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German Pages [323]
Gotthold Ephraim Lessing im kulturellen Gedächtnis – Materialien zur Rezeptionsgeschichte
Band 4
Herausgegeben von Carsten Gansel und der Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption Kamenz
Carsten Gansel / Norman Ächtler / Birka Siwczyk (Hg.)
Gotthold Ephraim Lessing im Kulturraum Schule Aspekte der Wirkungsgeschichte im 19. Jahrhundert
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-1515 ISBN 978-3-7370-0633-0 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de 2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Gotthold Ephraim Lessing. Stahlstich von Albert Henry Payne (1812–1902) nach Heinrich Wilhelm Storck. Um 1845. Lessing-Museum Kamenz, 346 II G 2.
Inhalt
Carsten Gansel, Norman Ächtler und Birka Siwczyk Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Carsten Gansel Zur Wirkungsgeschichte von G. E. Lessings »Minna von Barnhelm« an den Höheren Lehranstalten des 19. Jahrhunderts oder Wie man in der Geschichte des Deutschunterrichts eine »Meisterzählung« konstruiert und bis in die Gegenwart ›falsch‹ erzählt . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Norman Ächtler Zwischen Ressentiment und Toleranz. Zur Rezeption von Lessings Nathan der Weise im pädagogischen Diskurs um 1900 . . . . . . . . . . .
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Birka Siwczyk Ausgewählte Schulschriften in Lessing-Jubiläumsjahren im Zeitraum von 1854 bis 1883 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Senta Stiller Die Kanonautoren Lessing, Goethe und Schiller im Deutschunterricht – untersucht an Schulprogrammschriften von deutschen Mädchenschulen im 19. und frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus Zur Kanonisierung von G. E. Lessing, J. W. v. Goethe und F. Schiller im gymnasialen Deutschunterricht – untersucht an Schulprogrammen von hessischen Gymnasien im 19. und frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . .
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Inhalt
Cezary Lipin´ski Zur Präsenz von Gotthold Ephraim Lessing im schlesischen Schulwesen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts am Beispiel von Schulprogrammen ausgewählter höherer Schulen in Kattowitz und Breslau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Fritz Markewitz Ein Beitrag zur textsortenlinguistischen Erschließung von Schulprogrammen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Matthias Hanke »Keine Macht der Welt vermag das garstige Lied von dem, was Politik im engeren Sinne bedeutet, in ein Geschenk der Musen zu verwandeln.« Zum Lessingbild in pädagogischen Zeitschriften im ›Dritten Reich‹ . . . 237 Werner Nell Lessing in Galizien: Deutschsprachige Schule und jüdische Literatur . . . 267 Heinrich Kaulen Lessings Fabeldidaktik und ihre Bedeutung für den Deutschunterricht . . 289 Manfred Beetz Zur Diagnose von Vorurteilen in Lessings Frühwerk . . . . . . . . . . . . 301
Carsten Gansel, Norman Ächtler und Birka Siwczyk
Vorbemerkungen
Gotthold Ephraim Lessing und sein Werk gehören seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zweifellos zum ›Kernkanon‹ der deutschsprachigen Literatur. Eine ganze Reihe von Einzelstudien, Handbüchern und Editionen hat dies seit den 1960er Jahren belegt.1 Aus gutem Grund wurde für das 19. und frühe 20. Jahrhundert von einem literarischen ›Triumvirat‹ gesprochen, zu dem Lessing, Goethe und Schiller gehören. In Bezug auf Fragen zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Lessings und seiner Werke stützte sich die Forschung bislang vor allem auf Dokumente und Zeugnisse aus dem ›Handlungssystem Literatur‹ im engeren Sinne. Im Zentrum der vorliegenden Untersuchungen standen insbesondere die Rezeption in Literatur und Publizistik sowie die aus der literarisch orientierten Öffentlichkeit hervorgehenden Initiativen zu landesweiten Festakten anlässlich von Dichterjubiläen. Es steht außer Frage, dass jenen Instanzen, die im Handlungssystem Literatur Träger der Rezeption sind, eine besondere Rolle zukommt. Über die von ihnen realisierten Handlungen bzw. spezifischen Kommunikationsakte erfolgt nolens volens die Verankerung von Autoren und Texten im kulturellen Gedächtnis einer Gemeinschaft. Im Vergleich dazu erwiesen sich die Instanzen der Vermittlung von Literatur bislang allerdings nur von untergeordnetem Interesse. Nun betont die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung demgegenüber, dass Institutionen, denen die Bewahrung, Pflege und Tradierung des kulturellen Erbes obliegt, zu den Grundbedingungen der Etablierung des kulturellen Gedächtnisses gehören. Gemeint sind sämtliche Arten von Bildungseinrichtungen, allen 1 Als nach wie vor grundlegende Quellensammlung vgl. Lessing – ein unpoetischer Dichter. Dokumente aus drei Jahrhunderten zur Wirkungsgeschichte Lessings in Deutschland. Hrsg. von Horst Steinmetz. Frankfurt a. M./Bonn: Athenäum 1969. Die einschlägigen Handbücher, die auch die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Lessings behandeln, sind: Albrecht, Wolfgang: Gotthold Ephraim Lessing. Stuttgart: Metzler 1997; Barner, Wilfried/Grimm, Gunter E./Kiesel, Helmuth/Kramer, Martin: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung. 6., neu bearbeitete Auflage. München: Beck 1998; Fick, Monika: Lessing-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Metzler 2010.
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voran die Schule. Gerade im Fall von G. E. Lessing, das haben neuere Studien gezeigt,2 haben die höheren Lehranstalten eine herausragende Rolle bei der Inthronisierung des Autors im literarischen Kanon und damit im kulturellen Gedächtnis gespielt. Die geringe Aufmerksamkeit, die der Rezeption und Vermittlung von Literatur im schulischen Kontext geschenkt wurde, resultierte einerseits in einem von den ideologiekritischen Tendenzen der jüngeren Fachgeschichte geprägten mangelnden Quellenbewusstsein. Bereits Georg Jäger hat darauf hingewiesen, dass entsprechende Ansätze zu einer »Neukonstruktion und Umwertung geistesgeschichtlicher Zusammenhänge« in Bezug auf den Literaturunterricht an den höheren Lehranstalten nicht hinreichend empirisch fundiert wurden.3 Andererseits sperrte sich der Gegenstand insofern gegen eine genauere Überprüfung, weil die Quellenlage lange Zeit als äußerst dürftig galt. So beschränkt sich etwa Hans Joachim Franks bis in die Gegenwart einzige umfassende Darstellung zur Herausbildung des Unterrichtsfachs Deutsch weitgehend auf Lehrpläne und ministerielle Verfügungen, Lesebücher und Literaturgeschichten4 – Textsorten also, die nur sehr bedingt Auskunft darüber zu geben vermögen, welche inhaltlichen Schwerpunkte, weltanschaulichen Vorgaben und didaktischen Methoden ›tatsächlich‹ in der schulischen Praxis zu tragen kamen. Pilotprojekte in Nordrhein-Westfalen (Universität Siegen)5 und Hessen (Justus-Liebig-Universität Gießen) haben seit einigen Jahren begonnen, mit der systematischen Erhebung und Auswertung von Jahresberichten höherer Lehranstalten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert einen Dokumentenbestand 2 Vgl. dazu etwa ausgewählte Beiträge von Gansel, Carsten: »Das Herz geht uns auf, wenn wir von Lessing hören oder ihn lesen« – G. E. Lessing im Kulturraum Schule um 1900. In: Mit Lessing zur Moderne. Soziokulturelle Wirkungen des Aufklärers um 1900. Hrsg. von Wolfgang Albrecht und Richard E. Schade. Kamenz: Lessing-Museum 2004, S. 205–222; Ders.: »Lebensideal der tätigen Energie« – Gotthold Ephraim Lessing als Kanonautor im ›Kulturraum‹ Schule zwischen 1800 und 1900. In: »Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten.« Kanoninstanz Schule. Eine Quellenauswahl zum deutschen Lektürekanon in Schulprogrammen des 19. Jahrhundert. Hrsg. von Hermann Korte u. a. Frankfurt a. M.: Lang 2005, S. 81–97; Ders: »Unsere Dichter sind die Dolmetscher der Volksseele« – G. E. Lessing im Lesebuch der höheren Schulen zwischen 1800 und 1914. In: Das Lesebuch 1800–1945. Ein Medium zwischen literarischer Kultur und pädagogischem Diskurs. Hrsg. von Hermann Korte/Ilonka Zimmer. Frankfurt a. M.: Lang 2006, S. 89–102. 3 Jäger, Georg: Schule und literarische Kultur. Bd. 1: Sozialgeschichte des deutschen Unterrichts an höheren Schulen von der Spätaufklärung bis zum Vormärz. Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1981, S. 146. Vgl. dazu auch den Beitrag von Carsten Gansel in diesem Band. 4 Vgl. Frank, Hans Joachim: Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfängen bis 1945. 2 Bde. München: dtv 1973. 5 Vgl. für das DFG-Projekt »Der deutschsprachige Literaturkanon in höheren Schulen Westfalens: Erschließung und Dokumentation anhand von Schulprogrammen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts« an der Universität Siegen Korte u. a. Hg.), Kanoninstanz Schule. 2005.
Vorbemerkungen
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wissenschaftlich zu erschließen, der bislang so gut wie keine Beachtung gefunden hat. Dies nicht zuletzt deshalb, weil entsprechende Bibliotheksbestände mit wenigen Ausnahmen weder bibliographisch erfasst noch hinreichend katalogisiert sind. Dabei hat sich gezeigt, dass die Jahresberichte bzw. Schulprogramme weit authentischere Einblicke in den Schulalltag der höheren Lehranstalten in den deutschen Ländern, Österreich-Ungarn und der Schweiz geben und genauere Orientierung bieten über die Gegenstände, die ›wirklich‹ im Unterricht behandelt wurden, als dies Lehrpläne und Erlasse tun können. Ferner erweisen sich Schulprogramme für die Wissenschaftsgeschichte des Faches Germanistik von besonderer Relevanz, da sie eine Rekonstruktion nicht nur der konkreten Inhalte, sondern auch der Methoden des Fachunterrichts ermöglichen.6 Vor allem die den Schulprogrammen beigelegten wissenschaftlich-didaktischen Aufsätze von Lehrenden erweisen sich diesbezüglich als ungemein ergiebig.7 Während der Beitrag von Fritz Markewitz zum vorliegenden Band die Textsorte Schulprogramm aus systemtheoretisch fundierter linguistischer Perspektive einer genaueren Beschreibung unterzieht, geben Carsten Gansel und Michaela Leon in ihrer empirischen Studie zu hessischen Gymnasien einen Einblick in die Erkenntnismöglichkeiten, die die statistische Auswertung von Schulprogrammen hinsichtlich der Rekonstruktion zentraler Parameter des Deutschunterrichts im 19. Jahrhundert bietet. Von den Ergebnissen der Pilotprojekte ausgehend hat eine Initiative an der Justus-Liebig-Universität Gießen in Zusammenarbeit mit der Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption in Kamenz die wissenschaftlichen Beiträge, die zu Lessing in Schulprogrammschriften im Zeitraum von 1800 bis 1918 vorliegen, zunächst bibliographisch erfasst. Seit 2009 wird dieser Quellenbestand in einer Editionsreihe zur Lessing-Rezeption im ›Kulturraum Schule‹, wissenschaftlich erschlossen und kommentiert, für eine größere Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Unter dem Reihentitel »Gotthold Ephraim Lessing im kulturellen Gedächtnis – Materialien zur Rezeptionsgeschichte« liegen inzwischen Bände mit wissenschaftlichen Abhandlungen aus Schulprogrammen zu »Nathan der Weise«, »Minna von Barnhelm« und »Emilia Galotti« vor.8 Die Reihe wird fortgesetzt. 6 Vgl. dazu den Beitrag von Norman Ächtler in diesem Band. 7 Zu Aufbau und Struktur von Schulprogrammen vgl. allgemein Haubfleisch, Dietmar/Ritzi, Christian: Schulprogramme – zu ihrer Geschichte und ihrer Bedeutung für die Historiographie des Erziehungs- und Bildungswesens. In: Bibliothek und Forschung. Die Bedeutung von Sammlungen für die Wissenschaft. Hrsg. von Irmgard Siebert. Frankfurt a. M.: Klostermann 2011, S. 165–205. Vgl. dazu aus textlinguistischer Perspektive den Beitrag von Fritz Markewitz in diesem Band. 8 Vgl. Gotthold Ephraim Lessings ›Nathan der Weise‹ im Kulturraum Schule (1830–1914). Hrsg. von Carsten Gansel/Birka Siwczyk. Göttingen: V& R unipress 2009 (= Gotthold Ephraim Lessing im kulturellen Gedächtnis – Materialien zur Rezeptionsgeschichte. Hrsg. von Carsten
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Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge gehen auf der Grundlage des neu erschlossenen Quellenmaterials der Frage nach, welche Rolle Lessing zu verschiedenen Zeiten im Kulturraum Schule – insbesondere am Humanistischen Gymnasium – gespielt hat. Dabei geraten – neben den bereits genannten Aufsätzen – weitere Gesichtspunkte in den Fokus, die für Fragen im Zusammenhang mit der Rezeption eines Autors und seiner Kanonisierung im kulturellen Gedächtnis von einiger Relevanz sind: Carsten Gansel verortet eine empirisch gewendete, kulturwissenschaftlich orientierte Rezeptionsforschung innerhalb der interdisziplinären Gedächtnistheorie. Aus dieser Perspektive treten die Aporien ideologiekritischer Thesenbildung hinsichtlich einer vermeintlichen Utilisierung der höheren Lehranstalten für die Nationalerziehung im zweiten Deutschen Kaiserreich deutlich hervor. Dies umso mehr im Fall von Lessings angeblich nationalistisch vereinnahmter »Minna von Barnhelm«, wie Gansel an der Auseinandersetzung von Schulmännern mit dem Lustspiel zeigt. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Norman Ächtler in seiner Auswertung von Abhandlungen in Schulprogrammen und philologisch-pädagogischen Zeitschriften zu »Nathan der Weise«. Entgegen der gängigen Meinung, Lessings Toleranzparabel sei dem Verdikt einer christlich-konservativen Grundhaltung im deutschen Schulwesen verfallen, offenbaren die Texte der Lehrkräfte eine klare Tendenz zu einer insgesamt positiven Würdigung der im »Nathan« entfalteten Programmatik religiöser Toleranz. In einem zweiten Schritt der Auswertung zeigt Ächtler einige methodische Ansätze der im Entstehen begriffenen Deutschdidaktik auf. Birka Siwczyk erschließt mit Schulprogrammschriften aus den Lessing-Jubiläumsjahren 1854, 1879 und 1881 neue Quellen für die Forschung zur Tradition der Dichterfeiern. Anhand einer exemplarischen Auswahl werden die so vielschichtigen wie differenzierten Formen des Gedenkens und der Würdigung deutlich, die Lessing anlässlich öffentlicher Ehrungen im schulischen Kontext zuteil wurden. Michael Hanke fokussiert auf weiterführende Linien der Lessing-Rezeption. Seine Auswertung von pädagogischen Zeitschriften aus der Zeit des Nationalsozialismus kommt gegenüber der landläufigen Ansicht der Forschung von einer Gansel und der Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption Bd. 1); Dies. (Hrsg.): Gotthold Ephraim Lessings ›Minna von Barnhelm‹ im Kulturraum Schule (1846–1903). Göttingen: V& R unipress 2011 (= Gotthold Ephraim Lessing im kulturellen Gedächtnis – Materialien zur Rezeptionsgeschichte. Hrsg. von Carsten Gansel und der Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption Bd. 2); Dies. Hrsg.): Gotthold Ephraim Lessings »Emilia Galotti« im Kulturraum Schule (1830–1914). Göttingen: V& R unipress 2015 (= Gotthold Ephraim Lessing im kulturellen Gedächtnis – Materialien zur Rezeptionsgeschichte. Hrsg. von Carsten Gansel und der Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption, Bd. 3).
Vorbemerkungen
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ideologischen Vereinnahmung Lessings durch das NS-Bildungssystem zu differenzierteren Ergebnissen. Dies insofern, als Hanke zum einen aufweist, dass nach 1933 nurmehr an bereits seit dem 19. Jahrhundert bestehende Tendenzen der Lessing-Rezeption angeknüpft wurde. Zum anderen durch das sehr heterogene Bild, das die zeitgenössischen Publikationen von Pädagogen zu Lessing abgeben. Dass Lessings Bedeutung für den Deutschunterricht bis in die Gegenwart auch daraus resultiert, dass er in seinen theoretischen Schriften in gewissem Sinn selbst ein ›literaturpädagogisches‹ Programm formuliert, verdeutlicht Heinrich Kaulen am Beispiel von Lessings einflussreichen »Abhandlungen zur Fabel«. Indem Kaulen Lessings Abhandlung einer kritischen Lektüre unterzieht, treten aber nicht nur die Gemeinsamkeiten hervor, die aktuelle Ansätze eines handlungs- und produktorientierten Lernens mit Lessings Abhandlungen in Zusammenhang bringen, sondern auch die Unterschiede. Die Aufsätze von Senta Stiller, Carsten Gansel und Michaela Leon, Cezary Lipin´ski und Werner Nell widmen sich der schulischen Lessing-Rezeption in spezifischen Lernumgebungen bzw. regionalen Zusammenhängen. Senta Stiller wertet die Jahresberichte von höheren Mädchenschulen in Preußen aus hinsichtlich der Präsenz von Werken der drei Klassiker Lessing, Goethe und Schiller in den Schulcurricula, Leselisten und Aufgabenstellungen. Die statistisch fundierte Studie zeigt, dass Schiller im 19. Jahrhundert auch an Mädchenschulen – weit vor Lessing – der meistgelesene Dichter gewesen ist. Carsten Gansel und Michaela Leon bedienen sich eines analogen Verfahrens für die höheren Lehranstalten Hessens und kommen für die Region zu ähnlichen Ergebnissen. Cezary Lipin´ski bietet mit dem Vergleich von Jahresberichten aus drei pädagogisch unterschiedlich ausgerichteten Breslauer Gymnasien und zwei höheren Lehranstalten in Kattowitz für Jungen bzw. Mädchen einen Querschnitt durch das schlesische Schulwesen. Anhand der Gegenüberstellung der Schulcurricula und Aufgabenstellungen dieser sehr heterogenen Schulformen wird aufgewiesen, dass Lessing zwar ungemein präsent gewesen, als kontrovers diskutierter Autor aber weitgehend der Behandlung in der Oberstufe vorbehalten blieb. Werner Nell spürt der untergegangenen Kulturlandschaft Galiziens nach. Die Vielvölkerregion im Nordosten der k.k.-Monarchie prägte auch ein spezifisches Schulwesen aus, das im deutschsprachigen Bereich wesentlich von der jüdischen Minderheit getragen wurde. Das Lessings Werk unter dieser »supranational« ausgerichteten Trägerschaft eine wichtige weltanschauliche Rolle zukam, zeigt Nell zunächst an Stellungnahmen jüdischer Intellektueller aus Galizien auf, bevor er sich u. a. dem Gymnasium in Brody zuwendet, das seinen prominentesten Schüler in dem Autor Joseph Roth hatte. Den Band beschließt ein Aufsatz von Manfred Beetz zur Diagnose von Vorurteilen in Lessings Frühwerk. Einmal mehr wird hier deutlich, warum
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G. E. Lessing bis heute aus dem Lektürekanon der Schulen nicht wegzudenken ist: Lessing ist und bleibt einer der bedeutendsten Vertreter der europäischen Aufklärung. Die Herausgeber danken Christian Tausch (Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption) für das Korrekturlesen des Bandes.
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Zur Wirkungsgeschichte von G. E. Lessings »Minna von Barnhelm« an den Höheren Lehranstalten des 19. Jahrhunderts oder Wie man in der Geschichte des Deutschunterrichts eine »Meisterzählung« konstruiert und bis in die Gegenwart ›falsch‹ erzählt1 In der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung wie den einschlägigen Arbeiten zu Literatur und Gedächtnis ist durchweg unter Bezug auf Jan und Aleida Assmann darauf verwiesen worden, dass Kultur sich dem Gedächtnis »als der Fähigkeit« verdankt, »durch Erinnern des Bedeutsamen und Vergessen des Kontingenten« Sinnwelten zu erzeugen.2 Dabei ist das Kollektiv-
1 Der Beitrag ist Teil einer im Entstehen befindlichen Gesamtdarstellung des Verfassers zur Lessing-Rezeption zwischen 1800 und 1918 und der Inthronisierung des Autors im kulturellen Gedächtnis. Der vorliegende Text entspricht in größeren Teilen der inzwischen bereits publizierten Fassung in dem von Christian Dawidowski herausgegebenen Band: Bildung durch Dichtung – Literarische Bildung: Bildungsdiskurse literaturvermittelnder Institutionen um 1900 und um 2000. Frankfurt a. M.: Lang 2013 (= Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts Bd. 69), S. 119–142. Er wurde in diesen Band aufgenommen, da er explizit Fragen der Wirkungsgeschichte von Lessing behandelt. Dabei wird in der vorliegenden Skizze auf weitere Beiträge des Verfassers Bezug genommen. Siehe dazu u. a. Gansel, Carsten: »Das Herz geht uns auf, wenn wir von Lessing hören oder ihn lesen« – G. E. Lessing im Kulturraum Schule um 1900. In: Mit Lessing zur Moderne. Soziokulturelle Wirkungen des Aufklärers um 1900. Hrsg. von Wolfgang Albrecht und Richard E. Schade. Kamenz: Lessing-Museum 2004, S. 205–222; Ders.: »Lebensideal der tätigen Energie« – Gotthold Ephraim Lessing als Kanonautor im ›Kulturraum‹ Schule zwischen 1800 und 1900. In: »Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten.« Kanoninstanz Schule. Eine Quellenauswahl zum deutschen Lektürekanon in Schulprogrammen des 19. Jahrhundert. Hrsg. von Hermann Korte u. a. Frankfurt a. M.: Lang 2005, S. 81–97; Ders: Unsere Dichter sind die Dolmetscher der Volksseele« – G. E. Lessing im Lesebuch der höheren Schulen zwischen 1800 und 1914. In: Das Lesebuch 1800–1945. Ein Medium zwischen literarischer Kultur und pädagogischem Diskurs. Hrsg. von Hermann Korte/Ilonka Zimmer. Frankfurt a. M.: Lang 2006, S. 89–102; Ders.: G. E. Lessing im ›kulturellen Gedächtnis‹ und im Kanon zwischen 1800 und 1900. In: Literatur und Geschichte. Festschrift für Erwin Leibfried. Hrsg. von Sascha Feuchert u. a.: Frankfurt a. M.: Lang 2007, S. 305–324; Ders.: Gotthold Ephraim Lessing und das kulturelle Gedächtnis zwischen 1800 und 1914 – Plädoyer für eine Neusichtung von Quellen. In: Gotthold Ephraim Lessings ›Nathan der Weise‹ im Kulturraum Schule (1830–1914). Hrsg. von Carsten Gansel und Birka Siwczyk. Göttingen: V& R unipress 2008, S. 11–35. 2 Assmann, Jan/Assmann, Aleida: Schrift und Gedächtnis. In: Dies.; Hardmeier, Christof (Hrsg.): Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. München: Fink 1983, S. 265–284, hier : S. 267; Vgl. auch: Neumann, Birgit: Erinnerung –
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gedächtnis darauf aus, eine »usable past« zu schaffen. Es versucht, eine Harmonisierung von Gegenwart und Vergangenheit herzustellen, also jene Teile in Geschichten und Riten zu erinnern, die in der Lage sind, eine Gemeinschaft zu stiften und eine kollektive Identität auszubilden.3 Über Bewertungsakte werden von unterschiedlichen Instanzen aus einer Vielzahl möglicher Vergangenheitsreferenzen – Orte, Personen, Ereignisse, Zusammenhänge – jene Elemente ausgewählt, die vor dem Hintergrund der jeweils aktuellen Interessen und Bedürfnisse als bedeutsam und erinnerungswürdig gelten können. Der Begriff ›kollektives Gedächtnis‹, auf den hier zunächst rekurriert wird, ist in den verschiedenen Forschungskontexten zunächst als eine Art ›Oberbegriff‹ gebraucht worden. Jan Assmann hat dann – und auch dies ist hinreichend bekannt – ausgehend davon in zwei Gedächtnis-Rahmen unterschieden, nämlich in das kommunikative Gedächtnis und das kulturelle Gedächtnis.4 Dieser Präzisierung lag die Überlegung zugrunde, dass es nicht unwesentlich ist, ob das kollektive Gedächtnis auf der Alltagskommunikation basiert oder auf der Grundlage von offiziellen symbolischen Gütern, Kodierungen, Objektivationen. Während also das kommunikative Gedächtnis gespeist wird durch Gespräche mit Freunden, Erfahrungen in der Familie oder der Gruppe, ist das kulturelle Gedächtnis an »feste Objektivationen« gebunden, es ist offiziell gestiftet, und es transportiert einen »festen Bestand« an Inhalten und Sinngebungen. Entsprechend hat Assmann unter dem Begriff kulturelles Gedächtnis »den in jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten« gefasst, »in deren ›Pflege‹ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt«5. Mit Blick auf den Gegenstand Literatur lassen sich die von Assmann als »WiedergebrauchsTexte« klassifizierten Artefakte auch vereinfacht als Kanontexte bezeichnen.6
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Identität – Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer »Fictions of Memory«. Berlin/New York: de Gruyter 2005, S. 72. Vgl. ebd. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C. H. Beck 1992, S. 50ff.; siehe auch: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar : Metzler 2005, S. 27ff. Siehe auch die Beiträge des Verfassers zum Komplex Literatur und Gedächtnis wie Gansel, Carsten: Rhetorik der Erinnerung – Zu Literatur und Gedächtnis in den ›geschlossenen Gesellschaften‹ des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. In: Ders. (Hrsg.): Rhetorik der Erinnerung. Gedächtnis und Literatur in den ›geschlossenen Gesellschaften‹ des Real-Sozialismus zwischen 1945 bis 1989. Göttingen: V& R unipress 2009, S. 9–19. Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders.; Hölscher, Tonio (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 9–19, hier : S. 15. Zu Kanonfragen siehe Gansel, Carsten: Kanon und Kanonisierung in der DDR. In: Literari-
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Dabei sollte klar sein, dass der Kanon keineswegs – wie dies der Begriff »materialer Kanon« nahelegen könnte –, eine naturgegebene Größe ist, vielmehr sind Kanones als »Produkte sozialer Handlungen« zu fassen, »deren Entstehungs- und Tradierungsmechanismen zu untersuchen und kritisch zu hinterfragen« sind.7 Eben dies trifft in diachroner Perspektive auch auf jene »Meistererzählungen« zu, die das Selbstbild einer Gesellschaft und den Kern der verschiedenen Gruppen- und Erinnerungskulturen prägen und ausmachen. Wie ein Kanon nicht von selbst entsteht, sondern »Produkt sozialer Handlungen« ist, so erlangen auch spezifische »Meistererzählungen« kulturelle Majorität und Macht nur, indem sie von den Trägern des kulturellen Gedächtnisses in Wiederholungsakten repetiert, kommuniziert und gegen mögliche andere Narrative verteidigt werden. Für die Etablierung und Festigung des kollektiven Gedächtnisses sind »Meistererzählungen« bzw. historische »Master Narratives« von besonderer Bedeutung, denn über sie können ganz bestimmte Inhalte memoriert, verallgemeinert, vereinheitlicht und über Generationen hinweg tradiert werden. Im allgemeinen Verständnis von Historikern, so resümieren Konrad Jarausch und Martin Sabrow, bezeichnet der Terminus »Meistererzählung« bzw. »Master Narrative« eine »kohärente, mit einer eindeutigen Perspektive ausgestattete und in der Regel auf den Nationalstaat ausgerichtete Geschichtsdarstellung«. Von Bedeutung ist dabei, dass diese Narrative »nicht nur innerfachlich schulbildend« wirken, »sondern öffentliche Dominanz« erlangen.8 Letztlich werden also unter »Meistererzählungen« die in einer »kulturellen Gemeinschaft zu einer gegebenen Zeit dominanten Erzählweisen des Vergangenen« verstanden.9 Es liegt auf der Hand, dass für die Etablierung solcher »Meistererzählungen« die Medien des kulturellen Gedächtnisses eine ebenso zentrale Rolle spielen wie gesellschaftliche Institutionen, die der Pflege von »Wiedergebrauchs-Texten« dienen. Dazu gehört, dies ist unbestritten, auch die ›Institution Schule‹. Denn letztlich handelt es sich bei der Schule um eine mit staatlicher Macht ausgestattete Bildungseinrichtung, die gesellschaftliche Selektionsprozesse realisiert und durch spezifische Handlungen (Jubiläen/Feiern, Aufführungen, Lektüren, sche Kanonbildung. Text + Kritik. Sonderband. Hrsg. von Heinz-Ludwig Arnold. München: edition text + kritik 2002, S. 233–258. 7 Barsch, Achim: Probleme einer Geschichte der Literatur als Institution und System. In: IASL 19, 1994, S. 207–225, hier : S. 209. 8 Jarausch, Konrad H./Sabrow, Martin: »Meistererzählung« – Zur Karriere eines Begriffs. In: Dies. (Hrsg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 9–32, hier : S. 16. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass der Hinweis auf die »dominante Erzählweise des Vergangenen« natürlich ein sehr grobes Raster darstellt und es angeraten wie möglich ist, eine Hierarchie innerhalb dessen herzustellen, was hier »Erzählweise des Vergangenen« genannt wird. 9 Ebd., S. 17.
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Deutungen) ganz bestimmten Autoren und Texten sowie den damit in Verbindung stehenden »Meistererzählungen« nicht nur einen Platz im kulturellen Gedächtnis einräumt, sondern auch die Art und Weise der Bewertung bestimmt. Dass in der Hierarchie der Fächer ab Mitte des 19. Jahrhunderts der Deutschunterricht zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, ist nicht nur in der Geschichte des Faches bekannt. Der Deutschunterricht macht über Raum und Zeit in spezifischer Weise das möglich, was Jan Assmann unter Bezug auf Konrad Ehlich »zerdehnte Situation« genannt hat. Darunter wird eine Kommunikationssituation verstanden, die eine »Wiederaufnahme immer derselben einmal gespeicherten Mitteilungen ermöglicht«.10 »Zerdehnte Situationen« kommen – und da ist Assmann zuzustimmen – in der Natur nicht vor, sie müssen vielmehr institutionalisiert werden.11 Die »ewige Sagkraft« von Texten, von denen Hans-Georg Gadamer spricht, erhält sich bekanntlich nicht im Selbstlauf, sie bedarf zu ihrer Archivierung wie Aktualisierung eines »ungemein voraussetzungsreichen Apparates einer kulturellen Institutionalisierung von Lernen, Auslegen, Verstehen und Beherzigen«.12 Auch und gerade durch die Reproduktion von »Wiedergebrauchstexten« im Rahmen einer »zerdehnten Situation« »kann sich eine Gesellschaft oder Kultur selbst durch die Abfolge der Generationen hindurch in identischer oder zumindest wiederkehrender Form reproduzieren«.13 Eine solche Kommunikation funktioniert allerdings nur im Rahmen »intensivster institutioneller Absicherungen«. Dies hängt auch damit zusammen, dass Texte im Wandel der Zeiten fortwährend den sich wandelnden Verstehensrahmen angepasst werden müssen.14 Mit anderen Worten, es geht darum, in institutionellen Kontexten eine ›Anschlusskommunikation‹ an die sich verändernden kulturellen Bedingungen herzustellen, womit es jeweils zu Veränderungen in der Struktur des kulturellen Gedächtnisses kommen kann.15 Mit Blick auf die Geschichte des Faches Deutsch – also Universitätsgermanistik und Deutschunterricht – ist nachfolgend von Interesse, welche »Meistererzählungen« Diskursmacht erlangt haben und welche Rolle in ihnen ein Kanonautor wie G. E. Lessing spielt. Dieser Frage sei im Weiteren nachgegangen.
10 11 12 13 14 15
Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis. München: Beck 2000, S. 150. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. In: EWE 13, 2002, S. 239–247, hier : S. 242. Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis. 2000, S. 151. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. 2002, S. 244. Ebd. Siehe Gansel, Carsten/Gansel, Christina: Textsorten und Gattungen interdisziplinär. Plädoyer für eine sozialwissenschaftliche Perspektive. In: Wirkendes Wort 3/2005, S. 481–501.
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I Die Dringlichkeit, die für die Geschichte des Faches maßgeblichen »Meistererzählungen« in Verbindung mit der Rezeption von G. E. Lessing im Deutschunterricht zu diskutieren, ergibt sich aus der Auseinandersetzung mit dem bisherigen Stand der Forschung zur Historie des Faches Deutsch im Allgemeinen wie der Wirkungsforschung zu Lessing im Besonderen. Wirft man einen Blick auf grundlegende Positionen zur Geschichte des Deutschunterrichts, dann wird bis in die jüngste Zeit an Darstellungen festgehalten, die aus den 1970er Jahren stammen und letztlich einem ideologiekritischen Ansatz verpflichtet waren. Hans Joachim Frank hat in seiner verdienstvollen »Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfängen bis 1945«, die vor immerhin vierzig Jahren (!) erschienen ist, jenes »Master Narrativ« fixiert, das bis in die Gegenwart gesetzt wird. Im Zuge der ab Mitte des 19. Jahrhunderts vertretenen Auffassung, in der Schule »Bildung durch Dichtung« zu realisieren, hätten nämlich zugleich die »neuen Tendenzen zur Nationalerziehung dem Deutschunterricht zunehmend eine Richtung und Ausprägung (gegeben), die ihn mit dem Anspruch auftreten ließen, das Zentralfach des deutschen Schulunterrichts zu sein, und die ihm damit jene verhängnisvolle Rolle eintrugen, die vom Kaiserreich durch die Weimarer Republik zur Katastrophe des Nationalsozialismus führte.«16 Frank betont, dass in seiner Darstellung der Geschichte des Faches Deutsch »der ideengeschichtliche Aspekt den Vorrang behält« und die »aufgewiesenen bewußtseinsgeschichtlichen Zusammenhänge« die Anfänge wie den Verlauf »jener Entwicklung der deutschen Geschichte« dokumentierten, »die zu ihrer größten Katastrophe wurde«.17 Nun steht das Verdienst von Franks Darstellung ebenso außer Frage, wie der Umstand, dass es Anfang der 1970er Jahre in der Tat erst einmal darum gehen musste, einen kritischen Blick auf die Geschichte des Faches zu werfen und in den Geisteswissenschaften danach zu fragen, in welcher Weise die Disziplinen mit Anteil daran hatten, dass es zum Zivilisationsbruch der Jahre zwischen 1933 und 1945 kommen konnte. Dies zu betonen, bedeutet allerdings nicht, ungeprüft bis in die Gegenwart Positionen fest- und fortzuschreiben. Frank selbst hatte seine Darstellung nicht zuletzt auch mit der nicht hinreichenden Quellenlage begründet und mehrfach betont, es sei wegen der »weitgehenden Übereinstimmung der Vorschläge« eine »Beschränkung auf repräsentative Stimmen« erlaubt.18 Freilich steht gerade in dem Fall, da die Quellenlage als problematisch empfunden wird, immer die Frage, inwieweit die 16 Frank, Horst Joachim: Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfängen bis 1945. München: dtv 1973, S. 14. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 502.
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als »repräsentativ« herausgestellten Stimmen auch in der Tat als solche anzusehen sind. Ganz abgesehen davon, besteht die Gefahr, dass unter dem Signum einer – so Frank – ideengeschichtlichen Darstellung genau jene Positionen herausdestilliert werden, die das »Master-Narrativ« von der »verhängnisvollen Rolle« des Deutschunterrichts hin »zur Katastrophe« zu stützen in der Lage waren. Auf die offensichtlichen Begrenztheiten einer einseitigen (ideologiekritischen) Wertung ohne neue Sichtung des empirischen Materials hat Georg Jäger in seiner sozialgeschichtlich orientierten Studie »Schule und literarische Kultur« (1981) aufmerksam gemacht und eine Erhebung der Quellen angemahnt: »Die in den vergangenen Jahren unter Pädagogen und Germanisten virulente Ideologiekritik«, so Jäger treffend, »lief nur zu häufig auf eine Neukonstruktion und Umwertung geistesgeschichtlicher Zusammenhänge hinaus, deren Fundierung in realgeschichtlichen Prozessen nicht empirisch kontrollierbar aufgewiesen wurde«.19 Die von Georg Jäger diagnostizierten Defizite bestehen bis in die Gegenwart und sind auch nicht durch im Detail anregende Arbeiten behoben worden.20 Hermann Korte hat daher mit Recht die aktuelle Situation betreffend betont, dass »die Geschichte des Schulfachs Deutsch sowie die Geschichte der Literatur- und Gymnasialpädagogik des 19. Jahrhunderts […] bis heute weithin eine terra incognita« sei.21 Angesichts dieser Situation verwundert es nicht, wenn Franks Auffassung von der »verhängnisvollen Rolle« des Deutschunterrichts zu 19 Jäger, Georg: Schule und literarische Kultur. Bd. 1: Sozialgeschichte des deutschen Unterrichts an höheren Schulen von der Spätaufklärung bis zum Vormärz. Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1981, S. 146. 20 Dazu gehören u. a. folgende Arbeiten: Abels, Kurt: Zur Geschichte des Deutschunterrichts im Vormärz. Robert Heinrich Hieke (1805–1861) – Leben Werk Wirkung. Wien: Böhlau 1986; Beisbart, Ortwin/Mieth, Annemarie: Deutschlehrer-Bildung im Wandel. Konzepte und Strukturen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M.: Lang 1999; Müller-Michaels, Harro: Tabus in Lebenswelt und Literatur. In: Deutschunterricht 57/ 2004, 5, S. 4–10; Paefgen, Elisabeth K.: Uhland – Goethe – Geibel. Anmerkungen zur lyrischen Kanonentwicklung im »Echtermeyer« des 19. Jahrhunderts. Volkstümlichkeit – Klassik – Nationales. In: Literaturdidaktik – Lektürekanon – Literaturunterricht. Hrsg. von Detlef C. Kochan. Amsterdam 1990, S. 251–287; Selbmann, Rolf: Vom Jesuitenkolleg zum humanistischen Gymnasium. Zur Geschichte des Deutschunterrichts in Bayern zwischen Gegenreformation und Gegenwart am Wilhelmsgymnasium München. Frankfurt a. M.: Lang 1996; Schwalb, Angela: Mädchenbildung und Deutschunterricht. Die Lehrpläne und Aufsatzthemen der höheren Mädchenschulen Preußens im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Frankfurt a. M.: Lang 2000; Schwinger, Elmar : Literarische Erziehung und Gymnasium. Zur Entwicklung des bayrischen Gymnasiums in der Ära Niethammer/ Thiersch. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 1988; Taege, Friedrich: Konzepte eines deutschen Literaturunterrichts im Vormärz. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 1992. Es wird darauf verzichtet, Ergebnisse der Arbeiten an dieser Stelle explizit darzustellen. 21 Korte, Hermann: Innenansichten der Kanoninstanz Schule. Die Konstruktion des deutschen Lektürekanons in Programmschriften des 19. Jahrhunderts. In: Korte u. a., »Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten«. 2005, S. 17–112, hier: S. 11.
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einem historischen »Master Narrativ« in dem Sinne geworden ist, als dass es sich um »die in einer kulturellen Gemeinschaft zu einer gegebenen Zeit dominante Erzählweise des Vergangenen« handelt. Ein solches Vorgehen ist nicht nur methodologisch fragwürdig. Nachfolgend wird daher – und dies kann nicht oft genug betont werden – der Ansatz vertreten, den der Romanist Werner Krauss bereits in den 1960er Jahren als unabdingbar nicht nur für die Erforschung der Epoche der Aufklärung gesetzt hat und den man knapp wie folgt auf den Punkt bringen kann: »Erkenntnisgewinn durch die Erschließung neuen Textmaterials.«22
II In welchem Maße sich die Auffassungen zur vermeintlich »verhängnisvollen Rolle« des Deutschunterrichts ohne hinreichende Sichtung der Quellen auch dort eingeschliffen haben, wo es um Einzeluntersuchungen zu einem der wichtigsten Kanonautoren geht, nämlich Gotthold Ephraim Lessing, zeigen die Beiträge zur Lessing-Rezeption. Zunächst muss betont werden, dass innerhalb der Wirkungsforschung zu Lessing die für die Vermittlung kollektiver Wissensbestände und die Ausbildung des kulturellen Gedächtnisses maßgebliche ›Institution Schule‹ nur sehr begrenzt ein Untersuchungsgegenstand gewesen ist. Dies mag ein Grund dafür sein, dass sich auch auf diesem Feld gleichermaßen pauschale wie vereinfachte Bewertungen über die Wirkung von Lessing in schulischen Kontexten verfestigt haben. Einmal mehr gilt für die insbesondere seit Ende der 1960er Jahre vorangebrachten Forschungen zur Lessing-Rezeption, dass weniger eine Sichtung des empirischen Materials erfolgt ist, sondern – entsprechend der historischen Schwerpunktsetzungen – auch hier ein ideologiekritischer Ansatz dominiert hat. Die Beiträge sahen die höheren Lehranstalten, insbesondere das Gymnasium, wie auch den Deutschunterricht als Instrument der Klassenherrschaft und folgten der »Meistererzählung« von der »verhängnisvollen Rolle« des Faches. Für die Lessing-Rezeption stellte die Forschung zwei ›Strömungen‹ heraus, die die Wirkungsgeschichte Lessings bis weit ins 20. Jahrhundert hinein bestimmt hätten: eine nationalkonservative und eine liberal-sozialdemokratische. Exemplarisch für diese ab Ende der 1960er Jahre einsetzende Wirkungsforschung, die im Einzelnen durchaus bis dahin nicht beachtete Fragestellungen diskutierte, war Horst Steinmetz’ Sammlung »Lessing. Ein unpoetischer Dichter«, die Quellen für weitere Arbeiten bereit-
22 Geißler, Rolf: »Nachwort«. In: Krauss, Werner : Aufklärung II. Frankreich. Hrsg. von Rolf Geißler. Berlin/Weimar : Aufbau 1987, S. 524.
