Grabbe und die Dramatiker seiner Zeit: Beiträge zum II.Symposium der Grabbe-Gesellschaft 1989 [Reprint 2015 ed.] 9783110949445, 9783484106574


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German Pages 253 [264] Year 1993

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Grabbe – ein Übergangsphänomen der Literaturgeschichte ?
Zur Tradition des barocken Trauerspiels bei Grabbe und Hebbel
Grabbe von Lenz her zu verstehen
Grabbes ›kritische‹ Liebe zu Shakespeare
Der Tod des Menschen
Grabbe und Tieck
Grabbe und das zeitgenössische Volkstheater
Komik des Niedrigen
Die Französische Revolution als Schauspiel
Grabbe und Büchner
Poetische Entparadoxierung:
Grabbe und das Junge Deutschland
Zur Bedeutung des Willens im Drama Grabbes
Don Juan und Faust
Grabbe im Schulunterricht
Am Symposium »Grabbe und die Dramatiker seiner Zeit« waren beteiligt
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Grabbe und die Dramatiker seiner Zeit: Beiträge zum II.Symposium der Grabbe-Gesellschaft 1989 [Reprint 2015 ed.]
 9783110949445, 9783484106574

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Detlev Kopp / Michael Vogt (Hgg.) Grabbe und die Dramatiker seiner Zeit Symposium 1989

Grabbe und die Dramatiker seiner Zeit Beiträge zum II. Internationalen Grabbe-Symposium 1989

Im Auftrag der Grabbe-Gesellschaft herausgegeben von Detlev Kopp und Michael Vogt unter Mitwirkung von Werner Broer

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1990

Diese Publikation förderten der Kultusminister des Landes NRW (durch den Regierungspräsidenten in Detmold), der Bundesminister des Innern (durch die Kulturstiftung der Länder nach der Befürwortung durch die AG Literarischer Gesellschaften), der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, der Landesverband Lippe, die Stiftung Volkswagenwerk, die Lippische Landesbrandversicherungsanstalt und die Hermannsdenkmal-Stiftung.

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Grabbe und die Dramatiker seiner Zeit: Beiträge zum II. Internationalen Grabbe-Symposium 1989 / im Auftr. d. Grabbe-Ges. hrsg. von Detlev Kopp u. Michael Vogt. Unter Mitw. von Werner Broer. Tübingen: Niemeyer, 1990 NE: Kopp, Detlev [Hrsg.]; Internationales Grabbe-Symposium ISBN 3-484-10657-3 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1990 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Typo Bauer, Ostfildern Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Inhalt

Vorwort

VII

Michael Vogt (Bielefeld) Grabbe - ein Übergangsphänomen der Literaturgeschichte?

.

i

Ralf Schnell (Tokyo) Zur Tradition des barocken Trauerspiels bei Grabbe und Hebbel

11

Martin Rector (Hannover) Grabbe von Lenz her zu verstehen

26

Peter Hasubek (Braunschweig) Grabbes >kritische< Liebe zu Shakespeare. Der Essay »Über die Shakspearo-Manie« als Antwort auf die Shakespeare-Rezeption in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts

45

Raimar Zons (Paderborn) Der Tod des Menschen. Von Kleists »Familie Schroffenstein« zu Grabbes »Gothland«

75

Ernst Ribbat (Münster) Grabbe und Tieck. Notizen zu einem Mißverständnis

.

.

.

103

Jürgen Hein (Münster) Grabbe und das zeitgenössische Volkstheater

117

Hans-Georg Werner (Halle-Wittenberg) Komik des Niedrigen. Zu Grabbes »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung«

135

Inhalt

Maria Porrmatm (Köln) Die Französische Revolution als Schauspiel

149

Lothar Ehrlich (Weimar) Grabbe und Büchner. Dramaturgische Tradition und Innovation

169

Harro Müller (Bordeaux) Poetische Entparadoxierung. Anmerkungen zu Büchners »Dantons Tod« und zu Grabbes »Napoleon oder Die hundert Tage«

187

Roy C. Cowen (Ann Arbor) Grabbe und das Junge Deutschland

202

Herbert Kaiser (Duisburg) Zur Bedeutung des Willens im Drama Grabbes

217

Hiltrud Gnüg (Bonn) Don Juan und Faust. Christian Dietrich Grabbe »Don Juan und Faust« - Théophile Gautier »La Comédie de la Mort« .

.

232

Werner Broer (Detmold) Grabbe im Schulunterricht. Zusammenfassung der Ergebnisse des fachdidaktischen Forums

245

Verzeichnis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer

252

Vorwort

Der vorliegende Band vereinigt die überarbeiteten Referate des II. Internationalen Symposiums der Grabbe-Gesellschaft: Grabbe und die Dramatiker seiner Zeit, das vom 13. bis 16. September 1989 in der Lippischen Landesbibliothek in Detmold stattfand. Hatten während des I. Grabbe-Symposiums, 1986, im 150. Todesjahr des Dramatikers, seine Einzelwerke und Probleme einer Grabbe-Biographie im Mittelpunkt gestanden, verfolgte diese zweite Tagung das Ziel, Grabbes Bühnenstücke im Vergleich zu anderen Dramen seiner Zeit zu diskutieren und damit zu einer übergreifenden Auseinandersetzung mit der Dramenliteratur in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts beizutragen. Ein übergeordnetes Anliegen der Tagung war es, den literarhistorischen Topos, Grabbe sei ein Sonderfall der deutschen Dramengeschichte, einer kritischen Revision zu unterziehen und so die Stellung dieses Autors in der Entwicklung der Gattung präziser zu bestimmen. Dazu war es erforderlich, auch über den Rahmen des zeitgenössischen Dramas hinauszugehen, um aszendente wie deszendente Traditionslinien, aber auch Brüche einer solchen Gattungstradition, ja: bewußte Verstöße gegen die tradierte Gattungsnorm aufzeigen zu können. Die Anordnung der Beiträge folgt systematischen Überlegungen — sie folgt im wesentlichen der literaturgeschichtlichen Chronologie — und entspricht daher nicht dem Tagungsprogramm, das aus organisatorischen Gründen eine andere Abfolge vorsah. Der Band enthält neben den Referaten des Symposiums ein Resümee des didaktischen Forums, das, unter der Leitung von Werner Broer, Stellenwert und methodische Fragen der Behandlung des nachklassischen Dramas - unter besonderer Berücksichtigung Grabbes - im gymnasialen Unterricht diskutierte. Ohne die finanzielle Unterstützung zahlreicher Institutionen wäre es der Grabbe-Gesellschaft nicht möglich gewesen, bereits drei Jahre nach der ersten Tagung ein zweites Symposium zu realisieren. Zu danken ist

Vorwort

dem Land Nordrhein-Westfalen, dem Landesverband Lippe, der Stadt Detmold, der Stiftung Volkswagenwerk, der Hermannsdenkmals-Stiftung, der Arbeitsgemeinschaft literarischer Gesellschaften Deutschlands und der Lippischen Landes-Brandversicherungsanstalt. Zu danken ist ferner der Lippischen Landesbibliothek, die den angenehmen Tagungsraum zur Verfügung stellte, und der Geschäftsführerin der Grabbe-Gesellschaft, Frau Erika Brokmann, die viel zur Vorbereitung und zum erfolgreichen Verlauf des Symposiums beigetragen hat. Bielefeld, im Februar 1990 Detlev Kopp Michael Vogt

Michael Vogt

Grabbe — ein Übergangsphänomen der Literaturgeschichte ?

Literaturgeschichtsschreibung ist, wie jede Sparte der Historiographie, die über reine Regestensammlung hinausgelangen will, unabwendbar mit Zäsurierung verbunden — und mit all den theoretischen Problemen der Epochenabgrenzung sowie mit praktischen Entscheidungen der Zuschreibung und Subsumption einzelner Elemente innerhalb eines solchen Fachwerks a priori mehr oder minder voluntaristisch zu setzender Koordinaten. Dabei ist freilich nicht zu verkennen, daß Traditionen innerhalb der Historiographie, die Autorität der Lehrmeinungen, der Konsens der Fachgelehrten einer Epoche Abhängigkeiten und damit: Verbindlichkeiten schaffen; virulent wird eben die Normativität des Faktischen auch hier1. Das hier angesprochene altbekannte Problem erfahrt beim Sonderfall Grabbe< eine besondere Zuspitzung, deshalb soll v. a. nicht nur auf die zeitgenössische Rezeption, sondern auch auf die spätere literarhistorische Praxis (als speziellen Sektor der Rezeptionsgeschichte) ein Blick geworfen werden, der längst nicht alle Facetten erfaßt, sondern vielmehr als grobe Skizze zu verstehen ist. Die zeitgenössische Rezeption: sie ist akribisch dokumentiert in Alfred Bergmanns sechsbändiger Kompilation Grabbes Werke in der sgigenössischen Kritik1. Bei der Lektüre wird deutlich, daß Grabbes Produktionen unter dem Titel Dramatische Dichtungen (1827) in der Literaturkritik auf ein rigides, erstarrtes literarisches Normensystem treffen, das sich, wie später Wilhelm Scherer, auf die Weimarer Klassik als Gipfelpunkt der Nationalliteratur beruft und das den Keim des Zerfalls bereits in sich trägt: Mangels inhaltlicher Wertkategorien schiebt man — in Kenntnis der sozialpsychologischen Konstellationen dieser Zeit nicht ver1

'

Die geschichtsphilosophischen und politischen Implikationen der Literaturgeschichtsschreibung, damit auch der Epochenzäsurierung, entfeitet die kürzlich erschienene Studie von Jürgen Fohrmann: Das Projekt der Deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich, Stuttgart 1989. Grabbes Werke in der zeitgenössischen Kritik. Im Auftrage der Grabbe-Gesellschaft herausgegeben von Alfred Bergmann, Bd. 1 - 6 , Detmold 1958-1966.

z

Michael Vogt

wunderlich - Äußerlichkeiten von tränentreibender Banalität in den Vordergrund, und man wäre beinahe versucht, dem Literaturschulmeister Gottsched einen Satz wie diesen zuzuschreiben, der im Berliner Conversationsblatt v. 25. Febr. 1828 zu Marius und Sulla abgedruckt wurde: »Jene feste Haltung des Dramas, die alles Ueberflüssige vermeidend, mit ernstem Gange nur das Nothwendige anspricht und darstellt, fehlt durchaus. Um einen bedeutenden Charakter einzuführen, braucht Hr. Grabbe zu viele Nebenfiguren, die müßig um jenen herumspielen.«'

Besonders Grabbes respektlos-legerer Umgang mit der Sprache seiner Helden, v.a. die Preisgabe des Blankverses, ist den zeitgenössischen Rezensenten ein Dorn im Auge: »Dem Kothurn der Gesinnung gebührt der Kothurn der Sprache. Wenn Hr. Grabbe das Tiefste und Bedeutendste in gemeiner Prosa ausspricht und gleich darauf einen Diener in Versen reden läßt, so müssen wir ihm allerdings, bis er uns durch die That eines Besseren belehrt, das plastische Talent des Künstler's absprechen und dürfen wenig mehr als Anlagen von ihm erwarten.«4

urteilt das Berliner Conversationsblatt den jungen Dramatiker ab, und bei der Besprechung des >Barbarossa< gehen die >Blätter für literarische Unterhaltung< mit ihm noch weit schärfer ins Gericht: »Ausdruck und Styl sind vernachlässigt, überspannt und ungleich; seine Verse, wenn solche willkürlich abgetheilten, von Hiatus und widernatürlichen Elisionen wimmelnde Zeilen noch Verse genannt werden können, rauh, holpricht und übelklingend.«'

Näheres zur Rezeptionsgeschichte ist in meiner Darstellung von 1983 nachzulesen6; festhalten läßt sich jedenfalls anhand der hier ausgewählten Zitate, daß Grabbes Schreibart und die herrschende Dramennorm von Anfang an nicht miteinander harmonisierbar sind. Grabbe führt sich als Außenseiter, als enfant terrible in die Literatur seiner Zeit ein. Einige literarische Autoritäten lassen allerdings in Nebensätzen erkennen, daß sie von Grabbes Eigenwilligkeiten durchaus fasziniert sind. Zwar stehen sie fraglos auf dem Boden der geltenden Regelpoetik, dennoch sind sie auf der anderen Seite bereit, Grabbes Dramen den Status > Berliner Conversations-Blatt v. 19. Febr. 1828 (Anm. 2, Bd. 1 S. 71). < Ebda. ' Anm. 2, Bd. 3, S. 65 6 Michael Vogt: Literaturrezeption und historische Krisenerfahrung. Die Rezeption der Dramen Christian Dietrich Grabbes 1827-194;, Frankfurt/M./Bern 1983. Vgl. ebenfalls Lothar Ehrlich: Christian Dietrich Grabbe. Leben und Werk, Leipzig 1986.

Grabbe - ein Übergangsphänomen der Literaturgeschichte?

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einer Ausnahme von der Regel zuzugestehen. Damit konzedieren sie freilich, daß die herrschende Dramennorm hinter ihrem Rücken bereits einiges an Unbedingtheit und Wirkungsmächtigkeit eingebüßt hat. Am augenfälligsten formuliert diese sich ankündigende Auflösung der Norm Wolfgang Menzel in seiner Rezension zu Don Juan und FaustTitus AndronikusNarren< verfängt die Travestie nicht; die ironischen Anspielungen (z.B. an Teil I/i) werden nicht erkannt; wegen zahlreicher >Unmotiviertheiten< fallen die Rezensenten über das Stück her, ganz als wäre es ernst gemeint. Auch wenn ScherIronie und tiefere Bedeutung in unserem Jahrhundert Grabbes >Erfolgsstück< wurde (soweit man bei ihm von Erfolg reden kann) und Nannette und Maria bis heute im Dornröschenschlaf wuchernder Mißverständnisse versunken ist - entzünden können sich die Gemüter der Zeitgenossen allein am Gothland, der dicht, so dicht an der Gattungsnorm vorbeigeschrieben ist, daß man allgemein in Grabbe ein junges Talent erblickt, dessen >Most erst ausbrausen< müsse, dessen gedruckten Erstling man aber immerhin ernst genug nimmt, um sich weidlich zu entrüsten. » Rheimsch-Westphälischer Anzeiger v. 9. Jan. 1828 (Anm. 2, Bd. 1, S. ;o). Grabbe an Kettembeil, in: Christian Dietrich Grabbe. Werke und Briefe, 6 Bde. hrsg. v. Alfred Bergmann, Emsdetten 1960-1973, Bd. ; S. 284.

Grabbe - ein Übergangsphänomen der Literaturgeschichte?

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Mit Marius und Sulla findet Grabbe zu seinem eigentlichen Arbeitsfeld, dem Geschichtsdrama. Was die Zeitgenossen monieren, ist wiederum der Mangel dramaturgischer Bündigkeit sowie das unvermittelte - ironische — Abgleiten vom weltgeschichtlichen Tragödienstoff in seiner hehren Erhabenheit in die Niederungen situativer Komik. >Unpassend< erscheint ihnen u. a. der lakonische Vorschlag Marius' an seine Gattin, sich auf ein Landgut in Cumae zurückzuziehen und mit den errungenen Siegeslorbeeren die Suppe zu würzen - die unheroisch-kulinarische Zweckentfremdung des Symbols für Ruhm und Ehre erscheint ihnen als Sakrileg. Sie sehen die tragische Fallhöhe des Tragödienhelden gefährdet, wenn dieser in den Niederungen allzu alltäglicher Küchenangelegenheiten hinabsteigt — Bürgerkrieg und Bouillon sind in ihren Augen unvereinbar. Aber nicht nur gegen das Verdikt der Dezenz verstößt Grabbe mit dieser Dramenskizze, sondern, indem er die Handlung in der Gegend von Karthago beginnen läßt, schon (in beiden Fassungen) in der zweiten Szene des Stückes ins mittelgriechische Böotien, nämlich ins Lager des Mithradates, wechselt, dann nach Etrurien, um schließlich nach Rom zu gelangen, setzt er sich über das Gebot der Einheit des Ortes achtlos hinweg. Ebenso respektlos mißachtet er die 24-Stunden-Frist, stattdessen setzt er Simultaneitäten und Zeitsprünge, so daß auch die Forderung, eine Handlung habe sich direkt aus der vorhergehenden zu entwickeln, nicht einhalten läßt. Kunstbegriffe wie Teichoskopie und Botenbericht als Notbehelfe, außerhalb der Szene Geschehens einzubeziehen, kommen bei Grabbe folgerichtig kaum vor. Die Fesseln der klassischen Einheiten streift er ab, um die Einheit der Geschichte — als Vielheit der Interessen und Machtpotentiale - auf die Bühne zu bringen. Die atektonische Form ist in Grabbes erstem Historiendrama bereits in weiten Teilen angelegt, die heilige Kuh der drei Einheiten ist, zum Ärger ihrer Hüter, bereits zur Schlachtbank geführt. Lassen wir Don Juan und Faust einmal beiseite, weil Grabbe 1. um der Bühnenadäquanz willen sich weitgehend der herrschenden Regelpoetik beugt, 2. hier nicht die >realistische< Darstellung von Geschichte im Vordergrund steht, ihm hier vom Sujet her also Konvenienz leichterfällt, so tritt bei näherer Betrachtung der Staufendramen ein qualitativer Sprung in der werkbiographischen Entwicklung Grabbes zutage - immerhin sind ja auch seit Marius und Sulla etliche Jahre vergangen. So ist dort mit der Fischerszene - Alltäglichkeit, in die plötzlich Weltpolitik einbricht - das einfache Volk sich zwar bereits seiner Ohnmacht bewußt (»Wir haben ein kleines Dasein, und wenn sie sich um uns bekümmern, so geschieht es,

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Michael Vogt

um uns zu unterdrücken; wir können nichts tun als auf die Seite zu springen, wenn die Großen fallen«"), dennoch aber ist die dramatis persona >Volk< nach dem herkömmlichen Repräsentationsprinzip dargestellt: Nicht das Kaleidoskop der Meinungen (wie etwa bei der Marktszene in Karthago oder der Eröffnungsszene des Napoleon) gibt Volkes Stimme wieder, sondern zwei einzelne Repräsentanten, der Fischer, Angehöriger eines archaischen Berufs, und seine Frau. Nur an einzelnen Stellen sind dem Auftritt der Mächtigen kurze >Stimmungsbilder< vorgeschaltet. Im Barbarossa dagegen gibt es ausführliche Heerlagerszenen in der Art von Wallensteins Lager. Als weiteres neues Element kommt die Ausweitung des Personenregisters hinzu: 34 Figuren statt bis dahin maximal 17; in Heinrich VI. steigt die Zahl der namentlichen Genannten auf 65. Mit diesem Drama weicht Grabbe des weiteren erstmals in der Weise von der Dezenzvorschrift ab, daß auch Standespersonen nicht ausschließlich im Blankvers reden, und umgekehrt einfache Soldaten angesichts des eigenen Todes in den Jambus, obendrein gereimt, verfallen. Grabbe verwendet also die Versifikation nicht konventionell, sondern als bewußt eingesetztes und einsetzbares autonomes Gestaltungsmittel. Zugleich breitet sich das >Volk< aus: Die Szene >Küste in Ostfriesland (II/3), die Bardewick-Szene (II/4), der Anfangsdialog zwischen Christoph und Wehrfried im Vorsaal des Welfenschlossen (III/2) und schließlich die Hirtenszene (IV/2), letztere freilich wieder dem Repräsentationsprinzip folgend, sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Anstelle des >Soldaten< sind hier auch erstmals >Heere< im Personenregister verzeichnet, dem letzten übrigens, das von Grabbe selbst erstellt wurde. In der Herrmannschlacht endlich wird er beim Schreiben ganze Völkerscharen vor Augen haben Die bisher aufgezählten Elemente einer zunehmenden Abkehr von der regelhaften Tektonik werden in den drei letzten Produktionen fortgeführt und z.T. in Extreme gesteigert. So umfaßt das Personenverzeichnis zu >Napoleon< rund 150 Akteure. Hinzu kommt, daß der Blankvers endgültig der Prosa weichen muß, auch wenn dem Dramatiker die gebundene Sprache für das Hannibal-Thema zunächst doch wieder geeigneter erscheint. Zusammen mit dem Blankvers gibt Grabbe auch für seine Texte den Begriff >Tragödie< preis, und bei Hannibal und der Hermannschlacht sind die Akte, ähnlich den Kapiteln eines Romans, mit Überschriften versehen - auch rein äußerlich erweist sich hier eine konsequente Entwicklung zur Episierung der dramatischen Form. "

Marius und Sulla, in: Grabbe: Werke und Briefe (Anm. 10), Bd. 1 S. 344.

Grabbe — ein Übergangsphänomen der Literaturgeschichte?

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Die einzelnen Phasen in Grabbes werkbiographischer Entwicklung ließen sich gewiß noch differenzierter und aspektreicher darstellen. Deutlich aber ist auch so bereits festzustellen, daß Grabbes Schreiben gegen die Norm anfangs noch relativ eng an dieser Norm selbst orientiert ist (Gothland, Marius und Sulla), am Schluß aber eine eigenständige, höchst eigenwillige Vorstellung von der Ästhetik des Dramas steht (Napoleon, Hannibal, Hermannschlacht). Der Weg dorthin ist als gerade Linie von Übergängen, von Weiterungen nachzuzeichnen, als Summierung immer neuer ästhetischer Mittel, quasi als Prozeß literarischen Experimentierens mit dem Ziel, historischen Strukturen, Prozessen und Exponenten auf eine Art und Weise zum Wort zu verhelfen, die sich nicht auf fürstliche Kabinette beschränken kann. Personalistische Geschichtskonzepte freilich, wie sie auch das Historiendramen produzierende Biedermeier favorisiert, kommen ohne weiteres mit Spiegelsälen als Kulisse aus. Grabbe muß nach neuen dramaturgischen Formen suchen, wenn er sein Konzept von Geschichte realisieren will, ein Konzept, das, entsprechend seinen historischen Standort, etwa gleich weit von Personalisierung und dem späteren Primat des Klassenantagonismus entfernt ist und seinerseits einen Übergang historischer Wahrnehmung darstellt. Grabbes Begriff von Geschichte und ihren Antriebskräften ist seinerseits geprägt von der Herrschaftsführung Napoleons: Der Korse, der nicht kraft Tradition legitimiert ist, sich nicht auf ererbte Rechtstitel und Besitzansprüche berufen kann, die seine Herrschaft rechtfertigen könnten, ist stattdessen auf die Zustimmung des Volkes angewiesen. Seine Tüchtigkeit^ die er immer wieder in erfolgerichen Eroberungsfeldzügen unter Beweis stellen muß, ist auch dann noch die reale Basis seiner Macht, als er sich selbst zum >Kaiser der Franzosen< ernennt, um sich auf diese Weise vom Stigma des Emporkömmlings unter den Herrschern Europas zu befreien, die ihm ungeachtet seiner Machtfülle und trotz Einheirat in die Habsburger Dynastie nur als einen armen Verwandten betrachten. Seine Machtbasis ist und bleibt, im Unterschied zu den übrigen Potentaten des Kontinents, einzig das Volk der Franzosen. Auch wenn die Macht des Empereurs in dieser Hinsicht äußerst labil und relativ ist, weiß er sie dennoch wohl zu gebrauchen. Das fragwürdige Diktum von den M ä n nern, die die Geschichte machenFähnlein am Mäste der Revolution hätte — der verstohlene kontrafaktische Seitenblick sei an dieser Stelle ausnahmsweise gestattet — die ihm zuwachsende Machtfülle in zumindest graduell und partiell abweichender Weise genutzt. Ein cäsarischer Volkstribun, ein Monarch von Volkes Gnaden — diese Form der Machtausübung bestimmt am Ausgang der Französischen Revolution mit Napoleon den Übergang vom Absolutismus zu einer verfaßten Staatsgewalt, die vom Volk ausgeht. Diese intermediäre Form der Macht, konzentriert auf eine einzelne Person und zugleich modern-bürgerlich legitimiert, ist für Grabbe ein Faszinosum. Immer wieder sucht er derartige Exponenten des Volkswillens in der Geschichte auf, beginnend mit Marius bis hin zu Kosciusko, um diese für seine Zeit neuartige Machtkonstellation im Drama zu repräsentieren, und zwar, verständlicherweise und dem neuartigen Gegenstand angemessen, mit neuen, unkonventionellen Mitteln. Grabbes Zeitgenossen haben die Wirklichkeit des beginnenden 19. Jahrhunderts in anderen biographischen Brechungen erlebt und verarbeitet. Beim II. Internationalen Grabbe-Symposium standen Grabbes Beziehung zur Dramentradition, wie sie Anfang des 19. Jahrhunderts vorzufinden war, und das literarische Umfeld, wie es sich in den knapp zwei Jahrzehnten seiner literarischen Aktivität entwickelte, im Vordergrund. Z u fragen war, in welchem historischen, literarischen und theaterpraktischen Bezugsrahmen Grabbes Produktionen zu sehen sind, um ihre literarische Qualität, das Maß der von ihnen ausgehenden Innovation und damit: seine Stellung in der Literaturgeschichte angemessen und begründet einzuschätzen. Grabbe steht inmitten einer Fülle der Traditionen, sowohl in der Aszendenz als auch in der Deszendenz. Ihn als monolithischen >Sonderfall< zu stilisieren oder zu stigmatisieren — so noch Sengle 1971 in Biedermeierzeit - wäre sicherlich im Sinne meiner Fragestelltung völlig verfehlt: Nicht nur, weil voraussetzungslose Literaturproduktion denkunmöglich ist, sondern nicht zuletzt auch deshalb, weil Grabbe, wie wir von Alfred Bergmann wissen, zu denjenigen gehörte, die ganze Büchergebirge bewältigt haben. Auch seine vielfältigen Wirkungen auf Spätere, die Impulse, die von ihm für das moderne Drama bis hin zur Gegenwart ausgehen, wird niemand ernsthaft bestreiten wollen. Dennoch hat es immer wieder Verfasser literaturgeschichtlicher Darstellungen gegeben, die mit ihm, wie Scherer, nichts Gescheites anzufan-

Grabbe - ein Übergangsphänomen der Literaturgeschichte?

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gen wußten und in ihrer Epochenzäsurierung deshalb ein Extrakapitel einschalteten, etwa unter dem Titel >Von der Romantik zum Realismus< (Heinrich Spiero), in dem kaum mehr als Grabbes Dramen abgehandelt wurden. Ähnlich ist auch die Formulierung von Adolf Stern zu verstehen, dem Grabbe als »ein Poet« gilt, »der zwischen den Ausartungen der Romantik und dem unklaren Trieb nach dem Neuen in der Mitte stand«12. Will ein Literarhistoriker solch unliebsame, weil diffuse Restkategorien vermeiden - und welcher Autor, welches sprachliche Kunstwerk von einiger Qualität hätte nicht seine ganz singulären Züge? - so kommt er nicht umhin, bei Grabbe eine problematische, womöglich dezisionistische Entscheidung zu treffen, der seine eigene ästhetische Wertung zugrundeliegt — und zwar so unübersehbar wie bei kaum einer anderen Epochengrenze. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist, daß es kein Problem bereitet, Tieck eindeutig der Romantik, Büchner und Hebbel hingegen ebenso eindeutig dem Realismus zuzuordnen. Wo Grabbe wegen seines Hanges zum >epater le bourgeois< von vornherein stigmatisiert und, vermittelt über seine Biographie, in seiner literarischen Leistung kurzerhand abqualifiziert wurde (die Rede ist vor allem von den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts), ist zu beobachen, daß die Beurteilung der werkbiographischen Entwicklung hier offenbar den Ausschlag gibt: Diejenigen Verfasser von Literaturgeschichten, die >Classizität< zum Maßstab nehmen und in den Bahnen Scherers die Romantik eben gerade noch gelten lassen, rubrizieren Grabbe mit einigem guten Willen unter dieser Kategorie, mit deutlicher Betonung der frühen Werke bis zu >Don Juan und Faustwüsten Lebens< anheimgefallen sei. Wer demgegenüber den Akzent auf die drei letzten Dramen legt, ist eher bereit, die Linien Grabbe-Büchner/Grabbe-Hebbel auszuziehen und die Werkbiographie nicht im Sinne zunehmender Demenz, sondern als schrittweisen Klärungsprozeß zu interpretieren. In solchen Darstellungen erscheint Grabbe dann als Begründer des realistischen Dramas, v. a. des modernen Geschichtsdramas, an erster Stelle. Daß er dorthin gehört, ist zumindest seit dem Zweiten Weltkrieg kaum bestritten worden, und schon der Publizist Axel Eggebrecht ordnet Grabbe in Weltliteratur - ein Überblick 1948 dem Realismus zu, als einen jener Autoren, die ihrer Literaturgattung eine neue Tür aufstoßen - Grabbe, seiner Verzweiflung angesichts der zeitge"

Michael Vogt: Grabbes Stauferdramen: Tragödien des Übergangs, in: Grabbe-Jahrbuch 1986, j. Jg., hrsg. im Auftrag der Grabbe-Gesellschaft von Winfried Freund und KarlAlexander Hellfaier, Emsdetten 1986, S. 21.

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Michael Vogt

nössischen Literatur und seinem Temperament entsprechend, tut dies freilich auf ungestüme und brachiale Weise, aber, wie seine Werkbiographie zeigt, auch konsequenter und gradliniger, als jedes einzelne seiner widersprüchlichen Dramen für sich genommen vermuten ließe. Ausgangspunkt meiner Überlegungen war das methodologische Problem, einerseits geschlossene Epochenräume gewissermaßen auf dem Reißbrett festlegen zu müssen, andererseits Durchgänge, Evolutionen, Schübe mitzubedenken, die sich gegenüber abgeriegelten Ordnungsräumen als widerständig erweisen. Relativismus verwischt die Konturen, Schematismus verhindert notwendige Differenzierung. Bei Grabbe hat man sich lange Zeit damit geholfen, ihn auf das je passende Format zurechtzustutzen, hat die Extreme in seiner Schreibart eliminiert, die ja gerade Ergebnis und Spezifikum seines Experimentierens sind, und den übriggebliebenen Torso irgendwo einsortiert. Die literaturgeschichtliche Verortung Grabbes an der Nahtstelle zum realistischen Drama ist heute längst Konsens, alles übrige ist Wissenschaftshistorie. Als Forschungsproblem ist uns allerdings aufgegeben, Grabbes Beitrag zur Genese des modernen Dramas in der Weise auszuloten, daß Widersprüche nicht dezisionistisch eingeebnet, sondern als vielfältige Brechungen und Reflexe auf eine verkrustete Tradition erkennbar werden, als experimentelle Reihe, die Spätere aufgenommen und fortgeführt haben. Der ästhetische Reiz der Grabbeschen Dramen, ihre unverwechselbare Qualität jenseits klassischer Vollendungsideale, gerät allerdings erst dann vollständig in den Blick, wenn man bereit ist, >Übergang< nicht als unwirtliche Grenzstation zu begreifen, die den Aufenthalt nicht lohnt, sondern als eine Zone, in der beengende Grenzen weiter hinausgeschoben werden können, so daß neue Freiräume, hier: ästhetische Freiräume, entstehen. In diesem Sinn verstehe ich Grabbe in der Tat als einen Dramatiker des Übergangs.

Ralf Schnell

Zur Tradition des barocken Trauerspiels bei Grabbe und Hebbel

I.

»Die Verwandlung des tragischen Wissens in ein ästhetisches Bildungsphänomen«, so schreibt Karl Jaspers in seiner philosophischen Betrachtung Über das Tragische, »vollzog sich schon in der späteren Antike (in der Wiederholung der alten Dramen) und dann wieder in den neueren Zeiten. Nicht nur die Zuschauer, auch die Dichter verlassen den ursprünglichen Ernst. Die neuen Tragödien im 19. Jahrhundert werden zum größten Teil aus Konstruktionen mit Hilfe des Denkens entstandene Virtuosenleistungen der fesselnden Pathetik.«1 Man muß, um diese philosophische Einsicht für die Diskussion eines literarhistorischen Prozesses fruchtbar zu machen, vor allem ihren kritischen Impuls aufnehmen. Für Jaspers bildet der Begriff des »tragischen Wissens« einen zwar historisch stets modifi2ierten, in seinen »Grundgehalten« (Jaspers) aber unwandelbaren Reflex menschlicher Existenz, dessen also, »was eigentlich ist und geschieht (...) und was dem Menschen möglich ist«2. Zumal in den großen dramatischen Werken hat, so Jaspers, das »tragische Wissen« wieder und wieder seinen Ausdruck gesucht und gefunden, von Ödipus bis zu Hamlet, eine poetische Phänomenologie tragischer Gehalte, die erst in der Neuzeit zu einer prekären Intellektualität der Konstruktionen sich verflüchtigt habe:

Um den Charakter eines Symposionbeitrags zu wahren, habe ich den Gestus des Vortrags für die Veröffentlichung unverändert beibehalten. - Grabbes Werke werden im folgenden zitiert nach der von Roy C. Cowen besorgten Ausgabe Christian Dietrich Grabbe: Werke. Drei Bände. München 1975 (Band + Seitenzahl). Friedrich Hebbels »Herodes und Mariamne« wird zitiert nach der Ausgabe Friedrich Hebbel: Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Karl Pörnbacher. München 1978. Band. 1. S. 327-432. ' Karl Jaspers: Über das Tragische. München 1952. (Aus: Von der Wahrheit. München •947-) S. 55. * Ebd., S. 8.

12

Ralf Schnell War einst die Erlösung im Tragischen eine Befreiung im Hindurchblicken durch das Tragische auf den ungesagten und unsagbaren Grund, so wird es jetzt ein Erkennen der philosophischen Theorien in der Verkleidung der Theaterfiguren. Hier ist eine in der Pracht ästhetischer Inszenierung gemalte Unwirklichkeit. Eine Diskrepanz zwischen Mensch und Werk läßt in dieser abgeleiteten Bildungswelt zumeist blutleere Gebilde entstehen, in denen die Heftigkeit der Gefühlserregungen, die Dramatik der Ereignisse, die Geschicklichkeit der Bühneneffekte nicht ersetzen können, was in der unendlichen Tiefe der griechischen Dramen und Shakespeares spricht.'

Was Jaspers hier kritisch gegen die moderne Dramatik einwendet, gehört der argumentativen Struktur nach zu den Grundeinsichten geschichtsphilosophisch inspirierter Ästhetik. Schon Schiller hatte ja 1795/96 mit seinem Begriffspaar des »Naiven« und des »Sentimentalischen« die differenten ästhetischen Verarbeitungsmodi unentfremdeter und moderner Erfahrungswirklichkeit thematisiert. Und nahezu zeitgleich problematisierte der junge Friedrich Schlegel in seinem Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie die »Mängel der modernen Poesie«4, indem er auf »das große Ubergewicht des Individuellen, Charakteristischen und Philosophischen in der ganzen Masse« moderner Dichtung hinwies'. Jaspers knüpft, ohne das eigens zu kennzeichnen, an diesen Topos moderner Ästhetik an, um gegenüber seinem geschlossenen, substanziell gefüllten philosophischen Begriff des Tragischen die Phänomene moderner Dramatik als einen defizienten Modus zu erweisen. Ausdrücklich nennt Karl Jaspers in diesem Zusammenhang Hebbel und Grillparzer - er hätte wohl auch Büchner und Grabbe anfuhren können. Denn, so Jaspers mit dem Ingrimm des Existenzphilosophen: »Der Ernst der Bildung statt der Ernst der Existenz erzeugt (...) Gestalten, die zuletzt hohl klingen, wenn man sie auf ihre Wahrheit beklopft« 6 . Jaspers' Polemik ist für die Literaturwissenschaft nicht ohne Folgen geblieben. Zumal im Blick auf Friedrich Hebbel hat man sich wiederholt bemüht, die intellektuelle Autorität des Philosophen für die eigene Argumentation in Anspruch zu nehmen - sei es, um Hebbel gleichwohl als großen Tragiker zu profilieren, gleichsam gegen Jaspers' Verdikt, doch mit seinen philosophischen Kategorien 7 ; sei es, um mit des Philosophen '

Ebd., S. 53. Friedrich Schlegel: Schriften zur Literatur. Hrsg. von Wolfdietrich Rasch. München 1972. S. 92. > Ebd., S. 100. ' Jaspers (Anm. 1). S. 53. 7 So Klaus Ziegler: Wandlungen des Tragischen. In: Hebbel in neuer Sicht, hrsg. von Helmut Kreuzer. Stuttgart 1963. S. 1 1 - 2 5 . 4

Zur Tradition des barocken Trauerspiels bei Grabbe und Hebbel

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rhetorischen Pointierungen die eigene ideologiekritische Verve zu munitionieren8. Ich möchte im folgenden ein anderes Verfahren wählen. Nicht ausgehend von Jaspers' Kritik, doch vor ihrem Hintergrund möchte ich die Frage aufwerfen, inwieweit eine Dramatik der Moderne — schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - daran gerade Substanz und eigenes Profil besitzt, daß sie ihren historischen Stand, sei es unbewußt, sei es reflexiv gebrochen, in ihre Formensprache aufzunehmen gezwungen ist. Damit meine ich nicht die historisch notwendige Modifikation des Dramatischen oder auch des Tragischen allein, sondern zugleich deren Thematisierung im Werk selber. Anders gefragt und in Jaspers' Terminologie: Inwieweit darf jener »Ernst der Bildung« als ein Indiz gelten für den objektiven Verlust an »tragischem Wissen«? Ich werde mich, um exemplarisch zu argumentieren, auf Christian Dietrich Grabbes Herzog Theodor von Gothland und auf Friedrich Hebbels Herodes und Mariamne beziehen sowie, vergleichend, auf Johann Christian Hallmanns Mariamne.

II. Man hat an Christian Dietrich Grabbes Drama Herzog Theodor von Gothland schon vor seiner Veröffentlichung in Buchform die Neigung zur dramatischen Überspitzung, zur sprachlichen Exaltation, zur monströsen Überdehnung der Bilder, Metaphern und Allegorien gerügt und dem Autor gewissermaßen eine mangelhafte Ökonomie im Umgang mit seinen poetischen Potenzen vorgeworfen. Ludwig Tieck etwa bemängelte in seinem bekannten Brief - den Grabbe nicht ohne Stolz der Publikation vorangestellt hat - die »Seltsamkeit, Härte und Bizarrerie« (1,9) des Werks, beklagte, daß es sich »im Entsetzlichen, Grausamen und Cynischen« (1,9) gefalle, und kritisierte, bei aller eingestandenen Faszination, den Verfasser wegen der »großen Unwahrscheinlichkeit der Fabel und der Unmöglichkeit der Motive«, um zu guter Letzt sein Urteil zu dem vernichtenden Resümee zu bündeln: eine Tragödie ist es auf keinen Fall, aber auch kein Schauspiel, ja nach dieser Probe zweifle ich, o b Ihr Talent ein dramatisches ist, da Ihnen die Ruhe und Behaglichkeit, die Fülle der Gestalten, und die Kraft, alle mit gleicher Liebe auszustatten, abgeht. ( 1 , 1 z) "

So Heinz Schlaffer: Friedrich Hebbels tragischer Historismus. In: Hannelore Schlaffer, Heinz Schlaffer: Studien zum ästhetischen Historismus. Frankfurt/M. 1975. S. 154.

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Auch Heinrich Heine - in Dingen der Poesie bekanntlich nur selten auf Seiten Tiecks - sah, trotz aller zugestandenen »Vorzüge«, Grabbes Erstlingswerk »verdunkelt durch eine Geschmacklosigkeit, einen Zynismus und eine Ausgelassenheit, die das Tollste und Abscheulichste überbieten, das je ein Hirn zu Tage gefördert«'. Der Urteilstenor, der in diesen beiden zeitgenössischen Verdikten sich findet, hat sich im wesentlichen über mehr als anderthalb Jahrhunderte erhalten10. Und verschiedentlich ist auf die literaturgeschichtlichen Einflüsse hingewiesen worden, die den enthusiasmierten Dramenleser Grabbe zu den Exaltationen seines Erstlings angeregt haben mögen: Shakespeares Titus Andronicus etwa, Schillers Räuber oder auch die Schicksalsdramen Adolf Müllners. Versucht man aber, den Gehalt dieses so offenkundig aus der Reihe der kanonisierten Werke tanzenden Dramas auf der Ebene seiner Strukturen zu entziffern, so ergibt sich — hinsichtlich seiner geschichtlichen Signatur wie seiner Traditionsbindung - ein durchaus anderer Befund. Vorab springt ins Auge: Grabbes Gothland steht, auch seiner inneren Bauform nach, im Zeichen des Extrems. Schwarz und Weiß stehen sich hier feindlich gegenüber, Dritte Welt und Erste Welt, Mythos und Geschichte prallen aufeinander, Schuld und Sühne, Verbrechen und Vergeltung bilden das Agens der Handlung, Gut und Böse erscheinen als freilich fragwürdige - Repräsentanten von Vergangenheit und Gegenwart. Zur Besonderheit von Grabbes polarer Konfliktdramaturgie zählt jedoch, daß die Extreme ineinander übergehen, sich miteinander mischen und verbünden können, um schließlich aneinander zugrundezugehen. Zum Extrem tritt mithin ein weiterer dramaturgischer Faktor: der des Umschlags nämlich. Die Verkehrung einer Situation in eine andere, ihr entgegengesetzte, der rasche Wandel von Emotionen, Abhängigkeiten und Kräfteverhältnissen - dies sind Elemente einer Destruktionsdramaturgie, die den Mechanismen negativer Dialektik gehorcht. Zu ihren Voraussetzungen zählt, daß das Böse einmal in der Welt ist. Beide Helden sind, schon vor Beginn der Handlung, schuldig geworden: Gothland, da er Berdoa hat auspeitschen lassen; Berdoa, da er an den Europäern sich rächen will. Und das Wissen um die Gesetze, die in der Welt wirksam und ' IO

Heinrich Heine: Memoiren. Sämtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Briegleb. Bd. 6/1. München 1 9 7 ; . S. 565. Vgl. etwa Wilhelm Steffens: Grabbe. Velber bei Hannover 1966. S. 34: »Zwecklos, leugnen oder übersehen zu wollen, daß Grabbes krasseste Schilderungen und gewaltsame szenische Konstruktionen ihren Zweck deshalb verfehlen müssen, weil man sie nur mit Gelächter quittieren kann.«

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nach denen sie angetreten sind, prägt das Handeln der Helden um so nachdrücklicher, verleiht ihnen das verzweifelte Bewußtsein, so und nicht anders handeln zu müssen und handeln zu sollen: »Weil es / Verderben soll, ist das Erschaffene / Erschaffen!« (1,96), ruft Gothland ein ums andere Mal aus. Und: »Des Frevels Stunde ist / Vorbei, nun schlägt die Stunde der Vergeltung; / Das ist die stete Ordnung der Natur!« (1,56). Es ist, so muß man hinzufügen, auch die stete Ordnung dieses Werks: Weil sie verderben soll, hat Grabbe seine Welt erschaffen. »Weh! Weh! Wie hat sich alles doch verändert!« (1,97), lautet Gothlands Klage - ein dumpfes Echo auf die Potenz seines Schöpfers, der denn auch in einer Fußnote selbstbewußt einräumt, »daß der Dichter, nachdem er zwar die Flammen des Abgrunds auflodern ließ, er sie auch durch ihre eigene Kraft (selbst durch Berdoa) zu schwächen, ja zu vernichten versteht« (1,92). Dies ist, im Grunde, das Plädoyer für einen Geschichtstext aus dem Geiste der Vergeblichkeit und Vergänglichkeit. Aus dieser Perspektive begründen sich all jene Greuel und Bizarrerien, die man dem Autor glaubt vorwerfen zu müssen — und die doch nichts anderes sind als ein szenisches Arrangement von Archivalien aus dem ästhetischen Inventar des Barock. Hierzu gehören - ich zähle in unsystematischer Absicht auf— der Herrscher als Kreatur (1,137; 1,148; I,2i 1), »der goldgekrönte Wurm« (1,138), wie Berdoa sagt, femer der Typus des Intriganten und Märtyrers (1,89ff.), der Exzeß als Gestus der Souveränität (passim), Cometen als die unheilverkündenden Zeichen des Schicksals (1,42; 1,65), der emblematische Charakter aller Wertsetzungen und Qualitätszuschreibungen (I,I6I), die Durchdringung von Geschichte und Natur als Naturalisierung der Geschichte (I,72f., 1,93ff.), die Allegorisierung aus dem Geiste des Mythos und der Natur (passim). Im Lichte dieses Desillusionierungsszenarios verlieren die tradierten Fixsterne am Firmament der Aufklärung und des Humanismus ihre orientierende Leuchtkraft: »Die Zeit/ist aufgeklärt, sie glaubt an keine (sc. Tugend) mehr« ( I , I 6 I ) , erkennt der scharfsichtige Berdoa. Zwischen Mörder und Held unterscheidet nurmehr die »Anzahl der Erschlagenen« (1,139f.), un< ^ das Streitgespräch der beiden Protagonisten über Gott und die Zeit (1,144 ff.) kann umstandslos in die rassistische Groteske einer »Negerjagd! Schwarzwildprettjagd!« (1,216) umschlagen. Das Elysium wird zum Komplement der Hölle (1,142), »Wahnsinn« zum wahren Seinsgrund, »Bosheit« zur göttlichen Weltenlenkerin, und »Verzweiflung« ist, folgerecht, »der wahre Gottesdienst« (I,94f.). Versucht man, dem Bauplan dieser fürwahr bizarren dramatischen Architektonik auf den Grund zu kommen, so muß man allerdings den

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Begriff des »Tragischen« verabschieden". Die Vorstellung einer schicksalhaften Transzendenz, die allein Tragik noch verbürgen könnte, ist bei Grabbe — wie zuvor schon beim barocken Trauerspiel" — abgelöst durch die Immanenz menschlicher - und das bedeutet: ebenso planvoller wie intriganter - Ratio: GOTHLAND

( . . . ) O , der Glaube an Ein Schicksal ist nicht furchtbar, hold und tröstlich Ist dieser Kinderglaube aus der Zeit Der Griechen, welche noch nichts Schlimmres ahnten! Das Geschick ist grausam und entsetzlich, Doch planvoll, tückisch, listig ist es nicht! (1,95)

Nicht diese Einsicht allein, mehr noch daß die Titelfigur selber sie äußert, charakterisiert den durchaus untragischen Zustand von Grabbes Dramenwelt. Und ebenso die Tatsache, daß das Ziel ihrer Zertrümmerung Allegorie der zertrümmerten sozialen Wirklichkeit Grabbes insgesamt Teil des Bauplans von Anfang an ist. »Wüste ist die Welt« (1,36) - dieser Perspektive Gothlands lassen sich die Denkfiguren des »Nichts« (1,150) und des »vergebens« (1,151) semantisch problemlos zuordnen. Sie fügen sich mit dem Seufzer »traurige Ruinen!« (1,107) z u einer facettenreichen Realität permanenter Destruktion und Negation, ohne festen Seinsgrund und ohne Glaubenshimmel. So erscheint zuletzt alles, was in dieser Welt geschieht, »gleichgültig« (1,225), in des Wortes wörtlicher wie in seiner übertragenen Bedeutung. Tod oder Leben, Sieg oder Untergang - es kommt nicht darauf an, da alles vergänglich und alles vergebens ist. Sozialgeschichtlich eine radikale Kritik an der Signatur der eigenen Zeit, repräsentiert Grabbes Gothland geschichtsphilosophisch ein memento mori in der Tradition barocker Vanitas-Erfahrung. Mit der literaturgeschichtlich bezeichnenden Verschärfung allerdings, daß im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts der Erlösungsgedanke verlorengegangen ist, der das Trauerspiel des Barock vor dem Absturz ins Bodenlose noch bewahrte. Was bleibt, ist die Hoffnung auf das Gegenbild des Besseren, das — uneigentlich und dialektisch wie im gleichzeitigen Lustspiel 1 ' - Grabbes "

" 1J

Daß der Konflikt zwischen Berdoa und Gothland nur »tragisch« habe gelöst werden können, behauptet beispielsweise noch Lothar Ehrlich: Christian Dietrich Grabbe. Leben, Werk, Wirkung. Berlin (DDR) 1983. S. 16. Vgl. hierzu grundsätzlich Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Gesammelte Schriften. Bd. I, 1. Frankfurt/M. 1974. V. a. S. 279ff. Vgl. hierzu Ralf Schnell: Das Lustspiel als Trauerspiel. Zur ironischen Struktur von Grabbes Komödie »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung«. In: Christian Dietrich Grabbe 1801 — 1836. Beiträge zum Symposium 1986 der Grabbe-Gesellschaft. Hrsg. von Werner Broer und Detlev Kopp. Tübingen 1986. S. 78-95.

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dramatische Kunst noch im schwärzesten Abgrund aufblitzen läßt. In seinen eigenen Worten: »Der Verf(asser) hat Ruinen gemacht, um daraus neu zu bauen (...).« (111,38).

III. Mir scheint — ich habe es mehrfach angedeutet - , daß in den emblematischen Figurationen von Grabbes Erstlingswerk wie in seiner Disposition zum Kontrast, zum Extrem und zum Umschlag Strukturmerkmale angelegt sind, die auf eine Wahlverwandtschaft zum barocken Trauerspiel deuten. Bevor ich nun auf Friedrich Hebbel eingehe, um an seinem Drama Herodes und Mariamne das literaturgeschichtliche Profil von Grabbes Gothland schärfer zu konturieren, möchte ich deshalb — als tertium comparationis gewissermaßen - zunächst ein barockes Trauerspiel in die Diskussion einbeziehen. Dabei mag für den Zweck eines Strukturvergleichs das Zitat eines Werks nützlich sein, das aus denselben Quellen schöpft wie später Hebbel, zugleich aber in der Generierung des ihm zugrundeliegenden Konflikts um »Ehrsucht / Verläumdung und Verrätherey« einerseits, »Tugend« andererseits'4 Grabbe durchaus ebenbürtig ist. Das Werk, das der Breslauer Rechtsanwalt Johann Christian Hallmann im Jahre 1670 der Öffentlichkeit vorlegt, heißt Mariamne, doch sein Titel trügt. Zwar ist es die erklärte Absicht des Autors, »dieser so grossen Königin grosses Gemüthe in einem Trauer-Spiele abzubilden«'da Mariamnes »Unschuld weder bey dem Eh-Manne / noch den heiligsten Richtern konnte Gerechtigkeit finden«'6. Doch in Wahrheit steht Hallmanns Stück eher in der Tradition der Herodes-, und das heißt: der Tyrannendramen des Barock. In ihnen wird, wie Walter Benjamin gezeigt hat, die »Geste der Vollstreckung zum Charakteristikum des Herrschenden« gemacht'7, ein Zug, ja: eine »Norm des Herrschertums«, so Benjamin, die »sogar durch die erschreckendste Entartung der fürstlichen Person nicht eigentlich entstellt« wird'8. '4 Johann Christian Hallmann: Mariamne. Sämtliche Werke. Hrsg. von Gerhard Spellerberg. Erster Band. Berlin/New York 1975. S. 199. (Vorrede) " Ebd. Ebd., S. 198. 17 Benjamin (Anm, 12), S. 249. " Ebd.

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Herodes ist bei Hallmann beides: Opfer und Täter zugleich, Märtyrer und Tyrann in einem. Tyrann und Täter, da er, der unangefochtene Souverän aus dem Geiste des Barock, den intriganten Einflüsterungen seiner Schwester Salome widerstandslos erliegt und zum vielfachen Mörder wird: an Mariamnes Bruder und an ihrem Großvater, an seinem Schwager Josephus, am Hohepriester Hyrcan, an den Wächtern Sohemus und Philo, zuletzt an Mariamne selber. Märtyrer und Opfer aber, da er als Liebender an der Maßlosigkeit seiner Gefühle, als Herrschender an der notwendigen Durchsetzung eines uneingeschränkten Machtanspruchs scheitert. »Verzweifflung/ Mordthaten / Verfolgung / Meineid / Betrug / Blutschanden / Schlachten / Tod / Grabschrifften / Klageliedern« 1 ' — Hallmanns Trauerspiel steht inhaltlich durchaus im Bannkreis dieser poetologischen Maximen Harsdörffers. Signifikant aber für die Durchführung dieses stofflichen Ensembles erscheint das Strukturmerkmal des Extrems, in dessen Zeichen sein geheimer, negativer Held sich bewegt. Liebesglut und Mordlust, Hochmut und Erniedrigung, Terror und Verzweiflung — Herodes' Existenz in Hallmanns Trauerspiel findet ihre Identität in polaren Gegensätzen, in Widersprüchen des Handelns und Denkens und Fühlens, in heteronomen Details, die unvereinbar scheinen. »Auch die intimsten Wendungen des Barock, auch seine Einzelheiten — vielleicht sie gerade - sind antithetisch«20 - dieses Fazit Wilhelm Hausensteins läßt sich für Hallmanns Mariamne mit großem Recht anführen. Und zwar bezeichnenderweise gerade dort, wo das Trauerspiel den Rahmen des Schicklichen sprengt, den Harsdörffers Poetik gesetzt hatte. »Grausame Marter und Pein so die Henkerbuben verüben / werden auf den Schauplätzen nicht gesehen«21, dekretiert Harsdörffers Poetischer Trichter. Hallmann hingegen läßt auf die tiefste Erniedrigung des Herodes, auf die Zurückweisung seines Flehens um körperliche Liebe durch Mariamne in der »Dritten Abhandlung«, nur einen Akt später einen Folterexzeß folgen, wie er — soweit ich sehe - in der Tradition des barocken Trauerspiels wohl ohne Beispiel ist. Bis ins Einzelne werden die Torturen auf der Bühne vorgeführt, die zuletzt zum Tod der unschuldigen Opfer führen. Dies ist freilich nichts weniger als poetische Willkür oder dramaturgischer Selbstzweck. Vielmehr demonstriert Hallmann am Umschlag von Liebesflehen in Folterorgie die Emblematik einer höchsten Souveränität,

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Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter II. In: Poetik des Barock. Hrsg. von Marian Szyrocki. Reinbek 1968. S. 1 4 1 . Wilhelm Hausenstein: V o m Geist des Barock. München 3 . - 5 . Aufl. 1921. S. 28. Harsdörffer (Anm. 19), S. 142.

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die mit der niedrigsten Kreatürlichkeit einhergeht. Die »Janushäupter des Gekrönten«" (Walter Benjamin) - sie lassen dort gerade sich fassen, wo der Umschlag des einen ins andere Extrem das wahre Wesen der fürstlichen Existenz offenbart. Herodes selbst - als »Hoheit« (V,i) und »Tygerthier« (V,6) gleichermaßen apostrophiert - erkennt und benennt den Zusammenklang der heteronomen Pole »Geschichte« und »Natur«, in deren Zeichen er steht und schließlich vergeht: SO ists: Scarlat und Gold bedient zwar unsern Fuß / Deß Glückes Zucker = Mund beut uns den sanfften Kuß; Rom hat die Lorbeern uns geschencket vor Zypressen / Es wird Jerusalem nicht unsern Ruhm vergessen. Jedoch der Glantz erbleicht / wenn Irrlicht und Comet Im Fürstlichen Pallast mit gifft'gem Schimmer steht / Und mit Pech = schwartzem Dampff trotzt die erlauchte Sonne. (V,i)

Geschichtsemblematik und Naturmetaphorik markieren, als Verheißung und als Drohung, den Spannungsbogen, der sich über der so mächtigen wie fragilen Herrscherfigur wölbt, der ihn schützt und bedroht, ihn rechtfertigt und richtet und der ihn schließlich in den Abgrund treibt, in die Schreckensvisionen einer Höllenwelt nach dem Vorbild Dantes, in die hinein er alles mitzureißen droht, was ihn umgibt, am Ende selbst das einst so stolze Palästina: »So wird der Wütterich mit Ach und Weh belohnt!«, heißt es im vorletzten Bild des Stücks. Das aber kann des Dramas letzter Schluß nicht sein. So wie das Zusammenspiel der Gegensätze erst die wahre Substanz offenbart, des Teils wie des Ganzen, des Herrschers selber wie des Lebens insgesamt, so zeigt zuletzt der Umschlag des Extrems der Hölle in sein Gegenbild: die Rettung durch die Gnade Gottes, den wahren Tief-Sinn des barocken Trauerspiels. Der Geist des biblischen Königs Salomon selber ist es, der prophetisch auftritt, um eine lange Zeit des Leidens für das bedrängte Palästina vorherzusagen und doch zuletzt seiner Prophezeiung die Gewißheit abzuringen: Allein es wird sich ändern dieses Spiel; Dein Heiland ist in Oesterreich vorhanden / Dein Salomon / dem GOtt und Welt ist hold / Der Christen Schutz / der Grosse LEOPOLD! (V, Reyen)

Wir kennen diese politische akzentuierte christliche Heilsgewißheit als einen Topos des barocken Trauerspiels, beispielsweise aus Lohensteins "

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Sopbonisbe (1669/1680): Hier erhält im Schlußreyen Leopold I. aus den Händen Europas, Asiens, Afrikas und Amerikas den Lorbeerkranz, um nunmehr, nach allen Greueln der dramatischen Geschichte, das Römische Reich, das letzte der vier großen der Weltgeschichte, seiner historischen Bestimmung zuzuführen. Der Sinn ist allemal derselbe: unter dem Trümmerfeld, als welches alle Historie sich erweist, unter dem Signum der Vergänglichkeit, das allem Lebendigen anhaftet, unter dem Zeichen der Leere, der Verwechselbarkeit und der Austauschbarkeit, das aller Lebensdeutung die Grenzen setzt, den geheimen, göttlichen Bauplan aufzudekken, der in der Zukunftsvision des eigentlich gemeinten Hier und Jetzt zu sich selber findet und so dem horror vacui zugleich Ziel und Ende setzt.

IV. Von hier aus ist der Sprung in die Mitte des 19. Jahrhunderts, zu Friedrich Hebbels Herodes und Mariamne, so groß nicht, wie er zunächst scheinen mag. Zwar muß ich darauf verzichten, die lange Traditionsreihe der »Herodes und Mariamne«-Dramen im einzelnen aufzuführen 2 ', doch sei der Konflikt, wie Hebbel ihn entfaltet, inhaltlich rasch nachgezeichnet. Herodes, König von Judäa, verlangt, argwöhnisch gegenüber seiner Umgebung insgesamt, von seiner Frau Mariamne den Freitod für den Fall, daß er von einer schwierigen Reise zu Marc Anton nicht lebend zurückkehren sollte. Mariamne verweigert ihm den geforderten Eid, den sie später, freiwillig und insgeheim, gleichwohl leistet. Herodes aber stellt seinerseits die geliebte Gattin vor seiner Abreise »unter's Schwert«: Er befiehlt seinem Statthalter Josephus, im Falle seines Todes auch Mariamne zu töten. Mariamne ist, als sie von diesem Befehl erfahrt, tief gekränkt und hält Herodes nach dessen Rückkehr vor: »Du hast in mir die Menschheit / Geschändet, meinen Schmerz muß jeder teilen...« (111,3). Dennoch gibt Herodes den Befehl ein weiteres Mal, anläßlich einer zweiten, gefahrvollen Mission - und wieder erfahrt Mariamne von diesem Schritt, den sie als endgültigen Verrat an ihrer Liebe zu Herodes auffaßt. Mariamne sinnt nun ihrerseits auf Rache, die sie in Form eines grandiosen Festes inszeniert, auf dessen Höhepunkt Salome ihrem überraschend heimkehrenden Bruder Herodes die — unwahre - Erklärung entgegen2J

Vgl. hierzu Marcus Landau: Die Dramen von Herodes und Mariamne. In: Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte N F 8 (1895), S. 175 — 2 1 2 und S. 279—317; N F 9 (1896), S. 1 8 5 - 2 2 3 .

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schleudert: »Hier ward gejubelt über deinen Tod!« (IV,8). Das unvermeidliche Todesurteil nimmt Mariamne widerspruchslos hin, doch vertraut sie - ein letzter Ausdruck ihrer Liebe zu Herodes wie ihrer Rache an ihm — dem Römer Titus die Reinheit all ihrer Gefühle und Handlungen an und überantwortet so zuletzt Herodes der Einsamkeit und Verzweiflung. Herodes wiederum erfahrt in Mariamnes Todesstunde durch die drei Könige aus dem Morgenland von der Geburt des neuen, künftigen Königs und gibt, um seine Krone zu retten, den Befehl zum Kindermord. Ins Auge springt, daß Hebbel in seiner dramatischen Verarbeitung dieses bei Flavius Josephus vorgefundenen Stoffes ein ganzes Arsenal bekannter und erprobter dramatischer Diskurse zitiert: die Geschlechterproblematik zunächst, in der Variante eines konfliktreichen Mit- und Gegeneinanders von absolutem Liebesanspruch und individuellem Persönlichkeitsrecht und mit dem modernen Akzent einer Verdinglichung aller Lebensbeziehungen; ferner den Widerspruch von Individualität und Souveränität, Subjektivität und Geschichtlichkeit, Freiheit und Notwendigkeit; nicht zuletzt den Topos von der Zeitenwende, der Situation eines historischen Umbruchs, geschichtsphilosophisch gesprochen: der Zäsur zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht. Evident ist des weiteren, daß Hebbels Drama selber eine Gestalt des Übergangs repräsentiert: zwischen Klassik und Realismus der Form nach; zwischen Aufklärung und Moderne der Idee nach; zwischen Hegel und Freud seiner philosophischen und psychologischen Substanz nach; zwischen Restauration und Revolution seinem zeitgeschichtlichen Gehalt nach. Und auf der Hand liegt schließlich, worauf man sich zu konzentrieren hat, will man Hebbels Drama im Vergleich mit Grabbe unter dem Traditionsaspekt des barokken Trauerspiels diskutieren: auf den Schluß nämlich, der so offenkundig die Signatur der neuen, christlichen Zeit aufscheinen läßt, um in ihrem Lichte die Notwendigkeit des Untergangs jener alten, heidnischen zu erhellen und damit die Tragik des Konflikts zwischen Herodes und Mariamne um so schärfer zu konturieren. Dieser Schluß hat verschiedentlich kritische Äußerungen auf sich gezogen. Schon Georg Lukäcs weist in seiner Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas von 1911 auf die immanenten Widersprüche des Finales hin: »Herodes befiehlt nur deshalb die Kindermorde in Bethlehem, weil er Mariamne in den Tod trieb«24 - in Mariamne aber, so Lukäcs weiter, i4

Georg Lukäcs: Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas. Hrsg. von Frank Benseier. Darmstadt und Neuwied 1981. S. 222.

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»protestierte eigentlich schon das christliche Gefühl« 2 '. Man hat den Schluß deshalb auch als die »Crux des ganzen Dramas«26 bezeichnet und seine Aufführung auf der Bühne eine »noch nie gelöste Aufgabe« 27 genannt. Man hat in ihm eine Stilisierung, mithin eine Schwächung des Werks gesehen, »ein Zeichen (...) für die von Hebbel nicht ganz gemeisterten Schwierigkeiten der Gestaltung einer sowohl universell als geschichtlich begründeten Tragödie«28. Und zur Begründung hat man die Vermutung angeführt, daß Hebbel diese Szene »wohl als steigernden Reflex des wesensmäßig im Verhältnis des Individuums zum Ganzen angelegten tragischen Scheiterns verstanden wissen wollte. Zur Veranschaulichung dieses Vorgangs bot sich die Weltwende zum Christentum wie keine andere an (.. ,)«29. Gegen diese Vermutung lassen sich Einwände geltend machen. Zwar hat Hebbel Mariamnes Tod gegenüber dem historischen Verlauf nachdatiert, um Koinzidenz mit der Geburt Christi herzustellen. Doch entstammt diese Pointe keineswegs seinem eigenen dramatischen Erfindungsgeist, sondern - wie manch andere Veränderung gegenüber der Quelle auch - der 1844 unter dem Titel Herodes der Große erschienenen Bearbeitung des Stoffs durch Friedrich Rückert. Zudem aber war Hebbels Verhältnis zum Christentum durchaus gebrochen: teils ablehnend, teils indifferent. »Ich hasse und verabscheue das Christentum«, heißt es in einem Brief aus dem Jahre 1837'°. Und in einem anderen, aus dem Jahre 1862: »Das Christentum ist mir, was es war, eine Mythologie neben anderen und wie ich jetzt, nach abermaliger jahrelanger Beschäftigung mit den Akten, leider hinzufügen muß, nicht einmal die tiefste«' 1 . Exakt zwischen diesen beiden Äußerungen liegt die Arbeit an Herodes und Mariamne. Warum hätte Friedrich Hebbel, der Kritiker des Christentums, gerade diese vermeintlich schwache »Mythologie« zur »Veranschaulichung« individueller Tragik heranziehen sollen? Nicht zuletzt aber hat Hebbel dem Sujet selber soviel Dynamik zugetraut, daß er 1849, im Jahr "

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Ebd. Marie Louise Hiller: Friedrich Hebbels »Herodes und Mariamne« auf der Bühne. Berlin und Leipzig 1950. (Reprograph. Nachdruck der Ausgabe Hildesheim 1978.) S. 12. Ebd., S. 157. Lawrence Ryan: Hebbels »Herodes und Mariamne«: Tragödie und Geschichte. In: Hebbel in neuer Sicht (Anm. 7), S. 250. Ebd., S. 26}. Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. Hrsg. von Richard Maria Werner. Berlin i9o4ff. Briefe I. S. 163. Ebd., Briefe VII, S. 266.

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der Uraufführung, im Blick auf die Geschichte des Herodes notieren konnte: Hier liegt der Stoff zu einer erschütternden Tragödie ersten Ranges vor, zu einer solchen nämlich, die die menschliche Natur an sich in ihrem Abhängigkeits-Verhältniß zu den Schicksals-Mächten darstellt, die also nicht einen Kreis im Kreise beschreibt, sondern den Kreis selbst, der alle übrigen in sich faßt' 2 .

Der Drang zur Gestaltung des Absoluten, der sich hier mitteilt, zum Entwurf einer nicht abgeleiteten und nicht ableitbaren polaren Konfliktkonstellation aus Menschennatur und Schicksalsmacht — er deutet, wie mir scheint, nicht auf eine inhaltliche Begründung für das Motiv der Heiligen Drei Könige. Vielmehr knüpft Hebbel, wenn nicht alles täuscht, mit seinem Schluß an jenen profanisierten Erlösungstopos an, der sich, beispielsweise, am Ende von Hallmanns Drama findet. Der historische Blick in die Zukunft, welche die Gegenwart ist, zitiert - dies verlangt der Kontext des Herodes-Stoffes - inhaltlich das Christentum, das doch nicht mehr gemeint sein soll. Insoweit erweist sich dieser Zukunftsblick im Revolutionsjahr 1848 auch als ein Stück Camouflage-Literatur. Zugleich aber bringt sich in ihm das Dilemma des modernen Dramatikers zur Geltung, der als politische Person auf profane Erlösung durch Geschichte in seiner Gegenwart noch hoffen mag - was bei Hebbel bekanntlich eher zu bezweifeln ist - , ohne solche Erlösung noch, wie der Dramatiker des Barock, gestalten zu können. Versucht er es dennoch, wie Hebbel, so vermag er es nur auf paradoxe Weise: indem er die Struktur einer Form erhält, die er regredierend zu überschreiten versucht. Man kann in dieser Intention gewiß die »konservative Utopie des Mythologen«»» erkennen. Man kann in solchen Widersprüchen aber auch den Verlust der Transzendenz wahrnehmen, die Hebbel gleichwohl zu restituieren versucht. Was später Arnold Schönberg mit Moses und Aaron nicht mehr gelingen wird, nämlich ein sakrales Kunstwerk zu vollenden, das gelingt Hebbel nur um den Preis einer gleichsam gesprungenen Form. »Tragik« läßt sich durch subjektives Kunstwollen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr realisieren, weder inhaltlich noch formal. Sie zeigt sich objektiv im

Friedrich Hebbel: Ludovico. Sämtliche Werke. Hrsg. von Richard Maria Werner. Vermischte Schriften III. Kritische Arbeiten II. Berlin 1 9 1 1 . S. 248. - Vgl. hierzu auch Hebbels Tagebuchnotiz vom 22. Dezember 1847, in der er von seinem »Ziel« spricht, »einmal eine Tragödie unbedingtester Notwendigkeit zu schreiben«. Friedrich Hebbel: Tagebücher 1843 — 1847. München 1984. S. 364. » Schlaffer (Anm. 8), S. 152.

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Scheitern des Werks: darin, noch vollenden zu wollen, was nicht mehr zu vollenden ist.

V. Vor diesem Hintergrund läßt sich der Bogen zu Karl Jaspers' Polemik gegen die Dramatiker einer »abgeleiteten Bildungswelt« (Jaspers) zurückschlagen. »Wir leben aber in der Welt des Scheins!«, ruft der aufgeklärte Römer Titus der zum Tode verurteilten Mariamne in Hebbels Drama zu. »Das seh ich jetzt, drum gehe ich hinaus!«, entgegnet diese (V,7). Man mag dies, mit Jaspers, ein »Dichten aus der spekulativen Konstruktion« nennen und Hebbels »tragisches Bewußtsein« ein »Elendsbewußtsein im Gewände philosophischer Aufstutzung«' 4 . Literaturgeschichtlich produktiv läßt sich solche Kritik wohl nur dann machen, wenn man sie als Beschreibung eines objektiven, historisch notwendigen Standes literarischer Formen versteht. Um diesen zu erhellen, mag abschließend der Vergleich zwischen Grabbe und Hebbel hilfreich sein. Wo Grabbe in das schier unerschöpfliche Bilderarsenal der barocken Emblematik greift, um aus ihrem Geiste eine Allegorie der zertrümmerten, doch unerlösten Wirklichkeit zu entwerfen, da zitiert Hebbel aus ebenderselben Tradition den Topos profanierter Erlösung, um in ihrem Lichte die Idee des Tragischen zu erhalten. Grabbe verfahrt mithin zugleich radikaler und konsequenter als der spätere Hebbel: radikaler in den Hypertrophierungen seiner barocken Dramenwelt, die selbst das Mittel der Groteske nicht scheuen; konsequenter in der Verweigerung jedes Erlösungsgedankens in einer ihm unerlösbar erscheinenden Wirklichkeit. Für Grabbe, so kann man sagen, ist das Buch der Geschichte der blinde Spiegel und stumme Resonanzraum einer antwortlosen Sinnsuche. Hebbels Konstrukt eines Dramengebäudes mit den Eckpfeilern Schuld und Notwendigkeit erhält hingegen die Idee des Tragischen in einer tragikfernen Zeit gerade im Erlösungsgedanken, den er freilich nur als Topos zitieren, nicht aus der Substanz seines »tragischen Bewußtseins« entwikkeln kann. Der Bruch, welcher derart zwischen Grabbe und Hebbel sichtbar wird, zeigt auf paradoxe Weise das beiden gemeinsame Maß an Modernität. Grabbe wie Hebbel sind in der Tat Dramatiker einer »abgeleiteten Bil>* Jaspers (Anm. i), S. 60.

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dungsweit«. Doch diese Tatsache hat mit ihrem subjektiven poetischen Vermögen nichts zu tun. »Bildung« tritt vielmehr in ihr Werk als Surrogat eines Gehalts, der authentisch nicht mehr zu erzeugen ist. Zugleich aber liegt unter dem Text von Grabbes Exaltationen, unter dem Text von Hebbels Willen zur Tragik ein Subtext verborgen: ein »Bildungs«-Subtext, der von den Bedingungen künftiger Möglichkeiten der Dramatik spricht. »Bildung« heißt eine dieser Bedingungen - »Bildung« im Sinne einer amalgamierenden Verfügung über Geschichte, Stoffe, Formen und Traditionen, in der sich, und sei es wider Willen, historische Distanz ausdrückt zur griechischen Ursprungsgestalt des Tragischen wie zur Idee von Tragik selber. Diesen Zusammenhang dürfte Walter Benjamin im Blick gehabt haben, als er von einem »Saumpfad« sprach, auf welchem »quer durch das erhabene, aber unfruchtbare Massiv der Klassik das Vermächtnis des mittelalterlichen und barocken Dramas auf uns gekommen ist«5'. Bei Gryphius, Lenz und Grabbe, aber — auf eigene Weise — auch bei Hebbel zeichnet dieser Weg sich ab, der, so Benjamin, »in den Dramen von Brecht zutage(tritt)«'6 und heute wohl am deutlichsten im Werk Heiner Müllers sich fortsetzt. Niemand anderes als Friedrich Schlegel aber hatte — hieran sei zuletzt erinnert — in seinem Studium- Aufsatz den Gang der künstlerischen Entwicklung in der Moderne als einen Prozeß ästhetischer »Bildung« entworfen. Deren Stigma freilich, so erkannte Schlegel am Ende des 18. Jahrhunderts bereits, sei eben, Vollkommenheit nurmehr erstreben, nicht aber selber mehr vollenden zu können.

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Walter Benjamin: Was ist das epische Theater (1). Eine Studie zu Brecht. Gesammelte Schriften II. 2. Frankfurt/M. 1977. S. 523. Ebd.

Martin Rector

Grabbe von Lenz her zu verstehen

Der Vorschlag, Grabbe von Lenz her zu verstehen, scheint nicht neu zu sein und schon gar nicht neue Erkenntnisse zu versprechen, im Gegenteil: er scheint eher geeignet, alte Mißverständnisse und Vorurteile gegen Grabbe zu bestätigen. Denn schon die positivistische Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hat sich aus den Verlegenheiten, die ihr der sperrige Sonderling Christian Dietrich Grabbe bereitete, gern dadurch zu retten versucht, daß sie Grabbe in die Rubrik der NichtEinzuordnenden einordnete und ihn also mit ähnlich genialisch inspirierten, von den Zeitgenossen verkannten und früh am Leben zerbrochenen Außenseitern verglich, mit Büchner und Kleist zumal, aber stets auch mit dem zwei Generationen älteren Jakob Michael Reinhold Lenz. Was bei diesen Vergleichen als das Grabbe und Lenz Verbindende herauskam, war indes kaum mehr als die tautologische Bestätigung des Vor-Urteils, daß beide der Norm nicht genügten, die das Leben und Werk Goethes, das Maß aller Dinge, vorgegeben habe, eines Goethe nämlich, der die kurzen und unordentlichen Lebensstrecken Lenzens wie Grabbes gelassen überspannt und beider zielloses künstlerisches Suchen in einem klassischen Reifungsprozeß aufgehoben habe1. Nicht viel anders urteilte bis weit in unser Jahrhundert hinein eine eher geistesgeschichtliche Einflußforschung, die Grabbes poetisches Wollen als eine Art »zweiten Sturm und

Wilhelm Scherer bringt Grabbe in der 8. Auflage seiner »Geschichte der deutschen Literatur« (Berlin 1899) in dem Kapitel über die Romantik unter, w o er ihn mit ganzen zwei Sätzen streift: zum einen empört er sich, daß auch Grabbe den durch Goethe geadelten Faust-Stoff behandelt: »Der thörichte Grabbe glaubte etwas Großes zu thun, wenn er Faust und Don Juan in dem selben Drama auftreten und um ein Mädchen kämpfen ließ« (S. 704); zum anderen dekretiert er, daß in Grabbes Hohenstaufen-Zyklus, »wie in allen seinen Stücken, die lächerlichste Renommage herrscht und jeder theatermäßige Zusammenhang fehlt« (S. 688). Als »Dramen der Renommage« bezeichnet Scherer auch die Stücke »der ungestümen Shakespearianer wie Lenz, Klinger, Wagner« (S. 502).

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Drang«, will sagen: als epigonale Reprise einer historisch obsoleten Protestattitüde abtun wollte 2 . Daß derlei Rückbezüge Grabbes auf einen am ästhetischen Ideal der Weimarer Klassik gemessenen und daher immer noch mißverstandenen Lenz letztlich nur dazu dienten, auch Grabbe ästhetisch zu diskreditieren und auszugrenzen, ist offensichtlich. Produktiver sind dagegen solche neueren Forschungsansätze, die gerade in diesem Nicht-Klassischen das Bedeutende von Grabbe wie Lenz erkennen, indem sie beide als Exponenten einer bestimmten Formtradition innerhalb der dramatischen Gattungsentwicklung aufeinander beziehen. So hat Walter Benjamin schon 1931 Grabbe wie Lenz einer gesamteuropäischen Tradition des »untragischen Helden« im Drama zugerechnet, die neben und unter der klassisch-hegemonialen Tragödien-Entwicklung stets lebendig geblieben sei und die von den platonischen Dialogen und mittelalterlichen Mysterien über das barocke Trauerspiel und das Drama von Lenz und Grabbe bis zu Strindberg reiche und schließlich auch in der Helden-Konzeption von Brechts »epischem Theater« wieder rezent werde'. Dieser knappe, aber weitreichende Hinweis auf ein »anderes« Drama, das Benjamin in seinem Trauerspiel-Buch am Beispiel des Barock geschichtsphilosophisch fundiert hatte, ist in der Grabbe-Forschung kaum ernsthaft weiterverfolgt worden. Er ist dafür freilich um so lieber zitiert und selektiv umgedeutet, ja legitimatorisch vereinnahmt worden für die Einreihung Grabbes in eine ebenfalls nicht-klassische, aber enger und dogmatischer gefaßte Entwicklungslinie des speziell deutschen Dramas, die mit der Shakespeare-Rezeption im Sturm und Drang beginne und über Grabbe und Büchner sowie bestimmte Tendenzen des Naturalismus und Expressionismus ebenfalls zur Dramaturgie Brechts führe4. Ob !

