheit darstellten. 3 Bei der Vorwahl selbst, in der der Sieger über die relative Stimmenmehrheit ermittelt wurde, trug jedoch Washington den Sieg davon. Abbildung 1S.1 stellt die Beziehungen der Makroebene sowie die Übergänge von der Makro- zur Mikroebene und umgekehrt als Diagramm dar.
3 In den Ergebnissen dieser Meinungsumfragen schlug sich auch die Tatsache nieder, daA Byrne gerade Amtsträgerin war. 1987, als Washington das Bürgermeisteramt innehatte, schlug er Byrne bei einer Vorwahl der Demokraten, an der nur zwei Kandidaten beteiligt waren.
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Byrne-Washington Wahl
Byrne gewinnt • ·
Präferenzordnung
Byme-DaleyWashington Wahl
Washington gewinnt
Abb. 15.1 Mikro-Makro-Diagramme für Wahlduichgänge mit zwei und drei Kandidaten bei der Bürgermeistervorwahl in Chicago
Der Übergang von der Makro- zur Mikroebene ist in diesem Falle einfach zu vollziehen. Die bei der Wahl (d.h. auf der Makroebene) verfügbaren A l ternativen bestimmen, welche Alternativen in der gesamten Präferenzordnung für die Handlungen der Individuen (d.h. für die Wahl) relevant sind. Der Übergang von der Mikro- zur Makroebene unterscheidet sich hier von Fällen, die bereits in früheren Kapiteln behandelt wurden. Er beinhaltet keine Interaktionen zwischen Akteuren (wie in einem Markt) oder die Schaffung einer Norm oder andere Mikro-Makro-Prozesse, die in sozialen Systemen auftreten, um ein neues Phänomen der Makroebene zu erzeugen. Er besteht vielmehr in einer simplen Aggregation von Wählerstimmen für jeden der Kandidaten, aus der ein Wahlergebnis resultiert, wobei das Wahlverfahren und das Verfahren zur Bestimmung des Siegers (in diesem Falle relative Stimmenmehrheit) durch institutionelle Regeln festgelegt worden sind. Betrachtet man nur die Beziehungen auf der Makroebene, erscheinen die Ergebnisse paradox. Das Hinzukommen eines dritten Kandidaten kehrte die R a n g f o l g e d e r b e i d e n a n d e r e n K a n d i d a t e n u m und v e r ä n d e r t e d e n A u s g a n g
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der Wahl. Was (außer für Wahlforscher) auf der Makroebene paradox e r scheinen mag, läßt sich klären, wenn man sich auf die Mikroebene hinabbewegt. Es würde zu den beobachteten Ergebnissen kommen, wenn in der P r ä f e renzordnung einer großen Anzahl von Wählern (doch bei weniger als einem Drittel) Daley den ersten, Byrne den zweiten und Washington den dritten Platz belegen würde und nur eine kleine Anzahl Daley an die erste Stelle, Washington an die zweite und Byrne an die dritte Stelle setzten. Solange Daley nicht kandidierte, hätten die meisten Wähler der größeren Gruppe ihre Stimme Byrne gegeben. Als Daley hinzukam, gingen diese Stimmen auf D a ley über. Solange weniger Wähler Daley auf den ersten, Washington auf den zweiten und Byrne auf den dritten Platz gesetzt hätten, hätte Daleys Hinzukommen Byrne mehr Stimmen gekostet als Washington. (Ein Wahlforscher würde es so ausdrücken, daß Daley die weiße Wählerschaft gespalten hat, was zur Wahl von Washington führte.) Aus diesem Beispiel ist unmittelbar einsichtig, daß eine Mehrheitsregel nicht die Eigenschaft der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen aufweist. Doch die Auswirkung, die diese Verletzung auf eine soziale Entscheidung hat, unterscheidet sich von der analogen Verletzung auf der Individualebene. In beiden Fällen wirkte sich die Hinzufügung einer neuen Alternative so aus, wie Tver sky (l972) es beschreibt: "... die Hinzufügung einer A l t e r native zu einer dargebotenen Menge "schadet" eher denjenigen Alternativen, die der hinzukommenden Alternative ähnlich sind, als denen, die sich von ihr unterscheiden" (S. 283). Doch die Konsequenz für die individuelle Entscheidung scheint plausibel zu sein: Obwohl die Existenz einer neuen Alternative die Wahrscheinlichkeit herabsetzt, daß das Individuum die ähnliche Alternative wählt, erhöht sie nicht die Wahrscheinlichkeit, daß sich·das Individuum für die Alternative entscheidet, die sich von den anderen beiden abhebt (wie z.B. die Debussy-Aufnahme). Diese Wahrscheinlichkeit bleibt bestenfalls konstant. Das Sinken der Wahrscheinlichkeit, daß die ähnliche Alternative gewählt wird, wirkt sich auf die andere ähnliche Alternative günstig aus und nicht auf die Alternative, die sich von diesen beiden unterscheidet. In dem Beispiel einer sozialen Entscheidung wurde jedoch die andersartige Alternative, die Wahl Washingtons, begünstigt.
Politische Parteien und
Turnieraussonderung
Wenn es sich bei der Wahl von Chicago um eine allgemeine Wahl und nicht um eine Vorwahl gehandelt hätte, wäre das beobachtete Paar von Ergebnissen mit geringerer Wahrscheinlichkeit eingetroffen, weil sich der Wahlkampf möglicherweise schließlich auf die Kandidaten der beiden großen Parteien begrenzt hätte, und es hätte kein Dreierrennen gegeben (obwohl Dreierrennen
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bei allgemeinen Wahlen in den Vereinigten Staaten manchmal vorkommen). Allgemein gesehen wird durch die beiden großen politischen Parteien der Prozeß um eine Stufe erweitert, die das Finale auf ein Zweierrennen reduziert. Durch die Parteien wandelt sich, was verfassungsmäßig als einstufige Entscheidung definiert ist, zu einer zweistufigen Entscheidung. In bezug auf individuelle Entscheidungen behauptet Tversky, daß Individuen mittels eines Aussonderungsprozesses eine einstufige Entscheidung in eine mehrstufige Entscheidung umwandeln. Somit wäre denkbar, daß politische Parteien einen Wandel auf eine Struktur der sozialen Entscheidung hin bewirken, die der Struktur ähnelt, welche Individuen intern für ihre individuelle Entscheidung entwickelt haben.
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Doch diese Parallele läßt sich nicht aufrechterhalten. Tverskys Theorie besagt, daß Individuen zuerst einen wichtigen Aspekt oder eine Dimension auswählen (im Beispiel mit den Debussy- und Beethoven-Aufnahmen "Komponist"), dann eine Wahl hinsichtlich dieses Aspekts (Debussy oder Beethoven) treffen und sich daraufhin nacheinander weniger wichtigen Aspekten zuwenden. Im Parteiensystem geschieht das Gegenteil. Die Unterscheidung zwischen den Parteien stellt normalerweise die dominierende Dimension dar, die die Wähler spaltet, und die Wahl zwischen Kandidaten der Parteien ist die letzte Stufe in diesem Prozeß. Ein zweiter Unterschied besteht natürlich darin, daß die Parteien den Auswahlprozeß nur in zwei Stufen unterteilen, wohingegen Individuen, laut Tverskys Theorie, so viele Stufen durchlaufen, wie für die Eingrenzung der Wahl notwendig sind. Dieser zweite Unterschied scheint jedoch kein grundlegender zu sein, denn es gibt oft Fraktionen in einer Partei, die die Differenzierung in einer Dimension ermöglichen, die eine Stufe unterhalb der Parteiendimension liegt, und in manchen Fällen gibt es noch Splittergruppen innerhalb der Fraktionen, die die Differenzierung in einer weiteren, noch engeren Dimension erlauben.
Turniere als Institutionen sozialer Entscheidungen Der wichtigste Unterschied zwischen der Strukturierung sozialer Entscheidungen, die mittels politischer Parteien vonstatten geht, und der Strukturierung individueller Entscheidungen nach Tverskys Theorie betrifft die Richtung der Aussonderung: Bei Wahlen als sozialen Entscheidungen findet die Aussonderung hinsichtlich immer wichtigerer Dimensionen innerhalb jeder Fraktion und dann innerhalb jeder einzelnen Partei statt. Nach Tverskys Theorie findet die Aussonderung, was Individuen betrifft, hinsichtlich immer unwichtigerer Dimensionen, ausgehend von der wichtigsten, statt. Dies hat zwei verschiedene Strukturen zur Folge. Die Struktur der sozialen Entscheidungen entspricht, sofern sie auf mehrere Stufen ausgedehnt wird, einer Tur-
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nieraussonderung, wogegen Tverskys Theorie eine Struktur für individuelle Entscheidungen entwirft, die der Turnieraussonderung entgegengesetzt ist. Nehmen wir z.B. an, daß es acht Alternativen gibt (A, B, C, D, E, F, G und H) und daß benachbarte Alternativen sich am meisten ähneln. Eine Struktur der Turnieraussonderung, die den Prozeß der Wahl nach Fraktionen innerhalb von Parteien und Splittergruppen innerhalb von Fraktionen umfaßt, läßt sich wie in Abbildung 15.2 als Diagramm darstellen. Der Prozeß sozialer Entscheidungen mittels politischer Parteien läuft von links nach rechts ab. Zuerst finden vier Wahlkämpfe zwischen Kandidaten aus Splittergruppen innerhalb einer Fraktion statt, dann zwei Wahlkämpfe zwischen Kandidaten aus Fraktionen innerhalb einer Partei und schließlich das Finale zwischen den Parteikandidaten. Die Aussonderung nach Aspekten läuft von rechts nach links ab. Das Individuum wählt zuerst die obere oder untere Hälfte, dann einen Zweig dieser H ä l f t e und schließlich eine der beiden verbleibenden Alternativen. Zu diesen zwei Verfahren gibt es mehrere Dinge zu sagen. Erstens findet bei der Turnieraussonderung auf jeder Stufe eine Auswahl zwischen konkreten Alternativen statt, während die Aussonderung nach Aspekten eine Auswahl ist, die auf einer abstrakten Dimension zwischen Klassen von Alternativen basiert (so lange, bis nur noch zwei übrigbleiben). Aus diesem Grunde
Spaltung der Splittergruppen
A Β
Spaltung der Fraktionen C Spaltung der Splittergruppen
— — D
Spaltung der Parteien Spaltung der Splittergruppen
— — — E F
Spaltung der Fraktionen G Spaltung der Splittergruppen H Abb. 15.2 Tumi erähnliche Struktur einer Wahl in einem Zwei-Paiteien-System mit Firaktionen in jeder Partei und Splittergruppen in jeder Fraktion
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ist Turnieraussonderung zweitens ineffizienter. Sieben Wahlkämpfe zwischen Alternativpaaren sind notwendig, um den Sieger der Turnieraussonderung aus Abbildung IS.2 zu ermitteln, doch nur drei Auswahldurchgänge sind bei der Aussonderung nach Aspekten erforderlich, um eine Wahl zwischen acht Alternativen zu t r e f f e n . Bei einer Aussonderung nach Aspekten kann es j e doch vorkommen, daß ein Individuum seine Wahl bereut. Nehmen wir b e i spielsweise hinsichtlich einer Wahl zwischen drei Musikaufnahmen an, daß zwei Dimensionen oder Aspekte zusammengenommen relevanter sind als "Komponist", doch eine allein weniger relevant ist. Bei der einen Beethoven-Aufnahme handelt es sich um eine Compact Disk (welche das Individuum vorzieht), die digital aufgenommen wurde (was es ebenso vorzieht). Falls "Komponist" der dominierende Aspekt ist und das Individuum Debussy bevorzugt, wird es bei einer Aussonderung nach Aspekten Debussy wählen. Aber vielleicht hätte es die digitale Compact Disk mit der Beethoven-Aufnahme der analogen Debussy-Aufnahme vorgezogen. Ich vermute nun, daß nicht nur soziale Entscheidungen gemäß der Turnieraussonderung oder ähnlich verfahren; bei individuellen Entscheidungen kommt dies ebenfalls vor, wenn die Anzahl der Alternativen nicht groß ist. 4 Wenn ein Individuum eine Wahl nach Aspekten trifft, wird eine Alternative, die das Individuum bevorzugt, möglicherweise ausgesondert, auch wenn ihre G e samtmenge an Aspekten vielleicht den einzelnen dominierenden Aspekt überwiegt, der für ihre Aussonderung verantwortlich ist. Darüber hinaus kann es sein, daß Interaktionen zwischen verschiedenen Qualitäten oder Aspekten dazu Führen, daß die Attraktivität einer Alternative noch weniger durch die gesondert b e t r a c h t e t e Attraktivität ihrer Aspekte bestimmt wird. Die Hauptschwierigkeit liegt darin, daß das Individuum erst auf der letzten Stufe der Aussonderung nach Aspekten - laut Tverskys Theorie - endlich konkrete Alternativen miteinander vergleicht. Auf diese Weise könnte eine Alternative, die aufgrund ihrer Kombination von Vorzügen Gesamtsieger geworden wäre, auf einer frühen Stufe ausscheiden, falls das Individuum der Theorie entsprechend vorgeht. Wenn das Individuum im Gegensatz dazu ein Auswahlverfahren anwendet, das der Turnieraussonderung ähnelt, wird es zuerst diejenigen Alternativen aussondern, die von einer anderen eindeutig dominiert werden (wie in der ersten Runde eines Turniers). Dann wird es wieder Alternativen vergleichen, die sich am stärksten ähneln, und die weniger bevorzugte aussondern. Auf diese Weise wird das Individuum fortfahren, indem es stets konkrete A l t e r nativen miteinander vergleicht, bis es schließlich zu einer einzigen A l t e r n a -
4 Die Vermutung, d a l Individuen sich v e r s c h i e d e n e r V e r f a h r e n bedienen, w e n n sie u n t e r u n t e r s c h i e d l i c h viel Alternativen a u s w ä h l e n , wird d u r c h e x p e r i m e n t e l l e Ergebnisse von Payne (1976) u n t e r s t ü t z t .