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stellte.23 Ein Anliegen der 1971 von Edward Dvoretzky herausgegebenen Dokumentensammlung »Lessing. Dokumente zur Wirkungsgeschichte 1755–1968« war es, einen »wirklich repräsentativen historischen Querschnitt der Wirkungsgeschichte Lessings im Spiegel dichterischer Zeugnisse« zu liefern.24 In Verbindung mit Anregungen aus der Auslandsgermanistik25 kam es im Zusammenhang mit den Lessing-Jubiläen von 1979/1981 zu einer Ausdifferenzierung der Rezeptionsforschung zu Lessing. Dabei richtete sich das Interesse auf Untersuchungen zu einzelnen Werken, insbesondere zu »Nathan der Weise«, Lessings Wirkung auf literarische Strömungen, Lessing-Bilder im historischen Prozess oder Lessings Wirkung auf das Schaffen ausgewählter Autoren. Fragen der Rezeption von Lessing in der ›Institution Schule‹ und seiner dort vorgenommenen Kanonisierung spielten mit Ausnahme eines Beitrags von Dominik von König allerdings keine Rolle. Königs Aufsatz konzentriert sich auf die ›Wirkungsgeschichte‹ des am meisten diskutierten Lessing-Textes »Nathan der Weise«. Die Darstellung ist diachron angelegt und reicht vom frühen 19. Jahrhundert bis in die Bundesrepublik, wobei das 19. Jahrhundert den Schwerpunkt bildet. König macht auf verschiedene ›Textsorten‹ als Materialgrundlage überhaupt erst aufmerksam – das ist ein Verdienst – und verweist neben Lehrplänen und ministeriellen Verfügungen auf Artikel zum Thema ›Deutschunterricht‹, eine Fülle von Lesebüchern und Literaturgeschichten, Schulausgaben, Kommentaren und Interpretationen sowie schließlich spezielle Erörterungen zum Thema ›Nathan‹.26 Eine eigene Sichtung der Quellen erfolgt allerdings ebenso wenig wie eine Auswertung von Lesebüchern. Eine Zäsur innerhalb der Lessing-Forschung stellt das erfolgreiche und inzwischen in sechs Auflagen erschienene Arbeitsbuch »Lessing. Epoche – Werk – Wirkung« (1975) von Wilfried Barner, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel und Martin Kramer dar.27 Der Band geht von dem Ansatz aus, »Lessings Leben und seine Werke innerhalb eines bestimmten geschichtlichen Kontexts« zu sehen und
23 Lessing – ein unpoetischer Dichter. Dokumente aus drei Jahrhunderten zur Wirkungsgeschichte Lessings in Deutschland. Hrsg. von Horst Steinmetz. Frankfurt a. M.: Athenäum 1969. 24 Dvoretzky, Edward: Lessing heute. Beiträge zur Wirkungsgeschichte. Stuttgart: Akademischer Verlag Heinz 1981. Bis zu diesem Zeitpunkt lag einzig Julius W. Brauns Sammlung »Lessing im Urtheile seiner Zeitgenossen« (3 Bde., Berlin 1884–1897) vor, die aber vorwiegend Zeitungsartikel aus der Zeit bis 1881 enthält. 25 Siehe etwa Guthke, Karl S.: Grundlagen der Lessingforschung. Neuere Ergebnisse, Probleme, Aufgaben. In: Wolfenbütteler Studien 2, 1975, S. 10–46. 26 König, Dominik von: »Nathan der Weise« in der Schule. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte Lessings. In: Lessing Yearbook 6, 1974, S. 108–138, hier : S. 108. Siehe auch Ders.: Natürlichkeit und Wirklichkeit. Studien zu Lessings »Nathan der Weise«. Bonn: Bouvier 1976. 27 Barner, Wilfried/Grimm, Gunter E./Kiesel, Helmuth/Kramer, Martin: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung. 6., neu bearbeitete Auflage. München: Beck 1998, S. 406–411.
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zu interpretieren.28 In dem Studienbuch liefert Gunter E. Grimm eine insgesamt profunde Überblicksdarstellung zur Wirkungsgeschichte, die maßgebliche Tendenzen erfasst und erstmals auch Aspekte der Lessing-Rezeption in der Schule in den Blick nimmt. Gleichwohl bleibt die Materialbasis schmal. In den Kapiteln »›Für Schüler ungeeignet‹ (Der Schulbuchautor und die konfessionelle Orthodoxie)« und »Lessing in der Schule der Gegenwart« reflektiert Grimm die Lessing-Rezeption im Erziehungs- und Bildungskontext und gelangt zu dem Ergebnis: »Insbesondere Nathan fiel unter das Verdikt der tendenziell christlichen Literaturhistoriker und Schulbuchautoren«.29 Es ist bereits durch eine erste Edition von Beiträgen u. a. aus Schulprogrammschriften zwischen 1830 und 1914 nachgewiesen worden, dass dieses Urteil nicht haltbar ist.30 Der von Herbert G. Göpfert herausgegebene Band »Das Bild Lessings in der Geschichte« (1981) enthält Beiträge, die Aspekte der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Lessings beleuchten; die ›Institution Schule‹ spielt dabei keine Rolle. Für den in Rede stehenden Gegenstand ist allerdings Jürgen Schröders Aufsatz »Der ›Kämpfer‹ Lessing. Zur Geschichte einer Metapher im 19. Jahrhundert« (1981) von Interesse, weil sich hier zeigt, wie das Lessing-Bild maßgeblich über den gymnasialen Deutschunterricht in die Bildungsdiskurse der deutschsprachigen Staaten transportiert und im kulturellen Gedächtnis archiviert wurde. Zudem macht Schröder auf ›Spaltungen‹ in der Lessing-Rezeption ab 1890 aufmerksam.31 Bei dem von Klaus Bohnen herausgegebenen Band »Lessing. Nachruf auf einen Aufklärer« (1982) handelt es sich um eine Quellendokumentation mit Rezeptionszeugnissen wie auch um eine Darstellung der Rezeptionsgeschichte Lessings. Auf der Grundlage von Nekrologen und Gedenkreden geht es vor allem um einen Vergleich der Lessing-Bilder in den Jahren 1781, 1881 und 1981. Bohnen zeigt, wie sich in der Wirkungsgeschichte über zwei Jahrhunderte Stereotype wie »Pionier«, »Wahrheitssucher« oder »Erzieher« herausgebildet haben und deutliche Umwertungen nicht erfolgt sind.32 Der knappe Abriss der Rezeptionsgeschichte, den Madeleine Claus in ihrer Disser28 Ebd., S. 29. 29 Ebd., S. 406. 30 Siehe dazu den profunden Beitrag von Birka Siwczyk: Gotthold Ephraim Lessings »Nathan der Weise« in Schulprogrammen zwischen 1800 und 1914. In: Gansel/Siwczyk, Gotthold Ephraim Lessings ›Nathan der Weise‹ im Kulturraum Schule. 2008, S. 35–60, sowie Gansel, Carsten: Gotthold Ephraim Lessing und das kulturelle Gedächtnis zwischen 1800 und 1914 – Plädoyer für eine Neusichtung von Quellen. In: ebd., S. 11–34. Siehe auch den Beitrag von Norman Ächtler in diesem Band. 31 Schröder, Jürgen: »Der ›Kämpfer‹ Lessing. Zur Geschichte einer Metapher im 19. Jahrhundert«. In: Das Bild Lessings in der Geschichte. Heidelberg: Lambert Schneider 1981 (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. IX), S. 93–114. 32 Bohnen, Klaus (Hrsg.): Lessing. Nachruf auf einen Aufklärer. Sein Bild in der Presse der Jahre 1781, 1881 und 1981. München: Fink 1982.
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tation »Lessing und die Franzosen: Höflichkeit – Laster – Witz« (1983) gibt, wiederholt die Einschätzung von Gunter E. Grimm. Wolfgang Albrecht, der in seinem Band »Gotthold Ephraim Lessing« (1997) einen Gesamtüberblick über die neuere Lessing-Forschung und -Rezeption gibt, geht knapp auf den Deutschunterricht ein und hebt seine Rolle bei der Kanonisierung von Lessing hervor. Doch erneut wird unter Bezug auf Grimm betont: »Christlich orthodoxe Positionen prägten auch weithin die schulische Lessing-Vermittlung. Der Entstellung seiner Fabeln […] korrespondierten Vorbehalte gegenüber dem Nathan, die bis zu seiner unverhohlenen Ablehnung und dem Verdikt ›für Schüler ungeeignet‹ […] gingen.« Die Zusammenfassung zur ›Institution Schule‹ fällt geradezu vernichtend aus, wenn es heißt: »Gänzlich vereinseitigend und verlachend aber verfuhr man an den Umschlagplätzen, in den Schulbüchern, den Kommentaren für Schule und Selbstunterricht, den populären Literaturgeschichten und Biographien, in den Zeugnissen der Presse. Hier konnte sich das negative Bild der französischen Kultur und ihres Gegners Lessing widerspruchslos in das ebenfalls ideologisch einseitige Erbfeindklischee einfügen.«33
Die Position von Wolfgang Albrecht kann als repräsentativ für Bewertungen innerhalb der Rezeptionsforschung zu Lessing in dem Fall gelten, da nach der Rolle der ›Institution Schule‹ gefragt wird. Grundlegend für die neuere Lessing-Forschung ist Monika Ficks »Lessing-Handbuch« (2000) geworden, das inzwischen in der dritten, neu bearbeiteten und erweiterten Auflage (2010) vorliegt.34 Im Zentrum der Darstellung stehen anthropologische, (religions)philosophische und ästhetische Fragestellungen, wobei diese in der Neuauflage um den »Bezug von Lessings Werk zu zeitgeschichtlichen Ereignissen« ergänzt wurden.35 Die Rezeption von Lessing in den höheren Lehranstalten und ihre Folgen für die Etablierung des Autors im kulturellen Gedächtnis überschritt allerdings die Zielsetzung des Handbuchs. Dies trifft auch für Hugh B. Nisbets herausragende Lessing-Biographie (2008) zu, dessen Schlusskapitel einen kurzen Überblick über Haupttendenzen der Rezeption von Lessings Werk liefert.36
33 34 35 36
Albrecht, Wolfgang: Gotthold Ephraim Lessing. Stuttgart/Weimar : Metzler 1997, S. 113. Fick, Monika: Lessing-Handbuch. 3. Auflage. Stuttgart/Weimar : Metzler 2010. Ebd., S. XVIII. Nisbet, Hugh B.: Lessing. Eine Biografie. München: Beck 2008.
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III Den wohl entscheidenden Anteil an der Inthronisierung von Lessing im kollektiven Gedächtnis im 19. Jahrhundert hatte das Humanistische Gymnasium.37 G. E. Lessing avancierte ab Beginn des Jahrhunderts – darauf ist mehrfach verwiesen worden – zum kanonisierten Autor und wurde in vielfältiger Weise im kollektiven Gedächtnis gepflegt. Neben »Nathan der Weise« und »Emilia Galotti« war »Minna von Barnhelm« jenes Stück, das zum Gegenstand des gymnasialen Deutschunterrichts wurde und auch das Theater immer wieder zu Neuinszenierungen reizte. Dabei hing die Wertschätzung der »Minna« in der Schule zweifellos mit der Aufwertung des Faches Deutsch an den Gymnasien zusammen.38 Zu bedenken ist nämlich, dass die deutsche Literatur erst schrittweise am Humanistischen Gymnasium über den Einsatz einer Reihe von gleichermaßen engagierten Lehrern etabliert wurde, die herausragend philologisch gebildet waren und ein ausgesprochenes Interesse an dem hatten, was man heute schlechthin Gegenwartsliteratur nennt. Mit dem Musterlehrplan aus den 1860er Jahren – vorher waren Gervinus’ »Anfänge einer Geschichtsschreibung der deutschen ›Nationalliteratur‹« wie auch die Lesebücher von Hecker, Sulzer, Salzmann, Guths Muths, Campe, von Wilmsen und Schlez, dann Pestalozzi und Herbart grundlegend, schließlich die Sammlungen von Hiecke und Wackernagel – setzte eine verstärkte Öffnung in Richtung auf die deutsche Literatur und eine Kanonbildung ein. Sie reichte vom Nibelungenlied über Luther, Herder, Klopstock bis zu Lessing, Goethe, Schiller. »Minna von Barnhelm« und »Emilia Galotti« galten dabei als jene Stücke, die eine besondere Bedeutung für die Ausbildung eines deutschen Nationaltheaters besessen und dieses »praktisch angebahnt« hätten.39 Bereits zu Ende des 19. Jahrhunderts ist die »Minna« dann durchweg im Deutschunterricht präsent. Resümierend wird von Rudolf Lehmann in der 3. Auflage der grundlegenden 37 Freilich ist zu beachten, dass es sich bei der ›Institution Schule‹ wiederum um einen ausdifferenzierten ›Kulturraum‹ handelt und gesellschaftliche Modernisierungsprozesse in den verschiedenen Schulformen jeweils spezifische Folgerungen zeitigten. Mitgedacht werden muss durchweg die Differenz zwischen den sogenannten ›niederen Schulen‹ (Volks- und Mittelschule) und den höheren Schulen (humanistisches Gymnasium, Realgymnasium, Oberrealschule). Die Rolle von Lessing für die ›niederen Schulen‹ kann in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden, da eine umfassende Behandlung des Autors – mit Ausnahme der »Fabeln« – erst in der Oberstufe bzw. im Gymnasium einsetzt (vgl. dazu Gansel, »Das Herz geht uns auf, wenn wir von Lessing hören oder ihn lesen«. 2004). 38 Es muss betont werden, dass der Deutschunterricht am humanistischen Gymnasium sich erst in einem längeren Prozess zu einem zentralen Fach entwickelte. Noch im 19. Jahrhundert spielte das Latein die entscheidende Rolle, das ca. zehn Wochenstunden umfasste. Der Deutschunterricht hatte demgegenüber zunächst einen Anteil von zwei, später drei und erst ab ca. 1894 mitunter vier Wochenstunden. 39 Vgl. Gansel, »Das Herz geht uns auf, wenn wir von Lessing hören oder ihn lesen«. 2004.
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Arbeit »Der deutsche Unterricht« von 1909 herausgestellt, dass Lessings Lustspiel »Minna von Barnhelm« inzwischen »nahezu auf allen deutschen Gymnasien die gebührende Berücksichtigung [findet]«.40 Das Stück wurde – und dem ist zuzustimmen – für den Deutschunterricht favorisiert, weil »zeitgeschichtliche« und »nationale Bedeutung« es für den Unterricht ebenso prädestinierten, wie die »Vorzüge der Komposition und Charakteristik«.41 Eine dem vielzitierten kaiserlichen Nationalismus entsprechende Wertung der »Minna von Barnhelm« findet sich bei Lehmann freilich in keiner Weise. An Beiträgen zu Lessings Dramen wie auch zur »Minna von Barnhelm« gerade auch für den gymnasialen Deutschunterricht mangelte es im 19. Jahrhundert also nicht. Von daher muss erstaunen, dass trotz der Bedeutung, die das Lustspiel für die ›Institution Schule‹ und somit für das kulturelle Gedächtnis besaß, sich in der Gegenwart nur einige wenige Beiträge finden, die auf die Wirkungsgeschichte des Stückes zu sprechen kommen. Der knappe Abriss der Rezeptionsgeschichte, den Madeleine Claus in Ihrer Dissertation »Lessing und die Franzosen. Höflichkeit – Laster – Witz« (1983) gibt, beruft sich auf Gunter E. Grimm und wählt aus Beiträgen des 19. Jahrhunderts einzig Zitate (!) aus, die die eigene Position stützen. So wird schließlich in der Rezeption des Stückes eine Tendenz konstruiert, die es in dieser Weise so nicht gegeben hat. Vermeintlich sei die »Minna« – so muss man die Darstellung lesen – in der (Schul)Germanistik des 19. Jahrhunderts flächendeckend und mit nationalistischer Intention genutzt worden, um eine »Franzosenfeindschaft« ausprägen zu helfen. Zu diesem Zweck würde die Riccaut-Figur aus dem Stückganzen isoliert und aufgewertet. »Funktion und Bedeutung dieser Rolle völlig mißachtend, wird eine Nebenfigur des Stückes zum gewichtigen Gegenspieler gemacht. Der ›charaktervolle, ehrenfeste‹ Deutsche Tellheim wird dem ›charakterlosen, prahlerischen‹ Franzosen gegenübergestellt.«42 Nun kann man angesichts dieser Einlassung noch ins Feld führen, hier sei lediglich ein Einzelbeispiel pointiert herausgestellt. Dass es Claus aber wirklich darum geht, die von ihr zitierten Belege pars pro toto zu einer für die Rezeption der »Minna« vermeintlich dominanten Tendenz aufzuwerten, wird bei der knappen Anmerkung zu Fritz Martinis Aufsatz »Riccaut, die Sprache und das Spiel in Lessings Lustspiel Minna von Barnhelm« von 1964 deutlich. Martinis »interpretatorische Aufwertung der Rolle des Riccaut« habe »nichts mehr zu tun 40 Lehmann, Rudolf: Der deutsche Unterricht. Eine Methodik für höhere Lehranstalten. Dritte, neu bearbeitete Auflage. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1909, S. 285. Lehmann bezieht sich in seiner Darstellung durchgängig auch auf die Programmschriften und Beiträge in Jahresberichten, um möglichst authentisch die ›Wirklichkeit‹ des Deutschunterrichts an Schulen erfassen zu können. 41 Ebd., S. 285f. 42 Claus, Madeleine: Lessing und die Franzosen. Höflichkeit – Laster – Witz. Rheinfelden: Schäuble 1983, S. 9 [Hervorhebungen – C. G.].
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mit der eindeutig von Frankreichfeindschaft geprägten Interpretation, die diesen französischen Spieler fast in der gesamten Wirkungsgeschichte bis 1945 zur Hauptfigur des Stückes macht.«43 Die Tatsache, dass es in der Tat Beiträge gegeben hat, die die Riccaut-Figur antifranzösisch interpretierten, kann nicht dazu führen, die Vielgestaltigkeit, Ernsthaftigkeit und Differenziertheit der Auseinandersetzung mit der »Minna« in der Lessing-Forschung des 19. Jahrhunderts einzuebnen. Es widerspricht schlichtweg den Tatsachen, dass die »Problematik dieser Rolle […] und die Typentradition des Spielers, in der sie steht, […] überhaupt nicht mehr berücksichtigt [wurden].«44 Die Lessing-Philologie hat stattdessen im 19. Jahrhundert gerade in den Schulprogrammen eine Reihe von ausgesprochen differenzierten und philologisch exakten Analysen zur »Minna« geliefert, die bis in die Gegenwart mit Gewinn zur Kenntnis zu nehmen sind. In dem von Winfried Barner u. a. verantworteten »Lessing-Arbeitsbuch« wird bei Aussagen zur Rezeption der »Minna von Barnhelm« im 19. Jahrhundert im Teilkapitel 2.4. unter der Überschrift »Minna von Barnhelm auf der Bühne und in der Schule des 19. Jahrhunderts« weitaus zurückhaltender argumentiert. Es finden sich allerdings auch nur wenige Hinweise, die explizit auf die Schule bezogen sind. Dort heißt es: »Seit Ende des 18. Jahrhunderts wurde ›Minna‹ zur Behandlung im Schulunterricht empfohlen. Die Lektüreauswahl Heinrich Ludwig Meierottos (Abschnitte aus deutschen und verdeutschten Schriftstellern zu einer Anleitung der Wohlredenheit, Berlin 1794) stellt sowohl Shakespeare als auch Lessing zu den ›empfehlungswürdigen, classischen Schriftstellern‹. Allgemein galt Minna gegenüber Emilia oder Nathan als unproblematisch und daher für die Schullektüre geeignet. Den Zweck dieses ›echt preußischen und echt deutschen Stückes‹ sah man meist in der Verherrlichung des Preußentums (August Brunner, Lessing als Schullektüre, Blätter für das Gymnasialschulwesen 52, 1916, S. 121 ff).«45
Gunter E. Grimm ist nach bisheriger Kenntnis der einzige, der im Kontext mit Fragen zum Schullektüre-Kanon explizit danach fragt, wie es in dieser Hinsicht um die »Minna von Barnhelm« bestellt ist. Sein Ergebnis formuliert Grimm wie folgt: »Im Kaiserreich diente das Drama vor allem im Schulunterricht zur Verherrlichung des Preußentums und zur Abwertung des Franzosentums – nicht von ungefähr in deutlichem Rückgriff auf die Position der Befreiungskriege.«46
43 44 45 46
Ebd. [Hervorhebungen – C. G.]. Ebd. [Hervorhebungen – C. G.]. Barner u. a., Lessing. 1998, S. 278. Grimm, Gunter E.: »Riccaut de la MarliniHre, Glücksritter und Franzos«. Die Rezeption einer Lustspielfigur zwischen Gallophilie und Gallophobie. In: Euphorion 90, 1996, S. 383–394.
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Quellen werden allerdings in diesem Zusammenhang nicht genannt. Vielmehr wird als Beleg auf eine Position von Erich Schmidt aus seiner zweibändigen Lessing-Biographie verwiesen, der in der »Minna« eine »Verherrlichung Friedrichs des Großen erblickte«.47 Nun kann der Universitätsgermanist Schmidt aber freilich nicht für die Institution Schule stehen. Wenig später wird dann von Grimm auch einschränkend formuliert: »Die Tendenz einer ›Vereinnahmung‹ Lessings im preußisch-nationalen Sinn findet sich weniger in den Spezialuntersuchungen als in den populärwissenschaftlichen Werken und in den Schulbüchern des Kaisereichs und der Weimarer Republik. Die Vorstellungen von einem wesensmäßigen Gegensatz zwischen Deutschen und Franzosen im literarischen Bereich paßten ins politische ›Erbfeind‹-Klischee. Lessing wurde damit einer der Stammväter dieser ›natürlichen‹ Gallophobie.«48
Gleichwohl reichen die angeführten Quellen nicht aus, um ein derart deutliches Urteil zu fällen. Es nimmt daher nicht wunder, dass Grimm über die Episodenfigur des Riccaut de la MarliniHre auf eine antifranzösische Kritik im 19. Jahrhundert zu sprechen kommt. Doch erneut fehlen für die nachfolgende Verallgemeinerung empirische Belege, die die Schärfe des Urteils rechtfertigen würden: »Die nationale Komponente bestimmt die meisten für Schule und Unterricht bestimmten Interpretationen. Beide, der ehrenhafte Held Tellheim und der leichtfertige Geck Riccaut, wurden zu zeitlosen Typen verschiedener Völkermentalitäten simplifiziert.«49
Gunter E. Grimm schränkt dann allerdings erneut das Urteil über die Kaiserzeit ein und bemerkt: »Allerdings waren nicht sämtliche während des Kaiserreichs verfaßten Interpretationen oder unternommenen Inszenierungen von nationalistischem Geist geprägt, auch schlagen nicht alle ›Handreichungen für die Schule‹ den nationalen Ton an.«50
In der Tat, die Rezeption der »Minna von Barnhelm« in schulischen Kontexten ist weitaus differenzierter, als dies in der Lessing-Rezeption mitunter angenommen wird. Pointiert formuliert: Bis in die Gegenwart ziehen sich, wenn denn schulische Kontexte überhaupt eine Rolle spielen, Bewertungen aus den 1970er Jahren durch.
47 48 49 50
Ebd. Ebd. Ebd., S. 5. Ebd.
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IV Bereits ein knapper Blick in eine resümierende Darstellung zur Lektüre der Dramen von Lessing auf den höheren Schulen zeigt – das sei erneut betont – mit Blick auf die »Minna von Barnhelm« eine ausgesprochen differenzierte Sicht. Gustav Kettner, der auch zu »Nathan der Weise« publiziert hat51, hebt in einer Untersuchung an Lessings Stück die Art und Weise hervor, in der es zeige, wie die »großen Begebenheiten im Leben des ganzen Volkes unmittelbar eingreifen in das Schicksal des einzelnen«.52 Kettners Position unterstreicht, wie problematisch eine Auffassung ist, die davon ausgeht, im Kaiserreich würde gerade durch die Behandlung von Lessing eine Orientierung auf nationales Gedankengut forciert. Das Gegenteil ist bei Kettner – und nicht nur bei ihm – der Fall. Kettner wendet sich ausdrücklich gegen die Auffassung, der Vorzug der »Minna von Barnhelm« gegenüber anderen klassischen Dramen und somit der »didaktische Wert« liege in seinem »nationalen Gehalt«. In kritischer Absicht zitiert er eine Position von Otto Frick, der in dem Lustspiel einen »Nachklang aus derjenigen Zeit« sieht, die das »Heldenzeitalter des preußischen Volkes genannt werden kann und in das ein deutscher und zumal preußischer Schüler sich mit besonderer Wärme hineinleben sollte«. Kettner stellt dem eine – sagen wir – historisch-genetische Betrachtungsweise entgegen, verweist auf die Entstehungsbedingungen wie -intentionen des Stückes und wendet sich dagegen, in ein Kunstwerk der Vergangenheit Stimmungen und Gedanken der Gegenwart hineinzutragen. Entsprechend vermerkt er zu einem derartigen Ansatz: »Man vergisst dabei nicht bloß, welche Stellung Lessing als echter Sohn seiner Zeit persönlich dem politischen Nationalbewusstsein gegenüber einnahm, man übersieht vor allem, dass er in seinem Drama das Bild der Zeit des siebenjährigen Krieges in dem Spiegel der bürgerlichen Komödie auffing!«53 51 Vgl. dazu den ersten Band der Edition von Gansel/Siwczyk, Gotthold Ephraim Lessings »Nathan der Weise« im Kulturraum Schule. 2009. Siehe auch die einleitenden Beiträge von Carsten Gansel und Birka Siwczyk in dem Band sowie die bibliographischen Angaben im Anhang zu Kettner. 52 Kettner, Gustav : Lektüre der Lessingschen Dramen auf den höheren Schulen. In: Monatsschrift für höhere Schulen 3, 1903, S. 23. Von Kettner stammen auch nachfolgende Beiträge mit Lessing-Bezug: Ders.: Über Lessings Minna von Barnhelm. Gratulationsschrift der Königlichen Landesschule Pforta zum dreihundertfünfzigjährigen Jubiläum der Königlichen Klosterschule Ilfeld. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1896, sowie: Ders.: Herders »Erstes kritisches Wäldchen« I. Beilage zum Jahresbericht der Königlichen Landesschule Pforta hrsg. zum dreihundertundvierundvierzigsten Stiftungsfeste 21. Mai 1887. Naumburg: Sieling 1887. In diesem Aufsatz geht es in einem ersten Teil um die »Entstehung des Ersten kritischen Wäldchens«, sodann um Lessing und Winckelmann und schließlich um die Darstellung des Schmerzes in der Dichtung. 53 Ebd., S. 23. Kettner bezieht sich auf Frick, O[tto]: Wegweiser durch die klassischen Schuldramen. Für die Oberklassen der höheren Schulen. 1. Abt.: Lessing – Goethe. Gera/Leipzig:
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Noch schärfer als Kettner wendet sich Rudolf Lehmann in der bereits zitierten dritten Auflage von »Der deutsche Unterricht« gegen eine einseitige nationale Vereinnahmung der »Minna von Barnhelm«. Insgesamt möchte er die Lektüre des seiner Auffassung nach »leicht verständlichen Lustspiels« dem häuslichen Fleiß der Schüler überlassen. Lediglich die Riccaut-Szene verlange eine eingehendere Besprechung. Dabei sei herauszustellen, dass der Autor zwar »deutsche Art und Sprache französischer Eitelkeit und Anmaßung gegenüber hat verteidigen wollen«, es Lessing aber keineswegs darum ging, ein »Bild oder Zerrbild des französischen Volkscharakters« zu liefern. Explizit wird statt der immer wieder behaupteten Nationalerziehung betont, dass die Aufgabe des Deutschunterrichts gerade auch darin bestehe, einer einseitig nationalen Gesinnung entgegen zu arbeiten: »Hier ist eine der Gelegenheiten, die der deutsche Unterricht zahlreich darbietet«, so Lehmann, »das berechtigte Nationalgefühl, zu dem wir unsere Jugend erziehen wollen, von chauvinistischer Betrachtung fremden Wesens zu reinigen«.54 Eine ausgesprochen profunde Darstellung zur Rolle Lessings für die deutsche Literatur liefert Kuno Fischer mit seinem Buch »Lessing als Reformator der deutschen Literatur« (1880).55 Um die Bedeutung Lessings einsehbar zu machen, gibt Fischer einen kenntnisreichen Abriss der deutschen Literatur und gelangt von der Renaissance, der Schlesischen Dichterschule, Gottsched, Bodmer und Breitinger, Klopstock und Wieland schließlich zu Lessing. Bereits für Lessings erstes Lustspiel »Der junge Gelehrte« arbeitet er heraus, wie entscheidend die
Hofmann 1889. Frick wendet sich hier gegen die Auffassung von Fr. Kern (Deutsche Dramen als Schullektüre. Berlin 1886, S. 12), der die didaktische Berechtigung des Minna-Stoffes anzweifelt, weil er »für die Übung ihrer geistigen Kräfte, für die Bereicherung ihrer Seele mit Gedanken, die Kräftigung ihrer Phantasie« entbehrlich sei. Für ihn wäre es »ein großer Fehler«, an »diesem Stoffe im Unterricht leichthin vorüber zu gehen. Die Dichtung bringt uns einen Nachklang aus derjenigen Zeit, welche das Heldenzeitalter des preußischen Volkes genannt werden kann, und in das ein deutscher und zumal ein preußischer Schüler sich mit besonderer Wärme hineinleben sollte« (ebd., S. 94). Otto Frick (1832–1892) war zu der Zeit Direktor der Franckeschen Stiftungen in Halle. 54 Lehmann, Der deutsche Unterricht. 1909, S. 286. 55 Fischer, Kuno: Lessing als Reformator der deutschen Literatur. Stuttgart/Berlin: Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger 1904 (1. Aufl. 1880). Zur Biographie von Kuno Fischer in diesem Rahmen nur so viel: Fischer hat nach dem Abitur in Posen in Leipzig und Halle Philosophie, Philologie und Theologie studiert und über Platons »Parmenides« promoviert. Nach der Habilitation 1850 folgte er sechs Jahre später einem Ruf als Professor für Philosophie nach Jena. 1872 Jahre nahm er einen Ruf nach Heidelberg an. Fischer arbeitete auch zur deutschen Literatur und hielt 1899 eine vielbeachtete Rede zum 150. Geburtstag von Goethe an der Universität Heidelberg. Zu Kuno Fischer siehe ausführlich Schmidt, Jürgen W.: Zum akademischen Werdegang des schlesischen Philosophen Kuno Fischer (1824–1907): Die Vorgeschichte seiner Berufung nach Jena 1853–1856. In: Fachprosaforschung-Grenzüberschreitungen. Bd. 4/5, 2008/2009, S. 433–449.
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»Wahl des Gegenstandes«, mithin des Stoffes, gewesen sei.56 Der Aspekt des ›Wirklichkeitsbezuges‹ von Literatur ist für Fischer maßgeblich, wenn er ihre Modernität – der Begriff fällt bereits bei Fischer – ausmacht und die Reform des Dramas bei »Minna von Barnhelm« ansetzt. Die Entwicklung der Literatur im Auge habend, stellt Fischer heraus, dass seit der Renaissance für das Drama ein »Kanon der Eintheilung« gegolten habe, »wonach die Arten des Dramas sich wie die Stände und Rangstufen der menschlichen Gesellschaft verhalten sollten; Fürsten und Helden gehören nur in die Tragödie, die bürgerliche Klasse in die Komödie, die Bauern in das Schäferspiel«. Die für das Drama verbindliche Ständeklausel – der Terminus wird noch nicht gebraucht – hätte dazu geführt, dass jene Konflikte, die die bürgerliche Welt ausmachten, in der »Kunst kein Abbild« fänden. »Es war nicht schwer zu entdecken«, so Fischer, »daß der Inhalt des wirklichen Lebens in den steifen Formen einer solchen Kunst nicht aufgeht«.57 Zwischen der »wirklichen Welt« und der dramatischen Kunst, »die ihr den Spiegel vorhalten soll«, seien »traditionelle Schranken aufgethürmt« worden. Es ging daher darum, diese Schranken »im Angesichte der neuen Zeit, insbesondere dem Selbstgefühl des modernen, reich entwickelten, innerlich lebensvollen Bürgerthums« niederzureißen. Und mit Blick auf die Leistung der »Minna von Barnhelm« heißt es: »Die dramatische Poesie war standesgemäß, sie soll menschlich werden; der dritte Stand forderte seine Gleichberechtigung erst auf der Bühne, dann im Staat: die poetische Revolution war eine Vorläuferin der politischen!«58
Das Stück selbst wird dann im Weiteren als »Genrebild« beschrieben, das »nicht nur in den Begebenheiten, sondern auch in den Charakteren und Empfindungsweisen, die es schildert, unmittelbar auf dem grandiosen Hintergrunde des Siebenjährigen Krieges ruht«.59 Der Verweis auf das »Grandiose« meint keineswegs eine Verherrlichung des Krieges, sondern will nichts Anderes, denn erneut den Wirklichkeitsbezug des Stückes betonen. Nicht nur in diesem Sinne ist Fischers Literaturbegriff ausgesprochen ›modern‹ und seine Argumentation hat bis in die Gegenwart nichts von ihrer Schlüssigkeit verloren. Gottfried Willems hat mit einigem Recht den Standpunkt vertreten, das »Postulat der Lebensunmittelbarkeit« sei der eigentliche Motor der Moderne, der es darum gegangen sei, die Kluft zwischen Kunst und Leben zu überbrücken, ihren Dualismus zu überwinden, Kunst und »wirkliche Wirklichkeit« einander
56 57 58 59
Fischer, Lessing als Reformator. 1904, S. 37. Ebd., S. 74. Ebd., S. 75 [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 136.
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anzunähern.60 Bei Fischer gehört zu einer in diesem Sinne realisierten »Lebensunmittelbarkeit« auch eine differenzierte Figurenzeichnung, wozu eben auch »Charaktere der niederen und verdorbenen Art« gehörten. In »unsrem dramatischen Zeitgebilde« gehören dazu »der habgierige Wirth und der falsche Spieler, der französische Industrieritter, der in der nichtswürdigsten Weise die Kunst versteht und übt, die Tellheim selbst in der besten und ehrlichsten Form verschmäht: corriger la fortune!«61 »Das Glück korrigieren«, also betrügen, das kann Tellheim in der Tat nicht, aber Fischer bringt die Figur des Riccaut in keiner Weise in Verbindung mit einer vermeintlich französischen Gemütsart. Vom Versuch, eine Nebenfigur des Stückes herauszulösen, um auf diese Weise Ressentiments oder gar eine »Franzosenfeindschaft« zu erzeugen, kann keine Rede sein. Fischer geht es um Anderes: Die Leistung, die Lessing mit der »Minna von Barnhelm« vollbracht habe, umschreibt Fischer schließlich so: »Die Aufgabe, die Lessing in seiner Minna von Barnhelm auf das Glücklichste gelöste hatte, bestand in einer nationalen Dichtung, einem dramatischen Abbilde deutscher und gegenwärtiger Schicksale, einem Lustspiele neuer, erweiterter, von den traditionellen Schranken völlig befreiter Art. Das Lustspiel ist nicht mehr in das abgesonderte Gebiet des bürgerlichen Lebens eingesperrt; ergreifende und rührende Erlebnisse sind so wenig von ihm ausgeschlossen, als heroische Gesinnungen und Handlungen: in demselben dramatischen Gemälde erscheinen die Kontraste und Mischungen von Tugend und Thorheit, hoher und niederer Gemüthsart, Ernst und Scherz; sie treten uns so einfach und ungekünstelt entgegen, wie in dem wirklichen Menschenleben selbst. Die Standesunterschiede in der dramatischen Poesie sind gefallen, Thema und Inhalt sind rein menschlich und nur deshalb deutsch im spezifischen Sinn, weil solche Charaktere und Schicksale mitten im deutschen Volk und seiner Gegenwart erlebt waren,. Denn nach Goethes treffendem Wort muß alle Nationalbildung schal sein oder schal werden, die nicht auf dem Menschlichen beruht.«62
Auch weitere Darstellungen zur Rolle Lessings – so Werner Hahns »Geschichte der poetischen Litteratur der Deutschen« (1883) – stellen die Bedeutung der »Minna von Barnhelm« heraus und betonen, dass der Stoff »unmittelbar den Zuständen des Volkes entnommen« sei.63 Nun könnte angesichts der hier herausgearbeiteten Positionen zur »Minna von Barnhelm« gekontert werden, es seien dies nicht explizit Beiträge aus dem und für den Deutschunterricht an Höheren Lehranstalten. Der mögliche Einwand wäre leicht zu widerlegen, denn natürlich sind die Untersuchungen von 60 Willems, Gottfried: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen: Niemeyer 1989, S. 431. 61 Fischer, Lessing als Reformator. 1904, S. 137. 62 Ebd., S. 177f. 63 Hahn, Werner : Geschichte der poetischen Litteratur der Deutschen. Berlin: Verlag von Wilhelm Hertz 1883, S. 183.
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Kettner oder Lehmann – obschon als Philologen ausgewiesen – auf den gymnasialen Deutschunterricht ausgerichtet. Aber man kann noch einen Schritt weiter gehen und sich jener Publikationsform zuwenden, die als Textsorte explizit an die Höheren Lehranstalten und das Gymnasium gebunden ist, die Schulprogrammschrift.64
V Als spezifische Publikationsform spielen die Schulprogramme ab dem 18. Jahrhundert eine gewichtige Rolle und erreichen besondere Wertschätzung ab den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts. In der ›Blütezeit‹ der Schulprogramme ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts sind G. E. Lessing und sein Werk ein bevorzugter Gegenstand der Darstellung.65 Die Inhalte der Beiträge geben dabei nicht nur Auskunft über die Inthronisierung Lessings im kulturellen Gedächtnis, sondern auch darüber, was an den jeweiligen höheren Schulen Unterrichtsstoff war und – das ist von herausgehobener Bedeutung – welche ›Deutungen‹ etwa mit Blick auf Lessing den Schülern vermittelt wurden. Zur »Minna von Barnhelm« finden sich in Schulprogrammen im Zeitraum von 1846 bis 1903 neun Beiträge, die durchweg aus der eigenen Lehrtätigkeit hervorgegangen sind und somit einen Einblick in die Schulrealität geben. Es handelt sich um folgende Autoren mit entsprechenden Beiträgen, die 2011 in einer eigenen Textedition publiziert und kommentiert wurden: Wilhelm Arthur Passow – Über Lessing’s »Minna von Barnhelm« (1846); Eduard Niemeyer – Ueber Lessings Minna von Barnhelm (1870); Otto Schuchardt – Riccaut de la MarliniHre, ein Beitrag zur Erklärung von Lessings Minna von Barnhelm (1879); August Althaus – Erörterungen über Lessings Minna von Barnhelm (1883); Alexander Bieling – Textkritische Studien zur Minna von Barnhelm (1888); Robert Buchholz – Bedenken über die Führung der Handlung in Lessing’s Lustspiele Minna von Barnhelm (1889/90); Gustav Kettner – Über Lessings Minna von Barnhelm (1896); Stefan Grudzin´ski – Minna von Barnhelm und L’Pcole des Amis (1896); 64 Siehe dazu Gansel, »Das Herz geht uns auf, wenn wir von Lessing hören oder ihn lesen«. 2004; sowie die Ergebnisse des von Hermann Korte verantworteten DFG-Projektes zu Schulprogrammen, dabei insbesondere Jakob, Hans-Joachim: Schulprogramme im 19. Jahrhundert. Anatomie einer Publikationsform. In: Korte u. a., »Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten«. 2005, S. 135–156. 65 Vgl. dazu zuletzt Gansel, Carsten: Zu Rolle und Funktion von Schulprogrammen bzw. Jahresberichten der höheren Schulen im 19. Jahrhundert. In: Ders./Siwczyk, Birka (Hrsg.): Gotthold Ephraim Lessings ›Minna von Barnhelm‹ im Kulturraum Schule (1830–1914). Göttingen: V& R unipress 2011 (= Gotthold Ephraim Lessing im Kulturellen Gedächtnis – Materialien zur Rezeptionsgeschichte. Hrsg. von Carsten Gansel und der Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption, Bd. 2), S. 11–19.
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Josef Wihan – Lessings »Minna von Barnhelm« und Goldonis Lustspiel »Un curioso accidente« (1903).66 Grundsätzlich zeigt sich auch hier, dass alle Beiträger ein Studium der klassischen Philologie, der Germanistik, der Philologie oder der Geschichte absolviert hatten. Sie waren zumeist promoviert, wissenschaftlich aktiv und ausgewiesen. Zudem bekleideten sie herausgehobene Stellungen an den jeweiligen Lehranstalten und kannten sich im kulturellen Leben der Zeit, einschließlich der Theaterpraxis, aus.67 Die Beiträge zur »Minna von Barnhelm« selbst dienten in erster Linie dem fachlichen Austausch und sollten die Verbindung zwischen Schule und Öffentlichkeit fördern. Die Auswertung bzw. Kommentierung der edierten Beiträge zeigt, dass sie zumeist auf das gesamte Stück eingehen, sie wenden sich dabei der Entstehungsgeschichte zu, den für das Stück maßgeblichen historischen Kontexten oder dem Aufbau des Lustspiels.68 In komparatistischer Perspektive suchen sie jene Quellen zu ergründen, an die Lessing thematisch oder dramaturgisch angeknüpft haben könnte. Mehrfach geht es – wie bei Kuno Fischer – darum, die Leistung Lessings für die Gattung des Lustspiels zu betonen und nachzuweisen, inwiefern er diesem neue Impulse gegeben hat. Wilhelm Passow etwa, bei dessen Beitrag es sich um eine Einladungsschrift zur Feier des Henflingischen Gedächtnißtages des Gymnasiums Bernhardinum aus dem Jahre 1846 handelt, stellt vornehmlich dramaturgische Aspekte von Lessings Lustspiel ins Zentrum. Es geht Passow vor allem darum, die literaturgeschichtliche und ästhetische Bedeutsamkeit des Stückes herauszustellen. Passow vertritt die Position, dass mit der »Minna von Barnhelm« das dramatische Genre des Lustspiels vor seiner Belanglosigkeit und seinem Niedergang bewahrt und auf eine neue Höhe geführt worden sei. Es handelt sich hier um eine Wertung, die auch in der Gegenwart vertreten wird. Im Arbeitsbuch von Wilfried Barner u. a. gilt »Minna« als ›Meisterstück‹ der lessingschen Dramen. Wenn man denn nach vermeintlich Nationalem bei der Interpretation der »Minna« sucht, dann könnte auf den ersten Blick der Beitrag von Eduard 66 Siehe ebd. Siehe dazu auch die Kommentierung: Gansel, Carsten/Porath, Mike: Gotthold Ephraim Lessings ›Minna von Barnhelm‹ in Schulprogrammschriften zwischen 1846 und 1903. In: ebd., S. 19–68. Es wird nachfolgend nur knapp auf einige wenige Beiträge eingegangen. Bei den Zitierungen aus den Beiträgen wird darauf verzichtet, jeweils die Seitenangaben in der Textedition aufzulisten. Es sei an dieser Stelle auf die umfangreiche Kommentierung (S. 19–68) verwiesen, in der sämtliche Zitierungen nachgewiesen sind. 67 Eduard Niemeyer als einer der Beiträger geht explizit auf den »theattralischen Erfolg« des Stückes wie seine »theattralischen Anregungen« ein und bezieht sich auf die Geschichte der deutschen Schauspielkunst. Alexander Bieling verweist auf eine aktuelle Aufführung am Deutschen Theater. 68 Nachfolgend wird zurückgegriffen auf Gansel/Porath, ›Minna von Barnhelm‹ in Schulprogrammschriften zwischen 1846 und 1903. 2011. Ich danke meinem Mitarbeiter Mike Porath für Unterstützung und Anregungen.