Vgl. Klaus Ziegler: Das deutsche Drama der Neuzeit. In: Deutsche Philologie im Aufriß, hrsg. von Wolfgang Stammler, 2. Aufl. Berlin 1960, Bd. 2, Sp. 2264; vgl. auch Friedrich Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 3, Stuttgart 1980, S. i49f.; sowie die Hinweise in dem Forschungsbericht von Alberto Martino: Christian Dietrich Grabbe. In: Jost Hermand und Manfred Windfuhr (Hrsg.): Zur Literatur der Restaurationsepoche 1 8 1 5 - 1 8 4 8 , Stuttgart 1970, S. 202—246, bes. S. 237; vgl. auch den Beitrag von Michael Vogt in diesem Band.

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Walter Benjamin: Was ist das epische Theater? (2. Fassung von 1939), in W.B.: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhausen Bd. II, 2, Frankfurt/M. 1977, S. 532-539, hier S. 533f. Das gilt vor allem für die DDR-Forschung. Vgl. Lothar Ehrlich: Z u r Tradition des epischen Theaters. Brecht und Grabbe. In: Weimarer Beiträge 24, 1978, H. 2, S. 1 4 8 - 1 6 0 , hier S. 149. - Der Aufsatz ist substantiell unverändert eingegangen in Ehrlichs Monografie: Christian Dietrich Grabbe. Leben, Werk, Wirkung. Berlin (Ost) 1983, S. 123 —138; vgl. hier bes. S. 125.

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diese Formtradition »nichtaristotelisch« oder »episch« genannt wird', ob sie typologisch als »offene Form« einer »geschlossenen Form« im Drama kontrastiert6 oder ob sie als Genealogie der dramatischen »Moderne« verstanden wird 7 - letztlich wird sie seit Ende der 50er Jahre immer wieder beschworen, um den übermächtigen und scheinbar voraussetzungslosen Neuerer Brecht zu historisieren und in seine eigene Vorgeschichte einzustellen, und immer gelten dabei Grabbe und Lenz als seine frühen Vorläufer und Wegbereiter. Doch wie unbestreitbar es auch ist, daß das Drama Lenzens und Grabbes in dieser Entwicklungslinie steht, so sehr verstellt doch die eindimensionale und geradezu teleologische Perspektivierung auf Brecht den Blick auf ihre je eigentümliche Form und Leistung wie auf ihr spezifisch Gemeinsames. Zwar sind Lenzens »Anmerkungen übers Theater« eine bedeutende Programmschrift des modernen Dramas, doch hat die darin proklamierte Abkehr von Aristoteles nicht das Geringste gemein mit Brechts Aversion gegen die »Einfühlung«, im Gegenteil: Lenz versprach sich die politische und verändernde Wirkung seines Theaters just von jener affektiven Identifizierung des Zuschauers mit dem Bühnengeschehen, die Brecht so verdächtig war8. Richtig ist auch, daß Grabbe in seinem »Napoleon«, in den Massenszenen zumal, eine »Demontage des großen weltgeschichtlichen Helden«? betrieb und einer nicht-idealistischen Geschichtsauffassung zu dramatischem Ausdruck verhalf; dennoch ist es abwegig, in allen Referenzen Brechts auf Grabbe Belege für ein direktes Nachfolge-Verhältnis sehen zu wollen 10 . Brechts »Baal« hat, als eine polemische Kontrafaktur gegen Johsts »Einsamen« und gegen das expressionistische Drama schlechthin, nur sehr äußerlich-stofflich mit Grabbe zu tun", und die unvollendete »Hannibal«-Bearbeitung hat ihre Pointe — wie ' 6 7

Marianne Kesting: Das epische Theater. Z u r Struktur des modernen Dramas. Stuttgart 1959. Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. München 1969. Walter Höllerer: Zwischen Klassik und Moderne. Lachen und Weinen in der Dichtung einer Übergangszeit. Stuttgart 1958; zu Grabbe S. 1 7 - 5 7 .

* Vgl. die Schriften »Über Götz von Berlichingen« sowie »Anmerkungen übers Theater«. In J . M . R . Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden, hrsg. von Sigrid Damm, 33 Bde., Leipzig und München 1987, Bd. 2, S. 6 3 7 - 6 4 1 bzw. 6 4 1 - 6 7 1 ; vgl. besonders die Passagen über das »Reizende und Anziehende« der Charaktere und über die Wirkung der Schauspiele S. 662 bzw. 639. » Ehrlich: Z u r Tradition a.a.O. S. 153. Ebenda S. 126 ff. " V g l . dazu die grundsätzliche Klarstellung bei Florian Vaßen: Die »Verwerter« und ihr »Material« — Brecht und Baal. Bertolt Brechts »Baal« — ein Gegenentwurf zu Hanns Johsts »Der Einsame«. In: Grabbe-Jahrbuch 8, Bielefeld 1989, S. 7 - 4 3 . 10

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übrigens auch die des Lenzschen »Hofmeister« - gerade darin, daß sie das Stück ungeniert als »Materialwert« nützt und es für einen inhaltlich wie dramaturgisch gegenläufigen Zweck regelrecht umfunktioniert 12 . Grabbe von Lenz her zu verstehen - das muß in der Tat heißen, ihn aus jener Dramentradition heraus zu verstehen, die ihn mit Lenz verbindet; es kann aber nicht heißen, diese dramaturgische Tradition von ihrem vermeintlichen Fluchtpunkt Brecht her zurückzuprojizieren; es muß vielmehr heißen, sie von ihrer Genese her, also von Lenz her zu bestimmen. Doch je weniger man die Linie zu Brecht auszieht und je weniger man von literaturgeschichtlichen Konstruktionen ausgeht, sondern von den Texten selber, desto unklarer wird, was Grabbe überhaupt mit Lenz verbinden sollte. Nicht zufallig sind Lenz und Grabbe separat immer wieder auf die übrigen Autoren dieser Linie, auf Büchner und Brecht, bezogen worden 1 ', niemals jedoch einander direkt konfrontiert worden, und auf den ersten Blick scheint diese Leerstelle sogar verständlich. Denn was sollte Lenzens unbestechlicher Blick auf die Standesgegensätze, auf die Herrschaft des Geldes und die Privilegien der Bildung, seine psychologische Ausleuchtung der Milieus von Garnison und Universität, der Familie und vor allem der Sexualität, seine frühe Bloßlegung des bürgerlichen Triebschicksals — was also sollten Lenzens Pionierleistungen des sozialen Dramas zu tun haben mit Grabbes weit ausgreifenden Simulationen der Schlachtfelder der Weltgeschichte? Was sollte man aus einem Vergleich von Lenzens niedergemachten Protagonisten, dem Hofmeister Läuffer oder der Soldatenhure Marie Wesener, mit Grabbes kolossalischen Heroen von Herzog Gothland bis zu Napoleon lernen können? Was erbrächte eine Aufrechnung von Grabbes Berührungsproblemen mit dem doch bewunderten Elisabethaner in dem »Shakspearomanie«-Aufsatz gegen Lenzens gelehrte, geistreiche und konsequente Shakespeare-Interpretation in den »Anmerkungen übers Theater«? Ist nicht überhaupt Grabbes Dramaturgie mit ihrem Schielen auf Schiller und ihrer Forderung nach einem »dramatischen Mittelpunkt« und einer »concentrischen Idee«' 4 ein konventioneller Rückfall hinter den kühnen Traditionsbruch "

Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Jan Knopf: Brecht-Handbuch Theater, Stuttgart 1986, S. 5 4 8 - 3 5 0 .

'» Z u r Lenz-Forschung vgl. die Nachweise bei Hans-Gerd Winter: J . M . R . Lenz, Stuttgart 1987, S. 125 und 180; zur Grabbe-Forschung bei Ehrlich: Chr.D. Grabbe a.a.O. S. 74fr. und 1 2 ) f f . sowie die dort verarbeitete Literatur. 14 Christian Dietrich Grabbe: Über die Shakspearo-Manie. In: C h . D . G . : Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe in sechs Bänden, hrsg. von Alfred Bergmann, Emsdetten i9Öoff., Bd. IV, 1966, S. 29—;;, hier S. 4 1 .

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Leiwens? Und schließlich: wenn schon zurück zum Sturm und Drang: läge es da nicht näher, Grabbe von den Autoren und Stücken her zu verstehen, die ihn offensichtlich direkt beeinflußt haben, von Goethes »Götz«, Klingers »Zwillingen« und Schillers »Räubern«"? Zugegeben: das sind gewichtige Einwände. Indes: mein Vorschlag, Grabbe von Lenz her zu verstehen, soll nicht als ein Stück historischer Einflußforschung oder vergleichender Motivanalyse verstanden werden. Beides wäre wohl tatsächlich unergiebig; von einer bewußten und direkten Referenz Grabbes auf Lenz kann jedenfalls nicht die Rede sein. Ich will auch nicht versuchen, Grabbe aus dem Ghetto des »Sonderfalls« zu befreien, indem ich ihn endlich als Lenzianer erweise, und ich kann hier schon gar nicht die ganze von Benjamin skizzierte Geschichte des »untragischen Helden« verfolgen. Meine Ansprüche sind zunächst bescheidener: ich möchte lediglich als passionierter Lenz-Leser der Grabbe-Forschung eine persönliche Lese-Erfahrung bekannt machen. Es ist die Erfahrung eines Lesers, der sich mit einem ganz bestimmten Verständnis von Lenzens Drama im Hinterkopf über ein ganz bestimmtes Drama von Grabbe beugt und dabei spontan zu einer Lesart kommt, die, wie er später feststellt, allen gängigen Interpretationen dieses Dramas widerspricht. Ob diese Interpretation nur eine subjektive Projektion ist oder ob sie sachlich gerechtfertigt, vielleicht sogar verallgemeinerbar ist, möchte ich der Diskussion überlassen. Ich stelle also zunächst knapp dar, was ich die Intentionalität von Lenzens Drama nennen möchte. Daraufhin interpretiere ich ganz bewußt mit dieser an Lenz gewonnenen Sehweise das Grabbe-Drama. Abschließend versuche ich ein paar Konsequenzen anzudeuten, die sich aus dieser meiner Lesart für eine genauere Bestimmung von Grabbes Ort in der oben skizzierten anti-klassischen Traditionslinie des deutschen Dramas ergeben könnten.

I Man versteht das Lenzsche Drama nur dann, wenn man das »Offene« seiner Dramaturgie als authentischen Ausdruck einer höheren, philosophischen »Offenheit« seines Autors begreift, nämlich eines für ihn unlösVgl. die Bemerkungen bei Manfred Schneider: Destruktion und utopische Gemeinschaft. Zur Thematik und Dramaturgie des Heroischen im Werk Christian Dietrich Grabbes, Frankfurt/M. 1973, S. 6 - 1 7 .

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baren Widerspruchs zwischen seiner Weltanschauung und Wirklichkeitsauffassung16. Auf der einen Seite ist Lenz, der über die Theologie zur Aufklärung gekommen ist, ein Anhänger der Leibnizschen Metaphysik, also einer Art Vernunftreligion, die davon ausgeht, daß die Welt von einem vernünftigen Schöpfer als beste aller denkbaren geordnet ist. Wenn sie aber so vollkommen ist, dann muß sie für Lenz vor allem gewährleisten, daß jeder einzelne sich in ihr seiner Bestimmung gemäß entfalten kann, ohne dabei die Freiheit des anderen oder gar die prästabilierte Harmonie des Ganzen zu stören. Die zentrale anthropologische Bestimmung des Menschen aber ist für Lenz seine Willensfreiheit, genauer: seine Handlungsfreiheit. Für ihn ist der Mensch nur als handelndes, tätiges, schöpferisches Wesen ganz bei sich. Als Krönung der göttlichen Schöpfung und als Gottes Ebenbild auf Erden gebührt ihm, wie er sagt, »die erste Sprosse auf der Leiter der freihandelnden selbständigen Geschöpfe«'7. Wenn also der Mensch, so Lenz, »Platz zu Handeln« hat' 8 , erfüllt er seine göttliche Bestimmung in dem prägnanten Sinne, daß er sein ihm von Gott zugedachtes individuelles Glück findet und damit zugleich seinen Beitrag zur harmonischen Balance des ganzen Weltgebäudes leistet. Einerseits bindet Lenz also die aufklärerische Idee der SubjektAutonomie noch an die Leibnizsche Metaphysik zurück, andererseits konkretisiert er sie zur pragmatischen Forderung nach sozialer Handlungsfreiheit; aber auch diese pragmatische Perspektive formuliert er im Vorstellungsrahmen eines idealistisch-metaphysischen Weltbildes. Dieser idealistischen Anthropologie steht bei Lenz jedoch eine entschieden sensualistisch-empiristische Wirklichkeitswahrnehmung gegenüber, die er auch eigens erkenntnistheoretisch reflektiert. Gegen die cartesianische Vorstellung von den eingeborenen Ideen pocht er auf die sinnliche Wahrnehmung als unabdingbarer Voraussetzung aller menschlichen Erkenntnis. Am Anfang aller Begriffsbildung und allen Denkens, formuliert er einmal besonders plastisch, stehe die sinnliche Aneignung »aller der Dinge, die wir um uns herum sehen, hören etcetera, die durch die fünf 16

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Das Folgende basiert auf meinen Aufsätzen: Lamettrie und die Folgen. Zur Ambivalenz der Maschinen-Metapher bei J . M . R . Lenz. In: Erhard Schütz (Hrsg.): Willkommen und Abschied der Maschinen. Literatur und Technik, Essen 1988, S. 2 3 - 4 1 ; sowie: Götterblick und menschlicher Standpunkt. J . M . R . Lenz' Komödie »Der Neue Menoza« als Inszenierung eines Wahrnehmungsproblems. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft J3, 1989, S. 185-209. Lenz: Anmerkungen übers Theater a.a.O. S. 645. Lenz: Über Götz a.a.O. S. 638.

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Tore unserer Seele in dieselbe hineindringen« 1 '. Entsprechend primär und sinnlich nimmt Lenz die Welt, die Menschen und ihr Handeln wahr, und entsprechend unbestechlich registriert er, daß der Mensch nicht als souveränes Subjekt frei handelt, sondern fremdbestimmt ist, »Ball« der Umstände, wie er einmal sagt20, oder, noch plastischer, »eine vorzüglichkünstliche kleine Maschine, die in die große Maschine, die wir Welt, Weltbegebenheiten, Weltläufe nennen, besser oder schlimmer hineinpaßt«11. Wie kaum ein zweiter Autor seiner Zeit durchschaut Lenz den Menschen als abhängiges Wesen, »dependierend« 21 von äußeren Verhältnissen, sozialen Hierarchien und materiellen Abhängigkeiten, aber auch von inneren Zwängen, emotionalen Strebungen und triebhaften Impulsen. Der für Lenzens gesamtes Weltbild bestimmende Zwiespalt ließe sich also auf die Formel bringen: woran er als Theologe und Leibnizianer glaubt oder doch glauben will: die von Gott garantierte Handlungsautonomie des Subjekts, dafür findet er als empirischer Beobachter der Wirklichkeit keine zureichende Bestätigung. Das für unseren Zusammenhang Entscheidende ist nun, daß Lenz diesen fundamentalen (auch seine existenziellen Krisen verursachenden) weltanschaulichen Zweifel in seiner künstlerischen Produktion, namentlich in den Dramen, nicht zur einen oder anderen Seite hin auflöst, sondern als Widerspruch ausstellt. Lenz schreibt weder Tragödien der Theodizee noch Dramen der schieren Kontingenz. Was er dagegen in Szene setzt, ist die Erfahrung, daß, wie Hans Mayer einmal treffend formulierte, die Wirklichkeit nicht bereit war, das Konzept vom Blatt zu spielen2'. Lenz legt seine Stücke weder heroisch noch fatalistisch oder gar zynisch an, sondern als sich selbst dementierende Spiele. Sie bieten keine Quintessenz oder gar Lösung der Probleme, die sie traktieren, sei es der Privaterziehung oder der Soldatenehen, sie bieten vielmehr Idee und Wirklichkeit der Lösungsstrategien gegeneinander auf und dementieren alle von den handelnden Personen vorgebrachten Konzepte, und zwar nicht nur, weil diese sich wechselseitig aufheben, sondern vor allem, weil die sinnlich vorgeführte Logik der dramatischen Lenz: Anmerkungen übers Theater a.a.O. S. 64;. Lenz: Über Götz a.a.O. S. 638. " ebenda S. 637. " So spricht Lenz von sich selbst in einem Brief an seinen Bruder Johann Christian vom 15. Juli 1772 (Briefe und Werke Bd. 3, S. 261). *' Hans Mayer: Lenz oder die Alternative. Nachwort von J . M . R . Lenz: Werke und Schriften, hrsg. von Britta Titel und Helmut Haug, 2 Bde., Stuttgart 1967, Bd. 2, S. 822. 10

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Handlung selber sie Lügen straft, ohne ihrerseits Raum für gangbare Alternativen zu lassen. Diese Dramaturgie, die alle geläufigen sozialreformerischen Programme zuschanden werden läßt, ohne praktikable Gegenvorschläge zu unterbreiten, die also bewußt bei der Dementierung der Idee durch die Wirklichkeit stehenbleibt, diese Dramaturgie der Lenzschen Stücke muß man solange verkennen, wie man in ihnen selbst nach einer gültigen Position sucht und diese womöglich mit der diskursiven Position des Autors identifiziert. Mag Lenz im theoretischen Räsonnement noch so sehr mit den aufgeklärten Konzepten des Geheimen Rats sympathisieren, in der Logik des Dramas enthüllt er auch diese ihm zweifellos nahestehende aufklärerische Position als reine Phrase, und zwar nicht durch die Entgegnungen von Vater Läuffer, sondern auch durch die in dem Stück geltende dementierende Macht der gesellschaftlichen Umstände selber. Was das Stück vom Hofmeister als fabula docet allenfalls anbietet, ist die Einsicht, die Brecht in seiner Bearbeitung so vorzüglich zur Demonstration der deutschen Misere gebrauchen konnte: daß nämlich die Verhältnisse so nicht sind, wie sie sich die Herren Aufklärer am Schreibtisch gern zurecht legen. Man solle seinen Stücken nicht fortwährend einen moralischen Endzweck unterstellen, beschied Lenz einmal unwirsch seine Rezensenten24. Genausowenig sollten wir fortfahren, die Intentionalität seiner Stücke mit den Ansichten ihrer Personen oder gar ihres Autors zu verwechseln. In seiner dementierenden Struktur selber liegt die Intentionalität von Lenzens Drama.

II Wie schwer sich die Forschung auch tut mit der ästhetischen Bewertung von Grabbes Erstling, darin ist sie doch prinzipiell einig, daß der »Herzog Theodor von Gothland« ein Drama des »völligen Nihilismus« sei, wie Benno von Wiese schon 1948 schrieb2'. Seither gilt unwidersprochen, daß das Stück die systematische Destruktion des Titelhelden, seiner Persönlichkeit, seiner Familie, seiner privaten und politischen Ambitionen, seiner moralischen Werte und endlich seiner physischen Existenz vorführe, 14

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J . M . R . Lenz: Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers. In: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 675. Benno von Wiese: Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, Hamburg 1948, S. 462.

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und daß des Helden gänzliche Vernichtung der Triumph eines ins Monströse übersteigerten Prinzips der absoluten Negativität sei, verkörpert in seinem ebenso fürchterlichen wie grandios-entschlossenen Gegenspieler Berdoa. Mit diesem Stück, so immer noch der Konsens, mute Grabbe seinem Publikum - sei es aus schierer Originalitätssucht, aus hintersinnigem Marktkalkül oder aus echter Verzweiflung - nichts Geringeres zu, als einzusehen, daß die Welt in Wahrheit die Hölle sei und daß man deshalb in ihr nur die Gesetze der Hölle zur Maxime des Denkens und Handelns machen könne26. Dieser Lesart aber kann man, von Lenzens Dramaturgie herkommend, partout nicht folgen. Man muß gar nicht Lenz im Kopf haben, man muß sich zunächst nur unvoreingenommen von klassischen Mustern auf den Wortlaut der Dialoge und Monologe sowie auf den äußeren Handlungsablauf einlassen, um zu erkennen, daß in diesem Drama keineswegs der vollständige Sieg des Bösen über das Gute, die systematische Vernichtung Gothlands durch Berdoa dargestellt wird. Wenn man sich aber erst einmal auf das äußere Geschehen und den inneren Konflikt Gothlands eingelassen hat, dann fügt sich das Stück zu einem plausiblen Sinn tatsächlich nur, wenn man auch in ihm etwas wie eine Dramaturgie der Dementierung erkennt, wenn auch nicht in derselben inhaltlichen Ausprägung und der lakonischen Unerbittlichkeit wie bei Lenz. Woran Grabbe seinen Gothland sich abarbeiten und sich selbst vernichten läßt, das ist der Zwiespalt zwischen zwei inhaltich diametral entgegengesetzten Welterklärungsmustern, die dennoch strukturell identisch sind, und zwischen denen er sich eben deshalb nie eindeutig entscheiden kann. Das eine, in der Geschehenszeit gesprochen: alte Erklärungsmuster formuliert Gothland gleich in seinem ersten Auftritt. Es ist die Beschwörung seiner alten Freundschaft zu seinen Brüdern, die »wie ein holder Genius« über seinem Leben schwebe (I/30)27. Mit diesen Worten präludiert er eine das ganze Stück durchziehende, immer wieder durch Gegenwartshandlung unterbrochene, sentimentale, ja melancholische Reminiszenz an das, was er »der Kindheit Rosenzeit« nennt (I/133), eine Sphäre des Glücks, der heilen Ordnung und natürlichen Gerechtigkeit, der familiären Gebor26

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Erneuert, wenn auch von der metaphysischen auf eine rhetorische und wirkungsstrategische Sichtweise übertragen hat diese Interpretation auch Schneider: Destruktion und utopische Gesellschaft a. a. O. S. 1 —31. Zitate aus dem »Gothland« werden im folgenden durch Angabe der Band-Nr. und der Seitenzahl der historisch-kritischen Ausgabe von Bergmann (siehe Anm. 14) nachgewiesen.

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genheit, der Vaterlandsliebe und der mimetischen Verschmelzung mit der Natur - einer Art rousseauistischen Utopie also, der er aber nicht wie einem verlorenen Paradies nachtrauert, sondern die er idealistisch überhöht und verinnerlicht, so daß sie ihm auch in der Handlungsgegenwart als transzendentales Obdach und als innerer Kompaß seines Handelns dient. Denn es ist immer noch diese Welt, in der Gothland sich definiert, als die Stückhandlung beginnt. Aus ihr bezieht er seine moralischen Maßstäbe und seinen Glauben an einen alles überwölbenden »Himmel«, wie er sich mit Vorliebe ausdrückt28. Und dieses sein Vertrauen in einen wohlgefügten »Weltbau«, wie er ebenso gern sagt 2 ', wird nun durch die scheinbar perfekte Intrige Berdoas so nachhaltig desillusioniert, daß er sogleich zu dem Welterklärungsmuster seines Zerstörers überläuft, das nota bene nicht etwa in der Leugnung jeder Transzendenz besteht, sondern in der Umdeutung Gottes als Teufel, als des bösen Prinzips schlechthin. Doch wie schnell und entschlossen sich Gothland diesem Prinzip auch verschreibt (das Verhältnis der beiden Protagonisten hat Vieles von dem zwischen Faust und Mephisto!), wie wortgewaltig er sich nun auch immer wieder zu seiner »Sonnenwende« bekennt (I/91) und als gelehriger Schüler Berdoas dessen Parolen der Destruktion predigt - er kann ihnen doch in Wahrheit nicht folgen. Vielmehr wird er unablässig sowohl von sentimentalen Sehnsuchts-Rückfällen nach der verlorenen Idylle als auch von moralischen Schuldgefühlen und religiösen Gewissensbissen ob seiner Konversion heimgesucht. Deshalb ist es nicht die strikte Exekution des >Prinzips Berdoa° Daß Berdoa eine Kunstfigur, die Verkörperung einer Idee ist, darauf deutet schon die bizarre Konstruierung seiner exotischen Herkunft und seiner Biographie, vor allem aber die ortlose Omnipräsenz, mit der er Gothland wie ein Schatten überall hin folgt. Übrigens ist auch Gothland, insofern er in sich den Widerstreit zwischen dem >Prinzip Berdoa< und der rousseauistischen Idee austrägt, keineswegs Mensch aus Fleisch und Blut, sondern Sprachrohr eines Gedankens. Beide Protagonisten existieren gewissermaßen nur durch einen Akt der rhetorischen Selbstkonstituierung: sie sind nur, was sie von sich aussprechen. Der Unterschied zu den lebendigen individuellen und authentischen Charakteren, die Lenz auf die Bühne bringen wollte, könnte nicht größer sein. Ähnliches gilt für die Handlung. Bei Lenz resultiert das die klassischen Formen Sprengende aus der Fülle, Vielfalt und Konkretheit der auf die Bühne gebrachten, allemal primären Handlung; in Grabbes »Gothland« ist die äußere Handlung dagegen sekundär; sie ist Spielhintergrund (auch in der konkreten Bühnenchoreografie) für das Duell zwischen Gothland und Berdoa, das seinerseits kaum mehr ist als die Figuration eines weltanschaulichmoralischen Zwiespalts. Z u Recht konstatiert daher Wolfgang Hegele die »Sonderung einer Monologkette als sinntragende Schicht von der pragmatischen Handlung« (Grabbes Dramenform, München 1970, S. 22).

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Hergerissen-Sein zwischen einem guten und einem bösen Prinzip, die beide soweit zum Extrem verabsolutiert sind, daß sie nicht mehr auf die Wirklichkeit auftreffen und ihn gleichermaßen realitätsuntüchtig machen. Wie sehr Gothland an der so vollmundig übernommenen Philosophie Berdoas zweifelt, ja buchstäblich ver-zweifelt, erweist sich immer dann, wenn er praktisch nach ihr handeln müßte. Nur drei beliebig herausgegriffene Beispiele mögen das illustrieren. Als sich Gothland eben in einem langen Monolog zu der Auffassung durchgerungen hat, daß es legitim sei zu morden »— Zwar habe ich gemordet, doch - Doch Morden ist So schlimm nun grade nicht! (...) Vor wem sollt' ich erröthen? (...) - Vor wem sollt' ich mich fürchten?«

— als er sich also eben zu Berdoas Maximen bekannt hat, weicht er doch dem gerade auftretenden Vater, der gegen ihn zu Felde zieht, mit den Worten aus: »Scheu fliehe ich dem Vatermorde aus dem Wege und entrinne über's Meer!« (I/84f.)

Als Gothland später, nachdem er die schwedische Flotte auf eine Klippe gelockt hat, einem letzten sich an Land rettenden Matrosen die Finger hat kappen lassen, da bricht es aus ihm hervor: »Wie mich der Arme rührt: Könnt' ich ihn retten! Weh mir, was habe ich getan! (...) Eine treue Mutter harrt vielleicht auf ihn daheim.« (I/104)

Schließlich: als Gothland während des langen Zweikampfes mit Berdoa blutüberströmt und scheinbar endgültig besiegt von seinem Bezwinger aufs Theater gezerrt wird, fleht er diesen an, ihn in seinen alten Weltzustand zurückzuversetzen: » ( . . . ) Gib Mir meinen Bruder, gib Mir meine Unschuld wieder! G i b meinen Sohn und gib mit ihm zugleich Mein theures Weib mir wieder! Meinen Ruhm Und meine Ehre, meine Freuden, meinen Himmel, mein

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Bewußtseyn gib Mir wieder! wieder! wieder!« (I/197)

Was Gothland hier, den Tod vor Augen, in einer nicht eben heroischen Geste ausspricht und was ihm schon zuvor in der einsamen Bergnacht als Angstvision des Jüngsten Gerichts ereilt hat (I/160), — das alles zeugt von Schuldgefühlen, Gewissensbissen, ja von Reue. Es sind jene Gewissensbisse, denen der gesamte, handlungsarme vierte Akt mit dem langen Gespräch zwischen Gothland und Berdoa über die Unsterblichkeit gewidmet ist; und es ist jene Reue, die ihm seine Frau Cacilia von Anfang an nahelegt. Damals hatte er ihren Umstimmungsversuch noch mit den Worten abgewehrt: »Vergebens lockst Du mich, Sirene!« (I/i}8)

doch schon damals war die Grausamkeit und Entschlossenheit, mit der er reagierte und die er seinem Sohn als regelrechte Pädagogik der Verhärtung mit auf den Weg gab' 1 , nichts als eine Maskierung seiner Schwäche, seiner Zweifel und Anfechtungen. Gothland ist der Bösewicht nicht, der er zu sein beschließt, er kann es nicht sein. Grabbe macht das dem Zuschauer unmißverständlich klar, indem er seinen Helden diese seine Zerrissenheit immer wieder aussprechen läßt: nicht auf dem Felde, sondern in seiner Brust habe er seine Schlachten zu schlagen, antwortet er zweimal seinen fordernden Offizieren (I/30, 87), und seine Seele sei »ein Haufe von zusammengesperrten Tigern, die einander auffressen«, kurz, er wünsche sich die moralische Taubheit eines Tieres: »O wie glücklich ist ein Vieh ( . . . ) O - wäre ich ein Vieh!« (I/i 31)

In der Tat: Gothland ist die Bestie nicht, als die Berdoa sich stolz bekennen kann. Dazu fehlt ihm die kalte Indifferenz, in der ihm, wie er halb neidisch, halb grausend feststellt, selbst der käufliche Opportunist Arboga überlegen ist: »Wie gleichgültig eilt dieser Arboga an das scheußliche Geschäft des Mordes. E r scheint mir das zu sein, was ich noch werden muß!« (I/175)

Dieser Selbsterkenntnis widerspricht auch nicht der Umstand, daß sich Gothland durchaus zu einigen grausamen Taten hinreißen läßt: daß er >' V g l . I/146: »Verstein' dein zartes Herz und mach'/ Es zähe für die Hämmer der G e schichte;/ Verbanne Mitleid und Gefühl aus Deiner Brust/ ( . . . ) Vor allem aber bitt' ich Dich,/ Bereue nichts!«



Martin Rector

den Boten Rolf und seinen Diener Erik ermordet, daß er fünftausend Gefangene töten läßt und daß er, einer plötzlichen Anwandlung nachgebend, das Anwesen einer friedlichen Bauernfamilie verwüsten läßt' 2 . Alle diese Mordtaten sind zwar grausam, aber sie sind zugleich irrational, unnötig und feige; sie stehen in einem kompensatorischen Verhältnis zu der skrupulösen Retardierung, mit der er seinen entscheidenden Rachezug gegen Berdoa vor sich her schiebt. Gothlands Mordtaten sind nicht die Aktionen eines wirklich Bösen, weder des kalten noch des leidenschaftlichen, sie sind vielmehr die Verzweiflungstaten dessen, der beschlossen hat, ein Böser zu sein, und der sich selber die Beweise schuldig ist. Gern wird in diesem Zusammenhang Schillers Pastor Moser zitiert, der dem Räuber Moor eine »Philosophie der Verzweiflung« attestiert»; womöglich noch treffender aber läßt sich Lenins berühmtes Diktum beiziehen, daß der Anarchismus ein Produkt der Verzweiflung sei34. Tatsächlich sind Gothlands Untaten terroristische Akte, motiviert vom Bewußtsein der Aussichtslosigkeit und ausgeführt in einer Gebärde der trotzigen Selbstanstachelung. Nichts verdeutlicht das Voluntaristische in Gothlands Konversion zum >Prinzip Berdoa< sinnfälliger als die Tatsache, daß er an dem Entschluß auch dann noch festhält, als dessen Motiv hinfällig wird, als er nämlich Berdoas Intrigen durchschaut. Gothland will der Böse sein, und Berdoas Intrige ist ihm dazu nur der willkommene äußere Anlaß. Er will es sein, weil sich einerseits seine Weltschmerz-Utopie allzu deutlich als Trug enthüllt hat, weil er aber andererseits der kruden, von allen idealischen Schleiern enthüllten Wirklichkeit nicht standhalten kann; weil er die Vorstellung einer radikal entgötterten, kontingenten Welt nicht aushält und deshalb unter einen neuen idealistischen Himmel fließen muß, und sei er auch nur die abstrakte Negation des alten: die Hölle. Hier offenbart sich die schon erwähnte strukturelle Identität der beiden inhaltlich gegensätzlichen Welterklärungsmuster Gothlands: beide sind idealistischer Natur. Deshalb wandelt sich Gothland nicht qualitativ, wenn er sich von der einen in die andere stürzt; er wechselt nur die Vorzeichen und rettet sich aus der Melancholie in den Zynismus. Dieser voluntaristische Sprung ins Gegensätzliche ist nur eine Erscheinungs-

31

" 54

Vgl. I/79; 179; 126; 1 2 1 . Vgl. zuletzt Schneider: Destruktion und utopische Gemeinschaft a.a.O. S. i6f. W.I. Lenin: Anarchismus und Sozialismus (1901). In: Werke, Berlin/DDR, Bd. 5, 1972, S. 3}4f.

Grabbe von Lenz her zu verstehen

39

weise des Umkippens der Extreme ineinander, das Inhalt mit Form des gesamten Stückes strukturiert". Daß man diesen Zynismus nicht als die gültige Position Gothlands, als die Aussage des Dramas oder gar als die Philosophie des Autors mißverstehen darf, darauf hat schon Grabbe selbst in seiner bekannten Fußnote zu Tiecks Einleitungsbrief in der ersten Buchausgabe hingewiesen: »Der

Cynismus

wollte

nach der T e n d e n z

des Verfassers

sich in

diesem

Trauerspiele in keiner A r t als das H ö c h s t e und Letzte geben; er erscheint n u r stellenweise als G e g e n s a t z der neumodischen Sentimentalität.«' 6

Man sieht: Grabbe verwahrt sich hier gegen dasselbe Mißverständnis, das Lenz widerfährt, wenn der Geheime Rat zum gültigen Verkünder der Botschaft des »Hofmeisters« erklärt wird. Insofern es die erwartete Quintessenz verweigert, folgt auch Grabbes »Gothland«-Stück einer Dramaturgie der Dementierung. Beide Welterklärungsmuster Gothlands, seine Weltschmerz-Utopie wie deren radikale Negation durch das >Prinzip Berdoa< dementieren einander nicht nur wechselseitig, beide werden auch durch Gothlands reales Schicksal dementiert: beide helfen ihm nicht aus seiner Trauer über den gestorbenen Bruder, beide machen ihn nicht wirklich handlungsfähig, sondern stürzen ihn entweder in die Abgründe der Melancholie oder in blinden Aktionismus. Auch Grabbe inszeniert also ein sich selbst dementierendes Spiel. Weder steht er auf der einen oder anderen Seite noch weiß er eine Lösung. Er hat vielmehr zu der Handlung dieser seiner ersten Tragödie dieselbe Distanz wie zu seiner strukturell durchaus vergleichbaren Komödie »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung« — und er ist sich dessen durchaus bewußt. Im Juni 1827 schreibt er an Kettembeil, seine Komödie sei »aus den nämlichen Grundansichten« wie der Gothland entsprungen, »Aber in der äußeren tollkomischen Erscheinung ein vollkommener Contrast des so tragischen »

Man denke nur an Gothlands Satz »Gibt's ein Elysium, gibt's auch eine Hölle« (1/124) oder an Berdoas Diktum, daß große Liebe auch großen Haß bedeute (I/21), aber auch an solche Strukturmomente der Handlung selber wie etwa Gothlands Pendeln zwischen Schweden und Finnen oder seine Verbrüderung mit seinem Erzfeind Berdoa. Schneider spricht generell von einem »gesetzhaften Umschlagen des Guten ins Böse« (Destruktion und utopische Gemeinschaft a.a.O. S. iof.). In der Tat kennzeichnet ein Umkippen der Extreme ineinander auch die Dynamik der Dialoge und der Monologe der Protagonisten, die dann ihrerseits Handlungsumschwünge einleiten. »Die Gesprächsfuhrung auf Pointen hin mittels rasch umschläglicher Reden ist Grabbe eigentlich gemäß« resümiert Hegele seine detaillierte Untersuchungen (Grabbes Dramenform a. a. O. S. 159).

36

Kopie eines Briefes von L. Tieck über die Tragödie Herzog Theodor von Gothland, Dresden den 6. Dezember 1822. In: Werke, hrsg. Bergmann, Bd. 1, S. 4.



Martin Rector

Gothlands«' 7 . Noch deutlicher erkannte ein zeitgenössischer Rezensent die spiegelverkehrte Analogie beider Stücke, wenn er schrieb, die Komödie sei »nur die lustig sein sollende Kehrseite des Gothland. Alles, was der Mensch vom Höchsten bis zum Niedrigsten glaubt oder kennt, wird darin verhöhnt«' 8 . Hat der Blick von Lenz her erst einmal die Einsicht vermittelt, daß auch die Intentionalität von Grabbes Erstling in seiner dementierenden Struktur liegt, dann lassen sich vor der Folie dieser dramaturgischen Parallele auch die spezifischen Unterschiede zwischen Lenz und Grabbe hervorheben. Lenzens bestimmtes Thema ist die Dementierung idealistischer Konzepte von Welt, Mensch und Gesellschaft durch die sinnliche Wahrnehmung der Realitäten, die sich diesen Ideen nicht fügen. Die Krise des idealistischen Weltbildes ist auch Grabbes Thema. Doch anders als Lenz bietet er gegen den zerfallenden Schein nicht die enthüllte Wirklichkeit selber auf, sondern einen anderen Schein, der nur die idealisierte Negation des ersten ist. Lenz wie Grabbe verweigern die Lösung und verharren in der Dementierung, aber während Lenzens Entmächtigung der Subjekt-Autonomie von trocken-trauriger Unwiderruflichkeit ist, flüchtet sich Grabbe mit verzweifeltem Pathos in die scheinhafte Wiederauferstehung des autonomen Subjekts als heroisches Opfer. Lenzens entmächtigtes Subjekt paßt in kein tradiertes Muster vom dramatischen Helden, deshalb verzichtet sein Autor auf die Tragödie, erklärt nicht den Helden, sondern die ihn determinierenden Umstände zur Hauptsache im Drama und nennt dieses ein Komödie". Doch was er als Komödie definiert, weil es für das Neue noch keinen Namen gibt, ist der Anfang des sozialen Dramas. Wie Lenzens Stücke auf den Materialisten Büchner vorausweisen, greift dasjenige Grabbes auf den Idealisten Schiller zurück. Für Grabbes Helden des negierten Idealismus paßt der Form nach noch das Muster der Tragödie. Weil Grabbe mit seiner Desillusionierung des Idealismus doch im Banne des Idealismus bleibt, rekurriert er trotz aller aporetischen Offenheit im Gedanklichen doch auf die ästhetischen Konventionen des Idealismus, auf den zentralen Helden und eine um diesen zentrierte, eben »konzentrische« Handlungsführung. Doch diese seinem Drama übergestülpte traditionelle Form-Hülle widerspricht nicht nur dessen Inhalt, sie hat ganz offensichtlich auch die Funktion, diesen buchstäb17

Brief an Kettembeil vom i. Juni 1827. In: Werke, hrsg. Bergmann, Bd. 5, S. 158. >' Alfred Bergmann: Grabbe in der zeitgenössischen Kritik, Bd. 1, Detmold i960, S. 99. « Lenz: Anmerkungen übers Theater a.a.O. S. 669^, sowie ders.: Rezension des Neuen Menzoa von dem Verfasser selbst aufgesetzt. In: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 703.

Grabbe von Lenz her zu verstehen

41

lieh wieder zu ver-hüllen4°. Zugespitzt könnte man sagen: der Held Gothland ist, wie er ist, weil er nicht sein soll wie Hofmeister Läuffer, und die dramatische Form des »Herzog von Gothland« ist nichts als die Form gewordene Angst vor der Offenheit des »Hofmeisters«.

III Wenn die hier vorgeschlagene Lesart des »Gothland« auch nur eine durch den Text gedeckte Möglichkeit ist, dann hat sie den Vorzug, daß sie den Ort Grabbes in der Entwicklungsgeschichte des nicht-klassischen Dramas von Lenz bis Brecht aus dem historischen Formenwandel der Gattung selbst bestimmen kann. Denn die spezifische Form von Grabbes Drama, um die es hier geht und die sich erst im Lichte von Lenzens Drama abzeichnet, diese dramatische Form erschließt sich weder durch die Abgleichung von Grabbes Stücken mit dem normativen Ideal der Klassik, noch durch eine vermeintlich historische, in Wahrheit nicht minder normative Subsumption unter die Vorgeschichte oder gar das »Erbe« von Brechts epischem Theater, und schon gar nicht über einen typologischen Merkmalskatalog kompositioneller, szenischer und sprachlicher Techniken; sie erschließt sich nur als Historisierung der hegelschen Form-InhaltDialektik 4 ': als eine die Gattungstradition von innen aufsprengende Formwerdung eines sich historisch wandelnden Problemgehalts. Nichts anderes als ein solches wechselseitiges Umschlagen von Inhalt und Form hatte auch Benjamin im Sinne, wenn er eine bestimmte Dramenform mit einer Anthropologie des untragischen Helden korrelierte. Und auch wenn Benjamin diese Beobachtung auch zu einer universalen, Antike, Mittelalter und Neuzeit überspannenden Hypothese verallgemeinerte, so beruhte sie doch auf einer je konkreten historischen Analyse. Am Beispiel des Barock hat er den tiefgreifenden Unterschied zwischen Tragödie und Trauerspiel genauer untersucht, indem er das Trauerspiel 40

Vgl. die zu wenig beachtete Arbeit von Kurt Jauslin, der einleuchtend darlegt, daß sich Grabbe in seinen poetologischen Reflexionen einer »seinem Werk primär inadäquaten Terminologie« bedient. (Verhüllen und Enträtseln. Studien zur Struktur der poetologischen Begriffe Christian Dietrich Grabbes und ihre Bedeutung im Begriffsfeld des geschichtlichen Dramas. Diss. Phil. [Masch] Erlangen-Nürnberg 1968, S. 31). 4 ' G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik, § 133 ( = Werke in 20 Bänden, Frankfurt/M., Bd. 8, S. 264-267); vgl. dazu Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas. Frankfurt/M. 1963, S. 10—12.

42

Martin Rector

als dramatischen Ausdruck einer geschichtsphilosophisch begründeten Welthaltung, der Melancholie, interpretierte, in der kein Raum für Tragisches und Tragödien ist. Hier soll und kann nicht direkt stofflich an Benjamin angeschlossen werden, auch wenn die Einflüsse des barocken Trauerspiels auf die Dramaturgie des Sturm und Drang und gerade auf Lenz unübersehbar sind42. Hier sollte nur an Benjamins methodisches Verfahren und an seinen Formbegriff erinnert werden. Denn was hier als Struktur der Dementierung in der dramatischen Form Lenzens und Grabbes bezeichnet wurde, ist nur zu verstehen als dramaturgischer Niederschlag eines sinnlichen Irrewerdens an dem neuzeitlichen Leibnizschen Weltbild. In dem Maße, wie die metaphysisch geglaubte oder von einer aufklärerischen Vernunft postulierte, einen geordneten Kosmos bestätigende Handlungsautonomie des Subjekts heruntergeholt wird auf den Prüfstand der sinnlichen Wahrnehmung und dort nicht mehr verifiziert werden kann, in dem Maße läßt sich auch jene sinnhafte und zielgerichtete Bühnenhandlung nicht mehr glaubhaft machen, die ein Drama gefordert hatte, dessen Form noch der Ausdruck einer geschlossenen Welterfahrung war. Die hier schon mehrfach apostrophierte Entwicklungstendenz des deutschen Dramas von Lenz zu Brecht läßt sich demnach allgemein als dramatische Formwerdung einer empirischen Widerlegung des idealistischen Bildes von der Wirklichkeit insgesamt und von der Handlungsautonomie des Subjekts im Besonderen verstehen. Diese allgemeinen Zweifel und Widerlegungen entwickelten sich aber im Laufe der Geschichte ihrerseits und gerinnen zu neuen Konzepten und Weltbildern. Entsprechend prägen sich auch innerhalb dieser nicht-idealistischen Traditionen des Dramas spezielle Formen aus. Von einer Dramaturgie der Dementierung läßt sich genaugenommen nur bei Lenz und Grabbe sprechen, nicht mehr bei Büchner und Brecht. Büchner stellt nicht mehr nur dar, daß alle idealistischen Entwürfe nicht von der Wirklichkeit gedeckt sind, er, der empirische Naturwissenschaftler und praktische Revolutionär, hat bereits die materialistische Philosophie der französischen Aufklärung studiert und kann die idealistische Wirklichkeitsauffassung selber durch eine materialistische korrigieren. Sein Drama dementiert nicht mehr den Idealismus durch das bloße Aufzeigen der materiellen Verhältnisse, es beklagt bereits den Handlungsraub am determinierten Subjekt, im »Danton« wie im »Woyzeck«. * l Auf dieser Einsicht beruht die Untersuchung von Gert Mattenklott: Melancholie im Drama des Sturm und Drang, Stuttgart 1968.

Grabbe von Lenz her zu verstehen

43

Diese deterministische Perspektivlosigkeit, die sich im sozialen Drama des Naturalismus weiter verfestigt, hebt erst Brecht auf, indem er den mechanischen Materialismus auf die Füße der Hegel-Marxschen Dialektik stellt und die Lösung aus dem Dilemma der Courage einem Publikum zuweist, das die im Drama Handelnde als im falschen Bewußtsein Befangene erkennt. Dieses ist, wie wir wissen, nicht mehr eine Dramaturgie der Dementierung, sondern der Belehrung und der Aufklärung: es weiß sich im Besitz der neuen Antworten, Lösungen und Quintessenzen, die Lenz und Grabbe noch verweigern. Was also in dieser holzschnittartig skizzierten Tradition speziell Lenz und Grabbe verbindet, ist die Tatsache, daß beide das Spannungsverhältnis von idealistischem Weltbild und empirischer Wirklichkeitserfahrung bereits poetisch thematisieren, bevor sie es theoretisch durchdringen. Die Versöhnung dieser noch ungelösten Spannung ist das ästhetische Programm der deutschen Klassik. An deren Rändern aber, genauer: vor deren Entfaltung und nach deren Blüte artikulieren sich bei Lenz und Grabbe Zweifel, die sich gerade nicht auf eine neue Theorie, sondern nur auf eine letztlich unbegriffene Erfahrung der »Tatprivation«4» gründen. Lenz und Grabbe haben noch mit einer Krise des Idealismus zu kämpfen, bei Büchner beginnt bereits dessen Kritik. Was aber Lenz und Grabbe auf dem Boden dieser Gemeinsamkeiten trennt, um es abschließend noch einmal zu betonen, ist dies: Lenz läßt sich bereits ganz rückhaltlos auf die sinnlich erfahrene, wenn auch unbegriffene Wirklichkeit ein; er ist gewissermaßen ein intuitiver Materialist und riskiert, gerade in seinem Drama, eine bestimmte Negation, hinter die es kein Zurück mehr gibt; darum weist sein Drama nach vorn. Grabbe dagegen läßt sich auf diese irritierende Erfahrung, die er zweifellos teilt, poetisch nicht vorbehaltlos ein (aus Gründen, die vielleicht in seiner Biographie und Psychologie zu suchen wären), sondern stößt sich von ihr sogleich wieder ab in die luftige Konstruktion neuer Ideen, die letztlich die alten sind: in den ersten Dramen noch durch eine abstrakte Negation des Idealismus selber, später durch dessen Projektion auf große Stoffe der Geschichte. Aber das Angelegtsein von Grabbes späten Geschichtsdramen in seiner frühen Demen4!

Diesen Ausdruck verwendet Schneider, wenn er (soweit ich sehe, als erster) Grabbe auf einen von allen Sturm- und Drang-Klischees befreiten Lenz bezieht (Destruktion und utopische Gemeinschaft a.a.O. S. 123 ff.). Auf die für eine Analyse des »Gothland« und von Grabbes Drama insgesamt zentrale Kategorien des Handelns verweist zu Recht Peter Michelsen: Die Dramatik Grabbes. In: Walter Hinck (Hrsg.): Handbuch des deutschen Dramas, Düsseldorf 1980, S. 274.

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Martin Rector

tierungs-Dramaturgie wäre ein neues Thema. Hier war nur zu zeigen, daß sich Grabbes Anfange im Lichte von Lenzens Drama anders, vielleicht auch besser verstehen lassen. Um es mit einer Variante von Martin Walsers denkwürdigem Werbeslogan für Marcel Proust zu sagen: Lenz-Leser sind im Vorteil!

Peter Hasubek

Grabbes >kritische< Liebe zu Shakespeare Der Essay »Über die Shakspearo-Manie« als Antwort auf die Shakespeare-Rezeption in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Nichts mehr über Shakespeare! Die deutsche Literatur wird in seinem Abgrunde untergehen, wie sie aus ihm hervorgestiegen ist. Ich aber will frei sein und selbständig, lieber ein Wurm, der sich selbst sein Blatt sucht, als der Flötenspieler, der durch den Vaucanson entzückt. Grillparzer, 1 8 2 2 . Wie viel treffliche Deutsche sind nicht an ihm zu Grunde gegangen! Goethe, 1 8 2 5 .

1. Voraussetzungen Im Jahre 1818 beginnt Christian Dietrich Grabbe seine Laufbahn als literarische Persönlichkeit und als Dichter in den Fußstapfen Shakespeares, selbst ein Shakespearomane - im Jahre 1827 wird er eine feurige und engagierte Kritik der Shakespearomanie verfassen, die ohne Beispiel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist! Was ist geschehen? Was hat sich inzwischen ereignet? Haben wir es einfach mit einem Widerspruch im Rezeptionsverhalten Grabbes gegenüber Shakespeare zu tun, mit jugendlichen Irrtümern, die revidiert wurden? Oder führt die Auseinandersetzung mit Shakespeare gleichsam auf eine höhere Reflexionsstufe des Verständnisses des großen Engländers im Sinne einer inneren Entwicklung? Mehrfach bittet der Dichter in den Briefen der Jahre 1818 und 1819 um die Anschaffung der Werke Shakespeares und äußert sich mit Urteilen über Shakespeare, die Grabbe als unkritischen Adepten des englischen Dramatikers entlarven. Enthusiastisch verlautet in dem Brief vom Februar 1819 an seine Eltern:

46

Peter Hasubek

Es ist in seiner Art das erste Buch der Welt und gilt bei Vielen mehr als die Biebel, denn es ist das Buch der Könige und des Volks, es ist das Buch, wovon einige behaupten daß es ein Gott geschrieben habe, es sind: die Tragödien Shakespeares,

des Verfassers des Hamlets, die schon 300 Jahr bekannt sind. Diesen hat Deutschland seine Bildung zu verdanken [...]'. Nicht nur, daß Deutschland Shakespeare seine »Bildung« verdanke, Shakespeare wird von Grabbe schlechthin als das Vorbild eines jeden genannt, der sich als dramatischer Dichter betätigen wolle. Grabbe vermag nur das zu schreiben, was in Shakespeares Fach schlägt, also »Dramen«, und »nur durch Shakespeares Tragödien kann man lernen gute zu machen«2. Noch einmal spricht Grabbe von Shakespeare in den höchsten Tönen der Begeisterung in dem Brief vom 17. Oktober 1818, bestätigt darin, daß man Shakespeare als conditio sine qua non »durchaus kennen muß«3, und hofft, eines Tages mit Shakespeare »noch Geld verdienen«4 zu können. Entwicklungspsychologisch ist diese Einstellung Grabbes leicht zu erklären: Grabbe war zum Zeitpunkt dieser Äußerungen über Shakespeare noch nicht 18 Jahre alt: Etwas anderes als Begeisterung für den großen Dichter wird man von einem angehenden jungen dichterischen Talent, ist es von Shakespeare erst einmal eingenommen, kaum erwarten dürfen. Hinzu kommt, daß Grabbe damals mit dem Gedanken spielte, Schauspieler zu werden, so daß ihm Shakespeares Stücke wegen einiger Rollen besonders faszinieren mußten. In den Briefen der folgenden Jahre verlautet nur noch Beiläufiges über den großen englischen Dramatiker, was aber keinesfalls bedeuten kann, daß Grabbes Beschäftigung mit Shakespeare in den folgenden sechs oder sieben Jahren ganz ausgesetzt habe, im Gegenteil - der Essay von 1827 legt Zeugnis davon ab, daß Grabbe in der Zwischenzeit Shakespeare eifrig rezipiert und die Shakespeare-Rezeption in Deutschland verfolgt und studiert haben muß1. '

Christian Dietrich Grabbe. Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe in sechs Bänden. Hg. v. der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, bearb. v. A. Bergmann. Emsdetten 1960-1973 [zitiert: Bandzahl, Seitenzahl; die Seitenzahlen der Zitate aus dem Essay »Über die Shakspearo-Manie« folgen in runden Klammern unmittelbar dem Zitattext; Sperrdruck als Hervorhebung in der Grabbe-Ausgabe wird hier kursiv wiedergegeben] vorstehendes Zitat: V, S. 13.

' > «

Ebda., V, S. 14. Ebda., V, S. i6f. Ebda., V, S. 17. Zu erinnern ist hier etwa an die Shakespeare-Anspielungen in »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung«.

1

Grabbes >kritische< Liebe zu Shakespeare

47

W e l c h e Situation traf G r a b b e u m 1 8 2 6 / 2 7 , die R e z e p t i o n S h a k e s p e a r e s b e t r e f f e n d , in D e u t s c h l a n d a n 6 ? 1. ist v o n einer breiten T r a d i t i o n u n k r i t i s c h l o b e n d e r U r t e i l e d e r Z e i t genossen

über

Shakespeare,

voran

die

stimmführenden

Dichter

und

T h e o r e t i k e r d e r R o m a n t i k , a u s z u g e h e n , die die M a ß s t ä b e hinsichtlich d e r E i n s c h ä t z u n g S h a k e s p e a r e s setzten, Urteile, die in Z e i t s c h r i f t e n , T h e a t e r rezensionen u n d nicht zuletzt L e x i k a v e r b r e i t e t w u r d e n ; d a z u k o m m t 2. eine A n z a h l v o n A u f f ü h r u n g e n d e r D r a m e n S h a k e s p e a r e s , die d e n P u b l i k u m s g e s c h m a c k u n d das U r t e i l der M e h r h e i t b e s t i m m t e n , w i e ein B l i c k a u f die A u f f ü h r u n g s p r a x i s d e r d a m a l i g e n B ü h n e n , z . B . des

Weimarer,

D r e s d e n e r u n d M a n n h e i m e r T h e a t e r s zeigt 7 ; w e i t e r ist z u b e d e n k e n , d a ß 3. eine A n z a h l b i o g r a p h i s c h e r , theater- u n d w e r k g e s c h i c h t l i c h e r P u b l i k a t i o n e n ü b e r S h a k e s p e a r e in d e n ersten J a h r z e h n t e n des 1 9 . J a h r h u n d e r t s v e r ö f f e n t l i c h t w u r d e 8 ; 4. b e g e g n e n uns zahlreiche D i c h t u n g e n d e u t s c h e r

6

Generell sei in diesem Zusammenhang auf das Problem hingewiesen, daß zunächst erst einmal geklärt werden müßte, ob das Bild von einer ausgeprägten Shakespearo-Manie, wie sie Grabbe voraussetzt, stimmt und inwiefern diese modebedingte ShakespeareBewunderung vergleichbar ist mit der Scottomanie der zwanziger Jahre oder gar mit der Goethemanie, die ebenfalls in jenen Jahren zu beliebten Modeströmungen der Zeitgenossen zählten.

7

Vgl. Burkhardt, C. A. H. (Hg.), Das Repertoire des Weimarischen Theaters unter Goethes Leitung 1 7 9 1 - 1 8 1 7 . Hamburg und Leipzig 1891 ( = Theatergeschichtliche Forschungen, Band 1); Fambach, Oscar, Das Repertorium des Hof- und Nationaltheaters in Mannheim 1 8 0 4 - 1 8 5 2 . Mit einer Einleitung und drei Registern. Bonn 1980 ( = Mitteilungen zur Theatergeschichte der Goethezeit, Band 1); ders., Das Repertorium des königlichen Theaters und der italienischen Oper zu Dresden 1 8 1 4 - 1 8 3 2 . Bonn 1985 ( = Mitteilungen zur Theatergeschichte der Goethezeit, Band 7). Auch für das in den dreißiger Jahren unter Immermanns Leitung stehende Düsseldorfer Stadttheater gilt entsprechendes. Die Aufführungszahlen erreichten freilich in keinem Fall die Größenordnung derjenigen etwa von Iffland, Kotzebue oder anderer Unterhaltungsdramatiker; auch nicht diejenige der Aufführungen von Dramen Schillers.

8

Daß Grabbe das ; bändige Werk von Franz Horn (Shakespeare's Schauspiele erläutert. Leipzig i822ff.) konsultiert hat, gibt er selbst zu erkennen (vgl. »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung«, I, S. 245). Zwischen 1800 und 182; erschien eine Vielzahl von Arbeiten über Shakespeare, von denen nicht sicher ist, welche Grabbe gelesen hat: Abeken, B . R . : Ueber Shakespeare. In: Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1819. Neue Folge, erster Jahrgang. Leipzig 1819, S. I—XXXII; Alte und neue Anmerkungen zu Shakespeare's dramatischen Werken. Für alle, welche den Dichter in der Ursprache lesen wollen. 1. Theil, Greifswalde 1825; Beyfuß, A.: Tieck und Hamlet. In: Sybillinische Blätter aus der neuesten Zeit, 1. Heft. Berlin 1826; Clodius, A . : Über Shakspeare's Philosophie, besonders im Hamlet. In: Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1820. Leipzig 1820, S. 2 7 5 - 3 2 2 ; Pörschke, K . L . : Über Shakespeare's Hamlet. Königsberg 1801; Pries, J . F r . : Über Shakespeare's Hamlet. Rostock 1825; Ziegler, Fr.W.: Hamlet's Charakter nach psychologischen und physiologischen Grundsätzen, durch alle Gefühle und Leiden-

Peter Hasubek

48

D r a m a t i k e r , die in b e w u ß t e r o d e r u n b e w u ß t e r N a c h f o l g e

Shakespeares

v e r f a ß t w u r d e n ; L u d w i g T i e c k r ü h m t sich z u m B e i s p i e l selbst, daß seine M ä r c h e n d r a m e n o h n e d e n E i n f l u ß S h a k e s p e a r e s n i c h t z u d e n k e n seien', u n d letztlich seien die N a c h g e s t a l t u n g e n v o n S h a k e s p e a r e s L e b e n in dramatisierter u n d r o m a n h a f t e r F o r m e r w ä h n t 1 0 ; als I - P u n k t g l e i c h s a m erschien 1 8 2 6 T i e c k s » D i c h t e r l e b e n , E r s t e r T h e i l « , a u f das G r a b b e in sein e m E s s a y » Ü b e r die S h a k s p e a r e o - M a n i e « in einer F u ß n o t e e i n g e h t " . W i r d ü r f e n u n s freilich nicht d a m i t b e g n ü g e n , in statistischer

Form

F a k t e n u n d M e i n u n g e n ü b e r d i e Situation d e r S h a k e s p e a r e - R e z e p t i o n u m 1 8 2 5 zu s a m m e l n , v i e l m e h r ist es n o t w e n d i g , n a c h d e r G e w i c h t u n g v o n A r g u m e n t e n hinsichtlich der A u f n a h m e u n d E i n s c h ä t z u n g

Shakespeares

d u r c h die G e n e r a t i o n d e r R o m a n t i k e r zu f r a g e n , u n d d a r ü b e r h i n a u s z u untersuchen, a u f w e l c h e W e i s e sich G r a b b e m i t diesen A r g u m e n t e n auseinandersetzt. Ü b e r b l i c k t m a n die rezpetionsgeschichtlichen u n d theoretischen V e r l a u t b a r u n g e n ü b e r S h a k e s p e a r e in d e n ersten J a h r z e h n t e n des 1 9 . J a h r h u n d e r t s , also v o r n e h m l i c h d e r G e n e r a t i o n d e r R o m a n t i k e r

seit

1 7 9 3 / 9 4 , aber a u c h J e a n Pauls, des alten G o e t h e u n d einiger literarisch p r o f i l i e r t e r Z e i t g e n o s s e n ,

etwa

anderer

s o e r g i b t sich f o l g e n d e s B i l d

mit

seinen w i c h t i g s t e n F a r b n u a n c e n 1 2 : Schäften zergliedert. Wien 1803. Auch die wichtigeren Arbeiten über Shakespeare aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts (Bräker, Eschenburg, Voß) waren noch aktuell und kommen als mögliche Lektüre Grabbes in Betracht. ' Stellmacher, S. 221 (an Solger, 30. 1. 1817). 10

"

"

Vgl. die Untersuchung von Albert Ludwig: Shakespeare als Held deutscher Dramen. In: Shakespeare-Jahrbuch 54, 1918, S. 1—21. Aus den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sind z.B. zu nennen: Lebrun, C., Shakespeare. Spiel in Versen in einem Aufzuge. Mainz 1819; Shakespeare's Bestimmung. Schauspiel in 1 Akt. In: Deutsches Theater von K . Stein. Berlin 1819; Shakespeare als Liebhaber. Lustspiel in einem Akt. In: Kurländer, Almanach dramatischer Spiele, 8. Band. Wien 1819 (vgl. generell die Bibliographie von P.H. Silling: Die Shakespeare-Literatur bis Mitte 1854. Leipzig 1854). IV, 3 6 f. Grabbe beurteilt die Erzählung negativ und rügt, daß die »übergroße Verehrung« Shakespeares auf die »Handlung störend eingewirkt« habe, viele Reden »den Gang der Novelle hinhalten und schwerfällig machen« und die Personen uns »ermüden«. Unberücksichtigt bleibt die Auseinandersetzung Goethes mit Shakespeare, wie sie sich in »Wilhelm Meisters Lehrjahren« dokumentiert. - Generell sei auf folgende Untersuchungen verwiesen: Danzel, Th.W.: Shakespeare und immer noch kein Ende (1850). In: Danzel: Zur Literatur und Philosophie der Goethezeit. Gesammelte Aufsätze zur Literaturwissenschaft, neu hg. von H. Mayer. Stuttgart 1962, S. 247-285; Gundolf, Fr.: Shakespeare und der deutsche Geist. Berlin 1 9 1 1 ; Kluckhohn, P.: Die Dramatiker der deutschen Romantik als Shakespeare-Jünger. In: Shakespeare-Jahrbuch 74, 1938, S. 3 1 - 4 9 ; Klein, U.: Die Entwicklung frühromantischer Kunstanschauung im Zusammenhang mit der Shakespeare-Rezeption durch Friedrich und August Wilhelm Schlegel. Berlin (Ost) 1972; Stellmacher, W.: Shakespeare-Rezeption in der deutschen Klassik und Romantik.

Grabbes >kritische< Liebe zu Shakespeare

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1. Allgemeine Urteile: Auf breiter Front wird Shakespeare als ein namhafter Dichter gefeiert, wobei mit Maximalismen zur Verherrlichung seines Ruhms nicht gespart wird. Immer wiederkehrende Bezeichnungen für die »allgemeine an Vergötterung gränzende Bewunderung« 1 ' Shakespeares sind zum Beispiel: Größe, Zauberer, Meister, Genius, Schöpfer, dem Weltgeist verwandt, Prometheus, Gott; Shakespeare werden Eigenschaften zugeschrieben wie Tiefsinn, Verstand, Humor, und seiner Dichtung eignet Wahrheit, Einfachheit, Tiefe, Originalität, Universalität, Modernität und Welthaltigkeit. Ein Wort Ludwig Tiecks in der Schrift »Anfange des deutschen Theaters« von 1817 vermag das Engagement und Intensität romantischer Shakespeare-Verehrung treffend zu veranschaulichen: »Denn es scheint, als sei es noch immer mit der Bewunderung Shakspeare's und dem Erkennen seiner Votrefflichkeit kein rechter Ernst, so lange es denselben Bewunderern noch möglich ist zu mäkeln, zu korrigieren oder gar mit dieser Verehrung etwas der Natur und Wahrheit vollkommen Entgegengesetztes zu vereinigen«' 4 . Die Romantik vertrat und verfocht ein bestimmtes (einseitiges) Shakespeare-Bild, eine Shakespeare-Ideologie gleichsam, was nicht bedeutet, daß diese in sich völlig einstimmig und geschlossen angelegt war, sich aber zum Beispiel von dem Shakespeare-Bild des Sturm und Drang oder der Klassik in wichtigen Elementen unterschied. Die Romantiker haben dabei ohne Zweifel das Verdienst, neue Seiten an Shakespeare entdeckt und einem vertieften Verständnis des Dichters den Weg gewiesen zu haben. 2. Antizipation romantischen Geistes: Entsprechend ihrem Shakespeare-Verständnis war es den Stimmführern der romantischen Periode eine unumstößliche Wahrheit, daß Shakespeares Dichtung dem romantischen Geist im innersten verwandt sei. Aus dieser Perspektive wird Shakespeare ein hohes Maß an Phantasie und seinen Werken Phantastik

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In: Shakespeare-Jahrbuch 1 2 1 , 1985, S. 1 1 4 - 1 3 4 ; Bauer, R. (Hg.): Das Shakespeare-Bild in Europa zwischen Aufklärung und Romantik. Bern. Frankfurt am Main. New York. Paris 1988 ( = Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A. Kongreßberichte, Band 22). - Ferner stütze ich mich bei dieser kurzen Darstellung auf die Anthologien wichtiger Texte der Shakespeare-Rezeption von Wolfgang Stellmacher (Auseinandersetzung mit Shakespeare. Texte zur deutschen Shakespeare-Aufnahme 1790-1850. Bearbeitet u. eingeleitet v. Wolfgang Stellmacher. Berlin 1985 = Deutsche Bibliothek 12 [zitiert: Stellmacher, Seitenzahl]) und Hannsjürgen Blinn (Shakespeare-Rezeption. Die Diskussion um Shakespeare in Deutschland: II. Ausgewählte Texte von 1 7 9 5 - 1 8 2 7 . Mit einer Einführung, Anmerkungen und bibliographischen Hinweisen hg. v. Hannsjürgen Blinn. Berlin 1988. [zitiert Blinn, Seitenzahl]. Stellmacher, S. 157. Ebda., S. 221.

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zugeschrieben, die die Quelle für das Wunderbare nicht nur in den Komödien, sondern auch in den Tragödien darstellt. »Die ganze Welt von Wunderbarem ist es, die unsere Phantasie in manchen Träumen so lange beschäftiget, wo wir auf eine Zeitlang ganz die Analogie unserer Begriffe verlieren und uns eine neue erschaffen, und wo alles diesen neuerworbenen Begriffen entspricht«1'. Im Sinne der Antizipation romantischen Geistes durch Shakespeare hebt man an seinen Dichtungen die Mischung und das Verschmelzen von Gegensätzlichem hervor. 3. Nationale Integration: Die Wahlverschwandtschaft Shakespeares mit der Romantik wird auf ein breiteres Fundament gestellt, wenn man Shakespeare als Volksdichter versteht und die Volksnähe und Volkstümlichkeit seiner Dichtung in Zusammenhang bringt mit der Verwandtschaft Shakespeares mit dem deutschen Geist allgemein. So verwirkliche Shakespeare in seinen Dramen Tugenden und Werte, die in erster Linie durch ihre Übereinstimmung mit dem deutschen Volksgeist zur Wertschätzung Shakespeares führen: »altväterliche Treuherzigkeit, männliche Gediegenheit, bescheidne Grösse, unverlierbare heilige Unschuld, göttliche Milde«"6. 4. Realitätsnähe: Einig ist man sich darin, daß es Shakespeare, dem großen Menschenkenner und Menschenbeobachter, stets gelingt, natürliche und wirklichkeitsnahe Figuren, keine Typen, sondern Individuen, zu gestalten. Shakespeares Psychologie bei der Konzeption seiner Dramengestalten wird als mustergültig und vielfach nicht erreicht und erreichbar für die Dichter der folgenden Jahrhunderte hingestellt. — Die Figurengestaltung bei Shakespeare folge aus der Naturnähe seiner Darstellungsweise, die sich u.a. auch deutlich in seinen Naturschilderungen mit ihrer Wirklichkeitstreue dokumentiere. Shakespeare wird in diesem Zusammenhang als naturkundig, ja als Naturweiser bezeichnet. 5. Ästhetische Affinität: In Sprache und Form hat Shakespeare höchste Kunstfertigkeit erreicht. Hier seien nicht nur die Aufbauformen seiner Stücke, bei denen auf die Einheit von Ort und Zeit wenig Rücksicht genommen werde, beispielhaft: ebenso bewunderungswürdig seien die aus dem Leben gegriffene Sprache und die seine Stücke, selbst die Tragödien, prägende Komik der Figuren und Situationen. Die angeblichen Unebenheiten der Sprache seien nicht kunstlos, sondern höchst absichtsvoll, auf jeden Fall keine Regelverletzungen. " ,6

Ebda., S. 186. So August Wilhelm Schlegel; vgl. Stellmacher, S. 126.

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6. Wie schon bei den Bemerkungen über Form und Sprache angedeutet wurde, herrscht bei den Romantikern Übereinstimmung auch darüber, daß jegliche der Kunst Shakespeares angelasteten Mängel rigoros abgewehrt werden. Dabei setzt man sich besonders mit der Kritik der Aufklärung an Shakespeare auseinander, weist zum Beispiel die durch Pope und Voltaire gegenüber der Form der Dramen Shakespeares geäußerten Bedenken mit dem Hinweis zurück, daß diese Formmängel aus den Spracheigentümlichkeiten der Zeit heraus zu erklären seien, also in der Zeit Shakespeares durchaus zum angemessenen Sprachgebrauch gehörten und keine Besonderheiten darstellten'7. Nur gelegentlich artikuliert sich gedämpfte Kritik, wenn etwa Friedrich Schlegel bemängelt, »daß er [Shakespeare] uns das Rätsel des Daseins, wie ein skeptischer Dichter [ . . . ] vor Augen stehen läßt, ohne die Auflösung hinzuzufügen«18. 7. Neben diesen schwerpunktmäßig immer wieder akzentuierten Einschätzungen Shakespeares durch die Romantik begegnet eine Anzahl anderer Argumente von zweitrangiger Bedeutung. Shakespeare, die »magna charta des Theaters für Deutschland]« 1 ', wird zum Beispiel nicht nur als ein »moderner« Dichter angesehen, sondern auch als Vermittler zwischen der Antike und der Gegenwart betrachtet. Andere Aspekte im Shakespeare-Bild der Romantik werden rudimentär von der Klassik und dem Sturm und Drang übernommen und assimiliert: So etwa der Aspekt des Genialen bei Shakespeare und das Bild des großen Individuums in seiner Dichtung. Soziale Aspekte der Schauspiele Shakespeares werden lediglich von ästhetischer Warte aus wahrgenommen. Wenig Sinn entwickelt die Romantik für bestimmte andere Seiten, die sonst in der ShakespeareRezeption eine Rolle spielen: das Problem des Tragischen in seinen Trauerspielen und die Frage nach der Konzeption eines historischen Dramas und des Verhältnisses zum Historischen überhaupt. Diese Feststellung ist um so überraschender, als es gerade die Romantik war, die sich der Aufarbeitung der Vergangenheit im Bereich der Literatur bevorzugt widmete und ein besonderes Interesse am Historischen bekundete, in der Fortsetzung entsprechender Entwicklungen während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei Justus Moser und Johann Gottfried Herder u.a. 17

Desgleichen werden die Unsittlichkeiten in seinen Stücken sowie der bei Shakespeare zu beobachtende Bildungsmangel mit großzügiger Geste entschuldigt. Auch der für Shakespeare geltend gemachte Naturbegriff muß dazu herhalten, die angeblichen Mängel seiner Kunst wegzudiskutieren. 11 Stellmacher, S. 1 1 5 . "> Jean Paul, bei Stellmacher, S. 87.

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Erst der spätere Ludwig Tieck entwickelte Interesse und Verständnis für das Problem des Geschichtlichen bei Shakespeare und apostrophierte den Dichter nun als den größten »Geschichtsmaler«10. - Das Shakespeare-Bild der Romantik wurde zudem nur an einer begrenzten Anzahl Shakespearescher Dramentexte exemplifiziert: Vorrangig wurden die Stücke »Ein Sommernachtstraum«, »Romeo und Julia«, »Der Sturm«, »Der Kaufmann von Venedig«, »Hamlet« und »König Lear« herangezogen. Hebt man aus dem Gesagten die wichtigsten Momente zusammenfassend noch einmal heraus, so zeigt sich, daß sich die Shakespeare-Rezeption zu Beginn des 19. Jahrhunderts dem englischen Dichter vornehmlich unter ästhetischen und national-integrierenden Gesichtspunkten zuwandte.

2. Grabbe und der Shakespeare-Kult der romantischen Generation Das Thema >Grabbe und Shakespeare< ist ein sehr viel komplexeres und vielschichtigeres Untersuchungsfeld, als es hier abgehandelt werden kann und als es die wenigen und zum Teil überholten Spezialuntersuchungen erkennen lassen21. Die theoretisch-kritische Auseinandersetzung mit Shakespeare, wie sie der Essay »Über die Shakspearo-Manie« darstellt, bezeichnet nur ein Feld der Beschäftigung Grabbes mit Shakespeare. Ein anderer Bereich ist Grabbes Rezensententätigkeit über Aufführungen Shakespearescher Stücke auf deutschen Bühnen. Nicht weniger bedeutsam ist die in der Forschung noch am häufigsten erörterte Frage nach dem Einfluß der Dramen Shakespeares auf Grabbes Stücke". Als weiterer Aspekt spielt Grabbes Absicht, Dramen Shakespeares zu übersetzen, eine !0

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Blinn ; i f. Zentral beschäftigen sich mit Grabbes Shakespeare-Aufsatz bislang nur wenige Untersuchungen, die zudem auch meist unergiebig sind: Hering, G . F . , Grabbe und Shakespeare. In: Shakespeare-Jahrbuch 77, 1941, S. 9 3 - 1 1 5 ; Heald, D.: A dissenting German View of Shakespeare - Christian Dietrich Grabbe. In: German Life & Letters 24, 1969/70, S. 6 7 - 7 8 ; vgl. auch: Bartmann, H.: Grabbes Verhältnis zu Shakespeare. Diss. Münster 1898; Schneider, F . J . : Christian Dietrich Grabbe. Persönlichkeit und Werk. München 1934, bes. S. 345 ff.; Bergmann, Alfred, Einleitung in die »Shakspearo-Manie«. In: Jahrbuch der Grabbe-Gesellschaft 1, 1939, S. 2 5 - 2 9 . - Die bei Stellmacher, S. 334, genannte Arbeit von P.C. Thornton (Grabbes Verhältnis zu Shakespeare. Studien zum gedanklichen Gehalt seiner Geschichtsdramen. Diss. Marburg 1971) konnte nicht nachgewiesen werden. Sie ist vermutlich nie erschienen. - Vgl. ferner die unter Anm. 5 3 genannte Arbeit von Kurt Jauslin. Vgl. auch Anm. 21 dazu.

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Rolle, wobei seine dabei entwickelten Gedanken mit den Übersetzungsprinzipien August Wilhelm Schlegels ins Verhältnis gesetzt werden müßten. Es versteht sich, daß bei einem Autor wie Grabbe einer derartigen Breite und zeitlichen Erstreckung der Beschäftigung mit Shakespeare auch ein zum Teil situations- und erfahrungsbedingt breitgestreutes Spektrum von Urteilen entsprechen wird, bei dem Wandlungen, ja gegensätzliche Stellungnahmen des Urteilenden nicht auszuschließen sind. Hier soll uns nur der erste Aspekt, also Grabbes Standpunkt im Jahre 1827, interessieren, auf die übrigen Aspekte ist allenfalls in Marginalien einzugehen. Dem Essay »Über die Shakspearo-Manie« gegenüber ist Vorsicht am Platze. Wir haben es hier mit einem Text zu tun, der nicht eindimensional und einlinig konzipiert ist, vielmehr müssen wir uns von vornherein auf ein mehrschichtiges, vielleicht gar hintergründiges und widersprüchliches Sprachgebilde einstellen. Der Aufsatz beinhaltet nicht nur, wie leicht zu sehen ist, eine kritische, ja teilweise polemische Auseinandersetzung mit der Shakespeare-Rezeption der vorangehenden Jahrzehnte, insbesondere mit Ludwig Tieck, und, wie eben so leicht zu erkennen ist, eine intensive Beschäftigung und Kritik mit Shakespeare selbst, sondern besitzt, was zu zeigen versucht wird, auch noch einige andere Aspekte. Wie Grabbe zu Beginn seines Essays erklärt, ist »Shakspearo-Manie« »die zur Mode gewordene Bewunderung des Shakspeare« (29), auf die schon Byron in seinem »Don Juan« »etwas spöttisch« hingewiesen hatte2'. Neben der Darstellung und Kritik der Shakespeare-Bewunderung beabsichtigt Grabbe aber auch zu zeigen, »was das deutsche Volk von seinen Dramatikern eigentlich wünscht« (29). Der Essay über Shakespeare besitzt eine gewisse logische Stringenz, die Grabbe dadurch erreicht, daß er zu Beginn seiner Abhandlung drei Fragen formuliert, die er im Laufe der Darstellung zu untersuchen verspricht. Mit der ersten Frage will er erkunden, wodurch die zur »fashion« gewordene Bewunderung Shakespeares bedingt ist. Es geht also im wesentlichen um eine Diagnose der Rezeptionssituation, wie Grabbe sie vorfand und einschätzte und die den Anlaß zu seiner pointierten Frontstellung gegen diese Art von Shakespeare-Kult bildete. Die zweite Frage Grabbes betrifft die Bewertung der Ursachen und die Begründung der Berechtigung der Shakespeare-Verherrlichung aufgrund der Auseinandersetzung 'i Vgl. »Don Juan«, 9. Gesang, 14. Strophe, in: George Gordon Lord Byron, Sämdiche Werke, Band 1 - 3 , hg. v. S. Schmitz, München [1977]; 2, S. 518.