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tive gelangt. In dem Maße, wie die Anzahl der Alternativen zunimmt, nimmt wahrscheinlich auch die Effizienz an Bedeutung zu und kann die Kosten von Irrtümern aufwiegen, die das Verfahren der Aussonderung nach Aspekten möglicherweise mit sich bringt. Somit ist es vielleicht der Fall, daß Individuen die Turnieraussonderung anwenden und dabei konkrete Alternativen aussondern, indem sie sie mit bestimmten anderen konkreten Alternativen vergleichen, wenn nicht die Anzahl der Alternativen so groß ist, daß die Kosten dieses Verfahrens (in Zeit und Mühe) die aus ihm resultierenden Gewinne (der Korrektheit) überwiegen. Es ist jedoch festzuhalten, daß Individuen, die eine dieser beiden Auswahlverfahren anwenden, nicht nach dem einfachen Verfahren vorgehen, die von ihnen in einer gesamten Präferenzordnung am stärksten favorisierte Alternative zu wählen. Wie Newell und Simon (1972) argumentieren und wie sie auch in Forschungen zum Problemlösen zeigen, wenden Individuen, die mit komplexen Aufgaben konfrontiert werden, Algorithmen oder eine Heuristik an, die Kompromisse zwischen Informationsverarbeitungsbeschränkungen und dem Erreichen des befriedigendsten Ergebnisses einschließen. Diese Kompromisse können zu Ergebnissen fuhren, die keiner einzigen einfachen Axiomenmenge der rationalen Wahl gerecht werden. Man könnte behaupten, daß Verfahren für soziale Entscheidungen auf ähnliche Weise einen Kompromiß zwischen Beschränkungen der informationsaggregierenden Fähigkeiten der Körperschaft und dem Erreichen des befriedigendsten Ergebnisses darstellen. Von dieser Warte aus entspricht die Suche nach besseren Verfahren für soziale Entscheidungen einem Versuch, die informationsaggregierenden Fähigkeiten der Körperschaft zu verbessern. Ist die zweistufige Aussonderung, die aus der Parteienstruktur resultiert, ein besseres Verfahren als die analoge einstufige Aussonderung? Die aus der Parteienstruktur resultierende Aussonderung ist wie eine Stufe der Turnieraussonderung, und es ist klar, daß die Einführung einer Turnieraussonderungsstruktur (wozu auch Aussonderungen in Fraktionen innerhalb der Partei, wie in Abbildung 15.2 gezeigt wurde, gehören) die in Abbildung 15.1 gezeigte Anomalie beseitigen würde. Die soziale Entscheidung wäre, genau wie die individuelle Entscheidung, konsistent oder plausibel. Die Hinzufügung einer neuen Alternative könnte zwar ähnlichen Alternativen schaden, doch sie würde weiter entfernte Alternativen nicht begünstigen, wie es bei der Bürgermeistervorwahl in Chicago der Fall war.
Mehrstufige versus einstufige Prozesse in sozialen Entscheidungen Der Vorteil einer Aussonderung nach Aspekten sowie einer Turnieraussonderung liegt in den Vorteilen, die ein mehrstufiger Prozeß mit sich bringt.
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Mit einer mehrstufigen Vorstellung von individuellen Entscheidungen kann die Theorie die Art und Weise widerspiegeln, wie eine neue Alternative ihr ähnlichen Alternativen schadet. Sowohl das Verhalten der Individuen als auch die Voraussagen der Theorie führen zu sogenannten plausiblen oder rationalen Handlungen, ungeachtet der Tatsache, daß das Axiom der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen durch das Verhalten verletzt w e r den könnte.
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Für soziale Entscheidungen erbringt die Einfuhrung einer Struktur, die ein einstufiges Verfahren in ein mehrstufiges Verfahren umwandelt, die gleichen Vorteile. Wie das Beispiel der Bürgermeistervorwahl in Chicago zeigt, ist die strukturelle Ausarbeitung jedoch Uber die erste Stufe, also die Partei, hinaus nicht gut entwickelt. Es gibt noch einen zweiten Schwachpunkt: P a r teistrukturen weisen eine große soziale Trägheit auf, was dazu führt, daß sie bis weit nach dem Punkt weiterbestehen, an dem sie die zentralen Dimensionen der politischen Spaltung in dem System repräsentieren. Darüber hinaus fluktuieren die zentralen Dimensionen der politischen Spaltung möglicherweise von Wahl zu Wahl, so daß keine strukturelle Teilung, die eine gewisse Zeit andauert, wie sie in Parteien zu beobachten ist, ihnen folgen könnte. Man kann die Frage stellen, ob es vielleicht andere Mittel gibt, mit denen sich die Vorteile aus mehrstufigen Wahlprozessen, in denen bei jedem Wahlkampf nur eine Alternative ausgesondert wird, realisieren ließen. W ä r e insbesondere ein Verfahren denkbar, bei dem Präferenzen auf einer einzigen Stufe festgestellt werden, doch die Aggregation auf eine Weise vor sich geht, die einer mehrstufigen Turnieraussonderung entspricht? Diese mögliche Arbeitsrichtung wird auch durch Arbeiten zur formalen Theorie sozialer Entscheidungen nahegelegt, ebenso wie durch die Resultate der in Kapitel 14 erfolgten Untersuchung über emergente Prozesse in kollektiven Entscheidungen. Die unmittelbar relevanten Resultate der formalen Theorie betreffen die große Bedeutung der Tagesordnung (agenda) bei der Determination von Ergebnissen (siehe Plott und Levine 1978, Shepsle und Weingast 1984). Letztendlich zeigen diese Resultate, daß die Kontrolle Uber die Tagesordnung, in einer großen Bandbreite von Präferenzverteilungen, das Ergebnis bestimmen kann. Die Tagesordnung ist gewissermaßen analog zu den Paarungen eines Turniers, und die Funktionäre, die die Paarungen kontrollieren, sind gewissermaßen analog zu dem Verfahren, das (mittels des Vorsitzenden oder der Regeln) die Tagesordnung bei sozialen Entscheidungen festlegt. Wie man unter Turnierfunktionären sehr wohl weiß, können die Paarungen von Konkurrenten für das Ergebnis eines Turniers von großer Bedeutung sein. Nehmen wir z.B. an, daß Α, Β und C die ranghöchsten Spieler in einem Turnier sind, und falls die Aufzeichnungen vergangener Spiele zeigen, daß A in mehr als der H ä l f t e der Spiele gegen Β gewinnt und gegen C in mehr als der H ä l f t e der Spiele verliert und daß Β in mehr als der H ä l f t e
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der Spiele gegen C gewinnt, müssen die Funktionäre einen dieser drei bei der Planung der Paarungen favorisieren. Falls A und Β in einer Gruppe sind und C in der anderen, gewinnt C mit größerer Wahrscheinlichkeit (A schlägt Β und C schlägt A). Falls A und C in einer Gruppe sind und Β in der anderen, ist Β Favorit (C schlägt A und Β schlägt C). Falls Β und C in einer Gruppe sind, ist A Favorit (B schlägt C und A schlägt B). s Vor diesem Hintergrund kann die Frage gestellt werden, ob es ein Verfahren zum Herbeiführen und Kombinieren von Entscheidungen gibt, das der mehrstufigen Turnieraussonderung entspricht, welche in Komitees durch eine Tagesordnung oder (unvollkommen) in Wahlen durch politische Parteien erzeugt wird. Das zentrale Element eines solchen Verfahrens besteht darin, daß die Präferenzen nicht nur bei der Auswahl zwischen den Alternativen helfen, sondern auch bei der Festlegung der Tagesordnung.
Soziale Entscheidungen Aussonderung
über implizite
mehrfache
Stufen:
Kriterien
zur
Die Aggregation von Präferenzen (Stimmen oder Rangfolgen oder irgendeine andere Präferenzbekundung) wird normalerweise als einstufiger Prozeß ausgeführt. In manchen Fällen, so wie bei Stichwahlen, wenn keiner aus einer Anzahl von Kandidaten eine Stimmenmehrheit erreicht hat, gibt es einen expliziten zweistufigen Wahlprozeß, in dem bis auf zwei Kandidaten alle innerhalb der ersten Stufe ausscheiden. Aus praktischen Gründen sind Wahlen mit mehr als zwei Stufen normalerweise nicht durchführbar. Im Prinzip wäre es jedoch möglich. Wenn prinzipiell mehrstufige Wahlen denkbar sind, die von irgendwelchen Anfangspaarungen ausgehen und dann in jedem Wahlkampf eine Alternative aus jedem Paar aussondern, dann ist es prinzipiell auch denkbar, daß dies in einer einzigen Wahlstufe vor sich geht, während aber mehrere Stufen bei der Aggregation von Präferenzen durchlaufen werden. In einem expliziten mehrstufigen Wahlprozeß zieht jeder Wähler sozusagen seine Präferenzordnung zu Rate und liefert den Wahlfunktionären Informationen, die auf dieser Präferenzordnung basieren. Ein impliziter mehrstufiger Wahlprozeß S Es gibt ö k o n o m i s c h e Literatur zu T u r n i e r e n (siehe Lazear u n d Rosen 1981. Rosen 1988), in der diese Behauptung g e t r o f f e n wird. Rosen sagt, d a l die Regeln selbst e n t s t e h e n , um den sozialen Wert des Spiels zu m a x i m i e r e n " (1988. S. 77). Mit Ausn a h m e e i n e r k u r z e n Abhandlung durch Rosen (1986, S. 710) sind in dieser Literatur jedoch nicht optimale P a a r u n g e n (die im Hinblick auf alle Spieler gerecht sein sollen) behandelt worden, was fUr das Problem der Tagesordnung von Nutzen w ä r e . Eine U n t e r s u c h u n g der Prinzipien, die bei Sportturnieren von O f f i z i e l l e n bei der Festlegung von W e t t k a m p f g e g n e r n berücksichtigt werden, k ö n n t e in diesem Z u s a m m e n h a n g n ü t z l i c h sein.
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würde sich davon nur insofern unterscheiden, daß die Wähler alle Informationen zur gleichen Zeit preisgeben müssen, die bei dem expliziten Prozeß stufenweise zu Tage treten. Diese Information wäre vollständig in den Rangfolgen der Alternativen enthalten, die jeder einzelne Wähler aufstellt. Das heißt nicht, daß ein Wähler kein Interesse an den Alternativen hätte, die in der Rangfolge nicht berücksichtigt werden, denn vielleicht hat er v e r schieden starke Präferenzen. Doch es ließe sich ein impliziter mehrstufiger Wahlprozeß konstruieren, der nur Informationen aus Ordinalpräferenzen verwendet. Wenn eine Abfolge von Paarungen festgelegt wird, könnten Wahlfunktionäre zu dem Ergebnis natürlich Uber einen mehrstufigen Aussonderungsprozeß kommen, der auf einer einstufigen Präferenzbekundung der Wähler in Form von Rangfolgen basiert. Auf jeder einzelnen der impliziten Stufen würden die Funktionäre und nicht die Wähler diese Rangfolgen abrufen und dabei der höher eingestuften Alternative eine Stimme zuschreiben. Was dabei natürlich eine große Rolle spielt, ist die Festsetzung des Wahlplans (agenda) oder die Abfolge der Paarungen. Wie aus den verschiedenen in diesem Kapitel genannten Beispielen und auch aus Forschung und Theorie der Tagesordnung ersichtlich geworden ist, ist die Tagesordnung eine bedeutende Komponente der sozialen Entscheidungsfindung, die, unter bestimmten P r ä ferenzverteilungen, das Ergebnis determinieren kann. Daher wird die günstigste Abfolge impliziter Wahlkämpfe bei einer sozialen Entscheidung mit mehreren Alternativen nicht von außen, sondern durch die Präferenzen selber bestimmt. Für solche sozialen Entscheidungen scheint es also, kurz gesagt, angemessen zu sein, daß der Wahlplan durch die Präferenzen der Wähler festgelegt wird. Ein Prinzip, das Individuen beim Treffen von Entscheidungen anzuwenden scheinen, ist das der Ähnlichkeit. Das heißt, sie sondern zuerst eine der beiden Alternativen aus, die sich am ähnlichsten sind. Ich werde dieses Entscheidungsverfahren als Aussonderung nach Ähnlichkeit bezeichnen. Es kann folgendermaßen beschrieben werden:
1. Wenn man von m Alternativen ausgeht, findet die erste Entscheidung (contest) zwischen den beiden Alternativen statt, die sich, gemäß der Präferenzverteilung, am ähnlichsten sind. Der Abstand zwischen den Alternativen ist die Summe anderer Alternativen, die zwischen ihnen stehen, wenn alle Mitglieder einberechnet werden. 2. Nachdem der Sieger dieser Entscheidung feststeht und somit eine A l ternative ausgeschieden ist, wird aus den verbleibenden m-1 Alternativen das Paar, das nun die größten Parallelen aufweist, für die zweite Entscheidung ausgewählt.
Von individueller Tabelle 15.1
Entscheidung
zu sozialer
Entscheidung
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Mögliche Rangfolgen von drei Kandidaten (Α, Β und C) und ihre Häufigkeit bei einer hypothetischen Wahl mit hundert Wählern Rangfolge ABC Β CA CAB ACB CBA BAC
Häufigkeit 20 19 24 15 10 12
Typen 1 2 3 4 5 6
Dieser Prozeß wird fortgeführt, bis nur noch eine Alternative übrigbleibt. Um ein Beispiel zu geben, führt Tabelle 15.1 die sechs möglichen Rangfolgen mit ihren hypothetischen Häufigkeiten für eine Wahl mit drei Kandidaten (Α, Β und C) und hundert Wählern auf. Wenn hier zuerst der Wahlkampf zwischen A und Β erfolgt, gewinnt C. Wenn zuerst der Wahlkampf zwischen A und C erfolgt, gewinnt B. Und wenn zuerst der Wahlkampf zwischen Β und C erfolgt, gewinnt A. Somit handelt es sich auch hier wieder um die zyklische Mehrheit des Condorcet-Paradoxons. Es gibt keinen Condorcet-Sieger. 6 Wenn man aber die Häufigkeit berücksichtigt, mit der Alternativpaare in den Rangfolgen benachbart sind, zeigt sich, daß A und Β in 66 Fällen, A und C in 70 Fällen und Β und C in 64 Fällen benachbart sind. Somit weisen A und C die größte Ähnlichkeit zueinander auf, und der Wahlkampf zwischen A und C findet zuerst statt. C gewinnt in diesem Wahlkampf, und dann schlägt Β C im zweiten und letzten Wahlkampf. Es ist sinnvoll, dieses Beispiel genauer zu untersuchen. Bei einer Aussonderung nach Ähnlichkeit ist Β der Sieger. Doch Β wird von den wenigsten Wählern auf den ersten Platz und von den meisten Wählern auf den letzten Platz gesetzt. Würde eine Mehrheitsregel mit einer Stichwahl nach der Aussonderung der ersten Runde angewandt, würde Β in der ersten Runde nur 31 Stimmen erhalten und ausscheiden. In der Stichwahl würde der Sieg an C gehen. Bei einer relativen Stimmenmehrheit, wie sie in der Bürgermeistervorwahl in Chicago angewandt wurde, würde A als Sieger hervorgehen, weil er 35 erste Plätze auf sich vereinigen würde, verglichen mit 34 für C und 31 lur B. Eine weitere mögliche Entscheidungsregel ist die Auszählung nach
6 Ein Condorcet-Sieger ist eine Alternative, die in Z w e i k ä m p f e n jeder e i n z e l n e n der a n d e r e n Alternativen von einer M e h r h e i t vorgezogen wird. Immer dann, w e n n e i n e z y k l i s c h e M e h r h e i t a u f t r i t t , gibt es k e i n e n Condorcet-Sieger. DaB e i n e Entscheidungsregel immer den Condorcet-Sieger feststellt, w e n n einer existiert, ist daher ein Kriterium, das eine gute Entscheidungsregel e r f ü l l e n sollte - obwohl es recht s c h w a c h ist, denn dieses K r i t e r i u m wird von vielen Entscheidungsregeln e r f ü l l t .