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Niemeyer – »Ueber Lessings Minna von Barnhelm« (1870) in diese Richtung gebogen werden. Im dritten Kapitel führt Niemeyer einschlägige, ästhetisch fundierte Kritiken zur »Minna von Barnhelm« an, woraus sich die Bedeutsamkeit dieses »Stück[s] deutschen Lebens« ergeben könne. Rezensenten hätten die Originalität, »die ausnehmende Wahrheit« (S. 8), den »charakteristisch[en]« Dialog, die Natürlichkeit, den »echt komischen Ton der Komödie«, den »Contrast der Charaktere, die großen Sentiments« sowie den »Nationalgehalt« lobend hervorgehoben.69 Dabei wäre es vor allem Lessings an MoliHre gemahnender Geschicklichkeit und Eigentümlichkeit geschuldet, wie er in seinem Stück »Mannichfaltigkeit des Tones« und »Natur im Ausdrucke« mit einem »Adel der Gesinnungen« der auftretenden Personen zu verbinden wüsste.70 Niemeyer führt Goethes positives Urteil über die »Minna von Barnhelm« an und hebt dessen Bemerkung vom »vollkommenem norddeutschen Nationalgehalt« hervor, wohingegen A. W. Schlegel die »Peinlichkeit« im Verhältnis der Hauptpersonen kritisiert hätte.71 Später wird unter Bezug auf die beiden Lustspiele »Der Freigeist« und »Die Juden« herausgearbeitet, dass Lessing sich zwar zum Verteidiger eines Standes aufwerfe, aber in der Hauptsache die »allgemeine menschliche Natur« zur Darstellung bringen, wozu ihn seine Breslauer Lebensperiode in ihrer »Vertiefung« und »Erweiterung seiner Menschenkenntniß« ebenso befähigt habe wie zur Zeichnung eines »nationalen Charakter[s]«. Aus diesem Grunde hätte es Lessing geschafft, seine eigene »Forderung eines nationalen Dramas« mit der »Minna von Barnhelm« einzulösen, die der »deutschen Denkungsart gemäß und ein wahrhaft nationales, das erste nationale Stück« wäre. Niemeyer sieht das Stück vor den Gefahren der Provinzialität wie der Parteilichkeit bewahrt, weil es vornehmlich »deutsche Landsleute« zeige. Tellheim sei »der Typus des deutschen Mannes, Minna das Musterbild deutscher Weiblichkeit«, die im Schatten der »Gestalt des großen Königs« höchstens in ihrem preußischen wie sächsischen Wesen miteinander kontrastierten. Diese Überlegungen Niemeyers betonen zwar nationale Aspekte, sie bewegen sich allerdings durchaus im 69 Dies deckt sich mit der Rezeptionsforschung zu Lessing (vgl. Fick, Lessing-Handbuch. 2010, S. 310f. und Barner u. a., Lessing. 1998, S. 271ff.). 70 Fick sucht unter Bezug auf die Beiträge Gisbert Ter-Neddens vor allem im Hinblick auf die Charakterzeichnung eine eindeutigere Verbindung zu MoliHre herzustellen: »Lessing knüpfe nicht an die Sächsische Typenkomödie, die Dutzendware der Komödienproduktion und deren Schemata an, sondern beziehe sich auf relevante, substantielle Beispiele: auf den Misanthropen MoliHres und auf Shakespeares Othello« (Fick, Lessing-Handbuch. 2010, S. 300). 71 Niemeyer geht in diesem Rahmen nicht auf einen weiteren Aspekt der zeitgenössischen Rezeption ein, nämlich die Diskussion über die »Gesetze der Gattung« und die Frage, inwiefern Lessing das Genre der Komödie mit der tragischen Note der »Minna« strapaziert (vgl. Fick, Lessing-Handbuch. 2010, S. 310). A. W. Schlegel nahm Stellung zur »Natürlichkeit« der »Minna« und ihre Nachahmer (vgl. Barner u. a., Lessing. 1998, S. 277).
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Rahmen der Argumentation und sind nicht als Versuch zu werten, das Stück ›nationalistisch‹ zu vereinnahmen. Niemeyer argumentiert denn auch am Text. Diese Harmonie unter dem Duktus eines »universellen Nationalcharakter[s] der Personen« bewirkte – so sein Bezug auf die Forschung – auch Danzels Einordnung der »Minna« in die dramatische Kategorie einer »ernste[n] Komödie«. »Minna von Barnhelm« spiele in einer »mittlere[n] Sphäre«, in der »bürgerliche[n] Gesellschaft« und gründe auf das »Familieninteresse«, weshalb »der herzliche Ernst« weder »den komischen Grundton« beeinträchtigen könnte noch umgekehrt.72 Um dieses Nebeneinander zu gewährleisten, gestalte sich die Handlung des Stücks als ein »dialectischer Proceß«, der Dramaturgie wie auch Dialog gleichermaßen bestimmen würde.73 Niemeyer erkennt gerade im Dialog Lessings »Meisterschaft«. Dazu würden »Lebhaftigkeit, Natürlichkeit, Geschmeidigkeit, Anschaulichkeit und Witzigkeit« gehören, die wiederum mit einer »gesunden Moral« verflochten seien. Die Wirksamkeit der Dialoge beruhe von daher darauf, dass Lessing »einheimische Sitten« in ihnen verarbeitet und dadurch ein »Lustspiel mit nationalen Sitten«, ja überhaupt ein »Charakterlustspiel« geschaffen hätte, in dem »das Komische vorzüglich aus den Charakteren entwickeln wollte«.74 Es sei abschließend jener Beitrag genauer betrachtet, der der Riccaut-Figur nachgeht. »Riccaut de la MarliniHre, ein Beitrag zur Erklärung von Lessings Minna von Barnhelm« überschreibt Otto Schuchardt seinen Aufsatz, der im Jahresbericht des Gymnasiums zu Schleiz von 1879 erscheint.75 Schuchardt untersucht die Bedeutung der Nebenfigur des Riccaut für die »Minna von 72 Laut Fick ist dieser doppeldeutige »herzliche Ernst« eine der Hauptabsichten des Stückes; sie spricht von einem »Modell der Wechselbezüglichkeit« insbesondere in Hinblick auf die beiden Hauptfiguren und erwähnt in diesem Zusammenhang Steinmetz’ Ansicht vom »Nebeneinander der zwei divergierenden Gegebenheiten«, welches »das Ganze der Komödie [fundiert]« (Fick, Lessing-Handbuch. 2010, S. 309, 297). 73 Auf eine solche Struktur hatte Fick noch in der zweiten Auflage ihres »Lessing-Handbuches« hingewiesen: »Dem Zweck, die Ambivalenz und Doppelbödigkeit des ›Herzens‹ zu enthüllen, entspricht auch der Plan der Handlung«, indem »Lessing die innere Verwandtschaft von positiven und negativen Zügen [zeigt]« (Fick, Lessing-Handbuch. 2004, S. 252). Anders in der aktuellen, dritten Auflage, in der sie das in der »Minna« dramatisch verarbeitete, reflexive Moment und das Modell ›Vorsehung‹ stärker hervorhebt: »Die Verunsicherung und das Schwanken der Verhältnisse spiegeln sich im Vokabular der Figuren; die Komödie hat eine semantische Schicht, die durchaus als Gegengewicht zu den Hinweisen auf die Vorsehung gelten könnte: die Glücks- und Spielmetaphorik« (Fick, Lessing-Handbuch. 2010, S. 303). 74 Auch Barner u. a. sprechen von einer »Versinnlichung des gesellschaftlichen Konflikts in der Sprache des Dialogs« (Barner u. a., Lessing. 1998, S. 262f.). 75 In der Sekunda des Gymnasiums zu Schleiz wurde von Ostern 1878 bis Ostern 1879 »Nathan der Weise« gelesen und für die Lehrerbibliothek »Lessings Nathan, erl. von Düntzer« und »Lessings Nathan« von Fischer angekauft (Jahresbericht über das Schuljahr von Ostern 1878 –Ostern 1879. Schleiz 1879, S. 15, 26).
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Barnhelm« und sieht in ihr ein Eintreten Lessings für ein Festhalten des burleskkomischen Elements in Bezug auf die deutsche Lustspieldichtung.76 Der Auftritt des Riccaut wäre demzufolge Lessings praktische Beweisführung dieser am antiken Muster geschulten Dramatisierung. Eine Würdigung des »deutschen Meisterlustspiels«77 habe nach Schuchardt daher auch dringend unter Einbezug Riccauts zu erfolgen, den man als Figur »neben den bedeutendsten Schöpfungen auf dem Gebiete des Humors, neben Falstaff, Don Quixote u. s. w. nennen muß«. Die Figur des Riccaut sei der des Al Hafi aus »Nathan der Weise« unbedingt an die Seite zu stellen. Sie sei »entbehrlich freilich in dem Sinne, wie ein kostbarer Schmuck, ohne den man leben könnte, den man aber um keinen Preis missen möchte«.78 Schuchardt vertritt im Weiteren die Auffassung, dass Lessings RiccautFigur wie die des Al Hafi »einen ganz besonderen Zweck, vielleicht streithafter Natur«, verfolge. Trotz ihres dramatischen Defizits und ihrer rein »episodenhaft[en]« Einfügung – »incidentally introduced« – bewertet er die Figur als eine Art »Cabinetsstück«, mit dem Lessing die Tradition der »sogenannten chargirten, grotesk-komischen Gestalten« fortsetzen würde. Und dies auf eine Weise, indem die Figur des Riccaut sogar die Spitze einer »Art Stufenleiter« vom »Parasiten Ergasilus in den Gefangenen des Plautus« über »Falstaff in Shakespeares Heinrich IV.« darstelle. Der Einbau der Figur in das Stück habe seine Grundlage in Lessings theoretischem Einwand gegenüber einer »Abschaffung des Harlekin« in der »Hamburgischen Dramaturgie«. Lessing berufe sich bei seinem Einwand auf die antike Tradition. Schuchardt stellt mit Blick auf das Entstehungsdatum des 18. Stücks der »Dramaturgie« eine Parallele zur Erstaufführung der »Minna von Barnhelm« im Jahre 1767 her. Theorie und Praxis verbindend, mache Lessing sich mit der Riccaut-Figur auch praktisch »zum Vertheidiger des Grotesk-komischen«. Lessings Bezug auf die antike Tradition (hier Plautus) 76 Schuchardt befindet sich damit in Einklang mit der aktuellen Forschungslage. »[I]n Lessings Charakterzeichnung [sind] die überlieferten Typen der europäischen Komödie noch erkennbar, […] hinter der Riccaut-Figur der Capitano und der ›Deutschfranzose‹ (welcher ein Kind der Aufklärungs-Satire ist)« (Fick, Lessing-Handbuch. 2010, S. 289f.). Ganz ähnlich betrachtet es auch Nisbet, für den Riccaut »zur Familie des Parasiten in der antiken Komödie« gehört »mit einigen Zügen des Capitano. Das zeitgenössische Publikum wußte diese beliebten Archetypen in neuer und realistischer Gestalt zu schätzen« (Nisbet, Lessing. 2008, S. 459). 77 Das tradierte Prädikat »meisterlich« in Bezug auf Lessings »Minna« bestimmt Schuchardts Herangehensweise insofern, als dass die Figur des Riccaut seiner Ansicht nach eine spezifische Funktion erfüllen muss. In der aktuellen Forschung verhält man sich ungeachtet der Prominenz des Stückes bezüglicher solcher »Rehabilitierungen« reservierter. 78 Folgt man Barner u. a. erfüllt die Figur des Al Hafi für Lessing einen weitaus wichtigeren Zweck als Riccaut in der »Minna«, denn mit ihm »führte Lessing das Sezessionsmotiv des Aridäus aus Philotas, des Tellheim […] und des Odoardo und Appiani […] weiter.« In einer Fortsetzung des »Nathan« sollte er gar im Mittelpunkt stehen (siehe Barner u. a., Lessing. 1998, S. 332).
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hätte ihn dazu geführt, im Riccaut »neben dem Spieler auch den Parasiten« darzustellen, da er »den Parasit dem Harlekin gleichstellte«. Dennoch habe Lessing zugunsten einer Verfeinerung der »komische[n] Figur« auf eine simplizitäre, hauptsächlich äußerliche Überzeichnung dieser »Art Zwischenaktsfigur«79 insofern verzichtet, als er die »typische Gestalt individueller« fasse und eher »das bunte Kauderwälsch bei ihm die Harlekinsjacke [vertritt]«. In diesem Sinne habe Lessing zugleich »einen sittlich-nationalen Zweck« anvisiert.80 Dieser würde sich darüber hinaus in der »episodenhafte[n] Verwendung des Burlesk-komischen« offenbaren, die Schuchardt als »eigentlich deutsch« einschätzt und der »Poesie der romanischen Völker« entgegen hält.81 Diese »Absonderung« wäre auch dramatisch »verwirklicht«, weil Riccaut nur einmal am Anfang eines Aufzuges erscheint. Gründe für die Zeichnung der Riccaut-Figur im Sinne des »Typus des Parasit-Harlekin«, den er »wieder in die Literatur einführen wollte«, sieht Schuchardt in Lessings Bevorzugung und »Studium der italiänischen Komödie«. Deren Grundstruktur ginge nämlich auf die »typischen Gestalten der commedia del arte« zurück. Genauso hätte Lessing mit Blick auf Riccauts ›Sprachvermengung‹ ein vorbildliches Muster vorgefunden, das »die damals herrschende Verquickung deutschen und französischen Wesens in Sprache und Inhalt zum besten Ausdruck« gebracht habe und wahrscheinlich in der »Erinnerung an diese Sprachmischung bei Gestaltung des Riccaut mit gewirkt hat«. Schuchardt sieht aber auch hier keinerlei Ressentiments am Werke und geht davon aus, dass Lessing eine Kenntnis der Schrift »L’histoire des Grecs ou de ceux qui corrigent la fortune«82 besessen habe. Zudem vermutet er, Lessing hätte in seiner Breslauer Zeit solche »Grec[s]«, also Falschspieler, wie etwa dem »Oberst Geschray und Oberstleutnant Thürriegel« gekannt. In einem abschlie79 Riccaut ist strenggenommen nicht einmal eine »Art Zwischenaktsfigur«, denn sie erscheint erst im Vierten Aufzug (Zweiter Auftritt). 80 Die Forschung nutzt bevorzugt Tellheims und Minnas Charakterzeichnung für die Position, Lessing habe durch die »Individualisierung der Charaktere […] das Schema der Typenkomödie transzendiert« (Fick, Lessing-Handbuch. 2010, S. 300). Nisbet spricht in Bezug auf Riccaut vom »authentische[n] Lokalkolorit« und deutet seine Verwendung im Drama dahingehend, dass Lessing den Typus Riccaut »lächerlich« machen wollte (siehe Nisbet, Lessing. 2008, S. 460). 81 Nach Schuchardt hängt dies mit Lessings Auffassung zusammen, wonach eine »Vermischung des Komischen und Tragischen« zu vermeiden und statt dessen eine klare Trennung der »allzu verschiedenen Empfindungen« zu vollziehen sei. Im Bemühen, Lessings Originalität und Bedeutsamkeit für die Etablierung eines deutschen Schauspiels zu betonen, vernachlässigt Schuchardt die Tatsache, dass es gerade die Franzosen waren, die das antike Muster mit deren strikter Genretrennung übernommen und gewissermaßen epochemachend gepflegt haben. Lessing folgte dann vor allem den (französischen) Neuerern der Dramatik. 82 Im Jahre 1757 veröffentlichte der Franzose Pierre Ange Goudar in Paris erstmalig diese Abhandlung unter dem vollständigen Titel: »L’histoire des Grecs, ou, De ceux qui corrigent la fortune au jeu« (http://fr.wiki-pedia.org/wiki/Ange_Goudar. Letzter Zugriff am 09.01.2011). Weder bei Fick noch bei Barner u. a. findet Goudar Erwähnung.
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ßenden Abschnitt führt Schuchardt Lessings Einfügung der Figur des Riccaut in seine »Minna von Barnhelm« auf den Einfluss und das »Vorbild« der »mehrmals erwähnten ›Gefangenen‹ (Captivi) des Plautus« zurück. Lessings Bewunderung dieser plautinischen Komödie hätte bewirkt, dass »er den Deutschen ein nationales Lustspiel schenkte« und »[s]einer Nation […] gewiß ›das vortrefflichste‹ bieten« wollte. Zudem würden sich beide Stücke im Gehalt gleichen. Der Einbau des »Arlequin Parasit Riccaut« in die »Minna von Barnhelm« sei denn auch ein entscheidendes Element in Lessings Plan gewesen, eine würdevolle Nachahmung des plautinischen Lustspiels zu erreichen.83
VI Die edierten Beiträge zu Lessings »Minna von Barnhelm« aus Schulprogrammschriften – sie werden an dieser Stelle nur angerissen – belegen einmal mehr, dass der Deutschunterricht an Höheren Lehranstalten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein philologisch ausgerichtet war. Die Anlage der Aufsätze wie die wissenschaftliche Akribie unterstreichen die exzellente philologische Bildung der Verfasser. Eine Trennung von Universitätsgermanistik und Deutschunterricht, wie sie sich dann sukzessiv ab Beginn des 20. Jahrhunderts herstellt, existiert zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Von daher ist auch das behauptete niedere Niveau der Beiträge zu Lessing, die für die Höheren Lehranstalten gedacht waren, eine Schimäre und schlichtweg falsch. Positionen, wonach Lessings Lustspiel »Minna von Barnhelm« ab Mitte des 19. Jahrhunderts nationalistisch vereinnahmt worden sei, finden sich nicht. Die Beiträge konzentrieren sich vielmehr auf eine Auseinandersetzung mit dem Text selbst, der akribisch erfasst wird. Ideologisch intendierte Urteile sind nicht zu finden. In der Auseinandersetzung mit Lessings Stück werden auch theatergeschichtliche, dramaturgische oder biographische Aspekte herausgearbeitet, um seine literaturgeschichtliche Bedeutung zu betonen. Lessing wird dabei unter den deutschen Dramatikern eine führende Rolle eingeräumt, die gerade nicht ideologisch motiviert ist. Explizit gegen eine nationalistische Vereinnahmung sprechen zudem auch die Beiträge von Stefan Grudzin´ski oder Josef Wihan, die »Minna von Barnhelm« in Bezug zu literarischen Vorbildern setzen und zudem historische wie biographische Kontexte für die Interpretation heranziehen. Wenn83 Die Lessing-Forschung belässt es hingegen weitgehend beim Offensichtlichen, vor allem bei Riccauts dramaturgischen Funktionen als Überbringer der freudigen Botschaft zur Ehrenrettung Tellheims und zur Darstellung Minnas naiver Großzügigkeit (vgl. Barner u. a., Lessing. 1998, S. 266). Allenfalls dient Riccaut als Kennzeichnung einiger Figuren der »Minna von Barnhelm« in ihrem charakteristischen Bezug zur »Aufklärungs-Satire« (siehe Fick, Lessing-Handbuch. 2010, S. 290).
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gleich auch einige Zugänge inzwischen überholt erscheinen, erstaunt die Differenziertheit der Wertungen, die in ihrem Kern auch durch die aktuelle LessingForschung bestätigt werden. Dies betrifft etwa die psychologische sowie moralphilosophische Auslotung der Charaktere der »Minna«, aber auch die Erfassung der dramaturgischen Besonderheiten des Stücks.84 Die aktuelle LessingForschung weiß natürlich um die Tatsache, dass Lessing in und mit der »Minna von Barnhelm« auf bestimmte literarische Vorbilder zurückgegriffen hat. Die Art und Weise jedoch, mit der die Beiträger (etwa Grudzin´ski, Wihan) Bezüge zu Nivelle de La Chauss8e oder zu Carlo Goldoni herstellen, unterstreicht das Bemühen, den Text eben nicht auf Grund möglicher nationaler, mithin letztlich ideologischer Parameter als eines der gewichtigsten Schauspiele der deutschen Literatur einzuordnen, sondern wegen seines literarischen Gewichts.
84 Die dritte Auflage des »Lessing-Handbuchs« von Monika Fick von 2010 unterstreicht ja die psychologische sowie auch moralphilosophische Dimension der in der »Minna von Barnhelm« behandelten Problematik mit deren soziologischen und sogar anthropologischen Fragestellungen (siehe Fick, Lessing-Handbuch. 2010, S. 290ff.).
Norman Ächtler
Zwischen Ressentiment und Toleranz. Zur Rezeption von Lessings Nathan der Weise im pädagogischen Diskurs um 1900
1.
Rezeptionsgeschichte des Deutschunterrichts: Aporien und neue Quellen
»Seit hundert Jahren lebt nun dieses Evangelium der Toleranz […] und was ist das Resultat?« gab Theodor Fontane 1880 anlässlich einer Berliner Inszenierung von Gotthold Ephraim Lessings »Nathan der Weise« zu bedenken.1 Es vergingen weitere hundert Jahre, bis die Germanistik – den resignierten Unterton in Fontanes rhetorischer Frage wiederaufgreifend – Ansätze zu einer Rezeptionsgeschichte von Lessings Drama nachlieferte. Kennzeichnend für die Nachwirkungen der ideologiekritischen Wende um 1970, zeichnet sich dabei eine Tendenz der Forschung ab, die eine hundertjährige Kontinuität der Lessing-Rezeption ab der Mitte des 19. Jahrhunderts betont. Nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848/49, so der Konsens seit den meinungsbildenden Beiträgen von Gunter Grimm2 und Dominik von König3, weise die bildungsbürgerliche akademische Aufnahme von Lessings Person und Werk vermehrt Züge einer forcierten »Theologisierung«4 und vor allem einer »nationalen Vereinnahmung«5 unter bewusster Ignorierung des insbesondere in Nathan der Weise explizierten Toleranzgedankens auf, die es schließlich sogar den National-
1 Fontane, Theodor : Gotthold Ephraim Lessing Nathan der Weise. In: Ders.: Sämtliche Werke Bd. 22, 1. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1964, S. 866–869, hier : S. 867. 2 Vgl. Grimm, Gunter E.: Rezeptionsforschung als Ideologiekritik: Aspekte zur Rezeption Lessings in Deutschland. In: Über Literatur und Geschichte. Hrsg. von Bern Hüppauf und Dolf Sternberger. Frankfurt a. M.: Athenäum 1973, S. 115–150; Grimm, Gunter E.: Lessing im Schullektüre-Kanon. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 24, 1974, S. 13–43. 3 Vgl. König, Dominik von: Nathan der Weise in der Schule: Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte Lessings. In: Lessing Yearbook 6, 1974, S. 108–138. 4 Barner, Wilfried u. a.: Lessing: Epoche – Werk – Wirkung. München: Beck 61998, hier S. 392. 5 Fick, Monika: Lessing-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimar : Metzler 2010, hier S. 5.
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sozialisten ermöglicht habe, Lessing zumindest partiell in einen völkischen Literaturkanon zu integrieren.6 Die Funktionalisierung Lessings im Dienste kollektiver Sinnstiftung und nationaler Traditionsbildung vollzog sich nach Grimm und ihm folgender Autoren wesentlich auf zwei Diskursebenen und innerhalb zweier wichtiger Trägerinstanzen eines nationalen kulturellen Gedächtnisses: im Gelehrtendiskurs der universitären Geisteswissenschaften und im Deutschunterricht an den höheren Lehranstalten. Während die zeitgenössische akademische Theologie beider Konfessionen Lessing weitgehend ignorierte – oder besser : totschwieg –,7 bemühte sich die preußische und später die reichsdeutsche National- und Literaturgeschichtsschreibung darum, Lessings Beitrag zur Fundierung der deutschen Nation herauszustellen. Den Geschichtsdiskurs prägende Historiker wie Heinrich von Treitschke oder der Literaturwissenschaftler Erich Schmidt transportierten Lessings Verdienste um die Reformierung des deutschen Theaters und dessen Emanzipation von französischen Vorbildern von der ästhetischen auf die politische Ebene. In dieser Perspektive gewinnt Lessing neben Friedrich II. die Rolle eines »Vorkämpfer[s] des deutschen Nationalbewußtseins im Kampf gegen Frankreich«8. Eine ähnliche Bewertung erfuhr Lessings Werk auch in den historiographischen und germanistischen Nationalitätsdebatten während der Weimarer Republik und schließlich im »Dritten Reich«. Kennzeichnend für eine derart gelagerte Vereinnahmung ist, so ein allgemein akzeptiertes Ergebnis der Rezeptionsgeschichte, die allmähliche Abdrängung von Lessings Toleranzlehre aus dem kollektiven wie kulturellen Gedächtnis der 6 Für einen Überblick über diesen wissenschaftlichen Trend vgl. Gansel, Carsten: Gotthold Ephraim Lessing und das kulturelle Gedächtnis zwischen 1800 und 1914 – Plädoyer für eine Neusichtung von Quellen. In: Gotthold Ephraim Lessings ›Nathan der Weise‹ im Kulturraum Schule (1830–1914). Hrsg. von Carsten Gansel und Birka Siwczyk. Göttingen: V& R unipress 2009, S. 11–34. 7 Vgl. dazu die Beiträge von Wolfgang Trillhaas (Zur Wirkungsgeschichte Lessings in der evangelischen Theologie) und Arno Schilson (Zur Wirkungsgeschichte Lessings in der katholischen Theologie) in: Das Bild Lessings in der Geschichte. Hrsg. von Herbert G. Göpfert. Heidelberg: Schneider 1981. Einer der wenigen Theologen, die sich emphatisch auf Lessing bezogen und auch »Nathan der Weise« affirmativ rezipiert haben, war David Friedrich Strauß (Lessing’s Nathan der Weise. Berlin: Guttentag 21866). Dieser wurde zum Ziel einer scharfen Polemik Friedrich Nietzsches, der ihn in der ersten der »Unzeitgemäßen Betrachtungen« (1873) u. a. aufgrund seines spezifischen Lessing-Bezugs als Beispiel des zeitgenössischen »Bildungsphilisters« karikiert: »[I]m ganzen ist keiner der großen deutschen Schriftsteller bei den kleinen deutschen Schriftstellern so populär wie Lessing […] Wie, ihr, meine guten Philister, dürftet ohne Scham an diesen Lessing denken, der gerade an eurer Stumpfheit, im Kampf mit euren lächerlichen Klötzen und Götzen, unter dem Mißstande eurer Theater, eurer Gelehrten, eurer Theologen zugrunde ging, ohne ein einziges Mal jenen ewigen Flug wagen zu dürfen, zu dem er in die Welt gekommen war?« (Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen. Frankfurt a. M.: Insel 1981, S. 35.). 8 Grimm, Ideologiekritik. 1973, S. 133.
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Deutschen. Diese Tabuisierung findet sich nach 1933 dann institutionalisiert: »Wo also Lessings Werk in das nationalsozialistische Literaturgeschichtsbild integriert wurde«, so das Lessing-Handbuch von Barner, Grimm, Kiesel und Kramer, »geschah es unter einseitiger Betonung nationaler Aspekte und unter Verschweigen des Lessingschen Kampfes um Aufklärung und Toleranz«9. Empirisch abgestützt wird die derart gezogene Linie durch allerlei Zeugnisse führender Denker aus dem Zeitraum zwischen 1850 und 1945 (z. B. Steinmetz 1969). Für den akademischen Diskurs, dem der Doyen der Literaturhistorie, Georg Gottfried Gervinus, sicherlich die argumentative Prägung gegeben hatte,10 mögen diese Thesen deshalb ihre Triftigkeit behalten. Als problematisch dagegen erweisen sich die Befunde zum schulischen Literaturunterricht. Empirische Kanonforschung und kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie haben die »zentrale Bedeutung« der höheren Lehranstalten »für die Ausbildung eines kulturellen Gedächtnisses wie die Konstituierung des Kanons ab 1800«11 inzwischen breit diskutiert. Insofern war es nur konsequent, dass Grimm und König auch die Lessing-Rezeption an den Schulen zu berücksichtigen suchten, um zu einem ausgewogenen Bild zu kommen. Die gesichteten Quellen scheinen auf den ersten Blick ein deutliches Bild zu geben: »Der nationale Gedanke in seiner Prägung durch die Freiheitskriege«, so König, »wurde – wenn auch vielfach gebrochen, ja pervertiert – prägend für den Deutschunterricht«12. Demnach waren es insbesondere die höheren Schulen, deren Lehrpläne die einseitige Lessing-Rezeption nicht nur übernahmen und mittels Deutsch- und Geschichtsunterricht popularisierten. Über die Vermittlung und Verankerung des akademischen Gelehrtendiskurses im Alltagsdiskurs des Bildungsbürgertums hinaus betrieben die Lehranstalten angeblich sogar eine Radikalisierung des nationalistischen Lessing-Bilds. Außerdem prägten die trotz des staatlicherseits säkularisierten Bildungs- und Erziehungssystems weiterhin religiös ausgerichteten Schulen des 19. Jahrhunderts13 der Lessing-
9 Barner u. a., Lessing. 61998, S. 417. 10 In seiner für die Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts grundlegenden »Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen« (1835–1842) stilisiert Gervinus Lessing zum »Wegweiser der Nation« und Lessings poetologische Neuansätze zu Meilensteinen der Herausbildung einer nationalen Identität (Gervinus, Georg Gottfried: Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen, Bd. 4. Leipzig: Eugelmann 21843, S. 343). 11 Gansel, Carsten: »Lebensideal der tätigen Energie«. Gotthold Ephraim Lessing als Kanonautor im ›Kulturraum Schule‹ zwischen 1800 und 1900. In: Literaturvermittlung im 19. und 20. Jahrhundert. Vorträge des 1. Siegener Symposions zur literaturdidaktischen Forschung. Hrsg. von Hermann Korte und Marja Rauch. Frankfurt a. M.: Lang 2005, S. 81–95, hier : S. 85. 12 König, Nathan. 1974, S. 109. 13 Siehe dazu Frank, Horst Joachim: Dichtung, Sprache, Menschenbildung – Geschichte des Deutschunterrichts von den Anfängen bis 1945. München: dtv 1976, S. 119ff.; Weber, Albrecht: Literatur und Erziehung: Lehrerbilder und Schulmodelle in kulturhistorischer
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Lektüre dezidiert christlich-orthodoxe Lesarten auf: »Insbesondere der Nathan fiel unter das Verdikt der tendenziell christlichen Literarhistoriker und Schulbuchautoren«14. Beachtet man die Quellengrundlage solcher Aussagen, ist zu konstatieren, dass die Autoren Material heranziehen, das nur wenig aussagekräftig ist, wo es um die Beantwortung der Frage geht, wie Lessing ›tatsächlich‹ im Unterricht gelehrt, welche Aspekte der Werkbiographie und welche Texte auf welche Weise ›durchgenommen‹ wurden. Sie verweisen auf die allgemeinen Lehrpläne, auf entsprechende Artikel aus pädagogischen Enzyklopädien sowie auf Programmatiken, Handreichungen und Unterrichtsempfehlungen der wenigen namhaften Literaturpädagogen jener Zeit. Auf die Problematik einer solchen Argumentationsweise, die »Lehrpläne mit Schulwirklichkeit« gleichsetzt, haben sozialwissenschaftlich ausgerichtete Literaturhistoriker wie Carsten Gansel bereits mehrfach hingewiesen.15 Gleichwohl werden die Thesen von Grimm und König in einschlägigen Handbüchern bis heute fortgeschrieben.16 Um zu genaueren Vorstellungen über die Unterrichtspraxis oder zumindest über den Fachdiskurs der Gymnasialgermanistik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu gelangen, hat die empirische Kanonforschung in den letzten Jahren eine Textsorte erschlossen, die in der Rezeptionsgeschichte bis dahin so gut wie keine Beachtung gefunden hat: die Schulprogrammschriften bzw. Jahresprogramme der höheren Lehranstalten.17 Diese hatten sich, von Preußen ausgehend,
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Perspektive. Bd. II: Zwischen Rousseau und Nietzsche. Frankfurt a. M.: Lang 1999, S. 213ff., 275ff. Barner u. a., Lessing. 61998, S. 406. Vgl. Gansel, Lebensideal. 2005, S. 85; Ders., Lessing und das kulturelle Gedächtnis. 2009; Gansel, Carsten: Zu Rolle und Funktion von Schulprogrammen bzw. Jahresberichten der höheren Schulen im 19. Jahrhundert. In: Gansel/Siwczyk, Nathan. 2011, S. 11–17. »Von solch entstellender Indienstnahme Lessings bis zu seiner antisemitischen Diskreditierung war es nur ein kleiner Schritt«, behauptet etwa auch Wolfgang Albrechts Werkbiographie (Gotthold Ephraim Lessing. Stuttgart/Weimar : Metzler 1997, S. 113). Noch 2004 rekurrierte Wulf Köpke auf Grimms Vorstellungen von der schulischen Lessing-Vermittlung (vgl. Köpke, Wulf: Der späte Lessing als Vorbild und als Stein des Anstoßes. In: Mit Lessing zur Moderne: Soziokulturelle Wirkungen des Aufklärers um 1900. Hrsg. von Wolfgang Albrecht und Richard E. Schade. Kamenz: Lessing-Museum 2004, S. 25–37). Vgl. dazu grundlegend: Korte, Hermann u. a. (Hrsg.): »Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten.« Kanoninstanz Schule – Eine Quellenauswahl zum deutschen Lektürekanon in Schulprogrammen des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Lang 2005. Die Textsorte Schulprogramm gerät inzwischen auch in das Blickfeld der historischen Bildungsforschung (vgl. Kirschbaum, Markus: Litteratura Gymnasii – Schulprogramme deutscher höherer Lehranstalten des 19. Jahrhunderts als Ausweis von Wissenschaftsstandort, Berufsstatus und gesellschaftspolitischer Prävention. Koblenz: Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz 2007; Haubfleisch, Dietmar/Ritzi, Christian: Schulprogramme – zu ihrer Geschichte und ihrer Bedeutung für die Historiographie des Erziehungs- und Bildungswesens. In: Bibliothek und Forschung – Die Bedeutung von Sammlungen für die Wissenschaft. Hrsg. von Irmgard Siebert. Frankfurt a. M.: Klostermann 2011, S. 165–205).
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seit Beginn des 19. Jahrhunderts in der gesamten deutschsprachigen Schullandschaft als ein multifunktionales Kommunikationsmedium durchgesetzt. Von Seiten der Kultusbehörden waren die seit den 1820er Jahren obligatorischen Jahresberichte als Instrumente der »ministeriellen Fachaufsicht« gedacht; außerdem fungierten sie als Medium der »Öffentlichkeitsarbeit«18. Angesprochen waren dabei sowohl die Allgemeinheit der (bürgerlichen) Trägerschaft der Schule als auch die akademische Bildungselite. In Bezug auf den größeren Adressatenkreis dienten die jeweils beigelegten gelehrten Aufsätze aus der Feder von Schulmännern der »Popularisierung von Wissenschaft«19. Neben diesem aufklärerischen Impuls ging es außerdem um die »Fachkommunikation«20 zwischen den Gymnasiallehrern und nicht zuletzt um den wissenschaftlichen Austausch mit den Universitäten. In diesem Zusammenhang gaben die Abhandlungen »Auskunft über den wissenschaftlichen Standard eines Gymnasiums«21. Diese Abhandlungen nun sind für das Folgende deshalb von besonderem Interesse, weil sie zum einen zeigen, wie eng verzahnt die germanistischen Fachdiskurse von Schule und Hochschule bis zur Jahrhundertwende um 1900 waren, und zum anderen, weil sie Hinweise auf die Methodik des Deutschunterrichts zu einem Zeitpunkt geben, zu dem sich dieser als eigenständiges Schulfach allererst noch konstituieren musste. Bei den Deutschlehrern handelte es sich zumeist um gut ausgebildete klassische Philologen; das belegen ihre Aufsätze eindeutig. Sie trugen akademische Titel und partizipierten im 19. Jahrhundert weitgehend gleichberechtigt am gelehrten Diskurs.22 Erst die zunehmende Ausdifferenzierung der Bildungslandschaft im Kaiserreich führte zu einer allmählichen Abdrängung der Lehrerschaft aus der Forschung. Dem damit einhergehenden Verlust an »wissenschaftlicher Innovationskraft« der Schulprogrammschriften »stand in den 1880er Jahren eine Zunahme didaktischer und unterrichtsmethodischer Abhandlungen entgegen«.23 Mit anderen Worten, die konzeptionellen Wurzeln der Deutschdidaktik entwickeln sich im Rahmen des Programmaustauschs an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Hier unterbreiteten die Autoren Vorschläge zur pragmatisch-didaktischen Umsetzung philologischer Trends und Standards – und dies aus der gepflegten Praxis von Pädagogen. Das macht die Textbeigaben zu einer zentralen bildungs- und fachgeschichtlichen Quelle. 18 19 20 21 22
Haubfleisch/Ritzi, Schulprogramme. 2011, S. 172. Korte u. a., Kanoninstanz Schule. 2005, S. 31. Haubfleisch/Ritzi, Schulprogramme. 2011, S. 172. Gansel, Lessing und das kulturelle Gedächtnis. 2009, S. 22. Vgl. Kirschbaum, Litteratura. 2007, S. 81f.; Gansel, Lessing und das kulturelle Gedächtnis. 2009, S. 19, 22. 23 Korte u. a., Kanoninstanz Schule. 2005, S. 26.
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Von diesen Überlegungen und Erkenntnissen ausgehend hat ein Forschungsprojekt der Justus-Liebig-Universität Gießen die Textsorte Schulprogrammschrift mittlerweile für eine neue Bewertung der Lessing-Rezeption im ›Kulturraum Schule‹ fruchtbar gemacht. Nach umfangreichen bibliographischen Erhebungen in Zusammenarbeit mit der Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption in Kamenz sind inzwischen Sammlungen der wissenschaftlichen Beilagen aus Jahresprogrammen zu »Nathan der Weise«, »Minna von Barnhelm« und zu »Emilia Galotti« ediert worden;24 die Reihe wird fortgesetzt. Anhand dieser Texte soll im Folgenden geprüft werden, wie Lessing und insbesondere der ›problematische‹ »Nathan« an den höheren Lehranstalten behandelt bzw. innerhalb des schulischen Gelehrtendiskurses verhandelt wurden. Zu klären ist, inwieweit die gängigen Vorstellungen von der Lessing- bzw. »Nathan«-Rezeption im ›Kulturraum Schule‹ aufgrund des neu erschlossenen Quellenmaterials zu ergänzen bzw. zu modifizieren sind. Auf der Grundlage einer vertieften Analyse der bereits publizierten Abhandlungen zum »Nathan« und den anderen im Bestand der Gießener Universitätsbibliothek bzw. der Arbeitsstelle für LessingRezeption archivierten Beiträgen, die sich allgemeiner mit der Religionsund Toleranzproblematik bei Lessing auseinandersetzen, soll geklärt werden, 1) welche ideologischen Tendenzen sich durch die Lehreraufsätze ziehen und 2) in welcher Methodologie sich der jeweilige weltanschauliche Zugang zu Autor und Werk niederschlägt. Dies gibt darüber hinaus 3) Auskunft über die konzeptionellen Anfänge der sich ab Ende des 19. Jahrhunderts als Teildisziplin allmählich ausdifferenzierenden Literatur- bzw. Deutschdidaktik. Ergänzt wird das Quellenmaterial durch eine repräsentative Auswahl der im Rahmen des Forschungsprojekts ebenfalls erhobenen Beiträge von Schulmännern zum Lessing-»Nathan«-Komplex aus philologisch-pädagogischen Zeitschriften, die methodische Akzente setzen und dazu ebenfalls auf die gepflegte Unterrichtspraxis rekurrieren.
2.
Ideologische Tendenzen der Nathan-Rezeption
Überblickt man die vorliegenden wissenschaftlichen Abhandlungen in Schulprogrammen und philologisch-pädagogischen Zeitschriften zu »Nathan der Weise« aus dem territorialen Bereich des späteren Deutschen Reichs, bestätigt sich einmal mehr : »Lessing ist im ausgehenden 19. Jahrhundert im ›Triumvirat‹, 24 Vgl. unter dem Reihentitel »Gotthold Ephraim Lessing im kulturellen Gedächtnis – Materialien zur Rezeptionsgeschichte«: Gansel/Siwczyk, Nathan. 2009.; Dies. (Hrsg.): Gotthold Ephraim Lessings ›Minna von Barnhelm‹ im Kulturraum Schule (1830–1914). Göttingen: V& R unipress 2011. Dies. (Hrsg.): Gotthold Ephraim Lessings »Emilia Galotti« im Kulturraum Schule (1830–1914). Göttingen: V& R unipress 2015.
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also mit Goethe und Schiller, fest im Schulkanon verankert«25. Der »Nathan« gehört neben »Minna von Barnhelm« und »Emilia Galotti« sowie der »Hamburgischen Dramaturgie« und natürlich den »Fabeln« zur Pflichtlektüre an deutschen Gymnasien.26 Bereits in einem der einflussreichsten Leitfäden des Deutschunterrichts, Robert Heinrich Hieckes Abhandlung »Der deutsche Unterricht auf deutschen Gymnasien« (1842), heißt es mit gehöriger Emphase: »Also – salutiren wir ehrfurchtsvoll vor Klopstock und Herder, und schaaren uns und unsre Schüler unter Lessing’s, Schiller’s, Göthe’s freudig flatternde Paniere«.27 Dass die Relevanz gerade von »Nathan der Weise« von Autoren wie Adolph Diesterweg, einem der wichtigsten Wegbereiter der Reformpädagogik, hervorgehoben wird, liegt auf der Hand. In einer Streitschrift aus dem »Pädagogischen Jahrbuch für Lehrer und Schulfreunde« von 1865 bekräftigt Diesterweg seine Meinung, der »Nathan« sei als ein »didaktisches Drama«28 von hohem Nutzen, gerade weil es die Einübung eines vernünftig-kritischen Denkens und eine Rückbesinnung auf die wahren Werte des Christentums herausfordere: »Toleranz, Menschenachtung, Humanität, aufopfernde Liebe, Sinn für Wahrheit, Wahrheitsforschung und Menschenrecht – sind das negative Größen, oder gehören sie zu den positivsten, schaffenden Factoren und Potenzen?«29 Aus diesem aufklärerischen Impuls heraus ist auch die Bibliographie des Oberlehrers der Dresdner Annenschule, Ferdinand Naumann, entstanden. Dieser legte seine Quellensammlung dem Schulprogramm von 1867 bei mit der Aufforderung an die Schüler : »Lessing’s Nathan, junge Freunde, muß auch Euch zu einem Markstein Eures Lebens werden. Was Euch nun hier [an Sekundärliteratur, N. Ä.] geboten wird, nehmt es als eine Saat in Hoffnung gesäet, […] leset und prüfet; denn das Verständniß des Nathan ist Partei-Interessen unterworfen worden, daher die oft weit auseinandergehenden
25 Gansel, Lessing und das kulturelle Gedächtnis. 2009, S. 28. 26 Statistisch belegt wird dies durch die Auswertungen in Korte u. a., Kanoninstanz Schule. 2005, S. 36ff. und Gansel, Carsten: »Unsere Dichter sind die Dolmetscher der Volksseele.« – G. E. Lessing im Lesebuch der höheren Schulen zwischen 1800 und 1914. In: Das Lesebuch 1800–1945. Ein Medium zwischen literarischer Kultur und pädagogischem Diskurs. Hrsg. von Hermann Korte und Ilonka Zimmer. Frankfurt a. M.: Lang 2006, S. 89–102. 27 Hiecke, Robert Heinrich: Der deutsche Unterricht auf deutschen Gymnasien. Leipzig: Eisenach 1842, S. 107. – Dabei zählte der Gymnasialprofessor Hiecke die genannten Dramen unter die anspruchsvollere Oberstufenlektüre, die im Gegensatz zu anderen Texten »verweilend gelesen werden« sollte (ebd., S. 109). 28 D[iesterweg], A[dolph]: Lessing’s Nathan (Ein Spiegelbild auch neuerer Zeit). In: Pädagogisches Jahrbuch für Lehrer und Schulfreunde 15, 1865, S. 147–182, hier : S. 160. 29 Ebd., S. 180. Vgl. bereits: Diesterweg, Adolph: Lessing als Pädagog. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 13. Berlin: Volk und Wissen 1976 [EA 1858], S. 142–162.