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mit dem Werk Shakespeares selbst. Die Antwort auf die dritte Frage überdenkt die möglichen Folgen und zieht Folgerungen, die sich für eine deutsche Dramatik aus der Bewunderung Shakespeares — mit deren negativen Resultaten — ergeben können. Am Ende des ersten Abschnittes faßt Grabbe die Gründe für die Shakespearo-Manie in Deutschland in acht Punkten zusammen. Bemerkenswert an dieser Zusammenstellung ist, daß die hier genannten Aspekte nur zum Teil das treffen, was zur Zeit der Romantik Inhalt und Gegenstand der Shakespeare-Verehrung war. Die meisten Argumente beziehen sich lediglich auf einen oberflächlichem, nicht die Sache, sondern das Verhalten des Rezipienten betreffenden Aspekt. Interessant ist diese Betrachtungsweise aber insofern, als sie vor Grabbe in den Rezeptionsdokumenten nicht zu beobachten ist. Mit teilweise sozialpsychologischer Betrachtungsweise kritisiert er einen bestimmten Rezipientenkreis, den »kleinen Mann« (38), dessen uneingeschränkte Bewunderung für Shakespeare z.B. ihren Grund findet in den Minderwertigkeitsgefühlen dieser Rezipienten24, Minderwertigkeitsgefühle, die durch die bewundernde Anlehnung an einen großen Geist kompensiert werden. Das Urteilenkönnen über Shakespeare verleihe so dem Lobenden, Dilettant oder Kenner, den Anschein einer Größe, die Shakespeares Größe ähnelt, ja sie übertrifft. Auch der kleine Dichter, der »das kurzlebigste Trauerspiel geschrieben hat« (39), fühlt sich gleichsam als »Napoleon«, der »mit Obristen-Epaulets vor die Front reitet«, wenn er Shakespeare verherrlicht. Mit diesem Gesichtspunkt verbinden sich bei Grabbe nationale Ressentiments. Die übertriebene Verehrung Shakespeares durch die Deutschen hat, wie Grabbe meint, auch ein guter Teil mit dem Nationalcharakter zu tun: Der Deutsche beweise stets eine blinde Ehrfurcht vor dem, was er nicht begreife, wie in diesem Fall Shakespeare. Ausgehend von der schon von den Romantikern betonten Affinität zwischen Shakespeares dramatischer Kunst und dem deutschen Nationalcharakter, funktioniert Grabbe diesen Gedanken um und richtet ihn kritisch gegen eine seiner Meinung nach verfehlte Shakespeare-Rezeption der Zeitgenossen. Der sprichwörtlich kleinstädtische, ja philiströse Horizont des deutschen Normalbürgers gebe sich ein internationales Flair von kosmopolitischer Weite, wenn er das hochschätze, was in »Raum und Zeit von weit her ist« (39). Die hier aufgezeigte Ansicht von Shakespeare als einer Modeerschei» [ . . . ] weil sie fühlen, selbst nichts werth zu seyn, und daher den Shakspeare wie einen Zwölfpfünder betrachten [...]« (58).

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nung in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts betrifft indes nur einen Teil dessen, was Grabbe meint und attackiert, wenn er von der Shakespeare-Fashion seiner Zeit spricht. Auf einer anderen Ebene bewegt sich seine Argumentation in den Abschnitten, in denen er sich hauptsächlich mit dem Shakespeare-Bild Friedrich und August Wilhelm Schlegels und Ludwig Tiecks kritisch auseinandersetzt. Hauptaspekt von Grabbes Kritik ist die Verfälschung Shakespeares und seiner Dichtung durch die Romantiker. Als Beispiel dafür verweist er auf die Auffassung des Lear durch August Wilhelm Schlegel, der an dem Stück »kaum eine andere Tendenz, als die Darstellung des Mitleidens« (36) festzustellen vermag2', wohingegen das »Characteristische des shakspearischen Schauspiels, in welchem eine Welt von Zorn, Grausen, Entsetzen, Haß, Liebe, Rache und Selbstaufopferung« (36) dominiert, unerkannt bleibe. Der Vorwurf der mangelnden Kritik und der Voreingenommenheit geht an die Adresse von August Wilhelm Schlegel anläßlich seiner Wiener Vorlesungen von 1809/10, desgleichen aber auch an die von Ludwig Tieck. Die hier bereits bei Grabbe sichtbar werdende Intention zielt auf die Herstellung eines >echteren< Shakespeare, der auf der Basis der kritischen Auseinandersetzung mit dem Werk des Briten wiedergewonnen werden soll. Diese Absicht ist für Grabbe auch zielbestimmend, wenn er 1834/35 eine neue Übersetzung des >alten< »Hamlet« ins Auge fassen und dabei seine eigenen Übersetzungsprinzipien von denen Schlegels abgrenzen wird. Grabbe greift bei seinem Rückblick weit zurück in die Anfange der deutschen Shakespeare-Rezeption im 18. Jahrhundert, wodurch er sich auch als kundig in der Geschichte der Shakespeare-Rezeption ausweist, rezensiert kurz die von der französischen Klassik bestimmte Theatersituation in Deutschland und deren Überwindung durch Lessing und den Sturm und Drang und zeigt schließlich die Verfälschung Shakespeares auf, die in den letzten Jahrzehnten um sich gegriffen habe. Bereits Friedrich Ludwig Schröder und Heinrich Beck hatten Hamlet und Lear zu »wahren Familienstücken« verzerrend umgedeutet: »[...] diesen Lear gibt uns die ältere Bearbeitung [Schröders?] als einen >edlen< >schwachen< pere de famille, durch seine Kinder in ifflandisch häusliches Unglück gerathen« (32). Die Generation der Romantiker, besonders aber ein »Haufen ästheti"

Vgl. August Wilhelm Schlegel, Kritische Schriften und Briefe. Hg. v. E . Lohner. V I : Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Zweiter Teil. Stuttgart Berlin Köln Mainz 1967, S. 176ff. — Grabbe vereinfacht hier allerdings stark, denn auch Schlegel sieht durchaus Momente, die beim Rezipienten Entsetzen hervorrufen (S. 177).

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scher Individuen« (32), habe ihrerseits die Auswüchse in den Dramen Shakespeares geglättet, die »bizarren und grotesken Charactere« eingeebnet und verharmlost, die »sonderbaren Ausdrücke und Bilder« (32), das »Unbegreifliche der Handlung«, das »Bunte des Scenenwechsels«, die an Shakespeare besonders eindrucksvoll und schätzenswert seien, verstümmelt (33). Das Diktat der Romantik, die Einschätzung Shakespeares betreffend, ruht nach Grabbe auf zwei Säulen: Zum einen war es die Übersetzung von 17 Dramen Shakespeares durch Schlegel und Tieck - wobei Grabbe nicht wissen konnte, daß Tieck kein Stück von Shakespeare selbst übersetzt, sondern nur die Übersetzungen Schlegels, des Grafen Baudissin und seiner eigenen Tochter Dorothea redigiert hatte26 - durch welche das Verständnis und die Beurteilung Shakespeares für lange Zeiten festgeschrieben wurden, zum anderen die Vorlesungen August Wilhelm Schlegels über dramatische Kunst, in deren drittem Teil die Dramatik Shakespeares »weit über alles hinausragt« (35), was an dichterischen Leistungen auf dem Gebiet des Dramas vorher und nachher vorhanden ist. Durch die Aufwertung, ja Überschätzung Shakespeares in Schlegels Vorlesungen und durch die Dramenübersetzungen »herrschen die Romantiker ohne Hinderniß« (35). Ludwig Tieck, nach Grabbe »einer der bedeutendsten Romantiker Deutschlands« (36), habe sich Shakespeare durch eifriges Studium völlig absorbiert — was indes als Spiegelbild danach wieder zum Vorschein komme, sei nicht mehr »Shakspeare selbst«, argumentiert Grabbe, sondern ein Shakespeare, der von Tieck poetisiert wurde! Diese Poetisierung Shakespeares dokumentiere sich besonders in der veränderten Auffassung der Dramenfiguren Shakespeares, wie Grabbe an dem Beispiel der Lady Macbeth nachweist: Wenn Tieck an dem Charakter der Lady eine »durchbrechende Weichheit« (37) entdeckt, so mag dies immerhin, wie Grabbe konzediert, eine Möglichkeit sein, die nicht im Widerspruch zu dem allgemein bekannten Wesen dieser Figur steht - der dramatische Text indes weiß von einer solchen Seite nichts. Lady Macbeth bleibe stets, wie besonders die Monologe ausweisen, eine von der »Kraft ihres Willens« (37) bestimmte Person, die, so Grabbe, »jedes weiche Gefühl niederdrückt und nur ihren furchtbaren Zweck fest im Auge behält. In der schrecklichsten Scene des Stückes, bei der Ermordung Duncans, höhnt sie ihren zagenden *6 Vgl. Shakespeare-Handbuch. Die Zeit. Der Mensch. Das Werk. Die Nachwelt. [ . . . ] hg. v. I. Schabert. Stuttgart 1978, S. 902f.

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Gemahl sogar aus« (37). Die Erklärung für diese Unnatur der Frau findet Grabbe im Textverlauf selbst belegt27. - Auch Hegel hatte bereits 1820/21 in den Vorlesungen zur Ästhetik gegen die Umdeutung des Charakters der Lady Macbeth Stellung bezogen: »Die Lady Macbeth ist ein ähnlicher Charakter, und nur das abgeschmackte Geschwätz einer neueren Kritik hat sie können für liebevoll halten«28. Der Adressat dieser Äußerung ist nicht zu verkennen. Schon für diesen ersten Teil der Betrachtung der Shakespeare-Rezeption zur Zeit der Romantik ist bei Grabbe der Tenor einer Abrechnung mit Ludwig Tieck bestimmend, und erst recht in dem folgenden Teil mit der Kritik an Shakespeare selbst wird diese Absicht nach der probaten Sack-Esel-Methode weiterverfolgt (wobei der >Esel< in diesem Fall Ludwig Tieck ist). Es kann hier nicht das Ziel sein, das komplexe Verhältnis Grabbes zu Tieck zu untersuchen2', vielmehr sollen nur wenige Akzente innerhalb dieses Verhältnisses gesetzt werden, die im Zusammenhang mit Grabbes Schrift »Über die Shakspearo-Manie« stehen. Grabbe selbst hat keinen Zweifel daran gelassen, daß er mit dieser Arbeit besonders Ludwig Tieck treffen wollte, oder anders formuliert: Bei der Einschätzung Shakespeares spielt Grabbes gestörtes Verhältnis zu Tieck eine nicht zu unterschätzende Rolle. Entschuldigend und gleichsam dämpfend erwähnt Grabbe bereits in dem »Vorwort« des Essays Ludwig Tieck, verbindet aber den kritischen Unterton mit einem Lob des Romantikers. Das ist bewußte Taktik. In privaten, brieflichen Dokumenten, die aus diesem Grunde auch einen höheren Stellenwert besitzen, äußert sich Grabbe deutlicher über die Absicht und Zielrichtung seiner Schrift. So lesen wir zum Beispiel in dem Brief an Georg Friedrich Kettembeil vom 12. August 1827: Ich gestehe, er [der Aufsatz] ist vorzüglich mitberechnet, dem Tieck i. e. seiner albernen Kritik den Todesstoß zu geben. Ich mußte, (wie ich höchstens einmal mündlich näher entwickeln könnte) ihn in Worten schonen, aber indem ich den Göthen angreife, zu dessen Pabst er sich aus Mangel eigener Kraft machen will (auch diese Worte kann Tieck, wenn er lärmt, einmal gedruckt zu lesen bekommen), so zertrümmere ich auch ihn10. 17

Vgl. S. } 7 f . Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, Band 1 und 2, hg. von F. Bassenge. Berlin und Weimar 1984, I, S. 553. "> V g l . auch den Beitrag von Ernst Ribbat in diesem Band! V, S. 177. Verwiesen sei auch auf eine Stelle in dem Brief an Georg Ferdinand Kettembeil vom 25. 6. 1827, an der es heißt, daß z.B. Tieck Shakespeare vorschütze, weil er »selbst nicht so hoch kommen [könne] als er und daher in seiner von ihm erregten Bewunderung sich selbst geschmeichelt [fühle]« (V, S. 162). 18



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Um so überraschter liest man, was Grabbe wenige Wochen später selbst an Tieck schreibt, als er ihm die beiden Bände seiner »Dramatischen Werke« übersendet: »Verehrtester Herr und Meister! [man glaubt nicht richtig zu lesen!] Die schönste und größte Zeit meines Lebens war die, wo ich mich persönlich von Ihnen belehren lassen konnte«''. Die beiden Belege sind Ausdruck einer Doppelstrategie Grabbes, die wir allenthalben bei ihm im Umgang mit verschiedenen Zeitgenossen beobachten können. In diesen Zusammenhang gehört es auch, wenn Grabbe seinen »Dramatischen Werken« Tiecks Brief vom 6. Dezember 1822 voranstellt, um auf diese Weise seiner Publikation mehr Gewicht zu verleihen. Mit der nach außen hin dokumentierten Hochachtung für den Literaturpapst Tieck verfolgt Grabbe die Absicht, den Kontakt zur Literaturgesellschaft seiner Zeit zu wahren und sich nicht selbst durch eine Frontbildung aus der literarischen Zeitgenossenschaft auszubürgern und zu isolieren. Was Grabbe im Falle Tiecks an Doppelstrategie, ja an widersprüchlicher Einstellung, wenn man so will, bekundet, ist bei ihm kein Einzelfall. Auch betreffs der Entstehung seines Essays »Über die Shakspearo-Manie« wählt er eine ähnliche, verschleiernde Strategie: In dem »Vorwort« der Studie gibt Grabbe vor, die Abhandlung »vor mehreren Jahren [geschrieben] und [ . . . ] jetzt nur revidirt« (29) zu haben. In dem Brief vom 25. Juni 1827 ist indes zum ersten Mal von dem Plan die Rede, einen Aufsatz über die Shakespeare-Fashion verfassen zu wollen' 2 . Am 12. Juli 1827 lesen wir ebenfalls wieder in einem Brief an Kettembeil: »Das Schriftchen über die Shakspear-Manie kannst Du, wenn Du es foderst, in 8 - 1 4 Tagen, von Deinem nächsten Brief an zu rechnen, erhalten«''. Bereits am 26. Juli 1827 ist es dann soweit: Grabbe übersendet die Abhandlung in schlechter Manuskriptform dem Verlegerfreund Kettembeil, »heiß wie er [der Essay, P.H.] aus der Pfanne kommt«'4 und fügt hinzu: »Ich sage [in dem »Vorwort«, P.H.], er sey vor mehreren Jahren gernachu. Das hat seine Gründe. Du kennst sie gewiß«». Ein Grund für das Täuschungsmanöver dürfte nicht schwer zu erkennen sein - wollte doch Grabbe damit in der Öffentlichkeit die auf der Länge der Arbeitszeit an dem Thema basierende Gründlichkeit der Abhandlung dokumentieren. Die Verschleierungstaktik hat dabei nichts zu tun mit einem Unterlaufen der Zensur durch den " " » »4 "

V, V, V, V, V,

S. S. S. S. S.

186. 162. 167. 170. 171. Vgl. auch Bergmanns Ausführungen zur Entstehung des Essays (Anm. 21).

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Staat, wie wir das etwa bei Heinrich Heine in der gleichen Zeit beobachten können, sondern dient vornehmlich dazu, die persönliche Sphäre gegen Angriffe durch die Literaturkritik der Zeit abzuschirmen.

3. Shakespeare-Kritik und die Folgen Grabbes Kritik am Werk Shakespeares zielt darauf, die Fundamente der bisherigen Wertschätzung Shakespeares während der Rezeption des Dichters seit dem Sturm und Drang zu erschüttern. Die tragenden Eckpfeiler des Shakespeare-Bildes, an denen Grabbes Kritik rüttelt, sind die Aspekte Originalität, Geschichtsdarstellung, Gestaltung des Volkes, Sprache, Komposition der Stücke (Exposition, Dramenschluß, Konzeption und Notwendigkeit der Figuren, Raum und Zeit) sowie Komik und Humor. Dazu kommt noch eine Anzahl von Einzelzügen, die am Beispiel bestimmter Stücke kritisiert werden. Es zeigt sich erneut, daß Grabbe bei der Würdigung Shakespeares ein ambivalentes Denk- und Argumentationsschema benutzt: Er leitet seine Kritik am Werk des großen englischen Dramatikers ein mit einem huldigenden Lob seiner Kunst, das Shakespeare als »umfassendes Genie« (39) feiert, seine Schöpfungskraft hervorhebt, seinen tiefen »Blick in [ . . . ] die Weltgeschichte« (40) und Humor und Ironie des Dichters rühmt. Derart versucht Grabbe ein Gegengewicht zu der folgenden scharfen Kritik an Shakespeare zu schaffen, um Verehrung und Ablehnung, Huldigung und Tadel in ein angemessenes Verhältnis zu bringen, wobei er sich freilich auf eine schwierige Gratwanderung einläßt. Programmatisch ruft Grabbe aus: »Daß Shakspeares componirendes Talent ausgezeichnet ist, läugnet Niemand, daß es aber besser seyn soll als das vieler anderen Schriftsteller, läugne ich offen.« (41) Ein zentraler Aspekt der Shakespeare-Rezeption der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts war die Originalität der Kunst Shakespeares, die einem Axiom gleich die Rezeption seit dem Sturm und Drang bestimmte und sich in erster Linie in der Form seiner Stücke auswirkte, in den Dialogen, der Charakterschilderung, dem Gang der Handlung. Durch die Untersuchung dieser Aspekte an Beispielen Shakespearescher Stücke entwertet Grabbe dieses Argument und begründet, daß das, was landesweit als originell an dem Dichter propagiert wurde, nur auf »Unwissenheit« (40) und Unkenntnis der Shakespearomanen beruhe. Indem Grabbe einerseits auf vielfache >Fehler< der dramatischen Form bei Shakespeare aufmerksam macht, andererseits zeigt, daß das Besondere seiner dramatischen Kunst

6o

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zum Repertoire der Dramatiker der damaligen Zeit gehört, wird Shakespeare der Einmaligkeit und seiner Ausnahmestellung entkleidet und in historisierender Betrachtungsweise in die Ebene einer dramengeschichtlichen Entwicklung integriert: Ben Johnson, Francis Beaumont, John Fletcher,

Christopher

Marlowe

seien Mitglieder

einer

dramatischen

Schule gewesen, der auch Shakespeare zuzurechnen sei - wenngleich als ihr größter Vertreter. (40 f.) Die Historisierung der ins Zeitlose und Überdimensionale

stilisierten

Gestalt

des

englischen

Dramatikers

durch

Grabbe ist ein wesentlicher Beitrag Grabbes zur Einschätzung Shakespeares im 19. Jahrhundert. Freilich hat Grabbe diese geschichtliche Betrachtungsweise nicht in allen Punkten seiner Abhandlung durchgehalten. Jener zuvor von Grabbe betonte tiefe »Blick« Shakespeares »in die Weltgeschichte« wird zum Anlaß eines wesentlichen Kritikpunktes, wenn Grabbe nun, sein Argument auf den K o p f stellend, sagt, daß Shakespeares geschichtliche Dramen keinen »Mittelpunct, keine Katastrophe, kein poetisches Endziel« (41), also kein die Geschichte in ein dramatisches Konzept umformendes Prinzip besäßen. Grabbes Argument folgt hier deutlich der Linie Lessings und Schillers, deren Anschauungen hinsichtlich der Verarbeitung eines historischen Stoffes im Drama dem dramatisch-künstlerischen Konzept den Vorrang gaben vor der akribischen Treue der Geschichte gegenüber' 6 . Der Mangel eines entsprechenden >6 In der »Hamburgischen Dramaturgie« geht Lessing wiederholt auf das Problem Dichtung und Geschichte ein und führt z.B. im 1 1 . Stück dazu aus, daß der »dramatische Dichter [ . . . ] kein Geschichtsschreiber« sei (63), die »historische Wahrheit [sei] nicht sein Zweck, sondern nur das Mittel zu seinem Zwecke« (ebda.). Im 23. Stück gibt Lessing darüber Auskunft, wie weit der Dichter von der Historie abweichen dürfe: »In allem, was die Charaktere nicht betrifft, soweit er will. N u r die Charaktere sind ihm heilig; diese zu verstärken, diese in ihrem besten Lichte zu zeigen, ist alles, was er von dem Seinigen dabei hinzutun darf [ . . . ] « (125). »Kurz: Die Tragödie ist keine dialogierte Geschichte [ . . . ] « (127; vgl. auch das 89. Stück, S. 4 j o f . — Seitenangaben nach der Ausgabe: Gotthold Ephraim Lessing. Hamburgische Dramaturgie. Hg. und komment. v. K . L . Berghahn. Stuttgart 1986, = Reclam 7738). Lessing folgt hier in wichtigen Zügen der »Poetik« des Aristoteles, auf den er sich auch ausdrücklich beruft. - In der Tradition von Aristoteles und Lessing steht auch Schiller mit seiner Einschätzung des Verhältnisses von Geschichte und Poesie. In der Schrift »Ueber die tragische Kunst« von 1792 vertritt Schiller den Standpunkt, daß die »poetische Nachahmung« der »historischen« entgegengesetzt ist. Folglich bietet die Tragödie auch keinen Unterricht in Geschichte, und »die historische Wahrheit [ist] den Gesetzen der Dichtkunst« unterzuordnen (Schillers Werke. Nationalausgabe, 20. Band, Weimar 1962, S. 166.) - In ähnlicher Weise äußert Schiller sich auch in »Ueber das Pathetische« im Jahre 1793 (vgl. ebda., S. 2i8f.). Nach der negativen Erfahrung mit dem erneuten Versuch der Gestaltung des Problems von Dichtung und Geschichte im »Wallenstein« distanzierte sich Schiller wiederum und nun endgültig von der Möglichkeit, Geschichte adäquat im Drama zu gestalten. Am 20. Au-

Grabbes >kritische< Liebe zu Shakespeare

6l

K o n z e p t e s f ü h r e bei S h a k e s p e a r e lediglich zu »poetisch versierten

Chroniken«

( 4 1 ) . S e i n e A n s c h a u u n g exemplifiziert G r a b b e an » J u l i u s C ä s a r « " . E s ist b e m e r k e n s w e r t , daß K a r l I m m e r m a n n 1 8 2 9 dieses A r g u m e n t , vielleicht v o n G r a b b e b e e i n f l u ß t ' 8 , in seinem B r i e f an M i c h a e l B e e r v o m 1 6 . A p r i l a u f g r e i f t u n d w ö r t l i c h s c h r e i b t : » D r a m a t i s i r t e G e s c h i c h t e ist keine T r a g ö die -

ich kann m i r n i c h t helfen, m i r erscheint V i e l e s in

Shakespeares

historischen S t ü c k e n n u r w i e dialogisirte C h r o n i k , u n d als w e i t unter d e m W e r t h e seiner a n d e r n W e r k e s t e h e n d « ' 9 . Bereits i m J a h r e 1 8 1 9 u n d erneut 1 8 2 6 w u r d e K a r l W i l h e l m F e r d i n a n d S o l g e r s a u s f ü h r l i c h e , kenntnisreiche u n d a u s g e w o g e n e Rezension v o n Schlegels »Vorlesungen über dramatische K u n s t u n d L i t e r a t u r « 4 0 v e r ö f f e n t l i c h t , die I m m e r m a n n als V e r e h r e r S o l g e r s h ö c h s t w a h r s c h e i n l i c h kannte. D e n S c h w e r p u n k t dieser R e z e n s i o n bildet die A u s e i n a n d e r s e t z u n g

mit

Schlegels

Shakespeare-Darstellung,

die S o l g e r teilweise a u s f ü h r l i c h referiert u n d m i t e i g e n e n B e u r t e i l u n g e n S h a k e s p e a r e s e r w e i t e r t 4 1 . — F ü r unseren Z u s a m m e n h a n g v o n b e s o n d e r e m gust 1799 (an Goethe) gesteht er: »Ueberhaupt glaube ich, daß man wohl thun würde, immer nur die allgemeine Situation, die Zeit und die Personen aus der Geschichte zu nehmen und alles übrige poetisch frey zu erfinden, wodurch eine mittlere Gattung von Stoffen entstünde welche die Vortheile des historischen Dramas mit dem erdichteten vereinigte.« (Ebda., Band 30, S. 86) Mit der »romantischen Tragödie« »Johanna von Orleans« (1801) ist ein Stadium erreicht, in dem die Geschichte nach Schiller weder eine bestimmende Funktion haben, noch ein geheimer Gegenspieler sein, sondern nur noch den Rahmen legendärer Ereignisse bilden könne. — Kurt Jauslin (vgl. u. Anm. 5 3) bezieht bei der Erörterung des Problems von Geschichte und Dichtung (S. 80 ff. seiner Dissertation) weder Lessings Äußerungen ein, noch sieht er Schillers Standpunkte differenziert genug. 7 > Die Kritik, führt Grabbe aus, habe an »Julius Cäsar« zunächst die Fehler gerügt (die doppelte Handlung), diese Fehler aber im nachhinein gutgeheißen mit dem Argument, nicht Cäsar, sondern Brutus sei der wirkliche »Held« des Stückes. Grabbe widerlegt diese Ansicht mit einer Begründung, die den Charakter Casars als »Seele des Ganzen« (42) hervorhebt. Andererseits übt Grabbe aber auch wieder Kritik an Shakespeares CäsarFigur, die der Dichter von dem geschichtlichen Vorbild abgerückt und verfälscht habe (42). >' In demselben Brief äußert sich Immermann über »Don Juan und Faust« von Grabbe, was als Indiz anzusehen ist, daß er bei dem zitierten Beleg möglicherweise indirekt auch auf Grabbe Bezug nimmt. « Karl Leberecht Immermann. Briefe. Textkritische und kommentierte Ausgabe in drei Bänden hg. v. P. Hasubek. München 1 9 7 8 - 1 9 8 7 ; I, S. 726. 40 Hier zitiert nach dem Neudruck: Karl Wilhelm Ferdinand Solger, Erwin. Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst. Nachdruck der Ausgabe von 1907 zus. mit Solgers Rezension von A.W. Schlegels »Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur«. Mit einem Nachwort und Anmerkungen hg. v. W. Henckmann, München 1970; S. 395—471 ( = Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Band 15). 41 Solger rügt bei aller Anerkennung Schlegels die Nachlässigkeit und »Oberflächlichkeit« (Solger, S. 436) der Darstellung und des Verständnisses von Shakespeare, die u.a. darin zum Ausdruck kommen, daß Schlegel häufig »nur Auszüge« aus den Werken des Dich-

6z

Peter Hasubek

Interesse ist der Sachverhalt, daß Solger ein von Grabbe und Immermann stark abweichendes Verständnis des Verhältnisses von Geschichte und Drama vertritt. Solger fordert vom Dichter eine uneingeschränkte historische Treue und spricht sich vehement gegen die »willkürliche Veränderung« der Geschichte aufgrund höherer »künstlerische[r] Absichten« aus42. In diesem Sinne habe Shakespeare »das wahre historische Drama in der Welt zuerst geschaffen, und ihm allein ist es bis jetzt vollkommen gelungen« 4 '. Daß bei Grabbe kein Reflex auf Solger zu erkennen ist, läßt zumindest den Schluß zu, daß Grabbe offenbar Solgers Auffassung nicht zur Kenntnis genommen hat. Wenn Grabbe wenig später bei der Kritik an der Darstellung des Volkes durch Shakespeare moniert, er habe in »Coriolan« die Patrizier und Plebejer entgegen der geschichtlichen Überlieferung verzerrend dargestellt, so scheint sich hier ein Widerspruch aufzutun zu dem Vorwurf der chronikalischen Reproduktion der Historie durch Shakespeare. Die Unterscheidung ist diffizil: Grabbe argumentiert hier offensichtlich für ein Konzept des historischen Dramas, das im Detail an der historischen Überlieferung festhält und die geschichtlichen Verhältnisse in ihrer grundlegenden Charakteristik weitgehend unverändert rezipiert, andererseits aber die Geschichte mit einem Handlungsablauf verbindet, bei dem das dramentechnische vor dem geschichtlichen Moment dominiert. Die kunstvolle Verknüpfung von dramaturgischen Momenten der Handlung mit der überlieferten Geschichte stellt für Grabbe die innere Struktur eines historischen Dramas dar, während die Verwendung historischer Details die äußere Schicht des dramatischen Vorgangs bildet. Anders als Grabbe wird 1839 zum Beispiel Heinrich Heine, in seinem Essay »Shakspeares Mädchen und Frauen« als uneingeschränkter Bewunderer und Verteidiger Shakespeares, an dem er besonders dessen überragende Porträtierkunst schätzt, das Problem Drama und Geschichte beurteilen. Für Heine, der Grabbes Essay genau kennt - und anerkennt, ist Shakespeare nicht nur Dichter, sondern vor allem »Historiker«44, der

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ters bringe, die »nicht genügen können« und bei denen man nicht sieht, »für wen sie eigentlich bestimmt sind« (Solger, S. 443 und 454). Vor allem aber gilt Solgers Kritik dem für Shakespeare unzutreffenden Ironiebegriff Schlegels. Solger hatte bereits 1815 im 4. Gespräch des »Erwin« einen eigenen Ironiebegriff entwickelt und begründet. Ebda., S. 445. Ebda. - Vgl. auch K . Jauslin, a.a.O. (Anm. 5 5), bes. S. 120ff. Jauslin stellt eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Grabbes und Solgers Auffassung vom Geschichtsdrama heraus, der ich mich nicht anzuschließen vermag. Heinrich Heine, Säkularausgabe. Werke. Briefwechsel. Lebenszeugnisse. Band 9: Prosa 1856—1840. Berlin, Paris 1979, S. i J 7 f .

Grabbes >kritische< Liebe zu Shakespeare

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historische Stoffe nicht künstlerisch eingekleidet und damit verändert gestalten will, sondern dem es in seinen Dramen um die Historie selbst ging, die er treu wiedergeben wollte und nicht »modeln«45 dürfe. Damit zeigt sich ein verändertes Verständnis Heines im Vergleich zu Grabbe wie auch zu der Romantik, die, wie gesagt, das Problem der Geschichte bei Shakespeare weitgehend ausklammerte. Heines Einschätzung der Behandlung der Geschichte wird man freilich nicht folgen können, wenn er im Gegensatz zu Grabbes Auffassung gerade betont, daß es Shakespeare gelungen sei, »das untergegangene Römerthum mit den wahrsten Farben«46 zu schildern und den »Helden der antiken Welt in die Nieren« zu sehen und ihnen befohlen zu haben, »das tiefste Wort ihrer Seele auszusprechen«47. Welche dramentheoretische Konzeption bei Grabbes Kritik an Shakespeare die Wertmaßstäbe setzt, folgt aus der Fortsetzung seiner Argumentation, vor allem aus der Betrachtung des Stückes »König Heinrich IV«. An diesem Text kritisiert Grabbe den fehlenden »Mittelpunct« des Stükkes und den mangelnden »befriedigenden Schluß des erstefn] Theil[s]« (43). Außerdem zerfiele die »Handlung« in »2 Theile« (ebda.). Der Mittelpunkt, der befriedigende Schluß sowie das Argument der nicht vorhandenen Einheit der Handlung verweisen nur zu deutlich auf die Dramenpoetik des Aristoteles, der im 7. Kapitel seiner »Poetik«48 gerade auf diese Aspekte als Bestandteile einer Tragödie besonderen Wert legt. Mit anderen Worten: Grabbes Kritik an Shakespeare ist formuliert vom Standpunkt einer klassizistischen Dramenpoetik aus. Die gleiche Terminologie und entsprechend den dramentheoretischen Hintergrund treffen wir in der früheren Passage an, in der er für das Konzept des historischen Dramas einen »Mittelpunct«, eine »Katastrophe« und ein »Endziel« for*> Ebda. 46 Ebda., S. 158. 47 Ebda. - Aber nicht dieser Punkt wird von Heine als Gegensatz zu Grabbes ShakespeareBild vorrangig herausgehoben, sondern der »Vorwurf der Formlosigkeit« (ebda., S. 158), bei dem der »schärfste Kritiker« (ebda.) Shakespeares - nämlich Grabbe - sich so sonderbar geirrt habe! In der Folge verteidigt Heine die Formkunst der Dramen Shakespeares und nähert sich dabei — vielleicht unbewußt — der ästhetisierenden Betrachtungsweise der Romantiker, insbesondere Ludwig Tiecks und August Wilhelm Schlegels an, in dessen genereller Einschätzung er freilich mit Grabbes Urteil weitgehend konform geht, wenn er bemerkt: »Des Herrn A . W . Schlegel's Begeisterung ist immer ein künstliches, ein absichtliches Hineinlügen in einen Rausch ohne Trunkenheit, und bei ihm, wie bei der übrigen romantischen Schule, sollte die Apotheose Shakspear's indirekt zur Herabwürdigung Schiller's dienen.« (ebda., S. 162) *' Aristoteles. Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1986, S. 25 ( = Reclam 7828).

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Peter Hasubek

derte (41). Auch Grabbes späteres Eintreten für die Tradition der französischen klassizistischen Tragödie eines Corneille, Racine und Voltaire (51) legt den Hintergrund seiner kritischen Argumentation gegenüber der Dramatik Shakespeares frei. Bei den Franzosen treffe er gerade das an, was er bei Shakespeare vermißt: »Ernst, Strenge, Ordnung, theatralische und dramatische Kraft, Besonnenheit, raschen Gang der Handlung« (51). Grabbes Eintreten für die französischen Dramatiker an dieser Stelle steht nicht vereinzelt in seinem Werk; es begegnet vielmehr auch in seinem Aufsatz »Etwas über den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe« von 1830, in dem neben der Ausspielung Shakespeares gegen Goethe auch die vorwurfsvolle Feststellung steht, daß Schiller und Goethe den »Aristoteles« und die »griechischefn] und französische[n] Tragiker« leider viel zu wenig kennen«. Grabbes Hervorheben der französischen Dramatiker einschließlich Molières gehört unübersehbar in den Kontext seiner Angriffe gegen die Shakespearo-Manen des 19. Jahrhunderts, besonders gegen August Wilhelm Schlegel, der in der 20.-22. Vorlesung seinen Wiener »Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur« die Franzosen sehr abwertend dargestellt hatte50. Wenige Monate vorher hatte sich schon Goethe unwissentlich zum Verbündeten Grabbes deklariert, wenn er Molière gegen die einseitige Einschätzung Schlegels verteidigt. In dem Gespräch mit Eckermann am 28. März 1827 äußert er: »>Einem Menschen wie Schlegel [ . . . ] ist freilich eine so tüchtige Natur wie Molière ein wahrer Dorn im Auge; er fühlt, daß er von ihm keine Ader hat, er kann ihn nicht ausstehen. [ . . . ] Seine Kritik ist durchaus einseitig, indem er fast bei allen Theaterstücken bloß das Skelett der Fabel und Anordnung vor Augen hat und immer nur kleine Ähnlichkeiten mit großen Vorgängern nachweiset [.. .]kritische< Liebe zu Shakespeare

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von Widersprüchen, die teilweise nur schwer nachzuvollziehen sind. Z u m einen mögen sie ihre Erklärung finden in Grabbes sprunghafter Psyche, zum anderen in der schnellen Niederschrift'' des Essay und in taktischen Winkelzügen gegen die Front der Gegner». Shakespeares »Hamlet« wurde neben »Romeo und Julia« von den Romantikern und überhaupt von der deutschen Shakespeare-Rezeption insVolkstheaters< zu zielen, wobei besonders die Basis eines breiten Publikums, eben des >VolkesVolk< sind Grabbes Kriterien »Einfachheit und Klarheit«, sowie »ungestörte Begeisterung« und »treue und tiefe Empfindungen«, die »kräftige Sprache« und der gute »Versbau« bezogen, die zum Teil auch wirkungsästhetische Qualitäten besitzen. Aus der Logik der Argumente für ein derartiges Volksdrama folgt sodann, daß dieses Schauspiel nur an die nationale geschichtliche Tradition anknüpfen dürfe, wenn das »deutsche Volk« eine derartige Dramatik annehmen soll. Was Grabbe mit der kurzen Definition eines deutschen Nationaldramas offenbar meint, ist aber deutlich von dem Genre >Volksstück< zu unterscheiden, das im österreichischen und süddeutschen Raum etwa zur gleichen Zeit durch Autoren wie Nestroy, Raimund und Niebergall praktiziert und etabliert wird. Im Unterschied zu dieser Tradition dachte Grabbe durchaus an ein Drama mit einem bedeutenden Personenkreis und gehobenen, anspruchsvollen Stoffen. Bezeichnend ist, daß Grabbe in diesem Zusammenhang auch den Begriff »Tragödie« gebraucht. Bei dem nationalen Volksdrama, wie es 6

> Wenn Grabbe ein auf den aktuellen Stand seiner Gegenwart bezogenes Drama postuliert, so scheint er sich damit in einen Widerspruch zu seiner anderen Forderung nach einem deutschen Geschichtsdrama zu begeben. Ohne hier im einzelnen auf die weitläufige Diskussion über Grabbes Geschichtsdrama in der Forschung von Sengle bis zu jüngsten Arbeiten von Kopp, Müller und anderen eingehen zu können, sei nur bemerkt, daß sich der erwähnte Widerspruch in der Weise aufhebt, daß Grabbe offenbar ein Geschichtsdrama anstrebt, bei dem bewußt aus der geistesgeschichtlichen Situation des frühen 19. Jahrhunderts heraus geschichtliche Stoffe der Vergangenheit dramatisiert werden (anders Jauslin, a.a.O., (Anm. 53), S. 108—123). Das von ihm geforderte Geschichtsdrama wäre also nicht ein solches, bei dem der Dichter mit möglichst weitgehender Identifizierung mit der Vergangenheit historisches Geschehen und geschichtliche Persönlichkeiten um ihrer selbst willen zu gestalten versucht, wie es teilweise das spätere 19. Jahrhundert propagierte. Allerdings befindet sich Grabbe mit derartigen Forderungen an ein deutsches Geschichtsdrama teilweise im Widerspruch zu der Kritik, die er zuvor an Shakespeares historischen Stücken geübt hatte. 64 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Jürgen Hein in diesem Band!

Grabbes >kritische< Liebe zu Shakespeare

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Grabbe skizziert, ist man versucht, an Goethes Schauspiel »Götz von Berlichingen« als bereits in der Vergangenheit existierendes Beispiel zu denken, das weitgehend Grabbes Vorstellung erfüllt 6 '. Die Profilierung des von Grabbe pathetisch vorgetragenes Konzeptes eines deutschen Idealdramas erweist sich im nachhinein als eine weitere mögliche Ursache für seine vehemente Shakespeare-Kritik in diesem Essay und zu diesem Zeitpunkt. Auch das Lustspiel bezog Grabbe in den Kreis seiner dramentheoretischen Überlegungen ein, wobei er im Prinzip die gleichen allgemeinen Zielsetzungen wie für das Geschichtsdrama gelten ließ, mit dem besonderen Akzent freilich, daß innerhalb »der deutschen National-Komik« das »Lustige unmittelbar auf Ideale« - und damit auf klassizistische Theorieaspekte — zu beziehen sei. Die Operationalisierung dieser Forderung bleibt Grabbe schuldig, sie ist außerdem auch schwer vorzustellen. Friedrich Sengle unterscheidet im 2. Band seiner »Biedermeierzeit« zwischen einem >höheren< und einem >niederen< Lustspiel als Ausdruck polarer Intentionen und Ausprägungen des komischen Genres während der Restaurationszeit66. Während die Posse in den Bereich der niederen Komik gehört, treffen wir Grabbe mit seinen Forderungen eindeutig auf der Seite des >höheren< Lustspiels an. Versteht man Grabbes Argumente für ein nationales geschichtliches Schauspiel andererseits als einen Vorgriff auf sein eigenes dramatisches Schaffen, so wird man feststellen, daß einige Kriterien am ehesten von den Hohenstaufen-Dramen und der »Hermannsschlacht«, weniger von »Napoleon oder die hundert Tage« und »Hannibal« erfüllt werden. Durch den Bezug auf Grabbes eigenes dramatisches Schaffen erhalten einige seiner Forderungen nach einem nationalen Idealdrama Gewicht und dürfen nicht als publikumswirksame Tirade abqualifiziert werden. - Dennoch: Weder in den Stücken vor 1827 noch danach wird man von »Einfachheit« und »Klarheit« in »Wort, Form und Handlung« sprechen können, auch nicht von einer dadurch erzeugten Rezeptionshaltung der »ungestörte[n] Begeisterung« und »tiefe[n] Empfindung« (53). Grabbes Dramatik verunsichert den Rezipienten viel eher, stößt ihn vor den Kopf und setzt ihn einer - vielleicht produktiven - Unruhe aus. Darin liegt u.a. die Modernität seiner Stücke. Auch von seinem Lustspiel kann man nur zu geringem Teil behaupten, daß es einen »gesunden Menschenverstand« 6

' Nicht ohne Grund weist Grabbe in der Fortsetzung seiner Gedankenkette auf Goethe hin, bei dem annäherungsweise die Forderungen bereits verwirklicht seien (54). 66 Sengle, II, S. 401 f.

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und eine »moralische Kraft« (5 3 f.) dokumentiere und das »Lustige unmittelbar auf Ideale« beziehe (54). Freilich hat Grabbe jenen Lustspielplan, der solche Vorstellungen möglicherweise hätte verwirklichen sollen, die Eulenspiegel-Komödie, nicht mehr realisiert67. Insofern 2eigt es sich, daß Grabbes dramatisches Schaffen >moderner< ist als seine stichwortartig formulierten theoretischen Äußerungen zur Poetik des Dramas in dem Shakespeare-Essay mit ihren stark an die Tradition anknüpfenden Aspekten. >Modern< ist Grabbes Essay freilich durch den Antitraditionalismus, den Traditionsbruch, der sich in seinem Verständnis Shakespeares hier im Vergleich mit der vorangehenden Romantik dokumentiert. Durch diese >Modernität< gliedert sich der Essay doch wiederum in jene Linie des Antitraditionalismus ein, die für sein dichterisches Schaffen vorwiegend kennzeichnend ist.

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Am 12. 8. 1827 schrieb er an Kettembeil: »Nicht umsonst spreche ich in der ShakspearoManie vom Eulenspiegel; mein nächstes Lustspiel soll ihn vorführen.« (V, S. 180)

Raimar Zons

Der Tod des Menschen Von Kleists »Familie Schroffenstein« zu Grabbes »Gothland«

»Ich kann seit 14 Tagen keine franz. Zeitung mehr lesen, so ekeln diese elenden Schinderknechte mich an«1, schreibt der Ehrenbürger der Französischen Republik am 8. 2. 1793 nach der Enthauptung Ludwig des X V I . Die Revolution ist geschmacklos. Die zeitgenössische Philosophie mag debattieren, ob sie gegen den moralischen Imperativ verstoße, für Schiller ist eindeutig und auch politisch wichtiger, daß sie gegen den ästhetischen Imperativ des guten Geschmacks verstößt. Den gewaltfreien Konsensus von Geschmacksurteilen von nur exemplarischer und keineswegs kategorischer Geltung hatte Kants Ästhetik einer volontee generale entgegengesetzt, die sich als allgemeiner Rechtsgrundsatz gegen die Willen der tatsächlich unter ihr Befangenen reifiziert und Terror stiftet. Schiller hat bekanntlich einen solchen Konsensus als Spiel pragmatisiert und ihn dadurch ans Bildungsideal des Zeitalters und an die Kommunikationsnorm der neuen Familie angeschlossen. »Ganz Mensch« ist seit dem der Mensch nur da, wo er spielt und im schönen Spiel gesellig ist. In der postrevolutionären Generation aber durchbricht der schlechte Geschmack den Reizschutz einer auf ästhetische Geselligkeit und familiäre Kommunikationsnorm festgelegte Schaubühnengemeinde. Und es sind die Familie und das Verständigungsapriori des Gesellschaftsvertrags selbst, die Schrecken über Schrecken erzeugen. Das Simultanspiel der zwei Linien der Familie Schroffenstein verrückt die Seelenschwerpunkte der Figuren auf Rache und Ressentiment, es vergiftet die Ideenparadiese der Idylle, es ersetzt den Fingerzeig Gottes durch das Indiz eines abgehackten Kinderfingers. A m Schluß erweist es sich antiästhetisch als o-Summen-Spiel. Grabbes Erstling exponiert aus der Brüderlichkeit jede nur erdenkliche Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. j, München 1959, S. 573.

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Kriegsform vom Bruder- über den Rassen-, Volks- und Völkerkrieg bis zu dem (inneren) von Wildnis und Zivilisation. Kopien sind seine Figuren samt und sonders, aber in einer so unwahrscheinlichen Übersteigerung, daß ihre Welt-Geschichte alptraumartig ein nächtliches und gespenstisches Interrieur erfüllt, dessen Herkunft aus einer durch- und überdrehten Bildungsanstalt unübersehbar ist. Beide Dramen verbreiten Schrecken ohne Katharsis und zielen auf eine Öffentlichkeit, die sich auf keine Intimitätsideale mehr zurückführen läßt. Vielmehr zieht »das Gerede als solches weitere Kreise und übernimmt autoritativen Charakter«2. Ins Gerede aber wollen die jungen Genies im Zeitalter der Epigonen gerade kommen, indem sie als seine Rückseite den »Tod des Menschen« zeigen. Was also liegt näher, als die Erstlingsdramen der beiden großen Exzentriker der Epoche, deren gemeinsames Genie nur ihrem größten Literaturmakler, Ludwig Tieck, nicht entgangen ist, aufeinander zu beziehen. Ich tue das, indem ich in einer etwas umfangreicheren Analyse der »Familie Schroffenstein« die Grundlagen einer modernen Dramatik skizziere, auf deren Hintergrund Grabbes »Gothland« eine neue Aufmerksamkeit verdient, die ihm in der bisherigen Forschung weitgehend versagt geblieben ist. Kleist i , 2, 3

Die dramatische Struktur und die symbolische Ordnung der »Familie Schroffenstein«' folgt einem einfachen Algorithmus, den der Dorfrichter Adam einem pythagorisierenden Trinkspruch anvertraut: 2

Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1972, S. 168. > Kleists Schriften werden zitiert nach : Heinrich von Kleist, (dtv) Gesamtausgabe, hg. v. Helmut Sembdner, Nördlingen M961. Bei Zitaten aus »Die Familie Schroffenstein«, Bd. 1 der GA, ist die Seitenzahl in ( ) hinter dem Zitat angegeben. Ansonsten ist die Ausgabe zitiert mit G A mit Band- und Seitenzahl. - Grabbes Werke werden zitiert nach: Christian Dietrich Grabbe, Werke und Briefe, HKA, hg. v. der Akademie der Wissenschaften, Göttingen, bearbeitet v. Alfred Bergmann, Emsdetten 1960fr. Zitate aus »Herzog Theodor von Gothland«, HKA Bd. 1 jeweils in ( ) nach dem Zitat, sonst HKA mit Bd.und Seitenzahl. Gerhard Kluge hält in seinem Beitrag Der Wandel der dramatischen Konzeption von der »Familie Ghonore%ur »Familie Schroffenstein« (in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 52-72) das Trauerspiel für interpretatorisch weitgehend ausgereizt. Wie wenig diese Meinung zutrifft, erweist die bisher leider noch unpublizierte Untersuchung von Ingeborg Harms: Das gerissene Geschlecht. »Die Familie

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Eins ist der Herr, Zwei ist das finstre Chaos, Drei ist die Welt. Drei Gläser lob ich mir».

Die Rechenoperation, die Kleists Trauer- und Lustspiel - später wird er alle traditionellen Gattungsbezeichnungen meiden - verbindet, verdankt sich einer alten Tradition: Das mit der Zwei verbundene Chaos entsteht aus ihrer Beziehung auf die Eins. Die Zwei nämlich widerspricht der Einheit, vexiert sie und führt zu entsetzlichen Verwechselungen und Täuschungen. In der Zwei - mit einem Wert - nistet jener deus malignus, den zu Beginn der Neuzeit Descartes noch zugunsten des Erkenntnis und Wahrheit garantierenden einen Gottes glaubte fingieren zu können. Mit der Zwei lösen sich die Namen und Begriffe von den Dingen; sie meint eins und noch ein anderes, mit ihr erheben sich die Zwei-fel und auch jene Ver-zwei-flung des Selbst, das Opfer seines eigenen Urteils ist. Insofern birgt die mysteriöse Einheit der Zwei das Geheimnis der Zahl; die Enträtselung ihres Übergangs von der Eins erfindet ein Zählen. So ist die Drei Resultat einer wechselseitigen Hinzufügung von i und 2. Wenn die Eins und die Zwei gleichursprünglich sind, so ist die Drei Folge und Medium ihrer Konstellation. Martin Heidegger stellt diese Rechnung ins Zentrum seiner »Frage nach dem Ding«: Die Drei ist nicht die dritte Zahl, sondern die erste Zahl, nicht etwa die Eins. ( . . . ) Erst vom Dritten her wird das vormalige Eine das Erste und das vormalige andere das Zweite, wird eins und zwei, wird aus dem »und« und das »plus«, wird die Möglichkeit der Stellen und Reihen'.

Die Drei also, die Stellen und Serien vorschreibt, verwandelt das Eine und das Andere in symbolische Orte und Netze. Das Symbolische aber erweist sich als eben jene Maschine, die in einfacher Rechenhaftigkeit die Welt als dramatische Teleologie determiniert, der die Figuren als Subjekte unterlegt sind. So beginnt das Kleistsche Trauerspiel in strenger Parallelführung mit der spiegelsymmetrischen Vorstellung des in zwei »Stämme« zerrissenen Geschlechts der einen »Familie Schroffenstein«, die sein Titel ankündigt. Daneben aber zeigt sich ein zweiter Geschlechter-Riß, der Frauen von Männern und Söhne von Töchtern trennt. Die Procreation des Familiengeschlechts und damit, da es in Kleists Experiment zumindest kein munSchroffenstein« und »Der qerbrocbne Krug«, Zwei Spiele Kleists um Trauer und Lust, M S Boston 1989. Meine Analyse stützt sich auch da gelegentlich auf diese Untersuchung, wo sie nicht eigens zitiert wird. < G A 2, S. 54' Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding, Tübingen '1975, S. 57.



Raimar Zons

danes Außen des Schroffensteinschen Familienuniversums gibt, den schlichten Fortbestand der »Welt«, regelt ein alter Erbvertrag, der aber wie der Apfel des Paradieses - die Zweifel und Verzweifelungen unter den Familienmitgliedern nicht verhindert, sondern stiftet. Zwischen den beiden Stammsitzen der Familie, den Häusern Rossitz und Warwand, der dritte Bereich der »Welt«, ist Schauplatz des Geschlechter- und Geschlechtsverkehrs in einer dem Geschick der Geschlechter gegenüber »gleichgültigen« Kulissenlandschaft6 aus »Gebirge« und »See«, aber auch in einer verweisenden Natur aus »Quelle« und »Höhle«. Der Algorithmus, der die dramatische Zeit und die Teleologie des Trauerspiels bestimmt und den Figuren ihren Ort in den Zahlenreihen zuweist, führt zur Entropie durch absolute Symmetrie. Die Rechenhaftigkeit des dramatischen Erstlings Kleists garantiert also gerade nicht mehr den »sichern Weg des Glücks«7, sie bringt allenfalls die »Drangsale des Lebens« definitiv zu Ende. Die aufklärerische Maschine nimmt Abschied von der besten aller möglichen Welten. So kann die Mathematik fortbestehen und die Welt zugrunde gehen. Es sei denn, es fände sich in der Ordnung des Symbolischen eine Lücke, in der — vielleicht eine imaginäre »viertel Stunde« lang — ein Glück glückt, das der Zahlenreihe enthoben wäre. Über das Symbolische wenigstens, das von »alters her« datiert, gibt es keine Verfügung. Vielmehr bestimmt der Algorithmus den Familien- und Weltzusammenhang als objektiven Verblendungszusammenhang, dem die Figuren auch dann noch ausgeliefert bleiben, wenn sie selbstreflexiv beginnen, die Rechnung lesen zu lernen, die ihnen gemacht ist. Rupert, nachdem er das heilige Herold- und Gastrecht mißachtend, den »Vermittler« Jeronimus den Keulen des Volkes ausgeliefert hat, hört von seiner Frau Eustache das Geheimnis aller spiegelsymmetrischer Verkennung und damit den »Plot« des gesamten Trauerspiels: EUSTACHE

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Warum nicht mein Gemahl? Denn es liegt alles Auf beiden Seiten gleich, bis selbst auf die Umstände noch der Tat. Du fandst Verdächtge Bei deinem toten Kinde, so in Warwand; Du hiebst sie nieder, so in Warwand; sie

Hans Neuenfels, »Die Familie Schroffenstein« — soll man sie spielen, kann man sie spielen?. In: Kleist-fahrbuch,

1984, hg. v. Hans Joachim Kreutzer, S. 106-123, hier: S. 122.

S. Kleists frühen Aufsatz, den sichern Weg des Glücks finden und ungestört — auch unter den größten Drangsalen des Lebens - ihn genießen, GA i, S. 37-50.

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Gestanden Falsches, so in Warwand; du Vertrautest ihnen, so in Warwand. — Nein, Der einzge Umstand ist verschieden, daß Sylvester selber doch dich freispricht. ( 1 2 8 )

Die Struktur, die die - wie es in ironischer Anspielung auf den Humanismus des Nathan heißt: — allzu eng gepflanzten Stämme8 der Schroffensteins in tödliche Opposition bringt, gründet im Selben, in der absoluten Symmetrie des wie - so. Aber die reflexive Vertauschung der Subjektpositionen führt - zumindest in der symbolischen, vom Vertrag gesatzten Welt der Alten und in der alten Welt - zu keinerlei Anagnoresis, sondern nur zu der inversen Argumentation Ruperts: RUPERT

Gewendet, listig, haben sie das ganze Verhältnis, mich, den Kläger, zum Verklagten Gemacht. — Und um das Bubenstück, das mich Der ganzen Welt als Mörder zeigt, noch zu Vollenden, so verzeiht er mir. - ( 1 2 8 )

Da also weder Rupert noch Sylvester als die eigentlichen Oberhäupter der zwei Linien des Geschlechts über das Feld des Symbolischen verfügen können, werden sie von der Hexe Ursula am Schluß — zum ersten Mal in der Kleistschen Produktion — mit gutem Grund als »Püppchen« angesprochen: »Wenn ihr euch totschlagt, ist es ein Versehen.« (156) Allerdings wächst ihnen als Puppen im Spiel ihres Lebens auch eine gewisse »Anmut« zu, auf die wir gleich noch zu sprechen kommen werden'. Die vom Erbvertrag und dem von ihm gesatzten universellen Verdacht produzierte Handlungssymmetrie ist aber auch wortwörtlich spiegelbildlich. Dem Barbaren Rupert, dessen Rachegottesdienst das Trauerspiel eröffnet, steht nicht der Graf von Schroffenstein aus dem Hause Warwand, Sylvius, gegenüber, sondern - eine Generation und eine Weltzeit später — dessen aufgeklärter und »humaner« Sohn Sylvester. Während Ruperts Frau Eustache, an der Schwelle klassischer Bildung, sich darum bemüht, ihren barbarischen Mann zu »mäßigen« (225), gelingt es Gertrude schließlich, ihren aufgeklärten Mann Sylvester mit dem Gerücht und 8

'

S. Ruth Angress, Kleists Abkehr von der Aufklärung. In: Kleist-Jahrbuch (Anm. 5) 1987, S. 9 8 - 1 1 4 , hier: S. 101. S. Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater, G A 1, S. 7 1 - 7 8 . - S. dazu: Paul de Man, Allegorien des Lesens, dt. v. Werner Hamacher und Peter Krumme, Frankfurt 1988, S. 205—233 (Ästhetische Formalisierung: Kleists »Über das Marionettentheater) — dort auch der Bezug zu Schillers ästhetischem Staat und Gesellschaftstanz.

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dem Mißtrauen, der »schwarze(n) Sucht der Seele« (239) so zu infizieren, daß sich sein »Blutdurst« (151 f.) von dem seiner barbarischen Feinde kaum mehr unterscheidet. Ruperts Sohn Ottokar wiederum findet in Sylvesters Tochter Agnes das andere seines Geschlechts, das er schließlich mit dem seinen tauschen wird, und der »natürliche«, eben deswegen aber vom Familiendiskurs und vom Geist der Rache ausgeschlossene Sohn oder Bastard Ruperts, Johann, hat seine Warwandsche Entsprechung im blinden und vergreisten Sylvius, jenem nur noch nominellen Grafen von Schroffenstein, mit dem er am Schluß nicht nur seinen Wahnsinn, sondern auch die Erkenntnis des Wahren teilen wird. Im spiegelsymmetrischen Arrangement also werden die Figuren virtuell austauschbar, Exemplare eines Spiels, das ihnen gespielt wird. Was auch heißen kann, daß sich ihre jeweiligen Positionen, die stets einen historischen Index tragen, wechselseitig dekonstruieren. Als der kantianisch auf die Allgemeingültigkeit des Sittengesetzes und namentlich auf die Heiligkeit des Herold- und Gastrechtes setzende Sylvester Jeronimus als Familienhermeneuten und -vermittler nach Rossitz schickt, liefert er ihn objektiv dem nämlichen Schicksal aus, das Ruperts Boten durch den »Unfall« (94) eines Warwandschen Lynchmordes ereilt hat. In den Konsequenzen werden Sittengesetz und souveräne Willkür isomorph. Also findet Sylvester, erwacht aus und erquickt von seiner mädchenhaft sentimentalischen Ohnmacht, den nämlichen neuen Seelenschwerpunkt, der den vorbürgerlichen und barbarischen Tänzer Rupert beflügelt: RUPERT

(...)

Und weil doch alles sich gewandelt, Menschen Mit Tieren die Natur gewechselt, wechsle Denn auch das Weib die ihrige - verdränge Das Kleinod Liebe, das nicht üblich ist, Aus ihrem Herzen, um die Folie, Den Haß, hineinzusetzen. Wir Indessen tuns in unsrer Art. (66)

Tatsächlich verleiht die ursprüngliche Affektsicherheit Rupert in der trügerischen Welt der Familie Schroffenstein, in der sich sämtliche Figuren ständig auf ihr 'Ke.chtsgefühl berufen, eine Anmut, die von Reue und Reflexion kaum zu durchbrechen ist. Mit rhetorischer Brillanz und am schönsten offenbart sie sich in jenem Dialog, den Rupert mit dem bereits todgeweihten Jeronimo durchspielt. Die Kleistsche Schreckensästhetik zeigt sich hier in einem geradezu heiteren Parlando und in einer Eleganz,

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die bis hin zum Spätwerk seinen eigentümlichen Stil prägen wird10. Er findet sich im zweiten Aufzug des dritten Akts, und ich empfehle ihn Ihrer besonderen Lektüre. Vielleicht hilft dabei der Hinweis, daß Kleist und seine Zuhörer sich während seines Vortrags des Dramas vor Lachen gebogen haben sollen. Von Mord zu Mord, von Katastrophe zu Katastrophe vollzieht sich die Rechnung und die dramatische Zeit des Trauerspiels bis hin zu jener letzten, schlechthin apokalyptischen, in der die Väter am Höhepunkt der Verkennung ihre eigenen Kinder abschlachten und damit das temporale Schicksal beider Häuser vollstrecken. Eine höchst mechanische Zeit, so wie sie Danton in Georg Büchners Revolutionsdrama benennen wird: das »Picken« der Totenuhr". Von der ersten schwarzen Rachemesse Ruperts bis zum letzten Satz Johanns: »Ich bin zufrieden mit dem Kunststück« (156), das nun abgeschlossen vor und hinter ihm liegt, läuft temporal nur eine Frist ab, in der das Geschick der Familie und ihrer Mitglieder fristet. Kant hat im Zusammenhang einer begrenzten, befristeten Zeit von deren »Verräumlichung«'2 gesprochen, und tatsächlich bestimmt in Kleists Trauerspiel der Raum das symmetrische Spiel als figurales. Raumfiguren bevölkern die Schroffensteinsche Szene rhetorisch und nicht sie haben menschengleich - die Rede, sondern die Rede hat vielmehr sie. Bis auf Ausnahmen freilich, denen im Feld des Geredes für glückliche Augenblicke ein volles Sprechen gelingt. »Wie? die Sprache wär größer als der Mensch?« fragt Grabbes »Faust«, und sein teuflischer »Ritter« antwortet schlicht: »Sie ist's«1 J. Was uns auf 2. bringt und damit auf den

Vertrag und (das) Gemurmel Der Erbvertrag, den nicht zufallig der rossitzsche Kirchenvogt dem vertragsfernen Mittler Jeronimus eigens erläutern muß, ist ein Dokument, das der Familie Schroffenstein ein ewiges Leben sichern soll. Er lautet so: S. dazu Raimar Zons/Klaus Lindemann, Die Schlacht im Theater — vor und nach den »Befreiungskriegen«. Kleists »Hermannsschlacht« und Grabbes »Napoleon«. In: Grabbe-Jahrbuch 1988, hg. v. Werner Broer, Detlev Kopp und Michael Vogt, Emsdetten 1988, S. 35-77. " Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe, HKA, hg. v. Werner R. Lehmann, Hamburg 1967 f., Bd. i, S. 66. , ! S. dazu: Raimar St. Zons, Georg Büchner. Dialektik der Grenze, Bonn 1976, S. 246-275 (III. Verräumlichung der Zeit)-, dort auch die Nachweise. •> HKA, Bd. 1, S. 45410

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Raimar Zons ( . . . ) Seit alten Zeiten Gibts zwischen unsem beiden Grafenhäusern, Von Rossitz und von Warwand einen Erbvertrag, Kraft dessen nach dem gänzlichen Aussterben Des einen Stammes, der gänzliche Besitztum Desselben an den andern fallen sollte. (69)

Als Testament gehört der Vertrag »alten Zeiten« und also der dramatischen Vorzeit an. Als solcher wird er von den Vertretern der Familie nie eigens geschlossen oder bestätigt. Signifikant fehlt dem Trauerspiel eine erste und oberste Rechtsinstanz, die die Rechtssicherheit des Vertrags garantiert und Gerechtigkeit regelt. Die Rechtsinterpretation und -sprechung ist vielmehr dem »Gefühl« der Mitglieder der beiden Stämme selbst überlassen. Statt eines die Sicherheit der Schroffensteinschen Welt garantierenden transzendentalen Signifikats, eines die Dinge und Verhältnisse ordnenden und die Referentialität der Worte sichernden Gottes oder wenigstens der invisible hand eines deus absconditus des barocken Trauerspiels stellt sich am Schluß eine höchst verletzliche Wahrheit durch das kaum gerichtsfähige Indiz einer Blatternarbe am abgehackten Finger einer kleinen kindlichen Leiche heraus. An der ephemersten Spur eines Ephemeren liest Eustache den Hinweis auf eine Wahrheit ab, die dem Trauerspiel radikal exzentrisch geworden ist: RUPERT EUSTACHE

RUPERT

Peters Finger? E r ists! E r ists! A n dieser Blatternarbe, Der einzigen auf seinem ganzen Leib, Erkenn ich es! E r ist es! Unbegreiflich! ( 1 5 5 )

Statt des Fingerzeigs Gottes, der am Schluß die Signatur der Tragödie bestimmt, löst sich im Trauerspiel »unbegreiflich« aus dem Abfall der Hölle ein unscheinbarstes Zeichen ab, dessen Lektüre die Macht des Familien- und Gesellschaftsvertrags zerlegt. Ein höchst Reales triumphiert über eine symbolische Ordnung, die über alle Sterblichkeit und alle Natur zu triumphieren versprach. Das Indizienparadigma wird in der Dramatik des 19. und 20. Jahrhunderts Karriere machen. Das Vertragsdokument, das den Zweck hatte, der familiären Verbundenheit ein ausdrückliches Zeichen zu setzen, entzieht also den Grafen von Schroffenstein die »natürlichen« Konsequenzen ihrer nahen Verwandtschaft. »Was stets von neuem das Herz leisten sollte«, so Peter Szondi' 4 , »hat der Vertrag auf immer festgelegt.« Die lakonische, voll•4 Peter Szondi, Schriften /, Frankfurt 1978, S. 249.

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kommen richtige und im Kontext der Katastrophenserie des Kleistschen Spiels äußerst witzige Bemerkung enthüllt das ganze Dilemma einer Verrechtlichung und Politisierung der Familie, die sich der deutsche Idealismus vorgenommen hatte. Ausgerechnet als der Ritter Aldöbern als Gesandter Ruperts ihm den totalen Krieg erklären soll und will, erinnert Sylvester an solches Familienideal und damit an die Vorzeit des Dramas: SYLVESTER

D i e Sendung

Empfiehlt dich, Aldöbern; denn deines Herrn Sind deine Freunde. Drum so laß uns schnell Hinhüpfen über den Gebrauch; verzeih Daß ich mich setze, setz dich zu mir, und Erzähle alles, was du weißt, von Rossitz. (81 f.)

Es ist die alte Geselligkeitsnorm der Familie, so gewaltfrei wie liebevoll, umfassend wie aufrichtig mit einander zu kommunizieren, sich zusammen zu »setzen«, die der deutsche Idealismus dem abstrakten und nur formalen Gesellschaftsvertrag französischer Provenienz entgegengesetzt hat 1 '. Indem Kleist die beiden kontemporären Modelle gesellschaftlicher Synthesis miteinander kurzschließt, setzt er eine Katastrophenserie in Gang, die das Schicksal der Familie und der neuen Welt in der Reihenfolge des genannten Algorithmos vollstreckt. Im rechtlichen Kontext wird aus familiärer Liebe bedingungsloser Haß und universeller Verdacht, im Kontext der Verewigung der Familie aus Recht und Satzung Rache und subjektive Setzung. »Doch nichts mehr von Natur«, fordert Rupert in dem von ihm inszenierten Rachegottesdienst, »Ein hold ergötzend Märchen ist's der Kindheit/ Der Menschheit von den Dichtern, ihren Ammen/ Erzählt. Vertrauen, Unschuld, Treue, Liebe,/ Religion, der Götter Furcht sind wie/ Die Tiere, welche reden.« (65) »Und weil doch alles sich gewandelt, Menschen mit Tieren die Natur gewechselt« (66), werden in einer zur zweiten Natur geronnenen »contrainte sociale« aus Mitgliedern der menschlichen Familie Mörder und Bestien. Wir werden diesem Befund in Grabbes Drama gleich wieder begegnen. An die Leerstelle eines Vertrags-, Rechts- und Erkenntnissicherheit garantierenden Gottes tritt 1801 und damit zum ersten Mal in der Deutschen Literatur: Die Masse, die namenlose Stimme des Volkes, jenes »Man sagt«, das allem Gerede und allen Gerüchten unterlegt ist. Der '> S. dazu: Raimar Zons, Randgänge der Poetik, Würzburg 1985, S. 7 - 2 3 (Erinnerungen an die Poetik).

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Auftritt der vox populi als vox dei'6 markiert in einem genau zu präzisierenden Sinne den Beginn des modernen Dramas, das Grabbe und Georg Büchner fortschreiben werden. In einer etwas bizarren Verteidigung des letzteren gegen seine von Vietor betriebene »faschistische Verfälschung« schreibt Georg Lukacs: Die Rolle des Chors, der die individuelle Tragödie der Protagonisten sozial begründet, handlungsmäßig und gesellschaftlich ideell kommentiert, ist in der Entwicklungsperiode des Dramas vor und nach der Revolution außerordentlich gewachsen. Die Volksszenen im >EgmontWallensteins Lager< usw. zeigen deutlich diesen Weg; es besteht eine enge Verbindung zwischen dem, was >obenunten< im Leben des Volkes selbst'7.

Aber der Anschluß, mit dessen Hilfe Lukäcs' Essay Büchner ans klassische Drama zurückbinden will, funktioniert weder in »Dantons Tod« noch in der »Familie Schroffenstein« oder dem »Herzog von Gothland«. Weder im revolutionären Paris, noch in den Lagern der verfeindeten Vettern oder in der schwedischen Steppe wird ein »groß Gedachtes« erst zum Verbrechen. »Masse«, in einem Wort, ist nicht mehr Spiegelfläche irgendwelcher großer Individuen, sondern ein Medium, das das Spiel der Figuren von innen her und noch in deren geheimsten und »kaum geahnten)« Gedanken (Dantons Tod'8) erfüllt und das die Intimität der Monound Dialoge und die verwirrende Öffentlichkeit des »Geredes« entdifferenziert. Ein Medium, das zugleich alle Figuren als höchst berechenbare erweist, während es, um Heideggers Zahlenspiel auszureizen, das »Geviert« ihrer Welt undurchschaubar verrätselt. In der Form des »man sagt« tritt die Bevölkerung der beiden Reiche als differenzloses Handlungssubstrat auf. »Das Man«, so Martin Heidegger1', der sich als dessen erster Denker versteht, »ist überall dabei, doch so, daß es sich auch immer schon fortgeschlichen hat, wo das Dasein auf Entscheidung drängt. Weil das Man jedoch alles Urteilen und Entscheiden vergibt, nimmt es dem jeweiligen Dasein die Verantwortung ab. Das Man kann es sich gleichsam leisten, daß >man< sich ständig auf es beruft. Es kann am leichtesten alles verantworten, weil keiner es ist, der für etwas ''

S. Zons (Anm. 12), S. 5 0 7 - 3 1 3 (Das

Volk).

'7 Georg Lukäcs, Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner. In: Ders., Literaturso^iologie, Neuwied und Spandau 1961, S. 477. Büchner (Anm. 11), Bd. 1, S. 28: » R O B E S P I E R R E aliein. ( . . . ) Gedanken, Wünsche, kaum geahnt, wirr und gestaltlos, die scheu sich vor des Tages Licht verkrochen, empfangen jetzt Form und Gewand und stehlen sich in das stille Haus des Traums ( . . . ) « . ' ' Heidegger (Anm. 2), S. 127. 18

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einzustehen braucht.« Was sich wie ein Kommentar zu Kleists Trauerspiel liest, teilt mit ihm in Wahrheit eine Sicht negativer Vergesellschaftung am Ende einer Entwicklungsphase, die Karl Marx im 1. Band des »Kapitals« als »ursprüngliche Akkumulation« bezeichnet hat, und auf deren konkrete historische Grundlagen wir gleich zu sprechen kommen werden. In der »Familie Schroffenstein« erweist sie sich schon dadurch, daß ihre Oberhäupter nur durch das Gerede des Volks und durch in es verwobene Mittler und Boten miteinander verbunden sind. Darin nicht zuletzt unterscheidet sich das Trauerspiel von »Romeo und Julia«, Shakespeares handlungsverwandtem Drama, in dem die Mitglieder der verfeindeten Adelsfamilien persönlich aufeinandertreffen. Verdrängt aus dem Bewußtsein und den Entscheidungen der Grafen, bleibt deren Untertanen eine undurchschaute und dämonische Macht, die die maligne Erkenntnis- und Handlungsstruktur des gesamten Dramas unterfüttert. »Dem Pöbel, diesem Starmatz - diesem Hohlspiegel des Gerüchtes - diesem Käfer/ Die Kohle vorzuwerfen, die er spielend/ Aufs Dach des Nachbarn trägt« (81), wirft Sylvester seiner Frau Gertrud vor, die ihre Verdächtigungen »heimlich anvertraut, es könnte sein/ Wär möglich daß, hab den Anschein fast.« (79) Was in der geheimen öffentlichen Sprache, urheberlos, Gestalt annimmt, zum Gerede wird, treibt sich bald in aller Rede um und drängt auf Wirklichkeit. Das Gerücht wirkt magisch schnell wie die Botschaften auf globale Simultaneität und auf »Echtzeit« angelegter moderner Medien. Hebt man in Warwand das Messer, so wird der Mord auf Rossitz vermeldet, bevor der Hieb noch traf. Ist sie erst in allen Köpfen, so wird die falsche Meldung zum mörderischen Wirklichkeitseffekt. Da nimmt es auch nicht wunder, daß es stets das Volk ist, das einen Totschlag willen der Akteurs vollstreckt, bisweilen — wie im Fall des Rossitzschen Gesandten - bevor er sich in deren Köpfen auch nur gebildet hat. So nimmt das Gerede, das allen »primären Seinsbezug zum beredeten Seienden verloren hat« (Heidegger) 20 dingliche Gestalt und einen autoritativen Charakter an. Als ein Wanderer mit dem Stammel-, Echo-, Allerwelts- und wirklichem Bla-BlaBla-Namen: »Hans Franz Flans« Rupert die - falsche - Nachricht von der Ermordung seines »natürlichen Sohns« Johann zugetragen hat, erscheint kurze Zeit später ein zweiter, dem ersten »ganz fremd, und der die Nachricht mit den Worten,/ Fast sagt', als hätt er sie von ihm gelernt.« ( 1 1 5 ) Die Verdinglichung des Geredes des Gerüchts ersetzt die »Ordnung der 20

Heidegger (Anm. 2), S. 168.

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Dinge« und prägt den Verhältnissen ihre faktizierende Gewalt auf. Die Welt, die sie errichtet, ist die eines ontologischen Ausnahmezustandes — und es ist, in einem Wort, die moderne Welt. So wie im Medium des Geredes Bezeichnendes und Bezeichnete sich irreversibel voneinander gelöst haben und alle Wirklichkeitseffekte dem Gemurmel öffentlicher Rede selbst abstammen, so schafft in einer radikal demiurgischen und malignen Welt nur eine nominalistische und dezisionistische Politik noch »klare Verhältnisse«, die freilich das Man nur ratifizieren. Namen regeln in der Familie Schroffenstein Freundschaft und Feindschaft. Am rossitzschen Altar definiert Rupert als feindlich alles, was Sylvesters Namen trägt. »Den Namen./ Mein Sohn, den Namen nenn!«, korrigiert er den etwas zerstreuten Ottokar bei der Formulierung seines Racheschwurs, und jener selbst setzt solche Namenspolitik wenig später polemisch gegen den Vertreter des »tertium datur«, den Chef der Schroffensteinschen Seitenlinie Jeronimus, ein: OTTOKAR

Ja, grad heraus, Jerome! Es gab uns Gott das seltne Glück, daß wir Der Feinde Schar leichtfaßlich, unzweideutig, Wie eine runde Zahl erkennen. Warwand, In diesem Worte liegts, wie Gift in einer Büchse; Und weils jetzt drängt, und eben nicht die Zeit, Zu mäkeln, ein zweideutig Körnchen Saft Mit Müh herauszuklauben, nun so machen Wirs kurz, und sagen: du gehörst zu Warwand. (68)

Die Ordnung der Dinge geht über an das Gerede und das Gerücht — und deren Verteilung durch einen göttlichen Nomotheten ersetzt nominalistische Namenspolitik, die Freundschaft und Feindschaft setzt und die verhaßten Feindesnamen noch aus dem Gestammel der dem Wahrheitsritual der Folter Unterworfenen heraushören läßt. Das ist die Kehrseite und das Fleisch eines abstrakt und formal gewordenen Erbschafts Vertrages, dessen Symmetrie eine einfache Rechenoperation entzaubert. In diesem, und genau in diesem Arrangement wird »der Mensch«, dem der deutsche Idealismus den verwaisten Platz Gottes zuweist, zu beider Gegenteil: zum Teufel und zur Bestie. Kleists von der Forschung immer wieder beschworene »Kant-Krise« appliziert den Figuren seines ersten Dramas nicht einfach »grüne Brillen«21, die ihnen die Welt verrätsein, sie formuliert sich 11

S. Kleists Brief an Wiibelmine von Zenge, Berlin den 22. Mär\ rSoi, G A 6, S. 163: »Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün.«.