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Borda, bei der ein erster Platz 2, ein zweiter Platz 1 und ein dritter Platz 0 Punkte erhält. Mit dieser Regel würde A mit einer Punktzahl von 106 gewinnen; C würde 102 Punkte und Β 93 Punkte erhalten. Die Aussonderung nach Ähnlichkeit weist eine weitere unerwünschte Eigenschaft auf. Eines von Arrows Axiomen ist das Axiom der positiven Assoziation. Eine Alternative sollte in der sozialen Präferenzordnung nicht absinken, wenn sich keine Änderung außer der ergibt, daß sie in der Präferenzordnung eines Individuums aufsteigt. Nehmen wir an, daß drei Wähler mit der Rangfolge ACB (Typ 4 in Tabelle 15.1) Β höher einstufen, indem sie ihre Rangfolge in ABC umwandeln (Typ l). Dann weisen A und C nicht mehr die größte Ähnlichkeit zueinander auf, sondern A und B. Somit findet der Wahlkampf der ersten Stufe zwischen ihnen statt, und A gewinnt. Daraufhin schlägt C A auf der zweiten Stufe. Auf diese Weise verstößt die Aussonderung nach Ähnlichkeit sowohl gegen das Axiom der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen (wie auch individuelles Wählerverhalten) als auch gegen das Axiom der positiven Assoziation. Im Zusammenhang mit diesem Entscheidungsverfahren ergibt sich ein weiteres Problem. Die Aussonderung nach Ähnlichkeit wurde unter anderem eingeführt, um eine bestimmte Schwäche einiger Entscheidungsregeln zu überwinden: Die Hinzufugung einer neuen Alternative kann den Alternativen, denen sie am ähnlichsten ist, schaden, und dies nicht nur, indem sie sich selbst Vorteile verschafft, sondern auch, indem sie die weniger ähnlichen Alternativen begünstigt. Was geschieht aber, bei der in Tabelle 15.1 aufgeführten Häufigkeitsverteilung, wenn zuerst nur die Alternativen A und Β b e stehen und dann eine neue Alternative, C, hinzukommt? Vor der Hinzufügung gewinnt A mit 59 Stimmen. Doch A und C weisen zueinander die stärkste Ähnlichkeit auf, so daß bei der zweistufigen Aussonderung nach Ähnlichkeit Β zum Schluß als Sieger feststeht. Der Schwachpunkt, den die Aussonderung nach Ähnlichkeit beseitigen sollte, ist noch immer vorhanden. Die Einfuhrung von C schadet nicht nur der ihr benachbarten Alternative A, sondern unterstützt auch die entferntere Alternative B. Von daher ist dieses mehrstufige Verfahren, nach dem der Wahlplan von den Entscheidungen der Wähler bestimmt wird, hinsichtlich einer Vielzahl von Kriterien nicht als gutes Entscheidungsverfahren zu bewerten. Doch man sollte es nicht abhandeln, ohne die Gründe für seine Funktionsweise zu untersuchen - denn es scheint nicht nur Parallelen zu dem Prozeß aufzuweisen, den Individuen anwenden, sondern umfaßt auch das Prinzip, das in der Institution politischer Parteien offenbar wird. Die drei Alternativen bilden ein zyklisches Muster, wie es durch Condorcets Paradox belegt ist. Β schlägt C, dieser schlägt A, und dieser schlägt B. Nach der Häufigkeitsverteilung aus Tabelle 15.1 weisen A und C die stärkste Ähnlichkeit
zueinander auf, doch nachdem drei W ä h l e r ,
die s i c h
für
die
Von individueller
Entscheidung
zu sozialer
Entscheidung
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Rangfolge ACB entschieden haben, Β vom dritten auf den zweiten Platz setzen, weisen A und Β die stärkste Ähnlichkeit zueinander auf (siehe Abbildung 15.3). Dies entspricht der Situation, in der zunächst die ursprüngliche Verteilung vorherrscht und A und C in einer Partei sind, anschließend A in der Vorwahl ausscheidet und C daraufhin Β in der allgemeinen Wahl unterliegt. Mit der veränderten Verteilung haben sich die Präferenzen der Wähler verschoben, und A und Β sind nun in derselben Partei; die Vorentscheidung zwischen A und Β gewinnt A, der daraufhin von C in der allgemeinen Wahl geschlagen wird. Im Zusammenhang mit politischen Parteien scheint dies nicht merkwürdig zu sein, denn die Aussonderung eines von zwei Kandidaten, die sich am meisten ähneln, ist durchaus normal. Selbst die Tatsache ist nicht ungewöhnlich, daß das Ausscheiden von Β dadurch herbeigeführt wird, daß Β C bei denjenigen Wählern vom zweiten Platz verdrängt, die A auf den ersten Platz setzen. A gerät in die Partei - was die Aussonderung eines Kandidaten erforderlich macht - , wenn sich einige Anhänger des A von C abwenden und Β zuwenden. Dies jedoch vergrößert die Partei, verursacht eine Vorwahl und benachteiligt somit B. (im Parteienkontext würde dies in den meisten politischen Systemen, wenn auch nicht hier, zu einer anderen Wählerschaft bei der Vorwahl führen, wobei in der Partei eine Verschiebung zugunsten von A stattgefunden hätte. Dies würde Β noch stärker benachteiligen.) Wenn man über eine solche Struktur nachdenkt, scheint es naheliegend, daß gegen das Nichtpervertierbarkeitsaxiom verstoßen wird. Dies würde sicherlich in der zweistufigen Wahl mit Parteien in einer Situation wie der oben beschriebenen geschehen. Es ist festzuhalten, daß das in Anbetracht der Rangfolgen und Häufigkeiten aus Tabelle 15.1 seltsame Ergebnis, daß Β gewinnt, zustandekommt, weil die erste Stufe der Vorwahl in Kalifornien entspricht. Die Wähler, die Β den Vorzug geben, dürfen sich beim Wahlkampf der ersten Stufe zwischen A und C entscheiden. Ihre Vorliebe für C sichert C in dieser Vorwahl den
Abb. 153 Verschiebungen des Abstandes zwischen den Kandidaten, die zu einem anderen Ergebnis in einer zweistufigen kolleküven Entscheidung fuhren
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Körperschaftshandeln
Sieg. Wenn in der ersten Stufe nur Wähler wählen dürften, die einen der beiden dort vertretenen Kandidaten auf den ersten Platz setzen, würde Β nicht in der zweiten Stufe siegen. A würde die Vorwahl und die Endausscheidung gewinnen. Es steht fest, daß Aussonderung nach Ähnlichkeit als Entscheidungsregel unerwünschte Eigenschaften aufweist. Ein anderes Verfahren, das zu einigen zweistufigen Wahlen im Zusammenhang mit Parteien analog ist, ist die B e schränkung der Abstandsberechnung für Alternativpaare auf diejenigen W ä h ler, die eine der beiden Alternativen auf den ersten Platz setzen. Der erste Wahlkampf findet zwischen den beiden Alternativen statt, die bei allen M i t gliedern, die eine der beiden an die erste S t e l l e setzen, die größte Ähnlichkeit zueinander aufweisen, und im entscheidenden Durchgang dürfen nur diejenigen wählen, die eine dieser beiden Alternativen an die erste S t e l l e setzen. Dies entspräche einem System mit parteiinternen Vorwahlen, in denen nur P a r t e i mitglieder abstimmen. In unserem Beispiel weist der Wahlkampf von A und C die größte Ähnlichkeit bei den Wählern auf, die einen der beiden auf den e r sten Platz setzen (30 benachbarte von 69 Vergleichen), und unter diesen M i t gliedern gewinnt A die "Vorwahl" mit 35 zu 34 Stimmen. A schlägt daraufhin Β unter Teilnahme aller Mitglieder (59 zu 41). Wenn die Verteilung sich wie früher beschrieben ändert, indem drei Mitglieder ihre Rangfolge A C B in A B C umwandeln, findet der erste Wahlkampf zwischen A und Β statt. A gewinnt mit 35 zu 31 Stimmen und wird von C in der zweiten Stufe besiegt. In diesem F a l l e ist das modifizierte Verfahren der Aussonderung nach Ähnlichkeit der unmodifizierten Fassung vorzuziehen. Wenn jedoch nicht versucht wird, das zweistufige Verfahren von parteiinternen Vorwahlen nachzuahmen, gibt es zahlreiche andere Möglichkeiten, einen Wahlplan festzulegen. Beim Erwägen solcher Möglichkeiten ist es nützlich, darauf hinzuweisen, daß Condorcet selber ein Verfahren vorgeschlagen hat, zu einem Ergebnis zu gelangen, wenn sein Paradox wirksam zu sein schien. Zu seinem V e r f a h ren gehörte es, das schwächste Glied des Zyklus auszusondern (siehe Young und Levenglich 1978, Young 1987). In der oben behandelten hypothetischen Wahl schlägt C A mit 53 zu 47 Stimmen; Β schlägt C mit 51 zu 49 Stimmen, und A schlägt Β mit 59 zu 41 Stimmen. Mit Condorcets Verfahren wird nicht eine der Alternativen ausgesondert, sondern ein Zweikampf - in diesem F a l l e der Zweikampf zwischen Β und C. Dann schlägt Α Β und C schlägt A. Sieger ist C. Auf diese Weise legt Condorcets Vorschlag, wie auch die Aussonderung nach Ähnlichkeit, einen Wahlplan fest. Bei Condorcets Vorschlag entsteht der Wahlplan jedoch nicht anhand der Aussonderung von Alternativen, sondern anhand der Aussonderung paarweiser Vergleiche. Bei einer Wahl zwischen drei Alternativen bleiben nach der Aussonderung des schwächsten Glieds im Zyklus, des ausgewogensten Zweikampfs, zwei Zweikämpfe übrig, die keinen Kreisverlauf
aufweisen können. Bei
einer
Von individueller
Entscheidung
zu sozialer Entscheidung
115
größeren Anzahl von Alternativen erfordert die Konsistenz möglicherweise die Aussonderung von mehr Zweikämpfen. Ein Verfahren, das Condorcets Verfahren ähnelt, kann eingesetzt werden, um einen Wahlplan mittels Aussonderung von Alternativen festzulegen. Ich bezeichne dieses Verfahren als Borda-Aussonderung. Nehmen wir wieder an, daß das Wahlergebnis erzielt wird, indem man die von allen Wählern getroffenen Rangfolgen der vorgeschlagenen Alternativen in Erfahrung bringt. Die Alternative, die, über alle impliziten Zweikämpfe gerechnet, die geringste Unterstützung erfährt, wird ausgesondert. (Von m Alternativen b e streitet jede Alternative m-1 Zweikämpfe, und ihre Gesamtunterstützung errechnet sich aus der Summe der Stimmen, die sie in diesen impliziten Zweikämpfen erhält.) Nach der Aussonderung einer Alternative wird der gleiche Prozeß mit den verbleibenden m-1 Alternativen durchlaufen und wiederholt, bis nur noch eine Alternative übrigbleibt. Diese ist dann Sieger. 7 Wendet man dieses Verfahren auf den hypothetischen Fall aus Tabelle 15.1 an, wird Β zuerst ausgesondert, und C wird Gesamtsieger. Dieses Verfahren ist eine Möglichkeit, einen Wahlplan bzw. eine Aussonderungsabfolge festzulegen. Ob dieser Wahlplan von rationalen Mitgliedern eines Kollektivs zur Aussonderung von Alternativen eingesetzt würde, ist unklar. Dennoch bietet er eine vernünftige Alternative. Ich nenne dieses Verfahren Borda-Aussonderung, weil es als Umkehrung der Borda-Auszählung betrachtet werden kann: Die Alternative, die nach der Borda-Auszählung die geringste Stimmenzahl erhält, entspricht der A l ternative, die in den impliziten Zweikämpfen die geringste Unterstützung erfährt. Wird auf eine Alternative die Borda-Auszählung angewendet, wird die Anzahl der Anhänger erfaßt, die die Alternative in den impliziten Zweikämpfen aufweisen kann. Wenn die Borda-Auszählung wiederholt angewendet wird (wobei jedes Mal eine neue Berechnung erfolgt), um immer wieder die schwächste verbleibende Alternative auszusondern, bis nur noch eine Alternative übrigbleibt, handelt es sich um eine Borda-Aussonderung.
7 Eine e i n f a c h e E r w e i t e r u n g der Borda-Aussonderung bietet sich bei Wahlen, bei den e n Kandidaten a u s einer einzigen Liste m e h r e r e Posten besetzen sollen. Nachdem der erste Posten nach der beschriebenen Vorgehensweise besetzt worden ist, wird dieser Kandidat a u s den Rangfolgen gestrichen, und das V e r f a h r e n wird wiederholt, bis der zweite Posten und nach und n a c h alle Posten besetzt sind. Das Hare-System basiert e b e n f a l l s auf e i n e m W a h l v e r f a h r e n , das Rangfolgen berücksichtigt, w e n d e t aber ein a n d e r e s A u s z ä h l u n g s v e r f a h r e n an. Beim Hare-System gibt jeder W a h l e r e i n e Stimme flir den bei ihm an erster Stelle stehenden Kandidaten ab. Wenn kein Kandidat eine M e h r h e i t erhält, wird der Kandidat mit den wenigsten Stimmen gestrichen, und die Stimmen seiner Anhänger w e r d e n deren zweitbevorzugtem Kandidaten zugeteilt. Bei Wahlen mit m e h r e r e n Kandidaten stellt das Hare-System e i n e Wahlquote a u f . W e n n der favorisierte Kandidat e i n e s W ä h l e r s diese Quote bereits e r r e i c h t hat, w e n n dessen Stimmabgabe registriert wird, erhält der zweitbevorzugte Kandidat dieses W ä h l e r s die Stimme.
116 Tabelle 15.2
Körperschaftshandeln Ergebnisse einer sozialen Entscheidung mit drei Alternativen unter Anwendung verschiedener Entscheidungsregeln Bei Häufigkeitsverteilungen gemSB Tabelle 1SJ
Wenn drei WShlcr ihre Rangfolge • o n Alternativen • o n ACS zu ABC verschieben
Einstufige Entscheidungsregeln
A A
A A
Modifizierte Aussonderung nach Ähnlichkeit
Β A
Mehrheit bei Stichwahl
C
C C C
Aussonderung ausgewogener Zweikämpfe (Condorcets Verfahren) Borda-Aussonderung
C C
A C
Mehrheit Borda-Auszählung Mehrstufige Entscheidungsregeln Aussonderung nach Ähnlichkeit
Die Borda-Aussonderung ist die Modifikation eines Verfahrens, das Nanson (1883) vorgeschlagen hat und das in der Literatur als Nanson-Methode bekannt ist. Nach Nurmis Terminologie ist die Borda-Aussonderung die Modifikation 1 der Nanson-Methode. Ihre Eigenschaften sind von Fishburn (1977), Nurmi (1987) und Niou (1987) untersucht worden. Das Verfahren weist einige wünschenswerte, aber auch unerwünschte Eigenschaften auf. Ein großer Vorteil besteht darin, daß es stets den Condorcet-Sieger angibt, falls er existiert. Jedoch besitzt das Verfahren, wie alle Funktionen sozialer E n t scheidungen, Mängel, die offenbar werden, wenn kein Condorcet-Sieger existiert.