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Gegensätze in der Auffassung. […] An Eurem Denken und Thun wird sich einst zeigen, ob Ihr Lessing’s Geist in Euch aufgenommen.«30
Die Anerkennung Lessings als unumgehbarer Schulautor gilt aber auch für Skeptiker wie den Direktor der Ritterakademie zu Brandenburg Ernst Köpke. Dessen programmatische Polemik von 1856, gegen die Diesterwegs Streitschrift und Naumanns Bibliographie gerichtet sind, dient seit Grimm und König als Beleg für die These einer radikalen Ablehnung des »Nathan« aus religiösen und ideologischen Vorbehalten heraus, als ein paradigmatisches Musterbeispiel für die »bewährte Allianz von Nation und Glauben«31, die dem gymnasialen Deutschunterricht nach 1850 sein vermeintliches Gepräge gab:32 Köpke hatte 1856 ein Grundsatzreferat über die Notwendigkeit eines »positiven« Schulkanons verfasst, der einzig »dem Zweck unserer höheren Lehranstalten, die in ihrer Weise, zu sein, geschichtlich aus der Kirche hervorgegangen«, zu dienen hatte. Das hieß konkret, dass geeignete Texte »in keinen Widerspruch treten zu dem, was wir durch den deutschen Unterricht überhaupt fördern und kräftigen wollen, unsere Nationalität im Wissen, Glauben und Empfinden«33. Von dieser dezidiert national-christlichen Warte lehnt Köpke Lessings »Nathan der Weise« aus zwei Gründen ab: 1) aufgrund seiner Negativität gegenüber den christlichen Grundfesten des Schulwesens und 2) aus den daraus resultierenden Schwierigkeiten der Vermittlung. So entziehe sich »der künstlerische und litteraturhistorische Werth« eines derart kontroversen Texts »dem Verständniß der Schüler auf allen Stufen«34 insofern dieser von den Eleven eine kritische Lektüre und von der Lehrkraft eine »dauernde Opposition gegen den Kern des Dramas«35 verlange. Zwei Aspekte wurden bislang von der Rezeptionsgeschichte im Zusammenhang mit diesem notorischen Zeugnis einer pädagogischen Zurückweisung des »Nathan« ausgeblendet: Zunächst ist dies der engere diskursive Rahmen, innerhalb dessen sich Köpkes Initiative bewegt. Seine Streitschrift bezog sich auf den für den Gebrauch auf höheren Lehranstalten konzipierten »Nathan«30 Naumann, Ferdinand: Literatur über Lessing’s Nathan. Aus den Quellen (1867). In: Gansel/ Siwczyk: Nathan. 2009, S. 109–198, hier: S. 110. 31 König, Nathan. 1974, S. 15. 32 Köpkes Text dürfte durch die Quellenedition von Steinmetz prominent gemacht worden sein (vgl. Lessing – ein unpoetischer Dichter. Dokumente aus drei Jahrhunderten zur Wirkungsgeschichte Lessings in Deutschland. Hrsg. von Horst Steinmetz. Frankfurt a. M./Bonn: Athenäum 1969, S. 337ff.). 33 Köpke, Ernst: [Rezension zu] Dr. E. Niemeyer : Lessing’s Nathan der Weise, durch eine historisch-kritische Einleitung und einen fortlaufenden Commentar besonders zum Gebrauch auf höheren Lehranstalten erläutert. In: Zeitschrift für das Gymnasialwesen 10, 1856, S. 181–189, hier S. 182f. 34 Ebd., S. 183. 35 Ebd., S. 185.
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Kommentar des Krefelder Oberlehrers Eduard Niemeyer, der sich durch weitere Aufsätze in Schulschriften als Lessing-Experte ausweist.36 In seinem Kommentar von 1855, der, wie Niemeyer schreibt, »aus der Schulpraxis herausgewachsen und recht eigentlich auf die Bedürfnisse der höheren Lehranstalten berechnet«37 sei, vertritt der Autor einen ganz anderen Standpunkt als Köpke. Die Frage nach einer Eignung des »Nathan« für die Schule stellt sich Niemeyer gar nicht. Die enzyklopädisch-nüchterne Vorgehensweise seines Textkommentars wertet die »religiöse Idee, unter der Form der Humanität« vielmehr als »das begeisternde Princip« des Dramas: »[D]ie Religion Nathan’s ist das Christenthum der Vernunft als Humanität, vermöge deren die Bekenner aller positiven Religionen sich als Menschen, als Brüder begrüßen.«38 Wie bereits an Diesterwegs und Naumanns Reaktionen verdeutlicht,39 stand Ernst Köpke in dieser Auseinandersetzung von Schulmännern mit seiner scharfen Kritik also eher auf einsamem Posten. Köpke nahm sein wieder und wieder kolportiertes Verdikt, »die Lectüre des Nathan [sei] von den höheren Lehranstalten gänzlich auszuschließen«40, in einem bislang nicht beachteten Text dann auch stark zurück. Der spätere Vortrag, mit dem Köpke indirekt auf Diesterwegs Angriff reagierte, ist als Beilage dem Jahresprogramm der Ritterakademie von 1865 angehängt. Hier moniert der Verfasser weit abgewogener, die Schulen pflegten die Gymnasiasten aus einer »falschen Bewunderung« des Dichters als dem »Urtypus aller vermeintlichen Geistesfreiheit« heraus mit dem »Nathan« »abzuspeisen, obschon Anderes und Grösseres geeigneter ist, das Bild Lessings zu verklären.« Die Distanzierung gegenüber den theologischen Grundaussagen des »Nathan« geht hier nicht mehr mit einer grundsätzlichen Ablehnung des Autors und seines Werks zusammen: »Lessing ist selbst da, wo man ihm die Zustimmung versagen muss, immer fördernd, weil er, wie kein Anderer, es verstanden hat, den Forscher zur Klärung seiner eigenen Anschauungen anzuregen«.41 Die Auseinandersetzung mit dem Text gereicht Köpke demnach zur Vergewisserung des eigenen Standpunkts. 36 Vgl. z. B. den Programmaufsatz »Ueber Lessings Minna von Barnhelm« in Gansel/Siwczyk, Minna. 2011, S. 87–123. 37 Niemeyer, Eduard: Lessing’s Nathan der Weise, durch eine historisch-kritische Einleitung und einen fortlaufenden Commentar besonders zum Gebrauch auf höheren Lehranstalten erläutert. Leipzig: Mayer 1855, S. V. 38 Ebd., S. 41. 39 In seiner Reaktion auf Köpke nimmt Diesterweg dessen Rezension als Zeugnis der »Zeit der drückendsten Reaction (1850–58)« geradezu auseinander : »In einem Fall dieser Art darf man sich nicht neutral verhalten. Jeder muß wissen, auf welcher Seite er steht und warum« (Diesterweg, Lessing’s Nathan. 1865, S. 147f.). 40 Köpke, [Rezension]. 1856, S. 187. 41 Köpke, Ernst: Studien zu Lessings Nathan (1864). In: Gansel/Siwczyk, Nathan. 2009, S. 75–107, hier S. 77.
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Alles in allem, so zeigt sich im überwiegenden Teil des Quellenkorpus, etabliert sich im schulischen Kontext ein moderater Modus des Umgangs mit Lessings ›problematischem‹ Drama, der dessen religionskritische Brisanz abzuschwächen und Lessings Toleranzlehre für einen nach wie vor christlich ausgerichteten Unterricht zu retten bemüht ist. Es geht in den entsprechenden Abhandlungen darum – mit den Worten des Direktors des Gymnasiums zu Belgard, Hermann Stier, gesprochen – zu zeigen, »wie wir Lessings ›Nathan‹ […] in der Schule zu behandeln haben, die wir der Überzeugung leben, daß das Christentum […] das Höchste und Beste in der Welt ist […] und dabei doch Lessing, dem ernsten Wahrheitssucher, der dies Christentum nicht gekannt hat, nicht nur gerecht werden wollen, sondern auch ihm dafür danken, daß er einen ›Nathan‹ geschrieben hat«.42
Die allgemein bemühten Argumente, die hier bereits anklingen, bleiben weitgehend gleich. Inwieweit dies der noch im Kaiserreich ausgeübten »lokalen Schulaufsicht«43 durch kirchliche Inspektoren geschuldet war oder tatsächlich dem persönlichen Empfinden der Autoren entsprach, sei dahingestellt. Gewürdigt werden Autor und Werk jedenfalls in zweierlei Hinsicht: Zunächst mit Blick auf Lessings Humanitäts- und Toleranzlehre, aus der der »Nathan« als ein, wie es u. a. heißt, »Hohelied von der Duldsamkeit«44 und »Evangelium der Liebe«45 hervorgegangen sei.46 Beispielhaft hierfür ist die Wertung von Friedrich Kortz, Direktor des Realgymnasiums in Köln-Nippes: »Als religiös-sittliches Ideal schwebt dem Dichter daher die allverbindende und allversöhnende Menschenliebe vor, die über alle Schranken der Völker, Staaten und Religionen hinweg die Menschen menschlich miteinander vereinigt. Es ist die ›kräftige, wahre, von Liebe durchdrungene Gemütswelt, […] die […] in wirklichen Charakteren und ergreifenden Situationen uns unmittelbar vor Augen geführt wird‹, die als positive Ergänzung den negativen Momenten in Lessings ›Nathan‹ das Gegengewicht hält.«47
42 Stier, Hermann: Beiträge zum Verständnis und zur Würdigung von Lessings »Nathan« (1913). In: Gansel/Siwczyk, Nathan. 2009, S. 349–381, hier S. 349. 43 Weber, Literatur. 1999, S. 279. 44 Gast, E[rnst] R[einhard]: Bemerkungen zu einigen Schulausgaben von Lessings Nathan dem Weisen. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 12, 1898, S. 778–788, hier: S. 778. 45 Kortz, Friedrich: Entstehung und Auffassung von Lessings Nathan dem Weisen. Zur Einführung in die Lektüre der Schüler (1908). In: Gansel/Siwczyk (2009), S. 339–348, hier : S. 346. 46 So z. B. auch Wilhelm Scherer in einem Aufsatz zu den Ursprüngen des »Nathan«. Darin bezeichnet er das Drama als das »Evangelium« der »Religion der werkthätigen Liebe« (Scherer, Wilhelm: Zu Lessings »Nathan«. In: Ders.: Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Oesterreich. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1874, S. 328–336, hier : S. 329). 47 Kortz, Entstehung. 1908, S. 346.
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In der Lehre von der universalen Menschenliebe ergibt sich für die Schulmänner ein idealer Bezugspunkt zu christlichen Glaubenssätzen. Die dominierende Auslegung des Dramas geht dahin, herauszustellen, dass das im »Nathan« verhandelte humanistische Prinzip entgegen der dort erfolgten Gleichstellung der drei monotheistischen Religionen nur aus der Lehre Christi heraus wahrlich gedeihen könne und dass Lessing selbst dies so gesehen habe. Durchweg herangezogener Kronzeuge ist die Figur des Klosterbruders, der dem Protagonisten aufgrund seiner selbstlosen Handlungsweisen bekanntlich attestiert: »Nathan! Nathan!/ Ihr seid ein Christ! – Bei Gott, Ihr seid ein Christ!/ Ein beßrer Christ war nie!«48. In diesem Sinn schreibt Köpke: »Lessings Lehre redet doch Nathan und wundersam genug, der Jude empfiehlt die allgemeine Menschenliebe, welche Lessing selbst im Testament des Johannes als Hauptinhalt des Christentums anerkennt. […] darum muss auch sein Jude, wenn er wahrhaft-sittliche Anforderungen stellen will, aus seinem Gesetz heraus und in das Christenthum hinein, denn nur der kann in Wahrheit lieben, dem der im Herzen wohnt, welcher die Liebe ist.«49
1913 urteilt der Marburger Oberlehrer Rudolf Klee etwas diplomatischer : »Praktische Nächstenliebe und Hingabe des eigenen Lebens an das göttliche Sein sind ihm [Lessing, N. Ä.] also die Grundäusserungen aller wahren Frömmigkeit. Seine näheren Ausführungen über diese Gedanken zeugen oft von enger Verwandtschaft mit den erhabensten Zügen christlichen Glaubenslebens; freilich finden diese dabei immer wieder eine gewisse Ergänzung in philosophischen Vorstellungen. Unter den Worten Jesu, die zur tätigen Bruderliebe auffordern, ist offenbar für Lessings Empfinden das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Luc. 10, 25ff.) besonders wirksam gewesen.«50
Von dem Lessing-kritischen Theologen Willibald Beyschlag51 über den Reformpädagogen Diesterweg bis zu Schulmännern wie Köpke, Klee und Stier wird »Nathan der Weise« in Anlehnung an das Christus-Gleichnis vom barmherzigen Samariter gedeutet. Damit versuchen diese Autoren, den Vorwurf zu entkräften, Lessing habe im Drama dem idealen Juden Nathan und dem Muster-Muslim Saladin keine gleichberechtigte Christenfigur gegenübergestellt und damit die abendländische gegenüber den morgenländischen Religionen abgewertet. So heißt es zum Beispiel bei Diesterweg:
48 Lessing, Gotthold Ephraim: Werke in drei Bänden, Bd. I. München: Hanser 1982, S. 705. 49 Köpke, Studien. 1864, S. 101. 50 Klee, Rudolf: Lessings Stellung zu den positiven Religionen. Festgabe des Königl. Gymnasium Philippinum zu Marburg an die Teilnehmer der 52. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner, 1913, S. 21. 51 Vgl. Beyschlag, Willibald: Lessings Nathan der Weise und das positive Christenthum. Berlin: Rauh 1863, S. 14f.
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»Wollte Lessing den Christen die entwickelten Grundsätze Christi, besonders den der Toleranz, und zwar gerade in Beziehung auf die Juden, einprägen, mußte er ihnen zu diesem Zwecke nicht zuerst zeigen, daß die Juden manchmal nicht nur denselben, sondern einen größeren sittlichen Werth hätten, als die Christen, mußte er diese Vermessenen, die auf ihr äußeres christliches Bekenntniß stolz waren, nicht eben durch das Beispiel eines Juden beschämen? Er verfährt in dieser Beziehung wie ein weiser Lehrer verfahren muß.«52
Stier schreibt darüber : »Wer Lessing anklagt, daß er in seinem ›Nathan‹ gegen die Christen parteiisch sei, insofern er Licht und Schatten in Darstellung der Charaktere nicht gereicht habe, der hat des Dichters Absicht nicht verstanden. Man hat umgekehrt zur Rechtfertigung Lessings mit Recht auf die Erzählung vom barmherzigen Samariter verwiesen. Und Lessing selbst lag der Gedanke an diese Analogie nicht fern. […] Nein, Christen aller Art sind es, die er sich als Hörer seiner Predigt denkt, auf sie will er wirken; vor allem will er die, welche von der Vortrefflichkeit, nicht etwa des wahren und echten Christentums, sondern ihres eigenen Glaubens überzeugt sind, zum Nachdenken, zur Prüfung ungerechter Vorurteile, zur Selbsterkenntnis und zu gerechtem Urteil anregen und ihnen dazu helfen.«53
Damit ist der zweite Aspekt angeschnitten, der an Lessings Werk und Wirken generell positiv hervorgehoben wurde: Lessing als »ernster Wahrheits-«54 und »Gottsucher«55 sowie aufklärerisch-progressiver Polemiker. Seinen Niederschlag fand dieser Gesichtspunkt des zeitgenössischen Lessings-Bilds in der Metapher vom ›Kämpfer‹ Lessing56, die sich auch durch sämtliche Schulabhandlungen zieht. Bereits im ersten vorliegenden Lehreraufsatz zu »Nathan der Weise« von 1854 bringt Karl Riebe, Direktor des von Saldern’schen ReformReal-Gymnasiums zu Brandenburg, in diesem prominenten Lessing-Bild Literatur- und Kirchengeschichte zusammen: »Lessing’s scharfer, kritischer Geist hatte sein Leben hindurch auf dem Gebiete der schönen Literatur gegen die Sclaverei pedantischer Regeln gekämpft, welche den Anspruch machten, gleich Dogmen ohne Prüfung angenommen zu werden, und sich, obgleich nichts als leere Abstractionen, dennoch als die lebendige Quelle aller Poesie 52 Diesterweg, Lessing’s Nathan. 1865, S. 177. 53 Stier, Beiträge. 1913, S. 352. Vgl. auch den Beitrag zum »Nathan« von Eugen Trosien, Direktor des Gymnasiums zu Hohenstein/Ostpreußen: »[T]höricht ist es, Lessing den Vorwurf zu machen, als habe er das Christenthum gegen das Judenthum oder gar gegen den Islam herabsetzen wollen.« (Trosien, Eugen: Lessing’s Nathan der Weise. In: Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge 11, 1876, H. 241, S. 3–32: hier S. 6). 54 Stier, Beiträge. 1913, S. 351. 55 Weber, Hans: Gesichtspunkte zur Lessinglektüre in der Prima. In: Sokrates. Zeitschrift für das Gymnasialwesen N. F. 5, 1917, S. 20–43, hier: S. 43. 56 Vgl. dazu Schröder, Jürgen: Der »Kämpfer« Lessing. Zur Geschichte einer Metapher im 19. Jahrhundert. In: Göpfert, Bild. 1981, S. 93–114.
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breit machten. So hatten sie die Freiheit der Bewegung gehemmt, so drohten sie, alle Wahrheit der Empfindung […] zu ersticken. In dem tiefen Gefühle des Unglücks, welches damit über die deutsche Nation gekommen war, wurde er mißtrauisch gegen jedes Dogma, auch das christliche. Dazu war die Theologie seiner Zeit auf ähnliche Abwege gerathen, wie die schöne Literatur. Auch hier mußte christliche Freiheit und christliches Leben, welches in der Knechtschaft des Buchstabens unterzugehen drohte, gerettet werden.«57
Der sogenannte ›Fragmentenstreit‹ zwischen Lessing und dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goetze wird in christlicher Auslegung als eine der, wie es der Jenenser Schulmann Alfred Rausch 1892 ausdrückte, »heftigsten Geisterschlachten«58 zwischen philosophischer Aufklärung und lutherischer Orthodoxie, den prägenden philosophisch-theologischen Gegensätzen des 18. Jahrhunderts, gewürdigt. Lessing kommt in diesem Zusammenhang das Verdienst zu, mit seinen kritisch-polemischen Eingaben an einem dogmatischverkrusteten Protestantismus gerüttelt und die orthodoxen Strömungen seiner Zeit zu einer kritischen Selbstreflexion gedrängt zu haben. In dieser Hinsicht kann selbst der Lessing-Kritiker Köpke den in der Ringparabel aufgeworfenen Forderungen nach einer Religion der praktizierten Menschenliebe Bedeutung abgewinnen: »[I]hr Recht war nur, dass sie die Schäden der damaligen Orthodoxie und ihres todten Schematismus aufwiesen und durch diesen Nachweis die wirklich und wahrhaft christliche Kirche zu einer Erneuerung ihres geistigen Lebens erweckten.«59 An dieser Stelle ergibt sich für die von protestantischem Standpunkt aus argumentierenden Autoren zugleich die schlagkräftigste Möglichkeit, Lessings Drama seine anhaltend aktuelle theologische Brisanz zu nehmen, und zwar durch die Historisierung seiner Kernideen. »[S]oweit ist doch jeder Primaner mit der Kirchengeschichte vertraut, daß man […] auch auf die Abhängigkeit hinweisen darf, in der Lessing hier von den Grundanschauungen des Rationalismus seiner Zeit steht«, so Gustav Kettner in einem Zeitschriftenaufsatz von 1903 über »Die Lektüre der Lessingschen Dramen auf den höheren Schulen«. »Also nicht an die christliche Dogmatik wollen wir appellieren, die vielleicht diesem oder jenem Schüler nicht als entscheidende Instanz gilt, sondern an die Geschichte«.60 Die Strategie, die der Gymnasialprofessor von der Königlichen 57 Riebe, Karl: Ueber Lessing’s »Nathan der Weise« (1854). In: Gansel/Siwczyk, Nathan. 2009, S. 61–74, hier: S. 62. 58 Rausch, A[lfred]: G. E. Lessings Nathan der Weise im deutschen Unterrichte der Prima. In: Lehrproben und Lehrgänge aus der Praxis der Gymnasien und Realschulen 8, 1892, S. 65–78, hier : S. 61. 59 Köpke, Studien. 1864, S. 100. 60 Kettner, Gustav : Die Lektüre der Lessingschen Dramen auf den höheren Schulen. In: Monatsschrift für höhere Schulen 2, 1903, S. 19–31, hier : S. 21.
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Landesschule Pforta hier entwirft, der bereits 1898 mit einer Schulprogrammabhandlung zum »Nathan« hervorgetreten war,61 zielt darauf, Lessings vermittels der Ringparabel geäußerter Religionskritik eine historische »Kritik entgegenzustellen und das zeitlich Bedingte und Beschränkte in Lessings religiösen Anschauungen wenigstens anzudeuten«.62 Köpke kommt aufgrund einer solchen Einschätzung des »Nathan« als ein zeitgebundenes Tendenzstück sogar zu dem Schluss, Lessings dramatisches Gedicht werde ein baldiges Verschwinden aus dem kollektiven Gedächtnis beschieden sein: »[S]o wird das Werk sicherlich wohl als eine redende Quelle für die Beurtheilung der geistigen Titanenkämpfe des vorigen Jahrhunderts gewaltige Bedeutung haben; die Kritik der religiösen Entwicklung jener Zeit wird und darf dasselbe nicht bei Seite liegen lassen, aber – eben weil es so eng mit seiner Zeitgeschichte verwebt und verwachsen ist – wird […] das Stück selber […] von der fortschreitenden Zeit überholt werden.«63
Eine fundamentale Fehleinschätzung, wie aus heutiger Perspektive festzustellen ist. Demgegenüber erweist sich Adolph Diesterweg in seiner Streitschrift gegen Köpke als weitsichtiger, wenn er schließt: »Ein solches Kunstwerk ist für Alle […] und für alle Zeiten geschaffen. Von erhöhetem Werthe und höchster Bedeutung ist es in Zeiten, in welcher Fanatismus und Bigotterie mit Toleranz und Aufklärung zu Felde liegen, für verjährt gehaltener Aberglaube von Neuem sich breit macht und den Geist der Jugend umdüstert.«64
3.
Methoden der Lessing-Didaktik um 1900
Nach diesem kurzen Überblick über die wesentlichen ideologischen Tendenzen der »Nathan«-Rezeption durch deutsche Schulmänner stellt sich abschließend die Frage, welche didaktischen Methoden diese Schulmänner diskutierten, um ihre Sichtweisen und Einstellungen zu Lessing und seinem Werk im Deutschunterricht zu vermitteln. Tatsächlich liegen einige Arbeiten zum »Nathan« aus den Jahren um 1900 vor, die mehr oder weniger detaillierte Unterrichtseinheiten zum Drama dokumentieren. Eine methodologische Lektüre dieser Abhandlungen bestätigt zunächst die fachliche Kompetenz der am akademischen Diskurs partizipierenden Pädagogen: Die schreibenden Lehrer erweisen sich auf der wissenschaftlichen Höhe der 61 Kettner, Gustav : Über den religiösen Gehalt von Lessings Nathan dem Weisen (1898). In: Gansel/Siwczyk, Nathan. 2009, S. 291–310. 62 Kettner, Lektüre. 1903, S. 21. 63 Köpke, Studien. 1864, S. 106. 64 D[iesterweg]: Lessing’s Nathan. 1865, S. 180.
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zeitgenössischen Universitätsgermanistik und der hier wie dort gepflegten methodischen Ansätze. Bekanntlich basierte die frühe Hochschulgermanistik im Großen und Ganzen auf drei methodischen Säulen: 1) der von der Klassischen Philologie entlehnten Editionswissenschaft, die 1838 erstmals die historisch-kritische Ausgabe eines deutschsprachigen Autors des 18. Jahrhunderts hervorbrachte, nämlich die von Karl Lachmann besorgte Lessing-Werkausgabe; 2) der positivistisch und biographistisch ausgerichteten deutschen Literaturgeschichte, die seit Gervinus’ maßgebender »Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen« (1835–1842) als Hauptströmung innerhalb des Fachs gelten kann; und 3) der von der Philosophie und Theologie herkommenden Hermeneutik.65 Mit Blick auf Vorgehensweise und Ziele der deutschen Literaturgeschichte ist es wichtig, sich nochmals in Erinnerung zu rufen, dass es dabei weniger um poetologische Gesichtspunkte ging. Richtungweisende Referenztexte wie die Studie über den »Göttinger Dichterbund« von Robert Prutz (1841) oder Hermann Hettners »Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts« (1856–1870) schreiben vielmehr »Persönlichkeits-« bzw. »Subjektivitätsgeschichte«66 und dies im Rahmen einer teleologisch ausgerichteten Nationalgeschichte. Die Artefakte selbst bleiben in dieser Perspektive ein eher marginaler Forschungsgegenstand: »Diagnostisch auszuwerten sind nicht mehr zuerst die überlieferten literarischen Texte«, fasst Klaus Weimar zusammen, »sondern Leben und Taten von literarisch tätigen Persönlichkeiten«.67 Im Zentrum des Interesses von Literaturhistorikern standen deshalb biographische Zeugnisse und Quellen; hier trafen sie sich mit den Editionsphilologen. Das Ergebnis war die Herausbildung eines hochprofessionellen positivistischen Wissenschaftszweigs. »Prominentestes Forschungsgebiet des Positivismus«, so haben Maria Zens und Rainer Baasner hervorgehoben, war im Übrigen – Lessing.68 Erich Schmidt, der mit seinem Aufsatz über »Wege und Ziele der deutschen Litteraturgeschichte« (1880) eine der zentralen Programmschriften positivistischer Nationalphilologie verfasst hatte,69 legte mit seiner LessingBiographie 1884 eine Probe aufs Exempel vor. So zeigt sich gerade im Bereich der Lessing-Forschung: »Literaturgeschichte wird zu einer Zusammenfassung der
65 Für einen kurzen Überblick vgl. Baasner, Rainer/Zens, Maria: Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft: Eine Einführung. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin: Erich Schmidt 2005, S. 43ff. 66 Weimar, Klaus: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München: Fink 1989, S. 319ff. 67 Ebd., S. 325. 68 Vgl. Baasner/Zens, Methoden. 2005, S. 59. 69 Vgl. ebd., S. 58ff.
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äußeren Gegebenheiten, die zur Entstehung der Werke und ihrer Wirkung geführt haben«.70 Einen konkreten Vorschlag für einen biographistischen Zugang zum »Nathan« im Deutschunterricht gibt Hermann Stier : »[D]ie Schüler müssen angeleitet werden zu einem die üblichen einseitigen und unzureichenden oder geradezu unrichtigen, tendenziösen Auffassungen weit hinter sich lassenden Verständnis des bedeutenden und eigenartigen Lehrgedichts.«71 Wie das aus christlicher Warte auszusehen hat, führt er wie folgt aus: Zur »Vorbereitung der Lesung« sieht Stier die Wiedergabe »einige[r] kurze[r,] richtig gewählte[r] Mitteilungen aus Lessings Leben« vor, die diesen als theologischen Reformer präsentieren. So seien Briefe und andere Schriftwerke des Autors zu lesen, in denen Lessing die »Feindesliebe als spezifische Forderung des Christentums« zum Maßstab für die »Wahrheit des Glaubens« erklärt und sich skeptisch gegenüber dem »als große[n] Fortschritt gepriesenen Christentum der Vernunft« geäußert habe. Ferner seien in diesem Kontext Auszüge aus den »Wolfenbütteler Fragmenten« als einer nächsten Stufe kritischer Reflektion über die alte lutherische Orthodoxie heranzuziehen und diese gemeinsam mit weiteren Dokumenten über den damit ausgelösten ›Fragmentenstreit‹ zu referieren.72 Auf diese Weise wird »Nathan der Weise« als das Mittel zur Fortsetzung der theologischen Kontroverse deutbar, als das das Drama mit Lessings bekanntem Ausspruch von seiner »alten Kanzel, dem Theater« gewertet werden konnte: »Aus dieser Situation, aus diesen Vorbedingungen […] erklärt sich auch die […] als Parteilichkeit und Ungerechtigkeit gegen des Christentum bezeichnete Darstellung der Vertreter der drei monotheistischen Religionen«.73 Ging es bei der positivistischen Vorgehensweise um die möglichst vollständige Anhäufung empirischer Fakten, zielte die philologische Hermeneutik im losen Gefolge Schleiermachers bekanntlich auf die ›Psychologie‹ des Autors und interpretierte literarische Texte und ihren spezifischen ›Stil‹ als Spiegel und Entäußerung des dichterischen Wesens im Wechselspiel mit seiner soziokulturellen Umwelt.74 Schleiermacher selbst hatte formuliert: Die »Einheit des Werkes, das Thema« sei zu verstehen »als das den Schreibenden bewegende Prinzip, und die Grundzüge seiner Komposition als seine in jener Bewegung sich 70 Ebd., S. 56; vgl. dazu auch Kindt, Tom/Müller, Hans-Harald: Was war eigentlich der Biographismus – und was ist aus ihm geworden? Eine Untersuchung. In: Autorschaft: Positionen und Revisionen. Hrsg. von Heinrich Detering. Stuttgart/Weimar : Metzler 2002, S. 355–375. – Aus dem Bereich der Schulprogrammschriften können dafür beispielhaft die Abhandlungen von Röpe (1859) und Brandl (1908) angeführt werden. 71 Stier, Beiträge. 1913, S. 349. 72 Vgl. ebd., S. 349f. 73 Ebd., S. 351. 74 Vgl. Kindt/Müller, Biographismus. 2002, S. 358f.
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offenbarende eigentümliche Natur«.75 Von dieser Vorstellung ausgehend, ging es um die Rekonstruktion der supponierten zentralen Leitidee des Autors, die dem Text angeblich Struktur und tieferen Sinn verleiht. Dieser »Grundgedanke eines Werkes« war nach Schleiermacher wiederum »aus der persönlichen Eigentümlichkeit des Verfassers zu verstehen«.76 Der Pädagoge Otto Willmann hat dies in seinem wegweisenden Werk »Didaktik als Bildungslehre« (1882/1888) folgendermaßen formuliert: »Die Erklärung eines Sprachwerkes als eines Ganzen […] hat eine doppelte Aufgabe, sie soll einerseits das Werk aus seinem Grundgedanken verstehen machen und […] zeigen, wie sich aus der zu Grunde liegenden Konzeption oder dem Keimentschlusse (wie Schleiermacher sagt) das Ganze entwickelt hat, und sie soll andrerseits das Werk in seinen organischen Beziehungen zu andern erblicken lassen.«77
Willmann spielt hier auf ein weiteres gängiges interpretatives Rekonstruktionsverfahren an, nämlich die Erklärung der Autorintention aus den intertextuellen Bezügen, insbesondere zu historischen Vorlagen.78 Dies erweist sich gerade für Lessings Boccaccio-Adaption, die die Ringparabel darstellt, von Bedeutung. Kaum eine Programmabhandlung kommt ohne eine ausführliche Darstellung von Lessings Modell aus. Insgesamt zeigt sich, dass es im schulischen Bereich zu einer praktikablen Verschmelzung von historisch-biographistischen und hermeneutisch-interpretativen Verfahren kommt. Der bereits erwähnte Lektüreschlüssel zu »Nathan der Weise« von Eduard Niemeyer weist darauf hin, wie vertraut die Schulmänner des 19. Jahrhunderts mit den frühen Ansätzen der Literaturanalyse waren. Niemeyer geht es um die schulische Behandlung des Dramas »auf den hermeneutischen Grundsätzen […], welche schon bei der Interpretation der alten Klassiker in der neuesten Zeit als maßgebend anerkannt sind.« Ganz im Sinn der Schleiermacher-Schule soll in den Anmerkungen zum Drama dasjenige geboten werden, »was in Sprache, Gedankenzusammenhang und Sachen für das Verständnis nothwendig zu sein scheint«, d. h. auf der sprachlichen Ebene die 75 Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 167. 76 Ebd., S. 185. 77 Willmann, Otto: Didaktik als Bildungslehre nach ihren Beziehungen zur Sozialforschung und zur Geschichte der Bildung. Wien: Herder 61957, S. 553. Zu Schleiermachers Begriff des »Keimentschlusses« vgl. Schleiermacher 1977, S. 189ff. Ein Beispiel für den hermeneutischbiographistischen Ansatz in Bezug auf Lessings Nathan liefert Wilhelm Scherer, der in seinem Aufsatz »Zu Lessings ›Nathan‹« zu der Mutmaßung kommt, dass Lessings »milde, duldsame Gesinnung gegen Andersgläubige […] eine Art Familientradition gewesen sei«, und konstatiert: »[W]ir dürfen mit einigem Grunde den Satz aufstellen […]: Die Gesinnung, aus welcher der ›Nathan‹ entsprang, hat Lessing durch directe Vererbung empfangen.« (Scherer, Zu Lessings Nathan. 1874, S. 336). 78 Vgl. Kindt/Müller, Biographismus. 2002, S. 364ff.
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Verschränkung der etymologischen Untersuchung sprachlicher Eigentümlichkeiten mit der »Beobachtung des individuellen Stils« des Autors, auf der Strukturebene die Verdeutlichung der dramatologischen »Entwicklung des Gedankenzusammenhangs« anhand des Textaufbaus und auf der Sachebene die »Erklärung durch Realien«; neben der Einbettung der Handlung in ihren historischen Kontext ist damit vor allem die Ergänzung des Primärtexts um weitere Quellen zum Werk und Wirken des Autors gemeint, die »die individuelle Weltanschauung des Dichters aufzuklären geeignet« sind.79 Interessant ist nun, wie die Schulmänner den beschriebenen Methodenmix einzusetzen trachten und mit welchen im engeren Sinn didaktischen Verfahren sie diesen ergänzen, um zu den gewünschten Resultaten beim Rezeptionsverhalten der Schüler zu kommen. Zwei hochgradig reflektierte Unterrichtskonzepte zu »Nathan der Weise« und seiner Religionsproblematik haben Alfred Rausch mit seinem Bericht »Lessings Nathan der Weise im deutschen Unterrichte der Prima« (1892) und Hans Weber in seinem Aufsatz über »Gesichtspunkte zur Lessinglektüre in der Prima« (1917) vorgelegt. Beide Autoren verwerfen zunächst die apodiktische Herangehensweise der älteren, christlichkonservativen Kollegen und begründen dies mit der kritischen psychischen und mentalen Verfassung der adoleszenten Primaner. Rausch: »Es kann nicht zweifelhaft sein, daß in Lessings Nathan dem Weisen das Hauptthema […] in dem Religionsproblem zu suchen ist. Freilich hat dieses Problem hier unter der Einwirkung von Lessings persönlichen Anschauungen und der Aufklärung seiner Zeit eine Darstellung und Lösung gefunden, die nicht in jeder Beziehung befriedigen kann und daher auch nicht unmittelbar bildend einwirken kann. Deshalb sind einsichtige Schulmänner von jeher bemüht gewesen, der ungerechten Schätzung des Christentums und der unhistorischen Würdigung des Judentums berichtigend entgegenzutreten. Man kann sich jedoch bei solchen Bemühungen nicht verhehlen, daß eine ungeheuer mächtige Autorität dazu gehört, um den Schüler davor zu bewahren, daß er nicht doch gegen den Ausleger Partei nimmt und lieber dem großen Lessing beistimmt. Viel mehr wird dabei gewonnen sein, […] wenn aus der Besprechung hervorgeht, daß Lessing hier im Grunde doch nicht schlechthin der Aufklärung das Wort redet, wenn es gelingt zu erweisen, daß es dem Stücke an positivem Gehalte nicht fehlt. Darum ist die Besprechung geleitet gewesen von dem Gedanken, zu zeigen, daß Lessing auch im Nathan den mittleren Standpunkt zwischen der Orthodoxie und der Aufklärung noch festhält, den er im Fragmentenstreite von vornherein einnahm.«80
79 Niemeyer, Lessing’s Nathan. 1855, S. IVf. Mit Blick auf den primären Adressatenkreis liefert Niemeyers Kommentar zusätzlich kurze Erläuterungen zu solchen »körnigen und gehaltvollen Sentenzen« aus dem »Nathan«, die sich als Themen für Schulaufsätze besonders eignen (ebd., S. V). 80 Rausch, Lessings Nathan. 1892, S. 57f.
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Konkreter wird Weber : »Gegen eine derartige [d. h. sachlich-neutrale, N. Ä.] Behandlung der Aufklärung mit ihrer scharfen Ablehnung des Christentums läßt sich der Vorwurf erheben, daß sie große Gefahr mit sich bringt, indem sie Werte zerstört, die schwer zu ersetzen sind. Solche Bedenken sind umsomehr zu beachten, als der in Betracht kommende Schüler vielleicht in seiner ersten religiösen Krisis lebt. An die Stelle der Zweifel, die bisher als unklares, strafwürdiges Gefühl das Herz quälten, tritt auf einmal auf Grund einer kühnen und scharfen Beweisführung und unter der Autorität eines unserer größten Geister die Gewißheit. […] Der drückende Zwang der Glaubenslehre weicht einem beseligenden Gefühl der Befreiung, getragen von der Kraft erwachender Männlichkeit und dem Wohlgefühl frühlinghafter Erregung des jungen Geistes […] Solche Krisen kommen in der Jugendzeit wie die Frühjahrsstürme in der Natur […] Sie verhindern wollen, heißt die für den jungen Menschen notwendige Abhängigkeit künstlich verlängern, den Weg zu Selbständigkeit und Freiheit erschweren. […] Den angedeuteten Bedenken ist jedenfalls insofern Rechnung zu tragen, als der Lehrer verhüten muß, daß das Ergebnis des Unterrichts ein rein negatives ist und der Schüler sich völlig von der Religion abwendet. […] Dies aber wird in den meisten Fällen verhindert durch eine objektive Würdigung der Aufklärung«.81
Alfred Rausch entwickelt in Anlehnung an das Modell eines ›erklärenden Unterrichts‹, das Otto Willmann in seiner »Didaktik« entworfen hatte, nun »fünf Handhaben«, fünf aufeinander aufbauende Segmente, in die er die Behandlung des »Nathan« staffelt: 1) »zeitgeschichtliche Elemente«, 2) das »biographische Element«, 3) den »Grundgedanken« des Dramas, 4) dessen literarhistorische Anteile bzw. das »historische Element« und 5) die »ästhetische Betrachtung«, die Formanalyse:82 Als Ausgangspunkt der Unterrichtseinheit wählt Rausch eine Vorbesprechung der zeitgeschichtlichen Elemente (1), also die »litterar- und kulturhistorischen Beziehungen der Dichtung«83. Diese wurden in einem frühen Beispiel für fächerübergreifenden Unterricht in Abstimmung mit dem Religionsunterricht gelehrt, wo zeitgleich die Kirchengeschichte des 17. bis 19. Jahrhunderts durchzunehmen war. Der Stoff findet sich zugespitzt auf den Gegensatz zwischen lutherischer Orthodoxie auf der einen und den wiederum auseinanderstrebenden humanistischen Erneuerungsbewegungen des Pietismus und der Aufklärung auf der anderen Seite. »Alle Dichter und Denker des Jahrhunderts zeigen sich mehr oder weniger beeinflußt von einer dieser zwei Richtungen, und es ist leicht zu erkennen, daß sie in zwei Gruppen
81 Weber, Lessinglektüre. 1917, S. 26f. 82 Rausch, Lessings Nathan. 1892, 60ff.; vgl. Willmann, Didaktik. 61957, S. 548ff. 83 Rausch, Lessings Nathan. 1892, S. 61.
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auseinandertreten, geradeso wie sich zwei entgegengesetzte Reihen der zeitbewegenden religiösen Ideeen [sic] und Probleme ergeben.«84
Diese Reduktion schlägt sich in einem Tafelbild nieder, wo einerseits wichtige Personen einander gegenüber gestellt werden und andererseits die von diesen Personen verkörperten »sachlichen Gegensätze«: Demnach vertreten Autoren wie Gellert, Klopstock, Herder und »der junge Goethe« den religiös-pietistischen Zug, während Gottsched, Lessing, Wieland und Schiller für eine aufklärerische Haltung stehen.85 Die sachlichen Gegensätze wurden vom Lehrer nicht doziert, sondern waren induktiv aus einem als Hausaufgabe durchzuarbeitenden Text von Martin Wieland über »Schwärmerei, Fanatismus, Enthusiasmus, Begeisterung«, entnommen aus dem »Deutschen Lesebuch für höhere Lehranstalten« von Jakob Hopf und Karl Paulsiek (1887), selbständig zu erarbeiten. Das entsprechende Tafelbild fasst die Ergebnisse in Schlagworten zusammen: Religion vs. Humanität Offenbarung und Bibel vs. Vernunft; Wunder vs. Natur; Konfessionalität vs. Toleranz, Rechtglauben (Orthodoxie) vs. Rechthandeln (Moralismus); Gemeinschaftsinteressen vs. individuelle Freiheit. Aus der Textgrundlage wurde sodann interaktiv »eine regelrechte Definition von Fanatismus«86 hergeleitet, wobei der Lehrer auf die logischen Fertigkeiten zurückgreifen konnte, die die Schüler durch das regelmäßige Erstellen rhetorisch-logischer Schulaufsätze – ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert der didaktische Mittelpunkt des gymnasialen Deutschunterrichts87 – gefestigt hatten. Wiederum ist das Ergebnis eine stichwortartige Gliederung an der Tafel. Diese entsprach den damaligen Standards der Lexikologie und definiert Fanatismus wie folgt: »Fanatismus ist eine Schwärmerei; sie hat ihren Ursprung in einem entstellten religiösen Gedanken; sie ist leidenschaftlich bemüht, ihn zu verwirklichen; sie scheut hierbei keine Mittel«.88 Hans Weber wählt die ›mäeutische‹ oder ›sokratische‹ Lehrmethode, um den kulturgeschichtlichen Entstehungskontext des »Nathan« interaktiv zu erschließen, eine auf Platon und die antike Rhetorik zurückgehende schülerzentrierte Lehr-/Lernform, die im 19. Jahrhundert u. a. von dem Mathematiker Karl Weierstraß in seiner erstmals in der Schulprogrammschrift des Progymnasiums Deutsch-Krone 1845 erschienenen Schrift »Ueber die Sokratische Lehrmethode« näher konzipiert wurde. Es geht dabei darum, die Schüler
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Ebd. Vgl. ebd., S. 62f. Ebd., S. 63. Vgl. Frank, Dichtung, Sprache, Menschenbildung. 1976, S. 199ff. Rausch, Lessings Nathan. 1892, S. 64.