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vielmehr als komplexes Arrangement und als ontologischer Ausnahmezustand, in dem mit mathematischer Präzision Katastrophe auf Katastrophe folgt, bis in der endgültigen Katastrophe »der Mensch« von der Bildfläche verschwindet und nur Wahnsinnige, Hexen, höchst sterbliche Kreaturen und Püppchen übrig bleiben. Und es ist diese Destruktionskraft seines nuklearen Kritizismus, die sich mit einer schon von den Zeitgenossen bewunderten und einem Erstling kaum zumutbaren Formkraft verbindet, die den exzentrischen Dramatiker Kleist zum ersten der »Modernen« macht. Kleist besucht das postrevolutionäre Paris im Jahr 1801, dem Entstehungsjahr der »Familie Ghonorez/Schroffenstein«. Der Staatsstreich Bonapartes, der als Napoleon die erste Diktatur der Geschichte begründen wird, liegt zwei Jahre zurück, aber seine ordnungspolitische Funktion nach außen wie nach innen, die auch von seinen späteren Todfeinden noch begrüßt wird, ist nirgends ersichtlich. Die Hauptstadt scheint vielmehr halb noch in jener negativen, spätrevolutionären Dialektik aus Hunger, Terror und universellem Verdacht verfangen, die Georg Büchner als »ehernes Gesetz«" auf die Bühne bringen wird, halb präfiguriert sie bereits jene gleichgültige Öffentlichkeit aus Elenden, jenem ersten Menschcnmaterial, das später das Kanonenfutter der grande armée abgeben wird, und Revolutionsgewinnlern, in denen sich der Napoleonische Finanzadel ankündigt, eine Öffentlichkeit aus Marktstehern und Chiffoniers. Kleists Briefe aus Paris sind seltsam stereotyp und ähneln denen anderer Reisender, wie Joseph Görres. Der erste und überwältigende Eindruck : Paris stinkt, die Masse stinkt. »Kot und Staub«, Grabbes Lieblingsvokabeln zur Beschreibung der Gothlandschen Welt, überdecken die »von tausend widerlichen Gerüchen duftenden Straßen«2'. Menschenleben gelten wenig. »Auch ist es etwas ganz Gewöhnliches, einen toten Körper in der Seine oder auf der Straße zu finden. Ein solcher wird dann in einem an dem Pont St. Michel dazu bestimmten Gewölbe geworfen, wo immer ein ganzer Haufen übereinander liegt, damit die Anverwandten, wenn ein Mitglied aus ihrer Mitte fehlt, hinkommen und es finden mögen«24. Das Gewölbe wird uns bei Grabbe wieder begegnen. Die Phänomenologie einer höchst widerwärtigen, tausend Gerüchen und GeGeorg Büchner, Brief an die Braut, Gießen, nach dem 10. März r8}4> H K A 1 (Anm. 1 1 ) , S. 425. »» G A 6, S. 2iof. M G A 6, S. 2o6ff. (A Mademoiselle Wilhelmine de Zenge á Francfort sur fOder, Paris, den //. August iSoi).

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rüchten folgenden, wankelmütigen, windigen und gegeneinander gleichgültigen Masse, ohne jedes noch so imaginäre Zentrum, ohne gemeinsames Interesse und bar jeder Idee aber gibt Heinrich von Kleist einen Gedanken ein, den er einem Brief an seine Braut am 15. August 1801 anvertraut und der dem oft zitierten Büchnerischen vom März 18342' verblüffend ähnlich ist: den Gedanken vom »Absoluten Bösen«, eines Bösen übrigens, das auch die heimliche theologische Spur in »Sein und Zeit« bezeichnet: jene »Verfallenheit« als Grundart des »Seins der Alltäglichkeit«, der wir die Kenntnis des Man verdanken. Was die Aufklärung zu neutralisieren suchte26, kehrt unabänderlich wieder als Massenphänomen und als Medium und kassiert alle »Eigentlichkeit«, in der ein Dasein sich verantworten könnte. In der Wiederkehr des absoluten Bösen in einer Welt haltloser Subjektivität, eines ontologischen Ausnahmezustands, hat Karl Heinz Bohrer27 die Signatur einer Moderne gelesen, die ihren Ursprung dem imaginären Szenario der Großstadt verdankt. Sie bestimmt die negative Theologie des Kleistschen Trauerspiels, das im Ausfall jedweden allegorischen Verweisungszusammenhangs noch einmal und nachdrücklich seinen Gattungsnamen rechtfertigt. Und sie prägt dessen nahe Verwandtschaft zu Grabbes Erstlings-Drama.

Negative T h e o l o g i e Heinrich von Kleist wird nicht anders als dem jungen Grabbe mit gutem Grund ein beinahe leidenschaftlicher Haß auf die Religion nachgesagt 2 ', ein Haß, in dem wir bereits eine abgrundtiefe Enttäuschung über das Scheitern jenes aufklärerisch idealistischen und revolutionären Projekts zu lesen gelernt haben, das den Menschen in seiner unendlichen Perfektibilität auf den verwaisten Platz Gottes setzen wollte. Gerade diesem Fehlschlag aber verdanken sowohl die »Familie Schroffenstein« wie der »Herzog von Gothland« ihre eigentümliche theologische Tiefenstruktur. Schon auf den ersten Blick entsprechen die zahlreichen Stoßseufzer zu '' 16

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S. Anm. 22. S. dazu: Christoph Schulte, radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche, München 1988. Karl Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, Frankfurt 1989, S. i8f. S. dazu etwa: Bernd Fischer, Ironische Metaphysik. Die Br^ählungen Heinrich von Kleists, München 1988.

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Gott oder zu seinem eingeborenen Sohn im Kleistschen Trauerspiel den zahllosen Flüchen, Blasphemien und religiösen Zynismen der Grabbeschen »Tragödie«; und auf den zweiten zeigt sich deren maligne, demiurgische Welt des universellen Verdachts und des Geredes in der Gothlandschen von der Todsünde acedia gezeichneten und von radikaler Verzweiflung beherrschten allenfalls noch gesteigert. Während aber das Trauerspiel - freilich in einer Inversion, die einen erschaudern macht einen Spalt der Erlösung offen hält, feiert in Grabbes »Tragödie« die Hölle ihren in der deutschen Literatur des Jahrhunderts beispiellosen und vollständigen Triumph; nicht, weil sie den Figuren bevorstünde, sondern weil sie ihrer dramatischen Existenz schlichtweg und in ihrer Welt ihr Siegel aufprägt. Kleists Drama beginnt mit den Chorälen der »Mädchen« und »Jünglinge«, die Ruperts Rache-Gottesdienst eröffnen. Die Schwüre der legitimen Mitglieder des Rossitzschen Clans verwandeln die heilige »Hostie«, die ihnen zugrunde gelegt wird, von der leiblichen Präsenz Jesu oder dem Symbol des christlichen Liebesgebots in einen heidnischen Fetisch, die Kirche, wie Johann zu Recht sagen wird, in einen »Götzentempel« (74). Die unter dem alten Testament des Erbvertrags Befangenen erweisen sich also durchaus als Heiden, ja mehr noch: JOHANN

Nur dir, nur dir darf ichs vertraun - Denn hier Auf dieser Burg - mir kommt es vor, ich sei In einem Götzentempel, sei, ein Christ, Umringt von Wilden, die mit gräßlichen Gebärden mich, den Haaresträubenden, Zu ihrem blutgen Fratzenbilde reißen - Du hast ein menschliches Gesicht, zu dir, Wie zu dem Weißen unter Mohren, wende Ich mich - ( . . . ) ( 7 4 f . )

Aber die da unter Wilden und - siehe da! — »Mohren« als »Christen« angesprochen werden und die dabei sind, einen >neuen Bund< einzugehen, sind zumindest dem Dogma nach ebenfalls Heiden. »Johann ist ein uneheliches Kind, Agnes noch >nicht eingesegnet< (77), und Ottokar wurde vor der Hochzeit der Eltern gezeugt 2 '.« Während also die konventionellen Christen höchst unchristlich handeln, bleibt es ihren heidnischen Kindern überlassen, ein höchst unkonventionelles Christentum zu praktizieren: Nicht zufallig begegnen sich die Liebenden an der »Quelle«, aber die »Gegend im Gebirge« (104), der sie zuzählt, ist alles andere als idyllisch. Harms (Anm. 3),MS 77.

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Ottokars jähen Auftritt quittiert die wortwörtlich zu Tode erschrockene Agnes mit einem »Schrei«, lenkt aber schon in der ersten Zwiesprache den Schrecken um ins Erhabene: Das Tremendum meint ihren Gott: AGNES

O T T O KAR AGNES

da sie sich gesammelt hat.

Du bists. Vor mir erschrickst du? Gott sei Dank. (104)

Und wie die Kinder der Familie Schroffenstein keineswegs der Verdachtund Rachepolitik ihrer Eltern entzogen sind, und wie vielmehr ihr Vollzug des christlichen Liebesgebots in der dramen-immanenten Logik der Feindschaft als schiere Unvernunft erscheint, so sind sie - mehr als alles andere - bereit zum Opfer. Agnes trinkt von dem ihr von Ottokar gereichten Wasser der »Quelle«, jenem christlichen Urort aller Wahrheit, im sicheren Glauben, es sei vergiftet. Und erst angesichts des Todes »erkennen« die Kinder einander im biblischen Sinne und geraten sie auf die Spur einer Wahrheit, die zu einer Bauernhütte und Hexenküche führt und damit zu einem Ort finstersten Aberglaubens und Heidentums. Julius Hart hat bemerkt, daß es sich bei den Hüttenbewohnern um »überhaupt wohl keine nur realistisch gemeinten Menschenkinder« handele. »Die alte Ursula, die Totengräberwitwe, soll doch gewiß nichts anderes bedeuten als den Tod, die Todesgöttin. Und Barnabe ist die junge, schöne Lebensgöttin. Das Leben nennt der Dichter eine Tochter des Todes. Der Tod zeugt Leben«' 0 . Eine solche etwas vulgärmythologische Bestimmung verkennt aber Kleists beträchtliche Ironie, die sich im »Zweikampf« voll entfalten wird. Nicht nur stürzt sie die aufklärerische Kunsthierarchie, die dem Wunderbaren (Gott!) die erste Stelle, dem Schönen die zweite und dem Phantastischen eine dritte eigentlich schon außerhalb der Kunst zuweist, vollständig um, der Ort des Phantasmas gewährt auch als einziger in der heillosen Schroffensteinschen Welt Heilung: Ursula wird tatsächlich durch den Hexengebrauch des abgehackten Kinderfingers von ihrem Krebsleiden gesund! Der neue (Liebes)bund, den die Kinder schließen, aber bleibt der vom alten Testament gesatzten Politik und dramatischen Zeit des Trauerspiels ausgeliefert. Den Irrtum ihrer Eltern aufzuklären ist keine Zeit, und der Liebesvereinigung der Kinder in der nächtlichen Höhle, ihrem Geschlechts- und Geschlechtertausch, ist nur die kurze Frist einer »viertel Stunde« eingeräumt, die mit dem Schlachtopfer unter dem

' S. dazu: Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsjeld £wischen Restauration und Revolution 1S1J-1S4S, 3 Bde., Stuttgart 1980. Zu Grabbe: Bd. III, S. 133-190.

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mit Füßen zu treten«: dem »Jungen Deutschland«». Beide Edikte aber deuten jenes Maß an räumlicher, zeitlicher und psychischer Verdrängung an, das das Biedermeier allen anderen Epochen gegenüber auszeichnet. Denn die Restauration, die es poetisch betreibt, ist fragil in jedem Sinne, seine Idylle trügerisch. Alle biedermeierlichen Dichter und Denker stehen mit den Kinderfüßen noch im revolutionären Zeitalter, und die Revolution der Verhältnisse und Mentalitäten hat längst auch jene Familien ergriffen, die Ludwig Richter um den runden Tisch mit einem behütenden Vater und einer madonnenhafter Mutter gruppiert. Die neuen Verkehrsverhältnisse und eine durch die napoleonische Okkupation begünstigte Marktöffentlichkeit haben die alten Ordnungen so gründlich ruiniert und die Menschen ähnlich gegeneinander gleichgültig werden lassen, wie es Kleist in Paris erfuhr. Dem Intimitätsideal einer auf Häuslichkeit und die »gute Stube« setzenden Poesie, dem »Lampen«-schein des Privaten, stehen sehr kraß bereits Öffentlichkeiten gegenüber, die von aller »Freundschaft Banden« (23) gelöst und von keinem Staat mehr zu kontrollieren sind. Man muß also nur das poetische und ideologische Kartenhaus von Familienliebe, Staatsglaube und Menschheitshoffnung zusammenbrechen lassen, um eine ganz andere Reptilien- und Triebnatur in den »Liebesfreuden des Herrn Biedermeier« freizulegen, man muß nur gegen den »guten Geschmack« des schönen (»Lampen«)-Scheins verstoßen, sein ästhetisches Programm ruinieren, seine künstlich aufrecht erhaltenen Grenzen einreißen, den Menschen in die radikale Verzweiflung versetzen, um dem Schrecken und dem Terreur wieder zu begegnen, über den das Zeitalter den Mantel der Restauration gelegt hat. Man muß, in einem Wort, die Tropen und Wendungen, die Figuren und den >hohen Tonhaltlos< geworden, sich zu einem höchst biedermeierlichen »Ubu roi« aufschwingt. An den Anfang einer Epoche also stellt der exzentrische und manchmal noch ein wenig pennälerhafte Bürgerschreck Grabbe deren Psychogramm: Als die »schwarze Bestie« Berdoa mit seinen finnischen Horden, deterritorialisierenden Chaosmächten, aus dem Meer kommend und Blut spuckend seine Klippen überschwemmt, ist das schwedische Territorium "

S. Zons (Anm. 12), S. 1 4 3 - 1 5 2 (Opposition in Deutschland).

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bereits schwankend in jedem Sinn. Nicht nur die Wehr ist äußerst schwach und von den Finnen leicht zu überrennen, auch die »schwedischen Großen« und gar ihr König sind - wie nicht zuletzt die i. Szene des 2. Akts erweist - weit eher in ihren Privatnutzen und ihre Privatpolitik involviert, als an dem schwedischen »summum bonum« interessiert. Insofern nimmt es kaum wunder, welch kinderleichten Zutritt der augenblicklich von seinem Blutsturz »genesene« (18) Berdoa sich in das Haus Theodor von Gothland verschafft, als er - wie es in der biedermeierlichen Metapher par excellence heißt — »hineingeschlichen in das Hen^ der Burg« (26). Die Grenze zwischen Meer und Land, Wildnis und Zivilisation, schwarz und weiß, Macht und »Herz«, Heidentum und Christentum, Barbaren und Europäern, sie ist in einem Maße labil, daß sie sich sehr rasch zur Zone eines inneren Auslands, oder — wie Jean Pauls »Seiina« das »ungeheure Reich des Unbewußten«'4 bezeichnet - zu »diese(m) wahre(m) innere(n) Afrika« erweitert, eine Zone, die die unscharfen Konturen einer nächtlichen, phantastischen und apokalyptischen schwedischen Landschaft als die eines Interrieurs und einer Schädelstätte bestimmt. Als Berdoa eingedrungen ist, ist Gothland bereits - wie Freud sagen wird - nicht mehr »Herr in seinem eigenen Hause« und damit außer sich oder - um noch einmal Jean Paul und dies Mal mit theologischer Präzision zu zitieren: er ist »nicht bei Tröste«". Gerade weil Berdoa nämlich, nicht zuletzt von Gothland, aus der menschlichen Rasse herausgeprügelt und -gepeitscht worden ist und für die Beschreibung seiner »Bestialität« deshalb die gesamte wilde Fauna Afrikas aufgeboten wird, erweist er sich als Effekt einer martialischen Diskursverknappung, die Wilde, Wahnsinnige, Frauen und Kinder gleichermaßen betrifft'6, und kann zugleich zum rhetorischen Experten dieses Diskurses werden, der ja eben als den Menschen die männlichen, europäischen, vernünftigen und moralischen Mitglieder der weißen Rasse definiert. Reduziert auf seinen schwarzen Körper, verfügt er gleichermaßen über den ethnologischen Blick auf die Außenansicht jener Figuren, die das Schillersche Zeitalter die »geistige Natur« des Menschen genannt hat, wie auf die Innenansicht der Wendungen des Begehrens, die seine »tierische« ausmachen. Und wenn die »geistige Natur« oder das Seelensubjekt nicht mehr Herr im eigenen Hause ist, >4 Jean Paul, Werke, hg. v. Norbert Miller, München 1963, Bd. 6, S. 1181. »> Vorschule der Ästhetik, Werke (Anm. 34), S. 401. >' S. dazu: Raimar Zons, Notizen Genealogie des praktischen Diskurses. In: Normen und Geschichte, hg. v. Willi Oelmüller, Paderborn 1979, S. 220-245.

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gewinnt die »tierische« Gewalt über sie und kann sie in einer Weise dekonstruieren, die Manfred Schneider" schön als eine Kombination der Seelenmechanik eines Franz Moor und der ihr komplementären Argumentation eines Pastors Moser gefaßt hat. Gothland von Friedrichs »Brudermord« zu überzeugen, fallt Berdoa so alles andere als schwer. (...) Wer hieß dich, als ich dich zum Brudermord Verführte, meinen Worten glauben? Wußtest du Denn nicht, daß ich dein Todfeind war? Der blödste Tölpel hätte da Verdacht Geschöpft, allein der Herzog Gothland Schöpfte keinen, weil Er keinen schöpfen wollte! (183)

Als Rassen-, Gattungs- und »Menschen«-Feind aber geht er über solche Bestimmung zugleich hinaus und verwandelt »sein Menschenwissen in Kriegspsychologie, indem er, wie der Cheruskerfürst in Kleists »Hermannsschlacht«'8, die Indizien als letzte und einzige Wahrheitsgaranten zu Wahrheitseffekten schlicht umfalscht - mit dem rhetorischen Endziel, die Gothlandsche »Seele« noch über den Tod hinaus zu ruinieren, sie in einem politisch-theologischen Sinne in die »Verzweiflung« als den »wahre(n) Gottesdienst« (83) zu stürzen: BERDOA

(...) Denn auch das Seelenheil will ich zerstören Für ihn sowie für seinen Samen! Amen! Gustav tritt auf (112)

Berdoas Racheprogramm findet sich bereits in der 1. Szene des ersten Aktes: »Sein Weib, sein Kind, sein(en) Vater, seine Brüder, ein(en) jede(n), der ihn liebt« (19) will er durch Gothlands eigene Hand vernichten. In genau umgekehrter Reihenfolge sind das die Posten, mit denen der Neger die öffentliche und private Person des Weißen demontiert. Den »Hyänenwitz« aber zu begreifen, daß der »Strand des Senegal« mitten in dem aufgeklärten Schweden, in dem der »Mensch schon zum Menschen« (32) geworden ist, sich ausbreitet, wird Gothland schon nach einem guten Drittel der dramatischen Zeit möglich sein. Die erste Szene des dritten Akts, an Schreckenskraft allenfalls von jenem Alptraum im »Innere(n) der »7 Manfred Schneider, Destruktion und utopische Gemeinschaft. Zur Thematik und Dramaturgie des Heroischen im Werk Christian Dietrich Grahhes, Frankfurt 1973, S. i6ff. >' Zons/Lindemann (Anm. 10).

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Hütte« (160) übertroffen, in dem sein eigener Vater Gothland »schlachten« will »wie ein Huhn« und ihn im Augenblick um akkurat »sechsundsiebzig Jahre« (171) altern läßt, setzt mit Rolfs Bekenntnis der Intrige und Theodors Anagnoresis dem eigentlichen Plot der Tragödie ein katastrophales Ende. Der aus dem Totenreich der Manfredschen Grabkammer wieder Auferstandene berichtet, bevor er von ihm erneut zum »Teufel« (79) geschickt wird, dem Herzog aus der Hölle: ROLF

Was ich verdiente, litt ich nur! - Als ich Nun lange Zeit, mit dumpfem Starrsinne, Die Finger in dem Munde, auf Dem Deckel eines Sargs gesessen, - als Nun alles grabesstill geworden war — Da blickten Schlangenklöpfe aus Den Löchern des zerbröckelten Gemäuers, Und als sie nichts gewahrt, arbeiteten Sich schwarzgefleckte Nattern an Die Dämmrung des Gewölbs hervor Und glitschten auf die Särge zu, um die Gewohnte Leichenkost Zu fressen; - furchtsam wich ich ihnen aus Auf einmal halten sie in ihrem Lauf — Sie riechen was Lebendiges\ Vor Freude zittern sie mit ihren Schwänzen, Sie wenden sich vom Fleisch der Toten weg Und kriechen auf mich zu! - O Angst der Ängste! Ich flieh, schrei Hülfe! Niemand hörts! sie folgen Mit Blitzesschnelle meinen Fersen, Es mehrt sich hundertfältig ihre Zahl, Aus allen Ritzen kommen sie heraus, Ich tret im Fliehen einer auf den aufGeschwollnen Rücken, daß sie wimmernd zischt — Da zischt das ganze giftige Gezücht, Das ganze Grabgewölbe zischt, als wie Zur Rache! - an der Wand klettr ich empor, Sie mir nach! Jetzt war ich verloren (• • •) (75 f-)

Entsprechend führt Rolfs Entdeckung des absoluten Bösen am Krisenpunkt moderner Dramatik Gothland keinesfalls zur Anerkennung einer >HamartiaElendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Ersprießlichste ist! Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich bald zu sterben4! Bd. 1, S. 29t.

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Grabbe und Tieck Notizen zu einem Mißverhältnis

i. Von Tieck aus gesehen Wer sich, aus der Tieck-Forschung kommend, in der Grabbe-Kritik umsieht, wird nicht ohne Verwunderung registrieren, daß es an einer einläßlichen Untersuchung des Verhältnisses Grabbes zu Ludwig Tieck durchaus fehlt 1 . Diese kann hier nicht nachgeholt werden, die folgende Skizze versucht nur anzudeuten, daß für Studien solcher Thematik eine Veranlassung besteht. Einzuräumen dabei ist freilich sogleich, daß für den Großmeister der romantischen Schule die Beziehung zu Grabbe nicht mehr als episodische Bedeutung gewonnen hat. Das wird etwa deutlich an einem Brief, den Tieck im Februar 1838 an seinen Verleger Heinrich Brockhaus schickt. Tieck macht dort einige Vorschläge hinsichtlich neuer Buchprojekte und erörtert auch die Möglichkeit einer Edition von Briefen zeitgenössischer Schriftsteller an ihn2. Er habe, so schreibt Tieck, »noch Manches von Verstorbenen, namentlich Grabbe, den die konfuse Jugend ja so hoch stellen will« — was wohl heißen soll, daß diese Briefe für einen Verleger attraktiv sein mochten, ihr Empfanger indessen nicht viel mit ihnen anfangen konnte, ja eher Mißbehagen spürte. Tieck hatte im übrigen diese Briefe auch nicht beantwortet, mit Ausnahme jenes ersten Schreibens, welches dem Manuskript des »Gothland« beigefügt war. Als Voraussetzung der Konfiguration Grabbe-Tieck wäre zu beachten, daß Ludwig Tieck zwar noch nicht ganz »der alte Tieck«, sondern ein etwa Fünfzigjähriger war, als Grabbe den Kontakt zu ihm gesucht hatte, daß er aber schon zu diesem Zeitpunkt ein kaum mehr überschaubares 1

Der Name Ludwig Tiecks wird freilich oft genug erwähnt. Doch selbst bei David Horton (Grabbe und sein Verhältnis zur Tradition, Detmold 1980) wird die RomantikErbschaft nicht erörtert. Die sehr anregende Grabbe-Forschung der letzten Jahre ist zur Kenntnis genommen worden. Spezialhinweise schienen jedoch entbehrlich. * Zitiert nach: Uwe Schweikert (Hrsg.): Ludwig Tieck. Dichter über ihre Dichtungen. München 1971, Bd. 9, III, S. 131.

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literarisches und kritisch-gelehrtes Œuvre vorgelegt hatte. Seine Position in der literarischen Öffentlichkeit Deutschlands als des nach Goethe wichtigsten und einflußreichsten Autors war schon unbestreitbar und wurde von ihm durch editorische Aktivitäten, die intensive dramaturgische Arbeit in Dresden, vor allem aber durch die ungemein wirksamen und in der Tat innovativen Gesellschaftsnovellen immer mehr ausgebaut'. Im Vergleich dazu konnte Grabbe in der kurzen Zeit seines Auftretens in der Literatur über einen marginalen Sensationseffekt nicht hinausgelangen. Z u der wenig freundlichen Erinnerung an den toten Grabbe mag beigetragen haben, daß Tieck vermutlich als dessen letzten Text die ihm gewiß empörende Kritik an seiner »Shakespearomanie« zur Kenntnis genommen, vielleicht auch noch wenig Erfreuliches aus Düsseldorf vernommen hatte (vgl. V, 186 und 535). Zu einem authentischen Kommentar Tiecks ist es indessen nicht gekommen, weil die projektierte Briefsammlung nicht realisiert wurde. Darum kennen wir als abschließende Äußerung Tiecks zur Erscheinung Grabbes nur seine durch den Biographen Rudolf Köpke vermittelte Erinnerung an Grabbes Aufenthalt in Dresden. In Köpkes recht umfangreichem Bericht, der 1855 publiziert wurde, lautet der zentrale Abschnitt: E s war im Frühling 1823, als ein Fremder zu ihm (d.i. Tieck) ins Zimmer trat; eine schwächliche Figur, ein bleiches Gesicht, von Sorge und Leidenschaft zerstört. Verlegen und unbehülflich kündigte er mit polternder Stimme an, er sei Grabbe. Kaum konnte es eine größere Selbsttäuschung auf der einen, und Enttäuschung auf der anderen Seite geben. Von allen Talenten, die Grabbe an sich gerühmt hatte, besaß er keines, weder Stimme noch Haltung, noch Wandlungsfähigkeit. Alles beruhte auf einer Einbildung, die sein Unglück vermehrte. Für nichts paßte er weniger, als für ein öffentliches Auftreten auf den Brettern. Der Druck enger Verhältnisse, und das trotzige Gefühl seiner Kraft hatten ihm etwas Störrisches gegeben. Einige Leseproben, auf denen er bestand, fielen ungünstig aus, und bestätigten, daß er für das Theater keinen Beruf habe. Auch ergab sich, daß durch häufigen Genuß geistiger Getränke seine Gesundheit zerrüttet sei4.

Hier wird eine Außenansicht auf Grabbe formuliert, die keineswegs nur Tiecks Wertungen enthält, sondern schon ein verfestigtes Urteilsstereotyp mitteilt. Doch läßt sich hinter Köpkes Text nicht zurückgreifen, und so > Für das hier vorausgesetzte Tieck-Bild sei verwiesen auf: Ernst Ribbat: Ludwig Tieck. Studien zur Konzeption und Praxis romantischer Poesie. Kronberg/Ts. 1977 Roger Pualin: Ludwig Tieck. Stuttgart 1987 (Sammlung Metzler 185). 4 Rudolf Köpke: Ludwig Tieck. Erinnerungen aus dem Leben des Dichters. Leipzig 185 Neudruck Darmstadt 1970, II, S. 24.

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lassen sich hinsichtlich Tiecks Perspektive auf den Nachwuchsdramatiker Grabbe nur wenige Indizien festhalten: Den »Gothland« hat Tieck gelesen und sich ausführlich dazu geäußert, in Dresden vermittelte er eine finanzielle Zuwendung vom Theater und gab Empfehlungen für andere Bühnen mit auf den Weg. Er hat sich offenbar nicht darüber beschwert, daß Grabbe seinen Brief nicht nur als Propagandamittel benutzte, sondern ihn auch mit kommentierenden Anmerkungen versehen hatte. Das Stichwort »konfus« scheint nicht allzu abwegig, wenn ein shakespearisierender Dramatiker an Shakespeares Werken mäkelte - und wenn er darin sogar Nachfolge über seinen Tod hinaus fand. Für Tieck blieb Grabbe ein Randphänomen.

2. Grabbes Briefe Sehr anders nimmt sich die Konfiguration Grabbe-Tieck aus, wenn man folgende Briefpassage liest5. Verehrtester Herr und Meister! Meine süßeste Lust besteht in dem Bewußtseyn, aus meinem Schlupfwinkel heraus mit Ihnen reden zu dürfen; Sie, seit Shakespeare der größte romantische Genius, dessen Werke, je mehr man sie studirt, um so wunderbarer strahlen und deren Ruhm durch die Zeit, die sonst alles vertilgt, nur immer mehr zunehmen kann, Sie verachten mich nicht gänzlich. (V, 95)

Dies wurde vermutlich am 22. September 1823, jedenfalls aus Detmold und nach dem Aufenthalt in Dresden, geschrieben. Ist es nur eine hemmungslose Liebedienerei, die Grabbe so zu Tieck reden läßt, getrieben von dem Wunsch, die Heimatstadt möglichst bald wieder verlassen zu können - oder mischt sich auch ein Stück echter Verehrung, auf literarischem Urteil gegründeten Respekts in solche Anrede? Grabbe fahrt fort: Glauben Sie auch nicht, daß ich das eben Gesagte gegen meine Uberzeugung, als leere Schmeichelei, geredet hätte; es wird Ihnen ganz eins seyn, ob ein miserabler Schlucker wie ich so oder so von Ihnen denkt; nur die Herzlichkeit meines Lobes kann ihm Werth verleihen. Ich mußte es niederschreiben, weil ich neulich durch einen, in meinem Geburtsneste, w o man die Literatur nur v o m Hörensagen kennt, höchst merkwürdigen Zufall, wieder einige Theile von dem Phantasus und mehrere Ihrer Novellen zu lesen bekam; noch nie fiel mir so auf, daß Sie, so sehr auch das liebe Deutschland Sie anerkennt, dennoch eigentlich wohl noch nicht zum Sechstel erkannt sind. (V, 95) '

Grabbes Texte werden mit Band- und Seitenangabe zitiert nach: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe in sechs Bänden. Herausgegeben von Alfred Bergmann. Emsdetten 1960-1973.

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Mit solcher Feststellung übrigens des Ungleichgewichts zwischen der Reputation L u d w i g Tiecks und der genaueren Kenntnis seiner Schriften kehrt Grabbe recht hellsichtig ein zentrales Problem der Wirkungsgeschichte L u d w i g Tiecks - und zwar bis heute — hervor. D e n n daß der Prozeß der Romantisierung der deutschen Literatur, ja Kultur, v o n keinem anderen A u t o r auf so vielfaltige und nachhaltige Weise beeinflußt worden ist - schon um 1795 beginnend, u m 1820 noch keineswegs endend - , dies mag zwar gelegentlich prinzipiell eingeräumt werden, aber eine intensive Z u w e n d u n g zu Tiecks Werken ergibt sich daraus noch nicht. Grabbe selbst hat jedenfalls öffentlich aus seiner Einsicht auch keine weiteren Folgerungen gezogen. Trotz solcher Abschweifungen ins literaturkritische Räsonnement ist nicht zu verkennen, was Anlaß und Ziel dieses Briefes wie seiner aus Berlin und Leipzig an Tieck gerichteten Vorgänger war: die Reverenz v o r Tieck, die Sucht, einer großen Autorität auf dem Terrain von Literatur und Theater zu gefallen, die Sehnsucht umgekehrt nach liebevoller Z u wendung v o n Seiten des Übervaters, des »Paten«. Wenden wir uns der ersten Phase der Werbung um Tieck zu: Man wird es ein ziemlich dreistes Unterfangen nennen müssen, daß der Berliner Jurastudent ohne weitere Vorbereitung im September 1822 sein ausuferndes Erstlingswerk nach Dresden schickte, u m es v o n Tieck beurteilen zu lassen. D e r Begleitbrief war geradezu unverschämt: der vielbeschäftigte Meister der romantischen Schule wurde aufgefordert, sich binnen drei Wochen zu äußern, in positivem Sinn versteht sich. In seiner Nachschrift reklamierte der unbekannte A u t o r überdies einen Status für sich und sein Werk, der mit »den Produkten der gewöhnlichen heutigen Dichter« in keiner Weise »ähnlich« sei. Er sagt dies »im B e w u ß t s e i n , . . . wenigstens etwas Ausgezeichnetes, wenn auch nichts Gutes geleistet« zu haben (V, 46). Grabbes C o u p glückte, Tieck erwies sich als großzügig und attestierte Grabbe das, was dieser sich gewünscht hatte: . . . daß es (das Drama E. R.) sich durch seine Seltsamkeit, Härte, Bizzarerie und nicht selten große Gedanken, die auch mehr wie einmal kräftig ausgedrückt sind, sehr von dem gewöhnlichen Troß unserer Theaterstücke unterscheidet, darin haben sie vollkommen Recht. Ich bin einige Male auf Stellen geraten, die ich groß nennen möchte, Verse, in denen wahre Dichterkraft hervorleuchtet.

(I. 3)

Tieck bescheinigt dem Verfasser des »Gothland« Originalität. Diese ist so scheint es — das wichtigste Kriterium, u m in der literarischen Öffentlichkeit zu reüssieren, weswegen Grabbe den Brief Tiecks später als einen

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Schutz gegen »nicht begründete Absprecherei«, also gegen die Einzelkritik der Rezensenten, verwenden wird. Gewiß - darauf ist zurückzukommen — hat Grabbe nur die eine, die lobende Hälfte des Tieckschen Urteils hören wollen, von einer Generallizenz für die willkürliche Entfaltung der »Dichterkraft« konnte ja nicht die Rede sein. Wie erklärt sich aber das Lob? Tieck war für Grabbe darum die durchaus geeignete Adresse, weil in dessen Wertskala, vor allem hinsichtlich dramatischer Literatur, das Originalitätspostulat nach wie vor dominant war. Beleg dafür ist nicht nur Tiecks lebenslange »Shakespearomanie«. Tiecks Vorliebe gehörte jedweder Dramentradition un- oder gegenklassischer Prägung: dem elisabethanischen Theater (»Shakespeares Vorschule«), den deutschen Bühnenwerken des 16. und 17. Jahrhunderts, von denen er gerade eine Anthologie zusammengestellt hatte, der commedia dell'arte, den Texten des Sturm und Drang, von Maler Müller, von Lenz dessen Werke er herausgeben wird —, vom jungen Goethe (»Götz« und »Faust«) und auch vom jungen Schiller. Tieck engagierte sich vor allem als Herausgeber, in den zwanziger Jahren auch als Theaterkritiker, für eine Ausweitung des ästhetischen Horizonts, für die Erfahrbarkeit von »Wahrheit« und »Leben« — seine Zentralwerte im szenischen Geschehen und in der Sprache der Bühnenfiguren. Sein Hauptinteresse galt in der Zeit, als Grabbe sich ihm näherte, dem Nachlaß Heinrich von Kleists. Dem Editor der »Penthesilea« und der »Hermannsschlacht« konnte die Lektüre von Grabbes Horrordrama jedenfalls leichter fallen als allen anderen Kritikern und Dramaturgen, ging es doch auch bei jenen Werken darum, sehr viele ästhetische und moralische Bedenken zunächst zurückzustellen, um die poetische Individualität, die neuartige Sprachleistung allererst als substantiellen Beitrag zum Reichtum der Literatur wahrzunehmen. Ohne daß Grabbe dies ahnen mochte, brachte er bzw. sein Erstlingswerk demnach Qualitäten mit, die Tiecks Interesse erwecken konnten, wenn auch nur vorübergehend. Ebenso mußte die Polemik gegen die zeitgenössische Trivialliteratur, welche sich schon im ersten Begleitbrief findet und dann in »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung« breit entfaltet ist, Sympathie hervorrufen bei einem Schriftsteller, der seit dem »Peter Leberecht« oder dem »Gestiefelten Kater«, also seit fast dreißig Jahren, den konventionellen, allein auf Unterhaltung und Moralität abzielenden Literaturbetrieb satirisch attackierte. Zumal in Dresden, wo Tieck sich seit 1819 einzuleben versuchte, schien es erforderlich, gegen die Reduktion der Literatur auf ihre ornamentale Funktion in einer bieder-

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meierlichen Bürgerkultur anzukämpfen. Das offensichtliche Talent des unbekannten Schreibers mochte dabei eine unterstützende Kraft werden können. Einige weitere Bemerkungen noch zur Korrespondenz: Der 16. Dezember 1822 muß für Grabbe ein großer Tag gewesen sein. A n diesem seinen 21. Geburtstag nämlich händigte ihm kein Geringerer als der Rektor der Berliner Universität, der Historiker von Raumer, den großen Antwortbrief L u d w i g Tiecks aus. Seinen Eltern gegenüber erläuterte Grabbe, es sei ihm schon die Tatsache, daß er mit Tieck korrespondiere, »mehr Empfehlung als wenn ich ein Adelsdiplom in der Tasche hätte«. (V, 54) Was Tieck, dem Sohn eines Berliner Seilermeisters, gelungen war die Nobilitierung durch literarische Produktion —, das schien nun dem Kind des Detmolder Gefängnisaufsehers auch erreichbar. D e m Korrespondenzpartner gegenüber zeigte er sich denn auch dankbar ergriffen und schickte ihm alsbald sein zweites Drama, wobei das Begleitschreiben schon auf dessen barocke Stillage einstimmte, wenn es dort heißt, es sei Tiecks Nachsicht dem Autor »fünfzigtausendmal lieber« . . . »als die günstigsten Urtheile sämtlicher deutscher Rezensenten«. (V, 5 3) So dringlich Grabbe erneut um baldige Antwort ersucht hatte, so wenig ließ Tieck sich diesmal dazu verpflichten. Ein Echo blieb aus. Da jedoch Grabbes finanzielle Ressourcen verbraucht waren, der Student auch weder ins Examen gehen mochte noch in eine lippische Amtsstelle, sondern seinen Platz am Theater sah, griff Grabbe in seinen Briefen an Tieck vom 8. und 18. März 1823 aus Leipzig zu den äußersten Mitteln einer Mitleid erheischenden Rhetorik, ehe er dann Ende des Monats in eigener Person auftrat. Anders als bei seiner physischen Präsentation von Tiecks Eindruck war schon die Rede — gelingen dem schreibenden Grabbe, der sich bemühte, »nicht in leidenschaftlicher Bewegung« zu dichten, sondern »während des Schreibens die starrste Kälte« zu bewahren (V, 5 3), eindrucksvolle Formulierungen. In einer Geschichte der Bittsteller-Rhetorik könnten sie einige Beachtung verdienen: Nahe am Untergang blicke ich noch einmal auf der Erde umher, und sehe Keinen als Sie zu dem ich mich wenden könnte; ich flehe um nichts als diesen Brief zu lesen. (V, 63)

Dies ist die Einleitung zu einer Stilisierung, ja Fiktionalisierung der eigenen Lebensgeschichte. Mit gleichem lakonischen Pathos endet das zweite Schreiben: » - Ich stürze für Sie in's Feuer. Ihr gehorsamster C h . D . Grabbe.« (V, 58)

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»Wenn meine Buchstaben schreien könnten, so würden E w r Wohlgeboren mir gewiß vor Mitleid bald antworten;« (V, 65) - das ist der entscheidende Schreibimpuls, aus dieser Perspektive ist zu verstehen, in welche extreme Phantastik sich die in diesen Briefen entfaltete Selbstdarstellung verliert. Mit den für Grabbe auch später kennzeichnenden Rollenspielen verknüpft sich hier eine eindeutige Absicht, und ein Leser von Tiecks literarischer Professionalität wird die Maskeraden leicht decouvriert haben, handle es sich um die Figur des genialen jungen Gelehrten, der in allen Wissenschaften brillierte und gar »Reisender in Diensten der londoner wissenschaftlichen Sozietät« werden wollte (V, 63), oder um die beispiellose Genialität eines Schauspielers, der im tragischen wie komischen Fach gleichermaßen glänzen kann, dem »Hamlet oder Lear«, »Falstaff oder Dupperich« gleich gut gelingen - und dies jeweils »binnen zwei Wochen« Vorbereitung. (V, 67) Diese letztere Traumgenialität wurde 1823 in Dresden wie in Braunschweig besonders gründlich desavouiert - Grabbe wurde zur Rückkehr nach Detmold genötigt. Hilferufe, die er noch im Herbst 1823, also nach dem Vierteljahr in Dresden und nach der Rückkehr zu den Eltern an Tieck richtete, sind literarisch weniger interessant, weil sie auf jene Fiktion verzichten mußten. Die Ernüchterung, die Distanz von einem poetischen Leben in der Theaterwelt wird übrigens gerade dort spürbar, w o Grabbe dem verehrten Erfinder der »Waldeinsamkeit« von seiner eigenen durchaus realen Einsamkeit in den Wäldern um Detmold erzählt: Da ich hier wenig mit Menschen umgehe, so schweife ich desto mehr in der Natur umher; sie ist wild und hübsch und das ganze lippische Land rauscht von Bäumen, Waldbächen und fallenden Blättern; wenn ich aber so auf einem Berge stehe, fällt mir oft der nahende Winter ein und zum ersten mal in meinem Leben fürchte ich ihn, weil ich nicht weiß, ob ich eine warme Stube werde haben können. (V, 96)

Die Beamtenlaufbahn in Detmold war unabwendbar geworden. (Vgl. V, 90 ff.)

3. Romantische Dramaturgie Das Thema »Grabbe und Tieck« umfaßt neben den biographisch-psychologischen auch formgeschichtliche Aspekte. Sie sind die wichtigeren, werden aber hier nur angedeutet werden können.

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Indessen mag die These aufgestellt sein, daß, wo immer die Interpreten Grabbes von einer radikalen Antithetik seiner Dramen gegenüber der deutschen Literaturtradition sprechen, sie sich die Rückfrage gefallen lassen müssen, ob nicht im Werk Tiecks — andere Romantiker noch außer acht gelassen — bereits wesentliche Beispiele einer Dramaturgie vorlagen, an die Grabbe anknüpfen konnte. Im Falle des Lustspiels ist mehrfach darauf hingewiesen worden, daß die in ihm auffallige Durchbrechung der Fiktion, die Verschränkung von Realrolle und Theaterrolle schon für die romantischen Komödien konstitutiv ist. »Der gestiefelte Kater« und »Die verkehrte Welt« waren Grabbe sicherlich bekannt, und nicht nur die Reflexion des Theaters und seiner Faktoren auf dem Theater, sondern darüber hinaus eine Ästhetik der Destruktion wird in ihnen die einleuchtendsten Belege finden können. Ergiebiger noch für die Analyse der Szenenfolge Grabbes wäre eine Durchsicht des »Zerbino«, der — am Leitfaden einer poetischen Jagd - als ein offenes Theaterspiel angelegt ist, mit größerer Selbständigkeit der Szenen und Szenenreihen, mit einer drastischeren Satire sowohl der Literatur als auch der Wissenschaft und der Politik. Die Teufelsfigur und ihre Maskerade entstammen dieser weit ausgreifenden Komödie. Wie steht es mit den anderen Dramen? Wenn Tieck selbst am »Gothland« die mangelnde Motivierung tadelt, die psychologische Glaubwürdigkeit der Figuren vermißt, so scheint auch er mit dem Maßstab Schillers zu messen, nicht mit seinem eigenen. Denn gerade in Tiecks Volksbuchdramatisierungen liegen gewisse Analogien zu Grabbes Erstling vor, in der »Genoveva« und dem »Octavianus«. (Für den »Fortunat« war schon Tiecks modifizierte Auffassung wirksam.) Jedenfalls sind dies zeitlich näherliegende Beispiele einer offenen episierenden Dramaturgie als die Historien Shakespeares und die Szenarien des »Sturm und Drang«. Auch thematisch können Beziehungen erkannt werden: Grabbe hat gewissermaßen vom Süden in den Norden verlagert, was er bei Tieck lesen konnte, hat die Schlachten der Christen gegen die Sarazenen in einem imaginären Skandinavien stattfinden lassen. Der Antagonismus von Gut und Böse, Heilig und Teuflisch prägt die Anthropologie der Volksbücher wie die des »Gothland«. Anders ist das dritte Drama Grabbes zu beurteilen, entstanden zu Beginn des Jahres 1823 wohl als ein Versuch, dem herrschenden Geschmack und Tiecks Korrekturwünschen sich anzupassen. Grabbe kennzeichnet »Nanette und Maria«, ein Text, der von der Grabbe-Forschung gemeinhin mit Mißachtung gestraft wird, als »ein ländlich-heitres

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Trauerspiel« (V, 66). Angedeutet wird mit dieser Formel, daß die Darstellung einer Idylle umschlägt in eine tragische Handlung. Die Annäherung an das trivial-romantische Schicksalsdrama wird weitgehend vollzogen, sieht man auf die Handlung und die Figurenkonstellation. Doch liest sich der Text vielleicht auch als eine parodistische Maskerade, als eine satirische Kontrafaktur zu den Topoi der aktuellen Bühne. Romantisierungsverfahren konnten also in jedem Fall vorbildlich sein: Sowohl die sublime Liebe im Idyll, wie die Kette tödlicher Verwechslungen wie auch die artistische Ironisierung gehören zum romantischen Repertoire. Noch bestimmender ist die Erbschaft Tiecks für ein anderes Drama geworden: »Aschenbrödel«. Wie ein Perrault-Märchen zum Ausgangspunkt eines szenischen Spiels gemacht werden kann, in dem neben der Welt des Wunderbaren auch satirisch gespiegelte Realitätsfragmente Platz haben können, das hatte Tieck vorgemacht - , weniger mit dem »Kater« freilich als mit »Rothkäppchen« und zuletzt dem »Däumchen«. Auch im »Fortunat« sind Märchenmotive für den Handlungsaufbau konstitutiv, während viele Szenenreihen dramatisierte Milieudarstellungen bieten, die zumeist witzig pointiert sind. Hier konnte Grabbe anknüpfen. »Aschenbrödel« ist, vom Autor aus gesehen, ja kein Nebenwerk, es liegt als einziges Stück in zwei Fassungen vor. Dies mag als Indikator dafür gelten, daß auch der etwas ältere Grabbe seine Position noch nicht in einem definitiv nachromantischen Zeitalter sah - noch nicht in jener Moderne, die für die Immanenz der Geschichte als Politik und militärischer Konflikt den unhintergehbaren Horizont bildet. Vielmehr zeigt Grabbes Praxis ihn auch als einen Fortsetzer dessen, was die Romantik ermöglicht hat: Ihr Themenspektrum und ihre strukturellen Angebote prägen jene Form der »Institution Literatur«, in welcher Grabbe sich zu beheimaten, seine Identität als dramatischer Autor zu finden suchte. Die andere für Grabbe kennzeichnende Richtung tritt aber gleichfalls hervor: Schon im März 1823 teilt er Tieck mit, er arbeite jetzt »an einem streng-historischen Stücke: Sulla« (V, 66), dem ersten Geschichtsdrama also, das konzeptionell mit der romantischen Poetik nicht mehr vereinbar ist, unbeeinflußt bleibt von den Erwartungen August Wilhelm Schlegels und sich selbständig entwickelt gegenüber Shakespeares Historien wie gegenüber Schillers und Goethes Geschichtsdramen. Freilich gilt »Sulla« zunächst nur als Entwurf, und ausgearbeitet wird »Don Juan und Faust«, dessen mythologisierend-typologische Konstellation wiederum auf Impulse eines romantischen Universaldramas, wie Tieck es vor allem mit dem »Octavianus« geschaffen hat, eher zurückgeführt werden kann.

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Zu beschließen ist die Hinweisreihe auf die Prägewirkung der Romantik und insbesondere Tiecks mit der Feststellung, daß die beiden Hohenstaufen-Dramen nicht gan2 losgelöst gesehen werden können von der breiten, vielfaltigen Mittelalter-Rezeption, in deren erster Phase der wohl wirkungsmächtigste Text Tiecks »Leben und Tod der Heiligen Genoveva« gewesen ist. Wie die Brüder Grimm durch Tiecks MinnesängerAnthologie zu ihren mediävistischen Studien motiviert wurden, so ist die Geschichtsschreibung eines von Raumer nicht historische Korrektur, sondern stoffliche Füllung jener Mittelaltersicht, wie sie die Frühromantik inauguriert hatte unter dem Motto des Novalis »Es waren schöne glänzende Zeiten« (»Die Christenheit oder Europa«). Allerdings war eben diese Konkretion für Grabbes dramatische Modelle wichtig: präzise Information wird immer mehr zur Grundlage, auch die Übernahme von faktischem Detail. Dennoch mußte im frühen 19. Jahrhundert jeder Versuch, die Taten und die Denkweisen der Hohenstaufen wie ihrer kirchlichen und militärischen Umgebung auf die deutsche Bühne zu bringen, auch als ein Bekenntnis zu jener romantischen Geschichtssicht verstanden werden, welche eine sinnvolle Zukunft für Gesellschaft und Kultur sich nur in dem Maße vorstellen konnte, in dem die Spiritualität der Vormoderne, der ästhetische Reichtum der religiösen Welt revitalisiert, in die bürgerliche Kultur integriert werden könnte. Grabbes später Versuch, in der »Hermannsschlacht« mit vormodernen Lebensmodellen als Orientierungen für eine perspektivlose Gegenwart zu arbeiten, läßt auch das abgebrochene - Experiment mit den Hohenstaufen verständlich scheinen. Die romantische Poetisierung der Geschichte blieb offenbar noch dann eine Alternative, als der eigene Weg des analytisch-gegenideologischen Geschichtsdramas schon beschritten war.

4. Zynismus Nur sehr fragmentarisch läßt sich für einen Autor wie Grabbe, dessen literarische Sozialisation im Epochenhorizont der Romantik sich vollzieht, der aber seinerseits kaum ergiebige poetologische Reflexionen formuliert hat, literarhistorisch rekonstruieren, welche Leitvorstellungen vom Theater und von den dramatischen Gattungen ihm Grundlage oder auch provozierendes Gegenüber der eigenen Produktivität war. In solcher Lage kommt eine Schlüsselfunktion jenem merkwürdigen Text zu, der abschließend betrachtet werden soll: dem schon zitierten

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Brief Tiecks nämlich über den »Gothland« vom 6. Dezember 1822, den Grabbe mit seinem eigenen Kommentar vom Mai 1827 verklammert hat. (I, 3 - 7 ) »Diese Anmerkungen«, so schreibt »der Verfasser«, »sollen keine Widerlegungen, sondern nur Andeutungen eigener Ideen sein, welche den Verfasser bei Ausführung seines Werks leiteten.« Prinzipiell, versichert Grabbe, seien »die Ansichten und die poetische Natur des Verfassers viel zu sehr von der Eigenthümlichkeit Ludwig Tiecks verschieden, als daß er glauben könnte, derselbe habe in Lob und Tadel hier und da sein Werk nicht mißkannt«. Wo aber liegen die Differenzen? Tiecks Reaktion auf die Lektüre des »Gothland« war ambivalent: »Ihr Werk hat mich angezogen, sehr interessiert, abgestoßen, erschreckt und meine große Theilnahme für den Autor gewonnen.« Positiv erschien ihm, wie gesagt, die »Größe« der Gedanken, die »Dichterkraft« der Sprache, die Originalität. Er kritisiert aber, daß der Text »im Entsetzlichen, Grausamen und Zynischen sich gefallt«. E r kennzeichnet Grabbes Verfahren als »unpoetischen Materialismus« und entwickelt diesen Begriff aus einer Argumentation, die zwischen Grabbes Zynismus und der poetischen — philosophisch von Solger aus zu verstehenden - Ironie unterscheidet. Grabbe seinerseits wehrt sich dagegen, daß das Drama insgesamt mit dem Begriff »Zynismus« gekennzeichnet werden könne: Der Cynismus wollte nach der Tendenz des Verfassers sich in diesem Trauerspiele in keiner Art als das Höchste und Letzte geben; er erscheint nur stellenweise als Gegensatz der neumodischen Sentimentalität und verliert sich in der Verwicklung und Auflösung des im Stück viel bedeutenden Wechselverhältnisses Gustavs zu seinem Vater und Berdoas zu beiden, gleich einem Tropfen in der See, der, einzeln betrachtet, weder einen großen noch angenehmen Eindruck macht, aber doch zum Wogenschlag des Ganzen nothwendig gehört.

Man redet aneinander vorbei. Den Stil einer nicht-empfindsamen Tragödie akzeptiert Tieck ja, darum auch den Widerspruch zur »schmachtenden Melancholie«, er bejaht den zynischen Witz als punktuelles Moment. Aber der Romantiker wünscht, daß diese rein negative Position relativiert wird, und er könnte sich mit Grabbes, die Metaphorik der Lebensphilosophie vorwegnehmenden Erklärung gewiß nicht begnügen. Er ruft dem unbekannten Autor zu, was gewiß Tiecks zentrales Bekenntnis gewesen ist: »die Wahrheit unseres Seyns, das Ächte, Göttliche, liegt in einer unsichtbaren Region, die ich sowenig mit meinen Händen aufbauen als zerstören kann.« Dabei geht es primär nicht um eine vage mystische Religiosität, um die Rettung einer metaphysischen Ordnung als Grundlage von

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Sittlichkeit und humaner Kultur - obgleich all dies impliziert ist der Sinn, ja die Möglichkeit der Kunst steht auf dem Spiel. Genau darum kann auch Heinrich Heine, den sonst gewiß nicht viel mit Tieck verbindet, seine bekannte Grabbe-Kritik fast gleichlautend formulieren: Aber all seine Vorzüge sind verdunkelt durch eine Geschmacklosigkeit, einen Zynismus und eine Ausgelassenheit, die das Tollste und Abscheulichste überbieten, das je ein Gehirn zu Tage gefördert6.

In seiner zweiten Anmerkung gibt Grabbe zu verstehen, daß die Differenz zu Tieck in einer entscheidend anderen Auffassung der ästhetischen Mimesis sich begründet. Grabbe führt aus: »Poesie ist (auch nach Shakespeare) der Spiegel der Natur. Man bittet daher, zu bedenken, daß ein Spiegel auch die ärgerlichste Erscheinung wiedergibt, ohne sich zu beflekken.« Und er fügt zur Salvierung hinzu: »Wehe dem Verfasser, wenn er wahre Empfindungen hätte angreifen oder zertrümmern wollen.« Kunst wäre also Spiegel, Erkenntnis der Welt, der ganzen Welt in allen ihren Dimensionen. Man könnte diese Poetik als kritischen Realismus kennzeichnen und auf die gleichzeitige, ebenfalls mit dem Spiegel-Gleichnis operierende Position Stendhals verweisen. Der Ansatz Tiecks ist davon durchaus verschieden. Grabbes provokatives Verfahren der Desillusionierung, seinen Zynismus, versucht der Romantiker durch einen Vergleich zu entkräften. Ist es nicht, als wenn man, um kritisch zu zeigen, wie ein Landschaftsmahler gefehlt hätte, ihm ein Stück des Gemäldes abkratzen und in der Mitte die unnütze Leinwand zeigen, oder gar ein Loch hindurchschlagen wollte? An diesem unpoetischen Materialismus leidet ihr Stück auf eine schmerzliche Weise. Es zerstört sich dadurch selbst, und der Effekt dieser Stellen ist ganz so grell als er auf jenem zum Theil abgekratzten Gemälde seyn würde.

Dies ist - nebenbei bemerkt - ein aufregender Vergleich, von dem aus man die Kunstgeschichte der Moderne aufrollen könnte, die große Auseinandersetzung um die Emanzipation der Materialien Farbe und Leinwand gegen die Normen von Ganzheit und Homogenität. Zerstörung und Restauration von Gemälden ist ja immer wieder Erzählthema gewesen von Tiecks »Franz Sternbalds Wanderungen« bis Botho Strauß' »Der junge Mann«. Tiecks Anliegen hier ist, die Kunst vor einer seiner Ansicht nach verfehlten, weil trostlosen Antithetik zum Leben zu bewahren, statt dessen auch in der Literatur die menschliche Wirklichkeit mit jener 6

Zitiert nach: Grabbes Werke in der zeitgenössischen Kritik. Herausgegeben von Alfred Bergmann. Detmold 1958—1966. Bd. S. 157.

Notizen zu einem Mißverhältnis

Schonung, jener allseitig ironischen, nicht aggressiven Geduld zu behandeln, wie man sie einem Gemälde gegenüber übt. Die »ächte poetische Hoffnungs- und Lebenskraft«, von der Tieck fürchtet, sie sei Grabbe schon früh verlorengegangen, beruht aber auf einem Grundvertrauen: die Zeichensprache der Welt - als Natur und als Geschichte - könne in lebendiger Wechselwirkung mit dem freien Phantasie- und Sprachspiel des Dichters hervortreten und dies trotz aller Anfechtungen der einsamen, entfremdeten Subjektivität, von denen das Werk Tiecks seit seinen Anfangen illusionslos spricht. Die Poetik der Schonung und der Resignation, wie sie Tieck bekennt und wie sie für die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts bis hin zu Raabe und Fontane kennzeichnend bleiben wird, sie allerdings wird von Grabbe befehdet. So ist es kaum weniger als ein kulturrevolutionärer Affront nicht nur gegen die klassisch-romantische Epigonalität, sondern gegen die soziale Institution der schönen Künste und die sich aufs Private zurückziehende Poesie insgesamt, wenn Grabbe dem Vergleich Tiecks mit folgenden Worten entgegentritt: Die Producte der jetzigen sich selbst verhätschelnden und vergötternden Schriftsteller sind keine Gemälde, sondern meistentheils nur bunt und häßlich überfarbter Cynismus; wenn man auf diesen Grundstoff hinzeigt, so kratzt man kein Stück des Gemäldes weg, sondern reinigt bloß die übertünchte Natur von einer elenden Farben-Pfuscherei, So wie hier wird in der Moderne immer wieder polemisch argumentiert werden: Erklärt Grabbe, die eigentlichen Zyniker seien die, die ihm Zynismus vorwerfen, so wird Brecht dem Formalismus-Gegner Lukäcs gegenüber behaupten, gerade er sei Repräsentant eines Formalismus. Für eine angemessene Rezeption Grabbes in der Gegenwart ist es zwar wenig hilfreich, wenn man ihm und sein Werk auf pauschale Weise Modernität attestiert7. Demgemäß wollten die vorstehenden Bemerkungen auch zu einer genetischen Betrachtung auffordern. Indessen ist die Dissonanz der Selbstdarstellung Grabbes wie seiner Schreibverfahren zum romantisch-biedermeierlichen Kunst-Konzert so schrill, die ästhetische und soziale Differenz so scharf, daß man letztlich eher bei Nietzsche als der unzeitigen Stimme des »freien Geistes« eine Affinität zu Grabbes Art erwarten darf als bei Ludwig Tieck, dem noch im Vormärz fechtenden 7

Die Versuchung dazu ist freilich stark, wie vor allem die brillante Rede von Volker Klotz demonstriert hat: Volker Klotz: Vergegenwärtigungen in und von Grabbes Bühnenstükken. In: Werner Broer und Detlev Kopp: Christian Dietrich Grabbe ( 1 8 0 1 - 1 8 3 6 ) . Ein Symposium. Tübingen 1987. S. 2 4 - 4 2 .

n6

Ernst Ribbat

Verteidiger der »Freiheit der Poesie«. Bei Nietzsche aber kann man zum Stichwort des Zynismus lesen: Hat er (der Philosoph) aber Glück, wie es einem Glückskinde der Erkenntnis geziemt, so begegnet er eigentlichen Abkürzern und Erleichterern seiner Aufgabe - ich meine sogenannten Zynikern, also solchen, welche das Tier, die Gemeinheit, die >Regel< an sich einfach anerkennen und dabei noch jenen Grad von Geistigkeit und Kitzel haben, um über sich und ihresgleichen vor Zeugen reden zu müssen - mitunter wälzen sie sich sogar in Büchern wie auf ihrem eigenen Miste. Zynismus ist die einzige Form, in der gemeine Seelen an das streifen, was Redlichkeit ist; und der höhere Mensch hat bei jedem gröberen und feineren Zynismus die Ohren aufzumachen und sich jedesmal Glück zu wünschen, wenn gerade vor ihm der Possenreißer ohne Scham oder der wissenschaftliche Satyr laut werden. Es gibt sogar Fälle, wo zum Ekel sich die Bezauberung mischt: da nämlich, wo an einem solchen indiskreten Bock und Affen, durch eine Laune der Natur, das Genie gebunden ist..

8

Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Herausgegeben von Karl Schlechta. Darmstadt 1963, II, 592f.

Jürgen Hein

Grabbe und das zeitgenössische Volkstheater

Wie

eng

hängt

doch

das

Lustige

mit

dem

Ernsten

z u s a m m e n . ( G A B d V I , S. 1 5 9 ) ( . . . ) seine U r k r a f t wetterte in den alten D r a m e n p l u n d e r , daß der S t a u b nach allen Seiten a u f f l o g ( . . . ) ( E d u a r d Duller, G K B d I V , S . 1 2 8 ) '

Grabbes Abrechnung mit den Shakespeare-Imitatoren und mit dem klassisch-romantischen Theater ist bekannt, nicht zuletzt von daher drängt sich ein Vergleich mit Theaterformen auf, die weniger sanktioniert waren, z. B. mit dem volkstümlichen Theater, das wiederum - wie die Rezeption zeigt — zu Shakespeare hinführt 2 . Ferdinand Raimund und Johann Nestroy wurden in schmeichelhaften Vergleich zu dem großen Briten gebracht, Heinrich Heine prägte für Grabbe die ironische Formel vom »betrunkenen Shakespeare«, und Friedrich Sengle möchte Grabbes Platz zwischen dem elisabethanischen und dem modernen Theater sehen'. So mag es zulässig sein, Grabbe - und den Umgang mit seinem Werk in der theatralischen Praxis — in Beziehung zum Volkstheater seiner Zeit zu sehen und nach Struktur-Affinitäten zu fragen. Einige wenige vorläufige Überlegungen seien angestellt; Hypothesen müßten in Einzelstudien überprüft werden. Vorab sind Bedingungen dramatischer Produktion und

'

1

J

G A : Christian Dietrich Grabbe: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe in sechs Bänden. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Bearb. von Alfred Bergmann. Emsdetten 1 9 6 0 - 1 9 7 3 . G K : Grabbes Werke in der zeitgenössischen Kritik. Im Auftrage der Grabbe-Gesellschaft hrsg. von Alfred Bergmann. Bd 1 - 6 . Detmold 1958—65. Vgl. Jürgen Hein: Shakespeare und die Parodie auf dem Wiener Volkstheater. Manuskript eines Vortrags am 14. März 1988 in Wien (wird für den Druck überarbeitet). Vgl. Heinrich Heine: Werke. B d 7. Hrsg. von Hans Kaufmann. Berlin 1962, S. 194. Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1 8 1 5 - 1 8 4 8 . Bd III. Die Dichter. Stuttgart 1980, S. 137.

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Jürgen Hein

Re2eptionsprobleme im Kontext des zeitgenössischen Volkstheaters zu erkennen4. Volkstheater und Volksstück erscheinen heute unter wenigstens drei Aspekten: als bloß triviale Unterhaltung, als Rezeptionsform der Gattung Komödie oder als sozialkritisches Drama. Diese Engführung ist für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zu überwinden. Von den spezifischen Unterschieden zwischen norddeutschem und süddeutsch-österreichischem Volkstheater einmal abgesehen, haben wir es zwischen 1800 und 1850 mit einem komplexen Erscheinungsbild zu tun, sowohl institutionell (neben dem Hoftheater in verschiedenen Erscheinungsformen, aber z.T. ähnlichem Repertoire) als auch und vor allem im Blick auf die theatralischen Genres und — damit zusammenhängend — nicht zuletzt von der mitbestimmenden Rolle eines spezifischen Publikums her gesehen. Die Genres decken von der mimusbetonten Unterhaltung über satirische Wirklichkeitsauseinandersetzung, realistische und phantastische Formen, parodistisches Spiel und märchenhafte Versöhnungsdramen bis zu Genre- und Charakterbildern sowie vaterländischen Schauspielen und ambitionierten ernsten Stücken sämtliche theatralischen Formen ab, die wiederum unterschiedlichen Konzepten >volkstümlichen< Theaters entsprechen, dem ja unter anderem auch die Funktion des Transports von >Bildung< für das >andere< Publikum zukam. Auf diesem hier nur skizzierten Hintergrund ist zu fragen, ob sich ein Verhältnis Grabbes zum Volkstheater aus seinem Werk herauslesen läßt, ob es zeitgenössische und spätere Stimmen gibt, die in ihren kritischen Horizont die Diskussion um Formen, Stile und Funktionen des Volkstheaters einbeziehen. Vor allem aber darf eine solche Untersuchung nicht in das Fahrwasser der völkischen und nationalsozialistischen Umdeutungen und Verfälschungen geraten, die in Grabbe den »Volksmann und Volksdichter unter lauen Bürgern und geschwätzigen Feuilletonisten« und »die Geburt der Dichtung aus der Volkheit« sahen'. Ähnliche Umdeutungen mußten übrigens auch Raimund und Nestroy erfahren.

4

Die folgende Skizze bezieht sich auf: Jürgen Hein: Formen des Volkstheaters im 19. und 20. Jahrhundert. In: Walter Hinck (Hrsg.): Handbuch des deutschen Dramas. Düsseldorf 1980, S. 489-505 und: Jürgen Hein (Hrsg.): Volksstück. Vom Hanswurstspiel zum sozialen Drama der Gegenwart. München 1989.

1

Vgl. Aufsätze in: Christian Dietrich Grabbe. Was ist mir näher als das Vaterland? Im Auftrage der Grabbe-Gesellschaft hrsg. von Heinz Kindermann. Berlin 1939, vor allem Rainer Schlösser, Heinrich Hollo und Heinz Kindermann. — Z u r ideologischen Verfälschung vgl. Werner Broer/Detlev Kopp (Hrsg.): Grabbe im Dritten Reich. Zum natio-

Grabbe und das zeitgenössische Volkstheater

119

Grabbes Beziehung zum >Volk< ist biographisch wie mentalitätsgeschichtlich präziser zu beschreiben, und bei der Frage nach einem möglichen Verhältnis zum Volkstheater wäre vielleicht an die Büchner-Forschung anzuknüpfen, die Büchners Volkstheater-Affinität zunehmend erkennt, indem dieses Theater aus seiner vermeintlichen Begrenzung auf das lustige Possentheater ohne Ansprüche befreit wird. Vergleichende Volkstheaterforschung ist ein Desiderat. Es geht dabei im Blick auf Grabbe - weniger um Einflüsse oder Wechselbeziehungen als um die Erkenntnis affiner Strukturen, etwa im Sinne Robert Weimanns oder von Rudolf Münz, der mit Recht betont, daß der Begriff des Volkstheaters »in der Entwicklung und reflektierenden Betrachtung unserer (deutschen) Theaterkultur eine verschwindend geringe Rolle spielte im Vergleich etwa zu dem, was der Begriff des >Nationaltheaters< umreißt«6. Zu entdecken wäre die dialektische Spannung zwischen dem an eine Theaterkultur gebundenen Werk, seinen lebendigen Wirkungen und Aktualisierungen sowie zwischen den verschiedenen Theaterkulturen des >niederen< und >hohen< Stils. Auf dem Hintergrund der Formen- und Funktionsvielfalt der Volkstheatertradition könnte vielleicht der Widerspruch zwischen >Realismus< und >Groteske< im Werk Grabbes aufgelöst werden. Um seine Szenenarrangements besser zu verstehen, müßte man bis zu Stranitzky und den »Haupt- und Staatsaktionen« zurückgehen. In der Forschung ist auf Parallelen zwischen Grabbe und dem Volkstheater bisher kaum hingewiesen worden, abgesehen von fragwürdigen ideologischen Vereinnahmungen bei Ernst Wachler oder Ferdinand Josef Schneider, die Vergleiche zu Raimund ziehen7. Michael Vogt erwähnt auf dem Hintergrund des Übergangs von der klassizistischen Dramenform zur Gebrauchsliteratur des Vormärz und der Fragwürdigkeit der Einord-

6

7

nalsozialistischen Grabbe-Kult. Bielefeld 1986; Lothar Ehrlich: Eine »völkische Wiedergeburt«. Z u r faschistischen Grabbe-Rezeption. In: Traditionen und Traditionssuche (Koll. 1). S. 1 4 6 - 1 6 5 . Robert Weimann: Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters. Berlin/DDR 1967; Rudolf Münz: Das »andere« Theater. Studien über ein deutschsprachiges teatro dell'arte der Lessingzeit. Berlin/DDR 1979, S. 7; ders.: Nestroy und die Tradition des Volkstheaters. In: Impulse 1 1 (1988) S. 1 9 2 - 2 5 4 . Wachler, zit. nach Lothar Ehrlich: Christian Dietrich Grabbe. Leben, Werk, Wirkung. Berlin/DDR 1983, S. 1 1 1 ; F . J . Schneider: Christian Dietrich Grabbe. Persönlichkeit und Werk. München 1934, S. 198. — Z u biographischen Parallelen vgl. die Essays: Josef Lewinsky: Raimund und Grabbe. Ein Gedächtnisblatt. In: Das Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes 55 (1886) S. 6 7 4 - 6 7 6 ; Rudolf Retty: Ferdinand Raimund Christian Grabbe. Vergleichende Studie. In: Leipziger Neueste Nachrichten. Nr. 249. 8. Sept. 1 9 1 1 , S. 6f.; Willy Haas: Leider trafen sie sich nie. Der Wiener Satiriker Nestroy und die Intellektmaschine Grabbe. In: Welt am Sonntag. Nr. 49. 9. 12. 1 9 5 1 , S. 9.

120

Jürgen Hein

nung Grabbes in literarische Traditionen auch das Volkstheater8. Martin Greiner, Walter Höllerer und vor allem Friedrich Sengle haben Parallelen zu Raimunds und Nestroys Volkstheater gesehen; Sengle macht den Vorschlag, Grabbe zwischen Mimus und dramatischer Dichtung, genauer zwischen Hoftheater und Volkstheater, zwischen Grillparzer und Nestroy anzusiedeln'. Insbesondere der Hinweis auf das Mimus-Theater, und zwar nicht nur im Bereich des Komischen, auf die Annäherung von Mimus und Drama, verdient Beachtung und schützt davor, Grabbe unhistorisch und zu sehr als Vorläufer des modernen epischen Theaters zu begreifen, wiewohl es auch hier um Struktur-Affinitäten geht. So haben schon früh Wilhelm Emrich und Walter Muschg auf die Modernität Grabbes, auf den Bruch mit Normen, die Betonung des Parodistischen und Theatralischen aufmerksam gemacht, Horst Denkler spricht mit Seitenblick auf Sternheim von »aggressiver Modernität«, Volker Klotz von »rabiater Dramaturgie« und »pränatalem Theater«, Herbert Kaiser erkennt mit Verweis auf Dürrenmatt eine Strukturverwandtschaft mit der Posse und der Dramaturgie des »Einfalls«, Peter Michelsen sieht Grabbes Bedeutung in seiner »Negativität«, in einer radikalen »Enthüllungs- und Desillusionierungstendenz« 10 . Weitere Charakterisierungen sind die »Bilderdramaturgie« (Höllerer), »Kontrastdramaturgie« (Gnüg), »Schlag-um-Schlag-Dramaturgie« (Porrmann), »Vergegenwärtigungen« (Klotz), die Theatralisierung und Distanzierung des Gezeigten, die Mischung der Stile sowie des

8

Michael Vogt: Literaturrezeption und historische Krisenerfahrung. Die Rezeption der Dramen Christian Dietrich Grabbes 1 8 2 7 - 1 9 4 5 . Frankfurt/M., Bern 1983, S. 202.

» Martin Greiner: Zwischen Biedermeier und Bourgeoisie. Ein Kapitel deutscher Literaturgeschichte. Göttingen 1954, S. 181—200; Walter Höllerer: Zwischen Klassik und M o derne. Lachen und Weinen in der Dichtung einer Übergangszeit. Stuttgart 1958, S. 17—57; Sengle, S. I48f., 155f., 156f., 164, i8off., 188 und Sengles Bemerkung, Grabbes Lustspiel sei genialer als manche Meisterwerke des Wiener Volkstheaters. 10

Wilhelm Emrich: Grabbe oder der Bürger als Genie. In: W . E . : Geist und Widergeist. Wahrheit und L ü g e der Literatur. Frankfurt/M. 1965, S. 1 9 9 - 2 0 5 ; Walter Muschg: Grabbe und der Teufel. In: W.M.: Pamphlet und Bekenntnis. Ölten 1968, S. 3 3 9 - 3 4 3 ; Horst Denkler: Restauration und Revolution. Politische Tendenzen im deutschen Drama zwischen Wiener Kongreß und Märzrevolution. München 1973, S. 234; Volker Klotz: Zusichnehmen - Vonsichgeben. Grabbes Komödie vom Stoffwechsel der Belletristik: Scherz Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. In: Bausteine zu einer Poetik der Moderne. Festschrift für Walter Höllerer. München 1987, S. 177; Herbert Kaiser: Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutungslosigkeit — Z u Grabbes Lustspiel. In: Winfried Freund (Hrsg.): Grabbes Gegenentwürfe. Neue Deutungen seiner Dramen. München 1986, S. 31; Peter Michelsen: Die Dramatik Grabbes. In: Hinck (Hrsg.): Handbuch des Dramas (s. Anm. 4), S. 285.

Grabbe und das zeitgenössische Volkstheater

121

Komischen und Tragischen"; alle diese Hinweise lassen sich geradezu dialektisch auf die Modernität Grabbes wie auf seine (unbewußte) Nähe zum vitalen, sinnlichen, normbrechenden und alles ins Spiel bringenden Volkstheater beziehen12. Es drängt sich die Frage auf, ob Grabbe unter vergleichbar günstigen Bedingungen nicht eine Art norddeutscher Raimund oder Nestroy geworden wäre, wie dies etwa Karl von Holtei versucht hat15. Bekannt ist Grabbes Satz an Tieck: »Mein Malheur besteht einzig darin, daß ich in keiner größeren Stadt ( . . . ) geboren bin ( . . . ) « (GA Bd V, S. 92 f.). Die in den größeren Städten gebotenen Möglichkeiten, namentlich durch Tieck und Immermann, denen auch Holtei einiges verdankt, hat er nicht zu nutzen gewußt. Mit Recht spricht Peter Hasubek im größeren Zusammenhang von »versäumten Möglichkeiten«, zu denen man sicherlich auch das Medium Volkstheater zählen muß' 4 . Der Eulenspiegel-Vhcn. und das Kosauszko-Ftagment könnten in diese Richtung weisen 1 '. Vielleicht kann man von verhindertem Volkstheater< sprechen, trotz oder wegen Grabbes gespaltener Beziehung zum >Volk< (als Masse und Pöbel), weil er "

Hiltrud G n ü g : Don Juans theatralische Existenz. Typ und Gattung. München 1974, S. 205; Maria Porrmann: »Was tragisch ist, ist auch lustig, und umgekehrt«. Anmerkungen zum Komischen in Grabbes Tragödien. In: Grabbe J b 1987, S. 15; Volker Klotz: Vergegenwärtigungen in und von Grabbes Bühnenstücken. In: Christian Dietrich Grabbe (1801 — 1836). Ein Symposium. Hrsg. von Werner Broer und Detlev Kopp, Tübingen 1986, S. 24—42. " Vgl. den Hinweis auf sich »auf die ästhetische Volkstheaterstrategie« einstellenden Interpretationsansätze in der D D R , zit. nach einer Rezension von Maria Porrmann in: Grabbe J b 1989, S. 176. Auch sei an Stoffvermittlung und Dramaturgie des Puppenspiels erinnert, dessen Tradition auf das Literaturdrama des 19. Jahrhunderts einwirkt; vgl. exemplarisch: Gerd Eversberg: Doctor Johann Faust. Die dramatische Gestaltung der Faustsage von Marlowes »Doktor Faust« bis zum Puppenspiel. Diss. Köln 1988. '< Vgl. Jürgen Hein: »Lokalstück« und »Liederspiel« um 1830. Karl von Holteis Beitrag zur Entwicklung der volkstümlichen Dramatik. In: Das österreichische Volkstheater im europäischen Zusammenhang 1830-1880. Akten des ( . . . ) Kolloquiums Dezember 1984 (Nancy). Hrsg. von Jean-Marie Valentin. Bern, Frankfurt/M., New York 1988, S. 8 7 - 1 0 6 . 14

Peter Hasubek: Wechselseitige Anziehung und Abstoßung: Grabbe und Immermann. In: Grabbe J b 1988, S. 26. •> Interessant wären Vergleiche zwischen Holteis Don-Juan- und seinem Faust-Drama sowie Der alte Feldherr mit Grabbes Drama und seinem Koscius^Jko, ferner Eulenspiegel bei Grabbe und Nestroy, die Aschenbrödel-Gestaltung mit Stücken des Volkstheaters. In diesem Zusammenhang ist Anregungen von Peter Hasubek (»In dieser Welt ( . . . ) kann ich kaum beßere Verhältnisse mir wünschen...«. Karl Immermanns Stellung im geistigen Leben Düsseldorfs) und Manfred Windfuhr (Karl Immermanns letzte Lustspielpläne) nachzugehen, in: Gerhard Kurz (Hrsg.): Düsseldorf in der deutschen Geistesgeschichte (1750—1850). Düsseldorf 1984, S. 299—320 und 321—331, vor allem im Blick auf Bearbeitungspläne, Repertoire-Fragen und Bedürfnisbefriedigung des Publikums.