412
Tabelle 15.2 enthält eine Zusammenfassung der Ergebnisse einer sozialen Entscheidung zwischen drei Alternativen unter Anwendung verschiedener Entscheidungsregeln. Es ist sinnvoll, die Turnieraussonderung mit der Borda-Aussonderung zu vergleichen. Das Prinzip, nach dem der Turnierplan (agenda), d.h. die Paarungen der Konkurrenten, in Turnieren strukturiert ist, richtet sich nicht nach Ähnlichkeit (die bei einem Turnier nicht von unmittelbar einsichtiger Bedeutung ist), sondern nach Stärke. Die beiden stärksten Konkurrenten werden den Gruppen zugeordnet, die am weitesten voneinander entfernt sind, und die jeweils schwächeren Konkurrenten werden immer näher zusammenstehenden Gruppen zugeteilt. Wenn die Anzahl der Konkurrenten keine Zweierpotenz ist, erhalten die stärkeren Konkurrenten Freilose. Typische Paarungen für ein Turnier mit zehn Spielern sind in Abbildung 15.4 wiedergegeben, wo die S p i e l e r e i n e r R a n g f o l g e v o n 1 b i s 10 z u g e o r d n e t s i n d . D a b e i d u r c h l a u f e n d i e
Von individueller
Entscheidung
zu sozialer
Entscheidung
117
ι 6
— 1
Abb. 15.4 Nach Stärke koordinierte Paarungen bei einem hypothetischen Turnier mit zehn Konkurrenten vier schwächsten Konkurrenten eine erste Runde, und die anderen Konkurrenten erhalten Freilose. Die Paarungen der zweiten Runde sind so angelegt, daß Wettkämpfe (contests) zwischen den stärksten und ähnlich starken Konkurrenten so lange wie möglich hinausgezögert werden. Die Turnieraussonderung weist einige Parallelen zur Borda-Aussonderung auf. Bei der Borda-Aussonderung würde Alternative 10 als erste ausscheiden, und nachfolgende Aussonderungen wären davon abhängig, wie sich die Rangfolgen nach jeder einzelnen Aussonderung verändern. Im allgemeinen würden die niedriger bewerteten Alternativen jedoch früher ausscheiden als die höher bewerteten. Insgesamt gesehen scheint die Borda-Aussonderung einige Versprechen als Verfahren zum Treffen kollektiver Entscheidungen einzulösen. Sie ist ein implizites mehrstufiges Auswahlverfahren, daß die Vorzüge zweier expliziter mehrstufiger Verfahren - in Parteisystemen und Turnieren - in sich vereinigt. In großen Kollektiven wäre es ohne moderne Informationsverarbeitungstechniken nicht durchführbar. Im Hinblick auf die Kriterien, die zu Beginn von Kapitel 14 eingeführt wurden, erfüllt es das Kriterium der Konsistenz auf befriedigende und das Kriterium der Veridikalität auf relativ befriedigende Weise, doch es bleibt noch, seine Leistung hinsichtlich des Handlungspotentials und der Nichtentzweibarkeit zu untersuchen. Die Suche nach einem Entscheidungsverfahren, das dem Kriterium der Konsistenz genügt, hat mehrere Schritte durchlaufen, die in die Richtung eines brauchbaren Verfahrens führen:
118
Körperschaftshandeln
1. Tve r sky s Analyse der individuellen Entscheidungsfindung macht offenkundig, daß von Individuen angewandte Entscheidungsverfahren, die als plausibel betrachtet werden, nicht die Bedingung der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen erfüllen. So erscheint es klug, nicht nach Verfahren für soziale Entscheidungen zu suchen, die diese Bedingung erfüllen, sondern die Ergebnisse erbringen, die man als plausibel ansehen kann. Beispielsweise ist es plausibel, daß eine neue A l ternative den ihr ähnlichen Alternativen schadet, jedoch nicht, indem sie einer weiter entfernten Alternative den Sieg zuspielt. 2. Tverskys Theorie der Aussonderung nach Aspekten behauptet, daß Individuen, die sich vor mehrere Alternativen gestellt sehen, eine Abfolge von Aussonderungsstufen durchlaufen. Gedankenexperimente legen jedoch die Vermutung nahe, daß Individuen, falls die Anzahl der Alternativen nicht zu groß ist, Alternativen in einer Abfolge von Zweikämpfen aussondern (was einer turniergleichen Aussonderung entspricht), und nicht Klassen von Alternativen nach dominierenden Aspekten oder Dimensionen aussondern.
414
3. In einigen Verfahren für soziale Entscheidungen (wie 1983 bei der Bürgermeistervorwahl in Chicago) ist das Phänomen zu beobachten, daß eine neue Alternative einer anderen, ihr ähnlichen, schadet, jedoch ohne daß dies auf plausible Weise geschieht; die neue Alternative schadet der anderen nämlich insofern, als sie den Sieg der ähnlichen Alternative verhindert und dafür einer anderen, weiter entfernten, zum Sieg verhilft. 4. Die Untersuchung endogener Institutionen für soziale Entscheidungen zeigt, daß politische Parteien und Fraktionen dazu beitragen, einen einstufigen Prozeß der Wahl zwischen mehreren Alternativen in einen mehrstufigen Prozeß paarweiser Wahlen umzuwandeln. Dieses V e r fahren ähnelt der Turnieraussonderung, wobei die Zweikämpfe zwischen Alternativen stattfinden, die in der Präferenzreihenfolge der Wähler, die sie am stärksten favorisieren, am dichtesten zueinander stehen. 5. Arbeiten zur formalen Theorie sozialer Entscheidungen zeigen die Bedeutung des Wahlplans für die Determination von Ergebnissen auf. Die Paarungen, die in dem mehrstufigen Auswahlverfahren durch den Einfluß von Parteien und Fraktionen innerhalb der Parteien entstehen, legen implizit den Wahlplan und damit die Abfolge der Zweikämpfe fest. 6. Da das von Parteien und Fraktionen innerhalb der Parteien erzeugte mehrstufige Verfahren auf nichts anderem als den Präferenzordnungen von Individuen beruht, ist im Prinzip ein Verfahren für soziale Entscheidungen d e n k b a r , das zunächst
aus
einer
einzigen
Stufe
besteht.
Von individueller
Entscheidung
zu sozialer
Entscheidung
119
auf der die Präferenzen der Wähler vermerkt werden, welcher dann mehrstufige Verfahren zur Aggregation dieser Präferenzen folgen. Die Aggregation würde irgendeine Form der Aussonderung in Zweikämpfen umfassen. Dies hätte den Vorzug - der Parteistrukturen fehlt -, von Wählern getroffenen aktuellen Vergleichen zwischen Alternativen zu entsprechen statt Dimensionen von zwischenparteilichen Spaltungen, die keine aktuelle Relevanz besitzen, sondern aufgrund organisatorischer Trägheit aufrechterhalten werden. 7. Die Anwendung eines solchen Verfahrens würde der Wählerschaft die Macht verleihen, die der Wahlplan in sich birgt, weil in dem Verfahren, in dem die Abfolge der Zweikämpfe festgelegt wird, die Präferenzen der Wähler nicht nur die Ergebnisse der Zweikämpfe bestimmen, sondern auch die Abfolge der Zweikämpfe. 8. Obwohl sich die oben genannten Punkte auf Präferenzordnungen von Individuen beziehen, bedeutet die Trennung des Prozesses, in dem man Informationen Uber diese Präferenzen erhält (wie die Wähler ihre Präferenzen oder Interessen bekunden), von dem Prozeß, in dem diese Information zu einem Ergebnis kombiniert wird (über ein mehrstufiges Verfahren), daß die Punkte anwendbar sind, wenn von den Wählern mehr Informationen gewonnen werden können (wie z.B. Informationen über die Intensität von Präferenzen). 9. Das Verfahren der Aussonderung nach Ähnlichkeit (analog zur Aussonderung in einer parteiinternen Vorwahl) besitzt Eigenschaften, die zu Ergebnissen mit niedriger Veridikalität führen, die also den Präferenzen der Mitglieder nicht genau entsprechen. 10. Die Borda-Aussonderung (oder Modifikation 1 der Nanson-Methode), ein implizites mehrstufiges Verfahren, besitzt einige Eigenschaften der Turnieraussonderung und der Aussonderung in parteiinternen Vorwahlen. Es scheint zu Ergebnissen zu führen, die eine hohe Veridikalität und Konsistenz aufweisen.
Das Wesen von Rechten bei sozialen Entscheidungen In allen Erörterungen dieses Kapitels bin ich davon ausgegangen, daß Rechte von Mitgliedern eines Kollektivs, die eine soziale Entscheidung fällen, in der Form der Präferenzordnungen oder, noch etwas weniger informativ, in einer Stimme für die am stärksten favorisierte Alternative eingeschlossen sein müssen. Doch die Untersuchung natürlicher Entscheidungsprozesse in Kapitel 14 zeigt auf, daß ohne formale Entscheidungsregeln sowohl Interesse am Ergebnis (d.h. die Intensität der Präferenzen) als auch Macht im sozialen System für das Ergebnis von Bedeutung sind. Damit stellen sich zwei
120
Körperschaftshandeln
Fragen: Sollten Interesse und Macht (oder nur Interesse und keine Macht) in das Ergebnis kollektiver Entscheidungen eingehen? Und - falls diese Frage mit Ja beantwortet wird - inwiefern kann ein Verfahren für kollektive E n t scheidungsfindung unterschiedliche Interessen am Ergebnis und unterschiedliche Macht angemessen in Betracht ziehen? Abstimmungen vermitteln dem Kollektiv nur sehr wenig Informationen über die Interessen von Individuen, und es steht fest, daß in einigen Kontexten, in denen Uber eine gemeinschaftliche Handlung entschieden werden muß, mehr Informationen übermittelt werden könnten. Zu diesen Kontexten und dies trifft Tür eine bestehende Körperschaft zu - gehört die Situation, in der eine Handlungssequenz gemeinschaftlich ausgeführt werden muß. In einem solchen Falle könnten Rechte zur Entscheidungsfindung ganz anders verteilt werden, wie ich bald zeigen werde. Wenn es sich um einen Kontext handelt, in dem eine einzelne gemeinschaftliche Handlung aus drei oder mehr Alternativen ausgewählt werden soll, gibt es verschiedene Wege, mehr Informationen über Interessen von der Individualebene auf die Körperschaftsebene zu übermitteln. Verfahren zur kollektiven Entscheidungsfindung, die von Mitgliedern Präferenzordnungen (statt Stimmen) in Erfahrung bringen möchten und eine Borda-Auszählung anwenden, das Verfahren der Borda-Aussonderung oder ein Hare-System (siehe Fußnote 7) zur Aggregierung von Präferenzen stellen ein solches Mittel dar. Eine weitere Möglichkeit ist das System der Billigungsabstimmung, wobei angegeben werden muß, welche Alternativen man billigt (siehe Brams und Fishburn 1978, 1983).
Intensität
und
Billigungsabstimmung
Mit Hilfe eines Vergleichs zwischen einer Billigungsabstimmung und Wahlverfahren, die auf Präferenzordnungen von Mitgliedern basieren, lassen sich die verschiedenen Informationstypen verdeutlichen, die Mitglieder in eine Wahl einbringen können. Bei einer Wahl zwischen vier Alternativen gibt es sechs implizite Zweikämpfe. Indem ein Mitglied die Alternativen in eine Rangfolge einordnet, bringt es seine Präferenz in bezug auf jedes einzelne der sechs Zweikämpfe zum Ausdruck. Nehmen wir an, daß ein Mitglied die vier Alternativen A, B, C und D in die Rangfolge C, Β, A und D bringt, womit die erstgenannte die am stärksten favorisierte Alternative ist. Die Information, die sich darin in bezug auf die sechs impliziten Zweikämpfe verbirgt, lautet: C vor D C vor Α C vor Β
Β vor D Β vor A
A vor D
Von individueller Entscheidung zu sozialer Entscheidung
121
Eine Billigungs ab Stimmung birgt zum Teil die gleiche Information und darüber hinaus zusätzliche Informationen über die Intensität der Präferenzen, die aus einer Rangfolge der Alternativen nicht ersichtlich wird. Drei Mitglieder, deren Präferenzordnung C, B, A, D lautet, bekunden bei einer Billigungsabstimmung möglicherweise die folgenden Billigungsmuster: 8
Mitglied 1 : billigt nur C Mitglied 2: billigt Β und C Mitglied 3: billigt Α, Β und C
Dieses Abstimmungsergebnis liefert folgende Informationen über verschiedene Untermengen der impliziten Zweikämpfe:
Mitglied 1 : C vor A C vor Β C vor D Mitglied 2: C vor A C vor D Mitglied 3: C vor D
Β vor A Β vor D Β vor D
A vor D
Die Tatsache, daß Mitglied 1 C billigt und Mitglied 3 Α, Β und C billigt, liefert Informationen über Präferenzen in bezug auf drei der sechs Zweikämpfe, und die Tatsache, daß Mitglied 2 Β und C billigt, liefert Informationen über Präferenzen in bezug auf vier der sechs Zweikämpfe. Jede einzelne Stimmabgabe liefert jedoch noch zusätzliche Informationen. Aus der Stimmabgabe von Mitglied 1 ist zu entnehmen, daß es eher eine Entscheidung zwischen C und A, zwischen C und Β und zwischen C und D trifft als eine Entscheidung zwischen Β und A oder zwischen A und D. Dies bedeutet, daß die Präferenz von Mitglied 1 für C gegenüber seiner nächstbevorzugten Alternative stärker ist als jede andere Präferenz. Die von Mitglied 2 bekundete Billigung von Β und C bedeutet, daß es eher zwischen C und A, zwischen C und D, zwischen Β und A und zwischen Β und D eine Entscheidung trifft als zwischen C und Β oder A und D. Dies sagt nichts über die Präferenzen von Mitglied 2 zwischen Β und C oder A und D aus, aber es folgt daraus, daß
8 Es ist a u c h möglich, k e i n e oder alle zu billigen. Keine dieser Stimmabgaben liefert jedoch e i n e Information, die f ü r die Auswahl z w i s c h e n den vier Alternativen von Nutzen ist.