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vermittels suggestiver Fragen zu selbständiger Erkenntnis eines zur Disposition gestellten Sachverhalts zu verhelfen.89 Weber merkt dazu an: »Notwendig ist es, die Resultate in gemeinsamer Arbeit durch Frage und Antwort zu gewinnen. Nur so kann der Lehrer sich fortgesetzt überzeugen, ob der Schüler mit Verständnis folgt, ganz abgesehen davon, daß der Unterricht nur so lebendig wird. Der Lehrer, der sich auf den Vortrag so abstrakter Dinge beschränkt, wird bald über die Köpfe der Primaner wegreden. Ganz verwerflich aber ist es, allerlei Weisheiten zu diktieren.«90
Weber wählt folgenden Einstieg in die Thematik: »Gehen wir beispielsweise von der Tatsache aus, daß die Lehren des Kopernikus bis 1832 auf dem [katholischen, N. Ä.] Index gestanden haben und knüpfen daran die Frage: Welche Schranken waren dem menschlichen Denken im Mittelalter gesetzt?«91 Daraus ergeben sich eine Reihe weiterer Fragen, die die Dogmen einer religiös geprägten Weltanschauung erschließen. »Von dem durch diese Fragen gewonnenen Punkte springen wir zum Gegenteil über und gelangen zum Hauptgrundsatz allen rationalistischen Denkens: Ich glaube nur das, was vor dem prüfenden Verstand besteht.« Über die sokratische Methode kommt Weber zur selben Ergebnissicherung wie Rausch: »So gewinnen wir den Gegensatz in den Schlagworten: Autorität, Tradition, Glaube, positive Religion auf der einen – Vernunft, Kritik, Vernunftreligion auf der anderen Seite.« (Ebd.) Auch die wesentlichen Eckpunkte des ›Fragmentenstreits‹, sowie die »religiösen Auffassungen«92, die der »Nathan« widerspiegelt, lässt Weber über das sokratische Prinzip erschließen. Für die Behandlung der biographischen Elemente (2) setzt Rausch wiederum auf literarische Zeugnisse. Anhand der Matthias-Claudius-Biographie von Wilhelm Herbst (1857) erschließt er das gesellschaftliche, kulturelle und private Umfeld von Lessing in Hamburg. Herbsts Buch unterstützt offenbar das Ansinnen des Lehrers, den Entstehungskontext von »Nathan der Weise« und Lessings theologische Mittlerposition über die genannten polaren Personenkonstellationen zu demonstrieren. In biographistischer Lesart werden Lessings Beziehungen zur Vorlage für die bedeutungsträchtigen »Freundschaften«93, die die Figuren des Dramas schließen. Die Grundidee (3) des »Nathan« schließlich ist in der Ringparabel konzentriert, deren literarhistorische Bezüge (4) anhand der Erläuterungen in Schul89 Vgl. Weierstraß, K[arl]: Ueber die Sokratische Lehrmethode. In: Jahresbericht über das Königl. Progymnasium in Dt. Crone, 1845, S. 6f. – Zur Weiterentwicklung der sokratischen Methode im 20. Jahrhundert vgl. Birnbacher, Dieter/Krohn, Dieter (Hrsg.): Das sokratische Gespräch. Stuttgart: Reclam 2002. 90 Weber, Lessinglektüre. 1917, S. 22. 91 Ebd. 92 Ebd., S. 23. 93 Rausch, Lessings Nathan. 1892, S. 64.
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Norman Ächtler
ausgaben des Dramas erschlossen werden kann: »Ganz von selbst zerfällt das Problem in ein Problem der Religionen: welches Volk hat das rechte Gesetz? und in ein Problem der Religion: was verlangt das rechte Gesetz vom Menschen?«94 Aus dieser Zuspitzung leitet Rausch zwei lektüreleitende Fragen ab: 1) »Was lehrte das Stück über das erste Problem von dem Verhältnis der verschiedenen Religionen zu einander durch Parabel und Handlung?« und 2) »Was lehrte das Stück über das zweite Problem von dem rechten religiösen Verhalten durch Parabel und Handlung?«95 Diese beiden Fragen werden dann der gemeinsamen Lektüre zugrunde gelegt, wobei der Schwerpunkt auf das Auffinden und Eruieren von prägnanten Aussagen der dramatis personae liegen soll; die Formanalyse (5) beschränkt sich im Anschluss auf ausführliche Figurencharakteristiken: »Mit Hilfe dieser zwei Fragen läßt sich der Ideengehalt der Dichtung heben, und es erwies sich als nützlich, daß die Schüler bei ihrer häuslichen Vorbereitung oder bei der Klassenbesprechung in ihren Exemplaren immer die Stellen mit 1 oder 2 am Rande bezeichneten, je nachdem ob sie einen Beitrag zum ersten oder zum zweiten Thema enthielten. […] Mit Hilfe der thematischen Fragen fanden die Schüler selbst die entscheidenden Stellen.«96
Am Ende der Unterrichtseinheit werden die fünf Elemente der ›Dramendidaktik‹ nochmals gemeinsam rekapituliert, bevor ein Schulaufsatz die Lektion abschließt. Die Ergebnissicherung, die Rausch dokumentiert, fasst die wichtigsten ideologischen wie pädagogisch-didaktischen Zugänge zu Lessings »Nathan der Weise« nochmals prägnant zusammen, die die Rezeption im ›Kulturraum Schule‹ zwischen 1854 und 1918 entsprechend der Quellenlage kennzeichnen. Sie soll deshalb anstelle eines separaten Fazits resümierend kommentiert werden. Die Abschlussdiskussion ist ein Beispiel für den moderaten Modus des Umgangs mit Lessings Drama, das sich um 1900 im schulischen Kanon zweifellos durchgesetzt hat. Im Unterrichtsgespräch soll nochmals Lessings Vermittlerposition zwischen Pietismus und Aufklärung und seine belehrende Absicht gegenüber der lutherischen Orthodoxie verdeutlicht werden. »[S]einen christlichen Gegnern ihre unchristliche Unduldsamkeit zu verweisen: darum machte er einen der verachteten Juden zum Träger einer Denk- und Handlungsweise, die Anerkennung erobern mußte.«97 Indem Rausch den Nathan in seinem ideengeschichtlichen Entstehungskontext verankert, kann er die Schüler schlussfolgern lassen, Lessing habe mit seinem Drama 94 95 96 97
Ebd., S. 65. Ebd., S. 74f. Ebd., S. 65. Ebd., S. 74.
Zwischen Ressentiment und Toleranz
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»die Wahrheitsmomente in den verschiedenen Meinungen der Zeitgenossen […] zusammenfassen [wollen] zu einer Religiosität, die Religion und Humanität, Offenbarung und Vernunft, Konfessionalität und Toleranz, Rechtglauben und Rechthandeln in sich zu einer höheren Einheit verbindet. […] daß der Glaube nicht vergessen ist und nicht als entbehrlich hingestellt wird, glauben wir durch unsere Behandlung erwiesen zu haben.«98
Lessings Toleranzlehre wird für einen nach wie vor von christlicher Weltanschauung geprägten Unterricht fruchtbar gemacht, wobei sich abzeichnet, dass die kirchlichen Einflüsse auf den Deutschunterricht nach 1900 abnehmen. An oberster Stelle des Bildungsplans steht die Vermittlung ›positiver Werte‹. Der Rückgriff auf die biographistische Methode zielt deshalb darauf, die zeitlosen religionskritisch-›negativen‹ Akzente, die »Nathan der Weise« setzt, historisch zu normalisieren. Der Methodenmix und die überraschend offenen Lehr-/ Lernformen, die die Schulmänner bereits einsetzen, haben deshalb einen entscheidenden Pferdefuß. Durch die Hintertür geht es nach wie vor darum, an objektiven Zielvorgaben orientierte, vom Lehrer gewünschte Resultate beim Rezeptionsverhalten der Schüler durchzusetzen. Eine signifikant nationalistische Vereinnahmung Lessings ließ sich aus den vorliegenden Schulabhandlungen zu Lessings »Nathan der Weise« nicht belegen.99
98 Ebd., S. 76. 99 Hier bildet Hans Weber eine Ausnahme. Sein Unterrichtskonzept zeugt von der Entstehung während des Ersten Weltkriegs. Der didaktischen Aufbereitung der Religionsproblematik lässt Weber eine Kritik an Lessings »Kosmopolitismus« folgen, vor dem die Schüler, »die später zu Führern des Volkes bestimmt sind, bewahrt werden« müssten (Weber, Lessinglektüre. 1917, S. 29). Der Verlust an methodologischer Reflexion zugunsten deduktiver Polemik verweist einmal mehr auf die Schwierigkeit, die es bedeutete, Lessing nationalistisch bzw. für eine Nationalerziehung zu vereinnahmen.
Birka Siwczyk
Ausgewählte Schulschriften in Lessing-Jubiläumsjahren im Zeitraum von 1854 bis 1883
»Wenige Schriftsteller nennt und lobt man so gern als ihn: ja es ist eine fast allgemeine Liebhaberei, gelegentlich etwas Bedeutendes über Lessing zu sagen«1, stellt Friedrich Schlegel im Jahre 1797 fest. Eine Aussage, die Marcel Reich-Ranicki nahezu 200 Jahre später mit den Worten bestätigt: »Kein anderes deutsches Genie hat man so ausgiebig und hartnäckig mit pompösen Worten und hohlen Phrasen besungen.«2
Dabei hatte Lessing selbst nie das Bedürfnis, im Vordergrund zu stehen. In einem frühen Text mit dem Titel »Ich« heißt es: »Die Ehre hat mich nie gesucht;/ Sie hätte mich auch nie gefunden.«3 Huldigungen und feierliche Nachrufe hätte Lessing sich vermutlich verbeten, und doch ist ihm »Bewunderung« nie versagt worden. Bewunderung ist nach Klaus Bohnen das »immer wiederkehrende Leitwort«.4 Ab Mitte des 19. Jahrhunderts »avanciert [Lessing] zum kanonisierten Autor und wird in vielfältiger Weise im kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnis gepflegt.«5 Für die Etablierung des Autors Lessing im ›kulturellen Gedächtnis‹ sind Dichterfeiern und Ehrungen in Jubiläumsjahren, in denen sich eine solche Huldigung für gewöhnlich potenziert, von besonderer Bedeutung.6 Feste und 1 Schlegel, Friedrich: Über Lessing. In: Lessing – ein unpoetischer Dichter. Hrsg. von Horst Steinmetz. Frankfurt a. M./Bonn: Athenäum 1969, S. 169. 2 Reich-Ranicki, Marcel: War Lessing ein großer Kritiker? In: Bohnen, Klaus: Lessing. Nachruf auf einen Aufklärer. Sein Bild in der Presse der Jahre 1781, 1881 und 1981. München: Fink 1982, S. 134. 3 Wittenberg, den 11. Oktober 1752. 4 Bohnen, Lessing. 1982, S. 177. 5 Gansel, Carsten: Gotthold Ephraim Lessing und das kulturelle Gedächtnis zwischen 1800 und 1914 – Plädoyer für eine Neusichtung von Quellen. In: Ders./Siwczyk, Birka (Hg.): Gotthold Ephraim Lessings »Nathan der Weise« im Kulturraum Schule (1830–1914). Göttingen: V& R unipress 2009, S. 12. 6 Vgl. ebd., S. 27.
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Jubiläen sind zudem für die Konstituierung und Festigung von Lessing-Bildern in besonderer Weise geeignet. Das war im Bereich der Schule nicht anders. Viele Fragen sind offen. Wie sieht es mit einer fest eingebürgerten Bewunderungstypologie in der Institution Schule aus ? Wie wird dem LessingBild aus Anlass von Jubiläen zu verschiedenen Zeiten Ausdruck gegeben? Welche Lessing-Bilder werden beschworen? Und welche Rolle spielt dabei die Institution Schule? Im Rahmen eines Workshopbeitrags ist es nicht möglich, all diese Fragen umfassend zu klären. Wohl aber können Anregungen erfolgen, die in eine ausführlichere Arbeit zur Thematik Eingang finden können. Im Mittelpunkt dieses Beitrages sollen ausgewählte Schulschriften stehen, die im Jahr des 125. Dichtergeburtstages (1854), im Jahr des 150. Geburtstages und zugleich 100 Jahre seit Erscheinen von »Nathan der Weise« (1879), im 100. Todesjahr (1881) und im Jahr der Säkularfeier der Uraufführung von »Nathan der Weise«7 (1883) erschienen. Betrachtet werden insbesondere Schulprogrammschriften aus den genannten Jahren, wobei gezeigt werden soll, wie sich die Erinnerung an Lessing in der Schule darstellte. Die im Umfeld von Jubiläen verfassten wissenschaftlichen Abhandlungen in Schulprogrammschriften, die sich thematisch mit Lessing und dessen Werk befassen, stellen sich zahlenmäßig wie folgt dar : Von bisher 180 zahlenmäßig erfassten Abhandlungen zu Lessing aus dem Zeitraum 1774 bis 1915 erschienen im Jahr 1854 zwei, 1879 vier, 1881 zehn, 1883 sieben, 1904 zwei und 1906 vier Abhandlungen. Ein expliziter Hinweis des Verfassers auf das Jubiläumsjahr, das die Wahl eines Lessing-Themas möglicherweise begünstigte, erfolgte nicht zwangsläufig. In den folgenden Betrachtungen werden auch einige Denkmale eine Rolle spielen, deren Enthüllung und Einbeziehung in Feierlichkeiten sich in Schulschriften oder Festansprachen niederschlägt. Im Zuge der nach 1815 einsetzenden Historisierung der Vergangenheit setzte man den »geschichtlichen Größen« an ihren Lebens- und/oder Wirkungsstationen Denkmäler, die – als Manifestationen von Erinnerung – dem damaligen Bedürfnis zur Repräsentation und zur Verehrung von ›Geisteshelden‹ durch die Zeitgenossen entsprachen und eine öffentliche Repräsentation nationaler Identität darstellten. Im Untersuchungszeitraum sind dies insbesondere: – das Reiterstandbild für Friedrich den Großen in Berlin von Christian Daniel Rauch (1777–1857), dessen Grundstein bereits in den letzten Lebenstagen Friedrich Wilhelms III. gelegt, aber erst unter Friedrich Wilhelm IV. am
7 1883: 100 Jahre »Nathan« auf der Bühne (Uraufführung 14. April 1783 in Berlin).
Ausgewählte Schulschriften in Lessing-Jubiläumsjahren
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31. Mai 1851 feierlich enthüllt wurde. Hier ist Lessing »unterm Pferdeschwanz« neben Immanuel Kant zu finden. – das Lessing-Denkmal von Ernst Rietschel, dessen Enthüllung am 29. September 1853 in Braunschweig als nationales Ereignis wahrgenommen wurde.8 Das drei Jahre zuvor enthüllte Reiterstandbild Friedrichs des Großen in Berlin dient 1854 dem Prediger Dr. Spangenberg, Rektor der städtischen höheren Töchterschule zu Bromberg, als Einstieg seiner wissenschaftlichen Abhandlung »Erinnerungen an Lessing«9. Entsprechend dem Anliegen, mit dem Geist des Königs auch den Geist des Jahrhunderts darzustellen, wird Lessing gleich eingangs die Rolle eines »mit den Waffen des Geistes gegen die Finsternis früherer Jahrhunderte«10 ankämpfenden nationalen Helden zugewiesen. In Verbindung von Heldenverehrung und Dichterkult und diese Kämpfermetapher aufgreifend, geht es im Folgenden um die Würdigung des »überaus reich begabten deutschen Schriftsteller[s]«. Zudem werden zwei unmittelbare Faktoren angeführt, um beim Ablauf des Schuljahres Lessings »in Liebe zu gedenken«.11 Zum einen konstatiert Spangenberg die ungenügende Kenntnis und Würdigung des Dichters, um sodann auf das hundertjährige Jubiläum des ersten deutschen Trauerspiels »Miß Sara Sampson« hinzuweisen. Was das Jubiläumsjahr betrifft, irrt der Verfasser jedoch, denn das Stück entstand nicht 1754, sondern von Ende Januar bis Mitte März 1755.12 Lessing wird als nationaler Dichter eingeordnet. Gelobt wird der Gelehrte, Kritiker und Dichter, der, stets nach der Wahrheit ringend, »auf die ganze deutsche Literatur einen höchst wohlthätigen Einfluß«13 ausübte. Spangenberg schreibt: »Wir können sagen, dass in Lessing ein Deutscher der ganzen gebildeten Welt das Beispiel eines Kritikers gab, der klar durchschaute, schwertscharf richtete, groß8 Das Hamburger Lessing-Denkmal von Fritz Schaper, dem ein Wettbewerb aus Anlass des 100. Todestages 1881 vorausging, findet in den ausgewählten Schulprogrammschriften keine Erwähnung. 9 Spangenberg: Erinnerungen an Lessing. In: Programm der städtischen höheren Töchterschule zu Bromberg. Bromberg: Buchdruckerei von F. Fischer, 1854, S. 1–18. (Bromberg, das heutige Bydgoszcz/Polen, gehörte zum damaligen Zeitpunkt zur preußischen Provinz Posen.) 10 Ebd., S. 1. 11 Ebd. 12 Vgl. u. a. Albrecht, Wolfgang: Lessing. Chronik zu Leben und Werk. Kamenz: LessingMuseum 2008, S. 28: »Potsdam/um 27. Januar bis um 18. März In strengster Zurückgezogenheit Arbeit an ›Miß Sara Sampson‹, […] das C. F. Voß zur Ostermesse herausbringen will.«. Die Uraufführung findet am 10. Juli 1755 in Frankfurt/Oder statt. 13 Spangenberg, Erinnerungen. 1854, S. 10.
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denkend und unparteiisch die letzte Wahrheit suchte und dabei seiner Sprache vollkommen mächtig war.«14
Mit der Einschränkung, dass es »unziemlich« erscheine, den ›großen‹ Dichter zu kritisieren, gibt Spangenberg aber zu bedenken, dass es Lessing bei der Behandlung der Dramenfiguren an »Gemütstiefe« fehle. Eine sich einem verbreiteten Urteil anschließende Einschätzung in der Wirkungsgeschichte, das den lessingschen Dramen einen Eindruck der Kühle, des zu vernünftigen Handelns der Figuren und der konstruierten Handlungen bescheinigt.15 In »Emilia Galotti« fehle der Hauch der Poesie, hingegen habe Lessing all das, »was der scharfe Verstand und die richtige Einsicht an einem Drama zu bearbeiten hat, wenn der Stoff erfunden oder gegeben ist, […] auf bewunderungswürdige Weise geleistet«16. Das Fehlen der Gemütstiefe als Voraussetzung für das Verständnis der Religion führt der Verfasser letztlich auch als Ursache dafür an, dass die Stellung des Christentums seiner Auffassung nach nicht richtig erkannt wurde. Mit der Würdigung des Dramas »Nathan der Weise« als »das vorzüglichste Dichterwerk Lessing’s […], das noch immer neben Göthe’s und Schiller’s Meisterwerken den nächsten Platz behauptet«17, bestätigt Spangenberg den hohen Rang, in den Lessing seit Anfang des 19. Jahrhunderts erhoben wurde. Als der ebenso als Rektor amtierende Mathematiker Karl Riebe (1813–1901) aus zwingenden Gründen den deutschen Unterricht in der Prima der Saldernschen Realschule Brandenburg übernehmen musste und ein »classisches Stück für die statarische Lectüre18 auszuwählen«19 hatte, entschied er sich für »Nathan der Weise«. Neben einem »empfindlichen Mangel« an zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln20 erkannte er, »daß diese Lectüre für die Schüler ohne Nutzen bleiben müßte, wenn nicht auf den Gedankengang im Allgemeinen sowohl, als auch auf die Schönheit der Characteristik, des Dialogs, der einzelnen Gedanken
14 Spangenberg, Erinnerungen. 1854, S. 11f. 15 Vgl. dazu die Überlegungen Friedrich Schillers in »Über naive und sentimentalische Dichtung«, wonach in Lessings »Nathan« »die frostige Natur des Stoffs das ganze Kunstwerk erkältet« hätte. In: Gansel/Siwczyk, »Nathan der Weise« im Kulturraum Schule. 2009, S. 53. 16 Spangenberg, Erinnerungen. 1854, S. 14. 17 Ebd., S. 17. 18 Statarische Lektüre: Lektüre, bei der das Einzelne genau erklärt wird. 19 Riebe, Karl: Ueber Lessing’s »Nathan der Weise«. In: Programm der Saldernschen Realschule Brandenburg 1854. Brandenburg: J. J. Wiesike, 1854, S. 3. Die Einleitung datiert vom 11. März 1854. 20 Riebe stützt sich lediglich auf Max Kurnik: Nathan der Weise. Breslau, Neiße: Kohn 1846 und auf Andeutungen in Literaturgeschichten, bspw.: Vilmar, A. F. C.: Geschichte der deutschen National-Literatur. Marburg/Leipzig: Elwert 1845; Gervinus, Georg Gottfried: Neuere Geschichte der poetischen Nationallitteratur der Deutschen. Erster Theil. Von Gottscheds Zeiten bis zu Göthes Jugend. Leipzig: Engelmann 1840.
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und Aussprüche etc., woran dieses Stück einen seltenen Reichthum hat, mit Schärfe und Genauigkeit eingegangen würde.«21 Aus dieser praktischen Erfordernis entstand die im Lessing-Jahr 1854 verfasste wissenschaftliche Abhandlung »Ueber Lessing’s ›Nathan der Weise‹«. Das Anliegen des Verfassers bestand darin, aus seinem gesammelten Erfahrungsschatz einen fortlaufenden Unterrichtskommentar auszuarbeiten und mit seiner Abhandlung über einen deutschen Klassiker für die Schule dazu beizutragen, dass sich »auch allmälig ein solcher Schatz ansammeln könne, wie wir für die alten Schriftsteller besitzen«22. Die vorgelegte Schrift sollte dafür lediglich eine »Probe« für eine eventuelle spätere Veröffentlichung geben, die allerdings nicht zustande kam. Rektor Riebe hält die deutschen Klassiker, zu denen er Lessing ohne Einschränkung zählt, nicht nur für ebenso tief und reich wie die »alten Schriftsteller«, sondern bewertet sie – vornehmlich »durch das Christentum« – höher und fordert auch im Sinne der nationalbewusstseinsbildenden Aufgabe die Beschäftigung mit ihren Werken. Er lobt im Weiteren, dass Lessing es verstehe, »durch freudige Theilnahme und bange Sorge das Herz der Zuschauer zu rühren […] Mit gleicher Kunst nimmt er durch die treffliche Characteristik der handelnden Personen für seinen anderen Satz ein, daß Religiosität, Gottergebenheit und thätige Menschenliebe, von dem Glaubensinhalt, dem Lehrbegriff, unabhängig sei«.23
Die Rolle des Christentums als der wesentlichen Religion für die religiöse Erziehung will auch Riebe zurechtgerückt wissen und schließt daher seine Abhandlung mit der Feststellung, Lessing hätte sein Hauptanliegen – den Beweis, dass ein Mensch wie Nathan »ohne positive Religion, ohne die Lehre vom Sohne Gottes und seinem Kreuze« möglich sei – durch seine »Fiction« nicht erbracht.24 Nach 1871, im Zuge der Reichsgründung und der sie begleitenden nationalen Hochstimmung, wird Lessing zunehmend als Führer und Wegweiser angerufen. Seine Stellung als nationaler Dichter – Adolf Stahr hatte ihn 1859 als »das glänzende Urbild des deutschen Nationalgeistes«25 bezeichnet – festigt sich. Häufig findet sich dabei auch die Formel von der »Vorläuferschaft«26, besagend, 21 22 23 24
Riebe, Ueber Lessing’s »Nathan der Weise«. 1854, S. 3. Ebd. Ebd., S. 14. Ebd., S. 16. – Glauben und Liebe liegen nach Lessings Auffassung im Wesen des Menschen, unabhängig von jeder Offenbarung. Er fasst diese unter dem Begriff »natürliche Religion« zusammen und stellt sie den positiven Religionen entgegen. Religiosität, Gottergebenheit und tätige Menschenliebe seien vom Glaubensinhalt, dem Lehrbegriff, unabhängig. 25 Zitiert nach: Stahr, Adolf: G. E. Lessing. Sein Leben und seine Werke. Bd. 2. In: Ders.: Gesammelte Werke. II. Berlin: J. Guttentag 1873, S. 448. 26 Vgl. Bohnen, Lessing. 1982, S. 177f.
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dass der Dichter später seine Vollender, z. B. in Goethe und Schiller, gefunden habe. Gervinus hatte Lessing in seiner »Geschichte der deutschen Dichtung« (1835–1842) als »Vorklassiker« in das kanonische Trio der klassischen Zeit aufgenommen. Dem Zeitgeist entsprechend wollte Oberlehrer Constantin Bernhard Boxberger im ausgehenden Schuljahr 1878/79, dem Jahr des 150. Geburtstages Gotthold Ephraim Lessings, den Dichter in seiner Abhandlung »Einzelheiten über Voltaire bei Lessing« als »unseren Lessing« verstanden wissen.27 Ein expliziter Hinweis auf das Lessing-Jubiläumsjahr erfolgt nicht. In der Beilage zum Programm der Lehr- und Erziehungs-Anstalt für Knaben, Realschule II. Ordnung zu Friedrichstadt-Dresden, unternimmt der Verfasser gewissermaßen eine Rettung für Voltaire, der trotz häufig geäußerter Vorbehalte »nicht ganz ohne positiv fördernde Einwirkung auf den universellen Geist eines Lessing gewesen«28 sei. Als »Heroen der Aufklärung« seien sowohl Lessing als auch Voltaire »bemüht gewesen, die Arbeit ihres Jahrhunderts zu fördern, die Atmosphäre des menschlichen Denkens von Faulen Dünsten zu reinigen, die Macht des Vorurtheils und des Buchstabes zu brechen, an die Stelle eines verknöcherten Dogmatismus, hierarchischer Knechtung und fanatischen Starrsinns milde Duldung, Nächstenliebe und Achtung vor den unverbrüchlichen Rechten der Menschheit treten zu lassen«.29 Otto Schuchardt gibt in seiner Beilage zum Programm des Gymnasiums in Schleiz30 einen expliziten Hinweis auf das Lessingjahr 1879. Die Abhandlung, in der Lessing als Schöpfer eines nationalen Lustspiels beschworen wird, befasst sich folglich mit »Minna von Barnhelm«, wobei das Hauptaugenmerk der besonderen Stellung der Figur des Riccaut de la MarliniHre gilt. Schuchardt schreibt: »Mit demselben Rechte, mit dem man einzelne Statuen des Altertums, auch wenn dieselben mehr in das Gebiet des Genre gehören, zum Gegenstand eingehender Erörterung gemacht hat, wird man auch eine einzelne lebensvolle und charakteristische Gestalt aus einem Werke Lessings, des Schöpfers des deutschen Schauspiels, dessen hundertundfünfzigster Geburtstag in diesem Jahre gefeiert worden ist, ausführlicher behandeln können. Von dieser besonderen Betrachtung aus findet sich dann vielleicht ein Gesichtspunkt für die Beurteilung des ganzen Drama.«31 27 Boxberger, Const[antin] Bernh[ard]. Einzelheiten über Voltaire bei Lessing. In: Programm der Lehr- und Erziehungs-Anstalt für Knaben, Realschule II. Ordnung zu FriedrichstadtDresden. Dresden: Rammingsche Buchdruckerei 1879, S. 3. 28 Ebd., S. 32. 29 Ebd., S. 4. 30 Schuchardt, Otto: Riccaut de la MarliniHre, ein Beitrag zur Erklärung von Lessings »Minna von Barnhelm«. In: Gymnasium zu Schleiz. Jahresbericht über das Schuljahr von Ostern 1878 – Ostern 1879. Schleiz: Druck von R. Rosenthal 1879, S. 5–13. 31 Ebd., S. 5.
Ausgewählte Schulschriften in Lessing-Jubiläumsjahren
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1781, im Jahr der Feier des 100. Todestages Gotthold Ephraim Lessings, sind zehn Abhandlungen zu verzeichnen, die in Auswahl umrissen werden sollen. Julius Rohleder, Lehrer am Gymnasium zu Stargard/Pommern, benennt in seiner Abhandlung »G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lektüre für Prima«32 die folgende pädagogische Aufgabe: »Wenn ich nun, gestützt auf die practischen Erfahrungen und Anregungen eines mehrjährigen deutschen Unterrichts in der Unter-Prima des hiesigen Gymnasiums unternehme, den Gang und die Methode einer […] Lectüre der Emilia Galotti Lessing’s in der Prima anschaulich zu machen, so hoffe ich dadurch nicht nur meinen Schülern einen nützlichen Anhalt und eine Ergänzung zu dem mit ihnen über Lessing durchgesprochenen zu bieten, sondern auch in weiteren Kreisen dem deutschen Unterrichte zu nützen und zugleich zur Ehre eines Mannes, an dessen hervorragende Verdienste um deutsche Bildung und Cultur unser Volk bei Gelegenheit der hundertjährigen Wiederkehr seines Sterbetages vor wenigen Wochen sich dankbar erinnert hat, nach meinen Kräften beizutragen.«33
Rohleder überlässt es der »nachsichtigen Beurteilung« seiner Fachgenossen, zu entscheiden, »ob die in dieser Abhandlung für die Erklärung einer klassischen Dichtung im deutschen Unterricht ins Auge gefassten Ziele dem Verständnis einer reiferen Jugend angemessen bestimmt und ob zur Erreichung dieses Zieles die richtige Methode in richtiger Beschränkung der Mittel gewählt ist.«34 Die Schulnachrichten des Stargarder Gymnasiums verweisen ausdrücklich auf eine Dichterehrung der Anstalt aus Anlass des hundertjährigen Todestages Lessings am 15. Februar 1781, bei der insbesondere die oberen Klassen »auf die tiefeingreifende Bedeutung des um die deutsche Litteratur hochverdienten Mannes hingewiesen«35 wurden. Der dem Programm des Braunschweiger Gymnasiums Martino-Catharineum beigegebene Aufsatz Wilhelm Schüttes zum Thema »Friedrich der Große und Lessing«36 beruht auf einer Festrede, die zwei Jahre zuvor, aus Anlass des 150. Geburtstages Lessings, in Braunschweig gehalten wurde. Der Verfasser beschwört die bekannten Bilder Lessings als Vorkämpfer der Humanität, als Dichter des nationalen Lustspiels und als Verfasser des »Evangeliums der Liebe und Duldung«. Er beleuchtet die Leistungen und das Verhältnis der beiden bedeutenden 32 Rohleder, Julius: G. E. Lessing’s Emilia Galotti als Lektüre für Prima. In: Programm des Königlichen und Gröning’schen Gymnasiums zu Stargard in Pommern. Stargard: F. Hendess 1881. 33 Ebd., S. 1. 34 Ebd., S. 25. 35 Programm Stargard. 1881. Schulnachrichten, S. 18. 36 Schütte, W[ilhelm]: Friedrich der Große und Lessing. In: Programm des Gymnasiums Martino-Catharineum zu Braunschweig. Braunschweig: Joh. Heinr. Meyer 1881.
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Männer des 18. Jahrhunderts und konstatiert eine geistige Verwandtschaft. Lessing schätzte die Leistungen Friedrichs wohl, auch der literarischen Tätigkeit des Königs widmete er seine Aufmerksamkeit, indem er einige der kleinen satirischen Aufsätze, in denen Friedrich die unerquicklichen Zustände der ihm feindlich gesinnten Höfe geißelte, aus dem Französischen ins Deutsche übertrug. Wenn auch zu beklagen bleibt, dass Friedrich II. den Dichter Lessing verkannte, lautet das mit einem Schiller-Zitat belegte Fazit des Gymnasiallehrers, Lessings Leistung sei nicht durch Fürstengunst, sondern aus eigener Kraft errungen. Eine Lehrprobe aus dem deutschen Unterricht in der Prima, speziell zu den ersten beiden Kapiteln von Lessings »Laokoon«, ist dem Jahresbericht des Friedrich-Wilhelms-Gymnasiums in Köln als Anhang beigegeben. Warum gerade dieses Werk geeignet ist, begründet der Verfasser, Oberlehrer Carl Breuker, wie folgt: Es »möchte nicht leicht ein Werk geben, aus welchem sich für die aufstrebende Jugend fruchtbarere Belehrung und größerer Reichtum an den mannigfaltigsten und doch in sich zusammenhängenden Kenntnissen gewinnen ließe«.37
Die Kompositionsweise des Buches, und darin liege die eigentliche Bedeutung für den Primaner, gewähre »Gelegenheit zu geistiger Gymnastik und ethischer Schulung der edelsten und fruchtbarsten Art« und stärke den Wahrheitssinn. Sich auf das gern zitierte Lessing-Wort im XI. Literaturbrief berufend, wendet sich Breuker sodann an seine Fachkollegen: »Der größte Fehler, den man bei der Erziehung zu begehen pflegt, ist dieser, dass man die Jugend nicht zum eigenen Nachdenken gewöhnt.«38
Diese Anregung, die Ermunterung zu freier Tätigkeit, sei zugleich Anleitung zum späteren wissenschaftlichen Arbeiten. Problematisch ist die Vereinnahmung Lessings in Breukers Ausblick in die Gegenwart mit dem Verweis auf die Kampfhandlungen im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 (»unsres Volkes letzte große Heldenzeit«39) und dem Verhalten des deutschen Mannes körperlichem Schmerz gegenüber. Abschließend sei auf den von Emil Grosse verfassten Jahresbericht 1880/82 über das städtische Gymnasium zu Memel in Ostpreußen hingewiesen.40 Dieses 37 Breuker, C[arl]: II. Lehrprobe aus dem deutschen Unterricht in I. Die ersten beiden Kapitel in Lessings Laokoon. In: Jahresbericht des Königlichen Friedrich-Wilhelms-Gymnasiums u. Realschule I. O. in Köln. Köln: Joh. Alex. Brocker, 1881, S. 3–12, hier S. 3. 38 Vgl. Lessing: Briefe, die neueste Literatur betreffend. Eilfter Brief. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1758–1759. Hrsg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1997, S. 479. 39 Breuker, Lehrprobe. 1881, S. 9. 40 XXI. Jahresbericht 1880/82 über das städtische Gymnasium zu Memel [heute Klaipeda/
Ausgewählte Schulschriften in Lessing-Jubiläumsjahren
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Schulprogramm, das keine wissenschaftliche Beilage enthält, umfasst auf Grund einer Bestimmung des Unterrichtsministers zur Verlegung des Schuljahresbeginns von Michaelis auf Ostern einen etwas längeren Zeitraum. Dem Dichter Lessing wurde am Gymnasium zu Memel besondere Aufmerksamkeit zuteil. Neben der Behandlung der »Hamburgischen Dramaturgie«, der »Emilia Galotti« und des »Laokoon« fand sogar die von Lessing und Mendelssohn 1755 gemeinsam verfasste Preisschrift »Pope ein Metaphysiker« Eingang in den Unterricht der Prima. Lessings Briefwechsel mit Nicolai und Mendelssohn über das Drama zählte zur Privatlektüre der Obersekunda, in Untersekunda wurde »Minna von Barnhelm« ausgiebig behandelt. Schüler wie Lehrer einer höheren Schule besaßen ein zu verschiedenen Anlässen erprobtes rituelles Wissen über die »Gestaltung« einer (Dichter)Gedenkfeier mit allen erforderlichen Arrangements. Durch Feste erfolgte auch eine entscheidende Prägung und Festlegung auf kulturelle Werte und Inhalte. In Abschnitt III seines Berichts »Zur Geschichte des Gymnasiums« beschreibt Rektor Grosse ausführlich einen feierlichen Akt inszenierter Erinnerung aus Anlass von Lessings hundertjährigem Todestag am 15. Februar 1781.41 Einem Lobgesang schlossen sich folgende, von den Schülern der Anstalt vorgetragene Programmpunkte an: 1. Aus einem Gedicht von Victor Blüthgen, Zum 150. Geburtstage Lessings 2. Heusinger, Wenn Du mir alle Weisheit, ewiger Gott 3. Aus einem Prolog zum »Nathan« von Gustav Schwab 4. Die Dichtkunst von Friedrich Schlegel 5. Aus Lessings Abhandlung »Wie die Alten den Tod gebildet« 6. Der Tod, ein Gespräch an Lessings Grabe von Herder 7. »Emilia Galotti« I; 2 und I; 4 8. »Minna von Barnhelm« III; 7 9. Epigramm auf Lessing von Herder, Epigramme von Lessing 10. An Gleim von Georg Jacobi (1781) 11. Fabeln von Lessing 12. Prolog bei Lessings Toten-Feier am 24. Februar 1781 auf der Döbbelinschen Bühne in Berlin von Johann Jakob Engel 13. Zwei Xenien auf Lessing von Grillparzer und Schiller. Dank an Lessing von Hoffmann von Fallersleben42
Litauen] durch welchen zu der am 30. und 31. März 1882 stattfindenden Schulfeier und öffentlichen Prüfung aller Klassen im Namen des Lehrer-Kollegiums ergebenst einladet Prof. Dr. Emil Grosse, Direktor. Memel: F. W. Siebert 1882. 41 Grosse, Jahresbericht Memel.1882, S. 9f. 42 Ebd., S. 9.
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Die zugehörige Festrede des Direktors würdigte das Braunschweiger LessingDenkmal von Ernst Rietschel, die nach Einschätzung des Literaturhistorikers Hermann Hettner »gewaltigste Monumentalstatue, welche die gesamte neuere Kunst geschaffen hat«.43 Ein Dichterdenkmal, mit dem das deutsche Volk Lessing huldigt, mit dem es zeigt, so Abraham Geiger, »daß es dazu berufen ist, unverdrossen in die Schachten des Gedankens einzufahren, die Wahrheit herauszufördern; es will sich nicht daran genügen lassen, Erbe zu sein, es will das Gut selbst mehren«.44 Lessings Werken weist Emil Grosse Leitbildcharakter zu. Sie sollten einen ebensolchen »moralischen Ruck« bewirken, wie ihn das von Memel weit entfernte Standbild vermittle, »so gerade, so fest, so einfach, so jeder Zoll ein Mann, der sich nicht am Barte zupfen läßt«.45 Verstärkt wurde die Ehrung Lessings in Memel durch die Übergabe eines »typographischen Denkmals«46 an den Direktor der Gymnasialbibliothek. Es handelte sich um ein Exemplar der von Carl Robert Lessing (1827–1911), dem Großneffen des Dichters, besorgten und nicht für den Buchhandel vorgesehenen »Nathan«-Prachtausgabe.47 Diese Schenkung sollte wie folgt bewahrt werden: »Hüten wir […] wie dieses Buch in unserer Bibliothek, so die Weisheit seines Inhalts in unseren Herzen, dass wir unseren festen Glauben nicht auf den Lippen haben, sondern in der Liebe üben und bethätigen sollen; hüten wir einen Schatz unseres Volkes, indem wir in Lessings Geiste eifrig sind, die Jugend zu erziehen.«48
Die Schüler der Anstalt erhielten im weiteren Verlauf des Festaktes eine durch den Direktor initiierte Festgabe, bestehend aus dem Nekrolog Herders sowie dessen »Funken aus der Asche eines Toten«. Diese »literarischen Denkmale« hatte die Verlagsbuchhandlung Gustav Hempel in Berlin für die Schüler des Memelner Gymnasiums zu einem Band in 60 bis 70 Exemplaren vereinigt. Als Andenken an die Säkularfeier und mit der folgenden Botschaft Emil Grosses versehen, die Lessing einen festen Platz zuweist:
43 Hettner, Hermann: Kleine Schriften. Braunschweig: Vieweg 1884, S. 20–53, hier S. 38f. 44 Geiger, Abraham: Zum Lessing-Denkmal. Ein Aufruf, namentlich an die Juden. In: Bohnen, Lessing. 1982, S. 13. 45 Grosse, Jahresbericht Memel.1882, S. 10. 46 Vgl. dazu auch den Aufsatz von Paul Raabe: Dichterverherrlichung im 19. Jahrhundert. In: Rasch, Wolfdietrich (Hg.): Bildende Kunst und Literatur. Beiträge zum Problem ihrer Wechselbeziehungen im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: Klostermann 1970, S. 79–97. 47 Eine auf Büttenpapier gedruckte Ausgabe mit dem Namenszug R. L. ([Carl] Robert Lessing) als Wasserzeichen. Der Charakter der Lettern entsprach dem der für die erste Ausgabe des »Nathan« 1779 gebrauchten, der Einbandschmuck wurde vom Bildhauer Otto Lessing, dem Sohn des Malers Carl Friedrich Lessing entworfen. 48 Grosse, Jahresbericht Memel.1882, S. 10.
Ausgewählte Schulschriften in Lessing-Jubiläumsjahren
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»Möge meine Absicht auf guten Boden bei meinen lieben Schülern fallen; mögen meine Wünsche sich an ihnen erfüllen, denen ich mit Herder zurufe: ›Heil dem Jünglinge, der sich Lessings Schriften zum Kanon seines Geschmackes wählt und zugleich durch Lessing frühe lernt, was er zu thun und zu vermeiden hat!‹«49
Oskar Hohenbergs wissenschaftliche Abhandlung im Jahresbericht der Königlichen Realschule zu Berlin50 thematisiert im Jahr der Säkularfeier von Lessings »Nathan der Weise« die Lehrgedichte des Aufklärers. Lessing wird hier wiederum eine exponierte Stellung zuerkannt. Hohenberg spricht von einer »gigantischen Persönlichkeit«, einem Mann, »der seine Zeitgenossen sämtlich um mehr als eines Hauptes Länge überragte«.51 Antal Herrmanns »Lessings ›Nathan‹ in Ungarn«52, eine dem Autor eines »Nathan«-Romans53 gewidmete Abhandlung in der Programmschrift des Staatlichen Obergymnasiums Feh8rtemplom,54 ist dem dringenden Gebot einer würdigen Ehrung Lessings geschuldet. Der Verfasser beklagt die sporadische Aufmerksamkeit in Ungarn im Jahre 1881, 100 Jahre nach Erscheinen von »Nathan der Weise«. »Nathan der Weise« sei ein wirkungsvolles Mittel in der Pädagogik. Zwar gebe es Stimmen, die das Stück nicht befürworteten, weil es Anlass zu religiösen Diskussionen geben könnte, aber Herrmann hält es »für unwahrscheinlich, dass »Nathan der Weise« jemals, unter welchen Umständen auch immer, andere als heilsame Wirkungen haben könnte«.55 In Ungarn sei das Stück insbesondere in protestantischen Schulen gelesen worden. Als beispielhaft führt Herrmann die unitarische Hochschule in Klausenburg und die staatliche Realschule im zweiten Bezirk von Budapest an, in denen »Nathan der Weise« im Schuljahr 1880/81 als frei zu wählender Lesestoff besprochen wurde und aus Anlass von Lessings Todestag in Klasse 8 eine Hausarbeit mit dem Titel »Zur Gedenkfeier Lessings« zu verfassen war. Der Verfasser beschließt seine Ausführungen mit dem Aufruf, das LessingStück in den ungarischen Schulen mehr zu lesen und zu besprechen. Er empfiehlt des Weiteren die Erstellung einer Schulausgabe und plädiert für die 49 Ebd. 50 Hohenberg, Oskar : Über Lessings Lehrgedichte. In: Jahresbericht der Königl. Realschule zu Berlin zu der Vorfeier des Geburtstages Sr. Majestät des Kaisers u. Königs Wilhelm am 21. März 1883. Berlin: Hayns Erben, 1883. S. 3–23. 51 Ebd., S. 3. 52 Hermann, Antal: Lessing »Nathan«-ja Magyarosz#gon. Feh8rtemplom: Wunder Gyula Könyvnyomd#jabol 1883. In: Gansel/Siwczyk, »Nathan der Weise« im Kulturraum Schule. 2009, S. 253–268. 53 Ormjs [von Csicser], Zsigmond: V8res bosszffl. Reg8ny (Blutige Rache. Roman). Temesvar: Beichel 1841. 54 Weißkirchen. 55 Gansel/Siwczyk, »Nathan der Weise« im Kulturraum Schule. 2009, S. 268.
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Verbreitung der Ideen des »Nathan« vom Mysterium der Religion der Zukunft.56
Zusammenfassung Der Dichter Lessing und sein Werk, so kann abschließend festgestellt werden, sind in den Jubiläumsjahren durch die Schulen wohl differenziert und vielschichtig wahrgenommen worden. Die für die Lessing-Rezeption maßgeblichen Typisierungen und archivierten Tugenden wie ›Lessing als Mensch und Charakter‹, der ›männliche Lessing‹, das seit Herders Nachruf konsequent stilisierte Bild des ›edlen Wahrheitssuchers‹, das des ›Kämpfers‹, Lessing als ›Begründer der deutschen Nationalliteratur‹ aber auch das vom ›unpoetischen Dichter‹, werden jeweils erneut beschworen und verstärkt. Das Bild Lessings hat sich, so die einhellige Meinung (z. B. Klaus Bohnen, Hugh Barr Nisbet) einigermaßen fest umrissen erhalten, geradezu typisiert, wobei sich Jubiläen zur Festigung von Lessing-Bildern als besonders geeignet erwiesen. Anerkennende Bewunderung ist Lessing im betrachteten Zeitraum immer zuteil geworden. In den letzten Zeilen des anlässlich des 15. Februar 1881 von Felix Dahn verfassten Gedichts »Zur Lessingfeier« heißt es: Held Lessing war der Ritter werth! So deutsch sein Schwung, so deutsch sein Schwert, Sein Helm vom Sieg gekrönt! Gepriesen sei er alle Zeit, Gerühmt so lang, gerühmt so weit Die deutsche Sprache tönt!