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dem zeitgenössischen Theaterbetrieb eher skeptisch und abweisend gegenüberstand, den Eindruck, seine Stücke seien nur schwer aufführbar, selbst unterstützte und in seinem Dichter-Ehrgeiz das adäquate Medium nicht wahrnahm oder es dem allgemeinen Verfall des Theaters zum Unterhaltungsbetrieb preisgegeben sah. Daß man solchen Verfall, einmal nicht vom Bildungstheater aus betrachtet, auch anders sehen kann, zeigt die fruchtbare Wechselwirkung von Literatur, Theater und Publikum im Wiener Volkstheater' 6 . Der sog. Niedergang erweist sich als ein lebendiges, an anderen Normen orientiertes dramatisches Schaffen. Die Kritik an Grabbe zeigt teilweise den Volkstheater-Kritiken ähnliche Akzente (z.B. Vorwurf der Regellosigkeit oder >GemeinheitRealistischenTheaterschlachten< Grabbes zu untersuchen, die - was in der Tradition von der Shakespeare-Rezeption über Schikaneder bis zu Kotzebue und Tieck liegt - einen volksdramatischen Charakter haben22. Die Verbindung von genrerealistischen Alltags-Episoden, Volksszenen, >Theaterschlachten< und hohem Stil sprengt die klassische Dramenform, zeigt ein Neben- und Ineinander von Ernst und Komik. Grabbe experimentiert mit dramaturgischen Möglichkeiten, auf die sich das Theater erst im Laufe der Zeit einstellte. Von daher ist sein gespanntes Verhältnis zur theatralischen Realisierung differenzierter zu sehen. Nach Alfred Bergmann haben lauter Fehlschläge Grabbes Verhältnis zum Theater belastet: als Schauspieler, als Dramaturg, als Kritiker und zunächst als Dichter, der sowohl das Theater wie das Publikum verfehlte,

21

"

Eberhard Seybold: Das Genrebild in der deutschen Literatur. Vom Sturm und Drang bis zum Realismus. Stuttgart 1967, S. 116; Sengle, S. i8of.; Emrich, S. 202; vgl. ebenso die Hinweise auf den >Realismus< Grabbes, z.B. bei Muschg, S. 341 und 343. V g l . Sengle, S. 181; Kopp, S. 98 u. 146; Walter Lohmeyer: Die Massenszenen im älteren deutschen Drama. Diss. Heidelberg 1912, S. 52; Manfred Schneider: Destruktion und utopische Gemeinschaft. Zur Thematik und Dramaturgie des Heroischen im Werk Christian Dietrich Grabbes. Frankfurt/M. 1973, S. 1 8 4 - 1 9 3 u. 270-277; Hannelore Schlaffer: Dramenform und Klassenstruktur. Eine Analyse der dramatis persona »Volk«. Stuttgart 1972, S. 86—90. Vgl. Max Scherrer: Kampf und Krieg im deutschen Drama von Gottsched bis Kleist. Zur Form- und Sachgeschichte der dramatischen Dichtung. Zürich 1919.

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Jürgen Hein

sich der realen Bühne seiner Zeit verfremdete und für eine Bühne schrieb, »die nur in seiner Phantasie existierte«; dem Scheitern der Versuche, »durch tätige Mitarbeit Einfluß auf die Bühne seiner Zeit zu gewinnen«, die theoretischen Ansichten in die Praxis umzusetzen, sei später der Zusammenbruch der bürgerlichen Existenz gefolgt 2 '. Volker Klotz hat demgegenüber betont, Grabbe sei durchaus mit der praktischen Theaterarbeit vertraut gewesen, freilich sei er thematisch und sprachlich, dramaturgisch und szenisch »hemmungslos« vorgegangen; die Stoffwechsel-Metapher illustriert, wie Grabbe Literarisches und Theatralisches >verarbeitet< man darf hinzufügen, in einer dem Volkstheater ganz ähnlichen Weise24. Verfolgen wir einige Spuren des Verhältnisses Grabbes zum zeitgenössischen Theater in seinen Briefen und Schriften. Seine Lektüre scheint sich nicht auf Stücke des Volkstheater-Repertoires gerichtet zu haben, aber es ist anzunehmen, daß er namentlich im Düsseldorfer Theater mehr Stücke gesehen als rezensiert hat2'. Am 5. Februar 1828 schreibt Grabbe an Kettembeil: »Don Juan und Faust wird theatralisch; trägt auch eine Spur der Oper, die ihm aber, wenn ich kein erbärmlicher Philister bin, nur nützen kann« (GA Bd V, S. 220); im März 1828 erhält er eine Einladung zur Teilnahme an Holteis »Jahrbuch deutscher Bühnenspiele«, lehnt gegenüber Kettembeil mit den Worten ab: »Nein, dem Holtei gebe ich nichts; da geht's mir wie dem Napoleon, ich liebe Schlachten, Scharmützel schwächen mich, selbst am Geiste« (GA Bd V, S. 222). Gubitz gegenüber nennt er die Einladung »gewiß angenehm«, erwähnt den Eulenspiegel-V\an, fürchtet aber, sich »durch solche Almanacharbeiten zu zersplittern, oder doch in die leichtfertigste gelderwerbende Manier zu gerathen« (GA Bd V, S. 224). Am 18. April 1829 heißt es an Kettembeil: »Aschenbrödel wird tollkomisch« (GA Bd V, S. 270), im Dezember gibt er zu, daß Aschenbrödel »manches Schlimme« habe (GA Bd V, S. 289), zieht im September 1830 während der Arbeit am Napoleon Vergleiche zwischen Weltgeschichte und

*> Alfred Bergmann: Grabbes dramaturgische Versuche. Detmold 1969, S. 4. Vgl. auch die älteren Arbeiten: Arthur Ploch: Grabbes Stellung in der Deutschen Literatur. Leipzig 190;; Walter Kordt: Christian Dietrich Grabbes Stellung zur Bühne (mit einem Anhang der Aufführungstabellen der Dramen Grabbes). Diss. masch. Köln 1923; Eberhard Moes: Christian Dietrich Grabbes Dramen im Wandel der Urteile von Ludwig Tieck bis zur Gegenwart. Diss. Kiel 1929. Vgl. ferner Fellner und Hasubek. Klotz 1987, S. 1 7 1 . *> Vgl. Alfred Bergmann: Grabbe als Benutzer der Öffentlichen Bibliothek in Detmold. Detmold 1965, Fellner, S. 82-97 und 185. Vgl. femer Anm. 15 und 40.

Grabbe und das zeitgenössische Volkstheater

Theaterwelt: »Die jetzige Bühne verdient's nicht« (GA Bd V, S. 313; vgl. S. 311); die »Volksszenen im Napoleon« nennt er »köstlich« (ebd.). Am 15. Januar 1831 schreibt er an Wolfgang Menzel: »Sie wünschen mich populärer. Mit Recht! - A b e r theatralischer? der Manier des jetzigen Theaters entgegenkommender? - Ich glaube, unser Theater muß dem Poeten mehr entgegenkommen. D a s thut es aber weder durch E r ö f f n u n g pecuniären Gewinnstes, noch durch Darbietung tüchtiger Künstler. Wäre an das Schauspiel das gewendet, was in der letzten Syrupszeit an die Oper verschwendet ist, es ließe sich sogar ein Gothland aufführbar machen. Übrigens ist auch (natürlich nach meiner Einzelmeinung) das Drama nicht an die Bretter gebunden, - der geniale Schauspieler wirkt durch etwas ganz Anderes ( . . . ) als der Dichter, und das rechte Theater des Dichters ist doch - die Phantasie des Lesers« ( G A B d V, S. 3 1 8 ) " .

In diesem Zusammenhang sei aus einem Brief an Theodor von Kobbe (10. Februar 1832) zitiert. Grabbe spricht dort von seinen »flüchtig« geschriebenen Poesien, tadelt zugleich die zeitgenössischen Poeten, die ihr Talent nicht benützten: »Wie ist's mit unseren berühmten Tagsautoren? Haben sie Muth? Haben Sie Lebensfrische? Kennen Sie die Welt? Geldjuden und feige si(nd) sie zum Theil. - Ich kenne einige« (GA Bd V, S. 368)17. Zum Koscius%ko~V\zn meint er zu Kettembeil im Juli 1832: »Bühnengerecht wird das Ding indeß (wenn es nicht Speculanten zustutzen) nicht, desto sicherer aber weltgerecht«. (GA Bd V, S. 377). Aus den zitierten Briefstellen wird einerseits mit Neid gepaarte Verachtung der erfolgreichen Tagesschriftsteller hörbar, zugleich der eigene Dichter-Ehrgeiz und andererseits doch eine gewisse Einsicht, daß für die Bühne erfolgreich nur theatergerecht geschrieben werden kann. Diese Einsicht ist wohl gewachsen, denn am 26. Februar 1836 heißt es an Immermann: »Wenn ich die Stücke recensierte, dachte ich nicht daran, daß das Sie verletzen könnte, da ich hierbei Tiecks Grundsatz voraussetzte, daß die A u f f ü h r u n g mittelmäßiger Productionen gar nicht schadet, wenn nur die Darstellung, welche denn doch die Hauptsache für's Theater ist, gut geräth« ( G A Bd V I , S. J 2 4 f . ) .

Wie genau Grabbe den Theaterbetrieb kannte, zeigt sein Brief vom 28. November 1834 an Immermann, indem er anregt: *'' Zum »Theatralischen«, zur Konkurrenz der dramatischen Genres und zum »Verfall« des Theaters vgl. die Hinweise in Anm. 16 und 40. " Vielleicht meint er Heine und Börne wie im Brief an Kettembeil vom 9. Juli 1852 ( G A Bd V, S. 376).

I z6

Jürgen Hein

»Sie, Uechtriz und ich, sollten wir nicht nach Art der alten Engländer und der neuen Franzosen (Shakespeare und Johnson, Fletcher und Beaumont, Scribe und Consorten) gemeinschaftlich eine Comödie, oder gar Tragödie bilden können, worin jeder seine Partien und Charaktere ausmalte, jedoch unter der Bedingung uns wechselseitig zu critisiren und auszubessern?« (GA Bd V I , S. 102).

Im Zusammenhang der Umarbeitung von Aschenbrödel wiederholt er den Wunsch: »Und lassen Sie uns ein Lustspiel machen, bühnenrecht, geistreich, tollkomisch, den Franzosen zum Trotz. Einer schreibt des Tags das iste Viertel eines Bogens, der andere setzt es auf dem 2t Viertel andren Tags fort, und so ferner, wie ich schon früher andeutete« (GA Bd V I , S. 107).

Und noch einmal klingt es ähnlich im Brief vom 22. Dezember 1834: »Eulenspiegel und Aschenbrödel auch für die Bühne, und den Eulenspiegel wo möglich gemeinschaftlich mit Ihnen« (GA Bd V I , S. 120). Grabbe weiß sehr gut, wie erfolgreiche >Theaterware< gemacht wird. Von seiner Kenntnis auch des Volkstheaters zeugt seine Journal-Lektüre, insbesondere der Theaterzeitung Bäuerles (vgl. z.B. G A Bd V I , S. 270f.). Grabbes Forderung eines nationalen Schauspiels, das auf eigenen Füßen steht, fremde »Nahrung in eignes Blut« verwandelt - so im Shakespeare-Aufsatz (GA Bd IV, S. 53) - deckt sich mit der Argumentation zeitgenössischer Volkstheater-Diskussion. In welcher Weise >Nationales< und >Volkstümliches< korrespondieren, kann man Grabbes Satz entnehmen: »Das Volk ist eine wunderbare Erscheinung; die Individuen, aus denen es doch besteht, sind in der Regel nur mittelmäßig begabt und fassen das ihnen Dargebotene oft sehr flach und einseitig auf, - dennoch pflegt im Volke als Gesammtheit stets die richtige Aussicht, das wahre Gefühl vorzuherrschen« (GA Bd IV, S. 51).

Die Bemerkung, Frankfurt/M. habe ein »bedeutungsloses Theater«, weil dort »mehr ein durchwandelndes als einheimisches Publicum« (GA Bd IV, S. 124) anzutreffen sei, zeigt ebenso wie die Rezensionen Das Theater Düsseldorf, daß Grabbe auch mit den lokalen Theatergegebenheiten vertraut war. Deren Produktionen nennt er »kleinere Blumen« (GA Bd IV, S. 137) im Repertoire, u.a. Holteis Wiener in Berlin, Angelys Fest der Handwerker - »ein zu abgeriebenes, zu oft gegebenes Stück« (S. 179) Angelys Die Reise auf gemeinschaftliche Kosten; letzteres wird wegen seiner »Lebensfrische« und gelungener Lokalisierung gelobt:

Grabbe und das zeitgenössische Volkstheater

127

»Hätte Angely immer solche harmlose, ungezwungene, und getreu aus der Wirklichkeit gegriffene Genre-Bilder ausgearbeitet, so möchte er seinen dramatischen Uebersetzercommilitonen gefahrlicher geworden seyn« (S. 197).

Grabbe selbst, und das unterscheidet ihn von den »Tagesschriftstellern«, beteiligt sich an der regen Übersetzer- und Bearbeitertätigkeit leichter, vornehmlich französischer >Ware< nicht. Als »Zeug« bezeichnet er z.B. Holteis Wiener in Berlin und Berliner in Wien sowie Angelys Sieben Mädchen in Uniform und urteilt: »Die Tagesschriftsteller machen sich zuviel Mühe, um lügenhafte, flache Witze zu erfinden, und sie den niederen Volksklassen in Berlin aufzubürden. Diese sind ganz anders, wie ein Sapphir und Consorten sie schildern; sie lieben, wie Unterzeichneter aus jahrelanger Erfahrung versichert, den Scherz, und wo man dem Scherz secundieren muß, auch den Ernst« (GA Bd IV, S. 227).

Ergänzend heißt es über das Urteil der Galerie in Das Theater dorf:

Düssel-

»Das Urtheil der Gallerie verachte man nicht, obgleich sie nicht gedruckt rezensirt. Sie urtheilt nach Kopf und Brust, beweist es mit ihrem Besuch, und ein Künstler, der nicht auch der Masse gefällt, ist ein Halbwissenschaftler« (S. 142).

Freilich erkennt Grabbe auch die verschiedenen Schichtungen im Publikum und weiß das >Volk< auf der Galerie von weniger willkommenen Zuschauem zu unterscheiden; nach einer Aufführung schreibt er am 26. März 1835 an Immermann: »Gestern habe ich gesehen, und nun sind mir auf einmal nach alter Manier die Augen aufgegangen, was für verderbliche, kleinstädtische, bildungs««fahige Bestandteile im Publico sind« (GA Bd VI, S. 188).

Weiter weiß Grabbe um das Problem des Theaters zwischen der notwendigen Befriedigung des »Tagesbedürfniß« und dem Ziel, »aus demselben aber immer zu höheren Gestaltungen aufzustreben« (GA Bd IV, S. 134), und er kennt das »Theaterwesen« auf und hinter der Bühne (vgl. S. 130—132). Es scheint aber, daß er keine Konsequenzen aus seiner Einsicht zu ziehen in der Lage war, daß er es nicht verstand, >mit der Bühne< zu dichten, sei es, daß sein Dichter-Ehrgeiz dies nicht zuließ, sei es, daß er kein Theater fand, das sein Talent - von Immermann nicht gerade mit schmeichelhaften tierischen Vergleichen hervorgehoben28 — in die Bahnen 2

" Immermann am 10. Januar 1828 an seinen Bruder: » ( . . . ) wenn du willst lesen, wie ein Schwein von Talent dichtet« ( G K Bd I, S. 55); 1829 nennt er ihn »talentvoller Pavian« ( G K Bd IV, S. 173).

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lenkte, indem es ihm Grenzen wies, wie sie etwa Raimund und Holtei erfahren mußten. Mit Sengle muß man aber fragen, »ob der Weg Nestroys, d.h. die Beschränkung auf Komödie und Posse, für diesen einsamen Affektmenschen möglich gewesen wäre. Da man fortwährend auf Beispiele einer >unfreiwilligen Komik< stößt, möchte man es fast glauben«2'. In seiner Pauschalität ist der letzte Satz sicher so nicht zu halten. Die Geschichte der Grabbe-Rezeption zeigt die Schwierigkeiten der Rezensenten mit Grabbes spielerischer Mischung von Fiktion und Realitätsbezug im Lustspiel, mit Parodie und Satire, die z.T. als »gemein« bezeichnet werden, oder mit der Originalität von Don Juan und Faust, den man von Mozart und Goethe her beurteilt; man tadelt »niedrigste Gesinnungen« und erkennt nur vereinzelt die bühnenwirksame Verschmelzung zweier volkstümlich gewordener Stoffkreise. Mit der Offenheit und Episodentechnik des Napoleon-Dramas hat die Kritik ebenso Probleme wie mit der AschenbrödeZ-Beaibeitung, wenngleich Grabbes »episch-dramatische Haltung« ( G K Bd IV, S. 138) gesehen wird und seine Art, mit den Stoffen umzugehen: »seine Urkraft wetterte in den alten Dramenplunder« (ebd., S. 128). Ein Kritiker spricht von »Quälodramen« (ebd., S. 40), andere erkennen Komödien-, Puppenspiel- und Marionettenhaftes, wobei Ähnlichkeiten mit zeitgenössischen Volkstheaterkritiken in Begrifflichkeit und Argumentation auffallen. An konkreten Beispielen wäre zu zeigen, wie die Literaturkritik einseitig vom ernsten klassischen und nachklassischen Drama her urteilt, Stücke des Volkstheaters nicht zum Vergleich heranzieht, weil diese durchweg als Produkte >niederen Stils< nicht zum Kanon gehörten, und daher nicht erkennt, daß Grabbe gerade — bewußt oder unbewußt antiklassische oder vorklassische Traditionslinien aufsucht, andere Stilund Wirkungsmittel einsetzt. Immerhin verweisen die negativen Kritiken indirekt auf Grabbes spezifischen Darstellungsstil, der ihn in die Nähe vergleichbarer Stücke des Volkstheaters rückt. Vereinzelt steht folgende Kritik, die Grabbe in dem skizzierten Kontext gerecht wird: »Bei G r a b b e ist alles M a r k , K r a f t , Eichenfestigkeit, wie bei dem großen E n g länder, dessen bester Schüler er ist. Wenn solche Stücke v o m Publikum ignorirt werden, ist das P u b l i k u m müde, matt, mürbe; wenn solche Stücke v o n Theatern nicht aufgenommen werden, ist das Theater schlaff, abgeschäumt und unkräftig! Fragt man nach der Ursache solcher Mattigkeit, so schiebt man sie auf das Publikum; eigentlich ist es aber die scheele und schlechte Kritik ( . . . ) « ( G K B d V, S. i n f.). Sengle, S. 148.

G r a b b e und das zeitgenössische Volkstheater

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Der von Hebbel bestrittene Vergleich mit Shakespeare (vgl. ebd., S. 151) findet sich, wie schon erwähnt, auch im Zusammenhang mit Volkstheater-Produktionen und verweist auf zu wenig beachtete Traditionslinien. Grabbes Schicksal, vom zeitgenössischen Volkstheater als Autor nicht wahrgenommen zu werden und selbst dieses Medium wohl nicht in Betracht ziehend, hängt sowohl mit seinen Ambitionen wie mit dem auf verschiedenen Ebenen funktionierenden Kultur- und Theaterbetrieb seiner Zeit zusammen, wobei - insbesondere im norddeutschen Raum - die verschiedenen Ebenen mehr oder weniger streng voneinander getrennt waren. Das war in Wien anders, und ist daher sicher kein Zufall, daß sowohl Don Juan und Faust als auch Napoleon oder die hundert Tage ihre österreichische Premiere in einem Volkstheater erlebten'0. Das Theater an der Wien stand in Konkurrenz zum Theater in der Josefstadt und zum Theater in der Leopoldstadt, das als das >eigentliche< Volkstheater und >Lachtheater Europas< galt, und bemühte sich um einen eigenen Spielplan, in dem auch ernste Stücke ihren Platz hatten. Immerhin kamen hier Kleists Das Käthchen von Heilbronn und Grillparzers Die Ahnfrau zur Uraufführung, es wurde Shakespeare und Schiller gespielt, freilich alles in Bearbeitung, welche die Auflagen der Theaterzensur zu erfüllen hatte. Das erklärt manche Verstümmelung und Verfälschung. Don Juan und Faust hatte am 27. Januar 1838 in einem Arrangement von Karl Carl unter dem Titel »Don Juan und Faust, oder Der steinerne Gast. Romantisch-melodramatisches Schauspiel in 4 Aufzügen« Premiere. Der Theaterzettel verrät weder Grabbe als Autor noch den Namen des Komponisten Adolf Müller, der auch die Musik zur A^/>o/w«-Bearbeitung von 1868 schrieb. Ob Müller Lortzings Musik kannte, ist nicht bekannt»1. Das Carlsche »Arrangement« wurde bis 30. Januar 1838 viermal gegeben und verschwand dann aus dem Spielplan. Johann Nestroy spielte die Rolle des Leporello; in seinem Rollenbuch finden sich eigenhändige Zusätze zum Text' 2 . Was der wegen seiner Geschäftspraktiken ebenso berüchtigte wie erfolgreiche Theaterdirektor Carl, der zeitweise alle drei V g l . A n t o n Bauer: 1 5 0 Jahre Theater an der Wien. Z ü r i c h , Leipzig, Wien 195 2, S. 345 u. 420. ''

Z u r M u s i k vgl. Irmlind Capelle: A l b e r t Lortzings Schauspielmusik zu C h r . D . Grabbes Tragödie » D o n J u a n und Faust« ( 1 8 2 9 ) . In: G r a b b e J b 1 9 8 3 , S. 2 9 - 5 0 . A u c h hier ließen sich Parallelen zur Schauspielmusik im Volkstheater ziehen, zumal L o r t z i n g in dieser Sparte f ü r Wiener und Berliner Bühnen tätig war.

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E i n e Publikation des Rollenbuchs (Theatersammlung der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien) und der Theaterkritiken ist geplant.

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Wiener Vorstadtbühnen bespielte", aus Grabbes Stück gemacht hat, ob und wie er auf andere im Wiener Volkstheater seit langem bekannte Faust- und Don-Juan-Figurationen zurückgegriffen hat, wird eine noch vorzunehmende Analyse des Theatermanuskriptes zeigen. Erste Hinweise auf Art und Qualität der Bearbeitung, wie das Volkstheater mit Stoffen und Texten des >Literaturtheaters< umging, geben die Wiener Theaterkritiken. Der Kritiker der »Theaterzeitung« bemerkt, das Schauspiel habe »nur wenige dramatische Elemente«, deren Wirkung durch die »Zusammenziehung« noch beeinträchtigt wurde, beifallig seien die »trefflich arrangirten Actschlüsse« aufgenommen worden, Dekoration, Effekte und Ausstattung verdienten Lob. Don Juan sei »feurig und gewandt«, der Ritter aber ein »an die Grenze des Lächerlichen streifendes Zerrbild« gewesen, zu Nestroy heißt es: »Hr. Nestroy schuf als Leporello ein zwar sehr wirksames, jedoch in diesen Rahmen keineswegs passendes Charakterbild«. Die längste Besprechung - mit einer Textprobe aus I, 2 — bringt der »Humorist«, dem aufgefallen ist, daß sich die Akte I und II »treu an Grabbe« halten, während III und IV ungeschickt zu einem Akt verschmolzen seien, der fünfte Akt (in der Bearbeitung: IV) sich aber wieder an Grabbe halte. Der Kritiker spricht Grabbe sowohl »Erfindung« wie »Durchbildung« ab, der »kolossale Stoff« habe ihn überwältigt, sei seiner »ungefesselten und wilden Fantasie« unangemessen. Das Werk sei «überreich an einzelnen Schönheiten«, doch habe Grabbe sein Talent nicht in Schranken zu zwingen gewußt und die »äußere Form so oft und hart« verletzt. Die Darstellung sei »ohne höhere Inspiration, ohne jeden poetischen Schwung« gewesen, als dies bei den gewöhnlichen Ritterkomödien (!) der Fall sei. Die Kritik macht auch vor Nestroy nicht Halt, dem ein »fleißigers Studium« der Rolle empfohlen wird, um ihr eine »größere Bedeutsamkeit abzugewinnen ( . . . ) als seinen gewöhnlichen Knappen und Käsperles in gewöhnlichen Ritterstücken«. Resümierend heißt es: »Grabbe hätte wohl etwas Besseres verdient. — Das Arrangement des Hrn. Direktor Carl war - imposant. - Das Haus war - leer«. Der »Sammler« widmet dem Theaterereignis ganze zwanzig Zeilen und spricht von einer mißlungenen Bearbeitung eines »bizarren, doch gewiß genialen Originals«, um kein Haar besser als eine Geisterkomödie, so daß von der geistigen Bedeutung des Werks nicht übrig geblieben sei. «

Vgl. Hansjörg Schenker: Theaterdirektor Carl und die Staberl-Figur. Eine Studie zum Wiener Volkstheater vor und neben Nestroy. Diss. Zürich 1986.

Grabbe und das zeitgenössische Volkstheater

Die »Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode« nennt die Bearbeitung ein »Salmigundi von abgerissenen Declamationen, Teufelserscheinungen, Todtschlägen, Lazzi's und Flugwerken«, dem sich weder eine poetische noch dramatische Seite abgewinnen lasse. Einzelne Stellen verrieten das Dichtertalent, doch fehle das »abgerundete Resultat (...), die Klarheit und Bedeutung«: »Um Don Juan und Faust bühnengerecht zu machen, wäre ein namhaftes Talent eben so notwendig gewesen, als zur Darstellung eine andere Truppe« als sie das Theater an der Wien für das ernste Schauspiel besitzt. Gelobt werden Gämmerler als Don Juan und Nestroy als Leporello. Sarkastisch schließt die Besprechung: »Die Gallerie bejubelte die Teufeleyen mit Enthusiasmus und der Feuerregen wäre beynahe gerufen worden (...)«. Interessant an den Kritiken ist, daß sie die Grabbe-Bearbeitung von typischen Volkstheater-Produktionen unterscheiden und als ernstes Schauspiel besprechen, d. h. mit anderen Kriterien. In diesem Zusammenhang wäre der Tradition des Don-Juan- und des Faust-Stoffes auf dem Volkstheater zwischen ambitionierter Auseinandersetzung und Parodie nachzugehen, wobei auch Bedeutung und theatralische Verwendung der Teufelsgestalt eine Rolle spielen54. Zur weiteren Rezeption des Stückes im 19. und 20. Jahrhundert sei u.a. auf die Arbeiten von Lothar Ehrlich verwiesen, besonders auf die Parallelen zum epischen Theater und die Auseinandersetzung mit dem Drama der Klassik". >Antiklassische< Inszenierung - im Stile des Volkstheaters oder der Groteske - scheint Grabbe nicht unangemessen zu sein, worauf Brechts Hannibal-Plan hinweist oder Muschgs Ratschlag: »Man sollte einmal versuchen, ihn so zu spielen, wie er es sich in den Orgien seiner Phantasie erträumte. Dann hätte man dann gerade von den Szenen auszugehen, die der realistischen Bühne Hohn sprechen, weil sie den unbewußten surrealistischen Z u g am stärksten zeigen. Grabbes Infantilismus triumphiert vor allem in den militärischen Auftritten und den großen Schlachten, die er unermüdlich inszeniert. ( . . . ) Seine Schlachtengemälde ( . . . ) werden plötzlich aufführbar oder doch verständlich, wenn man sie als Spiele mit Zinnsoldaten auffaßt (.. .)«.>'

>4 Zu denken wäre an Holteis Dr. Johannes Faust und Don Juan oder an Nestroys Rebert der Teuxel, Höllenangst und Der gutmütige Teufel. Zur Parodie vgl. Jürgen Hein (Hrsg.): Parodien des Wiener Volkstheaters. Stuttgart 1986, insbesondere zum Verständnis der theatralischen Parodie, S. 3 9 1 - 3 9 6 . » Vgl. Ehrlich 1983, bes. S. 1 2 3 - 1 2 8 . >® Vgl. Ehrlich 1983, S. 1 2 7 - 1 2 9 ; Muschg, S. 343.

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Was das Inszenieren von »Theaterschlachten« angeht, hat das Volkstheater ebenso eine eigene Tradition gebildet wie überhaupt in der theatralischen, d. h. auch kommentierenden Zitierweise von Stoffen und Figuren". In diesem Kontext kann Don Juan und Faust neu gesehen werden. Ein Kölner Straßenspektakel im Sommer 1988 ging in diese Richtung. Im Zusammenhang einer Ausstellung des Instituts für Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft der Universität Köln zum Thema »Vom Himmel durch die Welt zur Hölle« kam Grabbes Drama in einer Bearbeitung für eine Gerüstbühne vor der Fassade eines Wohnhauses zur Aufführung' 8 . Die Bearbeitung konzentrierte sich auf die wesentlichen Konstellationen, fügte einen Chor - mit Texten aus dem Stück — hinzu und stellte als Prolog zwei Arien aus Mozarts Don Giovanni voran. In einer paternosterähnlichen Konstruktion vor der Hausfassade (Don Juan und Faust paternostierend), wurden Don Juan und Faust abwechselnd in den >Himmel< oder die >Hölle< gezogen, jeweils bezogen auf ihr Verhältnis zu Donna Anna und zu ihrer eigenen >Seelenlageungezähmten< Volkstheaters zeigt sich in Thematik und Stoffwahl, Sprache und Stil sowie in der kritisch-parodistischen bis spielerisch-satirischen Auseinandersetzung mit dem klassisch-romantischen wie mit dem zeitgenössischen Gebrauchs-Theater. In Einzelstudien, wie sie z. T. bereits vorliegen", wäre zu entfalten, wie Grabbe - Autoren des Volkstheaters ähnlich - historische und vaterländische Themen aufgreift, mit Stoffen und Figuren spielt, schließlich unter Betonung des Theatralischen und extensivem Gebrauch der Stilmischung die spezifischen Genres - Lustspiel und Literaturkomödie, Märchen-

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Vgl. Anm. 22. Die Bearbeitung und Einrichtung besorgte Dr. Grete Wehmeyer, der ich für Material und Gespräche zu Dank verpflichtet bin. Kritiken der Aufführung erschienen in der Kölnischen Rundschau ( 1 1 . 7. 1988), im Kölner Stadt-Anzeiger (12. 7. 1988) und im Kölner Universitäts Journal (Ausgabe 2); W D R III berichtete am 9. 7. 1988 in der »Aktuellen Stunde«. >' Vgl. Sengle, S. 139; Beiträge in dem von Freund hrsg. Band »Gegenentwürfe«; Roy C. Cowen: Grabbe und das Schicksalsdrama. In: Grabbe J b 1984, S. 41 — 58; Raimar Stefan Zons: » . . . die ganze Welt schauen Sie hier, wie sie rollt und lebt.« Über Grabbes »Napoleon«. In: Grabbe J b 1985, S. 9 - 2 7 . Dabei geht es einerseits um parodistische j8

Grabbe und das zeitgenössische Volkstheater

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drama, Tragödie, Schicksalsdrama, historisches Schauspiel — so akzentuiert, daß hinter den fiktionalen Spielwelten die unversöhnliche Wirklichkeit erscheint. Nicht zuletzt liegt gerade in der Entpathetisierung und Entmythisierung ein Moment des >Realismus< Grabbes. Gleichzeitig leistet er eine Revitalisierung des Theaters durch genre- und possenhafte Elemente, durch Anknüpfen an die vorklassische Theater-Tradition und das Mimus-Theater, läßt durch das Spiel auf mehreren Ebenen Theater (wieder) zum Weltmodell werden. Grabbe greift durchaus Modethemen der Zeit auf, wie sie auch auf dem Volkstheater bearbeitet werden, z.B. das Macht-Problem, in Napoleon personifiziert, wie in Raimunds Die unheilbringende Krone, die Ich-Hypertrophie des nach Macht strebenden Individuums, wie in Nestroys HebbelTravestie Judith und Holofernes, Geschichte als Komödie, wie in Nestroys Freiheit in Krähwinkel, vaterländische Stoffe, wie bei Bäuerle, Hensler, Holtei, Teufelsthematik, wie bei Nestroy, Identitätskrise des schicksalabhängigen Individuums sowie Kritik und Aufhebung ökonomischer Zwänge im Märchenhaften, wie bei Raimund und Nestroy. Mit der Volkstheater-Dramaturgie teilt Grabbe die auffallige Mischung des Trivialen mit dem Regellosen, den Episodenstil und die Stilmischung auf allen Ebenen, insbesondere von Ernst und Komik, Pathos und Alltagssprache, wie bei Raimund. Theatralisches Spiel mit Verweis auf die Realität jenseits des Stückhorizonts, reflektierte Figuren, die sich selbst kommentieren, erinnern an Nestroys Dramaturgie. Genrewahl und Neuakzentuierung, wenn nicht gar Umfunktionierung - ich denke, hier sind Brechts Begriff und sein Umgang mit dem »Materialwert« durchaus angebracht - machen Grabbes Distanzierung von Stoff, tradierter Form und >angespielter< Realität deutlich. Er bedient sich dabei u.a. auch solcher Mittel, die als volkstheaterspezifisch gelten und daher von der Kritik zumeist negativ kritisiert wurden. Grabbe hat - aus den genannten Gründen — nicht für ein Volkstheater geschrieben, aber doch für ein Theater, das sich in ähnlicher Weise neben oder gegen die etablierte Bühne stellte. So ist er produktions- wie rezeptionsmäßig zwischen die akzeptierten Traditionen gefallen, ähnlich wie Büchner; gegenüber den anderen Nachklassikern Hebbel und Grillparzer fehlte ihm die

Stoffverarbeitung im weitesten Sinn, andererseits um ambitionierten Ernst; in diesem Zusammenhang wäre ein Vergleich von Nestroys ernstem Erstling Prin\ Friedrich (um 1826) mit Grabbe lohnend und aufschlußreich.

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produktive Nähe sowohl zum National- wie zum Volkstheater40. Die Wirkungsmöglichkeiten seines Theaters blieben historisch unerfüllt.

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Vgl. auch Sengles Hinweis (Biedermeierzeit, Bd III, Raimund-Kap., S. 33, Anm.) auf »die ungebrochene soziale Anziehungskraft des durch Goethe und Schiller geadelten >hohen< Dramas«, den »alle drei kleinbürgerlichen Dramatiker Raimund, Grabbe, Hebbel« belegten. Zur Theatersituation vgl. jetzt auch Soichiro Itoda: Theorie und Praxis des literarischen Theaters bei Karl Leberecht Immermann in Düsseldorf 1834—1837. Heidelberg 1990.

H a n s - G e o r g Werner

Komik des Niedrigen Z u Grabbes »Scherz, Satire, Ironie u n d tiefere Bedeutung«

Das Lustspiel »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung« - wie der »Gothland« Produkt einer ungezügelt ausschweifenden Studentenphantasie - stellte sich quer zu der seinerzeitigen Tradition der deutschsprachigen Komödie. Dieser Sachverhalt ist evident; dennoch fällt es schwer, den Punkt zu bestimmen, von dem aus Grabbes Stück der literarischen Tradition und dem auf sie gegründeten literarischen Geschmack opponierte. Daher lag und liegt es nahe zu versuchen, aus den beobachtbaren literarischen Zusammenhängen, in denen das Lustspiel steht, Fäden zu ziehen, die geeignet scheinen, den Text an einen literarhistorischen Ort zu knüpfen. Da Analogien mit der Barockkomödie wenig zur Historisierung des Stückes beitragen können, bleiben dafür nur zwei Bezugspunkte: das Verhältnis zur romantischen Literaturkomödie, das durch textstrukturelle Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit Tiecks Lustspielen zu belegen ist, und die Beziehung zu »Leonce und Lena«, die sich nach häufig geäußerter Meinung über die beiden Stücken gemeinsame totale Ablehnung einer um einen Hof bzw. ein Schloß zentrierten gesellschaftlichen Welt herstellen läßt. Beide Bezugspunkte geben aber wenigstens auf den ersten Blick kaum Orientierungshilfen. Zu stark sind die Divergenzen zwischen der »Verkehrten Welt« Tiecks, Grabbes Lustspiel und Büchners »Leonce und Lena«. Diese Historisierungsschwierigkeiten resultieren nicht zuletzt aus einem historiographischen Defizit. Die Geschichte des deutschsprachigen Lustspiels setzt durch ihre Diskontinuitäten der Strukturierung zu einem historische Zusammenhänge verdeutlichenden Kontinuum erhebliche Widerstände entgegen, und da überdies den geschichtlichen Darstellungen des deutschen Lustspiels zumeist keine Modellierungen der Lustspieltypen zugrunde gelegt sind, hat sich das literaturwissenschaftliche Verstehensinteresse auch nicht auf die ästhetisch-strukturellen Beziehungen zwischen den verschiedenen Spezies dieser literarischen Gattung gerichtet. Das zwingt mich zu einem einleitenden — unproportional umfangreichen,

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dennoch nur thesenhaften - Exkurs. Er soll eine Problemkonstante akzentuieren, die in den wissenschaftlichen Debatten über das deutsche Lustspiel meist am Rande geblieben ist. Dabei hatte sie schon Lessing in den Mittelpunkt der Gattungsdiskussion gerückt, und sie scheint besonders geeignet, die stofflich-strukturellen, ideell-wertenden und intentional-funktionalen Aspekte der Lustspielproblematik aufeinander zu beziehen. Ich frage nach der Art des Lachens, die das Lustspiel provoziert. Wenn auch Tragödie und Komödie keine antipodischen Gattungsgegensätze darstellen, wie das der gemeinsprachliche Umgang mit Wörtern wie >tragisch< und >komisch< nahelegt, gründet sich doch die ästhetische Problematik beider Gattungen auf eine strukturell gleichartige, wenn auch von dem einen zu dem anderen Fall ins ideelle Gegenteil umschlagende Aporie. Sie ist für die Tragödie auf die Formel zu bringen: Wie läßt sich aus der schmerzlichen Anteilnahme am Unglück eines anderen subjektives Vergnügen und allgemein menschliche Erhebung ziehen? Für das Lustspiel wäre analogerweise zu fragen: Wie ist der Distanzierung v o m Mißgeschick anderer — einem Mißgeschick, das ebenfalls vernichtend sein kann - Spaß, gutes Gewissen und eventuell geistige Steigerung abzugewinnen? Nimmt man diese Frage als berechtigt an, müßten die historischen Existenzweisen des Lustspiels in den Arten des Hinwegsetzens über fremdes Mißgeschick, den Formen des Lachens, die es provoziert, ihren schärfsten Ausdruck finden. Der Varianten, mit denen dabei zu rechnen ist, gibt es viele. Sie begründen die Flexibilität der Gattung, ihre vielseitige Verwendbarkeit und nicht zuletzt ihre kommunikative Treffsicherheit unter verschiedenartigsten Bedingungen. Die Varianten lassen sich auch zueinander in Beziehung setzen, wenn der Mechanismus des Belachens bedacht wird. Sein wichtigster Anlaß war - zieht man die literarischen Fälle des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts in Betracht - der überraschende Zusammenfall von Vorstellungskomplexen, die ihrem eigenen Anspruch nach nicht miteinander verträglich, kompatibel sind. Objekt des Belachens ist dabei in erster Linie derjenige Vorstellungskomplex, diejenige Person, Gruppe, Idee, Norm, Maxime etc., die bei dieser Konfrontation den kürzeren zieht. Folge des Lachens ist eine psychische Enthemmung, die in den meisten Fällen mit einer ideell-moralischen Entspannung korrespondiert. Sie wird durch die Erfahrung ausgelöst, daß autoritäre Ansprüche bei einer bestimmten, plötzlichen Art der Konfrontation mit anderen, meist als untergeordnet empfundenen Ansprüchen in sich zusammenbrechen. Was hoch schien, ist plötzlich unten. Der König purzelt über die Stufen seines Thrones. Dieses Lachen umschließt daher

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Wertungen oder zieht sie wenigstens nach sich. Genauer gesagt: Es sind Abwertungen von einmal Geschätztem. Lachen ist also ideell destruierend und kann dadurch die Grundlage neuer Wert- bzw. Weltvorstellungen schaffen. Darin liegt die literarisch-ideelle Problematik der Gattung Lustspiel beschlossen; daraus ergeben sich die verschiedenartigen Ausformungen, die sie seit dem 18. Jahrhundert in der deutschen Literatur erfuhr. Sie lassen sich typologisch ordnen. 1. Die entlastende Kraft destruierenden Lachens setzte sich am wenigsten gehemmt in den Spielen des sogenannten Volkstheaters durch 1 . Für sie war eine Gesamtform vorgegeben, die infolgedessen für die theatralische Aktualisierung des Stücks wenig belangvoll wurde; statt dessen erhielten komische Details bzw. Episoden, die mit möglichster Drastik Anmaßungen in der Umwelt und Angemaßtes in der Innenwelt des Publikums decouvrierten, größtes Gewicht. Derartige Stücke konnten einem ideell leitenden Programm verpflichtet sein. Aber aus dem primär episodischen Charakter ihrer Struktur ergab sich die Tendenz, daß der belustigende Einzelfall, genauer: die Summe der Einzelfalle, per se Bedeutung erlangte. Die literarisch-theatralische Strategie vertraute der Kraft komischer Überraschungseffekte, die allgemein dominierende, insofern auch allgemein brüskierende Wertvorstellungen zerstören und auf diese Weise nichtsozialisierte, primär sinnlich-egoistische Interessen des Publikums bedienen. Der auf Rationalisierung der Konflikte und Ausgleichung der Interessen bedachte Lessing sprach in diesem Zusammenhang von Possenspielen für den Pöbel 2 . 2. Durch Gottsched wurde die deutsche Komödie einem moralischen Zweck untergeordnet. In seiner »Critischen Dichtkunst vor die Deutschen« steht die bekannte Definition: »Die Comödie ist nichts anders, als eine Nachahmung einer lasterhafften Handlung, die durch ihr lächerliches Wesen den Zuschauer belustigen, aber auch zugleich erbauen kan [ . . .]« s Im Lachen über die Lasterhaften, die durch gespreizte Untugend in für sie widrige Situationen geraten und zu Fall kommen, sollte sich das moralisch aufgeklärte Publikum seiner Überlegenheit versichern. Auch dieses Konzept hatte innere Tücken. Das Verlachen fremder Schwächen wurde zu' * '

V g l . Rudolf Münz: Das >andere< Theater. Studien über ein deutschsprachiges teatro dell'arte der Lessingzeit, Berlin 1979. V g l . Abhandlungen von dem weinerlichen oder rührenden Lustspiel. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke. H g . v. Herbert G . Göpfert, Bd. IV, München 1975, S. 56. Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen, Leipzig 1730, S. 549.

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mindest dann sittlich prekär, wenn es sich nicht durch moralischen Nutzen offensichtlich rechtfertigte. Die Destruktion einzelner Negativa des gesellschaftlichen Lebens war dafür kein zureichender Grund. Sofern die Komödie den Anspruch erheben wollte, direkte Impulse für ein tugendhaft-vernünftiges Leben zu geben, dann bedurfte sie - wenigstens im Kontext einer rationalistischen Ideologie - zur Identifikation einladender positiver Kontrastfiguren, die durch ihre moralische Leitbildhaftigkeit das destruierende Lachen ideell kanalisierten. Insofern war die rührende Komödie Gellerts, in der die Tugendhaften die Lasterhaften, damit der Ernst die Komik, aus dem Zentrum des szenischen Geschehens verdrängten, ein durchaus logisches Resultat der Gattungsentwicklung. Eine zweite Tücke der moralisierenden Komödie war, daß sie ihre Effekte auf Vorurteile des Publikums gründete, auf anscheinend moralische und angeblich vernünftige, aber doch auf Vorurteile, die von vornherein klarstellten, was lasterhaft und was sittlich ist. Sie stimulierte infolgedessen die lauthalse — eben lachende — Äußerung eines Superioritätsbewußtseins bzw. -gefühls, das einer geschärften ethischen Reflexion nicht standhalten konnte. Die moralisierende Verlach-Komödie hat daher auch nur dann künstlerische Kraft entbinden klönnen, wenn die Objekte des Verlachens nicht bloß durch moralisch-intellektuelle Inferiorität, sondern zugleich durch soziale Superiorität oder zumindest durch soziale Gefährlichkeit und Macht charakterisiert waren. In diesen Fällen, in denen sich das Publikum nicht leichthin mit moralischer Selbstgerechtigkeit über die Mißgeschicke anderer lustig machen konnte, sondern die Kraft aufbringen mußte, gegen eine bedrängende soziale Gewalt ideell Front zu machen, konnte das Lustspiel energetisch, lebenserregend, sozial eingreifend wirken. 3. Die ernsthafte Komödie - von Lessing theoretisch begründet, mit der »Minna von Barnhelm« musterhaft vorgestellt, wobei dieses Muster nur eine sehr diskontinuierliche Tradition über Grillparzer, Hofmannsthal, Frisch begründete - setzte nicht mehr auf das Lachen über verbesserliche Fehler anderer, appellierte damit auch nicht an die Selbstgerechtigkeit des Publikums, sondern entdeckte in den komischen Zwischenfällen des Lebens die unverbesserlichen Ungereimtheiten des Daseins, lenkte damit das Lachen des Publikums auf Spiegelbilder seiner eigenen Existenz4. Das nahm dem Lachen seinen »lauthalsen« Charakter, vieles von seiner enthemmenden, damit aber auch manches von seiner befreienden < Vgl. Lessing: Werke, a.a.O., Bd. IV, S. 3 5 of.

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Kraft. Aber es unterstellte ihm eine persönlichkeitsbildende Wirkung. Für Lessing lag der Nutzen der ernsthaften Komödie »in dem Lachen selbst«, in der »Übung unserer Fähigkeit das Lächerliche zu bemerken«': Sie fördere die geistige Souveränität des Publikums. 4. Goethe und Schiller favorisierten nach 1795 den Typus einer Komödie, die mit den Gegenständen der Welt frei spielen sollte. Sie lösten damit das Komische von den Ansprüchen der Vernunft. Als sie 1800 ihre »Dramatische Preisaufgabe« formulierten, schrieben sie: » . . . jene geistreiche Heiterkeit und Freiheit des Gemüts, welche in uns hervorzubringen das schöne Ziel der Komödie ist, läßt sich nur durch eine absolute moralische Gleichgültigkeit erreichen...«: »Das Sittliche . . . macht immer ernsthaft«6. Es hat den Anschein, als ob sie die destruierende Kraft des Lachens zugunsten einer Heiterkeit, die das Weltganze mit seinen Widersprüchen und Nichtigkeiten akzeptiert, zurückdrängen wollten. Die Probe auf dieses Exempel haben sie nicht gemacht; sie ließ sich wohl auch nicht bewerkstelligen. Goethe meinte, daß man »das Theatralisch-Komische« »nur in einer großen, mehr oder weniger rohen Menschenmasse gewahr werden kann und daß wir leider ein Kapital dieser Art, womit wir poetisch wuchern könnten, bei uns gar nicht finden«7. Andererseits stellte sich das durch Goethe und Schiller vorausgesetzte Ideal von geistreicher Heiterkeit und Freiheit quer zu den Erfahrungen des Publikums. Seit der Jahrhundertwende mußten sich jedenfalls Komödientheorie und Komödienpraxis in Deutschland neu orientieren, da durch die Ausgestaltung und Verfestigung der bürgerlichen Gesellschaft der Gedanke an die Perfektibilität des Menschen und die Optimierung seiner sozialen Lebensverhältnisse mehr und mehr unglaubwürdig wurde. Lachende Destruktion und heitere Rekonstruktion ließen sich kaum noch miteinander vereinbaren. Entweder wurde der destruierende Faktor absolut dominierend, oder er ordnete sich einer heiter-wohlwollenden Einstellung zur Welt von vornherein unter. Eine Zwischenstellung nahm noch die romantische Literaturkomödie vom Typ der »Verkehrten Welt« ein. Durch permanenten »Wechsel von Scherz und Ernst«8 sollte sie ein Lachen produzieren, das einerseits eine ironisch-negative Einstellung zu einer verkehr> Ebd., S. 365. ' Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe. Hrsg. v. E. von der Hellen, Stuttgart und Berlin (o.J.), 36. Bd., S. 186. 7 Goethe an Schiller, 31. August 1797. 8 Karl Pestalozzi im Nachwort zu Ludwig Tieck »Die verkehrte Welt«, Berlin 1964 (Komedia 7), S. 110.

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ten Welt ausdrückt und andererseits als Katalysator bei der geistigen Synthese einer neuen mythischen Ordnung fungiert. Es war die Triebkraft einer »metaphysischen Revolution«' oder — wie Eichendorff formulierte — »einer Revolution gegen die aufgeblasene Weltprosa«10 —, bei der das Wiederherzustellende nur in der ironischen Reflexion auf das jeweils Gegebene aufscheint, folglich nicht mehr die Richtung der Reflexionsbewegung, sondern nur mehr der Wechsel zwischen den verschiedenen Reflexionsebenen den Grund für eine Sinnvermittlung an das komisch Erscheinende abgeben kann. Die Dimension Zukunft fällt aus der Perspektive des Lachenden. Andere, neu sich herausbildende Komödientypen zeigen noch deutlicher, daß die destruierende Kraft des Lachens immer weniger der Freisetzung von Zukunft dient. Wenn in Kleists Komödien die Differenzen zwischen dem Selbstverständnis der Figuren und den psychischen Abgründen in ihnen den komischen Effekt machen, erstirbt das Lachen nur allzuschnell in angstvollem Schweigen. Auf dem Wiener Volkstheater etablierten sich belustigende Stücke, in denen Tendenzen zur satirischen Abstrafung böser Züge in der Menschenwelt und Tendenzen zur gefühlsseligen Hinnahme einer ihrem Wesen nach unvollkommenen Welt einander derart überkreuzten, daß meist das böse Gelächter in wehmütiges Lächeln überging. Büchners Lustspiel »Leonce und Lena« zeigt den Leerund Kreislauf einer von der sozialen Normalität abgehobenen Daseinssphäre, deren Probleme durch die Intensität ihrer sprachlichen Vergegenwärtigung großenteils ernst genommen, deren Ansprüche durch den dramatischen Zusammenhang ironisiert und deren soziale Funktion durch Einbeziehung außerliterarischer Kontexte bloßgestellt werden. Büchners Spiel läßt ahnen, daß seine belustigende Fiktion einen schrecklichen Untergrund hat. Es stellt in einer Szene das bäuerliche Elend direkt vor Augen; vor allem aber bezieht es die Leichtigkeit, Eleganz und Witzigkeit des Spiels so eng auf die Wirklichkeitsentleertheit einer privilegierten Welt, daß der Zuschauer dem Gedanken an dessen niederdrückendes, unschönes und bitteres Widerspiel im sozialen Hintergrund eigentlich nicht ausweichen kann. Das Lachen gilt einem scheinhaft-oberflächlichen Geschehen, das da, wo es Durchblicke zuläßt, schreckensbleich machen kann. Allen erwähnten Versuchen der Weltbewältigung im Lustspiel ist f Ebd., S. 125. Joseph Freiherr von Eichendorff: Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften. Hrsg. v. Gerhart Baumann, Stuttgart (o. J.), Bd. IV, S. 290.

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aber gemeinsam, daß sie auf die intellektuelle Kraft des Publikums setzen, aus dem destruierenden Lachen über komische Un- und Zwischenfalle eine Form geistiger Souveränität hervorgehen zu lassen. Diese Feststellung gilt für Grabbes Lustspiel »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung«" nur in eingeschränktem Maße. Das macht seine Sonderstellung aus. Sein Titel problematisiert von vornherein - was oft übersehen worden ist - die Art der komischen Darstellung und lädt ein zu fragen, worüber, in welchem Geist Zuschauer oder Leser dieser Komödie lachen sollen. Das hat Sinn; denn die Komik des Stücks ist auf verschiedenen, einander brechenden Ebenen situiert. Der auffälligste komische Motivkomplex umlagert die Figur des Teufels. Ihr Auftreten entzieht dem Spiel von vornherein jeden Anspruch auf außerliterarische Authentizität. Die Komödie zeigt sich offen als fiktionale Konstruktion aus heterogenen Elementen. Zu besichtigen sind nicht schlechthin Objekte der Wirklichkeit, sondern Produkte eines Bewußtseins, das Ausgeburten der Phantasie und Erinnerungen nach subjektiven, zunächst schwer durchschaubaren Regeln durcheinandermengt. Zu belachen gibt es also komische Fälle, die nicht deshalb interessant sind, weil sie sich ereignet haben könnten, sondern deshalb, weil sie als Fälle, die nur vorstellbar sind, etwas Reales bedeuten. Der inszenierte Spaß ist surreal, aber direkt realitätsbezogen. Dem kann eigentlich nur ein Lachen gerecht werden, das Phantasie und intellektuelle Kombinatorik zu Voraussetzungen hat. Grabbes Teufel setzt aber zunächst einen trivialen Fixpunkt, von dem aus die Welt dieser Komödie zu belachen ist. Die Figur erinnert nur noch durch ihre Bezeichnung an eine Figuration von Schreckensvorstellungen. Ihr sind zwar einige übernatürliche, beunruhigende Eigenschaften angedichtet: Sie kann den Finger ins Licht halten, sich mit der rechten Hand den linken Arm abreißen und damit Leute zur Stube hinausprügeln, sich in den brennenden Kamin setzen und glühende Kohlen schlucken. Aber entscheidend für das szenische Profil und damit die theatralische Komik dieses Teufels ist seine weitgehende Entdiabolisierung. Der Witz dieser Figur liegt in der Diskrepanz zwischen der überkommenen Angst vor "

Zitate aus dem Stück entstammen der Ausgabe Alfred Bergmanns Christian Dietrich Grabbe: Werke und Briefe, Historisch-kritische Gesamtausgabe in sechs Bänden, Bd. i , Darmstadt i960; die Nachweise erfolgen durch in den Text eingefügte Nachweise von Akt und Szene. Die wichtigste Sekundärliteratur ist verzeichnet bei Ralf Schnell: Das Lustspiel als Trauerspiel. Zur ironischen Struktur von Grabbes Komödie »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung«. In: Christian Dietrich Grabbe ( 1 8 0 1 - 1 8 3 6 ) . Ein Symposium. Hrsg. von Werner Broer und Detlev Kopp. Tübingen 1987, S. 78.

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dem Teufel als Herrn des Bösen in der Welt und ihrer läppisch-witzigen Erscheinung im Stück. Grabbes Teufel ist eine banale Figur, die allenfalls einige bornierte Naturhistoriker kopflos zu machen imstande ist. Das Reinemachen in der Hölle hat ihn auf die Erde vertrieben. Er ist frech, boshaft, geil - bezeichnenderweise läßt er sich durch Kondome in eine Falle locken - und feige: Um wieder in Freiheit zu kommen, ist er bereit, wie ein Hund Pfötchen zu geben. Diese Entdiabolisierung des Teufels läßt das Weltganze schäbig erscheinen. Denn wenn schon das personifizierte Böse bloß eine miese Menschennatur hat und wenn überdies - wie es im Stück heißt — die Hölle der beste und interessanteste Teil des Weltalls ist, was soll von dem Rest zu erwarten sein? Gott ist dann — wie der Teufel glaubwürdig erklärt - ein »unbärtiger, gelbschnabeliger Engel«, der in der Schule nicht über die Prima hinausgekommen sei, sein Werk bestenfalls ein fades Lustspiel. (II/2) Das Lachen, das diese Konstruktion anstiftet, ist verächtlich. Damit wird die Einstellung des Publikums prädisponiert. Es soll lachend seine Illusionen über die Wichtigkeit, Schönheit und Bedeutungsträchtigkeit der Welt destruieren. Wenn in dieser Welt etwas Kraft habe und ernsthaft bedenkenswert sei - so deutet eine Figur des Lustspiels an, dann ist es das »Schicksal«: Für die »Antifatalisten« bleibe als Gottheit nur die Langeweile (II/4). Die somit vorgenommene ideelle Prädisponierung des Publikums wird durch die Literatursatire des Stücks bekräftigt. Da Grabbes Teufel aufgrund seiner gemeinen Natur einen siebenten Sinn für alles Niedere besitzt, ist er auch geeignet, alle Gemeinheit um sich her aufzuspüren. In einer großen Szene mit dem Dichter Rattengift wird er zum Sprachrohr, durch das Grabbe seine literarischen Vorfahren und Zeitgenossen verlästert. Seine boshafte Satire findet kennzeichnenderweise in Schiller-Figuren ihre passendsten Subjekte. Der Teufel läßt Marquis Posa als rundbäuchigen Kuppelwirt und Wallenstein als strengen Gymnasialdirektor in der Hölle agieren. Nicht was die Figuren in Schillers Dramen Ideelles vermitteln sollen, sondern was sie sozialtypologisch praktisch zu repräsentieren scheinen, war für Grabbe von Belang. Er fragte nicht nach dem, was die Figuren von sich hielten und sagten, sondern nach dem, was ihre soziale Natur ausmachte, und fand dabei immer wieder Ausformungen eines banalen, unwichtigen Menschentyps. Das Lachen, das die literarischen Expektorationen des Teufels hervorrufen sollen, richtete sich damit vor allem gegen - dem Autor unglaubwürdig gewordene - Ansprüche auf Höheres; es ist ein Lachen der Verachtung für ideelle Anmaßungen, aller-

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dings untermischt mit Bitternis, daß die Kraft des Trivialen auch die Produktionen der Kunst und des Geistes durchdringt. Für die Wirkungsstrategie des Grabbeschen Stückes gleichermaßen wichtig ist, wie der Teufel die Lustspielwelt durch seine praktischen Eingriffe in das Figurenensemble bewegt. Er initiiert die Handlung des Stükkes, die meist als »vollkommen belanglos«12 unbeachtet gelassen wird. In der Tat hat, was der Teufel anrichtet, keine »tiefere« oder »höhere« Bedeutung. Als Gast auf das Schloß des Barons von Haldungen eingeladen, entschließt er sich, die Hochzeit der Nichte Haldungens, Liddy, mit einem Herrn von Wernthal zu hintertreiben. Die Anstalten, die er dazu trifft, sind so ungeheuerlich, daß es in der Tat schwerfällt, sie ernst zu nehmen. Er kauft dem Verlobten die Braut ab, schafft einem lüsternen Schlagetot, der hinter Liddy her ist, die Möglichkeit, sie zu entführen - mit der Bedingung allerdings, daß er vorher dreizehn Schneidergesellen umbringe, was bei dem Freiherrn von Mordax nur deshalb einige Bedenken auslöst, weil er um die Sauberkeit seiner neuen Kleidung fürchtet. Schließlich bringt der Teufel den Dichter Rattengift durch eine plumpe Schmeichelei — er bestellt einen Gruß Calderons — dazu, die Baronesse zu dem Ort des Überfalls zu führen. Das alles mutet aberwitzig an, ist aber für Grabbes Lustspiel keinesfalls belanglos. Denn was der Teufel in Gang setzt, ist eine verbrecherische Unternehmung, die auf schrankenlose Brutalität, Geldgier und Eitelkeit baut, sich aber derart leicht anläßt wie das normalste Geschehen in der Welt. Der Zuschauer bzw. Leser muß folgern: Dieses Teufelswerk ist menschengemäß. Und wenn er darüber lacht, wie der Teufel mit Herrn von Wernthal über den Preis für die Braut feilscht, als ob das Ganze ein Kuhhandel wäre 1 ', oder wenn er sich vor Vergnügen auf die Schenkel klatscht, weil in einer pantomimischen Szene der Freiherr von Mordax dreizehn Schneidergesellen totschlägt, dann freut er sich darüber, daß plötzlich und überraschend die Menschenwelt so dargestellt ist, wie sie auf einer ihrer Ebenen auch ist: ohne moralische Hemmung und sittlichen Anspruch. Doch gleichzeitig hat das Ganze etwas Erschreckendes, für den zumindest, der nicht die Statur des Freiherrn von Mordax, sondern die eines Schneidergesellen besitzt. Das Lachen über decouvrierende Zynismen wird sich immer dann gegen den Lachenden kehren, wenn dieser 11

Ralf Schnell, a.a.O., S. 80. Zum Motiv der verkauften Braut vgl. Eckhardt Meyer-Krentler: »Die verkaufte Braut«. Juristische und literarische Wirklichkeitssicht im 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Lessing Yearbook X V I , 1984, vor allem S. 96.

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den auf ihn selbst gerichteten Zynismus praktisch nicht aushalten könnte. Das Lachen, das dann nicht im Halse stecken bleibt, tut weh. Insofern wäre das Stück nicht - wenigstens nicht in toto - nihilistisch. Dafür spricht auch, daß seine Komik an markanten Stellen keine zynisch desillusionierende Wirkung hat. Die bisherige Forschung hat hier manches außer acht gelassen, zum Beispiel die eigenartige Komik des Herrn Mollfels. Er ist ein leidenschaftlicher Liebhaber Liddys, dessen szenisch hervorstechendste Eigenschaft seine abstruse Häßlichkeit ist, die er selbst in grellsten Farben ausmalt. Mollfels bildet eine grob komische Figur, deren Erscheinung brüllendes Gelächter hervorrufen soll, die aber als echter Liebhaber und mutiger Mann auf der Bühne agiert. Da ist weiterhin der Schulmeister, ein Zyniker par excellence, dem alle pädagogischen Hoffnungen wie Seifenblasen davongeflogen sind, so daß er skrupellos seinem Vorteil nachgeht; sozial verkommen, versoffen: ein Mann, der aus seinem Herzen keine Mördergrube macht, der, wenn er im Dreck wühlt, dies ungeniert tut, und wenn er von seinen sexuellen Fehlgriffen erzählt, die Details mit Lust ausbreitet; kurz, in den Augen jedes anständigen Theaterbesuchers aus Grabbes Zeiten ein asozialer Typ, widerlich, über den sich nur lachen läßt, weil seine Handlungen dem Anstand ins Gesicht schlagen und seine Reden allen sozialen Verabredungen Hohn sprechen. Ausgerechnet dieser Schulmeister akzeptiert aber auch moralische Verpflichtungen. Im geheimen Bunde mit Liddy unterstützt er eine alte Frau, die in schlimmer Not lebt. Dieses Motiv scheint in der miesen Welt des Stückes eigentlich fehl am Platze, was die Entschuldigung nahelegt: Es sei der übriggebliebene Restbestand eines sozialen Moralismus. Aber diese Bestimmung würde zu kurz greifen. Denn auf solchen Bestandteilen »älterer« Humanität basieren dramaturgische Stützpfeiler des Spiels. Aus Liebe zu Liddy schlägt der mordshäßliche, ungestalte Mollfels den Freiherrn von Mordax aus dem Felde; und dem versoffenen, geilen, gierigen Schulmeister gelingt es wegen seiner Illusionslosigkeit, den Teufel in eine Falle zu locken, so daß er von seiner Großmutter wieder zurück in die Hölle geholt werden muß. Das Teufelsstück hat also einen guten Schluß. Die Bösen werden bloßgestellt, die anständige, gutherzige Liddy bekommt den sie liebenden Mollfels, und der Vertreter der niederen pädagogischen Intelligenz erweist sich als Sieger über den Teufel. Jeder verständige Leser wird sofort einwenden, dieses positive Ende könne nicht ganz ernst genommen werden. Die Liebesbekundungen des Mollfels seien Tiraden, Liddys Zuneigung zu ihm wenig glaubhaft, da sie eben noch den schoflen Herrn von Wernthal heiraten wollte, und der

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Schulmeister bleibe ein asozialer Typ. Das Happy-End sei bloß Komödienstaffage. Ralf Schnell glaubte den gordischen Knoten der Verwicklungen sogar mit der Feststellung durchschlagen zu können: Das Lustspiel fungiere im Kern »als Trauerspiel«'4. Nun ist aber ein Lustspiel kein Trauerspiel, und es fungiert auch nicht als solches, wenn die in ihm aufgebaute Welt traurig stimmen kann. Es soll lachen machen. Der interpretatorische Weg, das Komische in Grabbes Stück zu umgehen, es ästhetisch und geistig auszuhöhlen, indem der »Diskurs der Ironie« 1 ' als dominierend für den Text und die uneigentliche Formensprache als bestimmend für das Theaterspiel angegeben werden, muß daher in die Irre führen, zumal im Stück selbst dem Feinsinnigen schroff die Nichtachtung erklärt wird: »Heutzutage muß die Komik fein sein, so fein, daß man sie gar nicht mehr sieht; wenn dann die Zuschauer sie dennoch bemerken, so freuen sie sich zwar nicht über das Stück, aber doch über ihren Scharfsinn, welcher da etwas gefunden hat, wo nichts zu finden war. Überhaupt ist der Deutsche viel zu gebildet und zu vernünftig, als daß er eine kecke starke Lustigkeit ertrüge.« (III/1) Wenn überhaupt Bedenkenswertes in diesem Stück zu finden ist, muß es also primär der »starken Lustigkeit« abgewonnen werden. Daraus folgt zwar nicht, daß der Schluß des Stückes als positive Lösung seiner Konflikte anzunehmen ist. Aber es ergeben sich die Fragen, wie ein solcher Schluß auf den ästhetischen Prämissen des Stückes zustande kommen kann und ob er nicht auch »starke Lustigkeit« auszulösen imstande sei. Zur Beantwortung beider Fragen lassen sich - zumindest versuchsweise - folgende Thesen aufstellen: In dieser faden Welt ist der Teufel so läppisch, daß er gefangen werden kann. Allerdings gibt es in ihr keinen Heiligen Georg, der heldisch-stattlich das Teuflische vernichtet. Dessen Widerwelt ist ebenfalls verkümmert. Auch wenn Bereiche von Menschlichkeit — Güte, Liebe, Illusionslosigkeit - existieren, heißt das nicht, daß sie rein, in idealer Gestalt zu Tage treten können: Die Güte ist schwächlich, die Liebe häßlich, die Illusionslosigkeit zynisch. Sie reichen in dem dargestellten Falle zwar aus, dem Teufel das Handwerk zu legen, aber eben nur auf niedrigkomische Weise. Und selbst dieser Triumph ist in der Grabbeschen Lustspielwelt kein selbstverständlicher, voraussehbarer Sieg des Guten. Um jeder falschen, illusionären Positivität die Spitze abzubrechen, wird daher die Bedeutungsträchtigkeit der dichterischen Fiktionalität am Ende '« Ralf Schnell, a.a.O., S. 78. " Ebd., S. 94.

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völlig dem Zweifel ausgesetzt. Daß der Teufel in die Hölle zurückkehrt, ist noch ein Vorgang, der in die Spielbedingungen hineinpaßt. Aber wenn Mordax und von Wernthal die Bühne verlassen, als es an die Bestrafung der Bösewichter gehen soll, und sie sich in den Orchesterraum verdrükken, scheint die vorgegebene Konstruktion des Stückes auseinanderzubrechen. Ist also der dichterische Anspruch überhaupt nur ein Bluff? Manches scheint darauf hinzudeuten. Als der Dichter Rattengift für die Verbindung zwischen Liddy und Mollfels ein Hochzeitscarmen schreiben will, kommt es zwischen ihm und Liddy zu einem knappen, decouvrierenden Dialog. »Liddy lächelnd: Rattengift, sie sind doch entsetzlich feig. Rattengift: Ich bin ein Dichter, gnädiges Fräulein!« (HI/6) Das war wohl nicht nur als Witz gemeint. Aber die Feigheit der Dichter ist dennoch nicht des Stückes letzter Schluß. Es findet sein Ende durch den Auftritt einer Figur, die als »der vermaladeite Grabbe oder, wie man ihn eigentlich nennen sollte, die zwergichte Krabbe, der Verfasser dieses Stücks« (HI/6), angekündigt wird. Sein Auftritt vollendet nun nicht einfach die Selbstdestruktion des Lustspiels durch romantische Ironie, wie oft behauptet wurde, sondern bildet den Schlußstein einer Konstruktion, die auf die Komik des Niedrigen setzt. Wenn der Verfasser des Stückes am Ende sich selbst die Bühne betreten läßt und auf diese Weise die theatralische Fiktion scheinbar ad absurdum führt, treibt er seinen bitteren Ulk erst auf die Spitze. Nicht zufällig kommt der Kerl »mit seiner Laterne« durch den Wald. Er leuchtet den Zuschauern heim. Sein Erscheinen stellt abschließend und endgültig klar, es sei unsinnig zu fragen, ob der Erdenwandel des Teufels, die List des Schulmeisters, das glückliche Ende im Sinne empirischer Wahrscheinlichkeit ernst zu nehmen seien. Es sind literarische Konstruktionen, die ihren Sinn in und aus ihrer dichterischen Konstruktion erhalten. Dann aber erübrigt sich auch zu fragen, ob das glückliche Ende im Sinne einer realistischen Dramaturgie wahrscheinlich ist. Es ist ebensowenig glaubwürdig wie die Flucht des Teufels vor dem höllischen Großreinemachen in die Gegend des Barons von Haldungen. Aber es hat auch ebenso seinen Sinn. Wenn der Auftritt des Teufels die Verderbtheit und Banalität der Welt sichtbar macht, so zeigt die Verbindung zwischen Liddy und Mollfels an, daß man - inmitten einer solchen Welt — sich ihr nicht restlos ausliefern muß. Die Feigheit Rattengifts ist jedenfalls nicht die Sache des »vermaladeiten Grabbe«. Mit welcher Energie dieser seine Arbeit macht, zeigt die verletzend-aufstachelnde Pointe der Schlußszene. Die Figur, die da als Autor erscheint, ist so häßlich wie Mollfels — »hat verrenkte Beine, schielende Augen und ein fades Affengesicht«; säuft wie

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der Schulmeister, der Angst bekommt, daß von dem zur Feier des Tages aufgetischten Punsch zu wenig für ihn übrig bleibt; und er benimmt sich als Autor ähnlich wie Rattengift: »er ist so dumm wie'n Kuhfuß, schimpft auf alle Schriftsteller und taugt selbst nichts« (HI/6). Der Autor reiht sich damit in das Figurenarsenal des Niedrig-Komischen und macht seine verwandtschaftliche Ähnlichkeit mit den Figuren des Stückes unübersehbar. Er wird auf diese Weise zum Objekt des Lachens über das Niedrig-Komische. Damit aber erhält diejenige Dimension des Lachens, die schon aus der eigenartigen Komik des Mollfels und des Schulmeisters hervorging, feste Konturen: Es hat nicht nur verächtliche Züge, die den Lachenden in Distanz bringen, schreckliche, so daß es im Halse stecken bleiben kann, sondern vor allem schmerzliche, weil es sich gegen den Lachenden selbst wendet. Es hat aber auch einen kleinen Zug zur Selbstversicherung, denn es findet im Schäbigen, Häßlichen, Asozialen verborgene Elemente von Menschlichkeit: Grimm, Wut, die Möglichkeit zur Liebe, den Willen, sich nichts vormachen zu lassen. Grabbes Komödie ist also ein grober, brutaler, bewußt unschöner Angriff auf die ganze Welt. Sie läßt keinen Zweifel, daß jedermann in deren Drecke sitzt und auch der Dichter sich nicht überheben kann. Sie hält aber die Chance offen, daß, wenn sich die Erkenntnis der wirklichen Niedrigkeit, auch der eigenen Verkommenheit, nicht in jammerndem Selbstmitleid, sondern in empörtem und empörendem Lachen entlädt, sie produktive Kräfte häßlicher, schmutziger, zynischer Leute freizusetzen vermag. Von den Wirkungsaufgaben, die Ernst Bloch der »Schaubühne, als paradigmatische Anstalt betrachtet«, zugeschrieben hat, nämlich »Trotz und Hoffnung« 16 zu stärken, wird letztere eher desavouiert. Grabbes Lustspiel schließt sie zwar nicht aus, aber attackiert die gewöhnliche Hoffnung, die auf Edelsinn, Schönheit und die metaphysische Kraft des Guten baut. Es setzt dagegen den Trotz des So-Nicht, der ebenso den gewöhnlichen Zuständen wie den üblichen Heldenbildern und den gängigen Zukunftserwartungen entgegentritt. Es läßt sich ein auf die allwaltende Banalität, Häßlichkeit, Verkommenheit und bewahrt gerade dadurch seinen Anspruch auf eine bessere Welt. Insofern verfolgt Grabbes Komödie eine neuartige Strategie. Sie zieht ihre Kraft aus der Illusionslosigkeit, mit der das Niedrig-Komische der Welt dargestellt wird. Sie ist mit einer bis dahin unbekannten Konsequenz 16

Ernst Bloch: Ästhetik des Vor-Scheins. 2 Bände. Hrsg. von Gerd Ueding. Edition Suhrkamp, 726, 732, Frankfurt/Main, Bd. 2, S. 213.

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Verlach-Komödie. Nichts und niemandem wird die destruierende Macht des Lachens erspart. Grabbes Komödie läßt keine Art von Superioritätsbewußtsein - sei es moralischer, intellektueller, ästhetischer oder sozialer Natur - zu. Aber gerade deshalb kann dieses Lachen auch wieder produktiv werden. Wer sich mit solcher Konsequenz nicht ernst nimmt, wird auf eigene Weise frei. Sein Lachen entläßt Energien; sicher zunächst und vor allem destruierende: Ingrimm, Bitterkeit, Wut, die aber einen Untergrund voraussetzen, der Konstruktivität ermöglicht. Denn wer die gegebene Welt derart attackiert, setzt Achtung für etwas voraus - bei sich und anderen —, was in dieser Welt sein sollte. Die Lustigkeit, die Grabbe wollte, hat er selbst eine »starke« genannt. Er erwartete von ihr die Kraft, volle Verachtung für das Verachtenswerte fühlen zu machen, aber auch hinter dem Häßlichen die Stärke, in der Verkommenheit die Erniedrigung, im Zynismus die Enttäuschung zu sehen. Damit könnte der Gesichtspunkt gefunden sein, von dem aus Grabbe seine Komödie mit dem »Herzog Theodor von Gothland« in Zusammenhang brachte, ihre »toll-komische Erscheinung« als Gegenstück der Tragödie deutete, beide durch das »Lachen der Verzweiflung«17 verbunden glaubte, so daß er für sein Lustspiel »eine entschiedene Weltansicht«'8 in Anspruch nehmen konnte. Es wäre dann die Ansicht eines Menschen, der die Welt nicht von einem Standpunkt außerhalb ihrer, sondern von einem Standpunkt innerhalb der Welt auslacht, dessen Lachen daher ein äußerstes Maß an Bitterkeit in sich aufnimmt und dabei empörerisch, aggresssiv sein muß. Derart lachen machen und lachen können wären Symptome des Versuchs, im ideellen Untergrund Fuß zu fassen.

17 18

Grabbe an Kettembeil, 1. Juni 1827. Vorwort zu »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung«. Grabbe: Werke und Briefe, a.a.O., Bd. I, S. 214.

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Die Französische Revolution als Schauspiel

Die deutschen Zeitzeugen der Französischen Revolution, insbesondere die, die aus dem revolutionären Paris der ersten Jahre berichten, greifen auffallend häufig auf die Metapher der Revolution als Schauspiel zurück. Meine These, die ich im folgenden begründen will, lautet: Dies kann man als Mittel der Bewältigung von Problemen verstehen, die die Vorgänge im Nachbarland verursachen mußten. Die Schauspielmetapher strukturiert das Fremde, um es zu veranschaulichen, nach Bekanntem und den Adressaten Vertrautem, nämlich nach den ästhetischen Kategorien des Dramas. Dagegen charakterisiert die Dramen der Zeitgenossen, die von der Französischen Revolution handeln, daß sich in ihnen die materiale Eigenqualität des Stoffes nicht eingeschrieben hat. Erst eine Generation später in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts thematisieren zwei der Dramen, die die literarische Moderne in Deutschland ankündigten, diese Revolution : Grabbes »Napoleon oder Die hundert Tage« ihre endgültige Niederlage auf dem Schlachtfeld von Waterloo, Büchners »Dantons Tod« ihren Umschlag von revolutionärem Aufbruch zur terroristischen Sicherung des Erreichten. Zwei Dramen, die Geschichte im Schauspiel und Geschichte als Schauspiel zeigen. Zu fragen ist nach dem Grund und der Relevanz dieser Organisation von Erfahrung nach ästhetischen Kategorien durch die Zeitgenossen. Z u fragen ist auch, ob damit die ästhetische Organisation des fiktionalen Einen Überblick der deutschen Rezeption der Französischen Revolution als eines Schauspiels bieten die Anthologien: — Die Französische Revolution. Berichte und Deutungen deutscher Schriftsteller und Historiker, Bd. 1 - 4 , Hg. Horst Günther, Frankfurt/ Main 1985. - Reiseziel Revolution, Berichte deutscher Reisender aus Paris 1 7 8 9 - 1 8 0 5 , Hg. Heiner Boehnke, Harro Zimmermann, Reinbek b. Hamburg 1988. - Die Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur, Hg. Claus Tröger, Frankfurt/Main 1979. Z u m »Schauspiel Guillotine« vgl.: Daniel Arasse, Die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit, Reinbek b. Hamburg 1988 (re, kulturen und ideen, 496).