122
Körperschaftshandeln
Mitglied 1 (billigt nur C)
Mitglied 2 (billigt Β und Q
Mitglied 3 (billigt A, B, und Q
ud I
ua I
u.d ι
ua |
u.d ι
u ι
a
u.b ι
Abb. 15.5 Relative Nutzen gemäß Stimmabgabe dreier Mitglieder bei einer Billigungsabstimmung die Präferenz für die weniger bevorzugte Alternative von C und Β gegenüber der stärker bevorzugten Alternative von A und D stärker ist als jede andere Präferenz. Entsprechend besagt die von Mitglied 3 bekundete Billigung von Α, Β und C, daß die Präferenz für die am wenigsten bevorzugte Alternative von diesen dreien gegenüber D stärker ist als alle anderen Präferenzen zwischen diesen drei Alternativen. Wenn, wie früher gesagt, alle drei Mitglieder die Präferenzordnung C, B, A, D haben (obwohl diese Information einer Billigungsabstimmung nicht zu entnehmen ist), und wenn wir davon ausgehen, daß die Alternativen Tür die Mitglieder verschiedene Nutzen aufweisen, lassen sich die Informationen, die eine Billigungsabstimmung liefert, als Nutzendifferenzen ausdrücken. Für Mitglied 1 besteht zwischen C und Β die größte Nutzendifferenz, für Mitglied 2 besteht die größte Nutzendifferenz zwischen Β und A, und für Mitglied 3 besteht sie zwischen A und D. Die Skalen der relativen Nutzen der vier Alternativen für die drei Mitglieder könnten wie in Abbildung 15.5 aussehen. Auf diese Weise liefert eine Billigungsabstimmung keine vollständigen Informationen über die Präferenzordnung eines Wählers, jedoch einige Informationen über die relative Stärke, oder Intensität, der Präferenzen.
Paarweise
Rechte
Man kann behaupten, daß eine Billigungsabstimmung Informationen Uber r e lative Nutzendifferenzen liefert, doch könnten vollständigere Informationen über Nutzendifferenzen oder die Intensität von Präferenzen durch Wahlen gewonnen werden? Abbildung 15.5 legt diese Möglichkeit nahe, und die in K a p i t e l 14 e r f o l g t e U n t e r s u c h u n g
natürlicher
Entscheidungsprozesse
ver-
Von individueller Entscheidung zu sozialer Entscheidung
123
langt diese Möglichkeit, um den Kriterien des Handlungspotentials und der Nichtentzweibarkeit zu genügen. Wenn bei einer kollektiven Entscheidung η Alternativen zur Verfügung stehen, gibt es n(n-l)/2, oder m, implizite Zweikämpfe zwischen Alternativpaaren. Nehmen wir an, daß jedem Mitglied des Kollektivs m Stimmen eine für jeden impliziten Zweikampf - zur Verfügung stehen. Es muß jedoch nicht in jedem impliziten Zweikampf jeweils eine Stimme vergeben, sondern hat das Recht, beliebig viele der m Stimmen in beliebig vielen der m impliziten Zweikämpfe abzugeben. Wenn es möchte, kann es alle Stimmen in einem einzigen Zweikampf vergeben oder kann sie auf die Zweikämpfe verteilen. Dies kann folgendermaßen gerechtfertigt werden. Da man jeden einzelnen Wettkampf zwischen η Alternativen als eine Menge von n(n-l)/2 impliziter Zweikämpfe ansehen kann, gibt es keinen Grund, einem Mitglied des Kollektivs ein Wahlrecht zu verweigern, das mit jedem einzelnen impliziten Zweikampf assoziiert ist. Und wenn man ihm das zusätzliche Recht einräumt, zu entscheiden, welche dieser Zweikämpfe Tür es die größte Bedeutung haben (und somit, welchem es seine Stimmen geben möchte), ergeben sich weitere Informationen über seine Interessen, die es durch das Abgeben der Stimmen zum Ausdruck bringt. Nehmen wir an, daß jedem Mitglied das Recht zugesprochen wird, in jedem der Zweikämpfe seine Stimme abzugeben, und überdies das Recht, die Stimmen auf die Zweikämpfe zu verteilen, je nachdem, wie wichtig die Zweikämpfe jeweils für es sind. Wenn man festlegt, daß ein Mitglied Informationen über seine Präferenzen nicht mittels seiner Stimme mitteilen muß, läßt sich der Prozefl in zwei Teile aufgliedern: Das Mitglied liefert den Funktionären Informationen Uber seine Präferenzen, und die Funktionäre wandeln diese Informationen in Stimmabgaben zu den impliziten Zweikämpfen um, indem sie die impliziten Anweisungen des Mitglieds befolgen. Dies kann so ablaufen, daß jedes Mitglied gebeten wird, die Alternativen zu bewerten, wobei die am stärksten bevorzugte Alternative 10 Punkte und die am wenigsten bevorzugte 0 Punkte erhält. Im Hinblick auf die daraus ableitbaren Informationen ist diese Methode eine Kombination aus Rangfolgenerstellung und Billigungsabstimmung. Ausgehend von Abbildung 15.5 könnten die Mitglieder 1, 2 und 3 die folgenden Bewertungen abgeben:
Mitglied 1: 10 für C, 5 für B, 2,5 für A, 0 für D Mitglied 2: 10 für C, 7,5 für B, 2,5 für A, 0 für D Mitglied 3: 10 für C, 7,5 für B, 5 für A, 0 für D
Behandelt man diese Bewertungen als Stimmabgaben Tür die sechs impliziten
124
Körperschaftshandeln
Zweikämpfe, sind die unkorrigierten Nettostimmabgaben einfach die Unterschiede in den Bewertungen. Diese Stimmabgaben können korrigiert werden, da die Bewertungen je nach der Variation in den Bewertungen eines Wählers verschiedene Anzahlen impliziter Stimmabgaben ergeben. Alle oben aufgeführten Bewertungen ergeben implizite Gesamtstimmenzahlen von 32,5. Das Minimum beträgt 30, wenn die beiden mittleren Alternativen beide mit 0 oder 10 bewertet werden. Das Maximum beträgt 40, wenn eine mittlere A l ternative mit 10 und die andere mit 0 bewertet wird. Um jedem Mitglied in den sechs impliziten Zweikämpfen die gleiche Stimmenzahl zu geben, kann jede Bewertung mit einem Faktor multipliziert werden, um die Summe der Stimmenzahlen auszugleichen (z.B. 6). Dies ergäbe für Mitglied 1 die folgende Stimmabgabe: 1,85 für C, 0,93 fur Β und 0,46 für A (durch Multiplikation der Bewertungen mit 6/32,5). Für ein Mitglied, das C mit 10, Β mit 10, A mit 0 und D mit 0 bewertet, ergäbe sich eine Stimmabgabe von 1,5 fur C, 1,5 für B, 0 für A und 0 für D (durch Multiplikation der Bewertungen mit 6/40). Selbst wenn die Wähler wüßten, daß ihre Bewertungen korrigiert werden, damit sich eine feste Anzahl von Gesamtstimmen in Zweikämpfen ergibt, wäre dieses Verfahren leider noch nicht anreizkompatibel, d.h. ohne jeden Anreiz, Präferenzen aus strategischen Gründen falsch anzugeben. Wenn ein Wähler glaubt, daß seine Stimme für irgendeine Alternative mit gleicher Wahrscheinlichkeit für den Sieg dieser Alternative ausschlaggebend ist, wird er seinen Nutzen maximieren, indem er seine Stimmen auf die Zweikämpfe konzentriert, die fur ihn am wichtigsten sind. Dieser Anreiz zur Konzentration von Stimmen, wobei die eigentlichen Nutzendifferenzen nicht offenbar werden, entsteht, weil der erwartete Grenznutzen einer Stimme nicht in dem Maße sinkt, wie die Anzahl der vom Mitglied abgegebenen Stimmen zunimmt. Ein künstliches Sinken des Grenznutzens kann jedoch konstruiert werden, um den Anreiz zur Konzentration von Stimmen auf die wichtigsten Zweikämpfe genau aufzuwiegen. Dies geschieht, indem Stimmen entsprechend ihrer Konzentration diskontiert werden. J e konzentrierter die Stimmen des Wählers sind, desto geringer ist die Gesamtstimmenzahl, die der Wähler erhält. In Abbildung 15.5 weisen die Mitglieder 1, 2 und 3 denselben Konzentrationsgrad auf, wobei die größte Differenz zwischen den Nutzen 0,5 beträgt und die beiden anderen Differenzen 0,25 betragen. Die Diskontierung, die diesen Wählern den Anreiz nehmen würde, ihre Stimmen zu konzentrieren, würde für jeden einzelnen gleich groß sein. Die gezählten Stimmen wären gleich den korrigierten Stimmen mal 0,943. Wenn Mitglied 1 die Alternativen, wie oben erwähnt, mit 10, 5, 2,5 und 0 bewertet hätte, hätten die gezählten Stimmen nicht den korrigierten Stimmen 1,85, 0,93, 0,46 und 0 entsprochen, sondern 1,74, 0,88, 0,43 und 0. M i t d i e s e r D i s k o n t i e r u n g s o l l e i n e m M i t g l i e d mit den N u t z e n von M i t g l i e d 1
Von individueller
Entscheidung
zu sozialer
Entscheidung
125
aus Abbildung 15.5 der Anreiz genommen werden, die Alternativen anders als mit 10 für C, 5 für B, 2,5 für A und 0 für D zu bewerten. 9 Ein Mangel dieses Verfahrens besteht jedoch darin, daß die Diskontierung, die angewandt wird, um den Anreiz zur Konzentration von Stimmen mittels extremer Bewertungen auszuschalten, diejenigen Wähler bestraft, deren Nutzen tatsächlich extrem sind. Sie haben schließlich weniger Stimmen zur Verfügung als die Wähler, deren Alternativen gleiche Abstände aufweisen.
Fungible Rechte über eine Menge gemeinschaftlicher
Handlungen
Eine weitere Menge von Rechten, die den oben beschriebenen paarweisen Rechten ähneln, sind folgendermaßen zu charakterisieren: Wenn aus einer Anzahl gemeinschaftlicher Handlungen, sagen wir n, über jede einzelne mittels einer kollektiven Entscheidung abgestimmt werden soll, werden die Mitglieder des Kollektivs normalerweise so verfahren, daß sie der Reihe nach zu den einzelnen Handlungen ihre Stimme abgeben. Ein alternatives Verfahren besteht darin, jedem Mitglied η Stimmen zur Verfügung zu stellen, die es nach seinem Dafürhalten verteilen darf. Im einen Extremfall kann es alle Stimmen in einem einzigen Durchgang einsetzen, im anderen Extremfall kann es in jedem Durchgang eine Stimme abgeben. Nehmen wir an, daß eine Legislative über η Gesetzentwürfe abstimmen muß. Wie bei dem Wahlverfahren mit paarweisen Rechten würde dieses Verfahren einen rationalen Wähler dazu führen, alle Stimmen in dem Durchgang einzusetzen, der die größte 9 Die allgemeine Gleichung zur Bestimmung der Diskontierung, die auf eine korrigierte Stimmabgabe bei einer Wahl mit vier Alternativen angewandt wird, lautet Γ
d
4 =
100(20/9)
Ί
2
|_ 100 • r\ * r 3 + (10 - r / + (10 - r f
+ (^ -
1/2
J
Dabei bewertet der Wühler die von ihm am stärksten bevorzugte und die am wenigsten bevorzugte Alternative mit 10 bzw. 0 und ordnet dann die beiden mittleren Alternativen als r j und ein. wobei 0 s r j s * 10. Bei einer Entscheidung mit drei Alternativen ist die Diskontierung
Γ
tí3 - 1 —
,
>
—ι 1/2
100(3/2)
—
2
100 + r\ + (10 - r2)
Diese Diskontierungen ergeben sich, wenn man den erwarteten Nutzen der Bewertungen eines Mitglieds als eine Funktion der Nutzen der Alternativen und der Bewertungen schreibt. Ubersetzt in diskontierte korrigierte Stimmen (vorausgesetzt, dal jeder Zweikampf mit gleich groter Wahrscheinlichkeit filr das Ergebnis entscheidend ist und dat die Stimme des Mitglieds in jedem Zweikampf mit gleich groter Wahrscheinlichkeit f ü r diesen Zweikampf entscheidend ist). Die Gleichung wird fUr diejenige Diskontierung gelöst, die die relativen Differenzen in den Bewertungen zu den Nutzendifferenzen zwischen den Alternativen in Proportion setzt.
126
Körperschaftshandeln
Differenz zwischen den Nutzen der Alternativen aufweist. Auch in diesem Falle kann eine Diskontierung angewandt werden. Falls η Stimmen zur V e r fügung stehen, die auf η Gesetzentwürfe verteilt und für oder gegen sie abgegeben werden, beträgt die Diskontierung ( n / Z y C ? ) 1 / 2 , wobei Cj die Stimmenanzahl für Gesetzentwurf j ist. Auch hier ist wieder ein Schwachpunkt zu verzeichnen. Die Diskontierung, die die Stimmabgabe anreizkompatibel machen soll, verleiht denjenigen Wählern weniger Stimmen, deren Interesse sich auf eine oder zwei Gesetzentwürfe konzentriert. Selbst mit dieser Bestrafung maximiert der rationale Wähler jedoch seinen Nutzen, indem er seine Stimmen konzentriert vergibt, was seine konzentrierten Interessen widerspiegelt.
Ein Stimmeneinkommen,
das man nach Gutdünken
ausgeben
kann
Gemeinschaftliche Handlungen, Uber die in kollektiven Entscheidungen abgestimmt werden soll, erfolgen normalerweise nicht in voneinander getrennten Schüben, wie für das soeben vorgeschlagene Verfahren angenommen wurde. Eine Erweiterung dieses Verfahrens, mit dem der Fall abgedeckt werden soll, daß sich eine unvorhersehbare Abfolge gemeinschaftlicher Handlungen in die Zukunft erstreckt, habe ich an anderer Stelle als ein Konto für fungible Stimmen beschrieben (Coleman 1986a, S. 186). Es würde so funktionieren: Für jedes Mitglied des Kollektivs würde eine Anzahl von Stimmen auf einem Konto in einer Stimmenbank zur Verfügung gestellt. 420
Wenn mittels einer kollektiven Entscheidung über gemeinschaftliche Handlungen abgestimmt werden sollte, könnte jedes Mitglied von seinem Konto Stimmen abheben, indem es sie nach Belieben einsetzte, solange die G e samtzahl auf seinem Konto nicht überschritten würde. Um eine feste Menge von Stimmen im System zu behalten, würden die Stimmen der Wiederverwendung zugeführt, indem auf die Konten der η Mitglieder jeweils 1/n von allen Stimmen, die in jeder einzelnen kollektiven Entscheidung abgegeben worden wären, wieder eingezahlt würden. Dieses Verfahren läßt sich damit rechtfertigen, daß es die allgemeine verfassungsmäßige Vorschrift aufrechterhält, daß jedem Mitglied gleiche Kontrollrechte über die gemeinschaftliche Handlung zustehen, und es den Mitgliedern ein zusätzliches Recht einräumt das Recht, die Intensität des Interesses an einer bestimmten gemeinschaftlichen Handlung dadurch auszudrücken, daß sie Stimmen gemäß ihrem Interesse zuweisen dürfen.