Verkannt wurde der Dichter zu keiner Zeit, auch wenn es immer wieder kritische Meinungen gab. Insbesondere in den Jahren nach der Reichsgründung sind auch nationale Anklänge zu verzeichnen, eine Umdeutung erfolgte jedoch nicht.
56 Ebd.
Senta Stiller
Die Kanonautoren Lessing, Goethe und Schiller im Deutschunterricht – untersucht an Schulprogrammschriften von deutschen Mädchenschulen im 19. und frühen 20. Jahrhundert1
Einleitung Im Bereich der Forschung zur Geschichte des Deutschunterrichts oder deutscher Kanonautoren wurden bisher meist ausschließlich Lehrpläne und amtliche Bestimmungen als Quellen hinzugezogen. Um die Schulwirklichkeit darzustellen und zu untersuchen, ist jedoch ein anderes Medium viel aussagekräftiger, dem in Zukunft mit Sicherheit eine zunehmend wichtigere Rolle in diesem Forschungsbereich zukommen wird.2 Gemeint sind die Schulprogrammschriften bzw. Jahresberichte der höheren Schulen und später auch des mittleren Schulwesens, die ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als schulische Publikationsform zum einen für die Öffentlichkeit, zum anderen für innerschulische Belange immer bedeutsamer wurden. Die nachfolgend aufgeführten Ergebnisse meiner Arbeit beruhen auf der Auswertung solcher Jahresberichte und zeigen das Vorkommen der Kanonautoren Lessing, Goethe und Schiller im Deutschunterricht deutschsprachiger höherer Mädchenschulen (hauptsächlich des Staates Preußen) im 19. und frühen 20. Jahrhundert.3 Ziel der Schulprogrammsichtungen war es somit herauszufinden, wie häufig diese Kanonautoren im Deutschunterricht der höheren Mädchenschulen gelesen, welche Werke behandelt wurden und welchem der drei Autoren der größte Stellenwert im Deutschunterricht zukam. Untersuchungsgegenstand waren ausschließlich die Mädchenschulen und höheren Töchterschulen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, da es im Bereich der Mädchenschulforschung bisher noch wenig weiterführende Untersuchungen gibt. 1 Dies ist der Titel meiner Examensarbeit von 2007. Dieser Beitrag stellt die Inhalte dieser Arbeit zusammengefasst dar und gibt einen Einblick in einen Teil der Gesamtauswertung der Schulprogrammschriftensichtung. 2 Vgl. Gansel, Carsten: G. E. Lessing im ›kulturellen Gedächtnis‹ und im Kanon zwischen 1800 und 1900. In: Literatur und Geschichte. Festschrift für Erwin Leibfried. Hrsg. von Sascha Feuchert u. a. Frankfurt a. M.: Lang 2007, S. 305–324. 3 Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von 1843 bis 1929.
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Senta Stiller
Hermann Korte hebt diesbezüglich hervor, dass »[e]ine Untersuchung des Lektürekanons der Mädchenschulen und der höheren Töchterschulen im 19. Jahrhundert […] ein Desiderat der Forschung«4 sei. Um ein der damaligen Schulwirklichkeit entsprechendes Ergebnis zu erzielen, habe ich daher mit Hilfe der umfangreichen und gut katalogisierten Gießener Sammlung von Schulprogrammschriften (50.000 Exemplare) 238 dieser Schriften von insgesamt 20 deutschen Mädchenschulen und höheren Töchterschulen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gesichtet und ausgewertet. Der größte Teil dieser untersuchten Mädchenschulen befand sich in Preußen. Meine Auswertungen fassen zusammen, in welchem Schuljahr und in welcher Jahrgangsstufe jeweils Werke von Lessing, Goethe und Schiller thematisiert wurden, mit Hilfe welcher Deutschbücher gearbeitet wurde und welche Aufsatz- und Klassenarbeitsthemen zu den Werken in den Schriften aufgeführt sind. Die hier aufgeführten Ergebnisse sind lediglich Auszüge aus dieser Arbeit.
1.
Kurzer Abriss zur Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung
1.1
Die Anfänge und Grundlagen der weiblichen Sozialisation im Mittelalter
Im frühen Mittelalter existierten viele unterschiedliche Wege der Mädchen- und Frauenbildung, daher ist es schwierig, etwas allgemein Gültiges über die Anfänge der weiblichen Bildungsgeschichte zu sagen. Auf der einen Seite gab es viele Mädchen, die keinerlei schulische oder klösterliche Ausbildung erfuhren, andererseits boten Klöster und weitere kirchliche Schulen bereits früh einen Ort der Elementarbildung für das weibliche Geschlecht. Im hohen und späten Mittelalter sind die Frauenklöster der erste Ort weiblicher Erziehung und Bildung, da diese ihren Novizinnen zumindest eine Grundausbildung im Lesen boten. Klösterliche Bildung und Erziehung waren jedoch nicht auf den Erwerb intellektueller Fertigkeiten oder von Wissen ausgerichtet, sondern sollten der Ausformung der Persönlichkeit dienen und die Novizinnen zu Demut, Gehorsam und Keuschheit erziehen. Neben den Klosterschulen gab es noch Dom-, Bischofs- oder Pfarrschulen, die zunächst ab dem 12. Jahrhundert im Kaufmannsmilieu auf großes Interesse stießen. So konnten die schriftlichen Aufgaben des kaufmännischen Berufes in Zukunft von der solche Schulen besuchenden Generation selbstständig ausge4 Korte, Hermann/Zimmer, Ilonka/Jakob, Hans J. (Hrsg.): »Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten.« Kanoninstanz Schule. Eine Quellenauswahl zum deutschen Lektürekanon in Schulprogrammen des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2005, S. 9.
Die Kanonautoren Lessing, Goethe und Schiller im Deutschunterricht
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führt und mussten nicht länger an Geistliche abgetreten werden, die zu diesem Zwecke extra eingestellt wurden. Der erste schriftliche Hinweis, dass auch Mädchen diese Schulen besuchten, stammt vom Anfang des 15. Jahrhunderts. Das gesamte Schulwesen wurde zu dieser Zeit ausschließlich kirchlich geführt. Die Schülerzahl stieg in den Kirchenschulen jedoch so rasant an, dass das Verlangen nach städtischen Schulen immer größer wurde und so die meisten Städte zu Beginn des 15. Jahrhunderts über eigene Schulen verfügten.5 Die Vermittlung lateinischer Grundkenntnisse sowie die religiöse und sittliche Unterweisung bildeten jedoch weiterhin den Schwerpunkt dieser schulischen Bildung.
1.2
Zur weiteren Entwicklung der Mädchenbildung von der frühen Neuzeit bis zur Spätaufklärung und den Umbrüchen um 1800
Die moralische und religiöse Erziehung der Frau spielt bei den Frauenbildungskonzepten im Renaissance-Humanismus noch immer die größte Rolle. Die evangelischen und katholischen Elementarschulen für Mädchen des 16. und 17. Jahrhunderts verfolgten ein gemeinsames Ziel: Die Erziehung der Mädchen zu »guten Christinnen«, um dem von der Zeit geforderten Rollenverständnis einer Frau gerecht zu werden. Gelehrt wurde daher nicht unmittelbar der Bildung wegen, sondern um die Mädchen auf ihre Rolle als Ehefrau, Mutter und Hausfrau vorzubereiten. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde die Frauenbildung stark diskutiert, doch die Entwicklung derselben stagnierte, eine Bildungsreform blieb zunächst aus. Die Bildungschancen für das weibliche Geschlecht waren gering, da der notdürftige Unterricht die elementaren Einweisungen in Techniken des Lesens, Schreibens und Rechnens meist nicht überschritt. Das Interesse an einer Reform des Mädchenschulwesens zeichnete sich stärker erst an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ab. In diesem Zeitraum lassen sich zahlreiche Mädchenschulgründungen verzeichnen.6 Je nach Stand und zukünftiger Rolle im späteren Leben der Mädchen wurden unterschiedliche Bildungs- und Erziehungsziele verfolgt: Für die mittleren Stände bedeutete dies die bereits genannte Vorbereitung auf den Haushalt sowie auf die Rollen der Mutter und Ehefrau. Für die 5 Vgl. Wriedt, Klaus: Schulen und bürgerliches Bildungswesen in Norddeutschland im Spätmittelalter. In: Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Bernd Moeller u. a. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1983, S. 499–523. 6 Vgl. hierzu Schmale, Wolfgang: Die Schule in Deutschland im 18. und frühen 19. Jh. Konjunkturen, Horizonte, Mentalitäten, Probleme, Ergebnisse, in: Ders./Dodde, Nan L. (Hrsg.): Revolution des Wissens? Europa und seine Schulen im Zeitalter der Aufklärung (1750–1825). Ein Handbuch zur europäischen Schulgeschichte, Bochum: Winkler 1991, S. 627–767, hier : S. 59ff.
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niederen Stände erfüllte der Unterricht die Funktion der Vorbereitung zur Erwerbsarbeit. Da die Mädchenschulen zu dieser Zeit jedoch keinerlei staatlicher Bestimmung unterlagen, lässt sich abschließend sagen: Das Mädchenschulwesen war um 1800 so heterogen, dass man hier noch nicht von einem Einheitssystem sprechen konnte.
1.3
Das Mädchenschulwesen in seiner Entwicklung vom 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert
1.3.1 Mädchenbildung im Volksschulwesen Gesetzliche Bestimmungen zur Schulpflicht wurden für ganz Preußen durch das Generallandschulreglement (Grundlage für die Entwicklung des preußischen Volksschulwesens) Friedrichs des Großen vom 12. August 1763 eingeführt. Die allgemeine Schulpflicht konnte aber erst zur Zeit der Reichsgründung von 1871 als faktisch durchgesetzt gelten. Die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert stellt demnach auch einen Wendepunkt im Bildungswesen dar, der durch die allmähliche Durchsetzung der Unterrichtspflicht bedingt war. Die Pflicht galt sowohl für Jungen als auch für Mädchen und zur Erfüllung dieser musste eine Volks- oder Elementarschule besucht werden. Diese ›niederen‹ Schulen vermittelten nur elementare Kenntnisse, wohingegen an höheren Schulen ein wissenschaftlicher Unterricht vorherrschte. Mädchen und Jungen wurden, trotz aufkommender Forderung der Geschlechtertrennung, an den Volksschulen gemeinsam unterrichtet. Mädchen hatten jedoch einige spezifischen Fächer wie u. a. Handarbeits- und Hauswirtschaftsunterricht, Säuglingspflege oder Mädchenturnen zu absolvieren. Einige Frauenverbände forderten zu dieser Zeit eine Verbesserung der Mädchenbildung. Der »Verein Katholischer Deutscher Lehrerinnen« und dessen stellvertretende Vorsitzende Elise Stoffels7 sprachen sich am deutlichsten für ein eigenständiges Mädchenvolksschulwesen aus.
1.3.2 Die Entwicklung des institutionalisierten Mädchenschulwesens Die Anfänge einer institutionalisierten eigenständigen Mädchenerziehung zeichneten sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ab. Das Interesse an einer Reform des Mädchenschulwesens wurde an den zahlreichen Mädchen7 Elise Stoffels (* 30.10.1872), gelernte Lehrerin, Abgeordnete im Preußischen Landtag, Vorsitzende des Volksschulausschusses, zweite Vorsitzende des »Vereins Katholischer Deutscher Lehrerinnen«.
Die Kanonautoren Lessing, Goethe und Schiller im Deutschunterricht
79
schulgründungen in diesem Zeitraum sichtbar.8 Die Frage nach öffentlichen Einrichtungen kam auf. In Preußen entstanden relativ früh öffentliche Töchterschulen. Die meisten Schulen dieser Zeit waren jedoch private Einrichtungen, die keinerlei einheitlichen Konventionen unterlagen, sondern sich lediglich an den Lehrplan der Elementarschulen zu halten hatten. Der Staat konnte hier keinen Einfluss geltend machen, sodass diese Schulen ihren Unterricht an den Wünschen der Schulbesucher ausrichteten, die hauptsächlich aus dem Adel, dem Besitz- und Bildungsbürgertum stammten. Auch wenn sich die meisten dieser Schulen »höhere Töchterschulen« nannten, gehörten sie nach dem Schulrecht zum niederen Schulwesen.9 Die Entstehung und Entwicklung des höheren Mädchenschulwesens darf nicht mit der höherer Knabenschulen dieser Zeit in Verbindung gebracht werden. Die ersten »höheren Töchterschulen« waren im Vergleich zu den Jungenschulen genau genommen keine höheren Schulen für Töchter, sondern eher Schulen für höhere Töchter.10 Somit konnten diese Schulen ihren Schülerinnen vorerst keine Berechtigung zum Eintritt in staatliche Berufslaufbahnen oder zum Hochschulstudium bieten. Die Bezeichnung »höhere Mädchen- oder Töchterschule« bezog sich zu dieser Zeit demnach nicht auf einen zu erreichenden höheren Abschluss oder höheres Bildungsniveau, sondern auf den »höheren Stand« der Besucherinnen dieser Schulen. Die Schulen unterschieden sich im 19. Jahrhundert im Aufbau sowie im vermittelten Stoff stark. Eine selbstständige Angleichung erfolgte jedoch noch im Verlauf dieses Jahrhunderts. Es kam allerdings erst 1894 eine einheitliche gesetzliche Regelung über Lehrpläne und Gründungsvoraussetzungen der höheren Töchterschulen heraus.11 Eine Gemeinsamkeit der Schulen war deren Schwerpunktsetzung auf eine Sozialisation in den Bahnen vorgegebener Vorstellungen von Weiblichkeit statt auf Wissensvermittlung oder Berufsvorbereitung. Genau das wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Problem, da aufgrund des Wandels der Erwerbsstrukturen eine an die Gesellschaftssituation angepasste Mädchenbildung nötig wurde. 40 % der Frauen waren zu dieser Zeit unverheiratet, verwitwet oder geschieden, verfügten ohne Ehemann folglich über keine finanziellen Mittel.12 8 Vgl. hierzu Schmale, Schule in Deutschland. 1991, S. 59ff. 9 Vgl. Kleinau, Elke/Opiz, Claudia (Hrsg.): Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung. Frankfurt a. M.: Campus Verlag 1996, S. 394. 10 Vgl. Apel, H.-J.: Bildung der Mädchen. Bürgerliche Bildungsbestrebungen in Jülich zwischen 1830 und 1870, Jülich 1985, S. 45–47. 11 »Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens« von 1894. 12 Vgl. Pfister, Gertrud (Hrsg.): Zurück zur Mädchenschule? Beitrag zur Koedukation. Pfaffenweiler : Centaurus-Verlagsgesellschaft 1988, S. 21.
80
Senta Stiller
Ein Umdenken in der Schulbildung für Frauen war unumgänglich. Das Abitur zu erwerben wurde Frauen jedoch erstmalig 1889 durch die Realkurse in Berlin möglich und ab 1908 bestand die Möglichkeit zur Immatrikulation an allen Universitäten in deutschen Ländern. Die Veränderungen für die Zulassung zu den Hochschulen gegen Ende des 18. Jahrhunderts beeinflusste die Entwicklung des Mädchenschulwesens nicht unwesentlich. Von nun an sollte eine Schulabschlussprüfung (Abitur) statt des bisherigen selektiven Hochschuleingangsverfahrens zum Erlangen einer Hochschulzulassung führen.13 Dies hatte zur Folge, dass neue Regelungen von staatlicher Seite entwickelt werden mussten, die definierten, wie eine zur Ausgabe einer Hochschulzulassung berechtigte Schule gestaltet sein sollte. Die Schulen, die eine amtliche Anerkennung erlangten, wurden zu maßgeblichen Vorreitern für die Entwicklung aller anderen Schulen, auch für die Entwicklung des Mädchenschulwesens. Um die Anerkennung als höhere Lehranstalt zu erlangen, musste der Unterricht der wissenschaftlichen Fächer von akademisch gebildeten Lehrkräften erteilt und folglich auch deren angemessene Bezahlung sichergestellt werden.14 Somit war der Entwicklungsprozess der Schulen eng mit Fragen der Ausbildung von Lehrerinnen verbunden. Hierzu muss man zunächst sagen, dass aus dem Bürgertum stammenden Frauen zu dieser Zeit kaum andere standesgemäße Berufsperspektiven offen standen als der Beruf der Lehrerin an einer Mädchenschule. Die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammen mit den höheren Mädchenschulen entstandenen Klassen zur Ausbildung von Lehrerinnen, sog. ›Lehrerinnenseminare‹, waren eng mit diesen Mädchenschulen verbunden. Die Ausbildungspolitik verfolgte nun das Ziel, den Bildungsweg von Lehrern und Lehrerinnen und somit das gesamte Unterrichtsniveau im niederen Schulwesen zu professionalisieren sowie die Heterogenität der meisten Schulen »Schritt für Schritt zu strukturieren und systematisch auszugestalten«.15 Als Ergebnis dieser Bestrebungen gewann neben dem Lehrerinnenberuf auch das Mädchenschulwesen langsam Konturen. Ein weiterer Grund, der eine Reformierung des Mädchenschulwesens unumgänglich machte, war das Fehlen gesetzlicher Regelungen, Richtlinien und Lehrpläne, welche das Schulsystem organisiert hätten. Mädchenschulen hinkten der rasanten Entwicklung der staatlichen und städtischen Schulen, die sich mehr und mehr als eigenständiger Schultyp herausbildeten, hinterher, sodass sie auf 13 Vgl. Zymek, Bern/Neghabian, Gabriele: Sozialgeschichte und Statistik des Mädchenschulwesens in den deutschen Staaten 1800–1945. Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte Bd. 2: Höhere und mittlere Schulen. 3. Teil. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, S. 27f. 14 Vgl. ebd., S. 28. 15 Vgl. ebd., S. 30.
Die Kanonautoren Lessing, Goethe und Schiller im Deutschunterricht
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das Strukturprinzip und das soziale Ansehen von Volksschulen absanken. Es ließ sich im gesamten 19. Jahrhundert keine einheitliche Form für die deutsche höhere Mädchenschule konzipieren. Das Problem der Heterogenität wiesen sowohl die zahlreichen privaten höheren Töchterschulen als auch die mehr und mehr entstehenden öffentlich-städtischen Mädcheneinrichtungen auf, da diese fast ausschließlich ohne staatliche Unterstützung und Reglementierung existierten.
1.3.3 Reformierung des höheren Mädchenschulwesens Doch auch im höheren Mädchenschulwesen setzten sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts letztlich Reformbestrebungen durch. Neben den bereits im vorigen Kapitel aufgeführten katalysatorisch auf die Entwicklung des Mädchenschulwesens wirkenden Faktoren, wie zum Beispiel die Veränderungen in der Lehrerinnenausbildung oder das geänderte Hochschulzulassungsverfahren, gab es noch weitere Aspekte, die Reformen forcierten. Durch den Strukturwandel im Knabenschulwesen bedingt, war ein Zusammenschluss von Knabenund Mädchenschulen, wie noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts häufig aufzufinden, nicht mehr möglich. Dies hatte zur Folge, dass die Mädchenschulen, wie bereits erwähnt, ins niedere Schulwesen abgedrängt wurden. Die Aufwertung des Knabenschulwesens ließ die Missstände im höheren Mädchenschulwesen so immer deutlicher werden. Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung, Mädchenschulpädagogen sowie die Lehrer höherer Mädchenschulen, die sich im »Verein für das höhere Mädchenschulwesen«16 organisierten, versuchten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Reform in Gang zu setzen. Die bürgerliche Frauenbewegung hatte sich ebenfalls in einem Verein organisiert, der sich »Allgemeiner Deutscher Lehrerinnenverein«17 nannte. Dieser forderte allerdings eine gleichwertige höhere Mädchenbildung, d. h. gleichartige Schulen für Mädchen und Jungen. Im Jahr 1886 wurde der »Normal-Lehrplan für höhere Mädchenschulen«18 in Preußen durchgesetzt, um einen Schritt näher an eine Vereinheitlichung des Mädchenschulsystems zu gelangen. Der folgende Normallehrplan für die höheren Mädchenschulen zu Berlin von 1886 war identisch mit dem preußischen Lehrplan: 16 Der Verein wurde 1873 unter dem Namen »Deutscher Verein von Dirigenten und Lehrenden höherer Mädchenschulen« gegründet und nannte sich 1876 in »Deutscher Verein für das höhere Mädchenschulwesen« um. 17 1865 von Luise Otto gegründet. 18 Der unverbindliche Lehrplan wurde im »Centralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen« (hrsg. v. Ministerium der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten Berlin) herausgebracht. (Ab 1905 nennt sich dieses »Zentralblatt« = ZB.).
82
Senta Stiller
Tabelle 1.3.3.1: Normallehrplan für die höheren Mädchenschulen zu Berlin 188619 Unterrichtsfächer der höheren Mädchenschule Wochenstunden Deutsch Französisch Englisch Religion
Wochenstunden in den Klassenstufen Unterstufe 9 8 7 18 20 24
Mittelstufe 6 5 4 28 30 30
Oberstufe 3 2 1 30 30 30
9
9
9
5 5
5 5
5 5
4 4
4 4
4 4
2
3
3
2
2
2
4 2
4 2
4 2
2
2
2
2 2
2
4
2 4
4
4
2
2 1
4 2 2 1
4 2 2
2 2 2
2 2 2
2 2 2
Geschichte Geographie Rechnen Naturbeschreibung Zeichnen Schreiben
3
4
Handarbeiten Singen
2
2
2
2 2
2 2
2 2
2 2
2 2
2 2
Turnen
2
2
2
2
2
2
2
2
2
Ein weiterer Entwicklungsschritt, der das Mädchenschulsystem wiederum nicht wie erhofft aufwertete, war die »Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens« von 1894.20 Auch diese Neuordnung sah das Recht zur Vergabe von Hochschulzulassungen für Mädchenschulen nicht vor. Durch die Festlegung auf neun Schuljahre mit zwei Fremdsprachen wurde die Möglichkeit zur Gleichstellung der höheren Mädchen- mit den Knabenschulen weiterhin nicht ergriffen, da letztere aus zehn aufsteigenden Klassen bestanden. Positive Folgen der Neuerung waren jedoch Vereinheitlichung sowie Anhebung der Lerninhalte auf gehobene Ansprüche im höheren Mädchenschulwesen. Im Sommer des Jahres 1908 kam es dann erstmals zur lange erwarteten Gleichsetzung des Mädchenschulwesens in Preußen.21 »Diese Verordnung stellt zusammen mit der Verordnung vom 18.08.1908 über die Zulassung der Frauen zum Universitätsstudium die eigentliche Geburtsurkunde der modernen höheren 19 Aus: Zymek/Neghabian, Sozialgeschichte und Statistik. 2005, S. 44. 20 Diese Neuordnung wurde im Centralblatt von 1894 auf S. 446ff. abgedruckt. 21 Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens vom 18. August 1908. Informationen darüber entnommen aus: Das Mädchenschulwesen in Preußen. Ministerielle Bestimmungen und Erlasse. Zusammengestellt von Gottlob Schöppa. Leipzig: Verlag der Dürr’schen Buchhandlung 41909.
Die Kanonautoren Lessing, Goethe und Schiller im Deutschunterricht
83
Mädchen- und Frauenbildung dar«.22 Das preußische Vorbild verbreitete sich schnell in den anderen deutschen Staaten, sodass die Mädchenschulen nun endlich in verschiedenen Verordnungen vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die zwanziger Jahre in das öffentliche Schulwesen integriert wurden. Das Strukturschema der höheren Lehranstalten für Mädchen von 1908 sah als Neuerung ein sich gabelndes System mit gemeinsamen Unterbauten vor. Gemeinsame Basis aller höheren Lehranstalten des Mädchenschulwesens war die ab 1908 vorerst sog. »höhere Mädchenschule«, die 1912 dann in »Lyzeum« umbenannt wurde.23 An diese Basisschule, die einen Kursus bis zum 16. Lebensjahr anbot, schloss entweder das höhere »Lehrerinnenseminar« oder eine zweijährige »Frauenschule« (vergleichbar mit einer heutigen Berufsschule) an. Diese Oberstufenangebote wurden unter dem Begriff »Oberlyzeum« zusammengefasst. Die Schulen mit einer ausreichenden Zahl an Schülerinnen boten diesen von nun an auch sog. »Studienanstalten« an, die sich von den Mittelstufenklassen abzweigten. Hier wurden die Mädchen in einem sechs- bzw. fünfjährigen Lehrgang zur Hochschulreife geführt. Bis auf den um ein Jahr längeren Schulweg waren die Studienanstalten am Vorbild der drei Grundtypen der höheren Knabenschulen (Gymnasium, Realgymnasium, Oberrealschule) ausgerichtet. Der Lehrplan von 1908 blieb bis 1925 vorerst bestehen. Im Jahre 1922 wurden die »Deutsche Oberschule« und die »Aufbauschule« in das höhere Knaben- und Mädchenschulwesen eingeführt. An diesen neuen Schultypen sollte der Deutschunterricht dominieren und nur noch eine Fremdsprache intensiver unterrichtet werden. Gleichzeitig war eine Herabsetzung der Gesamtwochenstundenzahl vorgesehen. Mit der Aufbauschule und der Deutschen Oberschule waren nun nicht nur zwei neue Wege zur Hochschulreife für die Knaben, sondern auch für die Mädchen geschaffen. Die Richtlinien für die Neugestaltung der Lyzeen und Oberlyzeen vom 21.03.192324 stellten einen erneuten Schritt in Richtung der Gleichstellung von Mädchen- und Knabenschulen dar. Um das Ziel gemeinsamer Lehrpläne zu erreichen, musste es zunächst zu einer Angleichung der Schulzeit kommen. In diesem Punkt wurden die Knabenschulen an die der Mädchen angepasst und so 22 Rebele, Albert: Die höheren Mädchenschulen in Preußen 1870–1925 und der Streit um die Gleichstellung mit den Jungenschulen. In: Der weite Schulweg der Mädchen. Hrsg. Von Johann Georg Prinz von Hohenzollern und Max. Liedtke. Bad Heilbrunn/Obb: Klinkhardt 1990, S. 272–299, hier : S. 286f. 23 Vgl. dazu Zymek/Neghabian, Sozialgeschichte und Statistik. 2005, S. 62; ZB 1912, S. 213ff. – Mit diesem Erlass zur Umbenennung der anerkannten höheren Mädchenschulen zu Lyzeen erhielten die Mädchenschulen, die die geforderten Auflagen zur Anerkennung als höhere Schule von 1908 nicht erfüllen konnten, den traditionellen Titel »Höhere Mädchenschule« zurück. 24 In: ZB 1923, S. 147ff.
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deren Schulzeit um ein Jahr auf 13 Schuljahre bis zum Abitur erhöht. Durch das »neue Oberlyzeum« war fortan die erste Vollanstalt für Mädchen geschaffen, da sie nun über einen einzigen Schultyp die Hochschulzulassung erreichen konnten. Durch diese Umwandlung der alten in die neuartigen Oberlyzeen stieg die Zahl der Anstalten, die bis zur Hochschulreife führten, rasant an. Den Abschluss der Reformierung des höheren Schulwesens in der Weimarer Republik stellten die 1925 erlassenen »Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens«25 dar. Mit diesen Richtlinien wurden erstmals Lehrpläne erlassen, die sowohl für höhere Knaben- als auch Mädchenschulen in gleichem Maße galten. Damit war nach jahrelangem Ringen die Gleichstellung von höheren Mädchen- und Knabenschulen gewährleistet.
2.
Kanonautoren im Deutschunterricht der höheren Mädchenschulen
2.1
Der Deutschunterricht des höheren Mädchenschulwesens nach 1908
Die deutsche Sprache war im Unterricht lange Zeit nur ein Mittel zum Zweck. Deutsch als Unterrichtsfach, das sich wie heute allen Bereichen der Muttersprache widmet, gab es vorerst weder an Knaben- noch an Mädchenschulen. Die alten Sprachen dominierten das Schulwesen bis Ende des 19. Jahrhunderts, wohingegen Deutsch lediglich als Vermittler diente, um diese alten Sprachen zu lehren. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte sich der Deutschunterricht zunächst an den Volksschulen, dann auch an den höheren Schulen etablieren. Die Lektüre der »Deutschen Klassiker« fand erst ab 1840 ihren Weg in die deutschen Klassenräume. Ein gymnasialer Literaturkanon bildete sich nur langsam heraus.26 Der Aufstieg des deutschen Unterrichts zum wichtigsten Fach setzte erst sehr spät ein.
2.2
Der Lektürekanon der höheren Mädchenschulen
Ein wichtiger Teilbereich des Deutschunterrichts unserer Zeit ist die Arbeit mit Lektüren. An die eigene Schulzeit zurückdenkend, erinnern sich verschiedene Generationen an Werke ganz bestimmter Autoren, die sich bis heute im 25 Die Richtlinien wurden im Zentralblatt von 1925 veröffentlicht. 26 Vgl. Schwalb, Angela: Mädchenbildung und Deutschunterricht. Die Lehrpläne und Aufsatzthemen der höheren Mädchenschulen Preußens im Kaiserreich und der Weimarer Republik. Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts. Frankfurt a. M.: Lang 2000, S. 65ff.
Die Kanonautoren Lessing, Goethe und Schiller im Deutschunterricht
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literarischen Kanon erhalten haben. Autoren wie Lessing, Goethe und Schiller sind seit der Entstehung fester Lektürekanones nicht mehr aus dem Deutschunterricht wegzudenken. Die Kanoninstanz Schule war lange Zeit vom altsprachlichen Kanon geprägt. Der erste Lektürekanon für das Fach Deutsch in Form staatlicher Literaturempfehlungen für bayrische Gymnasien entstand unter Friedrich Immanuel Niethammer27 im Jahre 1808. Niethammers »materialem Literaturkanon«, der auf einer Autoren- und Werksauswahl basierte, wies bereits eine noch heute bestehende Kernkanon-Struktur auf, die durch die Autoren Lessing, Goethe und Schiller charakterisiert wurde. Tabelle 2.2.1: Niethammers Lektürekanon 180828 Lektüreauswahl a) Lyrische Poesie (Auswahl aus Goethes, Schillers und Herders Liedern) Unterklasse b) Prosaiker (Auswahl aus Herders und Goethes Werken) a) Lyrische Poesie (Auswahl aus Uz, Haller, Voß, Klopstock, »vorzüglich Übung an den Untere schweren Oden der beiden Letztern«) Mittelklasse b) Prosaiker (Auswahl aus Jacobis und Lessings Schriften; Friedrich Schlegel, »Lessings Gedanken und Meinungen aus dessen Schriften zusammengestellt und erläutert« (1804)) Klasse
a) Epische Poesie (Goethe, Hermann und Dorothea; Voß, Luise; »Stücke« aus Klopstocks »Messias«) Obere b) Prosaiker (Lessings Schriften, Schillers »Geschichte der Niederlande Mittelklasse und des dreißigjährigen Krieges«; Johannes von Müllers »Schweizer Geschichte«) a) Dramatische Poesie (Lessings, Goethes, Schillers Werke) Oberklasse b) Prosaiker (Winckelmanns Werke)
Weiterführende Pläne für einen verbindlichen Kanon deutscher Schullektüre kamen in den 1860er Jahren auf.29 In diesem Lektürekanon wurden weiterhin Autoren wie Herder, Lessing, Klopstock, Goethe und Schiller sowie das Nibelungenlied aufgenommen. Nach der Reichsgründung stand einer Etablierung eines deutschen Lektürekanons endgültig nichts mehr im Wege. Die Autoren Lessing, Goethe und Schiller blieben vor allem in den oberen Klassen dominierend, was 27 Friedrich Immanuel Niethammer (* 1766; † 1848) war ein deutscher Philosoph und Theologe. Ab 1807 bayrischer Zentralschulrat. 28 Korte/Zimmer/Jakob, Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten. 2005, S. 36. 29 Herrlitz, Hans-Georg: Der Lektüre-Kanon des Deutschunterrichts im Gymnasium: ein Beitrag zur Geschichte der muttersprachlichen Schulliteratur. Heidelberg: Quelle & Meyer 1964, S. 141.
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Senta Stiller
der von Gustav Wendt 1877 publizierte Lehrplan (vgl. Tab. 2.2.2) belegt. Vorklassiker wie Klopstock oder der Autor Herder dagegen, die im Lektürekanon von Niethammer noch ihren Platz fanden, werden in diesem Lehrplan von 1877 namentlich nicht mehr erwähnt. Tabelle 2.2.2: Wendts Lektürekanon 187730 Stufe Untere Klassen
Tertia (Unter- und Obertertia)
Lektüren »einfache, kürzere erzählende oder lyrische Gedichte und Lesestücke« (Q 14,1): »Fabel, Märchen, Sage, historische Anekdote«, »Lieder, deren Empfindungskreis dem Kind zugänglich ist, also namentlich einfache Vaterlandslieder« (ebd.) »besonders geeignet«: »die griechische Sagengeschichte« (ebd.) »Romanzen Uhlands«, »patriotische Lyrik der Freiheitskriege«, »einige Gedichte von Schiller« (ebd.) »größere epische Poesien« »die entschieden episch gehaltenen Tragödien von Uhland« (Q 14, S. 265) Prosalektüre: »historische Stücke«, »Anekdote«, »Reisebeschreibungen«, »geschichtliche, vor allem auch beschreibende und schildernde Lesestücke«
Gedichte Schillers: Kraniche des Ibykus, Der Taucher, Das eleusische Sekunda Fest, Die Klage der Ceres; Das Lied von der Glocke; »die größeren (Unter- und Romanzen« (ebd.) Dramen Schillers: Wilhelm Tell; Wallenstein. Obersekunda) Goethe: Götz von Berlichingen; Lessing: Minna von Barnhelm Prosaaufsätze Einführung in die mittelhochdeutsche Sprache (»die wichtigsten Partien des Nibelungenliedes und einiger Lieder von Walther von der Vogelweide«, ebd.) »Uebersicht der Literaturgeschichte« (ebd.): »Literaturgeschichte des Mittelalters« (ebd. Unterprima); von der ReformaPrima tionszeit bis zum 18. Jahrhundert »einige größere Werke von Lessing, (Unter- und Goethe und Schiller«, »Von Klopstock und Herder nur weniges« (Q 14, Oberprima) S. 264–265) Lessing. Nathan; Lakoon; Hamburgische Dramaturgie (Auswahl) Goethe: Iphigenie; Hermann und Dorothea; Schiller : Klassische Dramen (Q 14, S. 265) Lyrik: u. a. Goethe: Prometheus, Grenzen der Menschheit; Schiller : Der Spaziergang
Durch die Einführung eines Lehrplans für höhere Schulen im Jahre 1882 in Preußen verloren die Schulen ihren Freiraum in der Lektürewahl. Der Staat gab nun vor, wie der Literaturkanon gestaltet sein sollte. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im Jahre 1882 die Obrigkeit den Lehrplan des Faches Deutsch als ein »Instrument staatlicher Memorialpolitik«31 entdeckte. Dem reinen Materialkanon wurde 1901 ein Deutungskanon beigefügt, um eine einheitliche nationale Interpretation der kanonisierten Werke an allen Schulen zu verwirklichen.32 Dies wirkte sich natürlich auch auf die Mädchen30 Korte/Zimmer/Jakob, Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten. 2005, S. 60. 31 Ebd., S. 62. 32 Vgl. ebd., S. 63.
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Die Kanonautoren Lessing, Goethe und Schiller im Deutschunterricht
schulen aus. In den Neuordnungen des höheren Mädchenschulwesens vom 18.08.1908 sind im Lehrplan der Oberstufe der höheren Mädchenschule folgende Werke im Lektürekanon festgelegt: Tabelle 2.2.3 Lehraufgaben der Oberstufe der höheren Mädchenschule 190833 Klasse IV bis I (je 4 Stunden wöchentlich) Mittelpunkte bilden die Blüte der mittelalterlichen Dichtung und die Zeit Goethes und Schillers.
Klasse III und II
Klasse I
In Klasse III und II je eine oder zwei größere Dichtungen nach Auswahl der Lehrenden. In Betracht kommen:
Für Klasse I können unter folgenden Werken zwei bis drei zu eingehender Behandlung gewählt werden:
Einführung in die germanische Mythologie, in das Uhland: Herzog Ernst mittelalterliche Volksepos und die höfische Dichtung. Schiller : Wilhelm Tell, die Jungfrau von Orleans, Maria Gelesen werden das Nibe- Stuart; lungenlied im Auszug, Abschnitte aus Gudrun und Goethe: Goetz von BerliProben aus der höfischen chingen, Hermann und DoEpik nach Wahl der Leh- rothea; renden. Balladen von Uhland, Lessing: Minna von BarnSchiller und neueren Dich- helm; tern. Ausgewählte größere Abschnitte aus der Odyssee dazu Gedichte von Schiller mit kurzen verbindlichen (Lied von der Glocke) und Inhaltsübersichten und Er- Goethe. gänzungen aus der Ilias. Die Dichter der Freiheitskriege im Anschluß an den Geschichtsunterricht. Nachgoethesche Lyrik und Epik in geeigneter Auswahl.
Lessing: Nathan der Weise; Schiller : Wallenstein, Maria Stuart; Goethe: Iphigenie, Egmont, Dichtung und Wahrheit im Auszug. Auch Dramen von Kleist, Grillparzer, Hebbel und Otto Ludwig kommen in Betracht. Einführung in Schillers und Goethes Gedankenlyrik, soweit es die Reife der Schülerinnen gestattet. Neuere Lyrik und Epik. Übersetzungen aus der griechischen Poesie und Prosa können mit der im Geschichtsunterricht etwa angesetzten eingehenden Behandlung von Abschnitten aus der alten Geschichte verbunden werden.
Um eine Vorstellung zu erhalten, in welcher Weise dieser Lehrplan an den höheren Mädchenschulen umgesetzt wurde und um genaue Aufschlüsse darüber zu erlangen, inwieweit die Autoren Goethe, Lessing und Schiller in den schulischen Kanon aufgenommen wurden, ist es notwendig, sich mit einer schulischen Publikationsform auseinanderzusetzen, die den Unterrichtsstoff der Schulen 33 Tabelle zusammengestellt aus den Angaben aus: Teil D (Lehrpläne für die einzelnen Unterrichtsfächer) der Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens vom 18.8.1908, in: Schöppa, Neuordnung. 1909, S. 123f.
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dieser Zeit widerspiegelt. Die Rede ist hier von den in der Einleitung erwähnten Schulprogrammschriften deutschsprachiger Mädchenschulen. Aus dieser Quellengattung lässt sich entnehmen, welchen Stellenwert die Werke der drei Autoren in den Schulen einnahmen und wie die Arbeit mit deren Werken aussah.
3.
Zur Vorgehensweise bei der Auswertung der Schulprogramme der höheren Mädchenschulen
Der Abriss über die Entwicklung des Mädchenschulwesens hat gezeigt, dass dieses lange Zeit sehr heterogen war und erst spät verbindliche Lehrpläne eingeführt wurden. Daher ist es schwierig, allein anhand von Lehrplänen und Verordnungen den Schulalltag an Mädchenschulen zu rekonstruieren. Einen genaueren Einblick in die Schulwirklichkeit, die behandelte Lektüre und den Umgang mit dieser Lektüre bieten die Schulprogramme bzw. Jahresberichte der untersuchten Zeit. Im Vorfeld einer solchen Untersuchung sollte man die nötigen Voraussetzungen bedenken. Zu diesen gehört als erstes eine zugängliche, wenn möglich umfassende Sammlung an Schulprogrammschriften. Gießen bietet diesbezüglich einen sehr geeigneten Standort, da die Universitätsbibliothek Gießen über eine Sammlung von 48.000 Schulprogrammschriften mit Abhandlung und darüber hinaus über eine noch nicht abzuschätzende Zahl an Jahresberichten, die ohne Abhandlungen erschienen sind, verfügt.34 Darüber hinaus stellt diese Sammlung den am besten organisierten Bestand von Schulprogrammen dar, da er katalogisiert und digitalisiert ist. Franz Kössler hat in seiner fünfbändigen Bibliographie rund 70.000 Schulprogrammschriften mit wissenschaftlicher Abhandlung alphabetisch nach Verfassern dieser Abhandlungen erfasst, wozu auch die 48.000 in Gießen vorhandenen Programmschriften mit Abhandlung zählen. In diesem Bestand finden sich auch eine größere Auswahl an Programmschriften von Mädchenschulen. Bei der Auswahl der Schulen bot sich die fünfbändige Kössler Bibliographie35 sowie die daraus entstandene Datenbank der Schulprogramme36 an. Im vierten Band der Bibliographie befindet sich ein alphabetisches Verzeichnis der Schulen, deren Programme eine Abhandlung aufweisen. Hier findet man sehr schnell 34 Schulprogrammschriften der Gießner Sammlung im Internet: (Letzter Zugriff am 04.09.2015). 35 Verzeichnis von Programmabhandlungen deutscher, österreichischer und schweizerischer Schulen der Jahre 1826–1918: alph. geordnet nach Verf. Hrsg. von Franz Kössler. München [u. a.]: Saur 1 (1987) bis 5 (1991). 36 Online abrufbar unter : (Letzter Zugriff am 04.09.2015).
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Die Kanonautoren Lessing, Goethe und Schiller im Deutschunterricht
die Mädchenschulen, die schon aufgrund ihres Namens (höhere Bürgerschule für Mädchen, höhere Töchterschule, höhere Mädchenschule) als solche zu erkennen sind. Ein Problem ergab sich jedoch bei den Mädchenschulen, die unter dem Dach einer höheren Bürgerschule neben einer Knabenschule existierten. Hier erkennt man am Schulnamen im Kössler-Verzeichnis oft nicht sofort, ob es sich um eine Mädchenschule handelte. In solchen Fällen muss man die Programmschriften der einzelnen Bürgerschulen sichten, um festzustellen, ob Mädchenschulen integriert waren. Hilfreich war auch die Datenbank der Schulprogramme, die eine Recherche anhand von Schlagwörtern ermöglicht. Auf diese Weise lassen sich zwanzig Mädchenschulen nachweisen, deren Schulprogramme zum Teil in der Gießener Sammlung vorhanden sind. Aufgrund der überschaubaren Anzahl wurden alle Programme dieser Schulen gesichtet und ausgewertet. Der größte Teil dieser Mädchenschulen befand sich im Königreich Preußen, was sich aus der Tatsache erklärt, dass Preußen das bevölkerungsreichste Land des Deutschen Reiches war und sich dort die meisten höheren Schulen etablierten. Besonders im Mädchenschulwesen war Preußen, wie im ersten Kapitel bereits deutlich wurde, richtungweisend und so besuchten hier deutlich mehr Schülerinnen höhere Mädchenschulen.
4.
Gesamtauswertung der Schulen – Der Kulturraum Schule als wichtiger Faktor des kulturellen Gedächtnisses
Die folgenden Auswertungsergebnisse beschränken sich auf die Teilergebnisse, die im Zusammenhang mit der Lessing-Forschung interessant sind: Gesamtauswertung Lessing Werk (beginnend mit dem an den meisten Schulen gelesenen Werk) 1 Minna von Barnhelm 2 Nathan der Weise
Anzahl der Schulen, an denen das Werk gelesen wurde 14 10
Anzahl der einzelnen Nennungen37 91
Anzahl der Aufsätze, die über das Werk verfasst werden mussten 36
36
8
Stufen, in denen das Werk gelesen wurde38 I., II., IV., V., VI. I., II., V., VI.