Maria Porrmann

Stoffes Realgeschichte durch Autoren der Generation der Söhne strukturell überhaupt vergleichbar ist, b2w. ob nicht das Motiv des Schauspiels in den Dramen einen eigenen Argumentationshorizont erschließt. So gänzlich unvorstellbar und undenkbar konnte auch den deutschen aufgeklärten, Sturm-und-Drang-gewohnten Zeitgenossen das revolutionäre Geschehen in Frankreich nicht sein. Zumindest die Revolte war auf dem Theater längst erprobt. Franz in Schillers »Räuber« war ja nicht der erste gewesen, der gegen das tintenklecksende Säkulum die mörderische intrigante Tat setzte als »Resultat eines aufgeklärten Denkens und liberalen Studiums«', so der Autor in seiner Selbstrezension. Und Karls »Geist dürstet nach Taten, mein Atem nach Freiheit! - Mörder, Räuber! - Mit diesem Wort war das Gesetz unter meine Füße gerollt«2. Der hier Freiheit, Mörder und Räuber in einem Atem nennt, träumt seiner zur Idylle verklärten Kindheit nach, gesteigert, ins Bedeutsame erhoben durch Rousseau. »Von allen Menschensorten das Scheußlichste auf einen Haufen geworfen«', daraus wird demnach ein Freidenker, ein Materialist und ein Aufklärer. Freilich in pervertierter Gestalt, ein Verbrecher und Mörder, der seiner Strafe, der Selbstvernichtung, nicht entgeht. Und ein um Liebe und Geborgenheit ererbter Ordnung Betrogener rast als Revolutionär. Freilich wiederum in seiner Perversion: als Räuber. Sein Selbstmord geschieht bewußt, um die alte Ordnung zu retten, weil: »Zwei Menschen wie ich den ganzen Bau der sittlichen Welt zugrunde richten würden«4. Divergierende Motivationen? Jedenfalls: Zwei komplementäre Gestalten des Aufstands, deren Untergang das gestörte Gleichgewicht der Welt wiederherstellt. Kein Zweifel, das wirkt recht ausgedacht, und was hier wirklich kleckst ist Tinte. Weniger Blutsurrogat, denn gemordet und geplündert wird hinter der Szene und zwischen den Akten. Geprobt wird revolutionäre Rhetorik und explosive Gebärde, nicht eine gesellschaftliche oder politische Revolution. Das verlegerisch aufreizende Motto »In tirannos« zielt auf ein der großen Geste begieriges Publikum und nicht auf Wirklichkeit. Kein Zweifel, wir sind im Theater und wir sind in Deutschland, wo sich, immer noch Schiller, »der Deutsche abgesondert von dem Politischen . . .

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Friedrich Schiller, Die Räuber, Selbstbesprechung, in: Sämtliche Werke, Bd. i, Hg. Gerhard Fricke u.a., München >1962. ebenda, S. ; 1;. ebenda, S. ;oo. ebenda, S. 617.

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einen eigenen Wert gegründet, und wenn auch das Imperium unterginge«5. Es widerspricht dem durchaus nicht, daß ausgerechnet der Historiker und Geschichtsdramatiker Schiller deutschen >Wert< in Kultur und Charakter der Nation ortet und nicht im Politischen, ja sogar deren »politische Schicksale« strikt davon trennt. Gleichwohl findet in diesem Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts Geschichte tagtäglich statt: als simulierte Gegenwart, nämlich auf dem Theater. Hier verdichtet sich historisches, besonders nationalhistorisches Geschehen zu Geschichte. Hier transformiert Kontingenz in Sinn. Im Deutschland der Kleinstaaten, deren geographische Grenzen die gesellschaftliche, politische und nationale Kompetenz des Handelns markieren, findet der Diskurs über Gesetze und Teleologie von universaler Geschichte, von Nation und Geschichte in der Theorie, der Philosophie statt. Und: in der ästhetischen Praxis, in der Dramatik selbst und bezogen auf die Theaterpraxis — im Fragen nach originär nationalen Darstellungsweisen. Verkürzt könnte man dies auf die Formel bringen, daß diese zersplitterte Nation ein Geschichtsdrama hat, bevor sie zu ihrer Geschichte kommt. Zu Lessings resigniertem, sich selbst einbeziehenden Spott »über den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind«6, gesellt sich unausgesprochen der Spott über den gutherzigen Einfall, dem zuschauenden Bürger, Geschichte als Schauspiel zu präsentieren, ihn also als Zuschauer teilhaben zu lassen, bevor er als Staatsbürger zum Subjekt seiner Geschichte wird. Eintrainiert, Geschichte als Simulation und diese als Universalgeschichte wahrzunehmen, deren Teil die Nationalgeschichte ist, wird die Französische Revolution zum schockhaften Erlebnis. Gleichgültig, ob sie als Einbruch des Chaos in die organisch gefügte, wenn auch reformbedürftige Ordnung des Politisch-Gesellschaftlichen und als rohe, elementare Zerstörung des Bestehenden, vergleichbar nur dem Natur in Zerstörung verwandelndem Erdbeben von Lissabon, oder als emphatisch begrüßter qualitativer Sprung von Theorie in Praxis erfahren wird. »Die Französische Revolution«, so Lichtenberg in einem Aphorismus von 1790, »das Werk der Philosophie, aber was für ein Sprung von dem

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ders., Prosaentwurf zu dem Gedicht »Deutsche Größe«, a.a.O. Bd. 1 S. 473. Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 1 0 0 - 1 0 4 . Stück, in: Gesammelte Werke, hg. Wolfgang Stammler, München 1950, Bd. 2.

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Cogito, ergo sum bis zum ersten Erschallen ä la Bastille im Palais Royal. Der Schall der letzten Posaune für die Bastille.« Das Ereignis selbst, die rohe Faktizität des politischen Geschehens tritt den Zeitgenossen hier mit der Bedeutsamkeit entgegen, die in Deutschland gemeinhin dem philosophischen Gedanken und dem ästhetischen Symbol reserviert war. Darin, kaum einer konnte sich darüber täuschen, gründete das Besondere des realen Geschehens in Frankreich. In einem allerdings ähnelte die Rezeption dieser Revolution (zumindest zunächst) der gewohnten Rezeption von Geschichte als Simulation. Sie ist die Geschichte der anderen und insofern ein Schauspiel. Ein Live-Schauspiel, das seine Zuschauer in Scharen anzog. »Kein Wunder also, daß von dem ersten Augenblick einer so großen, nie erhörten, nie für möglich gehaltenen Revolution an nicht nur die allgemeine Aufmerksamkeit Europens auf dieses erstaunliche Schauspiel geheftet war, sondern daß unter so vielen Millionen auswärtiger Z u s c h a u e r . . . nicht wenige waren, d i e . . . sich n i c h t . . . gedrungen gefühlt hätten, Anteil an der Sache zu nehmen, den edeln M ä n n e r n . . . Beifall zuzurufen, und mit ungewöhnlicher Unruhe und mehr oder weniger leidenschaftlicher Bewegung dem Erfolg entgegen zu harren.«

Dieses Zitat stammt aus Wielands »Unparteiischen Betrachtungen über die dermalige Staats-Revolution in Frankreich«, Betrachtungen, in denen der Autor auch den Betrachter in seiner Rolle als Zuschauer und das Betrachtete in seiner Rezeption als Schauspiel thematisiert und problematisiert. Das unterscheidet ihn von den vielen Revolutionstouristen, die zwar aus der Perspektive des Zuschauers das revolutionäre Paris als Schauplatz eines Schauspiels beschreiben, beides aber nicht reflektieren. Dem »erhebenden« Schauspiel, als das Wieland die Revolution in ihrer ersten Phase interpretiert, entsprechen die Rollen: die »edeln Männer« als Helden. »Ihr Charakter, ihr Mut und ihre vorzüglichen Geisteskräfte« haben sie »an die Spitze einer durch den unleidlichsten Despotismus aufs äußerste gebrachten großen, edeln, aufgeklärten, geist- und mutvollen Nation gestellt«. Dem Charakter der Helden entsprechen die Ideale, die ihr Handeln leiten, nämlich »durch Freiheit mit Gemeingeist« die Nation »in ein besseres Leben zurückgerufen zu sehen«. Diesen idealistischen Heldenfiguren des erhebenden Schauspiels entspricht der aus »innigster Überzeugung« teilnehmende Zuschauer. Umgekehrt kann es der Zuschauer sein, der das Schauspiel erst definiert. Der Sensationszuschauer, der nach Paris wegen der »unerhörten Begebenheit« geeilt ist, rezipiert die Revolution entsprechend »bloß als Schauspiel«, nicht anders als »jede

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ungewöhnliche Exekution eines merkwürdigen Verbrechens, oder jede Tragödie von englisch teutscher Art und Kunst«7. In der Tat entspricht die subjektive Perspektive des Revolutionszuschauers auf das Andere seiner ideologischen, gesellschaftlichen bzw. kleinstaatlichen Verfaßtheit. Es sind diese Parameter, die sein Wahr-Nehmen des Beobachteten prägen. Aber auch seine ästhetische Prägung bestimmt, was und wie er beobachtet, bzw. das Beobachtete vermittelt. Allerdings ändert sich dies auch mit den Phasen der Revolution selbst. Die ersten, vor allem naiv idealistisch beseelten Zuschauer wie z.B. Johann Heinrich Campe, der wiederum in pädagogischer Absicht mit seinen Berichten für das »Braunschweigische Journal« die deutschen Leser für die Sache der Revolution begeistern wollte, synthetisieren das Geschehen zu einem »Schauspiel« der »Menschenveredelung und Menschenbeglückung«, das selbst den »bloße(n) Zuschauer... zugleich erhöht und zugleich mitveredelt«. Für diese mitveredelten Zuschauer ist dieses Schauspiel nicht länger Simulation, es ist die Sache selbst. Für Enthusiasten wie Campe sind die Franzosen »die neuen Griechen und Römer«, sind die »großen, wunderbaren Schauspiele, die in diesen Tagen hier aufgeführt worden sind«, »Tatsachen« und eben »kein Traum«8. Der erlebte Augenblick realisiert den Zustand erlöster Menschheit. Sicher, besonders Campe benutzt die Schauspiel-Metapher inflationär. Er inszeniert Episodisches als Theaterszenen, ordnet den Ereignissen Schauspielgattungen zu, selbst dann wenn er diese erst erfinden muß. So führt die Nationalversammlung anläßlich des partiellen Verzichts des Adels auf seine Privilegien ein »neues Schauspiel« auf, das er als »hohes, rührendes, weinerlichkomisches Drama«' definiert. Ursache für die Erfindung derart bemerkenswerter dramatischer Mischformen ist aber nicht die schon naive Begeisterung dieses einen Revolutionszuschauers. Auch der sehr viel distanzierter argumentierende Klinger wartet mit einem neuen, diesmal tragisch umdüsterten Dramentyp auf. Ihm ist die Revolution ein »fürchterliches, erhaben ängstliches Schauspiel«10. Gemeinsam ist derartigen Typologisierungsversuchen, das Neue den ja auch sittlichen Normen des aus der 7

Christoph Martin Wieland, Unparteiische Betrachtungen über die dermalige Staats-Revolution in Frankreich, in: Die Französische Revolution, a. a. O., hier Bd. 2 Georg Förster und die deutschen Publizisten, S. 486 f. 8 Johann Heinrich Campe, Briefe aus Paris, zur Zeit der Revolution geschrieben, in: Die Französische Revolution, a.a.O., hier: Bd. 1, Die Augenzeugen, S. Christoph Martin Wieland, a.a.O. S. 507.

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inwieweit Unparteilichkeit möglich und tatsächlich ein Desiderat von Geschichtsschreibung sein kann, richtig war Wielands Prognose, erst historische Distanz, von der aus auch erst die Parteilichkeit der Zeit mitreflektiert werden kann, ermögliche die Darstellung des Geschehens, und sei es auch die im Drama. Dies beweisen die in den dreißiger Jahren entstandenen Dramen Grabbes und Büchners, die beide, wenn auch unterschiedlich, ihr Medium und das der Zeitzeugen, das Theater, selbst thematisieren, um das Verhältnis von Wirklichkeit und Darstellung zu problematisieren. Ex negativo bestätigen diese Prognose die zeitgenössischen Autoren, nämlich Goethe und Kleist.

Die Fran2Ösische Revolution im Schauspiel Die Revolution als komisches Lehrstück für die Provinz Noch im Alter erinnert sich Goethe seiner Versuche, die Französische Revolution, »dieses schrecklichste aller Ereignisse zu gewältigen«, als einer »grenzenlosen Bemühung«' 6 . Es ist zu vermuten, daß dieses Eingeständnis produktionsästhetischer Schwierigkeiten auch dem strategischen Konzept der Selbststilisierung, hier zum bedeutenden Zeitzeugen, zuzuordnen ist. Dem schrecklichsten aller Ereignisse kann retrospektiv nur die eigene grenzenlose Bemühung entsprechen. Den Stücken selbst ist diese nämlich nur mittelbar abzulesen, u.a. darin, daß sie zum Teil Fragment bleiben. Die Dramen und Dramenfragmente wie der »Gross-Cophta«, »Der Bürgergeneral« und »Die Aufgeregten« machen sich im Goetheschen Werkkontext eigentümlich belanglos aus. Sie sind aber nicht nur von historischem, sondern auch poetologischem Interesse wegen der Gründe, warum sie scheitern. Gemeinsam ist ihnen, daß der gestaltete Stoff gleichsam zu nahe liegt. Details geraten ins Zentrum, deren Relevanz nicht aus dem Stoff herzuleiten ist, obwohl dieser der eigentliche Bezugspunkt ist, aus dem sich die zeit- und ortsgebundene Wirkungsabsicht herleitet. Diese zeitnah entstandenen Stücke haben allerdings auch mit Goethes die Bedeutung des Geschehens verkennender Rezeption zu tun, die sich auch in der Perspektive widerspiegelt, aus der der großherzoglich beorderte »Zuschauer und Schlachtenbummler«17 der Interventionstruppen 16 17

Johann Wolfgang Goethe, Gedenkausgabe, a.a.O. Bd. 16, S. 881. Hans Mayer, Goethe. Die Epen, in: ders. Zur deutschen Klassik und Romantik, Pfullingen 1965.

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und der Belagerung des jakobinischen Mainz Ausschnitte des Geschehens wahrnimmt. Wie dem Zeitgenossen Goethe Information zum fast beliebigen Anlaß eines bedeutungszuweisenden Kommentars geraten kann, so aspektistisch wählt er die zeitgeschichtlichen Ausschnitte, die ihm, der ja auch Intendant des Weimarer Hoftheaters war, für sein theatralisches Tribunal vor und für das heimische Publikum tauglich scheinen. Die Dramen verschränken subjektive Rezeption und Wirkungsintention so, daß beides kaum genau geschieden werden kann. Im »Gross-Cophta« ist es die sogenannte »Halsbandaffaire« und die Rolle, die der Hochstapler und Scharlatan Cagliostro dabei gespielt haben soll. Eigensinnig insistierend ist Goethe dabei geblieben, diese Episode in ursächliche Verbindung mit der Revolution zu bringen. Insofern kann man den »Gross-Cophta« in der Tat als »Quasi-Dokumentarstück«18 bezeichnen, dessen gewollter Abgeschmacktheit der »widerwärtige Effekt« 1 ' entsprach, den es beim Weimarer Publikum erzielte. Im »Bürgergeneral« thematisiert Goethe nicht die >neufränkische< Revolution selbst, sondern diese Revolution als untauglichen Importartikel für die Provinz, verkörpert in der Figur des schmierenkomödiantischen Revolutionsdarstellers Schnaps. Schnaps hält nicht nur, was sein Name verspricht, er zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß er rhetorisch übergewandt ist und mit propagandistischen Gemeinnutzfloskeln die schlichten, geraden Gemüter zur Revolte verführt. Dem Wort widerspricht die Tat, die sich stets als praktizierter Eigennutz entlarvt. Als Typ bleibt diese Figur konstitutiver Bestandteil trivialer vaterländischer und deshalb antifranzösischer deutscher Literatur des 19. Jahrhunderts. Diese beiden zeitnah entstandenen Dramen nehmen ihrer Intention gemäß zwar eindeutig Bezug auf die Zeitgeschichte, wesentlicher aber ist deren zu steuernde Rezeption durch den zeitgenössischen Zuschauer. Dies begründet die ideologisch und nicht ästhetisch zu interpretierende Wahl des dramatischen Genres, die traditionelle Typenkomödie, die hier bar jeder Sozialaggressivität ist. Eine Form also, mittels der gerade nicht das Besondere des Vorgangs und seine Situierung im Gesellschaftlich-Politischen thematisiert werden kann. Das Geschehen in Frankreich wird so nicht nur verharmlost, um es im großherzoglichen Weimar spielend zu bewältigen, was Goethes Intention entspricht, sondern das Geschehen verkümmert zu einer ästhetischen Reflexion über die Gestaltung von Goethe und die Französische Revolution, hg. und erläutert Karl Otto Conrady, Frankfurt/Main 1988 (Insel-Almanach auf das Jahr 1989) S. 46. Johann Wolfgang Goethe, Gedenkausgabe a.a.O., Bd. 12, S. 419.

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Herrschaft, als ob es sich dabei um sozialresistente Rollen handelt und nicht um Herrschaftsstrategien. Dem entspricht auf der subjektiven Ebene des Zeitzeugen Goethe, daß er noch eine Generation später »Mar.Antoinettens gänzliche Vernachlässigung aller Etickette«20 für eine der Ursachen der Revolution hält. Im »Gross-Cophta« und im »Bürgergeneral« hat die Verdrängung didaktische Methode. Charakterisiert als das Fremde, das deutscher Provinz inadäquat und obendrein eigentlich belanglos ist, taugt die Französische Revolution höchstens zum amüsiert rezipierten Schauspiel. »Die Aufgeregten« dagegen, auch diese — unvollendete - Komödie ist 1792 entstanden, trägt die für Goethe singuläre Gattungsbezeichnung »politisches Drama«. Zwar wird hier tatsächlich ein konkret im Feudalsystem gründender Konflikt zum Demonstrationsobjekt für politisch richtiges Handeln der Herrschenden: verständnisvoll gewährte Reform von oben als Vademecum zur Aufrechterhaltung von Recht und alter Ordnung. Aber trotz des eindeutigen zeithistorischen Bezugs zielt »politisch« auch hier nicht auf den konkreten Stoff selbst, auf seine Situierung im PolitischGesellschaftlichen, sondern wieder auf die Rezeption, meint den Lehrstückcharakter. In den »Aufgeregten« werden Revolution im Schauspiel, als Schauspiel und als Lehrstück bezeichnend variiert. Für Breme gibt die Revolution ein übertragbares Handlungsmuster vor. Und das ist im Stückkontext ein politisch-gesellschaftlicher Konflikt in deutscher gräflicher Provinz hinreichend, um Breme als komische Figur zu fundieren. Der Magister, sich in die Rolle des imaginären Zuschauers versetzend, stellt sie sich als ein erhabenes Freiheitschauspiel »des seligen Taumels, der eine große N a t i o n . . . ergriff« 11 , vor. Die Gräfin selbst aber erweist sich als der eigentliche »Zögling der großen Begebenheit«. Sie ist als Zuschauerin nach Paris geeilt und kann deshalb die Wahrheit des Augenscheins für sich reklamieren. Ihr Live-Schauspiel unterscheidet sich beträchtlich von dem imaginären des Magisters, aber sie ist eine lernfahige Zuschauerin: Reform statt Revolution. Für ihr Handeln in der Überschaubarkeit der Provinz bedeutet dies, daß der Konflikt und das Stück »zu allgemeiner Zufriedenheit«" schließen.

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Kanzler von Müller, Unterhaltungen mit Goethe, hg. Ernst Grumach, Weimar 1956 (16. 3. 1823). Johann Wolfgang Goethe, Gedenkausgabe, a.a.O., Bd. 6, S. 732. ebenda, skizzierter Schluß.

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Der berechnete Augenblick - Kleists »Hermannsschlacht« Als »einzig und allein auf diesen Augenblick berechnet«2', bezeichnet Kleist in einem Brief an Collin, in dem es 1809 um eine Aufführung des Dramas in Wien geht, mit ihm eigener präziser Wörtlichkeit seine »Hermannsschlacht«. Dieses Drama ist tatsächlich ein Produkt der Berechnung. Seine Ästhetik des Schreckens, des Terrors, der Vergewaltigung zum Handeln ist eine strategische Kalkulation von Wirkung. Die Bedrohung der deutschen Staaten durch die napoleonische Okkupationspolitik war in eine Phase getreten, in der erkennbar war, daß die als nationales Kollektiv motivierten Heere Napoleons nur von ebenso motivierten Heeren geschlagen werden konnten und daß es bei diesem Krieg nicht um einen strategisch wichtigen Sieg ging, sondern um Vernichtung. »Auf diesen Augenblick berechnet« meint diesen konkreten historischen Augenblick und damit den konkreten historischen Deutschen als Rezipienten. Es ist ein Irrtum anzunehmen, Kleist habe wegen der Aktualität den Stoff verschlüsseln müssen, den Grabbe aus historischer Distanz habe gestalten können. Im Gegenteil. Kleist zitiert mit dem Hermann-Mythos einen Stoff, der ja nicht erst seit Klopstocks Bardieten demonstrativ auf die jeweilige politische deutsche Gegenwart als Aufruf zur Einigung zielt. Auch und gerade die Analogie Franzosen-Römer grenzt im Verständnis der Zeit ans Tautologische. Mit der Stoffwahl selbst wird bereits unmißverständlich geklärt, daß nur diese konkrete nationale Situation gemeint ist, und in der Tat hat Kleist den Augenblick für diesen Aufruf zum haßmotivierten Handeln so exakt berechnet, daß das Drama weder 1808 im napoleonisch kontrollierten Preußen, noch 1809 im dann besetzten Wien gespielt werden konnte. Die Transponierung ins Germanische hatte also nicht die Funktion, die Intention des Dramas zu verschlüsseln, sondern zu verstärken. Ende und Ziel des Dramas werden vorweggenommen, so daß das Interesse auf die dramatische Argumentation selbst gelenkt wird: politische Agitierung und blinde Emotionalisierung des Zuschauers. Obendrein taugte in der Kleist eigenen Dialektik die konkrete Wirklichkeit auch aus einem andren Grunde nicht zu dieser Demonstration. Da die Wirklichkeit selbst von Widersprüchen geprägt ist, ist sie in sich trügerisch, die Relation von '> Heinrich von Kleist, sämtliche Werke und Briefe, hg. Helmut Sembdner, München '1977, Bd. 2, S. 814.

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Schein und Sein doppeldeutig, ja divergent. Eben dies ist aber nicht Kleists Thema in der »Hermannsschlacht« und auch nicht - was singulär für seine Protagonisten ist - das Hermanns, des - im Wortsinn - außer sich, weil nur politisch handelnden Subjekts. Zwar hat das reale Paris des Jahres 1801, dieser »ekelhafte Ort«, Kleist angewidert. Dort seien »Verrat, Mord und Diebstahl« »unbedeutende Dinge«, das »Menschenleben« gelte dort als »ein Ding«, »von welchem man 800000 Exemplare hat«. Die Straßen und die Menschen vermengen sich zu einem stoßenden, keuchenden stinkenden Gewimmel. »Ich sehe einen fragend an, er sieht mich wieder an, ich frage ihn ein paar Worte, er antwortet höflich, ich werde warm, er ennuyiert sich, wir sind einander herzlich satt, er empfiehlt sich, ich verbeuge mich, und wir haben einander vergessen.« »Erwärmen« kann ihn an diesem Ort der Kälte nur die als Schein kenntliche Kunst, »wo Menschen auf Leinwand gemalt sind«24. Aber diese Erfahrung des Paris von 1801 reflektiert zum einen die völlig neue Erfahrung von Großstadt und zum anderen, und das ist bestimmender, Kleists eigene rousseauisch geprägte, seine subjektive Krise signalisierende Perspektive. Eindeutiger, patriotisch-haßgeschärft ist freilich Kleists Blick auf Napoleon. Trotzdem nimmt er auf diese Wirklichkeit in germanischer Verkleidung in der »Hermannsschlacht« keinen Bezug. Statt dessen wird hier ein reines Konstrukt vorgestellt, dessen Konstruktionselemente sich aus der Propagandatechnik herleiten, und das meint z.B. den versatzstückartigen Gebrauch von Realitätspartikeln. Erst die zum Konstrukt deformierte Wirklichkeit, der das Konstrukt des deformierten, nur politisch handelnden Individuums entspricht, reduziert die Wirklichkeit so, daß sie zum Objekt des Fanatismus, der blinden Liebe und des blinden Hasses taugt. Erst der verweigerte Blick auf die zu nahe Wirklichkeit befähigt das Subjekt, sich seiner eigenen, nämlich seiner sittlichen Wirklichkeit zu verweigern, und wie Hermann »Haß« zu seinem »Amt« und »Rache« zu seiner »Tugend« zu machen. Kleists Lehrstück der Agitation, der Überwältigung durch Schrecken und der Vergewaltigung von Vernunft und Gefühl — demonstrativ durchexerziert an Thusnelda - soll hier nicht noch einmal analysiert werden. Zu fragen ist aber, ob nicht die »Hermannsschlacht« eine so singuläre, auf ihre Zeit gerichtete Intention aufweist, daß sie nicht problemlos dem Kontext der anderen Kleistschen Dramatik zuzuordnen ist. Kleists Bühne des Schreckens — hier wird sie zur Exekutionsstätte von Wirklichkeit. ebenda, S. 677.

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Nicht der ohne Katharsis entlassene ästhetische Zuschauer ist ihr Adressat, sondern, um auf den anfanglich zitierten Brief zurückzukommen, der »einzig und allein« im Hier und Jetzt situierte politische Zuschauer. Allerdings zeigt sich, daß auch dieser scheint's so konkrete Zuschauer ein Konstrukt ist. Denn wäre dieser Zuschauer der, als den ihn Kleist entwirft, dann bedürfte er der Agitation nicht und wäre Akteur und nicht Zuschauer. Immerhin sollte darüber spekuliert werden, ob ein noch lebender Kleist 1821, sechs Jahre nach der »Befreiung«, der kein freies Preußen folgte, im Jahr auch des Todes Napoleons der Veröffentlichung und 1828 der Uraufführung in Bad Pyrmont, das nachbarlich am konservativ vaterländisch gepflegten Hermann-Teutoburger-Wald-Mythos partizipieren konnte, überhaupt zugestimmt hätte.

Die Französische Revolution im Schauspiel als Schauspiel »S'ist ja doch alles Komödie« - »Wir stehen alle auf dem Theater« Anmerkungen zu Grabbes »Napoleon« und Büchners »Dantons Tod« Die Zeitzeugen und ihr Publikum verständigen sich über die Französische Revolution mittels theatralischer Klassifizierungen. Dabei beeinflussen sich ästhetisches und gesellschaftlich politisches Verstehen wechselseitig. Dagegen mißlingt den Zeitgenossen, die ästhetischen Mittel aus dem konkreten Geschehen selbst zu entwickeln. Denn diesen Zeitgenossen geht es nicht, noch nicht, um die Sache selbst, sondern um Wirkung, also um deren Widerspiegelung in einem anderen, falschen Kontext. Die Revolution im Zerrspiegel der Provinz bei Goethe, das napoleonische Frankreich, das eben nicht nur das Frankreich Napoleons ist, im Zerrspiegel der anderen, emotional gefaßten eigenen Nation bei Kleist. Bei beiden geht die Interpretation der Analyse voraus, weil es beiden, wenn auch sehr unterschiedlich motiviert, um die zu steuernde Rezeption geht, um die Rezeption dieser Geschichte im Deutschland ihrer Zeit. Das Besondere der dramatischen Transponierung Grabbes und Büchners liegt also zunächst darin, daß es ihnen um das historische Geschehen selbst geht. Z u dieser Geschichte haben sie zwar die Distanz der Söhne, aber sie ist noch immer die Geschichte, die sie selbst geprägt hat. Das Besondere ihrer Gestaltung liegt auch darin, daß in beiden Dramen, z. T. beiläufig, z. T. demonstrativ, die qualitative Veränderung von realem Sein zu ästhetischem Schein mitthematisiert wird. Beide verschränken ästheti-

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sehe Transformation und Interpretation, historische Distanz und die eigene Zeit miteinander. Gemeinsam ist beiden Autoren auch, daß sie ihr Medium zugleich als Verständigungsmodell begreifen. Beide situieren das Geschehen als Theater und nehmen das Theater als emblematisches Modell für Welt2'. Freilich unterscheiden sich beide Modelle darin, worüber sie sich verständigen wollen. Das hat auch damit zu tun, daß ihr jeweiliges Interesse am Stoff zumindest ursprünglich wenig vergleichbar war. Bei Grabbe war es Napoleon, und erst über seine historischen Studien verlagert sich sein Interesse auf die Revolution als Epoche, die ihn ermöglichte. Bei Büchner, den aktiv an der sozialen Revolution Interessierten, ist es die frühe Phase der Revolution, genauer die Situation, in der sie als bürgerliche kenntlich wird, die aufhört eine soziale zu sein. Aber gemeinsam ist beiden, daß sie nicht aufgrund einer ungebrochenen ästhetischen Tradition auf die seit dem Barock geläufige Metapher des Theaters als emblematischem Modell von Welt zurückgreifen, sondern daß sie mit Theater zugleich auch die öffentlichen Präsentationsweisen der Akteure und die Vermittlungsweisen der Zeitzeugen zitieren. Insbesondere Grabbe - das wurde ja schon mit einigen Beispielen belegt - benutzt für seine Episoden und Figuren die Berichte der Zeitgenossen als Materialfundus. Aber zugleich zitiert er diese Zeitgenossen, indem er deren theatralische Inszenierung herausstellt. Das beschränkt sich nicht, obwohl dies die genannten Beispiele vermuten lassen könnten, auf die Volksszenen. Das dramaturgische Prinzip der 1. Szene, nämlich, daß die Figuren wechselnd beides sind: Schauspieler und Zuschauer, bleibt für das ganze Stück bestimmend. Nur bestimmen nicht immer die Akteure selbst, ob sie Schauspieler einer Tragödie oder Komödie sind. Diese Interpretation übernimmt vielmehr der Zuschauer auf der Szene oder der Realzuschauer. Aber diese Zuweisungen, die ja Wertungen implizieren, werden ständig irritiert. Was Tragödie, was erhabenes Schauspiel, was Komödie scheint, kann sich ins Gegenteil verkehren. Am eindeutigsten scheint die Komödie und ihre Funktion zu bestimmen. Während Grabbe abweichend von der Komödienkonvention dieser Figur "

Ich habe auf ausführlichere Zitate verzichtet, weil beide Texte insgesamt durch vielfältige direkte und indirekte Theaterverweise vernetzt sind. So bilden etwa bei Büchner schon Wortspiele wie mit Köpfen spielen, den Kopf herunterwerfen, den Kopf einziehen, den Kopf recken, den Kopf verlieren, den Kopf hinhalten eine vom dialogischen Kontext unabhängige Metaebene, auf der das »Schauspiel Guillotine« paraphrasiert wird. Zur Theatermetapher im Grabbeschen Werkkontext vgl. meinen Aufsatz im Grabbejahrbuch 1987: »Was tragisch ist, ist auch lustig und umgekehrt«. Anmerkungen zum Komischen in Grabbes Tragödien, S. 1 4 - 2 4 .

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das Volk nur in einzelnen Episoden als auch komisch entwirft, formuliert er seine Verachtung durch Nichternstnehmen bei den Repräsentanten und Nutznießern des ancien régime unmißverständlich. Dies sind der »Chorus der altadligen Emigranten«, denen allein das Ansichtigwerden des bourbonischen Eßgeschirrs zum Gralserlebnis, zur Epiphanie gerät, oder die »Gespenster« Villeneuve und Hauterive, deren Erinnerungen recht alt geworden sind. Dies sind vor allem als Gruppe und als Einzelfiguren die Bourbonen selbst, die, beschäftigt mit Schaugottesdiensten, Paraden, Jagden und Essenszeremoniell die Zeit des Handelns verpassen, wie sie habituell und ideologisch ihre gesellschaftliche und politische Gegenwart verpassen. Die den Auftritten eignende langsam kreisende Zeit kontrastiert als stehengebliebene Zeit die Dynamik dieser Hundert Tage inhaltlich. Verstärkt wird diese Tendenz dadurch, daß diese Szenen allesamt als Theaterauftritte, ja sogar als Theater-auf-dem-Theater konzipiert sind. Die vor sich selbst geschützten Bourbonen spielen Königsfamilie für ihr Publikum, die Emigranten, und beide Gruppen werden zu Komödienfiguren für das Volk. Damit sind die Bourbonen nach der Logik des Stückes nicht nur in der Mottenkiste der Geschichte gelandet, sondern auch zu Typen der Komödie geworden. In diese Welt des Rollenspiels und Theaters fügt sich auch die mörderisch böse Groteske, die die Vorstädter unter Jouves Regie aufführen. Eine Aufführung, die anderen Regeln gehorcht als die »Oper« der Bourbonen. Diese als Theater-Situationen ausgewiesenen Episoden variieren aber nicht nur die barocke Metapher von Theater als dem einen Modell interpretierter Welt, dem einander widersprechende Modelle entgegengesetzt werden. Sie sind eben auch Zitate, Zitate der Perspektiven der Zeitgenossen. Indem sich der Autor auf die Wirklichkeit selbst einläßt, läßt er sich nicht nur auf deren eigene Widersprüchlichkeit ein, sondern auch auf die der Quellen. Dies zeigt sich besonders in der Konzeption der ästhetischen Figur Napoleon. So wahrscheinlich es ist, daß Grabbes insistierendes Fragen nach dem geschichtsmächtigen Subjekt, nach dem, der das >Buch der Welt< schreibt, stets auf den historischen Napoleon zielt, als ästhetische Figur ist dieser Napoleon ein Konstrukt, und zwar ein Konstrukt, das sich zusammensetzt aus den prismatisch gebrochenen Perspektiven seiner Zeit und aus den Selbstdarstellungen. Napoleon ist der, den die anderen in ihm sehen. Das reicht vom Béranger-Napoleon der Chassecoeur und Vitry bis zum Körner-Napoleon der preußischen Soldaten. Und Napoleon ist der, als den er sich selbst inszeniert. Sei es der ElbaNapoleon, der zum Schluß der Szene wie der Held einer klassizistischen

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Tragödie in Beschwörungspose und barock-allegorisches Sprechen verfallt, oder sei es der Staatsschauspieler in der Rolle liberaler Kaiser° ebenda, S. 59.

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Modell für Polyvalenz, für Zerstückelung des eindeutig nicht zu (rekonstruierenden Sinnganzen und des Versuchs, Sinn zu stiften. Für dieses Theatermodell Büchners sind in den letzten Jahren bezeichnend verschiedene und doch vergleichbare szenische Metaphern gefunden worden. Alexander Lang ließ 1981 im Deutschen Theater (Ostberlin) die >Heroen< der Revolution nicht nur als Akteure eines Theaters auf dem Theater agieren, denen die um ihre soziale Revolution gebrachten Proletarier zuschauten, sondern er ließ, um Robespierre und Danton als zwei Artikulationsweisen derselben bürgerlichen Revolution kenntlich zu machen, beide von einem Schauspieler spielen. Im selben Jahr machte auch Hansgünther Heyme die Bühne zur Tribüne und zum Tribunal, auf der die Kleinbürger, mal in der Rolle des Zuschauers, mal in die des Akteurs schlüpfend, ihre Revolution spielten. Roberto Ciulli schließlich ließ 1986 seinen bürgerlichen Revolutionären ihre bürgerliche Individualität, kenntlich gemacht in Geschichte andeutenden Kostümen. Und damit ließ er ihnen auch ihre Tragik. Aber ihre Tragödie wurde zur Posse, weil das zuschauende Volk als Komödientypen agierte: die niedere Perspektive der kommentierenden und eingreifenden Zuschauer wurde zum Tod der Tragödie durch Lächerlichkeit. Die Bedeutung der verschiedenen Theatermodelle Grabbes und Büchners liegt darin, daß sie Verständigungsmodelle von konkreter Geschichte sind. Deren Bedeutung liegt aber auch darin, daß ihre Modelle polyvalent bleiben, weil dadurch überhaupt erst das Verhältnis von Realität und Darstellung als Problem formuliert wird. Das ästhetische Medium tritt in Diskurs mit der Realität, die es abbilden will, mit der Vermitteltheit dieser Realität selbst und mit der eigenen Zeit, die neue Fragen an diese vergangene Realität stellt. Ein Diskurs aber auch über die Autonomie der ästhetischen Wirklichkeit, die ihre eigenen Gesetze hat, mit der der historischen. Deshalb macht die Widersprüchlichkeit der Dramen, ihre interpretatorische Vieldeutigkeit, kurz ihr scheinbarer Verlust des Sinns von Geschichte ihren Realismus aus.

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Grabbe und Büchner Dramaturgische Tradition und Innovation

Als Immermann im Oktober 1837 Weimar besuchte, war er zu Gast bei Kanzler Friedrich von Müller. Während eines Mittagessens, »als der Diskurs sich auf Grabbe abschwenkte«, versuchte er dessen literarische Eigentümlichkeit zu erklären: »Allein meinen Opponenten waren's Böhmische Dörfer, sie ließen mir bald das Feld 1 .« Nun, Grabbes Werke sind heutzutage in Weimar keine »Böhmischen Dörfer« mehr - schließlich haben die Forschungs- und Gedenkstätten, wenn auch spät, eine zweibändige Werkausgabe veranstaltet2 (was beim Profil dieser populären Reihe überaus respektabel ist), und auch die von Immermann erwähnten »Opponenten« sind wohl fast alle verschwunden. Daß Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren der Grabbe-Gesellschaft, einem Weimarer zur Eröffnung Ihres zweiten internationalen Symposiums »das Feld« überlassen, ehrt diesen, und er verspricht daher sogleich, es nicht zu okkupieren, damit jenseits aller Neigung und Abneigung dem gegenüber, was als »Weimarer Klassik« in die Literaturgeschichte eingegangen ist, in einen produktiven Disput eingetreten werden kann. Das Thema »Grabbe und die Dramatiker seiner Zeit« dürfte apriori eine Gefahr ausschließen, die damals von Immermann in Weimar wahrgenommen wurde: »Nach aufgehobener Tafel, von der übrigen Gesellschaft entfernt, schüttete Eckermann sein Herz aus. So geht es hier nun immer zu, wann und w o wir zusammenkommen! rief er. Goethe und kein Ende!«' Den Veranstaltern ist dafür zu danken, daß sie bei der Vorbereitung des Symposiums ihrer Absicht treu blieben, Gestalt und Werk des Detmolder Dichters im Kontext der deutschen Literatur zu begreifen und ' 1

'

Karl Immermann: Zwischen Poesie und Wirklichkeit. Tagebücher. 1831-1840. Nach den Handschriften unter Mitarbeit von Bodo Fehlig hrsg. von Peter Hasubek. München 1984, S. 651 f. Grabbes Werke in zwei Bänden. Ausgewählt und eingeleitet von Hans-Georg Werner. Berlin und Weimar 1987. Karl Immermann (s. Anm. i), S. 653.

Lothar Ehrlich nicht e i n e m » G r a b b e u n d kein E n d e « z u v e r f a l l e n , w a s in d e r H e i m a t s t a d t eines K ü n s t l e r s w o h l nicht v ö l l i g fern läge. Ü b e r » G r a b b e und Büchner. Dramaturgische Tradition u n d Innovation« in d i e s e m S i n n e z u s p r e c h e n , bietet m e i n e s E r a c h t e n s s c h o n die C h a n c e , eine w i c h t i g e Station i n d e r G e n e s i s d e r D r a m a t i k des 1 9 . J a h r h u n d e r t s z u erörtern. D a ß die W e r k e G r a b b e s u n d B ü c h n e r s , » N a p o l e o n o d e r D i e h u n d e r t T a g e « u n d » D a n t o n s T o d « z u m a l , in d e r E n t w i c k l u n g d e r G a t t u n g eine Z ä s u r m a r k i e r e n , die m i t e i n e m N e u a n s a t z in d e r G e schichte d e r d e u t s c h e n L i t e r a t u r k o r r e s p o n d i e r t , ist seit l ä n g e r e m eine a l l g e m e i n akzeptierte E r k e n n t n i s d e r F o r s c h u n g 4 . D i e m e h r o d e r w e n i g e r 4

Die geistige und künstlerische Affinität Grabbes und Büchners tritt in der Wirkungsgeschichte beider Autoren deutlich hervor. Vgl. Lothar Ehrlich: Christian Dietrich Grabbe. Leben. Werk. Wirkung. Berlin 1983; Dietmar Goltschnigg: Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Büchners. Kronberg/Ts. 1975. Die Forschung setzt 1927 mit einem Versuch ein, das »Charakterisch-Psychische« herauszuarbeiten: Während Grabbe ein »reiner Zerstörer« sei, gestalte Büchner den »Zustand der Ironie aus Überwindung«. Rudolf Jancke: Grabbe und Büchner. Eine psychologisch-literarische Betrachtung mit besonderer Berücksichtigung des »Napoleon« und »Dantons Tod«. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 15 (1927), S. 274-286. Roy C. Cowen wendet sich dem Verhältnis von Held und Volk zu und faßt seine Studien mit folgendem Ergebnis zusammen: »Indeed, Grabbe's concept of the historically dramatic seems even more dependent on Büchner's wellknown dictum of a >Fatalismus der Geschichte< than Büchner's own.« R. C. C.: Grabbe's Napoleon, Büchner's Danton, and die masses. In: Symposium. Syracuse. N . Y. Vol. 21 (1967), Nr. 4, S. 3 1 6 - 5 2 5 ) . - Im Hinblick auf das Verhältnis von bewußter Rezeption oder Nicht-Rezeption Grabbes durch Büchner werden die Akzente in der Forschung unterschiedlich gesetzt. Josef Jansen nimmt in einem Kommentar zu »Dantons Tod«, II, 2 (»Eine Promenade - Spaziergänge«) eine Passage der Szene 1,1 aus dem »Napoleon« als »Literarische Vorbilder und Vergleichsstücke« auf - allerdings ohne Interpretation. Georg Büchner »Dantons Tod«. Erläuterungen und Dokumente. Hrsg. von Josef Jansen. Stuttgart 1969. (UB 8104). Dazu stellt Hannelore Schlaffer in ihrer anregenden Arbeit Dramenform und Klassenstruktur: Eine Analyse der dramatis persona >Volk< Stuttgart 1972, fest: »Die erste Szene in Grabbes Napoleon hat Büchner bei der Gestaltung der Spaziergängerszene im Danton beeinflußt...« (S. 92), während Henri Poschmann vorsichtiger davon spricht, daß »die Massenszenen in Grabbes >NapoleonDanton< ist von Grabbes >Napoleon< angeregt...« (a.a.O., S. 77). Recherchen in der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, die Herr Dr. E . Zimmermann dankenswerterweise anstellte, ergaben keine Anhaltspunkte dafür, daß Büchner den »Napoleon« kannte. (Briefliche Mitteilung von D r . E . Zimmermann vom 19. Juli 1989). Auf einen objektiven Kontext weist vor allem die neueste Grabbe-Forschung hin. Vgl. Detlev Kopp: Geschichte und Gesellschaft in den Dramen Christian Dietrich Grabbes. Frankfurt am Main, Bern 1982, S. 1 4 6 - 1 4 8 ; Harro Müller: »Man arbeitet heutzutag alles in Menschenfleisch.« Anmerkungen zu Büchners »Dantons Tod« und ein knapper Seitenblick auf Grabbes »Napoleon oder Die Hundert Tage«. In: Grabbe-Jahrbuch 7 (1988). Im Auftrag der Grabbe-Gesellschaft hrsg. von Werner Broer, Detlev K o p p und Michael Vogt. Emsdetten 1988, S. 87; sowie

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radikale Abstoßung sowohl von der klassischen (insbesondere der Schillerschen) als auch von der romantischen Dramatik und die Bemühung um eine neue, den veränderten kulturellen Funktions- und Wirkungsvorstellungen entsprechende Theaterliteratur im deutschen Vormärz ist durch Grabbe mit befördert worden. Zwischen seinen und Büchners Texten existieren im Hinblick auf geistige Intentionen und ästhetische Strukturen vielfaltige Parallelen und Affinitäten, die die beiden größten deutschen Dramatiker dieser Zeit in jene dramaturgische Tradition stellen, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert schließlich zur Herausbildung des epischen Dramas und Theaters führt. Brecht selber hielt auch diese beiden Schriftsteller für seine unmittelbaren Anreger: »Die Linie, die zu gewissen Versuchen des epischen Theaters gezogen werden kann, führt aus der elisabethanischen Dramatik über Lenz, Schiller (Frühwerke), Goethe (>Götz< und >Faust' Christian Dietrich Grabbe: Werke und Briefe (s. Anm. 10), Bd. i, S. 241-242.

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Elemente der Commedia dell'arte-Tradition - im Sinne frühromantischer Poetik das Prinzip der szenischen Improvisation kultivieren. Ist schon bei Tieck diese Aneignung (einerseits der italienisch-französischen und andererseits der englischen Volkstheatertradition) recht unübersichtlich - ein »Irrlichtzauber von Reflexen der commedia dell'arte«" —, so verstärkt sich beim frühen Grabbe das irrationale subjektive Moment der Inanspruchnahme dieser Gestaltungserfahrungen im Sinne seiner auf aggressiven Protest gerichteten Wirkungsvorstellungen. Zugleich verändert sich der ästhetische Ton in der Verwendung der komischen Mittel: aus feiner romantischer Ironie wird grobe, gehässige und gelegentlich bösartige Satire, die allenfalls noch einen derben Humor zuläßt. Insgesamt verwandelt sich die romantische Komödie in ein gesellschaftskritisches Lustspiel, das die Annahme einer »verkehrten Welt« nicht mehr nur in der ästhetischen Sphäre akzeptiert, sondern als zutiefst tragischen Ausdruck eines letztlich perspektivlosen Wirklichkeitsverständnisses begreift, das sowohl klassische wie romantische Konzepte negiert. Demgegenüber führt Georg Büchner eine andere ästhetische Variante der frühromantischen Komödie fort, die Heinrich Heine in der »Romantischen Schule« an Brentanos Lustspiel »Ponce de Leon« gerühmt hat40 - , die Freisetzung romantischer Phantasie allein durch sprachliche Mittel und dies nicht nur auf Brentano beschränkt, sondern den weiten Horizont des europäischen romantischen Schrifttums aktivierend, der bis zu Mussets Lustspiel »Fantasio« (1833) reicht. Die sich potenzierende sprachliche Improvisation entfaltet sich in »Leonce und Lena« (wie in »Ponce de Leon«) auf der Grundlage eines extrem geschlossenen und einheitlichen Fabel- und Handlungsmodells und mithin in einer sehr homogenen Form, die von der geradezu heterogenen Gestalt von »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung« abzuheben ist. Wie im Genre des Geschichtsdramas, so drängt Georg Büchner auch hier auf intensive Reflexion der gesellschaftlichen Problematik in Monolog- und Dialogszenen (es gibt nur zwei kleine Ensembleszenen), eben in Figurenrede, vor allem von Leonce, der allein ca. 4 0 % des gesamten

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Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie. Commedia dell'arte und Théâtre italien. Stuttgart 1965, S. 388. 4 ° Heinrich Heine: Sämtliche Werke. Hrsg. von Ernst Elster. Leipzig und Wien, o . J . , Bd. 5, S. 308.

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Lothar Ehrlich

Textmaterials beansprucht4'. Büchner respektiert die geschlossene Komödienstruktur, bietet in einer künstlichen Spielwelt einen verdichteten Handlungskern, der allerdings brennpunktartig ständig auf die gesellschaftliche Realität verweist, und thematisiert und problematisiert zentrale soziale, politische und ethische Ideologeme in einer Vielzahl von geistvollen sprachlichen Variationen und Improvisationen. Mit dieser extremen Kunstgestalt parodiert »Leonce und Lena« sowohl das klassische als auch das romantische Lustspiel. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hier möchte, hier muß ich einhalten. Jeder, der die Geschichte des deutschen Dramas im Vormärz kennt, weiß, daß wir uns in den nächsten Tagen kein leichtes Programm gegeben haben: Grabbes Beziehungen zu Tieck und Kleist, zu Büchner und Hebbel, zum Jungen Deutschland, schließlich zur Tradition des europäischen Volkstheaters und manches mehr. Schon bei der ersten Annäherung an das Thema »Grabbe und Büchner« ergaben sich unter verschiedenen geistigen und ästhetischen Aspekten sehr widerspruchsvolle produktions- und rezeptionsgschichtliche Zusammenhänge, die durch vergleichende Untersuchungen anderer Texte zu differenzieren wären. Dem Verhältnis von dramaturgischer Tradition und Innovation am Beispiel der Beziehungen des Büchnerschen Werks zu Grabbes provokatorischen und disparaten theatralischen Angeboten ist im einzelnen sicher noch weiter nachzugehen. Zunächst aber räume ich nun das mir überlassene »Feld«, mit der Hoffnung, daß die Werke Grabbes auch durch die Wirkungen dieses zweiten Symposiums immer weniger — wie Immermann in Weimar 1837 formulierte - »Böhmische Dörfer« bleiben.

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Vgl. Thomas Wohlfahrt: Georg Büchners Lustspiel »Leonce und Lena«. Kunstform und Gehalt. In: Studien zu Georg Büchner. Hrsg. von Hans-Georg Werner. Berlin und Weimar 1988, S. 1 0 5 - 1 4 6 .

Harro Müller

Poetische Entparadoxierung: Anmerkungen zu Büchners »Dantons Tod« und zu Grabbes »Napoleon oder Die hundert Tage« In meinem Artikel möchte ich Lesarten miteinander in Beziehung setzen, welche die Lektüre von Georg Büchners »Dantons Tod« und Christian Dietrich Grabbes »Napoleon oder Die hundert Tage« bei mir hervorgerufen haben. Es geht mir weniger um die in der Literaturwissenschaft stets auch gern behandelte Fragestellung, wie diese Texte nun literaturgeschichtlich, epochengeschichtlich einzuordnen seien. Jenseits dieses legitimen Rubrizierungsinteresses und leicht quer zur skizzierten Tagungsproblematik möchte ich Vorschläge unterbreiten, wie man beide Dramen vergleichend lesen könnte. Was ich biete, ist natürlich nicht das, was sich beim stummen, mehrfachen Lesen mit unterschiedlichen Lesegeschwindigkeiten jeweils ereignet, sondern dessen kommunikative Bearbeitung. Dabei findet eine Transposition vom psychischen ins soziale System statt; es handelt sich also — im Hinblick auf die Texte, ihr poetisches, theoretisches, literaturwissenschaftliches Umfeld — um das Formulieren von Anschlußkommunikation, die wiederum auf Anschlußkommunikation angewiesen ist. Deshalb gibt es auch keine Lektüre, die dem Werk streng entspricht und korrespondenztheoretisch abzusichern wäre. Gleichviel ist Anschlußkommunikation keine pure Phantasterei, obwohl die Kontextargumente - zumindest prinzipiell - intern und extern nicht abzuschließen sind. Sie verfahrt selektiv, exklusiv und konstruktiv und stellt den Anspruch, eine brauchbare, eine diskutable Beschreibung zu liefern. Nachdem ich mich auf der Tagung 1986 recht ausgiebig mit dem NapoleonDrama beschäftigt habe", interessiere ich mich im ersten - längeren - Teil dieses Artikels für Büchners »Dantons Tod«, im zweiten Teil ziehe ich Grabbes »Napoleon oder Die hundert Tage« vergleichend heran. Bei

Vgl. Harro Müller, Subjekt und Geschichte. Reflexionen zu Grabbes Napoleon-Drama, in: Christian Dietrich Grabbe 1801 — 1836. Ein Symposium, hg. v. W. Broer u. D. Kopp, Tübingen 1987, S. 96—113.

Harro Müller

diesem Vorhaben versuche ich einige Perspektiven - leicht verändert — zu verdeutlichen, die ich 1988 in einem Essay vorgestellt habe2.

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»Hier [bei einem als Gefängnis benutzten Gebäude] hatte sich eine ungeheure Menschenmenge angesammelt, während die Zahl der Mörder nur zwanzig betrug, zehn im Innern, die die Opfer aburteilten und zehn draußen, die sie niedermetzelten ( . . . ) . Sie waren mit schweren hölzernen Keulen versehen, und auf jeder Seite der Ausgangsthür standen fünf. Sowie sie merkten, daß diese geöffnet werden sollte, erhoben sie ihre Totschläger, und in dem Augenblick, wo einer der Unglücklichen, die ihnen anheimfielen, diese furchtbare Thür durchschritt, fiel er unter ihren Keulenschlägen, die ihm den Kopf zerschmetterten, und wurde von den Aufräumern beiseite gezerrt. Der Tod war umso unvermeidlicher, als die Gefangenen, die mit den Worten: >Fort mit dir!< entlassen wurden, beim Anblick der Menschenmenge langsam hinaustraten«'. »Nachdem der Henker ihm den Rock abgenommen hatte, der ihm über der Schulter hing, riß er roh den Verband ab, den ein Feldscher über seine Verletzung gelegt hatte; dabei löste sich die untere Kinnlade von der oberen; der Kopf des Elenden, der Ströme von Blut von sich gab, stellte nur noch ein greuliches und ekelhaftes Ding dar. Als dann das furchtbare Haupt abgeschlagen war und der Henker es an den Haaren packte, um es dem Volk zu zeigen, bot es das entsetzlichste Bild, das man sich vorstellen

!

Vgl. Harro Müller, »Man arbeitet heutzutag alles in Menschenfleisch.« Anmerkungen zu Büchners »Dantons Tod« und ein knapper Seitenblick auf Grabbes »Napoleon oder Die hundert Tage«, Grabbe-Jahrbuch 7 (1988) S. 7 8 - 8 8 . Ich habe den Vortragscharakter des Textes im wesentlichen belassen. Sekundärliteratur zu Büchner findet sich im nützlichen Realienband von Gerhard P. Knapp, Georg Büchner, 2. Aufl., Stuttgart 1984 (sm 159); ebenfalls in der vorzüglichen Interpretation von Hans-Georg Werner, »Dantons Tod«. Im Zwang der Geschichte, in: Studien zu Georg Büchner, hg. v. Hans-Georg Werner, Berlin 1988, S. 7 - 8 5 . »Dantons Tod« wird zitiert nach Georg Büchner, Werke und Briefe, hg. v. K . Pörnbacher u.a., München 1988 (dtv 2202); »Napoleon oder Die hundert Tage« nach Christian Dietrich Grabbe, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe in sechs Bänden, hg. v. A . Bergmann, Emsdetten 1960—1973 (im folgenden zitiert als G G A mit Band- und Seitenzahl).

'

Memoiren aus der Zeit der Französischen Revolution und des Kaiserreichs von General de Thiebault, hg. v. F. Mangold, Stuttgart 1902, S. 122.

Anmerkungen zu Büchners »Dantons Tod«

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kann. Auf diese Weise starb das blutgierigste Raubtier, der ungeheuerlichste Bösewicht, den die Natur je hervorgebracht hat«4. Diese beiden Zitate markieren die erweiterte Spieldauer des Stücks: von den sogenannten Septembermorden 1792 bis zur Guillotinierung Robespierres und seiner Equipe am 10. Thermidor 1794. Die gespielte Zeit des Dramas ist wesentlich knapper, sie reicht von der Guillotinierung der Hébertisten am 24. März 1794 bis zur Guillotinierung der Dantonisten am 5. April 1794. Georg Büchner thematisiert in seinem Stück einen Abschnitt der Französischen Revolution, der sich bis heute seiner Faszinationswirkung sicher sein kann, einen Abschnitt nämlich, in dem die Jacobiner als Revolutionsregierung den Ausnahmezustand auf Dauer gestellt haben. Innerhalb dieses Ausnahmezustands reagiert, agiert das Personal des Stückes, stets der Gefahr ausgesetzt, vorzeitig vom Leben zum Tode befördert zu werden: »Die Gleichheit schwingt ihre Sichel über allen Häuptern, die Lava der Revolution fließt, die Guillotine republikanisiert!« (III, 3) Außerordentliche Labilität des politischen Systems. (Konterrevolution von innen und außen, revolutionärer Zorn des Volkes angesichts der desolaten ökonomischen Situation gegen die eigenen Volksvertreter), große organisatorische Defizienzen und qualitative Einschätzungsdifferenzen in ideologischer und politisch-taktischer Hinsicht kennzeichnen die Situation. Die nicht homogene Jacobinergruppe besteht aus drei Faktionen; die dritte bildet sich im Verlauf des Stückes heraus. Zunächst kämpfen Robespierre, St. Just und ihre Equipe gegen Danton und seine Gefolgsleute und erreichen ihr Ziel : die Guillotinierung der Dantonisten. Robespierre setzt als politischer Rollenspieler, der an seine Rolle beim Rollenspiel glaubt, auf Tugend und Terror und proklamiert den Staat als Ort der aktiven, ethischen, tugendhaften Selbstverwirklichung des Menschen, der als Träger der volonté générale alles Partikulare, alles Individuelle in sich durchzustreichen habe. Danton und seine Anhänger sehen den Staat — innerhalb eines liberalen Denkmusters - als Garanten der individuellen Glückssuche. Beim Vernichtungskampf gegen die Dantonisten stellt sich nun heraus, daß Robespierre und St. Just ihren binären todbringenden Aufteilungsschematismus nicht funktional einsetzen, es streng ernst meinen und keine Rücksicht nehmen: Alle diejenigen, die nicht aktiv für das Tugendprogramm eintreten, sind Konterrevolutionäre und 4

Die Französische Revolution in Augenzeugenberichten, hg. von G . Pernoud u. S. Flaissier, 7. Aufl., München 1989, S. 391 (dtv. 2702).

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Harro Müller

liquidationsbedürftig. Der polemogene Charakter dieses rigiden Ethikprogrammes ruft nun die dritte Faktion ins Leben. Sie schält sich in III. 6 mit dem in Clichy sich verlustierenden, z. Z. aber ruhig gestellten, weil syphilitisch infizierten Barrere: »Robespierre will aus der Revolution einen Hörsaal für Moral machen und die Guillotine als Katheder gebrauchen«, mit Billaud »Bis jetzt geht unser Weg zusammen« und mit Collot eine neue Faktion heraus, in welcher diese zynischen Selbsterhaltungsstrategen und abscheulichen Machtpraktiker das Guillotinieren des Tugendhaften auf ihr Programm schreiben: Barrere: »Das wird leicht gehen. Die Welt müßte auf dem Kopf stehen, wenn die sogenannten Spitzbuben von den sogenannten rechtlichen Leuten gehängt werden sollten.« (III, 6) An diesem Extremfall: dem Ausnahmezustand mit seiner strengen Minimierung aller politischen, gesellschaftlichen, rechtlichen und privaten Verläßlichkeiten wird nun gezeigt, daß Geschichte im emphatischen Sinne nicht machbar und auch nicht herstellbar ist. Das ist kein Plädoyer für objektivem Fatalismus, weder bestimmen streng nomologische noch streng kausale Gesetzmäßigkeiten die Geschichte, vielmehr kennzeichnet sie ein Paradox-. Geschichte ist zugleich ein naturwüchsiger, subjektloser, quantitativer, repetitiver Prozeß ohne Ziel und ein qualitativer, interaktiver, einmaliger Prozeß mit Eingriffsmöglichkeiten und der Akzentuierung von teleologischen und progressiven Momenten. Dies Paradox ist begrifflich nicht auflösbar, läßt sich jedoch auf prekäre Weise temporalisieren. Man vergleiche nur folgende Äußerungen von Danton: »Männer meines Schlages sind in Revolutionen unschätzbar, auf ihrer Stirne schwebt das Genie der Freiheit.« (III, 4) »Ich habe im September die junge Brut der Revolution mit den zerstückten Leibern der Aristokraten geätzt.« (III, 4) »Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! Die Schwerter, mit denen Geister kämpfen, man sieht nur die Hände nicht, wie im Märchen.« (II, 5) Diese geschichtskonzeptuellen Voraussetzungen lassen unterschiedlich ausfallende Figurenkonstruktionen zu, so auch flache, schematische wie die des St. Just, der radikalsten Figur des Stückes, der — lange vor Jacob Burckhardt und Reinhart Koselleck - als Beschleunigungstheoretiker der Geschichte auftritt: »Soll überhaupt ein Ereignis, was die ganze Gestaltung der moralischen Natur d. h. der Menschheit umändert, nicht durch Blut gehen dürfen? Der Weltgeist bedient sich in der geistigen Sphäre unserer Arme eben so, wie er in der physischen Vulkane oder Wasserfluten gebraucht. ( . . . ) Ist es

Anmerkungen zu Büchners »Dantons Tod«

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denn nicht einfach, daß zu einer Zeit, w o der Gang der Geschichte rascher ist, auch mehr Menschen außer Atem kommen?« (II, 7) St. Just begreift Universalgeschichte als abgeschlossenen, semantisch eindeutigen und auch eindeutig entzifferbaren Text, der auf Verjüngung und Neugeburt zielt. Er postiert sich zugleich im Text und - Wiederaufnahme der Ausgangsparadoxie — außerhalb des Textes. Folglich ist St. Just Textzeichen und vermag zugleich — aus extramundaner Perspektive - den Text zu lesen, Interpunktionsfehler festzustellen und korrigierend mit dem Rotstift - »jedes Komma ein Säbelhieb und jeder Punkt ein abgeschlagner Kopf« (III, 6) - einzugreifen: »Wir schließen schnell und einfach: da Alle unter gleichen Verhältnissen geschaffen werden, so sind Alle gleich, die Unterschiede abgerechnet, welche die Natur selbst gemacht hat. Es darf daher jeder Vorzüge und darf daher Keiner Vorrechte haben, weder ein Einzelner, noch eine geringere oder größere Klasse von Individuen. Jedes Glied dieses in der Wirklichkeit angewandten Satzes hat seine Menschen getötet. Der 14. Juli, der 10. August, der 31. Mai sind seine Interpunktionszeichen. E r hat 4 Jahre Zeit nötig um in der Körperwelt durchgeführt zu werden, und unter gewöhnlichen Umständen hätte er ein Jahrhundert dazu gebraucht und wäre mit Generationen interpunktiert worden. Ist es da so zu verwundern, daß der Strom der Revolution bei jedem Absatz bei jeder neuen Krümmung seine Leichen ausstößt?« (II, 7) Das blutige Geschäft der Menschheitsverjüngung mit simpel ausgemalter, ironisierter Utopie - »Sie möchten uns zu Antediluvianern machen. St. Just säh' es nicht ungern, wenn wir wieder auf allen Vieren kröchen, ( . . . ) . « (I, 1) - ist eingefügt in materiale auf eine Erzählung zu bringende Geschichtsphilosophie; es bedarf zudem ästhetischer Legitimation. Dazu dient das Konzept der Erhabenheit. In der zum erhabenen Drama stilisierten Revolution gibt es immer wieder erhabene Augenblicke: »Alle geheimen Feinde der Tyrannei, welche in Europa und auf dem ganzen Erdkreise den Dolch des Brutus unter ihren Gewändern tragen, fordern wir auf, diesen erhabenen Augenblick mit uns zu teilen.« (II, 7) St. Just ist unerbittlich, unerschütterlich, rigoros. An dieser Figur werden die mörderischen Konsequenzen gezeigt, die materiale idealistische Geschichtsphilosophie und idealistische Erhabenheitsästhetik erzielen können, wenn sie im Ausnahmezustand auf politischem Felde praktisch werden. Nicht umsonst ist St. Just bei der Guillotinierung der Dantonisten der treibende Teil: »Sie müssen weg, um jeden Preis und sollten wir sie mit den eigenen Händen erwürgen.« (III, 6); Robespierre, der nicht im

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Machtzentrum der Jacobiner steht - St. Just: »Er tut als ob er etwas zu sagen hätte.« (III, 6), - zögert, stimmt zu, und dann läuft die Vernichtungsmaschine. Der Unbestechliche ist natürlich nicht so tugendhaft, wie er mit ungewöhnlich gut gespielter Glaubwürdigkeit vorgibt zu sein. Im großen bürgerlichen Revolutionstheater gibt es ein reiches Rollenset, er spielt den Tugendhaften und ist - außer in I, 6 — genauso flach angelegt wie St. Just. Er vermag die Tugendbedürfnisse des Volkes auf sich zu zentrieren und kann sich so zum qualitativ abgesetzten >Auge des Volkes< stilisieren, das stellvertretend tätig werden darf und muß: »Armes, tugendhaftes Volk! ( . . . ) Volk du bist groß. ( . . . ) Deine Gesetzgeber wachen, sie werden deine Hände führen, ihre Augen sind untrügbar, deine Hände sind unentrinnbar.« (I, 2) In der Rolle des unbestechlichen, untrügbaren Wächters der volonté generale, der scheinbar sämtliche kontingenten, individuellen, auch epikureisch-hedonistischen Elemente in sich getilgt hat, erzeugt er die Illusion, unparteiisch, verläßlich und fehlerfrei zu sein. Die von ihm monologisch geäußerte Einsicht: »Ob der Gedanke Tat wird, ob ihn der Körper nachspielt, das ist Zufall.« (I, 6) ist für seine öffentliche Präsentationspolitik folgenlos. Vielmehr ist er als »Polizeisoldat des Himmels« (I, 6) in der revolutionären Öffentlichkeit als Lehrer tätig. Seine Lehre ist folgende. Das politische System wird streng gemäß dem Code tugendhaft/lasterhaft, revolutionär/konterrevolutionär durchmoralisiert und anschließend entsprechend der Schmittschen Freund-Feind-Konzeption sortiert und guillotiniert. Alle anderen Codierungen wie z.B. gesund-krank, schönhäßlich, wahr-falsch, recht-unrecht, werden entweder mit dem Moralcode identifiziert oder streng nachgeordnet. Tugend wird übergeneralisiert und zum transzendentalen Signifikat gemacht. Das ist aus meiner Perspektive ein rigider, lernunfahiger, mörderischer Methodologismus, der von einer einzigen Hypothese lebt, die zur Substanzannahme aufgeblasen wird. Folglich kann die Tugendpolitikkonzeption im skizzierten Ausnahmezustand nur funktionieren, wenn Konterrevolutionäre stets ausgegrenzt und guillotiniert werden. Aus der Maschinerie des Guillotinierens kann Robespierre gar nicht ausbrechen; deshalb stellt die Guillotine für ihn ein technisches Problem dar: Es geht um die Dosierung der Fallhäufigkeit des konvex zugeschnittenen Guillotinebeils. Die Guillotinepolitik erfüllt eine Reihe von unterschiedlichen Funktionen : 1. In den Augen Robespierres und St. Justs, welche die Revolution als moralische Anstalt begreifen, ist sie der Ort, wo unbestechliche Volkssouveränität in Aktion gezeigt wird, w o die Volksfeinde öffentlich in einem

Anmerkungen zu Büchners »Dantons Tod«

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Zeremoniell guillotiniert werden, an dem das Volk als Zuschauer teilnehmen kann. Danton und seine Anhänger werden deshalb innerhalb eines hermeneutischen Bürgerkrieges zu Volksfeinden gemacht: »Das Laster ist das Kainszeichen des Aristokratismus.« (I, 3) 2. Die Guillotine hat eine integrative Funktion. So bestätigt die Guillotine die Individualität des jeweiligen Opfers nur, um sie anschließend zu annihilieren. »Der Korb, in den die abgetrennten Köpfe fallen, ist gewissermaßen die Urne, in der — ex negativo - durch reinigende Wahlen die Stimmen für den Gemeinwillen gesammelt werden«1. 3. So ist die Guillotine eine Konsensbeschaffungsmaschine, die Momente von Erhabenheit zwischen Volksvertretern und Volk produziert. Man kann sich auf diese Weise in das Phantasma des einen gesunden, tugendhaften Volkskörpers einschreiben, der sich mit aktiver Liquidationspolitik gegen blutsaugerische, volksfeindliche Parasiten zu wehren habe. 4. Sodann ist die Guillotine als schreckenerzeugende Schreckensmaschine der mit dem »Sinn des Tigers« (IV, 2) ausgestatteten Schreckensmänner zugleich ein strenges Disziplinierungsunternehmen zur Unterdrückung des Volkszorns mit seiner anarchischen Totschlägermentalität: »Das Volk ist ein Minotaurus, der wöchentlich seine Leichen haben muß, wenn er sie nicht auffressen soll.« (I, 4) 5. Ihre wichtigste Funktion ist ein Ablenkungsunternehmen, und zwar von der äußerst bedrückenden materiellen Misere. Sie bietet in grausiger Umkehrung der Eucharistie »Köpfe statt Brod, Blut statt Wein« (III, 10) und hat damit partiell Erfolg. Ein Weib mit Kindern: »(...) Die Kinder schreien, sie haben Hunger. Ich muß sie zusehen machen, daß sie still sind.« (IV, 7) Robespierres Engführung von moralischem, politischem, juridischem und ästhetischem Diskurs zeigt sehr genau den mörderische Effekte zeitigenden Widerspruch zwischen amoralischem Selbsterhaltungssystem mit seinen funktionalen politischen Strategien und einer substantiellen Tugendkonzeption, die suggeriert, Politik, Jurisprudenz, Ästhetik unter den Generalnenner Tugend subsumieren zu können. Deshalb sind die Idealisten Robespierre und St. Just, die ja die Liste der Opfer festlegen, schäbige Verfahrensmanipulationen und lügenhafte Propagandapolitik betreiben oder zumindest billigend in Kauf nehmen, Killmaschinen, die dem Köp'

Vgl. das kluge, im Foucaultschen Geist geschriebene Buch von Daniel Arasse, Die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit, Reinbek 1988, S. 108.

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fungsritual so lange Opfer zutreiben, zutreiben müssen, bis diese kopflosen Politiker selbst Kopf-los gemacht werden. Die moralische Anstalt Revolution gebiert Ungeheuer, bei denen die Moralkonzeption ein Selbstzuschreibungsmechanismus ist. Weder das Volk ist Souverän, noch die Volksvertreter sind Souverän; wenn es einen Souverän im Ausnahmezustand gibt, dann ist es die heilige Guillotine, die als Metapher und Metonymie zugleich funktioniert: Metapher, weil im Augenblick des Abmähens des Kopfes - bei dieser sanften Hinrichtungsweise verspürt der Delinquent nur eine leichte Frische am Hals (der Philanthrop Guillotin)6 gemäß dem Muster einer expressiven Totalitätskonzeption Souveränität in Aktion gezeigt wird, Metonymie, weil innerhalb dieses Souveränitätsschematismus der Augenblick nicht festgehalten, nicht verzeitlicht, nicht verräumlicht werden kann, sondern weitere Augenblicke, weitere Köpfungen einfordert. Robespierre — »Das Beil der Guillotine war ihm noch nicht genug geschäftig. Man sprach von einer neu erfundenen Mordmaschine, die neun Köpfe auf einmal herunter schlagen könnte. Diese Erfindung gefiel ihm«7 — und St. Just sind Funktionäre und Sinnagenten der Revolution. Auf dieses traurige, mörderische Doppelspiel will sich Danton - als Figur komplex und widersprüchlich angelegt - nicht mehr einlassen. Zu sehr leidet er unter dem, was man Heterogonie der Zwecke nennt: »Man arbeitet heut zu Tag Alles in Menschenfleisch. Das ist der Fluch unserer Zeit. Mein Leib wird jetzt auch verbraucht. Es ist jetzt ein Jahr, daß ich das Revolutionstribunal schuf. Ich bitte Gott und Menschen dafür um Verzeihung, ich wollte neuen Septembermorden zuvorkommen, ich hoffte die Unschuldigen zu retten, aber dies langsame Morden mit seinen Formalitäten ist gräßlicher und eben so unvermeidlich.« (III, 3) Allerdings macht er noch einige halbherzige Versuche, das Ruder herumzureißen, verschätzt sich, zeigt sich noch einmal als großer Revolutionsrhetoriker, ehe er im Gefängnis metaphysische Sätze absondert und anschließend in solidarischer Aktion mit seinen Freunden die Guillotine besteigt: einer nach dem anderen und Danton als letzter. Dabei zeigt auch der desengagierte Danton erstaunlich ambivalente Züge. Er, der das mörderische Projekt der Vollendung der sozialen Revolution (Robespierre) aufgegeben hat, verfolgt sprachmächtig einen individuellen Hedonimus, ein Epikureertum, das um individuellen Genuß zentriert ist. Nur sind seine Versuche des Genießens stets mit Mangel- und Insuffizienzerfahrungen 6 7

Arasse (Anm. 5), S. 28. Zitiert nach Arasse (Anm. 5), S. 199.

Anmerkungen zu Büchners »Dantons Tod«

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verknüpft. Nicht umsonst heißt es, daß er Mosaik mache (I, 4), und auf Marions Feststellung: »Danton, deine Lippen haben Augen« (I, 5), antwortet Danton mit einem Wunsch, dessen vergeblicher Charakter deutlich zu erkennen ist: »Ich möchte ein Teil des Äthers sein, um dich in meiner Flut zu baden, um mich auf jeder Welle deines schönen Leibes zu brechen.« (I, 5) Im Gespräch mit Robespierre ist für Danton das Gewissen »ein Spiegel vor dem ein Affe sich quält« (I, 6). Allerdings sind es nun gerade die Gewissensqualen, die die Septembermorde bei ihm hervorrufen, die ihn nicht zur Ruhe kommen, die ihn immer wieder den regressiven Wunsch, reflexionslos ins Nichts überzugehen, artikulieren lassen. Dabei äußert der Atheist Danton in der Tunnelsituation des Gefängnisses einmal resümierend: »Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott« (IV, 5); andererseits weiß Danton, da er ja etwas ist, daß er als Etwas nicht ins Nichts übergehen kann (III, 7), und: »Das Nichts hat sich ermordet, die Schöpfung ist seine Wunde, wir sind seine Blutstropfen, die Welt ist das Grab worin es fault« (III, 7). Als dann die Guillotinierung immer näher rückt, gesteht der vielseitige Rollenspieler Danton durchaus ein: »s'ist so elend sterben zu müssen« (IV, 3) und »ich lasse Alles in einer schrecklichen Verwirrung. Keiner versteht das Regieren.« (IV, 5) Das arme, genußstumpf gemachte Volk leidet bittere Not: »Ihr Hunger hurt und bettelt« (1, 2), wird ausgebeutet: »Unser Leben ist der Mord durch Arbeit« (1, 2), es ist weder Klasse an sich noch Souverän, sondern vielfachen Blendungen ausgesetzt und zu partiellen Einsichten wiederum fähig. Es ist aber ein äußerst wichtiger, stets zu bedenkender Faktor im revolutionären Kräftespiel, das parasitäre Spiel der spitzbübischen Dantonisten durchaus punktuell durchschauend, und von einer mörderischen Energie, die der Lenkung und Disziplinierung bedarf. Mit diesem Augenblickseingebungen folgenden Volk ist kein Staat zu machen. Man stelle sich doch einmal vor, die artikulierten Totschlägerparolen »Totschlagen, wer kein Loch im Rock hat! Totschlagen, wer lesen und schreiben kann! Totschlagen, wer auswärts geht!« (I, 2) — würden unbarmherzig und dauerhaft verfolgt: Alle Jacobiner ohne eine einzige Ausnahme müßten totgeschlagen werden. Aber das Volk hat etwas, was auf andere Weise Danton und die Dantonisten besitzen und was St. Just und Robespierre nicht haben, es hat Witz und Sinn für Komik. So läßt es z.B. den geistesgegenwärtigen jungen Mann - » ( . . . ) , ihr werdet deswegen nicht heller sehen«. (I, 2) - entwischen. Es ist äußerst unzuverlässig, aber für Widersprüche, die Komik erzeugen, empfanglich, besitzt auch Sprachwitz, spielt in und mit der

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Signifikantenkette, während Robespierre und St. Just einen tiefernsten Diskurs der Entschiedenheit produzieren, der - bar jeglicher Komik und Ironie — sich partiell erhabenem Kitsch annähert. Und dieses ernste Schreckensstück ist ja überhaupt auf vielfache Weise von komisch-witzigen, zynisch-kynischen Partien durchzogen; der LiebeErotik-Sexualität-Diskurs in seinen vielfachen auch derb-zotigen Schattierungen spielt eine beträchtliche Rolle im vielfältig angelegten Diskursuniversum des Stückes. Ich nehme nur zwei Beispiele. Blasphemischen Witz produziert Lacroix, wenn er die Grisetten »Priesterinnen mit dem Leib« oder »Nönnlein von der Offenbarung durch das Fleisch« (I, 5) nennt, derben sexuellen Witz produziert Hérault, als er, auf der Bühne der Guillotine stehend, das Ritual des Abschiedsspruchs vom Volk vollzieht. Dabei ist es nützlich zu wissen, daß Sanson, der Henker, den zu Guillotinierenden den Hals freilegte, indem er ihnen die Haare abschnitt und sie anschließend verkaufte. Eine Frau ruft: »Hérault, aus deinen hübschen Haaren laß' ich mir eine Perücke machen.« Héraults Antwort: »Ich hab nicht Waldung genug für einen so abgeholzten Venusberg.« (IV, 7) Die paradoxe Geschichtskonzeption erfordert - poetologisch gewendet - eine entscheidende Relativierung der Fabel, mindert die Identitätspräsuppositionen im Hinblick auf die einzelnen Figuren und favorisiert - in dem von Büchner betriebenen Spiel Verräumlichung vor Verzeitlichung: starke Priorität metanarrativer Diskursformationen vor Ereignisverkettungen. Dennoch läßt sich durchaus ein Geschehen narrativieren und chronologisch anordnen. Allerdings sind die vier Akte in ihrer Abfolge so angelegt, daß das Schwergewicht auf thematische, paradigmatisch angeordnete Verknüpfungsmuster gelegt wird. Ein Netz unterschiedlich stark miteinander verbundener Äquivalenzklassen durch- und überspannt das ganze Stück. Es gibt keinen archimedischen Punkt, auf den das Stück streng zu beziehen wäre, und auch die Guillotine ist aufgrund ihres metaphorisch-metonymischen Doppelcharakters ein Zentrum, das sich augenblicklich selbst dementiert. Die Ausgangsparadoxie wird vielmehr so entparadoxiert, daß sich dem selektiven Blick des Rezipienten eine Reihe von Möglichkeiten der Signifikatfeststellung bieten. Ich nenne Hauptanschlußpunkte, die dazu einladen, interpretativ zu Ecksteinen des Stückes erklärt zu werden. 1. Die von Julie und Lucie praktizierte Freiheit zum Tode ist Zeichen der Unbedingtheit ihrer Liebe. Daß auch für manche die Marion-Figur aufgeladen ist als Zeichen für ein utopisches, unentfremdetes Glück, leuchtet mir nicht ein. In ihrer Form der Entindividualisierung sind Paral-

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lelen mit St. Just und Robespierre unübersehbar, und ihre Apologie stets erfüllter Augenblicke ist ein Phantasma, das vom Mangel, der dem Begehren eingezeichnet ist, nichts weiß. 2. Das Sterben der Dantonianer als Akt der Solidarität: Gleichheit und Brüderlichkeit im Tode. »Kannst du [Sanson] verhindern, daß unsere Köpfe sich auf dem Boden des Korbes küssen?« (IV, 7) 3. Dynamisierte Naturmetaphysik, die auf natura naturans zielt: »Von der Schöpfung, die glühend, brausend und leuchtend, um und in ihnen, sich jeden Augenblick neu gebiert, hören und sehen sie nichts.« (II, 3) 4. Negative Ontologismen : »Die Welt ist das Chaos. Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott.« (IV, 5) »Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen worden, es fehlt uns was, ich habe keinen Namen dafür, wir werden es uns einander nicht aus den Eingeweiden herauswühlen, was sollen wir uns drum die Leiber aufbrechen?« (II, 1) 5. Anthropologische, metahistorisch situierte Annahmen: »(...) wir sollten einmal die Masken abnehmen, wir sähen dann wie in einem Zimmer mit Spiegeln überall nur einen uralten, zahnlosen, unverwüstlichen Schafskopf, nichts mehr, nichts weniger. Die Unterschiede sind so groß nicht, wir Alle sind Schurken und Engel, Dummköpfe und Genies (...).« (IV, 5) 6. Theatralisierung der Geschichte zum Drama, zur Komödie mit tödlichem Ende: »wir stehen immer auf dem Theater, wenn wir auch zuletzt im Ernst erstochen werden.« (II, 1) Es werden also eine ganze Reihe möglicher Anschlußstellen für Signifikatfeststellung offeriert. Auffallig ist, daß diese z.B. auf politischem Feld vage ausfallen und auch bei Hérault und Camille nicht die Ebene anschlußfahiger Programmatik erreichen. Werden nicht negative Ontologismen oder ästhetisch tingierte Naturmetaphysik transportiert, siedeln sich die Sinnmöglichkeiten eher auf einer metahistorischen Ebene an, zielen auf den zwischenmenschlichen Bereich (Liebe, Solidarität), sind vortrefflich mit einem mitleidenden humanistischen Materialismus zu verknüpfen, der allerdings auch etwas von dem kennt, was Adorno »Aroma des Materialismus« genannt hat : »Das Gemeinsame an allem Materialismus ist (...), das am Tod Verdrängte in seiner ganzen Schwere in das Bewußtsein aufzunehmen. Also zum Materialismus gehören wesentlich dazu Erfahrungen von der Leiche, von der Verwesung, von dem Tierähnlichen«8. '

Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie, Bd. 2, Frankfurt 1974, S. i8of. (stw 24).