Kapitel 16
Die Körperschaft als Handlungssystem Eine natürliche Person vereinigt zwei Typen des Selbst, Objektselbst und Handlungsselbst, oder Prinzipal und Agent, in einem physischen Körper. Eine minimale Körperschaft wird geschaffen, wenn Prinzipal und Agent zwei verschiedene Personen sind. Ausgehend von dieser minimalen Struktur können der Prinzipal, der Agent oder beide eine Körperschaft sein (wenn z.B. ein Unternehmen ein zweites besitzt). Die am weitesten entwickelte Form einer Körperschaft besteht aus mehreren Prinzipalen, die das Objektselbst darstellen, und mehreren Agenten, die das Handlungsselbst darstellen. So stellt man sich eine öffentlich-rechtliche Körperschaft in der modernen Gesellschaft vor. Die Prinzipale sind die mehrfachen Eigner oder die Aktionäre der Körperschaft; die Agenten sind alle in der Körperschaft Beschäftigten, vom Vorstandsvorsitzenden bis hin zu den Werksarbeitern, (in Kapitel 21 wird diese Vorstellung der öffentlich-rechtlichen Körperschaft hinterfragt, doch hier kann sie bei der Analyse helfen.) In einer Gewerkschaft bestehen die beiden Hälften aus den Mitgliedern, die die verstreuten Prinzipale bilden, und aus den Funktionären und den Mitarbeitern, den Agenten, mit deren Hilfe die Gewerkschaft handelt. In einem Nationalstaat sind die Bürger die Prinzipale (die "Souveräne", von denen alle Rechte ausgehen), und die regierenden Funktionäre und Angestellten des Staates sind die Agenten. Wenn man einer solchen ausgewachsenen Körperschaft zielgerichtetes Handeln nachsagen soll, muß sie sich mit zwei grundlegenden Problemen auseinandersetzen: Sie muß die Ressourcen und Interessen der vielfältigen Prinzipale sammeln und zu einer kohärenten Menge vereinigen, und sie muß die Ressourcen Uber die Anordnung der Agenten so zur Entfaltung bringen, daß die Interessen verwirklicht werden. Diese beiden Probleme stellen sich für viele Formen von Körperschaften. Sie sind so voneinander abgegrenzt, daß oft separate Verfassungen für die beiden Hälften der Organisation existieren. In den Vereinigten Staaten wird ein gewerbliches Unternehmen beispielsweise durch eine Satzung gebildet, die von einem der fünfzig Staaten herausgegeben wird. Diese Satzung stellt dann die Verfassung für die Prinzipale (das Objektselbst des Unternehmens) dar, sagt aber nichts über die Rechte und Pflichten der Agenten (des Handlungsselbst). Die Verfassung für die Agenten ist dem Unternehmen selbst überlassen und betrifft die Beziehungsstruktur zwischen ihnen.1
1 Die interne Verfassung, die sich mit den Rechten und Pflichten von Agenten auseinandersetzt, ist vom statuarischen Recht und vom common law her starken Be-
128 422
Körperschaftshandeln
In diesem Kapitel werde ich die Funktionsweise des Handlungsselbst einer komplexen Körperschaft untersuchen. Zu diesem Zweck werde ich das Problem des Sammeins von Ressourcen und Interessen der verstreuten Prinzipale als gelöst betrachten. Ich gehe von einem einzelnen Prinzipal aus, der Handlungen ergreifen muß, wobei es sich um komplexe und interdependente Handlungen handelt, an denen viele Agenten beteiligt sind. Obwohl dieses Kapitel viele Formen der formalen Organisation anspricht, konzentriert es sich auf das moderne Unternehmen, weil dies sich in einer aktiven Entwicklung zu befinden scheint und eine Vielzahl von Variationen und Innovationen bietet, an denen fundamentelle Aspekte organisatorischer Funktionsweisen aufgezeigt werden können.
Webers Bürokratiebegriff in Theorie und Praxis Die Entwicklung der klassischen hierarchischen formalen Organisation gibt Anlaß zu ernstzunehmenden Fragen über das dominierende begriffliche Modell bürokratischer Herrschaft, auf dem formale Herrschaftssysteme aufgebaut haben. Dieses begriffliche Modell, das zuerst von Max Weber als Idealtypus formuliert worden ist, hat lange Zeit sowohl als praktisches Modell ñir die Bildung formaler Organisationen und als theoretisches Modell für Sozialwissenschaftler gedient, die die Entwicklung formaler Organisationen erforschen. Die Vorstellung ist die einer Herrschaftsstruktur, die aus Positionen zusammengesetzt ist; die Tätigkeiten für jede Position werden von der Position gesteuert, die sich in der hierarchischen Struktur jeweils Uber ihr befindet. Der grundlegende Schwachpunkt dieser Theorie und Praxis der O r ganisation (denn die Theorie beschreibt die Praxis, und der Praxis werden aufgrund der in der Theorie ausgedrückten Vorstellungen Beschränkungen auferlegt) besteht darin, daß Personen sowohl Interessen als auch Ressourcen besitzen. Sie können veranlaßt werden, die Kontrolle über bestimmte Ressourcen unter bestimmten Bedingungen aufzugeben (d.h. sich ihrer Arbeit zu entfremden), doch diese Bedingungen sind nicht immer gegeben. Außerdem geben sie diese Kontrolle nie vollständig auf, und es ist auch nicht möglich, einen Austausch von Ressourcen herbeizufuhren, der sie dazu v e r anlaßt. Ihre Interessen werden immer vorhanden sein und können ihnen nie genommen werden. Normalerweise werden sich ihre Interessen dagegen richten, ihre Ressourcen der vollständigen Verwertung durch die Körperschaft zu überlassen, weil sie durch diese vollständige Verwertung daran
schränkungen unterworfen. In einigen Ländern (wie der Bundesrepublik, was später in diesem Kapitel noch behandelt wird) wird die interne Verfassung f ü r Agenten größtenteils durch statuarisches Recht
bestimmt.
Die Körperschaft als Handlungssystem
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gehindert werden, diese Ressourcen anderweitig einzusetzen. Folglich kommt es in jeder Organisation, die allein auf diese Form von Austausch aufbaut, zu einer Produktionsbeschränkung, was der Tatsache Rechnung trägt, daß die Interessen des Agenten nicht ganz und gar auf die Ziele gerichtet sind, auf die hin die Herrschaftsstruktur ihre Ressourcen (ihre Arbeit) einsetzt. Max Weber sah, genau wie Karl Marx, deutlich den entfremdenden Charakter der Organisationsform, die er darlegte und deren theoretische Grundlage er schuf:
Es ist, als wenn ... wir mit Wissen und Willen Menschen werden sollten, die Ordnung brauchen und nichts als Ordnung, die nervös und feige werden, wenn diese Ordnung einen Augenblick wankt, und hilflos, wenn sie aus ihrer ausschließlichen Angepaßtheit an diese Ordnung herausgerissen werden. - Es fragt sich, was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen haben, um einen Rest des Menschentums frei zu halten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bürokratischer Lebensideale ... (1926, S. 421)
Aber Weber hatte keine Vorstellung einer "rationalen" Organisation, die nicht so geartet wäre. Für ihn besteht der grundlegende Austausch darin, daß die Ressourcen von Menschen, die ihrer Kontrolle entfremdet werden, für gemeinschaftliche Ziele eingesetzt werden, welche ein zielgerichteter Akteur an der Spitze des Herrschaftssystems festlegt. Der fundamentale Fehler in dieser Theorie ist der, daß nur diese zentrale Autorität als ein zielgerichteter Akteur behandelt wird. Die Tatsache, daß die Personen, die in die Positionen der Organisation eingesetzt werden, ebenfalls zielgerichtete Akteure sind, wird übersehen. Dieses Versäumnis ist niemals berichtigt worden. Michels (1970 [1915]) hat bestimmte Folgen dieses Versäumnisses dokumentiert und sie als sein ehernes Gesetz der Oligarchie zusammengefaßt: Diejenigen Gebilde, die den Willen einer Körperschaft ausführen sollen, entwickeln eigene Interessen. Michels unterließ es jedoch, darauf hinzuweisen, daß einige der Prozesse, die eine oligarchische Kontrolle durch die Führer über die Mitglieder eines Kollektivs bewirken, auch die bei einer Körperschaft Beschäftigten dazu bringen, ihre Interessen einzubringen. Er betrachtete das von ihm aufgestellte Prinzip als eine Abweichung von einer perfekten Organisation, die an der Spitze der Struktur auftritt, und verstand es nicht als grundlegende Eigenschaft sozialer Organisationen, die die gesamte Organisation durchdringt und die auf einen fundamentalen Fehler des bürokratischen Modells, auf dem die organisatorische Praxis aufbaut, schließen läßt.
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Körperschaftshandeln
Andere Organisationstheoretiker, insbesondere Barnard (1938) und Simon (1947), haben darauf hingewiesen, daß die Leistungsanreize, die eine Körperschaft für die Dienstleistungen einer Person bietet, so hoch sein müssen, daß für die Person eine Motivation zur Beitragsleistung für die Körperschaft besteht, und die Beiträge der Person müssen so hoch sein, daß die Kosten der von der Körperschaft bereitgestellten Leistungsanreize gedeckt werden. Die wichtigsten Vorstellungen werden von Simon, Smithburg und Thompson (1951, S. 381-382) folgendermaßen ausgedrückt:
1. Eine Organisation ist ein System aufeinander bezogenen Verhaltens einer Anzahl von Personen, die wir als Teilnehmer der Organisation bezeichnen. 2. Jeder Teilnehmer und jede Gruppe von Teilnehmern erhält von der O r ganisation Leistungsanreize, für die er als Gegenleistung Beiträge zum Wohle der Organisation liefert. 3. Jeder Teilnehmer wird seine Teilnahme an der Organisation nur so lange aufrechterhalten, wie die ihm gebotenen Leistungsanreize so groß oder größer sind (gemessen an seinen Werten und den Alternativen, die sich ihm bieten) als die Beiträge, die er leisten soll. 4. Die Beiträge, die von den verschiedenen Teilnehmergruppen geliefert werden, sind die Quelle für die Leistungsanreize, die die Organisation den Teilnehmern bietet. 5. Von daher ist eine Organisation nur so lange "solvent" - und existenzfähig - , wie die Beiträge ausreichen, um genügend große Leistungsanreize zu liefern, die wiederum zur Leistung dieser Beiträge motivieren.