37 Gibt an, wie oft das Werk insgesamt in den Schulprogrammschriften als gelesen vermerkt wurde. 38 Hier und im Folgenden sind die beiden vorkommenden Klassensysteme zusammengefasst. III., II., I. = drei obere Stufen des Klassensystems, bei dem die I. (Prima) die oberste Stufe bildete. IV., V., VI. = drei obere Stufen des Klassensystems, bei dem die VI. Klasse die oberste Stufe bildete. S=Selekta, F=Fortbildungsklasse.
90 (Fortsetzung) Werk (beginnend mit dem an den meisten Schulen gelesenen Werk) 3 Laokoon 4 Emilia Galotti
Senta Stiller
Anzahl der Schulen, an denen das Werk gelesen wurde 3 3
Anzahl der einzelnen Nennungen37
Anzahl der Aufsätze, die über das Werk verfasst werden mussten
8 6
3
Stufen, in denen das Werk gelesen wurde38 I., VI., S., F. I., V., VI., F.
5 Philotas 6 Hamburgische Dramaturgie
2 1
3 4
V., VI., F. I., S.
7 Miss Sara Sampson
1
1
–
Die fünf insgesamt am häufigsten vorgekommenen Werke Werk (beginnend mit dem an den meisten Schulen gelesenen Werk) 1 Wilhelm Tell (Schiller)
Anzahl der Schulen, andenen das Werk gelesen wurde 17
Anzahl der einzelnen Nennungen
Stufen, in denen das Werk gelesen wurde
107
Anzahl der Aufsätze, die über das Werk verfasst werden mussten 29
I., III., V., VI.
2 Hermann und Dorothea (Goethe) 3 Jungfrau von Orleans (Schiller)
16
123
59
I., II., III., VI.
15
119
46
I., II., III., V., VI.
4 Iphigenie auf Tauris (Goethe) 5 Minna von Barnhelm (Lessing)
15
98
48
I., S., VI., VII.
14
91
36
I., II., IV., V., VI.
Diese Gesamtauswertung verdeutlicht, was sich schon in den Einzelauswertungen der Schulen immer wieder gezeigt hat: Schiller ist im 19. und frühen 20. Jahrhundert der meistgelesene Autor an deutschen höheren Mädchenschulen. Von ihm werden insgesamt 25 Werke in den einzelnen Untersuchungszeiträumen der Schulen gelesen. Von Goethe sind es 22, von Lessing sieben. Fasst man jeweils die Anzahl aller einzelnen Nennungen39 der Werke Lessings, 39 Nennung steht hier und im Folgenden für die Anzahl, wie oft ein Werk in den Schulpro-
Die Kanonautoren Lessing, Goethe und Schiller im Deutschunterricht
91
Goethes und Schillers zusammen, kommt man bei Lessing auf 149 Nennungen in den untersuchten Schulprogrammschriften, bei Goethe auf 389 und bei Schiller auf 559. Diese Ergebnisse unterstützen ebenfalls die Aussage, dass Schiller der am häufigsten gelesene Autor im Untersuchungszeitraum war. Auch das Werk, das in den meisten Schulen als gelesen vermerkt wurde (in 17 von 20) ist mit Wilhelm Tell ein Werk von Schiller. Bei der Anzahl der Schulaufsätze, die über die Werke der drei Autoren verfasst werden mussten, stellt Schiller wiederum die Spitze dar : über seine Werke waren in den Schulen insgesamt 221 Aufsätze abzugeben, über Goethes 166 und über Lessings Werke 47. Das Werk allerdings, das die meisten Nennungen (123) und Aufsätze (59) aufweist ist Goethes Hermann und Dorothea, dann erst kommt Schillers Jungfrau von Orleans mit 119 Nennungen und 46 Aufsätzen. Diese Ergebnisse der Schulschriftensichtung machen deutlich, wie die Autoren Lessing, Goethe und Schiller ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zu kanonisierten Autoren wurden und zeigen zudem auf, wie hoch die Bedeutung des ›Kulturraums Schule‹ für den Aufbau eines ›kulturellen Gedächtnisses‹ ist.40 Das kulturelle Gedächtnis ist gebunden an ›feste Objektivationen‹41 und speichert das kulturelle Wissen, wie es zum Beispiel durch das Medium Literatur festgehalten wird. Birgit Neumann hebt diesbezüglich hervor, dass »Literatur […] eine Ausdrucksform kultureller Wirklichkeitsaneignung [sei], der spezifische, als fiktional ausgezeichnete Explorationsräume zur Verfügung stehen«.42 Literarischen Texten kann darüber hinaus eine Funktion als Speicher bzw. Archiv zugesprochen werden.43 Die literarischen Werke dieser Kanonautoren sind demnach damals wie heute prägende Komponenten des ›kulturellen Gedächtnisses‹, da sie immer wieder neu rezipiert und inszeniert werden, wodurch sie schließlich einen kontinuierlichen Bestandteil des ›materialen Kanons‹ darstellen.44 Die Bedeutung des ›Kulturraums Schule‹ für das ›kulturelle Gedächtnis‹ betont auch Carsten Gansel. Schule sei und bleibe ein »exzellenter Umschlagplatz für Bedeutungen«, archiviere diese und funktioniere so durch »Kanonisierungen als institutionalisiertes kulturelles grammschriften als gelesen vermerkt wurde. 40 Jan und Aleida Assmann unterscheiden zwei Formen kollektiver Erinnerung, die beiden Gedächtnis-Rahmen »kommunikatives Gedächtnis« und »kulturelles Gedächtnis«, vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C. H. Beck: 1997, S. 50. 41 Vgl. ebd., S. 56. 42 Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Medien des kollektiven Gedächtnisses, Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität. Hrsg. von Astrid Erll/Ansgar Nünning. Berlin/New York: de Gruyter 2004, S. 159–178, hier : S. 165. 43 Vgl. Gansel, Carsten: »Lebensideal der tätigen Energie«. Gotthold Ephraim Lessing als Kanonautor im ›Kulturraum Schule‹ zwischen 1800 und 1900. In: Literaturvermittlung im 19. und frühen 20. Jahrhundert: Vorträge des 1. Siegener Symposions zur literaturdidaktischen Forschung. Hrsg. von Hermann Korte. Frankfurt a. M.: Lang 2005, S. 81–95, hier: S. 81. 44 Vgl. Gansel, G. E. Lessing im ›kulturellen Gedächtnis‹. 2007.
92
Senta Stiller
Gedächtnis«.45 Schulprogramme geben daher nicht nur eine präzise Auskunft über die Schulwirklichkeit, sondern können uns darüber hinaus helfen, die Struktur des ›kulturellen Gedächtnisses‹ eines bestimmten Zeitraumes zu erfassen.46 Anhand der Ergebnisse der Schulprogrammsichtungen lässt sich belegen, dass die Autoren Lessing, Goethe und Schiller insbesondere durch die Instanz Schule zu Kanonautoren wurden und erst dadurch eine zentrale Rolle im ›kulturellen Gedächtnis‹ dieser Zeit zuerkannt bekamen. Bis heute hat sich an dieser Tatsache nichts geändert. Lessing, Goethe sowie Schiller sind nach wie vor wichtige Kanonautoren und somit fortwährender Bestandteil des ›kulturellen Gedächtnisses‹.
5.
Fazit und Ausblick für das Arbeiten mit Schulprogrammschriften zur Untersuchung der Herausbildung eines ›kulturellen Gedächtnisses‹
Wie schon in der Einleitung dargelegt und nun auch durch die vorliegenden Untersuchungsergebnisse untermauert, bieten Schulprogrammschriften bzw. Jahresberichte einen genaueren Einblick in die Gestaltung des Unterrichts der damaligen Zeit. Die Sichtung und Auswertung von Schulprogrammschriften kann somit zu vertieften Einblicken in die Schulwirklichkeit verhelfen als dies Lehrpläne vermögen. Darüber hinaus finden sich in den Jahresberichten viele weitere Informationen, durch die sich auf die Unterrichtsgestaltung der Mädchenschulen schlussfolgern lässt. In einigen Berichten finden sich Angaben darüber, an welchen Lehrplänen sich die Schulen orientierten, welche Lesebücher benutzt wurden, wie die Schule aufgebaut und gestaltet, wie umfangreich die Schulbibliothek war und welche Lehrmittel zur Verfügung standen. Den besten Einblick in die Schulwirklichkeit boten natürlich die in den Schulprogrammen aufgeführten Lehraufgaben und der Lehrstoff. Besonders für die Untersuchung des Vorkommens der Kanonautoren Lessing, Goethe und Schiller waren diese am hilfreichsten. Die Analyse der Lehrinhalte bestätigt außerdem, dass einige Schulen bereits vor den Neuordnungen des Mädchenschulwesens den Anforderungen des höheren Schulwesens entsprachen. Neben den geschilderten Vorteilen der Schulprogrammanalyse stellten sich auch einige Probleme bei der Arbeit mit den Schulprogrammschriften bezüglich der Werkanalyse der Kanonautoren heraus: Es lässt sich oft nicht mit Sicherheit sagen, in welchem Umfang in den 45 Gansel, Lessing als Kanonautor. 2005, S. 82. 46 Vgl. ebd., S. 15.
Die Kanonautoren Lessing, Goethe und Schiller im Deutschunterricht
93
Lehrinhalten aufgeführte Werke gelesen und behandelt wurden. Teilweise vermerken die Jahresberichte unter Lehrinhalten lediglich »Werke von Lessing«, »Gedichte von Goethe« oder »Literaturgeschichte bis zu Goethes Tod«. In solchen Fällen lässt sich nicht bestimmen, welche Werke in diesem Rahmen genau gelesen wurden. Darüber hinaus geben manche Schulprogramme zu ihren Lehrinhalten nur den Lehrplan an, an dem sie sich orientierten, sodass man auch in einem solchen Fall nicht genau sagen kann, welche Werke aus diesem Lehrplan ausgewählt und letztendlich gelesen wurden. Andere Schulen wiederum führen in den Lehrinhalten nur Lesebücher auf, aus denen gelesen wurde. Auch hier lässt sich aus den Schulprogrammschriften alleine nicht auf gelesene Werke schließen. Der letzte Punkt macht deutlich, wie man in Zukunft die Arbeit mit den Schulprogrammschriften noch verbessern und ausweiten kann, um tiefere Einblicke in den Umgang mit den Werken der Kanonautoren zu erhalten. Eine Analyse der in diesen Schriften aufgeführten Lesebücher würde den Einblick in die Schulwirklichkeit noch vervollständigen. Besonders für die Kanonforschung ergibt die Analyse von Lesebüchern wichtige Informationen, weil davon auszugehen ist, dass die in den Lesebüchern regelmäßig vorkommenden Autoren mit Sicherheit zu den Kanonautoren dieser Zeit gezählt werden können. Auch genaue Analysen der Aufsatzthemen und der Themen der Reifeprüfungen ließen weitere Einblicke in den Schulalltag und den Umgang mit den Werken der Kanonautoren zu. Für Forschungen über die Herausbildung eines ›kulturellen Gedächtnisses‹ können Schulprogrammschriften und die darin enthaltenen Informationen in jedem Fall eine wichtige Rolle spielen, wie in Kapitel vier deutlich wurde. Abschließend lässt sich sagen, dass die Schulprogrammschriften und besonders die Analyse der darin aufgeführten Lehrinhalte auf die anfängliche Fragestellung einige Antworten liefern konnten und die Schulprogrammschriften einen besseren Einblick in den damaligen Schulalltag ermöglichen als ministerielle Erlasse und amtliche Verlautbarungen.47 Außerdem wurde durch die Analyse der Lehrinhalte ersichtlich, welche Werke konkret Einzug in den Deutschunterricht fanden und die Autoren Lessing Goethe und Schiller somit zu Kanonautoren machten. Um diese Ergebnisse weiter zu untermauern und auszuweiten und einen noch präziseren Überblick über die Rolle Lessings im Deutschunterricht an Mädchenschulen im gesamtdeutschen Reich zu erhalten, müsste eine Folgeerhebung und Auswertung von Schulprogrammschriften erfolgen, die sich nicht im Gießener Bestand finden.
47 Vgl. Gansel, G. E. Lessing im ›kulturellen Gedächtnis‹. 2007.
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
Zur Kanonisierung von G. E. Lessing, J. W. v. Goethe und F. Schiller im gymnasialen Deutschunterricht – untersucht an Schulprogrammen von hessischen Gymnasien im 19. und frühen 20. Jahrhundert
I.
Einleitung
Die ›Institution Schule‹ steht in kulturgeschichtlicher Perspektive im Schnittpunkt von so unterschiedlichen Disziplinen wie Pädagogik, Psychologie, Erziehungswissenschaft, Philosophie, Literatur- und Sprachwissenschaft, Medienwissenschaft, Fachdidaktik, Bildende Kunst, Anthropologie, Architektur, Arbeitswissenschaft. In systemtheoretischer Perspektive kann ›Schule‹ als System modelliert werden, das drei Bedingungen erfüllt: es besitzt a) eine innere Struktur; b) verfügt es über eine Außen-Innen-Differenzierung, d. h. ›Schule‹ setzt sich durch eine Grenze von anderen Systemen ab, und c) erfüllt das System ›Schule‹ Funktionen, die so von anderen Systemen nicht wahrgenommen werden können.1 Das System ›Schule‹ ist entsprechend durch spezifische Handlungsrollen und entsprechende Handlungen, Normen, Regeln, Rituale charakterisiert. Das hat Folgen: in der Schule bilden sich »ephemere kulturelle Gemeinschaften«. Diese ›Schulgemeinschaften‹ zeichnen sich durch historisch wandelbare Mentalitäten aus, die in den Fokus der Forschung von verschiedenen Disziplinen geraten können. Dazu gehören: a) spezifische Symbolformen (Feste, Zeugniserteilung, Abschlussfeiern), Prestigemuster (Leistungen, Zensuren), b) Autoritätsstrukturen (Über- und Unterordnung, schulische Hierarchien, Direktor-Lehrer-Schüler), c) spezifische Kommunikationsformen (Unterrichtssprache, Unterrichtsgespräch, Lehrervortrag, Schülervortrag) sowie d) bestimmte arbeitsfeldgebundene Traditionen der einzelnen Fächer. Mit Blick auf das 18. und 19. Jahrhundert sind dies Fächer wie Religionslehre, Latein, Griechisch, Französisch, Geschichte und Geographie, Rechnen und Mathematik sowie schließlich Deutsch. Gerade die arbeitsfeldgebundenen Traditionen sind für das 19. Jahrhundert von Bedeutung, da die Lehrgegenstände mit den entsprechenden Stundenzahlen zu einem Feld der Auseinandersetzung insbesondere im Gymnasium werden. Von ›Außen‹ wird ›Schule‹ in 1 Vgl. dazu Schmidt, Siegfried J.: Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft. Frankfurt/M. 1991, S. 14.
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Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
vielfacher Perspektive wahrgenommen, beobachtet, untersucht, besucht (Eltern, Medien, Künste, Kultusbürokratien) und durch andere Teilsysteme »kulturell begleitet« (Wirtschaft, Politik, Medien, Wissenschaft, Kultur). Die Veränderungen im Prozess von gesellschaftlicher Modernisierung (technologische Rationalisierungsschübe und die Veränderung von Arbeit und Organisation, Wandel der Sozialcharaktere, Kindheitsauffassungen, der Normalbiographien, der Geschlechterverhältnisse, Lebensstile) können den gesellschaftlichen Rahmen für ›Schule‹ verändern, die (pädagogischen) Methoden revolutionieren und die Struktur des Systems modifizieren bzw. radikal umbauen.2 Unter Bedingungen von Modernisierung verändern sich zudem die Bewusstseinsstrukturen, das Denken über die Welt, es entstehen neue Werte und Normen. Die Folgen von Modernisierung betreffen somit auch die maßgeblichen Auffassungen über die Struktur von Persönlichkeit, Individualitätskonzepte, Erziehungstheorien, die Beziehungen in der Familie, die Rolle der Ehe, den Status von Mann, Frau und Kind und natürlich jene für Schule maßgeblichen Phasen von Kindheit wie Jugend.3 Gerade auch die Schule als Institution war im 19. Jahrhundert einem Modernisierungsprozess unterworfen, der zu Wandlungen führte und sich u. a. auf folgende Bereiche bezog: a) die für Schule gültigen Leitbilder; b) die daraus resultierenden Erziehungskonzepte; c) die Methoden der Erziehung; d) die Teilfunktionen einzelner Unterrichtsfächer wie etwa Deutsch oder Latein oder Französisch; e) die Prozesse von Textauswahl bzw. Kanonisierung von Autoren, Texten, Stoffen, Themen. Schließlich spielen kulturelle, symbolische, psychologische, kognitive, evolutive Hintergründe für ›Schule‹ eine nicht geringe Rolle (religiöse, politische, pädagogische, philosophische, 2 Nach wie vor grundlegend ist Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M. 1986. 3 Zu Fragen der Modernisierungstheorie siehe auch Beck, Ulrich: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993; Beck, Ulrich; BeckGernsheim, Ursula: Individualisierung in modernen Gesellschaften. Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie. In: Dies. (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 10–42; Beck, Ulrich (Hrsg.): Kinder der Freiheit Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997; Beck, Ulrich; Giddens, Anthony; Lash, Scott: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996; Mergel, Thomas: Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne. In: Ders.; Welskopp, Thomas: Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte. München: Beck 1997, S. 203–222 sowie u. a. den Kommentar von Hans-Ulrich Wehler (ebd., S. 351–366). An neueren Untersuchungen siehe vor allem die anregenden Arbeiten von Preyer, Gerhard: Soziologische Theorie der Gegenwartsgesellschaft. Mitgliedschaftstheoretische Untersuchungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006; siehe bereits Ders.: Die modernen Gesellschaften verstehen. Zu Richard Münchs Entwicklungstheorie moderner Gesellschaften. In: Ders.(Hrsg.): Strukturelle Evolution und Das Weltsystem. Theorien, Sozialstruktur und evolutionäre Entwicklungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 124–150. Preyer greift u. a. zurück auf Eisenstadt, Shmuel N.: Theorie und Moderne. Soziologische Essays. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006; siehe zudem Preyer, Gerhard: Zur Aktualität von Shmuel N. Eisenstadt. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011.
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
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anthropologische Symbolformen, Lehrerrollen).4 Freilich ist zu beachten, dass es sich bei der ›Institution Schule‹ wiederum um einen ausdifferenzierten ›Kulturraum‹ handelt und der Modernisierungsprozess in den verschiedenen Schulformen jeweils spezifische Folgerungen zeitigte. Damit ist die Unterscheidung zwischen den sogenannten ›niederen Schulen‹ (Volks- und Mittelschule) und den höheren Schulen (humanistisches Gymnasium, Realgymnasium, Oberrealschule) von Belang. Ein Vergleich der Lehrpläne aus den Jahren 1856/59, 1882, 1892, 1901 würde exemplarisch die durch den Modernisierungsdruck in Gang gebrachten schrittweisen Veränderungen zeigen.5 Im Zentrum standen dabei die Bemühungen von Teilen des aufstrebenden Wirtschaftsbürgertums, die Vormachtstellung des humanistischen Gymnasiums zu beseitigen und gleichberechtigt das Realgymnasium und die Oberrealschule als Institutionen zu etablieren, an denen das Abitur abgelegt werden kann.6 Erst um 1900 wurde der über Jahrzehnte gehende Konflikt um die Brechung der Vormachtstellung des Gymnasiums entschieden und ohne öffentliche Debatten beigelegt.7
II. Nun geht es an dieser Stelle nicht um die Fächerstruktur am Humanistischen Gymnasium, sondern explizit um den Deutschunterricht. Für das 19. Jahrhundert wird man sagen können, dass der Deutschunterricht im Vergleich zur Übermacht des Latein und des Griechischen eine nebenrangige Rolle spielte und zunächst nur einen Anteil von zwei, später drei und erst ab ca. 1894 mitunter vier Wochenstunden aufwies. Der Deutschunterricht im Gymnasium selbst wurde von Lehrern 4 Siehe dazu etwa Herrlitz, Hans-Georg; Hopf, Wulf; Titze, Hartmut: Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung. 3. Auflage. Weinheim/München: Juventa 2001. 5 Mit den Folgen der Industrialisierung standen das Schul- und Hochschulwesen im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts unter Modernisierungsdruck. Siehe dazu u. a. Herrlitz/Hopf/Titze, Deutsche Schulgeschichte. 2001; Kocka, Jürgen (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987; Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist. München: Beck 1991; Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie. München: Beck 1992. 6 Es kann hier nicht um eine detaillierte Darstellung der Bildungspläne der einzelnen Schultypen gehen. Die Unterschiede zwischen den Typen lassen sich bereits an der Stundentafel ablesen. Während das humanistische Gymnasium vor allem die alten Sprachen Latein und Griechisch ins Zentrum stellte, suchten Realgymnasium und Oberrealschule die modernen Fremdsprachen (Englisch, Französisch), Mathematik sowie die Naturwissenschaften stärker zu profilieren. Es war dies zweifellos eine überfällige Reaktion auf das wirtschaftliche Wachstum, die Forderungen der Industrie und die Öffnung ausländischer Märkte. 7 Auf einer von der Ministerialbürokratie einberufenen Schulkonferenz im Juni 1900 verlor das Gymnasium seinen Alleinvertretungsanspruch beim Zugang zu den akademischen Berufen, den es fast einhundert Jahre lang besessen hatte.
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Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
erteilt, die ihrer Ausbildung nach klassische Philologen waren. Das hatte weitreichende Folgen: der Deutschunterricht an höheren Schulen war in erster Linie anspruchsvoller Fachunterricht, in dessen Zentrum Rhetorik, Lese- und Aufsatzlehre standen, erteilt von philologisch zumeist exzellent qualifizierten Lehrern, die nicht nur den antiken Stoffen zunächst einen zentralen Stellenwert einräumten, sondern auch wissenschaftlich arbeiteten.8 Dass das Lehrerpersonal über ausgewiesene philologische Kompetenzen verfügte, zeigt sich allein darin, dass die Jahresberichte der Gymnasien Wissenschaftliche Beigaben enthielten, die in den meisten Fällen auf der Höhe des damaligen Forschungsstands waren. Diesen Umstand unterstreichen die Editionen solcher Beilagen zu Lessings »Nathan der Weise«; »Minna von Barnhelm« sowie »Emilia Galotti«, in denen eine Textsorte erstmals in größerem Umfang präsentiert wird, die über einen langen Zeitraum von der Forschung nicht wahrgenommen wurde.9 Hermann Korte hat in dem Siegener Forschungsprojekt »Innenansichten der Kanoninstanz Schule« diskutiert und gezeigt, welche Rolle den Schulprogrammschriften bei der Popularisierung des Bildungsdiskurses zukam.10 Korte unterstreicht, dass es mit der Konstituierung des preußischen Gymnasiums ab 1800 trotz der Veränderungen in den anvisierten Berufskarrieren der Gymnasiasten nach wie vor darum ging, die Kenntnis der alten Sprachen zu vermitteln. Zutreffend vermerkt er: »Anders als zu den Zeiten der Gelehrten- und Lateinschule ging es nicht mehr um ein die Studien künftiger Theologen, Juristen und Mediziner vorbereitendes, funktional auf den Gelehrtenstand gerichtetes Wissen, sondern um ein zunächst vom antiken Kanon, dann zunehmend auch vom deutschen Lektürekanon bestimmtes Bildungsprogramm, das führende Positionen in Staat, Kirche, Gesellschaft und Kultur versprach und im praktischen Sinne ein ständig differenzierteres Prüfungs-, Examens- und Zulassungs-
8 Vgl. u. a. Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte Bd. IV: 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Hrsg. von Christa Berg. München: Beck 1991, S. 147–178; S. 179–313. Siehe zur Entwicklung des Deutschunterrichts auch Frank, Hans Joachim: Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfängen bis 1945. München: dtv 1973. Von besonderer Bedeutung in diesem Kontext ist das Siegener Projekt zu Kanonisierung und Deutschunterricht um Hermann Korte. Vgl. dazu die Siegener Schriften zur Kanonforschung, der erste Band erschien 2005 (Verlag Peter Lang). 9 Siehe dazu die vom Verfasser und der Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption in Kamenz herausgegebene Reihe »Gotthold Ephraim Lessing im Kulturellen Gedächtnis – Materialien zur Rezeptionsgeschichte«. Den Bänden ist jeweils in einem einleitenden Teil ein Beitrag zu Rolle und Aufbau der Schulprogrammschriften vorangestellt. 10 Korte, Hermann: Innenansichten der Kanoninstanz Schule. Die Konstruktion des deutschen Lektürekanons in Programmschriften des 19. Jahrhunderts. In: Ders.; Zimmer, Ilonka; Jakob, Hans-Joachim: »Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten«. Kanoninstanz Schule. Eine Quellenauswahl zum deutschen Lektürekanon in Schulprogrammen des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M.: Lang 2005, S. 17–112, hier: S. 22, 28.
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
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system mit entsprechenden Rechten und Privilegien verlangte. In diesem System hatte die klassische Bildung ihren neuen gesellschaftlichen Ort gefunden«.11
Vor diesem Hintergrund musste der Deutschunterricht erst seinen Nachweis liefern, dass und welche Bildung durch ihn vermittelt werden konnte. Dabei stellte das damals neue Fach zunächst »keine Konkurrenz zum Studium der Antike« dar. Das sahen auch jene Befürworter des deutschen Unterrichts so, die schlichtweg die Tatsache akzeptierten, dass der Deutschunterricht im Vergleich zu Griechisch und Latein um das vier- bzw. fünffache zurück blieb. Die Vormachtstellung des altsprachlichen Kanons in den Gymnasien zeigt sich einmal mehr bei einer empirischen Erhebung, die die Wissenschaftlichen Beilagen der Schulprogramme nach dem Vorkommen von Autoren untersucht. An der Spitze stehen Homer (792 Beiträge), Cicero (717 Beiträge) und Platon (605 Beiträge). Dass Schiller, Goethe und Lessing gewissermaßen im Triumvirat zu Kanonautoren aufstiegen, lässt sich an der Zahl der Beiträge belegen: Zu Schiller finden sich in den Beilagen 418 Beiträge, zu Goethe 338 und zu Lessing 133. Dazwischen schiebt sich Luther mit 211 Beiträgen.
Abb. 1: Quelle: Eigene Erhebung
11 Ebd., S. 42.
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Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
III. Mit dem Musterlehrplan aus den 1860er Jahren – vorher waren Gervinus’ »Geschichte der poetischen Nationallitteratur der Deutschen« wie auch die Abfolge der Lesebücher von Hecker, Sulzer, Salzmann, Guths Muths, Campe, von Wilmsen und Schlez, dann Pestalozzi und Herbart, schließlich die maßgeblichen Sammlungen von Hiecke und Wackernagel maßgebend – setzte eine Öffnung in Richtung auf die deutsche Literatur und eine sukzessive Kanonbildung ein, die vom Nibelungenlied über Luther, Herder, Klopstock, Lessing, Goethe, Schiller reichte. Eine gewichtige Rolle bei der Popularisierung der deutschen Literatur spielten neben den Schulprogrammschriften auch erste fachdidaktische Schriften wie Robert Heinrich Hieckes umfassende Studie »Der deutsche Unterricht auf den Gymnasien. Ein pädagogischer Versuch« (1842).12 Dabei ging es Hiecke bei seinen Überlegungen zu einem deutschen Lektürekanon keineswegs nur darum, diesen im Gymnasium zu etablieren. Hiecke zielte auf eine breitere Öffentlichkeit und wandte sich auch an »den Erwachsenen«, an dem sich die Jugend orientieren würde. Für ihn war das »Ziel der Mündigkeit« aber inzwischen höher gesteckt und bedeutete neben dem »natürlichen Hören und Sprechen noch ein geistiges Hören, das Lesen, und ein geistigeres Sprechen, das Schreiben«.13 Korte verweist zu Recht darauf, dass mit dieser Argumentation, das »Lesen und Schreiben in der Muttersprache« der Separierung auf den »häuslichen Kreis« entzogen und zur Aufgabe der Schule erklärt wurde, mithin zu einem Bestandteil höherer Bildung avancierte.14 Die zweite Auflage von Hieckes Darstellung erschien 1872, zeitgleich mit einer für die weitere Entwicklung des deutschen Unterrichts wichtigen Schrift, nämlich Ernst Laas »Der deutsche Unterricht auf den Höheren Lehranstalten«.15 Laas betonte, dass seine Überlegungen aus der Geschichte des deutschen Geistes erwachsen seien, aber bisher nur zum Teil Eingang in die Unterrichtsgestaltung gefunden hätten. Einleitend ging er auf die Situation des Deutschunterrichts ein, der die »schwächste Stelle« an den Gymnasien sei und notierte: »Dass der deutsche Unterricht die schwächste Stelle unserer Gymnasien sei, dieses Urtheil klingt aus jeder schriftlichen oder mündlichen Erörterung über diesen Gegenstand immer wieder hervor. Und allerdings: nirgends mehr Unsicherheit und Ver-
12 Hiecke, Robert H.: Der deutsche Unterricht auf deutschen Gymnasien. Ein pädagogischer Versuch. Leipzig: Eisenach 1842. Zu Hiecke siehe die Einschätzung von Korte, Innenansichten der Kanoninstanz Schule. 2005, S. 29. Zu Hiecke siehe auch die Darstellung bei Herrlitz, HansGeorg: Der Lektüre-Kanon des Deutschunterrichts im Gymnasium. Heidelberg: Quelle & Meyer 1964. 13 Ebd., S. XI. 14 Ebd., S. XIf. Vgl. Korte, Die Innenansichten der Kanoninstanz Schule. 2005, S. 29. 15 Laas, Ernst: Der Deutsche Unterricht auf Höheren Lehranstalten. Berlin. Weidmannsche Buchhandlung 1872.
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
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worrenheit, mehr Schwanken und Willkür. Da ist keine allgemein angenommene Ansicht über Zweck, Ziel und Aufgabe dieser Disziplin, über ihre Stellung zu den übrigen Fächern; der Umfang des zu lehrenden ist nicht fest begrenzt; die Methoden variieren; an eine detaillirte (sic) Vertheilung der Pensa ist kaum gedacht«.16
Entsprechend bestand sein Ziel darin, in das »Chaos Ordnung zu bringen« sowie »Stetigkeit und Ruhe an die Stelle der auf und ab schwankenden Bewegung zu setzen.«17 Dazu sei es nötig, »feste Ausgangspunkte, allgemein anerkannte Principien« zu entwickeln. Um dies realisieren zu können, müssten es »feste Ausgangspunkte« und »allgemein anerkannte Principien geben«. Davon könne allerdings bislang keine Rede sein. Die Ansichten, die in pädagogischen Lehrbüchern, Zeitschriffen und Essais vertreten würden, seien auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen und dies zeige sich auch in den Ministerial-Rescripten, Directoren-Verhandlungen und Unterrichtsplänen. Daher vertrat Laas die Position, dass es für den deutschen Unterricht nur einen Satz geben, den man äußern könne, »ohne weirere Anfechtung zu erfahren« und der an die »Spitze einer methodischen Untersuchung« gestellt werden könne. Es wäre dies die Position, dass das, »was der deutsche Unterricht lehrt und einübt«, nicht »Theil einer Specialbildung« sei, »wie sie an Fachschulen erzielt wird, sondern Theil der ›allgemeinen Bildung‹«.18 Nachfolgend entwarf Laas dann sein Programm, das mit Luther einsetzte. Ausgehend von Luther machte er Vorschläge für das, was im Unter-Gymnaium, im Ober-Gymnaisum und in der Prima zu lesen sei. Für die Prima schlug er für ein Semester das Thema »Lessing in seiner Zeit« vor und setzte ihn in Bezug zu Klopstock. Dabei gab er folgende Orientierung: »Lessing ist zu betrachten 1) als »Kritiker, und zwar in doppelter Beziehung a) in sofern er das Schlechte und Mittelmäßige verurtheilt und allverbindliche Muster an die Stelle setzt, b) indem er scheidet, was widerrechtlich vermischt ist (so scheidet er z. B. Poesie von Philosophie, Relgion und Malerei), indem er vor Allem den Kern der Sache, das Wesen findet, durch Abscheidung des Aeusserlichen, Unwesentlichen und Zufälligen (so suchte er das Wesen des Dramas, der Fabel, des Epigramms von allem unnützen Beiwerk abzuscheiden); 2) als Dramatiker und Dramaturg.«19
Für Laas galt als bewiesen, dass Klopstock immer mehr »in den Staub (sinkt)«, während Lessings Werke »heute noch allgemein gelesen und bewundert werden«. Als Lessings Hauptwerke, die auch für den deutschen Unterricht Relevanz besitzen würden, nannte Laas folgende Texte: »die Litteraturbriefe 1759, Minna von Barnhelm 1763 (erschien 1767), Laokoon 1766, Hamburger Dramaturgie 1767– 1769, Emilia Galotti 1772, Theologische Streitschriften 1778, Nathan der Weise 16 17 18 19
Ebd., S. 1. Ebd. Ebd., S. 2. Ebd., S. 280.
102
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
1779, Erziehung des Menschengeschlechts 1780«, wobei er das Spektrum der zu behandelnden Texte bis 1772, mithin bis zur »Emila Galotti« führte.20 Im weiteren Verlauf lieferte Laas dann Hinweise zur Interpretation der jeweiligen Texte, die in Verbindung standen mit Aussagen zur Biographie Lessings, der Entstehungsgeschichte der Texte sowie ihres Bezugs zu anderen Autoren, ästhetischen und philosophischen Theorien Strömungen. Laas suchte dabei nachzuweisen, wie es zu einer »fortschreitenden Emanzipation von Gottsched« kommt und sich Lessings Poetologie herausbildet.21 »Minna von Barnhelm« war entsprechend für Laas die »vollendetste dichterische Leistung«, und er notiert: »nun war er der ›deutsche Molière‹; das Stück ist das erste echt nationale Schauspiel. In seiner Wirkung vergleichbar mit dem Messias, dem Götz, den Räubern, Hermann und Dorothea und Wilhlem Tell.«22 Schließlich stellt Laas – nachdem er sämtliche der anderen Texte von Lessing ausführlich ›besprochen‹ hat – zur »Emilia Galotti« die Frage, inwiefern der Text »eine Probe zur Hamburger Dramturgie« sei und bringt seinen Ansatz wie folgt auf den Punkt: »Ich breche ab. Man wird gesehen haben, was ich will: Die allererste Hauptsache ist, dass die Schüler von den Theilen der deutschen Literatur, die heute noch lebendig wirken und des Vaterlandes Stolz sind, wirklich etwas zu sehen bekommen, dass das wahrhaft Grosse ihnen in Kopf und Herz dringt. Die Lectüre braucht trotzdem nicht bis oben hinaus in die Klasse zu fallen. Wenn die Schule bis Obersecunda die Weise des Verfahrens vorgmacht hat, wenn sie die Annahme als, als bedürften deutsche Sachen der concentrierten Aufmerksamkeit, der Beachtung des Einzelnen, des gesammelten Studiums nicht, wirklich ausgerottet hat, wenn sie weiter die Auswahl bestimmt, wenn sie sich eine hinreichende Controle zu verschaffen weiss, so kann sie in Prima jedenfalls das Meiste zu Hause lesen lassen.«23
Die Frage nach der Rolle der Privatlektüre spielte im Rahmem der Entwicklung des deutschen Unterrichts auch in den nachfolgenden Jahrzehnten eine Rolle. Maßgeblich war die Darstellung von Laaas auch deshalb, weil sie die Notwendigkeit wie Dringlichkeit vorführte, die deutsche Literatur in das Zentrum des Unterrichts zu stellen und für das ›Was‹ und ›Wie‹ der Behandlung Vorschläge machte. Fast zehn Jahre später, 1881, wurde in einer für den Deutschunterricht maßgeblichen Darstellung weiterhin die aktuelle Situation des Faches beklagt. Otto Schneider, der seinem »Lehrplan für den Deutschen Unterricht. In der Prima Höherer Lehranstalten« ausdrücklich auf Laas Bezug nahm, setzte einmal mehr mit einer Beschreibung der seiner Ansicht nach diffusen Lage des Deutschunterrichts ein und notierte: »Denn es ist unglaublich, welch eine
20 21 22 23
Ebd. Ebd., S. 284. Ebd., S. 285. Ebd., S. 292–293.
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
103
Meinungsverschiedenheit noch heute in den weitesten Kreisen über die materiale und formale Aufgabe des deutschen Unterrichts herrscht.«24 Auch nach »Erscheinen der beiden berühmten Laasschen Werke« gebe es ganz diverse Hinweise dazu, was zu behandeln sei. Der eine plädiere dafür ein Semester lang Klopstocks »Messias« zu behandeln, der andere ziele auf ausgedehnte Shakespeare-Lektüre. Während auf der einen Seite, so Schneider, die »Einreichung allgemeiner ethischer Themata« gutgeheißen werde, würde von anderer Seite eine Streichung derselben angeregt. Explizit kritisierte Schneider die immer noch geringe Stundenzahl des Deutschunterrichts: »Noch heutzutage erregt mancher deutsche Lehrer, sobald er die Schüler auch im Deutschen zur Privatlektüre heranzuziehen wagt, das Erstaunen von Männern, welche bei zehn Stunden lateinischen Unterrichts noch recht viel Zeit für die Privatlectüre im Cicero und Livius beanspruchen. Zwei Stunden erachten ja diese oft als vollkommen ausreichend für das Deutsche in der Secunda«.25
Grundsätzlich ging Schneider davon aus, dass der »dreistündige Deutschunterricht« in der Prima nicht dazu da sei, »dem Zehnstundenlatein, überhaupt der alten Philologie mit ihrem ›grossen Magen‹ Handlangerdienste zu leisten«.26 Die Aufgabe des deutschen Unterrichts sah Schneider zunächst als eine materiale, das heißt, die »Schüler sollen eine Reihe von Schriften aus der deutschen Literatur kennen lernen und einen Einblick in die Entwicklung der letzteren gewinnen. Sodann sollen sie die wichtigsten Begriffe aus der Poetik, aus der Psychologie und Logik aufnehmen.«27 . Der Gewinn einiger Sätze aus der Rhetorik und Stilistik ist dabei kaum zu vermeiden (…).« Die Grundlage dieses »materialen Unterrichts« habe nach Schneider aber die deutsche Literatur und ihre Geschichte zu sein. »Diese muss (und sie gestattet es ohne Zwang)«, so Schneider, »zu Gunsten der Psychologie, der Poetik und Stilistik, also der Ästhetik, ferner der Ethik, und endlich der Logik und Rhetorik ausgebeutet werden.«28 Ausgehend davon baute Schneider einen Lehrplan mit vier aufeinanderfolgenden Semestern: Das LessingSemester, das Goethe-Semester, das Schiller-Semester und das Shakespeare-Semester, wobei das Lessing-Semester mit dem »Laokoon« und der »Hamburgischen Dramaturgie« die Grundlage für alle weitere »ästhetische Beurteilung« abgeben solle. Ohne diese beiden Texte von Lessing sei keine »ästhetische Kritik« möglich, zumal Goethe wie Schiller in ihrem Schaffen auf »Lessings Schultern« ständen.29 Schneider vertrat die Auffassung, dass alle anderen Erscheinungen der deutschen 24 Schneider, Otto: Ein Lehrplan für den Deutschen Unterricht. In der Prima Höherer Lehranstalten. Bonn: Eduard Webers Verlag 1881. 25 Ebd., S. 13. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 6. 28 Ebd., S. 7. 29 Ebd., S. 8.
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Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
Literatur bei vorhandener Zeit nur insoweit Behandlung finden könnten, wie sie »zu jenen Heroen in näherer Beziehung stehen und aus ihrer Betrachtung zugleich ein helleres Licht auf jene zurückstrahlt«.30 Danach solle es etwa bei Lessing darum gehen, sein Leben eingehend zu betrachten, wobei es vor allem auf die sittliche Erhebung ankomme.31 Ausdrücklich wandte er sich bei der Behandlung der Texte von Lessing gegen das »Streben nach jener bekannten philologischen Akribie, jener peinlichen Sorgfalt in gelehrter Erklärung des einzelnen«.32 Statt dessen komme es auf eine »möglichst umfassende, freilich doch gründliche Kenntnis der wichtigsten Werke und Verdienste Lessings« an. Die Behandlung der zumeist privat betriebenen Lektüre sei jedoch so zu verteilen, dass an geeigneten Stellen des Semesters Zeit für die zusammenhängende Klassenlektüre besteht. Das könnten dann »Emilia Galotti« oder »Minna von Barnhelm« sein. Grundsätzlich habe der Lehrer die Pflicht, dem Schüler neben »den anstrengenden Denkübungen auch einen poetischen Genuss zu verschaffen«.33 Ausgehend davon entwickelt Schneider dann Aufsatzthemen zu Lessing: »Welches sind die Merkmale antiker Kunst nach Lessings Laokoon und H. Dr.? Findet sich die antike Schicksalsidee in Lessings Emilia Galotti vertreten, und wie verhält sich Lessing überhaupt zu derselben? […] Ferner: wie ist über Lessings Selbstbeurteilung, er sei kein Dichter, zu denken? – Worin besteht die Bedeutung des Laokoon und der H. Dr. für die deutsche Literatur? – Friedrich des Grossen und Lessings nationale Bedeutung«.34
IV. Es ist mehrfach betont worden, wie fragwürdig es ist, aus Lehrplänen, Beschlüssen für Direktorenkonferenzen und Verfügungen auf die Unterrichtswirklichkeit zu schließen.35 Dies ist bis in die Gegenwart – soweit überschaubar – in Teilen der Bildungsforschung und Pädagogik der Fall. Statt dessen ist in 30 Ebd. 31 Für das Lessing-Semester selbst schlug Schneider vor, mit einem allgemeinen Überblick über die deutsche Literatur zu beginnen. Dabei habe die Sichtung unter der Maßgabe zu erfolgen, »dass alle Punkte deutlich in die Augen springen, an welchen Lessings bahnbrechende und reformatorische Tätigkeit anhebt« (ebd., S. 22). Danach solle es darum gehen, Lessings Leben eingehend zu betrachten, wobei es vor allem auf die sittliche Erhebung ankomme. Die Lektüre von Lessings Schriften sollte sich über das ganze Semester erstrecken. Dabei war angedacht, in den ersten sechs Wochen die Privatlektüre des »Philotas«, der »Minna von Barnhelm« und der »Emilia Galotti« zu schaffen. Schneider warnte zudem davor, die Klassenlektüre mit nur einem Text auszufüllen. 32 Ebd., S. 23. 33 Ebd., S. 25. 34 Ebd. 35 Siehe dazu den Beitrag des Verf. sowie den von Norman Ächtler in diesem Band. Siehe auch den Beitrag von Korte, Innenansichten der Kanoninstanz Schule. 2005, S. 42.