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Nun ist das Faszinierende, daß dieser humanistische Materialismus nicht dogmatisch ruhiggestellt ist, sondern zutiefst beunruhigt, zutiefst irritiert ist durch ein Rätsel, durch ein im Stück nicht auflösbares Rätsel, das Danton im Rückblick auf die Septembermorde als Frage formuliert: »Es muß, das war dies Muß. Wer will der Hand fluchen, auf die der Fluch des Muß gefallen? Wer hat das Muß gesprochen, wer? Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?« (II, 5) Auf diese Frage weiß das Stück keine Antwort, auf diese anthropologisch situierte, metahistorische Frage nach dem Es, nach dem Muß, nach dem Das wußte Büchner keine Antwort, vielmehr enthielt diese Frage nach dem inneren Ausland das Produktionsstimulans, das in einer äußerst bedrängenden Situation einen poetischen Text hervorgerufen hat, der begriffliche Antworten, die auf eine Lehre oder gar auf ein Rezept zielen, weit hinter sich läßt.

II. Ein Text-Ereignis, ein produktives Spiel zwischen Poiesis und Mimesis stellt nun auch Grabbes Napoleon-Drama dar; beide sind historische Dramen, d.h. beide benutzen ein historisch beziehbares Figurenset und gehorchen zeitlichen und räumlichen Referenzgeboten. Und auch Grabbe macht sich auf die Suche nach Auswegen, wollte neue Seiten im Buch der Geschichte aufschlagen, sich als Akteur allererst in dies Buch eintragen: »Die Guillotine der Revolution steht still und ihr Beil rostet, - mit ihm verrostet auch manches Große, und das Gemeine, in der Sicherheit, daß ihm nicht mehr der Kopf abgeschlagen werden kann, erhebt gleich dem Unkraut sein Haupt. Napoleons Schlachtendonner sind gleichfalls verschollen. ( . . . ) Mit Napoleons Ende ward es mit der Welt, als wäre sie ein ausgelesenes Buch, und wir ständen, aus ihr hinausgeworfen, als die Leser davor«'. Folgt man Grabbes eigenen Aussagen, ist Thema des Dramas nicht napoleonisches Heroentum, sondern die Revolution:»(...) er ist kleiner als die Revolution, und im Grunde ist er nur das Fähnlein an deren Mäste, nicht Er, die Revolution lebt noch in Europa. ( . . . ) Nicht Er, seine Geschichte ist groß. ( . . . ) Er hat oft gesiegt, seine Trommeln tönen vielen Eseln noch so laut, wie Paganinis elende G-Saite (nämlich des genialen Charlatans), (...)«'°. Und die Revolution ist - genau wie in Büchners 9 G G A Bd. 4, S. 93. G G A Bd. 5, S. 306.

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Anmerkungen zu Büchners »Dantons Tod«

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Drama — nicht auf einen Charakter, eine Gestalt, eine Figur reduktibel. Danton: »Wir haben nicht die Revolution, sondern die Revolution hat uns gemacht.« (II, 1) Vitry: »Den Kaiser und uns hat die Revolution gemacht, diese aber — >die echten Ohnehosen und Schonungslosem (III, 1) nennt er sie an anderer Stelle - machten die Revolution und den Kaiser.« (III, 1) Revolution als Theater, Revolution als Komödie findet sich in beiden Stücken. Danton: »Wir stehen immer auf dem Theater (...).« (II, 1) Der Kopfabhacker von Versailles und Avignon Jouve: »s'ist ja doch alles Komödie.«

(IV, 1) Die gespielte Zeit zentriert sich auf Napoleons hundert Tage und deren unmittelbare Vorgeschichte. Aber auch in diesem Stück erweiterte Spieldauer: Ausgewählte Abschnitte der französischen Revolution seit 1789 werden ebenso mitbehandelt, wie es Verweise auf die 1815 einsetzende Restaurationsperiode und auf die Französische Julirevolution 1830 gibt. So nimmt Napoleon z. B. in leicht ironischer Rede Stellung zur jacobinischen Schreckensperiode und bemüht in apologetischer Absicht den »Strom der Geschichte« als Weißwäscher. Napoleon in einem Gespräch mit Carnot: »Der gute, wohlmeinende Advokat aus Arras, Robespierre, mußte zum Schreckensmann werden, als er die Republik aufrechterhalten wollte, und Sie selbst waren sein Kollege. Dafür haben die Zeitungsschreiber ihn und Sie so mit Tinte Übergossen, daß es lange währen wird, ehe der Strom der Geschichte beide wieder weiß wäscht.« (III, 3) Beide Stücke minimieren den Wert der Fabel, das Figurenset wird polyperspektivisch ohne starke Identitätsannahmen präsentiert, beide Stücke machen Front gegen materiale idealistische Geschichtskonzeptionen und geben wenig Anlaß, die Geschichte zu der einen in sich kohärenten und kontingenzdementierenden Universalgeschichte zu stilisieren. Freilich ist Grabbes Text im Vergleich zu Büchners weniger komplex konstruiert, springt auch nicht z. B. so wirkungsvoll zwischen differenten Diskursen, z.B. zwischen politischem und humanistisch-anthropologischem Diskurs hin und her, bietet nicht den Facettenreichtum und die intertextuelle Verweisungsvielfalt des Büchner-Stückes mit seinen vielseitig anschließbaren Sinnangeboten ohne durchgeführte Sinnlinie. Grabbe inszeniert kein Stück anthropologisch tingierter Compassion, das Erbarmen kennt, dafür schreibt er sich zu sehr in eine Diskursformation ein, die Michel Foucaült historisch-politisch nennt: »Im Gegensatz zur philosophisch-juridischen Theorie sagt sie: die politische Macht fängt nicht dann an, wenn der Krieg aufhört. Die rechtliche Organisation der Macht, die

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Harro Müller

Struktur der Staaten, der Monarchien, der Gesellschaften hat ihr Prinzip nicht dort, wo der Lärm der Waffen verstummt. Der Krieg ist nicht zu Ende. Zunächst hat er die Geburt der Staaten geleitet. Das Recht, der Frieden, die Rechte sind im Blut und im Schlamm der Schlachten geboren worden« 11 . Die geschichtskonzeptuelle Ausgangskonzeption ist in beiden Stücken paradox. Beide Autoren präferieren Paradoxie vor Tautologie, das erklärt z.T. ihren revolutionierenden Impetus. Bei Grabbe ist allerdings ein unterschiedliches Entparadoxierungsverfahren zu beobachten. Geschichte als permanente Kriegsgeschichte mit politischen Pazifizierungsmöglichkeiten läßt sich phasenspe^ifisch aufschlüsseln. Es gibt Phasen des strengen Mittelmaßes mit starker Akzentuierung repetitiver Elemente, und es gibt Phasen wie auch immer gebrochener heroisch-erhabener Erhebung mit Innovationsmarkierung. Auch die Dauer dieser zweiten Phase ist unverbürgt, es existiert keine Ablaufgarantie für sie im kontingenten Glücksspiel der Geschichte. In die historischen Kräfteverhältnisse, in die historischen Machtverhältnisse ist kein archimedischer Punkt eingeschrieben, auf den alles zu beziehen wäre; daher die außerordentlich ambivalente, polyperspektivisch angelegte Präsentation der Napoleon-Figur, bei der Mythisierungs- und Demythisierungsverfahren eingesetzt werden12; äußerst ambivalent auch die Darstellung des Volkes, das einerseits im relationalen Kraftfeld der Geschichte als anarchische Killmaschine auftaucht, die voller Sadismus satanisch tätig wird (Jouve), das aber zugleich die normativen Zielvorstellungen des Jacobinismus aufrecht erhält. Tendenziell ist dieses auf das politische System sich zentrierende Stück mit seiner Favorisierung des politisch-historischen Diskurses dadurch gekennzeichnet, daß Machtverhältnisse vor Sinnverhältnissen zu plazieren sind, ohne daß man eine strenge Supplementarität postulieren müßte. Es ist insofern einseitiger und zugleich radikaler und kälter als das BüchnerDrama und eignet sich deshalb kaum zur Kanonisierung als Klassiker mit den stets damit verknüpften Verharmlosungsstrategien. Sich selbst dementierendes Zentrum ist nicht die Guillotine, sondern der Krieg, der auch in der Friedenszeit des ersten Teils anwesend ist und im zweiten Teil des Dramas, dem Schlacht-Teil seine metonymische Kraft entfaltet: "

Michel Foucault, Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte, Berlin 1986, S. 11 (Merve 15}).

"

Dieter Lieverscheidt, » . . . seine Trommeln tönen vielen Eseln noch zu laut.« Grabbes »Napoleon« oder die ästhetische Einheit, Grabbe-Jahrbuch 8 (1989), S. 1 —11, spez. S. 5 ff.

Anmerkungen zu Büchners »Dantons Tod«

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Lord Somerset: »O schau dort — wieder eine ganze Reihe der Bergschotten hinsinkend wie Ähren vor der Sichel - Und hier - das erste Glied des Leibregiments ebenso - Das zweite marschiert lächelnd ein, Milch und Blut auf den Wangen, die frischeste Jugend, die jemals im heiteren England schimmerte — ha, und da winseln sie auch schon im Staube.« (V, 4)

III. Bei François Furet, dem berühmten französischen Historiker und Medienstar des noch andauernden Revolutionserinnerungsspektakels, ist zu lesen, daß die Französische Revolution zweimal aus dem Gleise geraten sei, erstens in der Terrorherrschaft Robespierres, zweitens in der Militärmonarchie Napoleons, und insofern nicht als Emanzipationsgeschichte der Bourgeoisie begriffen werden könnte. Und dann habe er wieder die Revolutionsdarstellungen von Michelet, Tocqueville, Taine gelesen, die ihm das Nichtvorhersehbare der Revolution klargemacht hätten1'. Er hätte auch zu den konstruktiven Geschichts-Spielen von Grabbe und Büchner greifen und dort manches erfahren können, was in den Geschichtsbüchern - bis heute - kaum zu finden ist.

'> Vgl. François Furet, Die Revolution denken, in: Pariser Gespräche, hg. v. F. Ewald, Berlin 1989, S. 131 ff. (Merve 148).

R o y C. Cowen

Grabbe und das Junge Deutschland

An die Biedermeierzeit denkt man heutzutage oft als eine Zeit der Gemütlichkeit und Behaglichkeit gerne zurück, und in diesem Sinne kauft man »altdeutsche Möbel«, hängt Spitzweg-Bilder an die Wand und stöbert alte Bauernhäuser nach Antiquitäten ab. Zugleich erkennt der Historiker, daß das ruhige Leben der Zeit nach 1815 nicht zum geringsten Teil durch strenge Unterdrückungsmaßnahmen aufrechterhalten wurde. Besonders schwer wurden natürlich die Dichter und andere Vertreter des geschriebenen und gesprochenen Wortes getroffen, und es folgt, daß der heutige Literaturhistoriker sich besonders bemühen möchte, gerade diesen, die Hohlheit und Schwächen der Biedermeierkultur durchschauenden Dichtern eine wohlverdiente Anerkennung zukommen zu lassen. Im Jahre 1835 meinte die Zensur der Metternich-Ära eine »verderbliche« und gefährliche Literatur unterdrückt zu haben. In diesem Jahre wurden nämlich die Schriften von Karl Gutzkow, Heinrich Heine, Heinrich Laube, Theodor Mündt und Ludolf Wienbarg verboten. Dieses Verbot erreichte aber im Rückblick gerade das Gegenteil von dem, was beabsichtigt war. Denn durch seinen Beschluß verlieh der deutsche Bundestag dem sogenannten, durch die verbotenen Schriftsteller vertretenen »Jungen Deutschland« als Gruppe, die es eigentlich nicht war', eine histo'

So schreibt Helmut Koopmann: Das Junge Deutschland: Analyse seines Selbstverständnisses (Stuttgart: Metzler, 1970), S. 6: »Eine literarische Schule< im Sinne des Bundestagsbeschlusses hat es nie gegeben. Heine, Gutzkow, Laube, Wienbarg und Mündt sahen sich damals zu einer Gruppe zusammengeschlossen, die sie so nie gewollt hatten und zu der sie sich auch nachträglich nicht bereitfinden konnten.« Obwohl Koopmann Grabbe nur zweimal periphär erwähnt, und zwar wegen seiner Verbindung mit dem Phönix, müssen wir auch seine Feststellung beherzigen: »Die fünf im Bundestagsbeschluß Genannten bildeten keine Schule. Zur Bewegung des Jungen Deutschland aber rechneten sie — und rechneten sich - gelegentlich jedenfalls noch sehr viel mehr Namen« (S. 20). Leider kommt Grabbes Name in dieser Liste nicht vor: »Man tut gut daran, sich das vor Augen zu halten, um zu sehen, wie groß der Umkreis des Jungen Deutschland zeitweise war. Denn auch Robert Prutz, Ernst Willkomm, Richard Otto Spazier, Adolf Glassbrenner, Franz Kottenkamp, Franz August Gathy, Johannes Scherr, August Lewald, Varnhagen und Fürst Pückler-Muskau könnten in gewisser Weise noch zum >Ganzen< des Jungen

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rische Bedeutung, die es sonst nie für sich in Anspruch hätte nehmen können, und erst recht nicht in bezug auf das Drama2. Wir merken zum Beispiel sofort, daß das Verbot lediglich nichtdramatische Werke betraf. Dies überrascht keineswegs. Denn vor 1839 hatte keiner dieser in die Geschichte als »Jungdeutsche« eingegangenen Schriftsteller ein Drama geschrieben, das aufgeführt oder weitverbreitet worden war. Heine hatte zwar zwei Tragödien versucht, aber ohne Erfolg. Aus Gutzkows Schriften vor dem berüchtigten Bundestagsbeschluß von 1835 sind lediglich König Saul, Nero und die »dramatische Phantasie« Hamlet in Wittenberg neben einigen dramatischen Fragmenten überliefert. Aber diese Stücke wirken ebensowenig aufrührerisch wie Heines Versuche, und ebenso bühnenunwirksam. Zwar fangen Gutzkow 1839 und Laube 1840 neue Laufbahnen als Dramatiker an. Aber gerade ihre Dramen sind so geschrieben, daß sie der Rehabilitierung der ehemaligen »Jungdeutschen« dienen sollen. Letzten Endes schneiden sie kaum ein umstrittenes Thema als streitbar an und zielen offensichtlich auf Kassenerfolg. Daß Laubes Karlsschüler auf Schwierigkeiten bei der Zensur stieß, ändert nichts daran, daß das Stück Scribe mehr zu verdanken hatte als dem jungen Schiller. Seinerseits überließ Heine anderen das Dramatisieren. Die am häufigsten erwähnte jungdeutsche Verbindung mit dem Drama vor dem Verbot liegt in Gutzkows Veröffentlichung einer verstümmelten Fassung von Dantons Tod von Georg Büchner. Dies geschah im Juni 1835. Allerdings war schon am 3. Januar 1835 ein Vorabdruck von ein paar Seiten aus Grabbes Hannibal in Eduard Dullers Phönix erschienen'. Obwohl nicht im Bundestagsbeschluß erwähnt, wird Duller, der spätere Biograph Grabbes, häufig zu den »Jungdeutschen« gerechnet. Nicht ohne Grund, denn er nahm schon im Januar Gutzkow in die Redaktion auf, und in der ersten Nummer der Beilage zum Phönix unter Deutschland gezählt werden, wenn man darunter Schriftsteller mit liberaler Tendenz und literarisch experimentierfreudige Zeitgenossen versteht, und sie sind auch dazugezählt worden« (S. 23). Wie wir aber im folgenden sehen werden, zählt nicht unbedingt, daß man »liberal« denkt, sondern überhaupt soziopolitisch, und zwar kritisch. * Über die Situation der Jungdeutschen in der Geschichte des Dramas siehe Roy C. Cowen: Das deutsche Drama im 19. Jahrhundert (Stuttgart: Metzler, 1988) ( = Sammlung Metzler 247). > Grabbes Werke werden zitiert nach: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe in 6 Bänden. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Bearbeitet von Alfred Bergmann (Emsdetten: Lechte, 1960-1973). Der Vorabdruck im Phönix erscheint als »Bruchstück der ältesten Fassung« (III, 3-6).

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Gutzkows Redaktion wird Grabbe erwähnt neben 51 anderen, die sich zu Beiträgen verpflichtet hatten. Nach Gutzkows Ankündigung am 7. Januar 1835 besitzen wir als Beweis für Grabbes Interesse am Phönix lediglich seinen Brief vom 21. April 1836 an Eduard Duller. Diesen Brief legte er seiner Besprechung von Bettine von Arnims Goethes Briefwechsel mit einem Kinde bei. Später erklärte Duller: Leider war die fragliche Recension, aus welcher Grabbes Aerger über alles, was Götzendienst hieß, in jeder Zeile hervorblitzte, aus Schicklichkeitsgründen nicht zu veröffentlichen, der treffliche Kanzleirath Fiedler, welcher damals das fatale A m t eine(s) Censors mit eben so viel Takt, als Humanität verwaltete, würde sich genöthigt gefunden haben, an dem Aufsatz gerade das Charakteristische zu unterdrücken 4 .

So blieb dieser Text bis 1900 verschollen. Was für weitere Kontakte Grabbe von seiner Seite aus mit dem eigentlichen Jungen Deutschland hätte entwickeln können oder wollen, kann bloß vermutet werden. Denn als der Skandal um diese Gruppe, die sich vorher nicht wirklich als Gruppe vorgekommen war, losbrach, hatte Grabbe nur noch etwa ein Jahr zu leben. Erst am 16. August 1835 erschien nämlich Gutzkows Roman Wally, die Zweiflerin, der bereits am 24. September 1835 nach einer Kritik von Wolfgang Menzel in Preußen verboten wurde. Am 10. Dezember 1835 erfolgte dann der berüchtigte Beschluß des Deutschen Bundestags. Damit boten Beziehungen zu Gutzkow oder anderen Jungdeutschen keine weiteren Möglichkeiten für Grabbe, seine Werke zu veröffentlichen. Aber selbst wenn Grabbe einem noch längeren Leben hätte entgegenschauen können, hätte er sich vermutlich nicht mit dem Jungen Deutschland verbunden. Dies belegt unter anderem sein Briefwechsel mit Wolfgang Menzel, d. h. mit dem »Denunzianten« der Jungdeutschen. So meint er am 25. November 1835, Gutzkow habe »widerwärtig« gegen Menzel gehandelt. Diese Äußerung soll jedoch nicht dahin ausgelegt werden, daß Grabbe sich zur Reaktion bekennt. Vielmehr soll lediglich festgehalten werden, daß Grabbe sich nicht genötigt fühlte, gleichsam als Gleichgesinnter für Gutzkow Partei zu ergreifen oder sich zum Jungen Deutschland rechnen zu lassen. Am stärksten geht dies aus Grabbes Bemerkung in seinem Brief vom 21. Juni 1836 an Petri hervor:

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Zitiert nach Bergmann, Werke und Briefe, IV, 630f.

Grabbe und das Junge Deutschland

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Gutzkow und das junge Deutschland sind in Verachtung gerathen, werden sich auch nicht herausretten, weil sie kein Talent haben. Sie wollten mich auch fangen. Ich hütete mich, doch diese Wally ist ganz ohne Bedeutung, und wird nur durch diese Broschüre einige erhalten, woran vielleicht Geldspeculanten, Professoren darunter, arbeiten. (VI, 540 f.)

Es soll übrigens hervorgehoben werden, daß sich Grabbe einer weitverbreiteten Ablehnung von Gutzkows Roman anschließt, daß sein Urteil also als gewissermaßen »objektiv« zu bewerten ist. Warum Grabbe Gutzkow und das Junge Deutschland als unbedeutend ansieht, erkennt man an einer Stelle in seiner Opern-Parodie Der Cid. Von den Jungdeutschen geradezu angehimmelt wurde nämlich Charlotte Stieglitz, die sich erdolchte, um ihren Mann Heinrich zu großen dichterischen Taten anzuregen. Von ihrer Tat inspiriert, folgten mehrere Werke wie Gutzkows Wally, Mündts Madonna oder: Unterhaltungen mit einer Heiligen und Charlotte Stieglitein Denkmal, sowie viele Artikel und Aufsätze. Lediglich ihr Mann Heinrich wußte wenig damit anzufangen. Seinerseits begnügte sich Grabbe mit den Zeilen im Cid: . . . Stieglitze Hättst du der Frau ein Kind gemacht, Sie hätte sich nicht umgebracht. Hättst du's nicht eckelhaft beschrieen, So hätt ichs schweigend dir verziehen. (II, 540)

So wenig hielt also der Verfasser von Napoleon von den »guten Sachen« und Problemen der Jungdeutschen. Hiermit scheine ich mein Thema erschöpft zu haben. Denn Grabbes Verbindung mit den Jungdeutschen scheint für ein Verständnis seiner Dramen ziemlich belanglos zu sein, jedenfalls in dem Sinne, daß er etwas von ihnen hätte lernen können oder wollen'. Doch spätere Zeiten stellen zwei Fragen von großem Belang für unser Thema. Erstens, warum entdeckt man immer wieder, daß Literaturhistoriker Grabbe - übrigens auch Büchner — trotzdem in einem Zusammenhang mit dem Jungen Deutschland besprechen? Zweitens, und damit verwandt: Was für literaturhistorische Bedeutung hat das Junge Deutschland, daß es trotz der ästhetischen Minderwertigkeit seiner dichterischen Produkte und trotz seiner politischen Wirkungslosigkeit stets in Literaturgeschichten erwähnt wird und 1

Es fällt dementsprechend auf, daß die Grabbe-Literatur überhaupt wenig über sein Verhältnis zum bzw. seinen Abstand vom Jungen Deutschland bietet. Umgekehrt scheinen die Jungdeutschen ebenfalls wenig von Grabbe gelernt zu haben, denn deren Bühnenwerke werden meist ohne Bezugnahme auf ihn besprochen.

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das Interesse der Kritik der letzten Jahrzehnte in besonderem Maße beansprucht? Es entsteht sogar ein Widerspruch in solchen Abhandlungen, der mehr Verschleierung als Erhellung des eigentlichen Belangs dieser Gruppe ergibt: Gerade weil Heine sich vor und nach 1835 so deutlich über das dichterische Niveau der anderen Jungdeutschen erhob, wird er meist als Individuum besprochen und die Zeit des Verbots als nur eine von mehreren Phasen seiner Entwicklung behandelt. Dagegen werden Gutzkows und Laubes Tätigkeiten nach ihrer jungdeutschen Periode oft nur als Nachklang zusammengefaßt - obwohl ihre Beliebtheit und ihr Einfluß nach ihrer Aufgabe jungdeutscher Allüren und Tendenzen erheblich größer wurden. Wiederum können wir eine Antwort gerade aus dem Verhältnis der beiden Fragen zueinander schließen: Als Dramatiker repräsentiert Grabbe ausgerechnet die individuell große Dimension, die dem Schaffen der eigentlichen Jungdeutschen fehlte. Zugleich verkörpert Grabbe den Geist, in dessen Namen das Junge Deutschland mit nur bedingtem Recht in die Geschichte eingegangen ist, den Geist, den Gutzkow, Laube und die anderen dramatisch nicht verwirklichen konnten, ja, geradezu aufgeben mußten, um Erfolg als Dramatiker zu erringen. Wenn wir hier vom »Geist« sprechen, meinen wir natürlich zweierlei. Zunächst handelt es sich um den Geist, den die Menschen um 1835 wechselseitig vertraten und bekämpften. In diesem Sinne sei der Bundestagsbeschluß gegen die Jungdeutschen zitiert: Nachdem sich in Deutschland in neuerer Zeit, und zuletzt unter der Benennung »das junge Deutschland« oder »die junge Literatur«, eine literarische Schule gebildet hat, deren Bemühungen unverhohlen dahin gehen, in belletristischen, für alle Klassen von Lesern zugänglichen Schriften die christliche Religion auf die frechste Weise anzugreifen, die bestehenden sozialen Verhältnisse herabzuwürdigen und alle Zucht und Sittlichkeit zu zerstören: so hat die deutsche Bundesversammlung - in Erwägung, daß es dringend notwendig sei, diesen verderblichen, die Grundpfeiler aller gesetzlichen Ordnung untergrabenden Bestrebungen sofort Einhalt zu tun, und unbeschadet weiterer, vom Bunde oder von den einzelnen Regierungen zur Erreichung des Zweckes nach Umständen zu ergreifenden Maßregeln - sich zu nachstehenden Bestimmungen vereinigt6.

Darauf folgt das eigentliche Verbot. Sicherlich merken wir alle, wie sehr diese Beschreibung auf Grabbe paßt. Ja, wer Gutzkows Wally, die Zweifle6

Zitiert nach Das Junge Deutschland: Texte und Dokumente. Hrsg. von Jost Hermand (Stuttgart: Reclam, 1966) ( = UB 8703-07). S. 531.

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rin kennt, muß sogar zugeben, daß Grabbes Herzog Theodor von Gothland viel radikaler wirkt. Aber im Laufe der Zeit ändert sich das Image von einzelnen Dichtern und ganzen Bewegungen. So ist auch die spätere literaturhistorische Bedeutung der Jungdeutschen eine andere geworden als die zeitgenössische. Wir lesen nämlich etwa bei Jost Hermand im Nachwort seiner Anthologie des Jungen Deutschland: Doch den größten Raum innerhalb der jungdeutschen Schriften nehmen selbstverständlich die politischen Fragestellungen ein. Spezifisch »jungdeutsch« ist dabei das Interesse an der Politik überhaupt, das sich in ähnlicher Schärfe erst im Naturalismus der späten achtziger und frühen neunziger Jahre wiederfindet. (S. 383)

Hermand selbst bringt die Gutachten des preußischen Oberzensurkollegiums über Heines Salon, Gutzkows Wally, Mündts Madonna und Laubes Das junge Europa. Doch in allen vier wird kaum irgendeine politische Tendenz hervorgehoben. Dagegen wird das sittlich und religiös Verderbliche aufs kräftigste angegriffen. Trotzdem erkennen wir heute: Das Junge Deutschland wird nicht mehr moralisch verurteilt, sondern soziopolitisch gelobt — obwohl praktisch nur Heine solche guten Vorsätze poetisch realisieren konnte. Damit sind wir bei der grundsätzlichen Frage nach literarhistorischer Wertung und deren Konsequenzen angelangt, einer Frage, die immer wieder in der Grabbe-Forschung und in der Forschung um das Junge Deutschland impliziert wird, wenn nicht ausgesprochen. Im großen und ganzen lassen sich alle Würdigungen von Dichtern und Wertungen einzelner Dichtungen in zwei Gruppen einteilen: die literarhistorischen und die werkimmanenten. In ihrer radikalsten Form konzentrieren sich jene auf den historischen Belang der Dichter und ihrer Werke ungeachtet deren ästhetischen Werts. Die werkimmanenten dagegen gehen vom Ästhetischen bzw. von der Relevanz aus, ohne sich um das Historische zu kümmern. Gestriges wird wie Heutiges behandelt. Für alle von uns, die noch eine Lehrtätigkeit ausüben, wirken sich solche entgegengesetzten Wertungsperspektiven folgendermaßen aus: Sollen wir solche historisch wichtigen Werke lesen lassen, die, wie Gutzkows Wally, ein heutiges Publikum kaum ansprechen? Oder dürfen wir Stücke vorziehen, die, wie Grabbes, zwar wenig Anklang oder Anerkennung unter den Zeitgenossen fanden, dafür aber um so relevanter und künstlerisch anziehender auf die Gegenwart wirken? Bei allen Entscheidungen über den Wert eines Dichters oder seiner Werke sind wir uns

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zugleich darüber im klaren, daß wir gegen den Lauf der Zeit ankämpfen müssen. Mit anderen Worten: Jedes Jahr oder — besser gesagt — jedes Jahrzehnt erscheint mindestens ein Werk, das es verdient, auf unabsehbare Zeit weitergelesen, weiterbesprochen und damit gleichsam »kanonisiert« zu werden. Selbstverständlich hat aber jeder von uns — seien wir Dozenten, Studenten oder sogar die fleißigsten, schnellsten freizeitigen Leser der Literatur — nur soundsoviele Stunden, Tage und Jahre zur Verfügung. Demzufolge müssen einige der alten, zum vorherigen Kanon gehörigen Werke über die Jahre entkanonisiert werden, damit neuen Werken Platz gemacht wird. Praktisch gesehen, heißt dies für uns alle hier: Hat unsere Generation die Zeit gehabt, hundert oder mehr Werke des 19. Jahrhunderts eingehend kennenzulernen, so werden künftige Generationen diese Zahl auf achtzig, auf sechzig und sogar noch weniger reduzieren müssen. Zugleich müssen wir bei dieser Errechnung daran denken, daß solche Reduzierungen nicht ohne Rücksicht auf Gattungsfragen vorgenommen werden dürfen. Wie wir sehen werden, spielt nämlich gerade die Gattungsfrage eine wesentliche Rolle in bezug darauf, ob wir Grabbe oder das Junge Deutschland den Forderungen eines stets kleiner werdenden Kanons des 19. Jahrhunderts opfern. Aus solchen Überlegungen können wir gewisse Schlüsse ziehen, die unsere Einstellung zum diesjährigen Grabbe-Symposium und zu allen künftigen leiten sollen. Zunächst sind wir alle davon überzeugt, daß es sich heute noch lohnt, Grabbes Werke zu lesen und zu besprechen. Darüber hinaus deuten wir unsere Uberzeugung an, daß - trotz aller weiteren Änderungen im literarischen Kanon - Grabbe noch dazu wird gehören müssen, und zwar aufgrund der ästhetischen sowie historischen Bedeutung seiner Dichtung. Im Dienst künftiger Anerkennung der Grabbeschen Dramen lud uns Volker Klotz vor zwei Jahren ein, eine Reise in das Jahr 2051 zu unternehmen7. Gewissermaßen möchte ich hier an seine Beobachtungen anschließen. Welche Dramen von Grabbe man im Jahre 2050 oder gar 2500 lesen und aufführen wird, hängt allerdings nicht zuletzt von ästhetischen Rücksichten ab, die wir heute nicht mit Gewißheit voraussagen können. Wie jeder von uns habe auch ich meine Kandidaten für solch eine Auswahl, denn ich halte diese Dramen für seine ästhetisch gelungensten und zeitlosesten Schöpfungen. So möchte ich voraussagen, daß sogar nach 7

Der Text dieses Vortrags erschien in: Christian Dietrich Grabbe (1801—1836): Ein Symposium. Hrsg. von Werner Broer und Detlev Kopp (Tübingen: Niemeyer, 1987).

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weiteren hundert oder zweihundert Jahren man immer noch über Scher.1, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung wird schmunzeln müssen, wenn nicht ganz laut auflachen. Dies wird man machen, längst nachdem die Zuschauer und Leser - wie die meisten schon heute — nicht mehr wissen, wer die einzelnen verspotteten Schriftsteller waren. Und solange man sich für die ganze Französische Revolution und insbesondere für Napoleon interessiert, wird man wahrscheinlich Grabbes Drama über die Hundert Tage zum notwendigen literarischen Kanon rechnen wollen. Schließlich hat bis heute kein anderer Dichter eine überzeugendere Darstellung dieser Zeit hinterlassen, und wir haben keinen Grund zur Annahme, daß ein künftiger Dichter dies wird fertigbringen können. Aus rein künstlerischen sowie persönlichen Gründen würde ich Hannibal in diese Liste mit aufnehmen, und Volker Klotz setzte sich vor zwei Jahren auch für Herzog Theodor von Gothland und Don Juan und Faust ein, und zwar nicht zuletzt, weil diese beiden - sowie die anderen drei — Grabbes eigene Zeit so treffend und effektiv widerspiegeln. Es muß Ihnen allen aber hier schon aufgefallen sein, daß ich nicht nur ästhetische Gesichtspunkte eben angeschnitten habe. Vielmehr spielen sich literaturhistorische Komponenten notwendigerweise mit ein. Nehmen wir doch Napoleon als Beispiel. Selbst wenn es einem künftigen Dramatiker gelingt, ein besseres Werk über den französischen Kaiser auf die Bühne zu bringen, muß solch eine Leistung für heute lediglich eine theoretische Möglichkeit bleiben. Bis dahin gilt als ausschlaggebend, daß Grabbe als Erster gerade dies getan hat, und zwar abgesehen von all den anderen Aspekten der Zeit, die er ebenfalls als Erster mit erfaßt hat. Allerdings meint Karl Gutzkow nach 1875 über Napoleon, ihm sei schon damals »der Mangel an einem wohlthuenden Gesammteindruck des Stükkes, das Ergebniß einer einfach nur in Dialog übersetzten Handlungsund Begebenheits-Anhäufung und eines völligen Mangels an individueller, aus dem Willen entwickelter Intrigenführung« nicht entgangen8. Aber bekanntlich lehnten die Jung- und Linkshegelianer der Vierziger wie Marx und Engels die Jungdeutschen als soziopolitisch naiv einfach ab. Und gerade einer dieser Gruppe, Arnold Rüge, hatte bereits in seiner Rezension von 1831 über Grabbes Drama geschrieben: »Dennoch hinterläßt es den Eindruck: Napoleon mußte vor dieser Welt, oder diese Welt vor Napoleon zu Grunde gehen, und diese Wirkung ist der Mühe werth Siehe Grabbes Werke in der zeitgenössischen Kritik. Im Auftrage der Grabbe-Gesellschaft hrsg. von Alfred Bergmann. 6 Bände (Detmold, 1958-1966). Hier: III, 152.

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und groß«'. Übrigens könnte auch über Hannibal und Sehers^, Satire gesagt werden, daß Grabbe sogar in diesen Werken den »Geist« seiner eigenen Zeit gestaltet. Und in allen drei Fällen ist Grabbes literaturhistorische Priorität nicht mehr durch spätere Generationen aus der Welt zu schaffen. Literaturwissenschaftliche Priorität schließt wiederum mehr ein, als daß dieser oder jener Dichter zuerst etwas versucht hat. Eine Orientierung danach beließe dem Resultat solcher Absichten, also dem betreffenden Werk, möglicherweise nur die Bedeutung eines thematischen und stofflichen Kuriosums, die mit einem Satz in einer Literaturgeschichte erledigt werden könnte. Literatur will gelesen werden und Drama gespielt werden. Solche Priorität fällt Grabbe aber zu, weil er als erster eine oder mehrere Fragen seiner Zeit auf eine Weise beantwortet, die inzwischen als künstlerisch gelungen und historisch überzeugend akzeptiert wird. Wie groß seine Leistung in bezug auf Napoleons welthistorische Rolle und Persönlichkeit war, läßt sich heute durch einen einfachen Vergleich vergegenwärtigen. Ein vergleichbar eindrucksvolles Drama über die Leistungen eines Churchill ist - trotz Hochhuths Soldaten — noch nicht erschienen. Und nirgendwo hat man das unglaublich Böse eines Hitler oder Stalin dramatisieren können. Man möchte vielleicht entgegnen, die Welt des 20. Jahrhunderts und damit die Ursachen für den Aufstieg und Fall eines Hitler seien komplizierter als die zu Napoleons Zeit. Dies scheint sich dadurch zu bestätigen, daß Brechts Hitler-Dramen uns heute zu vereinfachend vorkommen. Auf der anderen Seite reizt uns an Grabbes Napoleon-Drama gerade das Komplexe seiner Darstellung. Schon 1982 schreibt Detlev Kopp: »Der Weg, den zukünftige GrabbeForschung gehen sollte, darf nicht wieder zurück, in Richtung einer Vereinheitlichung des Werks führen, sondern sollte darauf zielen, die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Texte und des Gesamtwerks als das wesentliche und erklärungsbedürftige Merkmal anzusehen«10. Überhaupt ist Komplexität, d. h. Beziehungsreichtum das Merkmal der Grabbeschen Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution, der darauffolgenden Napoleonischen Ära und dem seine eigene Zeit kennzeichnenden Geist der Restauration bzw. des Biedermeier. So gestaltet Grabbe die ganze Schlacht bei Waterloo nicht um ihrer selbst willen, und auch nicht allein, um deren Wirkung auf Napoleon zu zeigen. Vielmehr dient diese zugleich realistische und grotesk-komische Schilderung als Vehikel, '

Ebenda III, 1 1 1 . Detlev Kopp: Geschichte und Gesellschaft in den Dramen Christian Dietrich Grabbes (Frankfurt/Bern, 1982), S. 228.

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womit er hin und her, kreuz und quer durch die verschiedenen Landsleute und Klassen fahren kann. Wiederum läßt er ganz Europa in seiner nationalen und standesbedingten Vielfältigkeit an uns vorbeimarschieren. F. J . Schneider spricht vom »aristokratischen Lebensgefühl« Grabbes, das er gegen die »ausgesprochen kollektivistische Denkungsart« der Jungdeutschen ausspielt". Schneider hebt auch die abschätzigen Bezeichnungen hervor, die Grabbe für die Massen anwendet. Hier geht es jedoch nicht darum, daß Grabbe die Massen liebte oder verachtete (wie gut schneiden übrigens die Adligen bei ihm ab?). Statt dessen handelt es sich darum, daß der Beziehungsreichtum seiner Dramen zum erstenmal die Komplexität der gesellschaftlichen Struktur und sogar die furchterregende Macht der Massen zeigt. Daß ein außergewöhnlicher Beziehungsreichtum die Gestaltung gerade seiner Zeit bestimmen mußte, erkannte Gutzkow erst später, und zwar im sogenannten »Roman des Nebeneinander«. Sein eigener Versuch ergab 1849- 51 den neunbändigen Roman Die Ritter vom Geiste, ein Werk, das kaum noch gelesen wird. Das Vorwort dazu erweckt jedoch in jüngster Zeit Aufmerksamkeit im Sinne eines durchaus ernstzunehmenden »guten Vorsatzes«, der den zeitgenössischen nichtdeutschen Bemühungen um eine realistische Gestaltung sozialer Verhältnisse eher entsprach als der Tendenz der deutschen Entwicklung bis zum Naturalismus. Also: nicht allein das frühere Entstehungsdatum der meisten Grabbeschen Dramen verleiht ihnen einen Anspruch auf sozio-politische Priorität, sondern auch ihre ästhetische Leistung. Beziehungsreichtum bedeutet nämlich mehr als die bloße Anhäufung von nicht aufeinander abgestimmten Details, Handlungsmomenten und Charakteren, die Gutzkows Roman des Nebeneinander kennzeichnet. Daß Gutzkow dennoch keine ganz falsche Fährte verfolgte, geht sowohl aus einigen anerkennenden kritischen Stimmen hervor, als auch daraus, daß dieser Mammutroman 1878 eine sechste Auflage erlebte. Allerdings wurden die ursprünglichen neun Bände auf vier für die letzten beiden Auflagen gekürzt. Gegenüber Gutzkows Roman zeichnen sich aber Grabbes Werke - so komplex wie sie auch sind - durch einen übersichtlicheren Aufbau aus, wohl nicht zuletzt, weil alle nach Gothland innerhalb der Grenzen einer aufführbaren Länge bleiben. Noch wesentlicher für die Übersichtlichkeit der Grabbeschen Dramen erscheint es weiterhin, daß sie neben Einhaltung von einer konventionellen Spieldauer eine innere Dynamik aufwei"

Ferdinand Josef Schneider: Christian Dietrich Grabbe. Persönlichkeit und Werk. (München: Beck, 1934), S. 19.

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sen, die auf Spannungen und Ironien fußt. Das Ziel des Grabbeschen Beziehungsreichtums ist es nämlich, ein Gefühl für unversöhnliche Spannungsverhältnisse zu vermitteln. Denn seine Werke bauen auf einen entsprechenden Desillusionierungswillen. Schon die ersten jungdeutschen dichterischen Bemühungen, z.B. Gutzkows Wally, Mündts Madonna usw., gründen sich auf Illusionen, die ihre Verfasser gegen andere Illusionen ausspielen, wie sie ihre journalistischen Parolen gegen die reaktionären Parolen der Zeit ausspielten. Doch wollen sie dabei nicht zugeben, daß ihre eigenen sozio-politischen Ideale im Kontext der Zeit Illusionen bleiben müssen, während gerade die institutionalisierten Ideen wie Ehe und Kirche, die sie als »Illusionen« bekämpfen, die soziopolitische Realität widerspiegeln. Seinerseits läßt Grabbe schon den Protagonisten seines Erstlings, Herzog Theodor von Gothland, einsehen: »Der Mensch/ Trägt Adler in dem Haupte/ Und steckt mit seinen Füßen in dem Kote!« (I, 81). Diese Behauptung läßt sich gleichermaßen auf beide Seiten von jedem sittlichen oder ideellen Kampf übertragen. An die liberalen Bestrebungen der Zeit klingen die Worte von Grabbes Faust an: »Nicht Faust wär ich, wenn ich kein Deutscher wäre!« (I, 431). Obwohl Faust sich dann auf die großen historischen Taten der Deutschen beruft, kann er eine Frage doch nicht beantworten: Haben denn die Schlachten, Hat der Ruin der Völker nur den Zweck Von Märchen, die erfunden zur Belehrung? Sind "WJclxbegebenheiten weniger

Als Weltgeschickte} (I, 434)

Eine negative Antwort darauf bietet Don Juan, der in der Welt zurechtkommt, weil er an nichts glaubt außer an sich selbst. Doch sein Glauben an seine Person erweist sich als Illusion, denn seinetwegen muß er die Hölle dem Himmel vorziehen. Den einzigen Trost bei diesem Desillusionierungsprozeß finden wir in Hannibals Worten: »Ja, aus der Welt werden wir nicht fallen. Wir sind einmal darin« (III, 153). Denn zugleich können die Handlungen des Individuums sowie der Gruppen - man denke doch nur an die Massen und Armeen in Napoleon und Hannibal — als Fakten akzeptiert werden. Es manifestiert sich aber in diesen Fakten ebensowenig übernatürlicher Sinn wie in den Illusionen, die solchen Handlungen unterliegen. Solche Fakten können bestenfalls soziopolitisch ausgelegt werden. Trotz der geringen ästhetischen Leistung der Jungdeutschen lobt man

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das politische Engagement in ihren Werken. Dieses Lob rechtfertigt man durch einen Hinweis auf ihre Forderung einer »modernen«, wirklichkeitsverpflichteten Kunst und durch die Frequenz, mit der Gutzkow, Laube und die anderen von »Freiheit« sprechen und schreiben. Aber Freiheit als ein abstrakter, absoluter Begriff ist eine Illusion, die vielleicht einen berechtigten Platz in der Philosophie findet, nicht jedoch in der realistischen Dichtung gerade dieser Zeit. Unter Napoleon, aber auch nach ihm, bleibt die wichtigste Frage die der politischen Situation und damit der politischen Freiheit des Menschen. Dies betont Grabbe selbst am Ende des Napoleon-Dramas, wenn er seinen Protagonisten prophezeien läßt: Da stürzen die feindlichen Truppen siegjubelnd heran, wähnen die Tyrannei vertrieben, den ewigen Frieden erobert, die goldne Zeit rückgeführt zu haben Die Armen! Statt eines großen Tyrannen, wie sie mich zu nennen belieben, werden sie bald lauter kleine besitzen, - statt ihnen ewigen Frieden zu geben, wird man sie in einen ewigen Geistesschlaf einzulullen versuchen, - statt der goldnen Zeit, wird eine sehr irdene, zerbröckliche kommen, voll Halbheit, albernen Lugs und Tandes, - von gewaltigen Schlachtthaten und Heroen wird man freilich nichts hören, desto mehr aber von diplomarischen Assembleen, Konvenienzbesuchen hoher Häupter, von Komödianten, Geigenspielern und Opernhuren — bis der Weltgeist ersteht, an die Schleusen rührt, hinter denen die Wogen der Revolution und meines Kaisertumes lauern, und sie von ihnen aufbrechen läßt, daß die Lücke gefüllt werde, welche nach meinem Auftritt zurückbleibt.

Damit man jedoch diese letzten Worte des von seiner schicksalhaften Bedeutung besessenen Kaisers nicht mit einer Heldenverehrung des Dramatikers verwechselt, sei Grabbes briefliche Äußerung vom 14. Juli 1830 an Kettembeil über den kaiserlichen Propheten zitiert: Napoleon ist übrigens eine so große Aufgabe nicht. E r ist ein Kerl, den sein Egoismus dahin trieb, seine Zeit zu benutzen, außer eigennützigen Zwekken, hat er schon als Corse, als Halbfranzose nie gewußt, wohin er eigentlich strebte, — er ist kleiner als die Revolution, und im Grunde ist er nur das Fähnlein an deren Mäste, - nicht Er, die Revolution lebt noch in E u r o p a , . . . nicht Er, seine Geschichte ist groß.

Das heißt: Auch hier, w o Grabbe die faktische Situation seiner eigenen Zeit beschreiben läßt, soll das Desillusionierungsmoment mitklingen. Grabbe sieht nämlich ein, daß nach Napoleons Niederlage der Kampf für und wider die Freiheit mit leeren Parolen geführt werden wird. Selbst der berühmteste und mächtigste »Sohn der Revolution« erscheint als das Werkzeug nicht nur seiner Revolution, sondern auch ihrer Gegenkräfte. Denn seine Person ermöglicht letzten Endes die Vereinigung aller reaktio-

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nären Kräfte und führt unmittelbar zu den repressiven Maßnahmen des Wiener Kongresses. Im daraus entstandenen gesamteuropäischen Abkommen erhalten all die »kleinen Tyrannen« eine erneute Existenzberechtigung im Namen des »ewigen Friedens«. In Deutschland heißt dies, ein System ohne Oberhaupt, also ein »System« an sich zu schaffen. In Eitel Wolf Doberts Monographie über Gutzkow lesen wir über die jungdeutsche Ablehnung der Hegeischen Philosophie und insbesondere der Hegeischen Geschichtsphilosophie: Den handelnden Menschen wollte man wieder im Weltgeschehen erkennen, ihn nicht mehr als »Begriff« verstanden wissen und nicht mehr das Weltgebäude aus dem Begriff abhaspeln. »Ich will kein bloßer >Begriff< sein«, hatte Heine protestiert. Gegen die »Gewalt des Einordnens« wandte sich auch Laube. Wienbarg sprach v o n der »alles umschnürenden Systembauerei«, und Gutzkow warf Hegel vor, er habe »an dem Bestehenden ein sehr verdächtiges Genüge« und stellte die ironische Frage, ob »bei allen großen Ereignissen der Geschichte etwa der Weltgeist der Souffleur gewesen sei«. Man wollte im Weltgeschehen den handelnden Menschen erkennen, weil man eben selbst ein Handelnder zu sein glaubte".

Aber nirgendwo zeigt sich das »System« als ein erstickendes, reelles, also desillusionierendes Faktum in dem Maße, wie wir es in Grabbes Napoleon und Hannibal erleben, denn gerade diese großen »handelnden Menschen« gehen gerade wegen ihrer Handlungskraft und Größe daran zugrunde. In den berüchtigten, zur selben Zeit entstandenen jungdeutschen Werken tritt das »System« hauptsächlich als ein religiös-sittliches auf, und als Verstöße gegen die Religion und Sittlichkeit werden diese Werke verboten. Aber die Jungdeutschen hatten nur ein Symptom der größeren Krankheit erkannt und bekämpft, und zwar unter dem Banner der »Freien Liebe« und einer »Emanzipation des Fleisches«. Seinerseits setzt sich Grabbe auch mit dem Begriff der »Freiheit« auseinander, aber auf eine bedeutend realistischere, der gesamten zeitgenössischen Situation entsprechende Weise. Er leugnet nämlich, daß es in der wirklichen Welt »Freiheit« im politischen oder dichterischen Sinne geben kann. Dennoch muß der Dichter, der, wie jeder Mensch, »Adler in dem Haupte« trägt, immer wieder so handelen, als wenn es solche Freiheit gäbe. Ausgerechnet als Dramatiker mußte Grabbe nämlich die Untrennbarkeit von politischer und dichterischer Freiheit bzw. Unfreiheit besonders 12

Eitel Wolf Dobert: Karl Gutzkow und seine Zeit (Bern und München: Francke, 1968), S. 64.

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stark empfinden. Dies verdeutlicht er am eindrucksvollsten durch Prusias' Worte zu Hannibal, der sich nach Zeit- und Ortsgelegenheit richten will: Die gilt nicht, weder in der Kunst noch im Krieg: das System nur ist ewig und nach dieser Richtschnur müssen sich Heere richten, Gedichte ordnen, und das System stirbt nicht, geschah ihm auch ein Unfall. (III, 146)

Zu einer Zeit, in der das ganze Theaterwesen in staatlichen Händen lag, mußte das politische System einen Dramatiker am meisten erdrücken. Wohl fühlte sich Grabbe zum Dramatiker berufen. Aber zugleich blieb er nicht nur wegen seines individuellen Talents auf diesem Feld, sondern um seine Opposition gegen die herrschende Unfreiheit zu vergegenwärtigen, und zwar auf eine Weise, die am konkretesten vorführte, daß das System nicht stirbt. Ohne Frage versteht Grabbe, wie man dramatische Effekte erzielt. Der andauernde Erfolg von ScherSatire bestätigt dies, und nach Goethes Faust I gibt es keine bühnenfahigere Dramatisierung des Stoffs als Don Juan und Faust. In zunehmend stärkerem Maße schrieb Grabbe aber gleichsam gegen das Theater. Weil es dennoch ausgesprochen theatralische Elemente in Napoleon und Hannibal gibt, darf man nicht annehmen, daß Grabbe einfach alle Hoffnung auf spätere Aufführungen aufgegeben hat. Die Erklärung für seine wachsende Distanz von den dramatischen Konventionen liegt vielmehr an seiner Überzeugung von der Unfreiheit des zeitgenössischen Theaters. Schon Ende April 1823 schreibt er nämlich an Ludwig Gustorf: »Kommt tempus, kommt Grabbe.« Dies meint er nicht in dem Sinne, daß die Bühne sich technisch ändern würde - geschweige denn, daß ein neues Medium, sprich »Film«, erfunden würde. Statt dessen meint er die Zeit einer theatralischen Freiheit. Diese Freiheit würde dann nicht nur den Realismus in seiner Erfassung seiner Zeit anerkennen, sondern auch seine Desillusionierung als notwendige Konsequenz seiner Einsicht in diese Zeit akzeptieren. Denn mitten in der Arbeit an Napoleon muß er in einem Brief vom 4. August 1830 an Kettembeil gestehen: » . . . Napoleon wird eigen, - das jetzige Theater taugt nicht, — meines sey die Welt.« Also: Wenn wir uns künftig auf eine immer geringer werdende Zahl in unserem literarischen Kanon aus dem Vormärz bzw. dem 19. Jahrhundert überhaupt beschränken müssen, darf Grabbes Priorität als dichterischer Deuter seiner Zeit nicht vergessen werden, und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen seiner bevorzugten Gattung. Daß Grabbe Dramen schrieb, könnte nämlich als Beweis dafür ausgelegt werden, daß er den ästheti-

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sehen Forderungen seiner Zeit nicht genügend nachkommt. Schließlich wird der Roman überall als zeitgemäße Gattung hingestellt. Doch gerade die Erzählprosa - trotz des Bundestagsbeschlusses gegen die Jungdeutschen — durfte und mußte in Einklang mit dem sich entwickelnden soziopolitischen »System« gedeihen. Ebenso das epigonenhafte Drama eines Uechtritz-Prusias, gegen das Grabbe andeutungsweise immer mehr kämpfte. Ihrerseits drücken die Grabbeschen Dramen zum erstenmal den ganzen Beziehungsreichtum der spannungsgeladenen Zeit aus. Doch versuchen sie nicht, eine einfache Parole als Lösung für die Malaise der Zeit vorzutäuschen. Denn sie boten nicht nur einen neuen dramatischen Realismus, sondern auch eine realistische Einsicht in die herrschenden Verhältnisse, und während ihre formalen Eigenschaften dem damaligen Theater und dessen System-Denken trotzten, mündeten sie ihrer Aussage nach in die Einsicht, daß für einfache Lösungen die Zeit zu komplex war, das System zu erdrückend und der Mensch zu hilflos. Folglich waren sie die Ultimaten Proteste gegen eine Ära, deren Theater, Geist und System. Um die vollen Dimensionen seines Protestes gegen den Geist dieser Zeit zu realisieren, mußte Grabbe also ausgerechnet die Gattung wählen, in der die Jungdeutschen das Vehikel zurück in das System sehen würden. Doch selbst wenn ein Gutzkow oder Laube Grabbes beispielhaften persönlichen Mut gezeigt hätten, hätte ihnen wohl das künstlerische Talent gefehlt. Vielleicht werden künftige Generationen wieder eine versöhnlichere oder angenehmere Auffassung des Lebens in ihrer Literatur suchen als die, die Grabbe zeigen durfte. Aber seine zeitliche und künstlerische Priorität als kritischer Gestalter seiner eigenen Zeit und ihrer Problematik bleibt ihm gewiß. Und weil er sie gestaltet und nicht bloß bespricht, werden seine Dramen gerade als solche noch so lange zum Kanon gehören, wie man der Dichtung eine zeitgestaltende und zeitkritische Aufgabe zuspricht und eine entsprechend ehrliche Haltung von den Dichtern verlangt.

Herbert Kaiser

Zur Bedeutung des Willens im Drama Grabbes

I.

Die Forschung stößt immer wieder auf bestimmte Strukturen der G e schichte und des geschichtlichen Handelns im Drama Grabbes, die - je nach den spezifischen Fragestellungen der Untersuchungen - verschieden formuliert werden, aber doch in ihren Analogien deutlich auf ein gemeinsames zugrundeliegendes Problem verweisen. Z u diesen Einsichten gehören die Beziehungen zwischen Held und Kollektiv, Heroischem und Idyllischem, Destruktion und Utopie 1 , ferner das Widersprüchliche und Diskontinuierliche des Grabbeschen Geschichtsbildes sowie vor allem das Machtstreben der Helden 2 . Ich möchte versuchen, von diesen Befunden aus weiterzudenken, indem ich auf einen Strukturbegriff hinweise, von dem aus Grabbes Drama mit einer wesentlichen philosophischen und allgemeinen, geistigsozialen Grundströmung seiner Zeit in Zusammenhang gebracht werden kann. Dieser Begriff ist der des Willens. Von ihm her können, so hoffe

1

Grundlegend für die Interpretation dieser Spannungen ist: Manfred Schneider: Destruktion und utopische Gemeinschaft. Zur Thematik und Dramaturgie des Heroischen im Werk Christian Dietrich Grabbes, Frankfurt 1975; vgl. aber auch: Hans-Werner Nieschmidt: Deutung und Dokumentation. Studien zum Geschichtsdrama Christian Dietrich Grabbes, Detmold und Bad Pyrmont 1973; Friedrich Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 3, Stuttgart 1980, S. i8zf.; Detlev Kopp: Geschichte und Gesellschaft in den Dramen Christian Dietrich Grabbes, Frankfurt 1982; Michael Vogt: Literaturrezeption und historische Krisenerfahrung. Die Rezeption der Dramen Christian Dietrich Grabbes 1827—1945, Frankfurt 1983, S. 158—179; Lothar Ehrlich: Christian Dietrich Grabbe, Leipzig 1986, S. 1 1 0 - 1 1 2 , 234—236.

2

Zum Machtstreben außerdem: Benno von Wiese: Die deutsche Tagödie von Lessing bis Hebbel, Hamburg, 6. Aufl. 1964, S. 469-478; Edward Mclnnes: Grabbe und das Geschichtsdrama, in: Grabbe-Jb. 1982, S. 1 7 - 2 4 ; Dietrich Busse: »Aus Nichts schafft Gott, wir schaffen aus Ruinen!«. Geschichte als Prozeß im Werk Christian Dietrich Grabbes, in: Grabbe-Jb. 1986, S. 1 1 - 2 0 ; Winfried Freund: Grabbes Geschichtsdramen und die Kritik der Macht, in: Literatur für Leser, 10. J g . , 1987, H. 4, S. 249-260.

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ich, an die bisherigen Forschungsergebnisse weiterführende Fragen gestellt werden. Mein Ansatz vom Willen her hat aber auch methodische Konsequenzen für die Art, wie die Interpretation zu ihren Urteilen über Geschichte im Drama gelangt. Der Wille ist die »Kraft«, aus der Grabbes Helden handeln. Die Geschichte entsteht als Resultat des Handelns. Wertungen der Geschichte sind in der Interpretation notwendig und unvermeidlich, aber nur dann auch legitim, wenn sie nicht bloß, z. B. weltanschaulich, gesetzt, sondern aus den poetischen Bedingungen des Dramas aufgebaut sind. Die Bestimmung des Geschichtsbilds im Drama muß von den spezifisch dramatischen, also den poetischen Bedingungen ausgehen, unter denen Geschichte im Drama überhaupt erst erscheinen kann'. Die wesentliche dieser Bedingungen ist für die bürgerliche Neuzeit das Handeln, denn unsere Epoche gründet in der Subjektivität. Das Subjekt aber ist nur Subjekt, sofern es handelt. Hier sollen nicht die verschiedenen Deutungen der Geschichte in Grabbes Dramen inhaltlich kritisiert werden; vielmehr kommt es mir darauf an, das Handeln in seinen bestimmten, dargestellten Formen als die poetische Gestalt der Geschichte zu erkennen. Die Makrostrukturen der Geschichte sind poetisch nur in den Mikrostrukturen des Handelns gegeben. Die Kategorie des Willens, die für Grabbe dabei in den Blick kommt, ist spezifisch poetisch, weil bei ihm das Handeln dem Willen entspringt. Über Geschichte müßte dann erst als Konsequenz konkreter Handlungen geurteilt werden.

II. Grabbes Protagonisten sind Eroberer, Kämpfer; sie streben nach der Herrschaft über ihre jeweilige Welt. Gothland wird König von Schweden und Finnland, Barbarossa sieht sich nach dem Zweikampf mit Heinrich dem Löwen als »Herr der Welt«, ebenso Sulla nach dem Sieg über Telesinus. Heinrich VI. ist »nimmer (zufrieden) - hätt' (er) auch die ganze Welt«. Napoleon will sich Europa unterwerfen, Hannibal und Hermann wollen Rom erobern. Was ihr Handeln jeweils eint, ist primär nicht ein Geschichtsentwurf, eine Idee oder Aufgabe, sondern primär ein Trieb, ihre »Kraft«, ihr '

Überzeugend dargestellt z.B. in Schneiders Deutung der Schlacht, a.a.O., S. 39zff.

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»Genie« auszuleben. Gothland läßt den »Tiger« in sich frei, Berdoa »will 'ne Bestie sein«; der Schwarze wirft dem bleichen, christlichen Europäer mit Recht vor: Du »tauftest deine Rachbegier Gerechtigkeit«. Der aggressive Impuls kommt aber nicht aus einer individuellen, privaten Psyche. »Leu und Kaiser sind zu stark, als daß sie ewig sich vertrügen. Sie können sich ermorden und doch lieben.« (Friedrich Barbarossa I, 2). Das heißt: Kampf, Duell sind gesellschaftlich-allgemeine Strukturen. In der Aggression, die mobilisiert oder frei gelassen wird, artikuliert sich ein soziales Gesetz. Der Kampf ist gleichsam die Vernunft der Kraft. »Und bebt nicht vor dem Unvermeidlichen«, mahnt Mathildis Heinrich den Löwen vor dem Zweikampf mit Barbarossa. »Der eine von euch beiden muß zugrunde.« (Friedrich Barbarossa IV, 2). Das geschichtliche Handeln wird nicht von real-idealen Zielen oder Absichten geleitet - wie bei Götz oder Egmont; auch wird der subjektive Impuls nicht durch ein sittlich Allgemeines gebrochen - wie bei Karl Moor, sondern Ziele ergeben sich umgekehrt aus der Logik der Kraft. Napoleon verachtet den Kongreß nicht, weil sich in Wien die Reaktion formiert, sondern weil Verhandlungen, Diplomatie unheroisch sind. Er kehrt zurück, nicht weil ihm eine andere politische Ordnung für Europa vorschwebt, sondern weil er — ein »anderer Prometheus« (I, 4) und auferstandener Christus (ebenda) - noch immer sein »Genie« (III, 3), seine »Tatkraft« (IV, 2) spürt. Der Stärkste soll herrschen, und da Frankreich ohne ihn nichts ist, will er es zur »herrschendsten« Nation machen (I, 4). Wenn das gelänge, was dann? »Bedenke«, hält ihm Hortense vor, »was würde die Welt, wären wir alle wie du?« Napoleon: »Nun, die würde nicht so übel.« Hortense: »Ewiger Krieg und Lärm würde aus ihr.« (III, 3). »Nie kämpft' ich ohne Grund«, rechtfertigt sich der Kaiser. »Zog ich nach Rußland, so war es, endlich mit einem Schlag zu entscheiden, ob südlicher Geist oder nordische Knuten die Welt beherrschen sollte« (ebenda). Aber ist das ein rationales, humanes Ziel? Kann über die Ordnung der Welt »mit einem Schlag« entschieden werden? Ist es nicht so, wie Hortense antwortet: »Du mußt (kämpfen) - ja, weil du willst.« Die Alternative: »Geist« — »Knute« ist in der Tat die sekundäre Rechtfertigung seiner primären »Tatkraft«, die »mit einem Schlag« entscheiden will. Das Umkämpfte erscheint als ideologische Setzung des Kampfs, und da der Kampf als Betätigung der »Kraft« nicht vollendbar ist, werden immer neue Ziele gesetzt, um die zu kämpfen ist. Kaum hat Barbarossa die Schlacht an der Weser gegen Heinrich gewonnen, kaum »ist (Deutschland) einig« (Friedrich Barbarossa V, 3), da ruft er zum Kreuzzug auf:

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»Gott will es« (ebd.). Will es Gott — oder ist Gott nicht doch nur eine ideologische Drapierung einer unerschöpflichen Tatkraft, eines ziellosen Strebens? »Weg mit dem Ziel«, fordert Don Juan, »nenn' es mir nicht, ob ich auch danach ringe — verwünscht ist der Gedanke: jedes Ziel ist der Tod.« (Don Juan und Faust, I, i). Heinrich VI. gerät zum Schluß in einen Machtrausch. Kann Hannibal sagen, wofür er kämpft 4 ? Weshalb will Hermann nach seinem Sieg auch noch Rom erobern? Weil er den Kampf um die Welt, gegen den »Welttyrannen« vollenden will. (Die Hermannsschlacht, 3. Nacht). Ist aber ein Selbstzweck vollendbar? Nein — diese Erkenntnis ist schon im »Gothland« gestaltet: Nachdem Gothland in der Rache an Berdoa noch einmal die Grundmaxime seines Handelns verdeutlicht hat — der Verlust von »Bruder, Weib und Kind« (V, 5) zählt nicht als solcher, sondern nur als Stimulus seiner Rache; nicht die Sache, sondern die Kraft motiviert das Handeln —, da überfällt ihn Langeweile: »Der N e g e r . . . hat verröchelt! — Ja, und n u n ? . . . (er gähnt)«. (V, 6) In Gothlands Gleichgültigkeit zeigt Grabbe die ethische Binnenstruktur des selbstzweckhaften Handelns. Ließe Napoleon den Einwand Hortenses gelten, müßte auch er notwendig die völlige Sinnlosigkeit und Leere seines Handelns erkennen, in dem sich seine »Tatkraft« um ihrer selbst willen betätigt.

III. »Kraft« ist das durchgehend entscheidende Handlungsmotiv der Helden Grabbes. Sie ist die psychische und soziale Konkretion des Willens. In einer Analyse und Kritik des Willens sehe ich eine Möglichkeit, zum einen die bürgerliche Geschichtsepoche vom Beginn der Neuzeit an bis heute als Einheit zu begreifen, zum anderen aber einen wesentlichen Grundzug des nachklassischen Dramas in Deutschland zu erfassen. Grabbes prinzipiellere Bedeutung, die über das spezifische literaturwissenschaftliche Interesse an ihm hinausweist, scheint mir darin zu bestehen, daß er die sozialen, philosophischen und ästhetischen Strukturen des Willens in seinen Dramenmodellen erkennbar macht. Er befindet sich mit diesem Thema in einer ihm weitgehend unbewußten, insofern objektiven 4

Vor der Schlacht bei Zama strebt Hannibal einen Verhandlungsfrieden an; er will den status quo ante wiederherstellen - aller Kampf wäre so rückgängig gemacht.

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Zeitgenossenschaft mit der Philosophie der Jahrhundertwende und seiner Zeit: insbesondere mit Fichte, Hegel und Schopenhauer'. Wenn Grabbe von sich als Geschichtsdramatiker fordert, der Dichter sei »vorzugsweise verpflichtet, den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln« (Nachbemerkung zu »Marius und Sulla«); er solle aus dem historischen Stoff die »Idee der Geschichte« wiedergeben6, so hat er in der Darstellung des Willens als geschichtsmächtiger Kraft den »Geist« und die »Idee« der Geschichte seiner Zeit sehr genau getroffen. Welches sind die Hauptstrukturen des Willens bei Grabbe, wie stehen sie zu den Willens-Theorien seiner Zeit 7 ? i. Der Wille ist Tat - und zwar wesentlich innere Tat; d. h.: die Selbstkonstitution des wollenden Subjekts liegt jedem intentionalen Willensakt, jedem äußeren Handeln zugrunde. Nur wenn der Wille sich selbst will, kann er auch etwas wollen. Ihren deutlichsten Ausdruck findet diese Selbstbezüglichkeit des Willens in Napoleon: »Ich bin ich, das heißt Napoleon Bonaparte, der sich in zwei Jahren selbst schuf, während jahrtausendlange erbrechtliche Zeugungen nicht vermochten, aus denen, die sich da scheuen, meine Briefe anzurühren, etwas Tüchtiges zu schaffen.« (III, 3). Hier grenzt sich nicht nur das soziale Bewußtsein des selfmade-man nach außen gegen das Feudalsystem ab, sondern das Subjekt betont vor allem auch den entscheidenden Akt seiner Selbstkonstituierung. Die Analogie zwischen Napoleon und Christus und — weniger direkt - Prometheus ist treffend. »Der Herr« ersteht aus eigener Kraft, und Prometheus' erstes Wort (in Goethes Dramenfragment) ist seine Berufung auf den eigenen Willen (»Ich will nicht«, was die Götter wollen.). Das »Ich bin Ich« Napoleons zitiert den »ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz« der Wissenschaftslehre Fichtes8. Der Satz »Ich bin Ich« ist nach Fichte eine unableitbare »Tathandlung« (S. 1 1 ) : »Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eignes Sein.« (S. 18). Auch Schopenhauer

'

6

7

'

Diese drei Namen stehen pars pro toto. Vor allem könnte noch auf Schelling verwiesen werden. - Die z.T. weitgehenden Analogien zwischen der Darstellung der Kraft bei Grabbe und Max Stirner (»Der Einzige und sein Eigentum«, 1844), die für eine soziale und politische Deutung Grabbes verblüffende Aufschlüsse geben können, seien ebenfalls nur erwähnt. Aus: »Über die Shakespeare-Manie«, in: Werke, hg. von Roy C. Cowen, München 1977, Bd. 2, S. 430. Ich gebe nur prinzipielle und allgemeine Hinweise; eine eingehende Darstellung wäre lohnend, kann aber hier nicht erfolgen. Johann Gottlieb Fichte: Grundlagen der gesamten Wissenschaftslehre (1794), Hamburg 1988 (Meiners Philosophische Bibliothek 246), S. ioff.

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betont die Aseität des Subjekts: »Jedes Wesen (ist) sein eigenes Werk«'. Hegel denkt die Selbstkonstitution des Willens als dialektischen Prozeß. Der Wille, der sich in der Handlung realisiert, ist ein Drittes, das aus der bestimmten Negation eines ursprünglich bloß abstrakt-unbestimmten Willens hervorgeht10. In Napoleon - und den meisten anderen Protagonisten Grabbes, (Don Juan, Faust, Barbarossa, Heinrich VI., Marius, Sulla, Hannibal) ist diese Selbstsetzung des Willens, die Selbstkonstitution des Subjekts immer schon geschehen; im »Gothland« aber wird der Konstitutionsprozeß als solcher dargestellt. In der Figur Gothlands weicht die »Bruderliebe« vor den Verlockungen des »Brudermords« zurück. Humanität ist Schminke. Das Tier, die Natur: das schlechthin Erste bricht durch — im Affekt will der Wille nur sich. Wesentlich dabei ist, daß Gothlands Racheaffekt sein Gewißheitsverlangen hervorbringt. Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen der Subjektivität werden so als Teilmoment eines umfassenden subjektiven Wollens sichtbar. »Verführung ist« für Emilia Galotti »die wahre Gewalt«: Grabbe kehrt den Sinn dieser noch stoisch-barocken Maxime Lessings um. Gothland will die Emanzipation der Natur von der Liebe in sich. 2. In der äußeren Tat bleibt der Wille immer auf sich selbst bezogen. Das voluntaristische Handeln ist tendenziell stärker von seiner inneren Energie als von den sachlichen Bedingungen, den Widerständen der Situation bestimmt. Es wäre leicht, Grabbes dramatische Aktionen in die Form von Comics zu bringen: action dominiert! Wie sie da schlagen, stechen, metzeln, aufbrausen, treten und hacken! Solches Handeln ist weniger intentional als autoreferenziell, obschon der erste Blick das Gegenteil zu zeigen scheint. Zwar ist das Streben der Kämpfer und Eroberer jeweils auf ein Ziel gerichtet, aber letztlich geht es immer auf das Ganze, die »Welt« — es geht ins Unendliche; es wird selbstzweckhaft; politisch gesagt: imperialistisch. 3. Tendiert das Handeln zur Selbstzweckhaftigkeit, will der Wille sich, dann ist aber zugleich der Gegensatz oder die Gegenbewegung gegeben. Das Ich setzt aus sich das Nicht-Ich als seine Negation (Fichte); der Wille » Das ist der Grundgedanke Schopenhauers, der in der Mitte seiner Erkenntnistheorie, Ethik und Ästhetik steht. - »Über den Willen in der Natur«, in: SW, hg. v o n Wolfgang v. Löhneysen, Darmstadt 1977, Bd. 3, S. 380. 10 Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt 1970, Bd. 7, hier: § 4 - 7 ; deutlich wirkt bei Hegel Fichtes dialektischer Dreischritt (§§ 1 - 3 Wissenschaftslehre) nach; v g l . bes. auch Zusatz zu § 7, S. 57.

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will sich - und läßt aus sich selbst die Möglichkeit seiner Verneinung zu, in der Liebe etwa oder in der Erlösung durch die Kunst (Schopenhauer). Kraft braucht Widerstand, der Wille Begrenzung, woraus Hegel die Dialektik in der Selbstkonstitution des Willens herleitet. Das Schwanken der Kraft, das bei Grabbes Figuren, aber auch bei ihm selbst, so auffällig ist, folgt aus dieser Logik des Willens selbst. Deshalb hat der Kampf, besonders der Zweikampf, eine allgemeine, überindividuelle Qualität; er ist struktureller Ausdruck des dialektischen Zugleichs von Wille und Verneinung, von These und Antithese. Eine logische Synthese - wie bei Fichte oder bei Hegel — oder eine ästhetische Versöhnung - wie bei Schopenhauer oder Hebbel - kennt Grabbe nicht, wenn auch bei vielen seiner Figuren Verneinungstendenzen offensichtlich sind. So verneint Gothland sich zum Schluß selbst, in anderer Weise widerruft Heinrich der Löwe seine Kraft. Faust erstrebt ein »Endziel« (I, 2), gerade um sein Streben einmal in der Zeitlosigkeit des Glücks vergessen zu können. Auch Hermanns schließliche Selbstbegrenzung auf die Situation könnte so verstanden werden. In Tancred bricht und reflektiert sich die Kraft, am deutlichsten vielleicht im abrupten Selbstwiderruf Sullas. Könnte man nicht von dieser Ambivalenz des Willens aus auch die tragikomischen Züge bei Grabbe verstehen? Kommt die Distanz des Komischen nicht aus dem Nein? — Vor allem aber sind es die Frauen, die den selbstzweckhaften Willen kritisieren: Cäcilie und Hortense, Beatrice und Constanze. Das zeigt: Wille, Energie, Fortschritt werden als männlich, Reflexion, Begrenzung, Vernunft, Liebe als weiblich gewertet. 4. Der Wille strebt zu sich selbst; von innen her gesehen erscheint er als Freiheit, von außen her aber als Notwendigkeit. Denn in der Natur, als welche der Wille - nach Schopenhauer - wirkt, fallen Freiheit und Notwendigkeit zusammen. Napoleon will kämpfen, weil er muß, und er muß, weil er will. Solche Begier wirkt als Funktion, die dem Begehren aber solange verschlossen bleibt, als sie dauert. Müssen und Wollen sind für Napoleon nicht zu trennen, ebenso wenig wie in Don Juans Begehren, Kaiser Heinrichs Imperialismus. Auch in Gothlands Rachewut fallen, wie in jeder Affekthandlung, Freiheit und Notwendigkeit zusammen. Das hat für die Struktur des Handelns wesentliche Folgen. Zum einen: Der vom Willen geleitete Handelnde glaubt von sich selbst, klare Erkenntnis seiner Motive und Ziele zu haben, in Wirklichkeit aber ist er verblendet, blind. Im Handeln herrscht die Illusion von Erkenntnis, die vollendete Tat erscheint als fremde. Dem Täter entgleitet die Tat — er will mit ihr nichts zu tun haben, lehnt Verantwortung oder

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Schuld für sie ab. In unübersehbarer Schärfe wird das im »Gothland« formuliert: »Ich war nur das Beil, das Schicksal war der Mörder.« (V, 3). Ebenso urteilt Barbarossa über Heinrich den Löwen, dessen bevorstehende Trennung von ihm kommentierend: »Verführte ihn sein Stem, so ist er schuldlos.« (II, 2) Zum andern: Die Treue zu sich selbst, die sogenannte Charakterstärke, hat ihre Legitimation in sich; in der Nibelungenhaftigkeit der Hohenstaufen, der Eichenhärte Hermanns zeigt sich Schopenhauers Hypothese: »Denn ich will, je nachdem ich bin: daher muß ich sein, je nachdem ich will.« Freiheit und Notwendigkeit, Gutes und Böses liegen demnach im »esse«, in der Natur, und nicht etwa im »operari«, im Handeln". Damit wird die immanente Stimmigkeit des dramatischen Charakters wichtiger als seine Tat; das Handeln tendiert zum Selbstzweck.