424
Hier findet man die gleiche Vorstellung des Individuums, das die Kontrolle über seine Ressourcen gegen den Erhalt bestimmter Leistungsanreize aufgibt. Die Vorstellung einer anderen Art von Austausch fehlt jedoch immer noch. Andere Autoren (Merton 1940, March und Simon 1958, Kapitel 3 und 4) haben Motivationsprobleme untersucht, die in Organisationen entstehen und vorhanden sind, weil man sich die Person in der Theorie der rationalen O r ganisation als Akteur ohne Interessen vorstellt - und weil es keine ausgearbeitete Theorie der rationalen Organisation gibt, in der die Interessen von Personen eine Rolle spielen. Empirische Forschungen haben aufgezeigt, inwiefern diese Interessen eine Rolle im Verhalten von Personen spielen, wenn sie als Agent einer Körperschaft agieren (siehe vor allem Blau 1963, 1964, Crozier 1964). Diese Forschungen weisen, gemeinsam mit alltäglichen B e o b a c h t u n g e n , d a r a u f hin, wie wichtig es ist, e i n e m P r o z e ß E i n h a l t zu
gc
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bieten, in dem, sowohl in der Organisationstheorie als auch in organisatorischer Praxis, eine Struktur immer wieder ausgebessert wird, die auf einem fundamentalen begrifflichen Fehler basiert. Wie ich oben beschrieben habe, wird die angemessene Vorstellung neuerdings ab und zu realisiert. Man muß erkennen, daß es 9ich um eine Demontage und einen Neuaufbau handelt, die sowohl die Theorie der rationalen Organisation als auch bestehender Organisationen umfassen, welche mit dieser Theorie als Leitprinzip konstruiert worden sind. Warum konnte Webers Fehler so lange bestehen und einen solch produktiven - wenn auch mangelhaften - ökonomischen Apparat begründen? Dies rührt zum Teil daher, daß die organisatorische Praxis Webers Theorie nie ganz gefolgt ist und sich in den letzten Jahren weit von ihr entfernt hat. Die Abweichungen haben sich hauptsächlich auf den oberen Organisationsebenen vollzogen und können in zwei Typen aufgeteilt werden. Die erste bezieht sich auf die Klasse von Aktivitäten, die als Leistungslöhne bezeichnet werden und die von Produktionsanreizen auf der Werksebene bis zu Prämiensystemen und Aktienbezugsrechten auf der oberen Managementebene reichen. Doch selbst wenn eine Person eine bestimmte Leistungszahlung erhält, bleibt sie weiterhin auf einer Position in einer hierarchischen Herrschaftsstruktur. Somit entspricht diese Abweichung nicht ganz der oben ausgeführten Vorstellung, noch werden damit alle Interessen des Agenten berücksichtigt. Dies ist auch gar nicht möglich, solange er noch die Kontrolle über zumindest einen Teil seiner Ressourcen behält. Denn wenn der Agent seine Ressourcen am gewinnbringendsten einsetzen soll, muß er sie kontrollieren können. Dies führt zu der zweiten Abweichung von Webers Modell, der expliziten Übertragung von Kontrolle über gemeinschaftliche Ressourcen auf eine Person. Obwohl ein solches Prinzip in der rationalen Theorie der Organisation fehlt, sehen sich Körperschaften aufgrund ihrer ureigensten Art gezwungen, dies im Hinblick auf nahezu alle mittleren Positionen in der Herrschaftsstruktur - d.h. auf allen Managementebenen - zu tun. Wenn eine Körperschaft einem Manager die Leitung einer Abteilung anvertraut, überträgt sie ihm die Kontrolle über einige ihrer Ressourcen. Obwohl sie ihm die Kontrolle Uber einige seiner eigenen Handlungen entzogen hat, hat sie ihm gleichzeitig Kontrollrechte über eine größere Menge von Handlungen - die seiner Untergebenen - an die Hand gegeben und hat ihm notwendigerweise einen großen Anteil an Kontrolle über seine eigenen Handlungen überlassen, weil er die Personen unter ihm befehligen muß. Damit hat er eher an Kontrolle gewonnen als verloren. Der größere Kontrollbereich, der ihm verliehen wurde, muß notwendigerweise seine Interessen einbeziehen, denn diese sind Ressourcen, die ihm zur Verfügung stehen. Wenn die Körperschaft es erreichen kann, daß die Erträge für den Manager aus seinen Handlungen von
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Körperschaftshandeln
seiner fruchtbringenden Anwendung der gemeinschaftlichen Ressourcen abhängig sind, die er kontrolliert, wird sie damit gewährleisten, daB seine Interessen die Entfaltung dieser Ressourcen in eine Richtung lenken, die mit den Zielen der Körperschaft in Übereinstimmung stehen. 425
Wie ich in diesem Kapitel an anderer Stelle erörtern werde, hat sich seit neuestem in einer Vielzahl von Situationen ein umfassender Wandel in der organisatorischen Praxis vollzogen, der von Webers Modell abrückt und sich der oben genannten Vorstellung annähert. Allerdings findet sich das alte Modell der Körperschaft als Maschine mit menschlichen Agenten als deren Bestandteilen noch immer auf vielen unteren Organisationsebenen und in einigen Bürokratien (vor allem in öffentlichen Behörden und Firmen in Industriezweigen mit alten Technologien). Die Gründe hierfür werden ersichtlicher, wenn man eine weitere Ursache für das lange Fortbestehen von Webers Fehler betrachtet. Ich habe bereits erwähnt, daß Personen dazu gebracht werden können, unter gewissen Umständen die Kontrolle über ihre eigene Arbeit aufzugeben. Zu Beginn der Industrialisierung und seit dieser Zeit bis fast zur Gegenwart waren diese Bedingungen gegeben. Es war ganz einfach so, daß Personen wenige materielle Ressourcen besaßen, und die materiellen Leistungsanreize, die ihnen für die Aufgabe der Kontrolle über ihre Arbeit angeboten wurden, bedeuteten eine große Verbesserung ihres materiellen Wohlstands. Dies trifft nicht mehr uneingeschränkt zu. Der materielle Wohlstand hat in vielen Gesellschaften ein so hohes Niveau erreicht, daß Personen auch ohne eigene Arbeit vom Staat unterstützt werden - und dabei einen höheren Lebensstandard besitzen, als sie früher mit harter Arbeit erreichten. Somit schwinden in entwickelten Gesellschaften die Bedingungen, unter denen Personen die Kontrolle Uber ihre Arbeit aufgeben und sich dem Willen einer anderen Person unterwerfen. Dieser Wandel hat Organisationsmanager vor Probleme gestellt, denn diese finden es schwieriger, Beschäftigte zu motivieren. Dieser Wandel hat auch eine Beschränkung für eine Gesellschaft zur Folge, die gemäß der politischen Philosophie des Liberalismus organisiert ist; diese Beschränkung entfernt in einer solchen Gesellschaft das Element, das MacPherson (1964) als Marx' Haupteinwand bezeichnet - die Entfremdung der Arbeit Von dem Arbeitenden. Der Wandel stellt die Organisatoren von Körperschaften vor die schwierigere Aufgabe, Interessen zu koordinieren, und kann durchaus dazu Führen, daß bestimmte Tätigkeiten unrentabel werden. Die sich daraus entwickelnde Gesellschaft verspricht jedoch eine Gesellschaft zu sein, in der Arbeit größtenteils nach den eigenen Richtlinien des Individuums verrichtet wird. Ein gleichzeitig aufgetretener Wandel ist der Zuwachs an persönlichen R e s s o u r c e n , d i e P e r s o n e n in d i e L a g e v e r s e t z e n , K a p i t a l r e s s o u r c e n a u f
pro-
Die Körperschaft
als Handlungssystem
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duktive Weise nach ihrem Willen einzusetzen. Ausbildung und die Zunahme an technischen und intellektuellen Fertigkeiten haben eine Organisationsform zur Entfaltung gebracht, die ihre Ressourcen größtenteils autonomen Agenten überträgt. Die Schaffung einer solchen Organisation ist in einigen Fällen mit Schwierigkeiten verbunden, weil die Ausübung von Herrschaft über die Tätigkeiten eines anderen nicht schnell aufgegeben wird, selbst wenn sie nicht erfolgreich ist. Doch, allmählich oder auch rasch, wird die Webersche Form rationaler Organisation durch eine Form ersetzt, die weitgehend als Anleger, Förderer und Berater fur die erfolgreiche Entfaltung der Ressourcen dient, die sie investiert.
Die formale Organisation als eine Spezifizierung von Transaktionen Eine formale Organisation in Gestalt einer hierarchischen Herrschaftsstruktur wird im Hinblick auf das Organisieren ökonomischer Aktivitäten oft als Alternative zu einem Markt betrachtet. Insbesondere Williamson (1975) hat die Bedingungen untersucht, die eine optimale Marktorganisation solcher Aktivitäten gewährleisten, sowie Bedingungen, die eine optimale hierarchische Organisation, wie man sie in Unternehmen findet, erlauben. Ich werde mich auf einen Gegensatz konzentrieren, den ich als grundlegend für alle Gewinne und Kosten ansehe, die formalen Organisationen, im Verhältnis zu einer Marktorganisation, die aus unabhängigen Agenten besteht, eigen sind. Ein vollkommener Wettbewerbsmarkt ist ein Handlungssystem, in dem j e der Akteur ein möglicher Partner für eine Transaktion mit jedem der anderen Akteure ist. In dieser Sozialstruktur werden den Beziehungen zwischen den Akteuren nur hinsichtlich der Interessen jedes einzelnen Akteurs und der Ressourcen, die jeder Akteur kontrolliert, Beschränkungen auferlegt. Eine formale Organisation ist dagegen ein Handlungssystem, in dem die Beziehungen zwischen den Akteuren durch die Sozialstruktur stark beschränkt werden. Die Organisation besteht aus Positionen, die von Personen besetzt werden. Jede Position steht in einer spezifischen Beziehung zu anderen Positionen. Bestimmte Beziehungen werden anhand von Regeln vorgeschrieben, und viele werden verboten. Der Inhaber einer bestimmten Position hat gewisse Verpflichtungen gegenüber Inhabern bestimmter anderer Positionen zu erfüllen, und er besitzt gewisse Rechte darüber, was er von Inhabern b e stimmter anderer Positionen erwarten darf. Beziehungen als Agent (d.h. "geschäftliche Beziehungen") zu den meisten anderen Positionen in der Organisation werden mißbilligt oder sind untersagt, und relativ wenig Beziehungen werden gestattet, wenn sie nicht erforderlich sind. Anfragen und andere Kommunikationsformen müssen "auf dem Dienstweg" erledigt werden. Der Unterschied zwischen dem Modell der formalen Organisation und
426
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Körperschaftshandeln
dem einer Marktorganisation könnte nicht krasser sein. Wie der nächste Abschnitt zeigen wird, haben auch die Beziehungen, die fur jede Position in einer formalen Organisation vorgeschrieben sind, einen besonderen Charakter und bilden einen weiteren Kontrast zur Marktorganisation.
Möglichkeiten zur Erhaltung der Existenzfähigkeit in formalen Organisationen
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Gehen wir einmal von folgender Situation aus. Ein kapitalkräftiger Unternehmer gründet ein Herstellungsunternehmen. Er wird Generaldirektor sein und den Betrieb führen. Er beschließt, daß die Organisation auch einen Buchhalter, eine Sekretärin, drei Aufseher, eine Büroangestellte für die drei Aufseher und sechs Maschinisten unter jedem Aufseher benötigt. Insgesamt wird die Organisation 25 Positionen zu besetzen haben. Der Unternehmer schreibt die Stellen aus und besetzt alle Positionen außer seiner eigenen. Jede Person auf einer Position hat eine Menge von Verpflichtungen zu e r füllen, die mit dieser Position verbunden sind. Bei einigen handelt es sich um Verpflichtungen gegenüber Personen in bestimmten anderen Positionen, wie z.B. die Verpflichtungen der Büroangestellten gegenüber den drei Aufsehern. Bei einigen handelt es sich um Verpflichtungen dem Unternehmen gegenüber, wie z.B. die Verpflichtung, sein Tagessoll in bezug auf die Aufgaben, die für diese Position ausgewisen sind, zu erfüllen. Jede Person auf einer Position besitzt auch eine Menge von Erwartungen, die mit dieser Position verbunden sind. Einige davon betreffen Personen in bestimmten anderen Positionen, wie die Erwartung eines Maschinisten, daß die Teile, die ihn von einem anderen Maschinisten erreichen, den Qualitätsanforderungen entsprechen und in ausreichender Menge geliefert werden. Einige Erwartungen betreffen das Unternehmen selbst, wie z.B. die Erwartung, daß den Lohnvereinbarungen und den Arbeitsbedingungen, die bei der Einstellung festgelegt worden sind, entsprochen wird. Mit anderen Worten weist jede Position eine bestimmte Menge von Zielen oder Aufgaben auf, stellt eine bestimmte Menge von Ressourcen zur Verfügung, mit denen die Ziele und Aufgaben erfüllt werden sollen, und fordert vom Inhaber die Beachtung bestimmter Regeln. Die Struktur der Organisation sorgt dafür, daß die Produkte der Tätigkeit in einer Position die Ressourcen für die Tätigkeiten in anderen Positionen w e r den. Wie ist dies zustande gekommen? Natürlich ist durch den Unternehmer eine disjunkte komplexe Herrschaftsstruktur begründet worden, in der jeder Arbeitnehmer das Kontrollrecht Uber bestimmte Handlungen gegen Lohn und andere Gewinne eingetauscht hat und auch dem Arbeitgeber das Recht über-
Die Körperschaft
als Handlungssystem
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tragen hat, das Kontrollrecht wiederum zu übertragen (siehe Kapitel 4). Doch darüber hinaus ist eine Struktur von Positionen geschaffen worden, die unabhängig von den Inhabern dieser Positionen existiert. Selbst die Position des Generaldirektors kann von einer anderen Person besetzt werden. Der Eigentümer könnte jemanden einstellen, der diese Position einnimmt, oder könnte das Unternehmen an jemand anderen verkaufen. Es besteht eine Struktur, die aus miteinander verknüpften Positionen und nicht aus miteinander verknüpften Personen zusammengesetzt ist. Die Positionen sind nicht fortdauernd mit bestimmten Personen verbunden, sondern die Personen sind nur zeitweilige Inhaber der Positionen. Die Erfindung dieser Form der Sozialstruktur war eine entscheidende Entwicklung, denn sie hatte die Befreiung von Personen zur Folge. Diese Sozialstruktur existiert unabhängig von den Personen, die Positionen in ihr besetzen, wie eine Stadt, deren Gebäude unabhängig von ihren spezifischen Bewohnern existieren. Das Umfeld der Wohnungen steht fest, und Individuen können ein- und ausziehen. Der Unterschied zwischen einer Sozialstruktur aus miteinander verknüpften Positionen und einer Sozialstruktur aus Beziehungen zwischen Personen entspricht dem Unterschied zwischen einer Stadt mit festen Wohnungen, die nacheinander von verschiedenen Personen bewohnt werden, und einem Nomadenstamm, dessen Zelte nicht an einen festen Ort gebunden sind oder die von ihren Besitzern unabhängige Beziehungsmuster aufweisen, sondern die nur Besitztümer sind, die mit ihren Bewohnern ziehen. In einer Organisation, die aus Positionen in einer Beziehungsstruktur bestehen, sind die Personen, die die Positionen besetzen, mit der Struktur v e r bunden. Sie übernehmen die Verpflichtungen und Erwartungen, die Ziele und Ressourcen, die mit ihren Positionen so einhergehen, wie die Personen zu ihrer Arbeit eine Arbeitskleidung anlegen. 2 Doch die Verpflichtungen und E r wartungen, die Ziele und Ressourcen existieren unabhängig von den individuellen Inhabern der Positionen. Wie in Kapitel 4 beschrieben wurde, wird die Notwendigkeit, daß diese mit der Position verknüpft bleiben bzw. daß die Ressourcen das Eigentum der Körperschaft bleiben, durch die Unbeständigkeit der Arbeitsbeziehung geschaffen. Andernfalls würden sich die Ressourcen, die zur Errichtung der Körperschaft erforderlich sind, schnell v e r flüchtigen, sobald die ersten Beschäftigten gingen und sie mitnähmen.
2 Ein weitverbreitetes Spiel bei der Ausbildung von F i i h r u n g s k r ä f t e n , das s o g e n a n n t e Postkorbspiel, v e r d e u t l i c h t dies. Der N a c h w u c h s k r a f t wird gesagt, es sei Montag und sie habe den Betriebsleiter zu ersetzen, der seine Stelle am v e r g a n g e n e n Freitag verlassen habe. Die N a c h w u c h s k r a f t erhält e i n e n Stapel B r i e f e und Notizen, die sich im Postkorb ihres Vorgängers befanden. Die Aufgabe besteht n u n darin, zu e n t s c h e i d e n , wie (und ob) man die e i n z e l n e n P u n k t e abhandeln soll, von denen sich die meisten an die Position des Betriebsleiters richten, einige jedoch a u c h an den Vorgänger persönlich und einige sowohl an die Person als a u c h an die Position.