IV. Von Grabbe aus und über sein Werk hinaus eröffnen sich, im Hinblick auf den Willen und sein Handeln, weite Erkenntnisperspektiven. Sie seien nur angedeutet: 1. Das neuzeitliche, bürgerliche Subjekt ist Wille. Das gilt sowohl nach Heidegger - für das objektive Wissen des Subjekts, das ein WissenWollen ist, als auch - nach Fichte und Hegel - für die Seinsweise des Subjekts, die als Handeln begriffen wird. »Im Anfang war die Tat« (Faust). - Das neuzeitliche Wahrheitsideal der Gewißheit entspringt einem Wissen-wollen, die kognitive Herrschaft über das Objekt geht einher mit der »Selbstsicherung (Sich-selbst-wollen)« des Subjekts12. Heidegger interpretiert von dieser Struktur aus die Tendenz der Neuzeit zu Wissenschaft, Technik und Fortschritt. In anderer Hinsicht bestimmt Hegel die Wirksamkeit des Willens als Triebkraft der bürgerlichen Gesellschaft, die er als »System der Bedürfnisse« bestimmt1', die ins Unendliche streben. Hegel geht zwar grundsätzlich von der Moralität des Willens aus, betont aber auch die Selbstbezüglichkeit des Wollens (§ 122ff.). Wie im objektiven Wissen das Subjekt seine Selbstsicherung betreibt, so strebt es " "

a.a.O., S. 474 (Hervorhebungen i.Org.); vgl. dazu Hegels Anmerkung über den Charakter (Anm. 14). Martin Heidegger: Überwindung der Metaphysik, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen, 5. Aufl. 1985, S. 81. Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 188 ff., bes. § 1 9 1 .

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im Handeln - auch - nach subjektiver Befriedigung. Das Handeln wird dann unsittlich, wenn die »subjektive Befriedigung« zur »wesentlichen Absicht« wird (§ 124). Bei dem modernen, »romantischen Charaktere« liege der »Konflikt«, so Hegel, »wesentlich in dem Charakter..., dem die Individuen in ihrer Leidenschaft nicht um der substantiellen Berechtigung willen, sondern weil sie einmal das sind, was sie sind, Folge leisten«14. Das ist bei vielen Protagonisten Grabbes durchaus der Fall. 2. Sofern — nach Aristoteles — das Drama Nachahmung von Handlung (im Sinne von Praxis) ist, hat es das Drama in der Epoche der sich vollendenden Subjektemanzipation mit diesen Strukturen des Willens zu tun. 3. Kann das klassische Drama zwischen Lessing und Schiller insgesamt als Kritik der Subjektivität verstanden werden - aber von den Gegenentwürfen der Gattungsallgemeinheiten (Vernunft, Freiheit, Humanität) her gedacht - , so wird im Drama des 19. Jahrhunderts zunehmend die Subjektivität selbst als Natur des Menschen sowohl vorausgesetzt als auch zugleich kritisiert. Daß die Subjektivität im Drama gesetzt und zugleich — tendenziell — wieder aufgehoben wird, folgt bei Grabbe viel eher aus der Ambivalenz des Willens selbst als aus einem Bedürfnis nach ästhetischer Versöhnung. 4. Grabbes Position in der Darstellung der Subjektivität im Drama des 19. Jhds. könnte, will man sich ein heuristisches Modell schaffen, zwischen Schillers »Wallenstein« und Hebbel angegeben werden.

V. Wesentliche Momente des Handelns aus dem Willen, das bei Grabbe dominiert, finden sich bereits im »Wallenstein«. Besonders auffallig sind die Parallelen zur Figur Napoleons. »Wallensteins Lager« schließt mit dem Hohelied der Kraft: »Ins Feld, in die Freiheit gezogen! Im Felde, da ist der Mann noch was wert, da wird das Herz noch gewogen. Da tritt kein anderer für ihn ein, auf sich selber steht er da ganz allein.« Wallenstein muß »Gewalt ausüben oder leiden«. (Wallensteins Tod II, 2). Er ist die Verkörperung dieses neuen, subjektiven Menschenbilds; seine Subjektivität erscheint ihm und den verwandten Figuren als »Natur«, wie die Gräfin 14

Vorlesungen über die Ästhetik, in: Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt 1970, Bd. 15, S. 560.

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Terzki sagt, die »nur sich gehorcht, nichts von Verträgen weiß«, nicht nach »Pflicht und Recht«, sondern nach »Macht« und »Gelegenheit« handelt (Wallensteins Tod I, 7). Da sein Handeln, im Unterschied zu dem des Max und des Octavio, nicht auf eine konkrete geschichtliche Situation gerichtet ist, sondern - aus seiner »Natur« kommend - zum Selbstzweck tendiert, läuft es ins Endlose, geht es auf ein »Ganzes« (Wallensteins Tod III, 15), dessen sachliche Voraussetzungen er aber nicht angeben kann. E r spielt mit Menschen und Umständen — sein Tun ist die Betätigung seiner »Natur«. »Wenn ich nicht wirke mehr, bin ich vernichtet.« (ebd. I, 7). Von hier aus wird erkennbar, was unter den Voraussetzungen der Subjektivität Fortschritt heißt: die Projektion des Willens in die Geschichte; fortschreiten heißt: weiter »wirken«. Auch Wallenstein muß, was er will. Das gilt sowohl für die innere Ununterscheidbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit im Ursprung des Willens selbst als auch für das äußere Umschlagen des Verfügenkönnens ins Reagierenmüssen, denn die Bedingungen des Handelns, die er frei zu beherrschen glaubt, treten ihm plötzlich, nach Sesins Gefangennahme, als starre Notwendigkeit entgegen - wie dem Napoleon die Koalitionsarmeen. (»Ich müßte die Tat vollbringen, weil ich sie gedacht«, das heißt: letztlich doch gewollt? (Wallensteins Tod I, 4) 1 '. Das naturhafte Handeln bringt einen gesellschaftlichen Zustand hervor, in welchem die Differenz zwischen Krieg und Frieden verschwindet, einen permanenten Kampf der Subjekte gegeneinander, der »weltzerstörend« wirkt, dennoch aber in sich als »Ordnung« besteht (Piccolomini I, 2). Man könnte dabei an Grabbes Wort von der »fortwährenden Schlacht mit abwechselndem Glück« denken (Hermannsschlacht, Dritte Nacht), jedenfalls aber an Napoleons »Frieden«, der nach Hortenses Einsicht identisch ist mit einem »ewigen Krieg«. Schließlich ist Wallenstein ein Täter, der sich in dem Maße über sich und sein Handeln täuscht, wie er aus seiner Natur, vermeintlich aus seiner Freiheit handelt. Daß er dem Saturn - der Erde, der dunklen Begierde verfallen ist und nicht zu Jupiter gehört, bleibt ihm selbst verborgen. Der Wille, sagt Schopenhauer, ist sich selbst in seinem Wirken unerkennbar. Auch diese Struktur wird bei Grabbe in großer Klarheit dargestellt, und zwar wieder im »Gothland«.

'» Zur Deutung dieses Zusammenhangs vgl. meinen Vorschlag, in: Literatur für Leser, i- Jg- 1978, H. 1, S. 57-59.

Zur Bedeutung des Willens im Drama Grabbes GOTHLAND

BERDOA

GOTHLAND

weil ich keinen Schöpfen wollte? - Wenn das wäre, wenn ich den Geringsten Argwohn hätte fassen können, Ich aber hätt' ihn absichtlich Nicht fassen wollen, Ja, dann durchwühle unermeßliches Verderben meine Seele! (V, 3)

Das Böse kommt, nach Schopenhauer, mit derselben Unmittelbarkeit wie das Gute aus unserer Natur' 6 . Diese ist, als wirkender Wille, der nachträglichen Reflexion verschlossen. Erst die vollendete Tat steht der Erkenntnis offen.

VI. Ein kurzer Blick auf die zeitgenössische Literatur läßt erkennen, wie das Thema des Willens und der Subjektivität das Drama um Grabbe beherrscht. Von ihm aus werden scheinbar so verschiedene Werke wie das Büchners und das Grillparzers vergleichbar 17 . Bei »Danton« - und Büchner selbst — fallt die paradoxe Spannung zwischen Wollen und Müssen auf. Büchner bejaht die Revolution, die politische Gewalt grundsätzlich; der Wille zur Revolution entspringt der moralischen Vernunft, idealistisch gesagt: der Freiheit, aber er kann nur realisiert werden im Durchgang durch die »Natur«, die die Gewalt in uns freisetzt — durch das, »was in uns

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a.a.O., S. 476. Vgl. dazu: Mclnnes (Anm. 2), S. 23f.

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lügt, hurt, stiehlt und mordet«. (2. Akt). Im Durchgang durch die Natur jedoch schlägt das vermeintlich freie Wollen ins »Muß«, in die Notwendigkeit um. Nach der affektiven Tat zeigt sich die Geschichte in ihrem »gräßlichen Fatalismus«'8. Danton kann die Septembermorde nicht vergessen - Melancholie befallt ihn, der diesen Mechanismus durchschaut hat. Der Wille verneint sich in ihm selbst. Bei Grillparzer begegnet uns diese Ambivalenz des Wollens ebenfalls. Im »Bruderzwist« etwa geht der Riß zwischen Wille und Willensverneinung, zwischen Handeln und Nichthandeln ebenfalls durch die Hauptfigur, hier Kaiser Rudolf, der zwischen Selbstverleugnung und Affekthaftigkeit schwankt. In der »Libussa« finden wir das subjektive Wollen im bürgerlichen Stadtgründer Prags, Primislaus verkörpert, das nichtsubjektive Erkennen in Libussa. Aber Grabbes Thema, die Subjektivität des Handelns, wird am konsequentesten im Drama Hebbels weitergeführt und zu einem vorläufigen logischen und ästhetischen Abschluß gebracht. Das sei am Beispiel der »Judith« skizziert 1 '. Thema der »Judith« ist der dialektische Prozeß, der aus der Begründung des Handelns im subjektiven Wollen entspringt und der im wesentlichen mit den vergleichbaren Strukturen bei Grabbe übereinstimmt. Hebbel stellt in Holofernes und Judith zwei Figuren gegenüber, die beide - jedoch in gegensätzlicher Weise - im Willen zentriert sind. Holofernes erhebt seinen Willen zum Gott (1. Akt), folgerichtig erklärt er seine Existenz zum Willensakt (4. Akt): »Kraft! Kraft!« (5. A k t ) ruft er, aber Kraft braucht Widerstand, den er in Judith zu finden glaubt. Diese ist der Selbstapotheose seines Willens entgegengestellt: Sie erscheint völlig ichlos, als reine Dienerin und Werkzeug ihres Gottes, durch den sie Israel zu erretten hofft. Als Dienerin und Frau ist sie passiv, in ihrer Selbstinstrumentalisierung aber wird sie männlich-aktiv, sofern sie handelt. Der Impuls zur Tat kommt aus ihrem Willen (»Wolle n u r « . . . »Du willst, was alles will«, 2. Akt). Der »Weg zur Tat«, so erkennt sie, führt »durch die Sünde«, d. h. die Selbstverdinglichung. Indem sie männlich handelt, die Menschheit in sich schändet, wird sie auf ihre Natur zurückgeworfen; als sie schließlich Holofernes tötet, tut sie diese Tat nicht mehr als Dienerin Gottes - nicht mehr in heiligem, übersubjektivem Auftrag —, sondern sie rächt ihre »Vernichtung« (5. Akt). Diese Differenz zwischen sittlich-idealistischer Tatabsicht und verborgenem Triebmotiv

" Brief vom März 1834 an die Braut. "> Ausfuhrlicher dazu meine Interpretation in: Friedrich Hebbel, München 1983, S. 19-33.

Z u r Bedeutung des Willens im Drama Grabbes

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des Handelns deckt sich ihr aber erst nach der Tat auf: »Nichts trieb mich als der Gedanke an mich selbst... Mein Volk ist erlöst, doch wenn ein Stein den Holofernes zerschmettert hätte - es wäre dem Stein mehr Dank schuldig als jetzt mir.« (5. Akt). Stein und Beil (Gothland): Indem der Täter die Natur in sich losläßt, begründet er sich als Subjekt und wird sich dadurch selbst zum Objekt. Bei Grabbe, Büchner, Grillparzer und Hebbel läßt sich dieses Umschlagen des sittlichen, freien Willens im Moment des subjektiven Handelns in den naturhaften Triebwillen beobachten. Die Tat tritt dem Täter, wie Hebbel sagt, als »Begebenheit«20 gegenüber. Die Begierde ist die Quelle der Funktion, die Freiheit des Subjekts die Quelle der Notwendigkeit, das »Ich-will« die des »Ich-muß« - bei Grabbe und bei Hebbel. Und bei beiden entspringt die »Kraft« der Unfähigkeit zu lieben und das Männliche der Verachtung des Weiblichen. Die Analogie hat aber auch ihre Grenzen. Das Sich-selbst-wollen des Willens, die Selbstbezüglichkeit der Kraft bei Grabbes Helden, entspricht dem Prozeß der Individuation bei Hebbel, für den die Vereinzelung dem Allzusammenhang des Lebens gegenüber, unabhängig von jeder individuellen Verfehlung, immer schon Schuld ist, obwohl sie, in der Natur und in der Geschichte, notwendig geschieht. Bei Grabbe aber erscheinen Kraft und Wille zwar auch als notwendig, aber nicht als durchaus schuldhaft. Seine Wertung des subjektiven Willens bleibt vielmehr, wie angedeutet, ambivalent. Er pejorisiert den Willen nicht, kann ihn deshalb in seiner gleichsam natürlichen Dialektik zeigen, die insgesamt von den Sinngebungsversuchen einer tragischen Versöhnung noch nicht überdeckt sind. Die Schemata des tragischen Untergangs: Gothlands Zynismus, Napoleons Dennoch, Heinrichs VI. barocker Sturz, die tragikomische Zweideutigkeit am Schluß von »Hannibal« und »Marius und Sulla«, sogar das metaphysische Strafgericht in »Don Juan und Faust« - sind nur indirekt an sich selbst bedeutsam; primär fächert sich in ihnen lediglich der Spielraum an Bedeutungen auf, den die Logik des Willens zwischen J a und Nein bietet. »Nur dadurch, daß es (das Drama, H . K . ) uns veranschaulicht, wie das Individuum im Kampf zwischen seinem persönlichen und dem allgemeinen Weltwillen, der die Tat, den Ausdruck der Freiheit, immer durch die Begebenheit, den Ausdruck der Notwendigkeit, modifiziert und umgestaltet, seine Form und seinen Schwerpunkt gewinnt, und daß es uns so die Natur allen menschlichen Handelns klar macht ( . . . ) - nur dadurch wird das Drama lebendig.« Mein Wort über das Drama, in: Werke, hg. von Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher, München 1965, Bd. 3, S. 546. Die Konfrontation der Tat mit der Begebenheit geschieht in der »Judith« innerhalb der Figur selbst.

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Bei Hebbel muß die Existenzschuld des Individumms gebüßt werden. Das Individuum fallt ans Allgemeine des Lebens zurück. Den Vorgang der Individuation, der Vereinzelung durch Existenz und Tat, und den der Aufhebung der Individuation im Untergang stellt Hebbel als Tragödie dar. Erst das ästhetische Modell der Tragödie kann den höheren Zusammenhang des Lebens, dem das zugrundegehende Individuum wieder anheimfällt, sichtbar machen. Die Kunst ist es, die das Individuum vor dem Nihilismus, vor Büchners »gräßlichem Fatalismus« rettet; die den Untergang als Erlösung vom Willen bzw. als Versöhnung mit dem Ganzen erscheinen lassen kann. Diese ästhetische Überhöhung des Kampfs, der Handlung und des Dramas ist Grabbe fremd - noch, muß man sagen. Denn er wartet schon auf den »Messias, der diesen Jammer im Spiegel der Kunst verklärt« 21 . Von dieser Erlösungssehnsucht her kann ein Blick auf die zweite Jahrhunderthälfte: auf Hebbel, Wagner und Nietzsche, den Zusammenhang Grabbes mit seiner Epoche begreiflicher machen. Grabbe löst die Widersprüchlichkeit des Willens aber nicht auf; er läßt einerseits das Subjekt (z.B. bei Napoleon, Barbarossa, Heinrich VI.) ungebrochen, andererseits, unvermittelt daneben, die gebrochenen Subjekte gelten (Gothland, Heinrich den Löwen, Tancred, Sulla). Er enthält uns Sinn und Synthese vor. Man sollte da nicht von Nihilismus und Pessimismus sprechen, sondern das Erkenntnispotential des Werks sehen und nutzen. Es bietet eine Phänomenologie des Willens, eine Pathologie des Wollens und des subjektiven Handelns, die für uns noch unausgeschöpfte Möglichkeiten geschichtlicher Selbstkritik enthalten.

VII. Der Held sei durch das Kollektiv determiniert", die »dramatis persona Volk« stelle ein »Gegenbild« zum Helden dar 2 '; dieser falle in der Schlacht ans Kollektiv zurück; Erlösungssehnsucht durchziehe Grabbes Bild von der Schlachtengeschichte24. In solchen Deutungen des Untergangs lassen "

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Brief vom 10. Februar 1852 an Theodor von Kobbe: »Die Zeit und ihre Trompeter, die Poeten, haben jetzt etwas Krampfhaftes an s i c h . . . Bruchstücke von vielen einzelnen Bruchstücksmenschen sind da, aber Keiner, der sie im Drama oder Epos zusammenfaßt. Wahrscheinlich kommt aber doch einmal der Messias, der diesen Jammer im Spiegel der Kunst verklärt.« Kopp (Anm. 1), S. 213.

> Nieschmidt (Anm. 1), S. 64. *4 Schneider (Anm. 1), S. 394ff.

Zur Bedeutung des Willens im Drama Grabbes

sich Analogien zur Ambivalenz des Willens erkennen. Führt man sie auf diesen als auf die gesellschaftliche Tiefenstruktur der Epoche der Subjektivität zurück, können die Interpretationen weiter in die übergreifenden geistigen und sozialen Zusammenhänge eingeordnet werden. Das Idyllische, das mit der Gewaltgeschichte korrespondiert, wird einmal als gesteigerte geschichtliche Erfahrung, als exemplarische Situation der Bedrohung gedeutet 2 '; zum anderen als Utopie eines Zustandes jenseits von Geschichte und Gesellschaft26. Im Blick auf die »Natur« des willengeleiteten Handelns (Wallenstein; Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts) kann deutlich werden, daß im subjektiven Handeln Gesellschaft als Natur und damit Natur als Gesellschaft gesetzt wird 27 . Diese Ambivalenz ist der Subjektivität eigentümlich. Im Konflikt zwischen »Händler und Helden« (Werner Sombart) steht Grabbe - und mit ihm das Gros der Interpreten - auf Seiten der Helden; Tausch ist Vermittlung, der Held will Unmittelbarkeit. Ließe sich von hier aus Grabbes Kritik am Krämer-Geist seiner Zeit nicht auch anders deuten? Entspringt die Händler-Kritik nicht auch einer antizivilisatorischen Sehnsucht? Sie ist weniger geschichtskritische Kapitalismus-Schelte als vielmehr Willensmetaphysik, die - aus der »Natur« kommend - ins Geschichtslose der Natur zurückstrebt.

" Nieschmidt, a.a.O., S. 6off. ' 6 Schneider, a.a.O., S. 390ff. " Vgl. dazu: Joachim Ritter: Hegel und die Französische Revolution, Frankfurt 1965, S. 63.

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Don Juan und Faust Christian Dietrich Grabbe »Don Juan und Faust« — Théophile Gautier »La Comédie de la Mort«

Grabbe wollte die Antipoden der Lebensweise in seinem Drama gegenüberstellen. Er war sich durchaus der Kühnheit bewußt, nach Goethe und Mozart, »diesen Meistern in beiden Stoffen«, mit einem Stück hervorzutreten, das die beiden »weltbedeutenden« Themen behandelt. Er orientiert sich für die Don Juan-Handlung des Stückes von 1829 an da Pontes Libretto, entnahm ihm die Figur des Leporello, die Figurenkonstellation Gouverneur - Donna Anna - Don Octavio und Handlungselemente der Gastmahl- und Kirchhofszene. Für die Faust-Handlung nutzte er vor allem die Szenen »Nacht« und »Studierzimmer« aus dem ersten Teil von Goethes Faust. Sein titanisches Unterfangen, die beiden antipodischen Charaktere der Weltliteratur miteinander zu konfrontieren, sie in einem Handlungszusammenhang zu integrieren, mußte sich auf die Konzeption der Figuren auswirken. Sein Don Juan hat kaum noch etwas von der sinnlich erotischen Unmittelbarkeit, dem unreflektierten Sinnengenuß eines Don Giovanni, jedoch auch nichts von dem Idealsucher E . T . A . Hoffmannscher Prägung. Grabbe selbst charakterisiert ihn in einem Brief vom 16. 1. 1829 an den Verleger Kettembeil : » . . . alle menschlichen Vorzüge, Gestalt, Genie, Phantasie, Witz, Mut, unbändige Tatkraft, selbst Gemüt vereinigen sich in ihm, doch ist er nur der nach Befriedigung der Sinnlichkeit strebende Mensch. Im zweiten Akte ist seine Liebesszene so voll Feuer, Poesie und scheinbarer Wahrheit, daß man sie einem ersten Liebhaber der besten Liebestragödie in den Mund legen könnte; und doch ist alles nur — Heuchelei. Dem Leser oder Zuschauer ergeht es aber wunderbar genug wie der Donna Anna; man muß den Don Juan doch lieben.« Ein etwas problematisches Urteil, das der Zuschauer nicht unbedingt teilt. Gleich die erste Szene zeigt einen Don Juan, der von der Schönheit Donna Annas ganz berauscht ist, sie den »festen Nordstern« nennt, der fortan einzig seinem Leben leuchtet und den Leporello daran erinnert, daß er solche Liebe schon bei Hunderten empfunden habe. Der Zuschauer ist

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also vor der Rhetorik Don Juans gewarnt. Doch auch Grabbes Don Juan selbst scheint den Mechanismus seiner Psyche zu kennen. Symptomatisch der folgende Ausspruch : »Weg mit dem Ziel — Nenn es mir nicht, ob ich auch darnach ringe - Verwünscht ist der Gedanke : jedes Ziel ist Tod — Wohl dem, der ewig strebt, ja Heil, Heil ihm, der ewig hungern könnte!« Wenn Don Juan mehr als die sinnlich erotische Erfüllung das ewige Streben nach Genuß verherrlicht, wird offenkundig, daß er nicht der augenblicksbezogene Sinnenmensch ist, der »nach Befriedigung der Sinnlichkeit strebende Mensch«. - Deutlich wird die Art seines Genießertums gleich in der ersten Begegnung mit Donna Anna, die er mit einem rhetorischen Feuerwerk umwirbt. Zuvor hat er durch ein fingiertes Duell mit Leporello vor dem Hause der Donna Anna ihre und des Komturs Aufmerksamkeit erregt, und er stellt sich dem patriotischen Spanier als tapferer Landsmann vor, der dem Magus aus dem Norden, Faust, der um Anna seine Zauberkreise ziehen wollte, mit dem Schwert den Weg wies. Was hier noch reine Erfindung Don Juans ist — die Leidenschaft des Faust für Donna Anna — wird bald durch den Zauberspiegel des Teufels Wirklichkeit. Als Don Juans Plan, sich durch das fingierte Duell Zutritt zu dem Haus Donna Annas zu verschaffen, an der mißtrauischen Vorsicht des Gouverneurs scheitert, so weiß er auf andere Weise ein Tête-à-tête mit Donna Anna herbeizuführen. Die Erwartung kann den Genuß nur steigern. Donna Anna, am Vorabend ihrer Hochzeit mit dem ordentlichen, brav philisterhaften Don Octavio, ist in ihrem Seelenfrieden erschüttert, der Anblick Don Juans hat eine Leidenschaft in ihr erweckt, die ein ruhiges Glück an der Seite Don Octavios für immer zerstört hat. In dieser Verfassung glaubt Don Juan, ihre Tugend bald besiegen zu können. Anders als Mozarts Don Giovanni versucht Grabbes Don Juan nicht, Anna in der Maske eines anderen zu verführen, sondern er vertraut auf die verführerische Kraft seines Wortes. Doch es sind nicht im eigentlichen Sinne schmeichelnde, die Reize der Geliebten ausmalende Komplimente, die Don Juan einsetzt, sondern er gibt, psychologisch verfeinerter, eine Selbstdarstellung seines absoluten Gefühls und seines unbedingten Begehrens, das jeden Widerstand zu brechen imstande ist. Das Entsetzen der Donna Anna und ihre Haßerklärung steigern nur noch das rhetorische Pathos Don Juans :

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»Mich hassen? - Mich, der darin einzig sündigt, Daß er von deiner Schönheit Strahl getroffen, Ein Aar, der freien Flugs im Äther schwebte, Geblendet nun zu deinen Füßen stürzt? Doch hasse nur, denn auch der Haß wird lieblich, Wenn es der deine ist!«

Indem Don Juan in seinem >titanischen< Bild des Aars, der die Freiheit, die Macht und den unermeßlichen Wirkungskreis des Menschen symbolisiert, nicht die Schönheit der Donna Anna, sondern ihre Gewalt über ihn rhetorisch heraufbeschwört, kettet er Donna Anna, die längst von der Kraft seiner Leidenschaft affiziert ist, um so enger an sich. Er spricht ihr damit sophistisch Verantwortung zu; und Donna Anna erliegt seiner Rhetorik und Faszination. Selbst das Pathos, mit dem sie Don Juan zurückreißt, entlarvt in der Heftigkeit ihres Widerstrebens zugleich ihr endgültiges Verfallensein an Don Juan. Offenkundig ist Grabbe in der Konzeption der Donna Anna von E. T. A. Hoffmann inspiriert. Donna Annas Haßliebe, ihr widersprüchlicher Affekt, ihr Widerstand, der durch das Emotionsgeladene seines Ausdrucks seltsam gebrochen erscheint, fordern Don Juan zu einer argumentierenden Rede heraus. In einer durch antithetische Entgegensetzung suggestiv aufgeladenen Bildsprache, die der »Liebe Feuer« gegen das »Eis« des bindenden Wortes ausspielt, stellt er die Leidenschaft als unwiderlegbares Naturrecht gegen jede ethische Bindung dar. Seine Bilder entspringen nicht spontan dem Einfall der Empfindung, sondern sie zielen wohlkalkuliert auf den Zwiespalt Donna Annas ab, auf den Widerspruch von moralischem Bewußtsein und erotischem Affekt. Indem Don Juan bewußt den >schönen Schein< ästhetischer Bildlogik als Argument gegen das ethische Bewußtsein Donna Annas einsetzt, wird er in doppeltem Sinn zum Verführer: er verführt Donna Anna nicht nur durch die überspringende Sinnlichkeit seines Begehrens, sondern durch die amoralisch demoralisierende Kraft seines Wortes. Das heißt: Don Juan zeigt sich in seiner Argumentationskunst als ein Verführer, der seine Mittel kennt und sie bewußt einsetzt. Und seine poetischen Bilder und Vergleiche, welche die Liebe als das eigentlich Belebende, als den »Lebensfrühling« preisen, die verführen wollen, verraten trotz der leidenschaftlichen Sprache in dem Artistischen des Arrangements, in dem Hyperbolischen der Ausschmückung seine Lust an der eigenen Verführungskunst. Auch wenn Grabbe mit seinem Don Juan den »Untergang der zu

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sinnlichen« Natur in Szene setzen wollte, hat er im >Don Juan< im Grunde nicht den Inbegriff des im Sinnlichen gegründeten Menschen dargestellt, sondern das Beispiel eines Menschen, der die Sinnlichkeit ästhetisch zu reflektieren sucht. Don Juan ist geistreich geworden. Aufschlußreich für diesen Verführer sind seine »für sich« gesprochenen Worte, die er über die störende Ankunft Don Octavios äußert: »Verflucht, ich war im besten Zuge. Meinem Mund entströmten Bilder dutzendweise.« Deutlich äußert sich hier die ästhetische Lust des Verführers am Raffinement seiner verführerischen Redckunst. Don Juan verführt Donna Anna nicht durch die sinnliche Kraft spontanen Begehrens, sondern durch das artistische Spiel seiner phantasievollen Rede. Don Juan ist zum reflektierten Verführer geworden, der mehr als die sinnliche Lust die Kunst seiner Verführung genießt. Nur notdürftig gelingt es Grabbe, die Faust-Gestalt in die Don JuanHandlung zu integrieren. Der alternierende Wechsel von Don Juan- und Faustszenen läßt die beiden Sphären doch weitgehend unverbunden nebeneinander stehen. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Gestaltungen, die trotz aller donjuanesken Betrügereien ohne Intrige für die Handlungsführung auskommen, benötigt Grabbe die Intrige, um überhaupt die »zwei tragischen Sagen« dramaturgisch in Beziehung zu setzen. Zum Knotenpunkt der Intrige wird die Donna Anna-Gestalt, auf die sich sowohl das sinnliche Begehren Don Juans als auch Fausts richtet. Da nun Donna Anna zur Schlüsselfigur klassischer Prägung wird, dergestalt, daß die verschiedenen Handlungsstränge auf sie bezogen bleiben, konzentriert sich das Geschehen sowohl um Faust als auch um Don Juan auf eine einzige Frauengestalt, eine dramaturgische Notwendigkeit, die dem donjuanesken Prinzip sinnlicher, extensiver Verführung entgegensteht. Das Moment der Vielzahl der Frauen als Charakteristikum sinnlicher Genialität, wie es Kierkegaard am Beispiel Mozarts vorführte, findet keine szenische Entsprechung. Die Figur der Donna Anna bedeutet innerhalb der Stückrealität für das Streben Don Juans und Fausts das alleinige »Glücksbild«, das beide an sich kettet. Mögen wir von Leporello auch von Don Juans wechselnden Leidenschaften erfahren, von der Vielzahl seiner Eroberungen — vgl. E.T. A. Hoffmann — im Drama selbst wird er allein in seinem Verlangen, Donna Anna endlich zu besitzen, vorgestellt. Zwar hat er Donna Anna in einem tieferen Sinne verführt, aber er wird sein Ziel nicht erreichen, so daß offenbleibt, ob eine neue Leidenschaft auch Donna Anna bald wieder zu einer der vielen macht, deren Liebe ihn nach genossener Lust langweilt.

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Nach dem ersten aktionsreichen Auftritt Don Juans, der hier die Fäden für sein Donna Anna-Abenteuer knüpft, wird die Faust-Gestalt in einem großen Selbsteinführungsmonolog vorgestellt, der als reine Reflexion zunächst im Hinblick auf das Don Juan-Geschehen retardierend wirkt. Fausts Reflexion auf sein unendliches Streben nach absoluter Erkenntnis »tödlicher Durst und nie gestillt« - sein Drang nach der sich selbst genügenden metaphysischen Wahrheit, der er sich ewig weit entfernt fühlt, entwickelt von der Problematik her zunächst keinerlei Affinität zu der Abenteuer-Sphäre seines Antagonisten Don Juan. Erst der Pakt mit dem Satan — entsprechend der Volkssage —, den Faust aus seinem »ungestillten Durst« nach transzendenter Erkenntnis schließt, schafft die Handlungsbrücke zu dem zunächst sich eigenständig entwickelnden Don Juan-Geschehen. Der Satan, spiritus rector der weiteren Handlungsführung, lenkt Fausts Streben mittels eines Zauberspiegels - »dramaturgisch recht abrupt« - auf Donna Anna. Er, der Don Juans Pläne kennt, integriert das bisher autonome Faustgeschehen in die Don Juan-Handlung. Es kommt auf dem Hochzeitsball der Donna Anna zur ersten Begegnung zwischen Don Juan und Faust. Don Juan tötet Don Octavio, um Donna Anna zu erobern, er wird jedoch von Faust, der mit des Satans Hilfe Donna Anna entführt, um den Erfolg gebracht. Wieder muß der Satan die Handlungsfaden knüpfen, indem er Don Juan Fausts Ziel, ein Zauberschloß auf dem Montblanc, verrät. Nachdem Don Juan den Vater der Donna Anna im Duell getötet hat, bricht er dorthin auf, um Donna Anna dem Rivalen zu entreißen. Faust, dem es nicht gelingt, die Liebe Donna Annas zu gewinnen, versetzt in dieser zweiten Begegnungsszene Don Juan und Leporello mittels seiner magischen Kräfte auf den Kirchhof nach Rom und somit in das von Mozart bzw. da Ponte vorgezeichnete Geschehen. Nicht nur die eigentlichen Begegnungen zwischen Don Juan und Faust stellen die beabsichtigte Polarität der Figuren her (explizit in der Entgegensetzung kontrastierender Maximen), sondern es findet auch über das jeweilige autonome Geschehen hinweg ein >Dialog< zwischen den Antipoden statt, der ihre antithetische Wechselbeziehung ins Bewußtsein hebt. Man könnte einen Katalog von parallelen Maximen aufstellen, von direkten Umkehrungen, von Sentenzen, die jeweils durch die Antithetik der Formulierung und des Gedankens die beiden Protagonisten über die Szenen hinweg ständig miteinander konfrontieren. Nur ein Beispiel sei genannt: Schon erwähnt wurde die Sentenz Don Juans »Weg mit dem Ziel —¡Nenn es mir nicht, ob ich auch darnach ringe —/Verwünscht ist der Gedanke: jedes Ziel] Ist Tod — Wohl dem, der ewig strebt, ja Heil, /Heil

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ihm, der ewig hungern könnte!« Zu diesem Ausspruch steht der Wunsch Fausts »Ziel, ein Endziel muß/ ich haben!« in direkter Opposition. Während Faust seines >faustischen< Strebens müde ist, da es ihm dem Ziel absoluter Erkenntnis nicht näher bringt, einem Ziel, das als glückliches Ruhen im Telos ersehnt wird, verdrängt Don Juan jeden Gedanken an ein Ziel, da es als Endpunkt, als zur Ruhe gekommenes Streben den Wechsel sinnlicher Affektionen, lustvollen Begehrens ausschließt. In der durch Opposition bestimmten Beziehung profiliert sich die Haltung der beiden Protagonisten mehr und mehr, ihre Gegensätzlichkeit sowohl als auch ihre gemeinsame Basis. Der den Grabbeschen Protagonisten gemeinsame Grundzug absoluten Strebens, ins Voluntaristische gesteigert, schaffte eine Vergleichsbasis, die zugleich die Differenz deutlich macht: Don Juan negiert in seinem Streben nach Genuß die »Unerträglichkeit« des Lebens, er hat seine Existenz gerade auf das Vergängliche wechselnder Sinnesfreuden gestellt und macht die Flüchtigkeit der Lust zu einem Leitmotiv seines Lebens, um der Ode fesselnder Ordnungen zu entgehen. Faust dagegen, der in seinem Streben gleichfalls aus der Enge gesicherter Ordnungen ausbricht, sie verpönt, sucht in seinem geistig ausgerichteten Titanismus nach der unvergänglichen Substanz transzendenter Wahrheit, die ihn die Vergänglichkeit alles Irdischen ertragen ließe. Grabbes Absicht, die antithetische Wechselbeziehung der Don Juan- und Faust-Gestalt durch parallele Sentenzen innerhalb ihrer jeweils autonomen Szenen zu betonen, erfüllt sich zwar in seiner Dramaturgie, doch zugleich führt diese Methode offensichtlich zu einer ständigen Selbstreflexion sowohl Don Juans als auch Fausts auf ihr >donjuaneskes< bzw. >faustisches< Wesen. Nicht nur Faust versucht sich in Opposition zu Don Juan zu definieren, sondern auch Don Juan wiederum hebt sich ironisch von Faust, dem »Renommisten der Melancholie«, ab. Die dramaturgische Notwendigkeit, die beiden selbständigen Stoffe zu einem Handlungsgeschehen zu verbinden, wirkt sich vor allem auf die Selbstdarstellung Don Juans aus. Seine unermeßlichen Begierden, seine Lust am Wechsel der sinnlichen Genüsse, sein Überdruß nahe dem erreichten Ziel werden mehr durch die ausgreifende Sprachgebärde, durch das rhetorische Pathos eines sich als extensiven Verführers begreifenden Don Juan verdeutlicht, als daß sie sinnlich konkret im dramatischen Handlungsverlauf sinnfällig würden. Grabbes Don Juan scheint ein Bewußtsein seiner literarischen Tradition zu haben. Auch ein reflektierter Don Juan, der die Kunst der Verführung mehr als das >fait accompli< goutiert, hat sich dem Wechsel verschrieben. Grabbes Don Juan jedoch

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lockt keine Zerlina, kein Kammerkätzchen reizt ihn, seine Verführungskünste auszuspielen. Hat er sich auch verbal der »Abwechslung« als dem »Reiz des Lebens« verschrieben, das Drama spart dieses Moment gerade aus. Das ehrgeizige Unterfangen, Don Juan mit Faust zu konfrontieren, hat zu einem Widerspruch in der Konzeption der beiden Typen und ihrer dramatischen Realisation geführt. Grabbes Konzeption des Don Juan ist - vielleicht wider Willen - originär, da er ihn zum ersten Mal als reflektierten Verführer zeigt, der das ästhetische Raffinement seiner Rhetorik mehr als die Sinnenlust selbst genießt. Doch er hat ihn eben nicht als reflektierten Verführer im Sinne Kierkegaards intendiert. Es bleibt der Bruch von Autor-Intention und Werkintentionalität. Dieses Problem stellt sich Théophile Gautier, der in seiner Comédie de la mort ebenfalls Faust und Don Juan auftreten läßt, nicht. Seine Comédie, deren Titel schon auf Dantes Versepos La divina Comedia anspielt, gehört dem Genre des modernen Epos an, unterliegt also nicht den Zwängen einer Dramaturgie, die die Konfrontation der Antipoden forderte. Gautier zielt mit seinem Werk, das in der Preziosität des Ausdrucks dem hohen Stil verpflichtet ist, auf eine moderne säkularisierte Fassung des Epos. Sein Führer durch das Totenreich ist nicht der Dichter Vergil, und keine »Beatrice neigt aus der Höhe des Paradieses dem Besucher das Haupt zu«, »Christus ist tot, das Jahrhundert hat als Gott die Wissenschaft/, als Glauben die Freiheit«. In seiner Eröffnungsrede »Portail« läßt der Dichter »den Weltmann, den Artisten, wer auch immer du sein magst« durch die traurige Pforte treten, die den Blick in die Tiefen des Totenreiches freigibt. Mag es auch keine Auferstehung für die Toten geben, der Dichter meißelt mit seinen Versen für sie Grabmäler von ziselierter Schönheit. Die Kunst - so suggeriert der »Portail« - ersetzt zwar nicht das Paradies und die Heilserwartung, doch sie verleiht den verlorenen schönen Träumen, den enttäuschten Ambitionen, der Existenz in ihrer ganzen Bitternis und Intimität Ausdruck: »Jeder Vers ist der Sarg einer gestorbenen Illusion«. In einem ersten Teil La Vie dans la mort\ Das Leben im Tode gibt sich der Dichter bei seinem ziellosen Flanieren auf dem großen Friedhof an einem grauen kalten Totensonntag ganz seinen düsteren Todesvisionen hin. Er betrachtet die prunkvollen Grabmäler, die pathetischen Inschriften der untröstlichen Hinterbliebenen, die verlassenen Grabstätten, auf denen keine Blume mehr vom Gedenken der Lebenden zeugt, und stellt sich vor, daß der Tod möglicherweise nicht das ewige Vergessen bringen könnte, die Toten vielleicht ohnmächtig Verrat und Vergessen der Leben-

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den erleiden müßten — eine Variante des Motivs vom lebendig Vergrabenen, das sich im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute. Inspiriert vom Locus desertus der Friedhofsszenerie mit bleicher Mondsichel und düsteren Wolken, hört er die Klagen der Toten und vernimmt schließlich den Schauder erregenden Dialog zwischen einer kürzlich erst verschiedenen jungen Braut, die auf ihren Bräutigam wartet, und dem Totenwurm, dem allein sie in ihrem Grab nun vermählt ist. Dieser Dialog zwischen »La Trépassée« und »Le Ver«, der für unseren Geschmack einer vom Edelkitsch impregnierten Schauerromantik verpflichtet bleibt, endet mit dem tröstlichen Hinweis des Totenwurms, daß alles seinen Sinn habe, Gras und Heckenrosen am Grab üppiger und farbiger gedeihen. In dunkle Gedanken verloren nach Hause zurückgekehrt, begegnet der Dichter auch hier wieder dem »Leben im Tode«; die Büste Raphaels belebt sich, und der große, so jung verstorbene Renaissancemaler spricht voll Bitterkeit über die Blasphemie des Jahrhunderts, das die Geheimnisse des Genies den Maßen des Schädels entlocken will, die Ruhe der Toten mißachtet. Hier artikuliert sich Gautiers Kritik an einem Positivismus, der künstlerische Genialität >wissenschaftlich< zu begründen sucht, den Geist der Schönheit dabei verloren hat. - Doch die Stimmen der Toten, die das Bewußtsein von Lebenden haben und an der Ohnmacht ihrer Immobilität leiden, verstummen schließlich... La Mort dans la vie/ >Der Tod im Leben< — der zweite Teil der Komödie beginnt. »Der Tod ist vielgestaltig, er wechselt Maske und Kleid häufiger als eine launige Schauspielerin«, heißt es hier zu Beginn. Die Welt scheint nach Ansicht des Dichters ein Tummelplatz von Scheinlebendigen zu sein, die ihre abgestorbene Seele hinter einer Maske von Scheinaktivitäten verbergen. »Toute âme est un sépulchre où gisent mille choses; ( . . . ) et l'homme est à vrai dire / Une Nécropolis.« (»Jede Seele ist ein Grabmal, wo tausend Dinge ruhen, ( . . . ) und der Mensch ist in Wahrheit eine Totenstadt«). Und dieser Tod, der der Mitwelt verborgen bleibt, zeigt ein ebenso furchtbares Antlitz wie der zuvor geschaute Tod der Dahingeschiedenen. Ähnlich wie Dante, der auf seiner Wanderung durch Inferno, Purgatorio und Paradiso berühmten Gestalten aus Mythologie und Geschichte begegnet, stößt Gautiers Dichter auf zwei Antipoden der Weltliteratur, die ihr Debüt in der Renaissance hatten und seither die Phantasie der Künstler immer wieder herausforderten, auf Faust und Don Juan. Und auch der schillernde Heros der Geschichte, der ganz Europa sein Siegel aufgeprägt hat, Napoléon, hat seinen Auftritt, wohl in Analogie zu Dantes Barbarossa.

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Als erster der Großen im dunklen Reigen erscheint der D o k t o r Faust, der Dichter erblickt ihn in derselben Pose, in der der Zauberer Rembrandt ihn in »dem schwarzen Bild mit den flammenden Strahlen« festhielt. Er spricht ihn an, fragt, o b er noch immer nach dem kabbalistischen Wort suche, das den Geist erscheinen lasse, ob Scientia, seine angebetete Geliebte, sich endlich seinen keuschen Wünschen hingegeben habe, oder ob er wie am ersten T a g noch immer nur ihr Kleid und ihren Pantoffel küsse, seine asthmatische Brust überhaupt noch Atem habe für Liebesseufzer. Unüberhörbar die erotische Bildlichkeit, die Faust als unglücklich buhlenden Liebhaber einer majestätisch unnahbaren Herrin erscheinen läßt, die launisch mit dessen Passion spielt. Der Ton erinnert an Baudelaires »Hymne à la Beauté«, die ihrerseits den Dichter als tragi-komischen Anbeter der amoralisch majestätischen Schönheit interpretiert. Wie Grabbe stellt auch Gautier Fausts Erkenntnisdrang als grande passion dar, die sein ganzes Sein verzehrt. Auch die ironische Brechung die Suggestion der Vergeblichkeit allen Strebens - fehlt nicht. D o c h Gautiers Faust eignet nichts von dem titanischen Omnipotenzwillen eines Grabbeschen Faust, der sich über Satan erhebt, ihn als Knecht demütigt, seine ungestillten Begierden wie ein gereizter Despot mit Wutausbrüchen und Gewalt kompensiert. Dieser war weniger ein »Renommist der Melancholie«, wie D o n Juan seinen Gegenspieler charakterisierte, als vielmehr ein Rhetoriker der Machtbesessenheit. Donna Annas Dictum »Sein Geist/ Schnaubt nach der Liebe, wie nach Blut der Tiger!« läßt noch seine Leidenschaft als sentimentalischen Kraftakt erscheinen, deutet sie weniger als Ausdruck erotischen Rausches. Ihre ironische Frage : »Flammst D u Liebe, und/ Philosophierst?« verweist auf seine Besessenheit, auch dort nach Gründen zu suchen, wo Begründungen nutzlos sind. Grabbe zeigt einen als Titan sich verstehenden Faust, der mit Rachsucht auf den Mangel an Wunscherfüllung reagiert; Gautier dagegen einen von seiner vergeblichen Suche nach dem sinnerschließenden Wissen Erschöpften, einen radikal desillusionierten Faust, der von der Sinnlosigkeit seines Lebensentwurfs überzeugt ist. Dieser Faust verwünscht, vom Baum der Erkenntnis gegessen zu haben, denn diese Kost enthielt ein stärkeres Gift, als die tödlichen Gifte des javanischen Upabaumes, der Euphorbia oder der MancenillaStaude. »La science est la mort.« Gautiers Faust hat jeden Glauben verloren, fühlt nur noch die Leere in seinem Inneren, das »Nichts«. Dieser Faust hat die Suche nach dem »Riegel, womit die Geheimnisse/ Des Alls verschlossen sind« (Grabbe I, 1) aufgegeben, das Instrumentarium seines Labors zerstört. Was ihm Erfüllung hätte bringen sollen, sein Erkenntnis-

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drang, führte ihm nur seine Nichtigkeit vor Augen. Im Bild des Tauchers, der sich der überwältigenden Fauna und Flora der Tiefen des Meeres aussetzte und nicht genug Atem hatte »unter der Wellenkuppel«, verdichtet dieser Faust sein vergebliches Mühen. Gautier spart das Motiv des Teufelspakts aus, stellt Faust als einsamen Intellektuellen dar, der die tragische Einsicht gewann, daß er über der Suche nach den Lebensgründen das Leben selbst versäumt habe, »Comme une tombe un mort, ma cellule renferme/ Un cadavre vivant« (»Wie das Grab den Toten, so birgt meine Zelle einen lebenden Leichnam«). Der Titel des Teil II »La mort dans la vie« offenbart hier seine Bedeutung. Fausts Erkenntnis, daß ein einziger Kuß der »douce et blanche Marguerite« mehr wert sei als all sein Forschen, das doch nur ein »vielleicht« brachte, kommt für ihn zu spät. Seine Botschaft »Pour savoir comme on vit n' oubliez pas de vivre:/ Aimez, car tout est lä!« birgt für ihn, der am Rand des Grabes steht, nur die tragische Erkenntnis vom verfehlten Leben. Den Dichter führt die Begegnung mit Faust, dem großen Sucher, der das Nichts fand, nur zu weiteren düsteren Reflexionen. »Die endlose Spirale dringt weiter ins Leere vor«, das Rätsel der Sphinx bleibt ungelöst, der Tod verliert angesichts der vielen Existenzen, die am Ende ihres Lebens nur die Illusion ihres Lebens begreifen, nichts von seinem Schrekken. Es gibt so viele »Faust ohne Margarete,/ die die Hölle nicht will und die der Himmel enterbt;/ All die, beklagt sie!« Gautiers Purgatorium kennt keine Hoffnung, keine Heilsbotschaft mehr. Auch die Begegnung mit Fausts Antipoden, der in der Liebe Erfüllung suchte und die Existenz führte, die jener zu spät als glücksbringend erkannte, kann die Melancholie des Wanderers nur noch vertiefen. Der junge Kavalier, ein Beau, in der Tracht aus der Zeit Louis Treize, enthüllt sich bei genauerem Hinsehen als eine Art lebender Mumie, von Alter und Siechtum schrecklich entstellt. Schminke und luxuriöse Pracht, in schneidendem Kontrast zu der Hinfälligkeit der Gestalt, lassen sie nur noch trauriger, grauenvoller erscheinen. Gautier führt - wie zuvor Balzac in LElixir de la longue vie - Don Juan als Greis vor; doch anders als Balzac in seiner Gesellschaftssatire, die ihn als Zyniker zeigt, akzentuiert er den tragischen Aspekt der Figur. Und diese Tragik liegt nicht - wie später bei Henri Bataille - im Altersprozeß selbst oder in der Erkenntnis, daß er mit dem Mythos seines Rufs nicht konkurrieren kann, sondern im Bewußtsein seines verfehlten Lebensziels. Der Dichter hält zunächst - wie zuvor mit Faust - stumme Zwiesprache mit der umherirrenden Gestalt, evoziert in scharf konturierten Bildern

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den grotesken Anblick der aufgeputzten Skelettgestalt, die der Nacht ihre Liebesklage anvertraut und wie in alten Zeiten unter einem Balkon auf eine Schöne — nun vergeblich — wartet. Er suggeriert die Vorstellung, als hoffe dieser traurige Schatten eines Verfuhrers noch immer auf seine Wirkung, und mahnt, es sei Zeit für ihn nach Hause zu gehen. Und wie Faust zieht auch Don Juan die Bilanz seines Lebens; er versetzt sich in die Vorstellungswelt der noch unerfahrenen Jünglinge mit ihren erotischen Wunschträumen, ihrer Sehnsucht, ihrem bewundernden Neid für ihn, den »vergeßlichen Eroberer«, sie würden noch für seine »bescheidenste Blume« in ihrem Herzen einen Altar errichtet haben... Gautiers Don Juan gehört in die Reihe der Idealsucher. Er versteht die Träume der Jünglinge, weiß um die Leuchtkraft »des Apfels vom verbotenen Baum«, hat jedoch auch den Trug seines Glücksversprechens erfahren. Er kennt die Skala der Liebe, den Schmelz jungfräulicher Hingabe ebenso wie die Künste raffinierter Courtisanen, orgiastische Ausschweifungen etc., und er zieht das Fazit: »J'ai brûlé plus d'un coeur dont j'ai foulé la cendre,/ Mais je restai toujours, comme la salamandre,/ Frois au milieu du feu«. »Mehr als ein Herz hab ich entzündet und dessen Asche mit Füßen getreten, doch stets blieb ich selbst — wie der Salamander — inmitten des Feuers kalt.« Dieser Don Juan, der sein Leben der Liebe verschrieb, hat die Liebe nie erfahren. Die Frauen - ob Jungfrau oder Courtisane - blieben für ihn immer nur zauberhafte Phantome. Er scheint selbst das ephemere Glück einer Liebesseligkeit, wie sie Lenaus Don Juan etwa erlebte, bevor er der Monotonie des immergleichen Gefühlsablaufs inne wurde, nicht zu kennen. Wie Faust, der sein ganzes Leben nach Erfüllung seines Wissensdrangs strebte und nie auch nur das Trugbild der Erfüllung fand, genoß auch dieser Don Juan nicht einmal einen Augenblick selbstvergessener erotischer Leidenschaft. Wie E.T.A. Hoffmanns oder Lenaus Don Juan war er auf der Suche nach dem Idealbild: »J' avais un idéal frais comme la rosée,/ Une vision d ' o r . . . Femme comme jamais sculpteur n' en a pétrie,/ Type réunissant Cléopâtre et Marie,/ Grâce, pudeur, beauté;/ Une rose mystique, Où nul ver ne se cache;/ les ardeurs du volcan et la neige sans tache/ de la virginité«. »Ich besaß ein Ideal, frisch wie der Tau, eine goldene V i s i o n . . . eine Frau, wie sie kein Bildhauer jemals in Stein gebannt hat, ein Typ, der Kleopatra und Maria zugleich vereint, Anmut, Scham und Schönheit, eine mystische Rose, die keinen Wurm in sich verbirgt, die Gluten des Vulkans und den makellosen Schnee der Jungfräulichkeit.« Doch anders als seine Vorgänger, die zunächst in jeder neu entfachten

Don Juan und Faust

Leidenschaft ihr Ideal zu finden glaubten, erlebt dieser Don Juan schon zu Beginn die Kühle seines Herzens. Sein Ideal, das die kontrastierenden Strebungen seines Wesens vereinen soll — in der Terminologie Baudelaires Spiritualität und Animalität (Mon coeur mis am)—, kann in der Realität auch nicht eine nur ferne Entsprechung finden. Kleopatra und Maria, Vulkan und Schnee, oder prosaischer formuliert: Hure und Jungfrau, dieses Ideal muß reine Wunschphantasie bleiben, denn die vulkanische Glut, die seine Leidenschaft entfacht, läßt den jungfräulichen Schnee dahinschmelzen. Gautiers Don Juan formuliert - und das ist einzigartig in der gesamten Don Juan-Literatur — pointiert seine männliche erotische Wunschphantasie. Wie all seine Vorgänger läßt er sich auf die Individualität der Frauen nicht ein, doch anders als diese erscheint er selbst als tragische Gestalt, da er den Sinn seiner Existenz an ein Ideal knüpft, das Chimäre seines dualistischen Inneren ist. Mozarts Don Giovanni berauschte sich noch am Gefühl seines erotischen Begehrens, genoß mit dem Reiz der Eroberung zugleich die Lust sinnlicher Leidenschaft. Wenn er dem Komtur, dem Vertreter metaphysischer Rache, auf dessen Aufforderung zur Umkehr, zur Reue sein emphatisches >No< entgegenschleudert und unter Theaterdonner zur Hölle fahrt, bleibt er nur seinem Existenzentwurf treu. Gautiers Don Juan dagegen hat den Dualismus, der in Mozarts Oper als Kontrast zwischen der geistig metaphysischen Sphäre des Komtur und der sinnlich erotischen Don Giovannis erscheint, in sich selbst verinnerlicht. Die »vierges en fleur«, die er entflammt, verlieren nicht nur deshalb ihren Reiz für ihn, da genossene Lust sättigt und einen Don Juan die Überwindung weiblichen Widerstands lockt, sie haben ihre marianische Aura verloren, genügen der spirituellen Strebung seines Wesens nicht mehr. Grabbes Don Juan, mochte er auch mehr als die erotische Lust die Kunst seiner Verführung genießen, stellte sich als erotischer Abenteurer dar, der die Frau in ihrer irdischen Weiblichkeit begehrt. Auch Donna Anna, als »fester Nordstern« apostrophiert, erscheint nicht als Inkarnation seines inneren Idealbildes, sie ist nur eine von vielen schönen Frauen, die er alle vor der Eroberung als jeweils Schönste, Bezaubernste umwarb. Ihr Tod läßt ihn nicht verzweifeln, denn: »Gibts nicht der schönen Mädchen tausend andre?/ Wie sollt ich mich um eine grämen?« So spricht nicht der Idealsucher, der endlich den Nordstern seines Lebens gefunden zu haben glaubt. Grabbes Don Juan geht - gemäß der Stofftradition »unter Feuer, Donner und Blitz« unter und bekennt sich wie Mozarts Don Giovanni zu seiner sinnlich erotischen Existenz. Ist er auch zum reflektierten Verführer geworden, der sich weniger am Ziel als an seiner

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raffinierten Strategie berauscht, er endet ungebrochen vital ohne die desillusionierende Erfahrung des Immergleichen in der Vielzahl. Gautiers >Don Juan< dagegen, der in der Frau ein Ideal ersehnt, das die Wunschbilder seiner antagonistischen Zwienatur in sich vereint, gesteht sich die Sinnlosigkeit seiner Suche ein. Zu spät am Ende seines Lebens wünscht er, den Weg Fausts beschritten zu haben. Doch der Leser weiß, daß auch dieser Weg in die Aporie führte, Faust seinerseits Don Juan um sein Leben beneidet. Gautier wie Grabbe sehen in Don Juan und Faust nicht nur Antagonisten, sondern auch komplementäre Figuren, die nach »demselben Ziel« streben, jedoch auf »%wei Wagen« karren. (IV, 4) Doch während Gautier sie als tragische Individuen interpretiert, die ihr Lebensideal als Illusion erkennen müssen, will Grabbes Faust auch im Jenseits noch mit Satan ringen, bekennt sich sein Don Juan bei seiner Höllenfahrt noch zu seinem Leitwort »König und Ruhm, und Vaterland und Liebe«. Grabbes Antipoden bleiben letztlich statisch, sind ohne Entwicklung — auch wohl als Folge der Typenkonfrontation im dramatischen Genre.

Nachweise Christian Dietrich Grabbe: Werke und Briefe. Historisch Kritische Gesamtausgabe in sechs Bänden, hrsg. von der Göttinger Akademie der Wissenschaften, bearbeitet von Alfred Bergmann, Bd. 1. Emsdetten: Lechte, i960. Théophile Gautier: Poésies complètes, tome II; Paris: Charpentier, 1901.

Werner Broer

Grabbe im Schulunterricht Zusammenfassung der Ergebnisse des fachdidaktischen Forums

Die Ausgangsfrage lautet: Warum werden die Werke Christian Dietrich Grabbes im Deutschunterricht der Schulen so wenig behandelt, und wie ist eine breitere Präsenz des Autors Grabbe in den Schulen zu erreichen? Christian Dietrich Grabbes Leben und Werk ist den meisten Deutschlehrern zu wenig bekannt. Im Gegenzug gegen eine frühere Überbewertung der Literaturgeschichte im Deutschunterricht haben die meisten Lehrer während ihrer eigenen Schulzeit eine zusammenhängende literarhistorische Darstellung, in der Grabbe seinen festen Platz hätte, nicht kennengelernt. Auch heute noch ist bedauerlicherweise eine deutsche Literaturgeschichte oder ein Literaturlexikon nicht in der Hand jeden Schülers. Die Ausbildung der Deutschlehrer an den Hochschulen sieht (noch) nicht (wieder) überall einen Durchgang durch die Literaturgeschichte fest vor. Die Behandlung Grabbes und seiner dramatischen Texte in Vorlesungen und Seminaren bleibt an den Hochschulen auf einzelne akademische Lehrer und ihr besonderes Interesse beschränkt. So verlassen in nicht unerheblicher Zahl zukünftige Deutschlehrer die Hochschulen, die über Grabbe nie oder doch nur ganz am Rande etwas gehört haben. Ohne besonderen Anstoß werden diese Deutschlehrer Grabbe nicht in ihrem eigenen Unterricht behandeln. Ein zweiter Grund für die schwache Präsenz Grabbes in den Schulen sind die insgesamt ungünstigen Rahmenbedingungen der Unterrichtspraxis. Die Richtlinien der meisten Bundesländer erzeugen durch komplexe und vielfaltige Anforderungen angesichts der großen Zahl von Störungen der unterrichtlichen Kontinuität einen beständigen Zeit- und Arbeitsdruck, der noch durch die mangelnden kulturellen und literarischen Erfahrungen einer Mehrzahl der heutigen Schüler verstärkt wird. Dies gilt vor allem für die Grundkurse in den Jahrgangsstufen 11 — 13. Eine Besserung könnte eintreten durch die Vergrößerung der Zahl der Leistungskurse Deutsch, die jetzt durch die Neuregelung der KMK erwartet wer-

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den darf, nach der Deutsch in allen Bundesländern auch erstes Leistungsfach sein kann. Der Minimalplan an Lektüre, über den die Grundkurse kaum hinauskommen, sieht die Behandlung zweier Dramen in der Oberstufe vor, von denen eines ein klassisches, das andere ein nachklassisches (»modernes«) sein soll. Damit gekoppelt wird meist die Forderung nach einem Bühnenstück in der geschlossenen und einem anderen in der offenen Form. Unter den nachklassischen Dramen stehen die Werke Grabbes in einer breiten Konkurrenz mit Werken aus dem 19. und 20. Jahrhundert von Büchner bis Brecht. Diese beiden haben ihren festen Platz in den Lektüre-Vorschlagslisten der Richtlinien. Grabbe unterliegt im Verdrängungswettbewerb häufig seinem jüngeren Zeitgenossen Büchner, dessen Werke sich einerseits durch eine noch der Klassik nahestehende Komplexität, anderseits durch das gesellschaftliche Engagement ihres Verfassers empfehlen. Die in einigen Punkten entschiedenere Modernität in der Darstellungsweise Grabbes wird dabei übersehen oder zugunsten des Gewohnten zurückgestellt. Ein anderer Grund, der eine Rolle für die schwache Repräsentanz Grabbes an den Schulen gespielt haben mag, ist heute ausgeräumt : Die politischen Vorbehalte gegen unsern Autor, wie sie nach dem Mißbrauch Grabbes im 3. Reich eine Zeitlang bestand, sind entkräftet, insbesondere durch das I. internationale Grabbe-Symposion 1986 in Detmold, und lassen sich ernsthaft nicht mehr als Argument gegen die Behandlung Grabbes in der Schule verwenden. Die in den meisten Bundesländern recht offenen Richtlinien für den Deutschunterricht lassen durchaus Platz für Grabbes Werk. Schon in der Sekundärstufe I soll im Regelfall ein Bühnenstück gelesen werden. Dies könnte »Napoleon« oder »Hannibal«, unter bestirnten Umständen auch »Herzog Theodor von Gothland« oder »Die Hermannsschlacht« sein. Auch die heute nicht mehr als jugendgefährdend angesehene Komödie »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung« ist geeignet zu einer ersten analytischen Begegnung mit einem Bühnenstück im Unterricht. In einem Alter, in dem die Jugendlichen besonders aufnahmebereit für Heroisches sind, dürfte das Balladeske im »Gothland« ebenso ansprechen wie das Historische im »Napoleon« oder im »Hannibal«. — Bei Erzählungen über bedeutende Menschen, wie sie in der Sekundarstufe I auf offene Ohren stoßen und wie sie sich z.B. für Vertretungsstunden empfehlen, könnte der Dichter Grabbe vornan stehen, gerade weil bei aller Dramatik seines Lebens das Lernziel nicht nachempfindende Identifikation, sondern nur distanziertes Mit-Leiden und Nach-Denken sein kann.

Grabbe im Schulunterricht

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Mehr Chancen als bei jüngeren Jahrgängen bestehen für Grabbes Werk in der Oberstufe des Gymnasiums und der Kollegschule, in der Sekundarstufe II. Die allgemeinen Lernziele des Umgangs mit Texten lassen sich ohne Schwierigkeiten mit Grabbe-Stücken verwirklichen. Es sind viele Unterrichtsreihen denkbar, in denen ein Bühnenstück von Grabbe vorkommen könnte, so schon bei der einfachen Gegenüberstellung des klassischen und des nachklassischen oder antiklassischen Dramas, von geschlossener und offener Dramenform, in einer Reihe »Geschichte im Drama« oder »Revolution in der dramatischen Spiegelung«. Von der Stoffgeschichte her läßt sich »Don Juan und Faust« zu anderen FaustDichtungen stellen und erschließen; eine Einführung in die deutsche Komödie wird gern auf Grabbe zurückgreifen. Auch lassen sich Grabbes theoretische Arbeiten, so die Theaterkritiken, besonders aber auch der Aufsatz über die Shakspearo-Manie, in einer Reihe zur Literaturtheorie sinnvoll behandeln. Für die Gegenüberstellung zu einem klassischen Drama läßt sich als kontrastiver Weltentwurf hervorragend Grabbes »Herzog Theodor von Gothland« mit Goethes »Iphigenie« zusammenstellen, wie das der Regisseur Alexander Lang mit einer Doppelaufführung dieser beiden Werke am Berliner »Deutschen Theater« 1984 getan hat, erklärtermaßen und sehr eindrucksvoll, um die Problematik der beiden Grundpositionen, der grenzenlos bösen ebenso wie der grenzenlos humanen, den Zuschauern vor Augen zu stellen und um sie in einer modernen Theaterkonzeption zum eigenen Urteil, zum betroffenen Nachdenken und zum überlegten eigenen Handeln aufzurufen. Gleichzeitig können diese beiden Werke dazu dienen, die formalen (aber eben nicht nur formalen) Aspekte der geschlossenen und offenen Form zu erklären und den Schülern auch von daher einen Zugang zur Textsorte Drama zu eröffnen. Von der Dramentechnik her verdient allerdings auch Grabbes »Napoleon« mit seinen modernen Gestaltungselementen, die u.a. das Medium Film vorahnend einzubringen scheinen, im hohen Maße Beachtung. Erst recht gehört »Napoleon« in eine Unterrichtsreihe »Geschichte im Drama«. Sie könnte mit Schiller beginnen und dann die entschlossene Abkehr von den klassischen Normen und die kühne Hinwendung zur Geschichte selbst in ihrem Verlauf nach eigenen, nicht vom einzelnen Menschen, nicht einmal von den großen, steuerbaren Abläufen bei Grabbe zeigen. Diesen Schritt tut unter den Werken Grabbes der »Napoleon« am entschiedensten. Grabbe nimmt hier die noch frische und - wie

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sich in der Revolution von 1830 zeigt - noch in jeder Weise virulente Geschichte in den Blick. Bis in die Nebenrollen führt er auch historische Figuren vor, in deren Zusammenspiel Geschichte wird. Diese läßt kein geschlossenes Konzept (wie bei Schiller) erkennen, ihr Sinn erfüllt sich perspektivisch, was dem Denken heutiger Schüler zweifellos entgegenkommt. Weiterführung zum Geschichtsdrama des 20. Jahrhunderts bis hin zum Dokumentartheater ist leicht möglich. Auch für eine Reihe »Die Revolution im Drama« (1989 naheliegend) bietet Grabbes »Napoleon« einen wertvollen Beitrag. Mit scharfem Blick legt Grabbe Ursachen, Abläufe, Folgen der Umbrüche frei und führt dabei illusionslos menschliche Hilflosigkeit und menschliches Versagen vor. Das Aufbrechen des Chaos beim Zusammensturz staatlicher Ordnungen ist selten so eindrücklich und gleichzeitig geschichtstreu im Drama dargestellt worden wie von Grabbe. Daß Grabbe selbst diesen Aspekt seines Napoleon-Dramas sehr wichtig nahm, beweist die berühmte Vorbemerkung zur Druckausgabe. Bei der Behandlung von Goethes Faust, dem immer noch häufigsten Bühnenwerk in den Leselisten der deutschen Oberstufenschüler, ist es gute Gewohnheit, mit der Geschichte des Faust-Stoffes v o m Volksbuch und Christopher Marlowe bis hin zu Thomas Mann bekanntzumachen, oft in Referaten oder mit Leseproben. Hier wird man die doppelte literarische Kühnheit des Dramatikers Grabbe den Schülern nicht vorenthalten können. Er konkurriert mutig mit dem großen Zeitgenossen Goethe, der auch noch an seinem Faust II schreibt, und versucht darüber hinaus, die andere große Gestalt der europäischen Literatur, D o n Juan, mit Faust im dramatischen Spiel zusammenzufügen. Wenn »Don Juan und Faust« aus Zeitgründen nicht ganz gelesen werden kann, empfiehlt sich doch der Hinweis auf das Werk und ein gröberer Überblick. Vielleicht lassen sich auch im Vergleich mit Goethes Faust Klausurthemen gewinnen. A n zugkräftigen Komödien ist die deutsche Literatur nicht gerade reich. Eine Unterrichtsreihe über »Ziele und Wirkungen der Komödie« könnte von Grabbes »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung« ausgehen und dabei auch die dort eingepaßten literarischen Verständnishilfen und Durchblicke herausarbeiten. Grabbe läßt den Dichter Rattengift im Gespräch mit dem Teufel (II, 2) die ganze Welt als »ein mittelmäßiges Lustspiel« bezeichnen, »welches ein unbärtiger, gelbschnabeliger Engel, d e r . . . noch in Prima sitzt, während seiner Schulferien zusammengeschmiert hat.« Eine solche Bemerkung, desillusionierend, die klassische Weltordnung leugnend, zielt wie die ganze Handlung des Stückes in sehr

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moderner Weise darauf, den Leser oder Zuschauer zu schockieren. Gerade der Verzicht auf Belehrung oder erkennbar angestrebte Erziehung und Besserung wird bei heutigen Schülern seinen Effekt nicht verfehlen. Grabbe bietet mit seiner Komödie »kecke, starke Lustigkeit«, für die der Deutsche nach Grabbe eigentlich »viel zu gebildet und zu vernünftig ist« (III, 1). Mit spitzen, zeitkritischen, vor allem literaturkritischen Hieben regt er zum Verlachen an. Es kommt nicht zu einem versöhnlichen, befreienden Lachen, vielmehr kann dies an manchen Stellen den Zuschauern im Hals steckenbleiben. Grabbes Komödie nimmt nicht nur Gestaltungszüge des absurden Theaters vorweg, sondern in Verbindung damit auch Weltansichten. Seine Position wird besonders deutlich, wenn man Überlegungen von Lessing aus der Hamburgischen Dramaturgie (z.B. 28. und 29. Stück) über den »Nutzen der Komödie« dagegengestellt, in denen es um Lachen, nicht um Verlachen, um das Spiel von Heiterkeit und Ernst im empfindsamen Lustspiel, letztlich um die erzieherische Absicht des Aufklärers Lessing geht. Seine »Minna von Barnhelm« ist wahrlich von gänzlich anderer Art als Grabbes Stück und Figuren. In manchem steht die moderne Komödie, insbesondere die von Dürrenmatt, Grabbe nahe. Zu ihr läßt sich die Unterrichtsreihe weiterführen. Dürrenmatt deckt auf, daß die Welt aus den Fugen ist. In absurden und grotesken Elementen zeigt sich die gestörte Ordnung. Damit wird die Komödie gefährlich für die institutionalisierte Ordnung, das Lachen ein Ausdruck überlegener Freiheit. Wenn die Zeit es zuläßt, kann der Lehrer weitere Werke hinzunehmen, etwa Hauptmanns »Biberpelz« mit der starken sozialen Komponente oder eine der Komödien Sternheims mit den gesellschaftskritischen Aspekten. In dieser ganzen Reihe kann sich Grabbe gut behaupten und bei vielen Fragen erste Antworten geben, so z.B. Wie begreift der Autor das Verhältnis zwischen Stück und Publikum? Welches Weltbild wird im Werk deutlich? Welche Mittel werden eingesetzt, um komische Wirkung zu erreichen? Wie wird das Wesen der Komödie definiert? Als Lernziele einer Reihe über die deutsche Komödie lassen sich anstreben: - Die Benennung unterschiedlicher Absichten der Autoren (erziehen, erheitern, kritisieren, Sinnlosigkeit aufzeigen, menschliche Dummheit bloßlegen,...); — Die Erkenntnis unterschiedlicher Wesensmerkmale der Komödie oder der Elemente des Komischen (Nähe zur Posse, zur Satire, zum Absurden, zum Tragischen,...);

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— Das Erfassen unterschiedlicher Vorstellungen über das Wesen des Komischen oder der Komödie im Zusammenhang mit individuellen Weltentwürfen der Dichter und dem Geist ganzer Epochen; — Die Einsicht in die Stellung der einzelnen Komödien in der Geschichte der deutschen Literatur; Letztlich ließe sich auch noch die Ständeklausel bei der Behandlung von Grabbes Komödie mit erörtern. Einen besonderen Grund, Grabbe im Unterricht aufzugreifen, könnten die Schulen in Niederdeutschland, besonders in Westfalen und Niedersachsen, haben: er ist ein Dichter ihrer Region, einer der wenigen großen. Dies scheint auf den ersten Blick der Weltoffenheit zu widersprechen, zu der die Schüler heute erzogen werden sollen und müssen. Beim genaueren Hinsehen löst sich der Widerspruch: dem Motto »Sich in die Welt wagen« ist das andere ein gleichwertiges Korrelat: »Festen Fuß in der HeimatRegion fassen und halten«. Das bedeutet nicht Heimattümelei, gefühlige Selbstbeschränkung, bornierten Provinzialismus, auch nicht Landschaftsgebundenheit als literarhistorisches Erkenntnisprinzip, sondern Festigung des Standpunktes, Sichtung der Umwelt und Einrichtung in ihr, auch in der geschichtlichen, die ihre unübersehbaren Spuren und Fortwirkungen hinterlassen hat. Wenn man sieht, wie die Schwaben ihren Mörike pflegen, die Schlesier sich um Eichendorff, die Ostpreußen um Agnes Miegel kümmern, möchte man diesen Mut zu den eigenen Dichtern der Vergangenheit (und der Gegenwart) auch den Menschen an Rhein und Weser wünschen. Manchmal scheint es, daß sie sich erst von Auswärtigen, von Grabbe-Freunden aus der weiten Welt sagen lassen müssen, was sie an ihrem Dichter (und an den andern der Region) haben. Die Beschäftigung und die Auseinandersetzung mit Grabbe muß nicht auf den Deutschunterricht beschränkt bleiben. Wenn bei der Livius-Lektüre im Lateinunterricht die Geschichte der punischen Kriege gelesen wird, läßt sich Grabbes »Hannibal« erhellend danebenstellen (etwa in einem Referat mit Leseproben); die Shakespeare-Lektüre könnte der Englischlehrer auflockern durch Fragen der Shakespeare-Rezeption in Deutschland und dabei Grabbes Aufsatz über die Shakspearo-Manie lesen lassen, u.a.m. Beinahe überflüssig ist es, Grabbe für das Fach Literatur und das schulische Spiel zu empfehlen, besonders seine Komödie. Sie hat ihren festen Platz auf der Schulbühne. Das Werk bietet eine geradezu ideale Herausforderung für die jugendliche Spielfreude. Wenn es nur mit frischem Wollen angepackt wird, ist der Publikumserfolg sicher. Ein Vorteil

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des Stückes für die Schulbühne liegt schon darin, daß eine größere Zahl von Spielwilligen Gelegenheit zum Auftritt erhält. Bei allem vordergründigen und hintergründigem Scherz, bei aller Satire und Ironie werden Spieler und Zuschauer auch etwas von tieferer Bedeutung spüren. Ausführlicher hat Johannes Heumann im Grabbe-Jahrbuch 1982 über eine gelungene Schüleraufführung der Grabbe-Komödie berichtet. Von der mitreißenden Studenten-Aufführung 1949 in Münster/Westfalen, an der auch mehrere Professoren, u.a. Benno von Wiese, aktiv teilnahmen, spricht man noch heute. Kein Wunder, daß mehrfach von einer Aufführung der Komödie Grabbes aus die mitwirkenden Schüler zu eigenen literarischen Produktionen weitergegangen sind — wohl die schönste Wirkung Grabbes in der Schule.

Am Symposium »Grabbe und die Dramatiker seiner Zeit« waren beteiligt:

Dr. Werner Broer, Am Südhang 1 1 , 4930 Detmold Prof. Dr. Roy C. Cowen, The University of Michigan, Germanic Languages and Literatures, 3 n o Modern Language Building, Ann Arbor, Michigan 48109-1275, USA Prof. Dr. Lothar Ehrlich, Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur, Burgplatz, DDR-5 300 Weimar Prof. Dr. Hiltrud Gnüg, Germanistisches Seminar in der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Am Hof id, 5 300 Bonn 1 Prof. Dr. Peter Hasubek, Fachgebiet Deutsche Sprache und Literatur im Fachbereich Erziehungswissenschaften der Technischen Universität Braunschweig, Bültenweg 74/75, 3300 Braunschweig Prof. Dr. Jürgen Hein, Fachgebiet Deutsche Sprache und Literatur im Fachbereich 23 der Westfalischen-Wilhelms-Universität, Fliednerstr. 21, 4400 Münster Prof. Dr. Herbert Kaiser, Fach Germanistik im Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität/GHS Duisburg, Lotharstr. 65, 4100 Duisburg 1 Dr. Detlev Kopp, Melanchthonstr. 57, 4800 Bielefeld 1 Dr. Ladislaus Löb, University of Sussex, School of European Studies, Falmer, Brighton B N i 9QN, England Prof. Dr. Harro Müller, Kiskerstr. 10, 4800 Bielefeld 1 Dr. Maria Porrmann, Eupener Str. 17, 5000 Köln 41 Prof. Dr. Martin Rector, Seminar für deutsche Sprache und Literatur der Universität Hannover, Weifengarten 1, 3000 Hannover

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Prof. Dr. Emst Ribbat, Germanistisches Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität, Domplatz, 4400 Münster Prof. Dr. Ralf Schnell, Keio University, 2-15-45 Mita, Minato-Ku, Tokyo 108, Japan Prof. Dr. Hartmut Steinecke, Fachgebiet Germanistik im Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität/GHS Paderborn, Warburger Str. 100, 4790 Paderborn Prof. Dr. Florian Vaßen, Seminar für deutsche Sprache und Literatur der Universität Hannover, Weifengarten 1, 3000 Hannover Dr. Michael Vogt, Schötmarsche Str. 20a, 4817 Leopoldshöhe Prof. Dr. Hans-Georg Werner, Große Klausstr. 21, DDR-4020 Halle Priv.-Doz. Dr. Raimar Zons, A m Siep 33, 4791 Altenbeken sowie ein aufmerksames und diskussionsfreudiges Publikum.