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Körperschaftshandeln
In einer Hinsicht unterscheidet sich eine Struktur aus miteinander v e r knüpften Positionen grundlegend von einer Struktur aus miteinander verknüpften Personen, nämlich in bezug auf die Bedingung für die Existenzfähigkeit (viability) der Struktur. Gehen wir von einem Markt aus, auf dem Güter ausgetauscht werden. Beide Parteien einer beliebigen Transaktion müssen einen Gewinn erzielen, wenn die Transaktion stattfinden soll. Die Beziehung muß für beide Seiten gewinnbringend sein, oder, wie ich es ausdrücken möchte, die Beziehung muß eine wechselseitige Existenzfähigkeit (reciprocal viability) besitzen. Die Tauschhandlungen sind selbständige paarweise Beziehungen, und jegliches Ungleichgewicht in einer Beziehung muß innerhalb dieser Beziehung korrigiert werden - wenn nötig, durch Unterwerfung (deference) als ein Restguthaben. In modernen Herrschaftsstrukturen, die aus miteinander verknüpften Positionen zusammengesetzt sind, ist die wechselseitige Existenzfähigkeit jeder einzelnen Beziehung nicht erforderlich. Beispielsweise hat die Büroangestellte jedem einzelnen Aufseher gegenüber bestimmte Verpflichtungen einzulösen, doch die Verpflichtungen eines Aufsehers der Büroangestellten gegenüber müssen erstere Verpflichtungen nicht aufwiegen, und das Ungleichgewicht wird auch nicht durch ein Restguthaben an Unterwerfung ausgeglichen. Stattdessen wird die Büroangestellte Tür das Ungleichgewicht durch die Körperschaft entschädigt, denn jede Position besitzt gegenüber der Körperschaft selbst gewisse Verpflichtungen und Erwartungen. Im Grunde hat sich die moderne Körperschaft zu einer dritten Partei in den Beziehungen zwischen ihren Positionen entwickelt, womit die Notwendigkeit der wechselseitigen Existenzfähigkeit zwischen ihnen aufgehoben wird. Stattdessen wird eine unabhängige Existenzfähigkeit (independent viability) erforderlich. In einer Marktstruktur müssen beide Parteien in jeder einzelnen Beziehung einen Gewinn aus ihrer Interaktion erzielen. In einer modernen Körperschaftsstruktur ist eine Drittpartei eingeführt worden, die Soll und Haben ausgleichen soll. In einer Struktur aus η miteinander verknüpften Personen, wie bei einem Naturalientauschsystem, gibt es n(n-1)/2 mögliche Beziehungen, für die jeweils das Kriterium der wechselseitigen Existenzfähigkeit e r füllt sein muß, wenn eine Transaktion stattfinden soll. In einer Struktur mit η Inhabern von Positionen und einem "körperschaftlichen Gebilde", das in jeder Beziehung zwischen Positionen als Drittpartei fungiert, braucht es nur η existenzfähige Beziehungen zu geben. Für jede der η Personen, die bei einem Unternehmen beschäftigt sind, gilt, daß die Beziehung zwischen Arbeitnehmer und Unternehmen für das Unternehmen sowie für den Beschäftigten rentabel sein muß. Als er die Rolle des Geldes in einem Wirtschaftsmarkt beschrieb, wies Edgeworth ( l 8 8 l ) darauf hin, daß in einem reinen Naturalientauschsystem ein doppeltes Zusammenfallen von Bedürfnissen erforderlich ist. Es reicht
Die Körperschaft
als Handlungssystem
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nicht aus, daß eine Partei etwas haben möchte, das von einer anderen angeboten wird. Die erste Partei mufl als Gegenleistung nicht bloß etwas anbieten, das von gleichem Wert ist, sondern etwas, das die zweite Partei haben möchte, welche besitzt, was der ersten fehlt. Somit erfordert jede a u f t r e tende Transaktion wechselseitige Existenzfähigkeit. Dies ändert sich jedoch, wenn Geld (oder, alternativ dazu, eine zentrale Verrechnungsstelle) in das System eingeführt wird. Das für Transaktionen wichtige Kriterium der E x i stenzfähigkeit wird weniger restriktiv als die Forderung nach doppelter Ü b e r einstimmung der Bedürfnisse in einem Naturalientauschsystem. Die unabhängige Existenzfähigkeit, und zwar in bezug auf das Konto jedes einzelnen Individuums bei der Bank, ersetzt die wechselseitige Existenzfähigkeit bei jeder Transaktion - so wie die unabhängige Existenzfähigkeit die wechselseitige Existenzfähigkeit in einer formalen Organisation ersetzt. Den Unterschied zwischen dem Wegfall der Beschränkung der wechselseitigen Existenzfähigkeit in einem Wirtschaftsmarkt und ihrem Wegfall in sozialer Organisation werde ich in Kürze erörtern. Zunächst jedoch muß geklärt werden, was das Kriterium der unabhängigen Existenzfähigkeit eigentlich beinhaltet. Der Unterschied zwischen wechselseitiger und unabhängiger Existenzfähigkeit wird immer deutlicher, je größer die Sozialstruktur wird. Ein vollständiges Netzwerk von Beziehungen zwischen 4 Personen umfaßt 6 Beziehungen. Die wechselseitige Existenzfähigkeit fordert einen beiderseitigen Gewinn für alle diese Beziehungen bzw. 12 positive Konten. In einer formalen Organisation mit 4 Positionen fordert die unabhängige Existenzfähigkeit nur 4 beiderseitig gewinnbringende Beziehungen Oßweils zwischen der O r ganisation und den einzelnen 4 Personen, die die Positionen besetzen) oder 8 positive Konten. In einem Naturalientauschsystem, in dem alle Beziehungen zwischen 25 Personen aktiviert sind, müssen 300 beiderseitig gewinnbringende Beziehungen (25 χ 2 4 / 2 ) existieren, gemeinsam mit 2 positiven Saldos fur jede Beziehung bzw. 600 positive Saldos. In einer formalen Organisation wird dies auf 25 Beziehungen mit 2 positiven Saldos für jede bzw. insgesamt 50 positiven Saldos reduziert. Das Kriterium für unabhängige Existenzfähigkeit entspricht genau dem, was Barnard (1938) für die Existenzfähigkeit eines Unternehmens als notwendig spezifiziert hat - einem Gleichgewicht von Leistungsanreizen und Beiträgen. Die Leistungsanreize müssen für jeden Arbeitnehmer von größerem Wert sein als das, was er aufgeben muß, um weiter angestellt zu bleiben, und die Beiträge des Arbeitnehmers müssen für das Unternehmen von größerem Wert sein als das, was das Unternehmen ihm als Leistungsanreize bieten muß. Das Kriterium kann jedoch schwächer sein als ein Kriterium, das die unabhängige Existenzfähigkeit von η Beziehungen fordert. Da sich auf einer
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Körperschaftshandeln
Seite der Beziehungen immer ein und derselbe Akteur, die Körperschaft, b e findet, kann er seine Verluste aus einigen der η Beziehungen mit Gewinnen aus anderen wettmachen. Erforderlich ist nur eine einzige Bilanz, die einen Profit aufweist, und nicht eine positive Bilanz für jeden Arbeitnehmer. Es sind lediglich 26 positive Saldos notwendig - jeweils einer für die Arbeitnehmer und einer für die Globalbilanz der Körperschaft. Ich werde dieses schwächere Kriterium als globale Existenzfähigkeit (global viability) b e zeichnen. Es beinhaltet, daß jeder einzelne Arbeitnehmer Leistungsanreize erhält, die für ihn von größerem Wert sind als Zeit und Mühen, die er opfert - wie im Falle der unabhängigen Existenzfähigkeit - und daß die Körperschaft Beiträge erhält, die zusammengenommen für sie von größerem Wert sind als das, was sie an Löhnen und Gewinnen aufgeben muß, um so ihre Existenzfähigkeit zu sichern.
Die Gefahren
der globalen
Existenzfähigkeit
Globale Existenzfähigkeit verschafft einer Körperschaft eine viel stärkere Flexibilität, denn wenn die Körperschaft aus η Positionen besteht, die mit η Individuen besetzt werden müssen, müssen nur η Beziehungen dem Kriterium der unabhängigen Existenzfähigkeit genügen, und da die Körperschaft an allen beteiligt ist, kann sie Verluste in einer Beziehung mit Gewinnen in einer anderen ausgleichen und so eine globale Existenzfähigkeit erreichen. Doch dabei besteht eine Gefahr für die Körperschaft, denn wenn besonders ertragreiche Beziehungen (d.h. besonders wertvolle Beitragsleistende) keinen Überschuß erzielen, verliert das gesamte System seine Existenzfähigkeit. Wenn der Überschuß, den einige Arbeitnehmer produzieren, individuellen Merkmalen zuzuschreiben ist und wenn ein Markt für die Dienstleistungen existiert, die diese Individuen bereitstellen, dann ist es wahrscheinlich, daß sie gewinnbringendere Angebote von anderen Arbeitnehmern erhalten und das Unternehmen verlassen, womit der Körperschaft ihre Existenzfähigkeit entzogen wird.
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Wenn die einzige Kompensation fur Individuen in Geld besteht und sich alle ihre Beiträge in finanzieller Hinsicht messen lassen, wird die Bezahlung jedes einzelnen Individuums gemäß seines marginalen Beitrags diese Gefahr von der Körperschaft abwenden, indem wieder eine unabhängige Existenzfähigkeit eingeführt wird. Zu dieser Lösung gelangt die ökonomische Theorie (siehe Hicks 1957 [1932]). In einem solchen Falle wird der Körperschaft die Fähigkeit zugeschrieben, die Kompensation jedem einzelnen Arbeitnehmer anzupassen, so daß sie dem marginalen Beitrag dieses Arbeitnehmers fur die Körperschaft entspricht. Wenn jedes Individuum einen diesbezüglichen Lohn e r h ä l t , e r h ä l t es zugleich einen m a r k t g e r e c h t e n Lohn, der
sicherstellt,
daß
Die Körperschaft als Handlungssystem
139
es anderswo kein besseres Angebot bekommt, solange nicht ein anderer Arbeitnehmer von seinen Dienstleistungen mehr profitieren würde. Doch die Voraussetzungen, die dieser Lösung zugrunde liegen, werden in der Praxis selten angetroffen. Für die Körperschaft ergeben sich Schwierigkeiten in dreierlei Hinsicht: Erstens besteht nicht jegliche Kompensation in einer disjunkten Herrschaftsstruktur aus einer geldlichen Entlohnung (in manchen Körperschaften ist dies gar nicht der Fall). Zweitens ist es wegen der Interdependenz von Tätigkeiten und weil die Tätigkeit vieler Arbeitnehmer hauptsächlich in der Überwachung eines Produktionsprozesses besteht, oft schwierig, den marginalen Beitrag jedes einzelnen Akteurs zu bestimmen. Und drittens ist das Unternehmen aufgrund von Tarifverhandlungen (und anderer sozialer Beschränkungen) nicht befugt, jedem Arbeitnehmer einen Betrag zu zahlen, der seinem marginalen Beitrag entspricht.
Alternativen zu globaler
Existenzfähigkeit
In Organisationen sind zahlreiche Möglichkeiten entwickelt worden, die Existenzfähigkeit auf andere Art und Weise zu gewährleisten. Drei dieser Möglichkeiten lassen sich als bereichsspezifische Existenzfähigkeit, vorwärts gerichtete Kontrolle und rückwärts gerichtete Kontrolle bezeichnen. Ich werde sie nacheinander kurz vorstellen.
BEREICHSSPEZIFISCHE EXISTENZFÄHIGKEIT Eine Praxis der Unternehmensfuhrung von Großunternehmen, die zuerst von General Motors und Du Pont in den dreißiger Jahren entwickelt wurde, ist die Schaffung von Bereichen, die alle ihre Produkte vor dem Unternehmen rechtfertigen müssen, das anschließend entscheidet, ob es ihnen die betreffenden Produkte "abkauft" (siehe Chandler 1962). Die wichtigste Neuerung hierbei war die teilweise Einführung des Marktes in das Unternehmen, indem der Markt außerhalb des Unternehmens als ein Maßstab für die Wettbewerbsfähigkeit der Bereiche innerhalb des Unternehmens herangezogen wurde. Eine Erweiterung dieser Praxis war die Einführung von innerbetrieblichen Verrechnungspreisen. Jeder Bereich innerhalb des Unternehmens "verkauft" seine Dienstleistungen oder Produkte an andere Bereiche des Unternehmens. Falls eine Möglichkeit gefunden wird, für jedes Produkt oder jede Dienstleistung einen Marktpreis festzulegen, erlaubt ein solches Vorgehen dem Unternehmen, den Beitrag jedes einzelnen Bereichs für das Unternehmen zu bestimmen und ihn mit den Kosten dieses Bereichs zu vergleichen. So wird es möglich, globale Existenzfähigkeit durch bereichsspezifische Existenzfähigkeit zu ersetzen, was der globalen Existenzfähigkeit jedes einzelnen Bereichs entspricht. (Manch-
140
Körperschaftshandeln
mal ist die Einführung von Verrechnungspreisen nur ein Buchführungsbehelf, um die Leistung der einzelnen Bereiche berechnen zu können. In anderen Fällen werden die Budgets der einzelnen Bereiche teilweise durch ihre innerbetrieblichen Gewinne oder Verluste bestimmt. Natürlich bedeutet nur letzteres eine Wandlung von globaler zu bereichsspezifischer Existenzfähigkeit.) Innerhalb eines Bereichs kann die Praxis der Verrechnungspreise die Bestimmung von Abteilungsbeiträgen und damit der Existenzfähigkeit der Abteilungen ermöglichen. Im Prinzip können die Verrechnungspreise bis zur Ebene des Individuums fortgeführt werden. Bei einigen Tätigkeiten in manchen Unternehmen geschieht dies anhand der Zahlung von Lohnanteilen als Prämien, wobei die Höhe der Prämie auf einer Beurteilung des individuellen Beitrags beruht. Damit nähert man sich der oben beschriebenen Lösung, die Kompensation dem marginalen Beitrag des Arbeitnehmers anzupassen. 3 Eine gravierende Schwäche der bereichsspezifischen Existenzfähigkeit b e steht in der Schwierigkeit, angemessene Verrechnungspreise für Güter und Dienstleistungen festzulegen, für die kein externer Marktpreis als Maßstab existiert (siehe Eccles und White 1986, die dieses Problem erörtern). Eine zweite Schwäche scheint zu sein, daß - außer fur die zentrale Unternehmensleitung - kein Anreiz besteht, einen betriebsinternen Kontenbestand einzurichten und aufrechtzuerhalten. Der Anreiz für die zentrale Unternehmensleitung besteht hier in der Notwendigkeit, die Leistung verschiedener Einheiten des Unternehmens berechnen zu können. Dieser Anreiz gilt jedoch nicht für diese Einheiten, solange sie nicht aufgrund ihrer Leistung sanktioniert werden, indem sie einen Gewinn- oder Verlustanteil dessen, was sie dem Unternehmen als ganzes verschaffen, erfahren.
VORWÄRTS G E R I C H T E T E KONTROLLE
Das
klassische
Mittel
zur
Ge-
währleistung der Existenzfähigkeit ist die Ausübung von Herrschaft über die Handlungen der Arbeitnehmer, von der höchsten Autorität im Unternehmen nach unten. In einem solchen System wird die Existenzfähigkeit bestimmt durch eine Rückkoppelungsschleife, die vom Endprodukt zurück zum Ausgangspunkt des Prozesses, der höchsten Autorität, führt. Auf der Grundlage dieser Rückkoppelung werden Veränderungen in das System eingeführt, um die Existenzfähigkeit zu erhöhen, wobei die Herrschaft weiterhin von oben nach unten ausgeübt wird. Wenn beispielsweise von Kunden Mängel an ei-
3 Frank (1985. S. 80-98) argumentiert jedoch Uberzeugend, daß auf Leistung basierende Lohnsysteme stark von der Tatsache beeinflutt werden, daA Arbeiter ihre Löhne in Relation zu anderen am selben Ort bewerten. Dies wlirde verhindern. daA sich Leis t u n g s l ö h n e d e m L o h n a n n ä h e r n , d e r der G r e n z p r o d u k t i v i t ä t
entspricht.
Die Körperschaft
als Handlungssystem
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nem Produkt entdeckt werden, findet eine Rückkoppelung zum Unternehmen als Einheit statt, die dann bis zu der Stelle hinunter übermittelt wird, an der der Mangel seinen Ursprung hatte. Dies läßt sich als vorwärts gerichtete Kontrolle bezeichnen, weil es sich um eine Kontrolle von Handlungen handelt. In einem Produktionssystem produzieren Handlungen zum Zeitpunkt t Ergebnisse zum Zeitpunkt