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
105
literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungen auf die Rolle der Schulprogramme verwiesen worden, die Auskunft darüber geben, was an den jeweiligen höheren Schulen Unterrichtsstoff war und – das ist von herausgehobener Bedeutung – welche ›Deutungen‹ sich mit Blick auf die Autoren und ihre Texte durchsetzten. Die Schulprogramme lassen Rückschlüsse über das ›wirkliche Schulleben‹ und den Deutschunterricht zu. Dabei liefern die Jahresberichte nicht nur Informationen über den Schulalltag, sondern auch Erkenntnisse über den Prozess von Kanonisierung etwa von Lessing, Goethe, Schiller. Anders gesagt: Eine präzise Durchsicht der Schulprogramme macht es möglich, Hinweise darüber zu erhalten, ab wann und gegebenenfalls wie lange Autoren im Deutschunterricht kanonisiert wurden, wann ihre Dekanonisierung einsetzte, sie also nicht mehr behandelt wurden oder wie konkret es um den ›materialen Kanon‹ oder den Deutungskanon bestellt war. Um derartige Erkenntnisse zu gewinnen, ist allerdings ein zeitaufwendiger Prozess der Durchsicht der Schulprogramme einzelner Gymnasien notwendig. Die nachfolgende empirische Erhebung, die Ergebnisse der Untersuchung der Schulprogramme von lediglich drei hessischen Gymnasien vorstellt, liefert am Beispiel der einsetzenden Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller Hinweise darauf, welche Erkenntnisse sich aus einer dezidierten Sichtung der Schulprogramme ziehen lassen. Zur besseren Übersicht werden die Ergebnisse zu den drei Gymnasien nacheinander präsentiert.36
Gymnasium Bensheim Die erste Periode der Bensheimer Schulgeschichte umfasst den Zeitraum von 1686 bis 1804, sie beginnt mit der Gründung der lateinischen Schule und reicht bis zu ihrer Erweiterung zu einem Gymnasium. Am 3. Oktober 1685 wurde durch das erzbischöfliche Generalvikariat eine erste Urkunde verfasst, in der das Vorhaben der Schulgründung in Bensheim fixiert war. In der Folge kam es ein Jahr später, 1686, zur Eröffnung einer lateinischen Schule, die als lateinische Mittelschule ausgewiesen wurde. Die Schule sollte zunächst nur aus den beiden untersten Klassen bestehen. Doch blieb es nicht bei diesem Plan, so dass die neue Anstalt letztlich die vier untersten Klassen erhielt. Die Schülerzahlen wuchsen kontinuierlich, von zunächst etwa 30 Schülern auf fast 70, was die Folge hatte,
36 Die nachfolgenden Daten sind der materialreichen Staatsexamensarbeit von Michaela LeonNeuhaus entnommen. Siehe Dies.: Kanonautoren im Deutschunterricht – untersucht an Schulprogrammen von hessischen Gymnasien im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Gießen 2007. Leon-Neuhaus hat in ihrer Arbeit die Schulprogrammschriften von elf hessischen Gymnasien erfasst und ausgewertet.
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Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
dass es zur Umwandlung in ein Gymnasium kam.37 Die Lehrgegenstände bildeten die Fächer Religion, Deutsch, Latein, Griechisch, Ästhetik, Dicht- und Redekunst, Mythologie, Mathematik, Erdbeschreibung, Geschichte, Naturgeschichte und Psychologie.38 Betrachtet man die Lehrpensen im Fach Deutsch, so war am Bensheimer Gymnasium eine Wochenstundenzahl von jeweils drei Stunden in der Prima und der Sekunda vorgesehen. Ab 1878 wurden die Klassen in Halbjahre unterteilt. In der Prima blieb dabei die Wochenstundenzahl von jeweils drei Stunden sowohl im Oster- als auch im Michaelishalbjahr erhalten. In der Sekunda hingegen kam es zur Reduzierung der Stundenzahl, so dass dem Deutschunterricht in beiden Halbjahren jeweils nur noch zwei Wochenstunden zustanden. Dies galt auch für die Tertia, in der je zwei Stunden Deutsch pro Woche unterrichtet wurden. Ab dem Jahr 1891 finden sich in den Schulprogrammen keine Angaben mehr zur Wochenstundenzahl, sodass auf dieser Basis keine weiteren Rückschlüsse über die Lehrpensen gezogen werden können. Für das Fach Deutsch wurden folgende Lehrbücher eingesetzt: Jahr ab 1861 ab 1880 ab 1884 ab 1886 ab 1892 ab 1894 ab 1897 ab 1929
Titel der Lesebücher Bone’s Lesebuch Masius Lesebuch Linnig Paldamus deutsches Lesebuch Paldamus deutsches Lesebuch und Hieckes Lesebuch Paldamus deutsches Lesebuch und Lesebuch von Dadelsen Lesebuch von Dadelsen und Lesebuch von Hense Deutsches Erbe, Lesebuch für höhere Knabenanstalten
Abb. 2
Bei der Betrachtung des Unterrichtsstoffes im Fach Deutsch ergibt sich folgendes Bild, das nachfolgend jeweils in Tabellen zusammengefasst wird: Es fällt auf, dass erst ab dem Jahr 1890 eine Kontinuität im behandelten Unterrichtsstoff erkennbar ist. Mitverantwortlich für die Veränderungen sind mit einiger Wahrscheinlichkeit die Schulreformen im höheren Schulwesen im ausgehenden 19. Jahrhundert.39 Erst in einem längeren Prozess kam es zur Kanonisierung von Goethe, Schiller und Lessing, die letztlich den Kernkanon konstituierten.
37 Vgl. Programm des Großherzoglichen Gymnasiums zu Bensheim für das Schuljahr 1886– 1887. Programm-Nummer 582. Druck: Brill in Darmstadt 1887, S. 12ff. 38 Ebd., S. 33. 39 Vgl. Korte, Innenansichten der Kanoninstanz Schule. 2005, S. 45.
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Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
1851 1852 1861 1866 1867 1868 1869 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881 1882
Unterrichtsstoff zu Goethe, Bensheim
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Die Leiden des jungen Werthers X X X
X
X
Faust I
X
Egmont Faust II GedichteA
X
Götz von Berlichingen
X X
X
X X X
Iphigenie auf Tauris
X
Hermann & Dorothea Italienische Reise JugendlyrikA X
X
LiteraturgeschichteB LyrikA
X
Lyrische StückeA Schweizreise X
X
Torquato Tasso
X
Stücke GoethesA
108
1883 1884 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit
X X X X X X X X X X
Die Leiden des jungen Werthers
X X X X X X X X
Egmont
X X X X X X X X X
Faust I Faust II X X
GedichteA
X
Götz von Berlichingen
X
X X X X X X X X X
Hermann & Dorothea
X X X
X X X X X X X X X X
X
X X X X X X X X X X
X X X X
X X
X
Iphigenie auf Tauris Italienische Reise JugendlyrikA
X
LiteraturgeschichteB LyrikA Lyrische StückeA Schweizreise Stücke GoethesA
X X X X X X X X
X
X
Torquato Tasso
109
1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1917
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
X X X X X X X X X X X X X X X
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Die Leiden des jungen Werthers
X
X X X X X X X X X
Egmont Faust I
X
Faust II GedichteA
X X X X X X X X X X X X
Götz von Berlichingen
X X X X X X X X X X X X X X X
Hermann & Dorothea
X X X X X X X X X X X X X X X
Iphigenie auf Tauris
X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X
JugendlyrikA LiteraturgeschichteB LyrikA Lyrische StückeA X
Schweizreise Stücke GoethesA
X X
X
X
X X X X
Torquato Tasso
X
Italienische Reise
110
1926 1927 1928 1929
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit
X X X
Die Leiden des jungen Werthers
X X
Egmont
X X X
Faust I
X X X
Faust II
X X X X
GedichteA Götz von Berlichingen
X X X
Hermann & Dorothea
X X X X X
Iphigenie auf Tauris Italienische Reise
X
X
JugendlyrikA LiteraturgeschichteB
X
LyrikA Lyrische StückeA Schweizreise Stücke GoethesA Torquato Tasso
Abb. 3: Unterrichtsstoff Bensheim: Goethe, Quelle: Eigene Erhebung
Wie Abbildung 3 zeigt, gab es anfangs noch keinen festen Lektürekanon. Erst ab 1890 rückt Goethe mit Texten wie »Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit«, »Götz von Berlichingen«, »Hermann und Dorothea« und »Iphigenie auf Tauris« ins Zentrum, während »Faust I« und »Faust II« kaum Beachtung fanden. Auch die Lektüre von Schiller fand zunächst sehr unregelmäßig statt. Lediglich »Die Braut von Messina« und »Wallenstein« finden sich häufiger im Lehrplan. Kontinuität wurde jedoch auch hier erst später erzielt. Ab 1890 kamen Texte wie »Das Lied von der Glocke« und »Wilhelm Tell« zum Lektürekanon hinzu und ab 1900 wurde dieser dann durch »Die Räuber«, »Kabale und Liebe« und »Die Verschwörung des Fiesco zu Genua« erweitert. Wenig beachtet blieben hingegen die »Maria Stuart« und »Die Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung« (vgl. Abb. 4).
111
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
1851 1852 1861 1866 1867 1868 1869 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881 1882 1883 1884
Unterrichtsstoff zu Schiller, Bensheim
X
BalladenA Briefe über Don Carlos
X X
X X X X
X X
Die Jungfrau von Orleans
X
X
Die Braut von Messina
X
Das Lied von der Glocke Der Dichter Schiller (Leben und Werke)
Die Räuber Die Verschwörung des Fiesco zu Genua Don Carlos X
DramenA GedankenlyrikA
X
X
X
GedichteA Geschichte des Abfalls der NiederlandeE JugenddramenA JugendlyrikA Kabale und Liebe Kleinere AbhandlungenA X X
X
X
Maria Stuart
X X
X
Lyrische GedichteA
X
X
X
LiteraturgeschichteB
Philosophische GedichteA X
Prosaische SchriftenA
X X
X
X
X X
Wallensteins Lager
X
WallensteinC
X
Stücke SchillersA Über naive und sentimentalische Dichtung
Wallenstein-Trilogie X
X X
X
X
Wilhelm Tell
112
1886 1887 1888 1889 1890 1891 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
BalladenA X X X X X X X X X X
X X
X
Die Jungfrau von Orleans
X X X X X X X X X X X
Die Braut von Messina
X
X X X X X X
X X
X X
Die Räuber Die Verschwörung des Fiesco zu Genua
X
X X X X X X X
Das Lied von der Glocke Der Dichter Schiller (Leben und Werke)
X X X X X
Briefe über Don Carlos
X X X
X X
X X
Don Carlos
X X X X X X X X X X X
X X
DramenA
X
GedankenlyrikA X X X X X X X X X X X X X
X
X
GedichteA Geschichte des Abfalls der NiederlandeE JugenddramenA JugendlyrikA
X X X X X X X
Kleinere AbhandlungenA X X
LiteraturgeschichteB Lyrische GedichteA
X
Maria Stuart
X X
Kabale und Liebe
Philosophische GedichteA Prosaische SchriftenA Stücke SchillersA Über naive und sentimentalische Dichtung
X X X X X X X X X X X X X X X X X X
WallensteinC Wallensteins Lager
X X X X X X X X X X X
Wilhelm Tell
X
Wallenstein-Trilogie
113
1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1917 1926 1927 1928 1929
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
BalladenA Briefe über Don Carlos
X
X X X X X X X X X X X X
X
X
X
X X X X X X X X X X X
X
X X X X X X X X X X X
X
X X X X X X X X X X X
X X X
Don Carlos
X X X
Die Räuber Die Verschwörung des Fiesco zu Genua
X
Die Jungfrau von Orleans
X X X X X X X X X X X
Die Braut von Messina
X
Das Lied von der Glocke Der Dichter Schiller (Leben und Werke)
DramenA X
GedankenlyrikA X X X X X X X X X X X X
GedichteA Geschichte des Abfalls der NiederlandeE JugenddramenA
X
JugendlyrikA
X
Kabale und Liebe
X X X
X
X X X X X X X X X X X
Kleinere AbhandlungenA LiteraturgeschichteB Lyrische GedichteA X
X
X X
X
Maria Stuart Philosophische GedichteA Prosaische SchriftenA Stücke SchillersA Über naive und sentimentalische Dichtung
X X X X X X X X X X X
X X X
X X X X X X X X X X X
X X X
WallensteinC Wallensteins Lager Wallenstein-Trilogie Wilhelm Tell
Abb. 4: Unterrichtsstoff Bensheim: Schiller, Quelle: Eigene Erhebung
114
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
Auch Lessing wurde erst ab 1890 im Deutschunterricht häufiger behandelt. Dabei standen vor allem »Emilia Galotti«, »Minna von Barnhelm« sowie der »Laokoon« im Zentrum, die »Abhandlung über die Fabel« sowie »Nathan der Weise« verloren statt dessen an Bedeutung (vgl. Abb. 5).
1851 1852 1861 1866 1867 1868 1869 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881 1882 1883 1884
Bensheim
X
X
Abhandlung über die Fabel Dramaturgie Emilia Galotti Hamburgische Dramaturgie Laokoon Literaturgeschichte B Minna von Barnhelm Nathan der Weise
X
1886 1887 1888 1889 1890 1891 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904
X X X X X
X
X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X
X X
1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1917 1926 1927 1928 1929
X X X X X X X X X X X X X X X
Abhandlung über die Fabel Dramaturgie Emilia Galotti Hamburgische Dramaturgie Laokoon Literaturgeschichte B Minna von Barnhelm Nathan der Weise
X X X X X X X X X X
X X X X X X X X X X
X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X
X X X X X
Abhandlung über die Fabel Dramaturgie Emilia Galotti Hamburgische Dramaturgie Laokoon Literaturgeschichte B Minna von Barnhelm Nathan der Weise
Abb. 5: Unterrichtsstoff Bensheim: Lessing, Quelle: Eigene Erhebung
115
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
Fragt man nach den Aufsatzthemen im Fach Deutsch, so lässt sich sagen, dass sich auch hier erst ab 1890 ein fester Kanon am Gymnasium in Bensheim zu etablieren begann, der entsprechend auf Goethe, Schiller und Lessing bezogen war.
1851 1852 1861 1866 1867 1868 1869 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881
Aufsatzthemen zu Goethe, Bensheim
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Das Göttliche X X
X
X
Der Zauberlehrling Die Leiden des jungen Werthers Egmont X
FaustC Ganymed Goethe im Vergleich mit … Goethe und Schiller (Freundschaft, Zusammenleben) Götz von Berlichingen Hermann und Dorothea Iphigenie auf Tauris Torquato Tasso Über Lessings Minna von Barnhelm
X
Gesang der Geister über den Wassern
X
Ausspruch Goethes Der Dichter Goethe (Einflüsse, Entwicklung)
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
1882 1883 1884 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1893 1894 1895 1896 1897 1898
116
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit
X
Das Göttliche
X X X X
X
Ausspruch Goethes Der Dichter Goethe (Einflüsse, Entwicklung) Der Zauberlehrling
X X
X X X
Egmont
X
Die Leiden des jungen Werthers FaustC
X
Ganymed Gesang der Geister über den Wassern X
Goethe im Vergleich mit … Goethe und Schiller (Freundschaft, Zusammenleben)
X X X
Götz von Berlichingen
X X X
Hermann und Dorothea
X X X X X X X
Iphigenie auf Tauris
X X X X X
Über Lessings Minna von Barnhelm
X X
Torquato Tasso
117
1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Das Göttliche X X
X X
X
Ausspruch Goethes Der Dichter Goethe (Einflüsse, Entwicklung) Der Zauberlehrling Die Leiden des jungen Werthers
X X X X
X
Egmont FaustC Ganymed Gesang der Geister über den Wassern
X
Goethe im Vergleich mit … Goethe und Schiller (Freundschaft, Zusammenleben) Götz von Berlichingen
X X X X X X X
Hermann und Dorothea
X X
X
X
X
Über Lessings Minna von Barnhelm
X X X X
Torquato Tasso
X X X X
Iphigenie auf Tauris
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
1914 1915 1917 1926 1927 1928 1929
118
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Das Göttliche Ausspruch Goethes Der Dichter Goethe (Einflüsse, Entwicklung) Der Zauberlehrling Die Leiden des jungen Werthers Egmont FaustC Ganymed Gesang der Geister über den Wassern Goethe im Vergleich mit … Goethe und Schiller (Freundschaft, Zusammenleben) Götz von Berlichingen Hermann und Dorothea Iphigenie auf Tauris Torquato Tasso Über Lessings Minna von Barnhelm Abb. 6: Aufsatzthemen Bensheim: Goethe, Quelle: Eigene Erhebung
Aus Abbildung 6 geht hervor, dass den inhaltlichen Schwerpunkt der Aufsätze Goethes »Egmont«, »Götz von Berlichingen«, »Hermann und Dorothea« sowie »Iphigenie auf Tauris« bildeten. Richtet man den Blick in diesem Zusammenhang noch einmal auf Abbildung 11, so zeigt sich, dass sich zu jenen Texten von Goethe, die kontinuierlich im Unterricht thematisiert wurden, auch vermehrt Aufsatzthemen finden. Eine Ausnahme bildet »Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit«, das zwar in fast allen Jahrgängen gelesen wurde, aber als Aufsatzthema kaum eine Rolle spielt (vgl. hierzu Abb. 14). Anders gestaltete sich dies bei den Aufsatzthemen zu Schiller. Texte, die im Unterricht eine zentrale Stellung einnahmen, traten als Aufsatzthema fast gänzlich zurück. Dies betraf etwa »Das Lied von der Glocke« oder »Die Braut von Messina«. Lediglich »Don Carlos«, »Wallenstein« und »Wilhelm Tell« sind Themen von Deutschaufsätzen (vgl. Abbildung 7).
119
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
1851 1852 1861 1866 1867 1868 1869 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881 1882 1883 1884
Aufsatzthemen zu Schiller, Bensheim
X X X
X
X
1886 1887 1888 1889 1890 1891 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904
X
An die Freude Ausspruch Schillers Das Lied von der Glocke Das Siegesfest Der Spaziergang Die Braut von Messina Die Jungfrau von Orleans Die Werte des Glaubens Don Carlos Eleusisches Fest JugenddramenA Die Piccolomini Über Goethes Egmont WallensteinC Wallensteins Lager Wilhelm Tell
X X X
X
X X
X
X X X X X X X X
X X X X
X
X
X X X X X X X X X X X X X X X X
X
X X
X
An die Freude Ausspruch Schillers Das Lied von der Glocke Das Siegesfest Der Spaziergang Die Braut von Messina Die Jungfrau von Orleans Die Werte des Glaubens Don Carlos Eleusisches Fest JugenddramenA Die Piccolomini Über Goethes Egmont WallensteinC Wallensteins Lager Wilhelm Tell
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1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1917 1926 1927 1928 1929
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
X X X X X
An die Freude Ausspruch Schillers Das Lied von der Glocke Das Siegesfest Der Spaziergang Die Braut von Messina Die Jungfrau von Orleans Die Werte des Glaubens Don Carlos Eleusisches Fest JugenddramenA Die Piccolomini Über Goethes Egmont WallensteinC Wallensteins Lager Wilhelm Tell
Abb. 7: Aufsatzthemen Bensheim: Schiller, Quelle: Eigene Erhebung
Auch bei einem Blick auf die Aufsatzthemen zu Lessing zeigt sich, dass nicht aus jeder Unterrichtslektüre ein Aufsatzthema wurde. Zwar nahmen »Emilia Galotti« und »Minna von Barnhelm« auch als Themata der Aufsätze eine zentrale Stellung ein, dagegen kam dem »Laokoon« als Aufsatzthema kaum noch Bedeutung zu (vgl. Abbildung 8).
1851 1852 1861 1866 1867 1868 1869 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881 1882 1883 1884 1886 1887
Lessing, Bensheim
Der Dichter Lessing (Leben und Werke) Emilia Galotti Hamburgische Dramaturgie Laokoon Minna von Barnhelm Nathan der Weise
121
1888 1889 1890 1891 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
X X
X X X X
X
Hamburgische Dramaturgie
X X X X
X
Emilia Galotti
X
X X
X X X X
Minna von Barnhelm
X X X X X X X X X X
Laokoon
X X
Der Dichter Lessing (Leben und Werke)
X 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1917 1926 1927 1928 1929
Nathan der Weise
Der Dichter Lessing (Leben und Werke) Emilia Galotti Hamburgische Dramaturgie Laokoon Minna von Barnhelm Nathan der Weise Abb. 8: Aufsatzthemen Bensheim: Lessing, Quelle: Eigene Erhebung
Fasst man die Ergebnisse für das Bensheimer Gymnasium in Zahlen zusammen, so erhält man folgende Übersicht40: Goethe Schiller Lessing Unterrichtsstoff Aufsatz Unterrichtsstoff Aufsatz Unterricht Aufsatz Anzahl der 228 Beiträge
72
299
52
117
32
Abb. 9: Summe aller Beiträge bezüglich Kanonautoren in Bensheim 40 Sowohl der Spalte ›Unterricht‹ als auch der Spalte ›Aufsatz‹ ist zu entnehmen, wieviele Texte des jeweiligen Autors (entweder Goethe, Schiller oder Lessing) im Unterricht thematisiert worden sind beziehungsweise wieviele zum Thema eines Aufsatzes gemacht wurden.
122
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
Zu Goethe finden sich 228 Einträge über die Behandlung im Unterricht und 72 Aufsatzthemen, zu Schiller sind es 299 Einträge und 52 Aufsatzthemen und zu Lessing wiederum 117 Beiträge und 32 Schulaufsatzthemen. Zusammenfassend lässt sich für das Bensheimer Gymnasium belegen, dass es verstärkt ab 1890 zu einer beginnenden Kanonisierung von Schiller und Goethe kam, wobei Lessing – zahlenmäßig betrachtet – mit der Dominanz der beiden Klassiker nicht Schritt halten konnte.
Gymnasium Fulda In der Mitte des 8. Jahrhunderts wurde die Gelehrtenschule in Fulda gegründet. Sie existierte bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts, verlor jedoch in diesem Zeitraum an Bedeutung. Zur Wiederbelebung des höheren Schulwesens rief Balthasar von Dernbach 1571 die Jesuiten ins Land, die ein Gymnasium eröffneten, das aus fünf Klassen bestand. Diese Anstalt gelangte bald zu größerem Ansehen.41 Nach der Aufhebung des Jesuitenordens 1773 fiel das Gymnasium an den Diözesanklerus und wurde als Hochfürstliches Gymnasium der Leitung des Benediktinerkonvents unterstellt. Nach der Verordnung von 1774 bestand das Gymnasium aus vier Jahrgängen, in denen die Lehrgegenstände Sprachen (Deutsch, Griechisch, Latein und Französisch), Religion, Rede- und Dichtkunst, Geschichte verbunden mit Erdkunde und Chronologie, Naturgeschichte und Naturlehre sowie Mathematik vermittelt wurden.42 Als infolge der Säkularisation im Herbst 1802 Erbprinz Wilhelm von Oranien-Nassau das Fürstentum Fulda in Besitz nahm, errichtete er im Oktober 1805 eine neue höhere Lehranstalt unter dem Namen Lyzeum und setzte dieses mit dem schon bestehenden Gymnasium in Verbindung. Diese beiden vereinigten Schulen wurden ab 1835 Kurfürstlich Hessisches Gymnasium geführt.43 Das Lehrerkollegium bestand zu dieser Zeit neben dem Direktor aus 11 wissenschaftlichen Lehrern, einem Zeichen- und einem Schreiblehrer, die Sprachen und Wissenschaften (Griechisch, Latein, Deutsch, Französisch, Religionslehre, Geschichte, Erdkunde, Physik sowie Naturlehre, Mathematik und Arithmetik) und Fertigkeiten (Gesang, Zeichnen und Turnen) unterrichteten.44 Betrachtet man die Lehrpensen, so gab es am Gymnasium in Fulda keine Steigerung der Wochenstundenzahl für Deutsch, sondern 41 Vgl. Programm des Königlichen Gymnasiums zu Fulda. Festschrift zur Gedenkfeier des 100jährigen Bestehens der Anstalt seit ihrer Neugestaltung. Fulda: Druck der Fuldaer Actiendruckerei 1905, S. 1. 42 Ebd., S. 18. 43 Ebd., S. 1. 44 Ebd., S. 27.
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
123
eine allmähliche Reduzierung. In der Prima wurden zunächst vier Stunden Deutsch pro Woche und in der Sekunda und Tertia jeweils drei Stunden erteilt. Während die Wochenstundenzahl in der Sekunda weitgehend erhalten bliebt, kam es in der Prima im Jahre 1887 zu einer Reduzierung um eine Stunde. Dies galt auch für die Tertia, in der im Laufe der Zeit ebenfalls nur noch zwei Stunden Deutsch unterrichtet wurden. Der nachfolgenden Abbildung kann man entnehmen, welche Lehrbücher im Deutschunterricht des Gymnasiums zu Fulda eingesetzt worden sind: Jahr ab 1840 ab 1848 ab 1852 1865 1866 ab 1867 ab 1875 ab 1898
Titel der Lesebücher Oltrogges Bachs Lesebuch, Grammatik nach Götzinger sowie die Grammatik nach Kämper Bachs Lesebuch und Grammatik nach Kämper Hopf und Paulsieks Lesebuch und Bachs Lesebuch Hopf und Paulsieks Lesebuch, Bachs Lesebuch sowie Wendts Grundriss Hopf und Paulsieks Lesebuch und Wendts Grundgriss Hopf und Paulsieks Lesebuch Hopf und Paulsieks Lesebuch, neu bearbeitet von Muff
Abb. 10: Lehrbücher Fulda
Zunächst wurden am Gymnasium in Fulda im Deutschunterricht »Hermann und Dorothea« von Goethe behandelt, bevor ab dem Jahre 1890 »Egmont« und »Götz von Berlichingen« hinzukamen. Unbeachtet blieben auch hier »Faust I« und »Faust II« sowie der »Urfaust« (vgl. Abbildung 11). Bei der Betrachtung der Abbildung 12 fällt auf, dass sich zunächst nur ein Text von Schiller gehäuft im Unterricht durchsetzen konnte, nämlich »Wilhelm Tell«. Erst ab 1890 kamen »Die Braut von Messina« und »Die Jungfrau von Orleans« als Unterrichtsschwerpunkte hinzu. Selten im Unterricht thematisiert blieben dagegen die »Die Räuber« und »Don Carlos«. Die Thematisierung Lessings im Deutschunterricht setzte erst ab Mitte der 1880er Jahre ein. Zunächst wurde der »Laokoon« zum Unterrichtsgegenstand, bevor 1890 »Emilia Galotti« und »Minna von Barnhelm« hinzukamen. Weitgehend unbeachtet blieben »Wie die Alten den Tod gebildet« und der »Philotas« (vgl. hierzu Abbildung 13).
124
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
1836 1837 1839 1840 1843 1848 1852 1853 1854 1855 1856 1857 1858 1859 1860 1861
Unterrichtsstoff zu Goethe, Fulda
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller Der Dichter Goethe (Leben und Werke)
X
Die Leiden des jungen Werthers DramenA Egmont FaustC Faust I Faust II GedankenlyrikA GedichteA Götz von Berlichingen Hermann und Dorothea
X
X
Iphigenie auf Tauris
X
X
X
X
X
X
LyrikA Lyrische GedichteA Romantische DichtungenA Urfaust
X
Torquato Tasso
125
1862 1863 1864 1865 1866 1867 1868 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875 1876 1877
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller Der Dichter Goethe (Leben und Werke) Die Leiden des jungen Werthers DramenA Egmont FaustC Faust I Faust II GedankenlyrikA X
GedichteA Götz von Berlichingen
X
X
X
X X
Urfaust
X
Torquato Tasso
X
Romantische DichtungenA
X
Lyrische GedichteA
X
LyrikA
X
Iphigenie auf Tauris
X
Hermann und Dorothea
126
1878 1879 1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller Der Dichter Goethe (Leben und Werke)
X
Die Leiden des jungen Werthers DramenA X
Egmont FaustC Faust I Faust II GedankenlyrikA GedichteA Götz von Berlichingen X
X X X X X X X X X X X
X
X
X X
X
X
X
Iphigenie auf Tauris
X X
Hermann und Dorothea LyrikA
X
Lyrische GedichteA Romantische DichtungenA Urfaust
X
Torquato Tasso
127
1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
X X X X X X X X X
X X X X
X
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller Der Dichter Goethe (Leben und Werke) Die Leiden des jungen Werthers DramenA
X X X X
X X X X X X X X
Egmont FaustC Faust I Faust II
X
X
X
GedichteA
X X X X
X X X X X X X X X
X X X X X X X
X X X X X X X X
Iphigenie auf Tauris
X X X X X X
Hermann und Dorothea
X X
Götz von Berlichingen
X X X X X
GedankenlyrikA
LyrikA
X X X X X X X
Lyrische GedichteA Romantische DichtungenA
X
X
X
Urfaust
X X X X
Torquato Tasso
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
1910 1911 1912 1913 1914 1915 1925 1926 1927 1928 1929
128
X X
X
X X X X X
DramenA
X
Die Leiden des jungen Werthers
X X
X
X
X X X X
Egmont
X
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller Der Dichter Goethe (Leben und Werke)
FaustC Faust I
X
Faust II
X X
GedankenlyrikA GedichteA
X
Götz von Berlichingen
X
X X X X X
X
X X X
X
X
LyrikA X
X
Lyrische GedichteA Romantische DichtungenA
X X
Urfaust
X X
Torquato Tasso
Abb. 11: Unterrichtsstoff Fulda: Goethe, Quelle: Eigene Erhebung
X
Iphigenie auf Tauris
X
Hermann und Dorothea
129
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
1836 1837 1839 1840 1843 1848 1852 1853 1854 1855 1856 1857 1858 1859 1860 1861 1862 1863
Unterrichtsstoff zu Schiller, Fulda
BalladenA Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe Das Ideal und das Leben Das Lied von der Glocke Demetrius Der Dichter Schiller (Leben und Werke) Der Spaziergang X
X
Die Braut von Messina
X
Die Jungfrau von Orleans Die Künstler Die Räuber Die Verschwörung des Fiesco zu Genua Don Carlos FrauentragödienA GedankenlyrikA X
GedichteA JugenddramenA Kabale und Liebe Lyrische GedichteA
X
X
Maria Stuart Philosophische GedichteA
X
X
X
WallensteinC Wallenstein-Trilogie
X X
X
X
Wilhelm Tell
130
1864 1865 1866 1867 1868 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
BalladenA Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe X
Das Ideal und das Leben Das Lied von der Glocke Demetrius Der Dichter Schiller (Leben und Werke)
X
Der Spaziergang Die Braut von Messina Die Jungfrau von Orleans
X
X
Die Künstler Die Räuber Die Verschwörung des Fiesco zu Genua Don Carlos
X
FrauentragödienA GedankenlyrikA X
X
GedichteA JugenddramenA Kabale und Liebe Lyrische GedichteA Maria Stuart Philosophische GedichteA
X
X
X
X
X
X
WallensteinC Wallenstein-Trilogie
X
X
X
X
X
X
X
X
Wilhelm Tell
131
1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
BalladenA Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe Das Ideal und das Leben X X
X X
X
Das Lied von der Glocke
X
Demetrius Der Dichter Schiller (Leben und Werke)
X X X X
Der Spaziergang X X
X X X X X X X
X X
X
X X
X
Die Jungfrau von Orleans X
Die Künstler
X X X
Die Braut von Messina
Die Räuber Die Verschwörung des Fiesco zu Genua Don Carlos FrauentragödienA X
X X X X X
GedankenlyrikA GedichteA JugenddramenA Kabale und Liebe X
X
X
X
X X
Maria Stuart
X
Lyrische GedichteA Philosophische GedichteA
X X X X
X X
X
X
X
WallensteinC Wallenstein-Trilogie
X X X X X X X X X X X X X X X X X X
Wilhelm Tell
132
1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1925 1926
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
BalladenA Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe
X
Das Ideal und das Leben X X
X X X X X X X
X
X X X X X X X
X
X
X
X X
X X
Das Lied von der Glocke Demetrius Der Dichter Schiller (Leben und Werke) Der Spaziergang
X X
Die Jungfrau von Orleans
X X X X X X X X X X
Die Braut von Messina Die Künstler
X X X
X
X
X
X X
X X
Die Räuber Die Verschwörung des Fiesco zu Genua
X
Don Carlos FrauentragödienA
X
X X X X
X X
GedankenlyrikA GedichteA
X
JugenddramenA
X
X X X X
X
Kabale und Liebe Lyrische GedichteA
X
Maria Stuart
X
X X X X X X X X
Philosophische GedichteA
X
X X
X X X X X X X X X X X X X X X
X X
Wilhelm Tell
X
Wallenstein-Trilogie
X X
WallensteinC
1927 1928 1929
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
X X
BalladenA Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe Das Ideal und das Leben
X X X
Das Lied von der Glocke Demetrius Der Dichter Schiller (Leben und Werke) Der Spaziergang Die Braut von Messina
X X X
Die Jungfrau von Orleans Die Künstler Die Räuber Die Verschwörung des Fiesco zu Genua
X
Don Carlos
X
FrauentragödienA X
X
GedankenlyrikA GedichteA
X
JugenddramenA X
Kabale und Liebe Lyrische GedichteA Maria Stuart
X X
WallensteinC
X
Philosophische GedichteA Wallenstein-Trilogie
X X X
Wilhelm Tell
Abb. 12: Unterrichtsstoff Fulda: Schiller, Quelle: Eigene Erhebung
133
134
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
1836 1837 1839 1840 1843 1848 1852 1853 1854 1855 1856 1857 1858 1859 1860 1861 1862
Unterrichtsstoff zu Lessing, Fulda
Abhandlung über die Fabel Der Dichter Lessing (Leben und Werke) Emilia Galotti Hamburgische Dramaturgie Kritische SchriftenA Laokoon Minna von Barnhelm Nathan der Weise Philotas
1863 1864 1865 1866 1867 1868 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875 1876 1877 1878 1879
Wie die Alten den Tod gebildet
X
Abhandlung über die Fabel Der Dichter Lessing (Leben und Werke) Emilia Galotti Hamburgische Dramaturgie Kritische SchriftenA Laokoon Nathan der Weise Philotas Wie die Alten den Tod gebildet
X
Minna von Barnhelm
135
1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1896
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
Abhandlung über die Fabel Der Dichter Lessing (Leben und Werke) X X X X
X
Emilia Galotti
X X X
Hamburgische Dramaturgie Kritische SchriftenA X
X X X
Laokoon
X X X X X X X X X X X X X
Minna von Barnhelm
X X
Nathan der Weise Philotas X
1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913
Wie die Alten den Tod gebildet
Abhandlung über die Fabel Der Dichter Lessing (Leben und Werke) Emilia Galotti
X X X X X X X X X X X X X
Hamburgische Dramaturgie
X X X X X X X X X X X X X
Kritische SchriftenA
X
X X X X
X X X X X X
X
X X
Philotas X X
Wie die Alten den Tod gebildet
X
Nathan der Weise
X X
Minna von Barnhelm
X X X X X X X X X X X X X
Laokoon
136
1914 1915 1925 1926 1927 1928 1929
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
X
X
X
Abhandlung über die Fabel Der Dichter Lessing (Leben und Werke) Emilia Galotti
X
X X X X X
Hamburgische Dramaturgie
X
X X X X
Kritische SchriftenA X X
X X X X X
X
X X X X X
Nathan der Weise
X
Minna von Barnhelm
X
Laokoon
Philotas X
Wie die Alten den Tod gebildet
Abb. 13: Unterrichtsstoff Fulda: Lessing, Quelle: Eigene Erhebung
In den nachfolgenden drei Abbildungen zeigt sich, dass die drei Autoren erst ab 1870 zum Thema der Aufsätze wurden. Von Goethe waren es bevorzugt »Hermann und Dorothea« und »Iphigenie auf Tauris«, von Schiller »Wilhelm Tell«, zu dem 1900 noch »Die Jungfrau von Orleans« und »Maria Stuart« kamen. Eine Ausnahme stellte Lessing dar, der erst über zehn Jahre später, also ab Mitte der 1880er Jahre, in den Aufsätzen Behandlung fand. Der Themenschwerpunkt wurde dabei auf »Minna von Barnhelm« und »Emilia Galotti« gelegt. Während sich die eben genannten Texte großer Beliebtheit erfreuten, fanden andere, wie Goethes »Faust I«, Schillers »Die Räuber« und »Don Carlos« sowie Lessings »Laokoon« und die »Hamburgische Dramaturgie« kaum Beachtung (vgl. hierzu die drei nachfolgenden Abbildungen).
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
137
1836 1837 1839 1840 1843 1848 1852 1853 1854 1855 1856 1857 1858 1859 1860 1861 1862 1863 1864
Aufsatzthemen zu Goethe, Fulda
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Ausspruch Goethes Das Göttliche Der Dichter Goethe (Einflüsse, Entwicklung) Der Fischer Der Zauberlehrling DichtungenA Die Phantasie DramenA Egmont Erlkönig Faust I Goethe im Vergleich mit … Götz von Berlichingen Grenzen der Menschheit Hans Sachsens poetische Sendung Hermann und Dorothea Iphigenie auf Tauris Johanna Sebus Mahomets Gesang Meine Göttin Prometheus Seefahrt Torquato Tasso Urfaust
138
1865 1866 1867 1868 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881 1882 1883
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Ausspruch Goethes Das Göttliche Der Dichter Goethe (Einflüsse, Entwicklung) Der Fischer Der Zauberlehrling DichtungenA Die Phantasie DramenA Egmont X
Erlkönig Faust I Goethe im Vergleich mit … Götz von Berlichingen X X
X X
Meine Göttin
Torquato Tasso Urfaust
X
Seefahrt
X
Prometheus
X
Mahomets Gesang
X
Johanna Sebus
X
Iphigenie auf Tauris
X
X X X
Hermann und Dorothea
X X
X
Grenzen der Menschheit Hans Sachsens poetische Sendung
139
1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Ausspruch Goethes Das Göttliche Der Dichter Goethe (Einflüsse, Entwicklung) Der Fischer
X
Der Zauberlehrling
X
DichtungenA X
Die Phantasie DramenA
X X X
Erlkönig
X
Egmont
X
Faust I Goethe im Vergleich mit … X X X X X
X X X X X X X X
X X
X X
X
X X
X
X X
X
Iphigenie auf Tauris
X
Grenzen der Menschheit Hans Sachsens poetische Sendung Hermann und Dorothea
X
Götz von Berlichingen
Johanna Sebus X
Mahomets Gesang Meine Göttin X
Prometheus Seefahrt
X
X
Urfaust
X
Torquato Tasso
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1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1925 1926 1927 1928 1929
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
X
X X
X
Ausspruch Goethes
X
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit
X X
X
Das Göttliche Der Dichter Goethe (Einflüsse, Entwicklung)
X
Der Fischer X
Der Zauberlehrling
X
DichtungenA Die Phantasie X
DramenA X X X X X
Faust I
X
Goethe im Vergleich mit … X
X
X
X X
Grenzen der Menschheit Hans Sachsens poetische Sendung
X X X X
Götz von Berlichingen
X X
X X X
X
X
X
Hermann und Dorothea
X X X X X X X
X
X
X
Iphigenie auf Tauris
X X
X X X
X
Erlkönig
X
Egmont
Johanna Sebus X
Mahomets Gesang
X
Meine Göttin Prometheus X X
X
Urfaust Abb. 14: Aufsatzthemen Fulda: Goethe, Quelle: Eigene Erhebung
X
Torquato Tasso
X X
Seefahrt
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
141
1836 1837 1839 1840 1843 1848 1852 1853 1854 1855 1856 1857 1858 1859 1860 1861
Aufsatzthemen zu Schiller, Fulda
Ausspruch Schillers Das Glück Das Lied von der Glocke Das Mädchen aus der Fremde Das Siegesfest Der Gang nach dem Eisenhammer Der Handschuh Der Kampf mit dem Drachen Der Pilgrim Der Ring des Polykrates Der Spaziergang Der Taucher Die Braut von Messina Die Bürgschaft Die Jungfrau von Orleans Die Klage der Ceres Die Kraniche des Ibykus Die Künstler Die Räuber Don Carlos DramenA Eleusisches Fest ErstlingsstückeA GedichteA JugenddramenA Kabale und Liebe Kassandra Kulturhistorische GedichteA Maria Stuart Die Piccolomini Schiller Macbeth Bearbeitung Über Goethes Iphigenie WallensteinC Wallensteins Lager Wallensteins Tod Wilhelm Tell
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
1862 1863 1864 1865 1866 1867 1868 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875 1876 1877
142
Ausspruch Schillers Das Glück
X
X
Das Lied von der Glocke Das Mädchen aus der Fremde Das Siegesfest Der Gang nach dem Eisenhammer Der Handschuh
X
Der Kampf mit dem Drachen Der Pilgrim Der Ring des Polykrates
X
Der Spaziergang Der Taucher Die Braut von Messina Die Bürgschaft Die Jungfrau von Orleans Die Klage der Ceres
X
Die Kraniche des Ibykus
X
X
Die Künstler Die Räuber Don Carlos DramenA
X
Eleusisches Fest ErstlingsstückeA GedichteA JugenddramenA Kabale und Liebe Kassandra Kulturhistorische GedichteA Maria Stuart Die Piccolomini Schiller Macbeth Bearbeitung
X X X X
X
X
X
Wallensteins Lager
X
WallensteinC
X
Über Goethes Iphigenie
Wallensteins Tod
X
Wilhelm Tell
143
1878 1879 1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
X X
Ausspruch Schillers Das Glück
X
Das Mädchen aus der Fremde
X
Das Lied von der Glocke
X X
Das Siegesfest Der Gang nach dem Eisenhammer
X X X
X X
X
X
X
X
X
X X
X
Der Kampf mit dem Drachen
X
Der Handschuh
X
Der Pilgrim Der Ring des Polykrates Der Spaziergang
X
X X
Der Taucher Die Braut von Messina Die Bürgschaft
X
X X
X
Die Klage der Ceres Die Kraniche des Ibykus
X
Die Künstler
X
Die Jungfrau von Orleans
X
X
X
Die Räuber Don Carlos DramenA
X
X
X
X
Eleusisches Fest ErstlingsstückeA GedichteA JugenddramenA Kabale und Liebe Kassandra
X X
X
X
Maria Stuart
X
Die Piccolomini
X
Kulturhistorische GedichteA
Schiller Macbeth Bearbeitung Über Goethes Iphigenie
X
X X
X X
X
Wallensteins Lager
X
WallensteinC Wallensteins Tod
X X X
X X X X
X
X X
Wilhelm Tell
144
1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
X
X
Ausspruch Schillers Das Glück
X
X
Das Lied von der Glocke Das Mädchen aus der Fremde Das Siegesfest
X
Der Gang nach dem Eisenhammer Der Handschuh
X X
X X
X X
Der Kampf mit dem Drachen Der Pilgrim Der Ring des Polykrates
X
X
Der Spaziergang
X
Der Taucher
X X X X
X
X X X X X X X X X
X X X
X
Die Bürgschaft
X
Die Jungfrau von Orleans
X X X X
Die Braut von Messina
Die Klage der Ceres
X
Die Kraniche des Ibykus Die Künstler Die Räuber
X
Don Carlos DramenA Eleusisches Fest ErstlingsstückeA GedichteA
X
JugenddramenA Kabale und Liebe
X
X
Kassandra Kulturhistorische GedichteA
X
X X
X X
Die Piccolomini
X X X X X X X X
Maria Stuart Schiller Macbeth Bearbeitung Über Goethes Iphigenie
X X
X
X X X X X X X X
X X X X X
X X X X X X X X
Wilhelm Tell
X X X X
Wallensteins Tod
X X
Wallensteins Lager
X
WallensteinC
145
1910 1911 1912 1913 1914 1915 1925 1926 1927 1928 1929
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
X
X
Ausspruch Schillers Das Glück
X X
X X
X
X X
Das Lied von der Glocke Das Mädchen aus der Fremde
X
Das Siegesfest Der Gang nach dem Eisenhammer Der Handschuh
X X
X X
X
Der Kampf mit dem Drachen Der Pilgrim Der Ring des Polykrates
X
Der Spaziergang Der Taucher
X
X
X
Die Braut von Messina Die Bürgschaft
X X X X X
X X X X
Die Jungfrau von Orleans Die Klage der Ceres
X X
Die Kraniche des Ibykus Die Künstler
X
Die Räuber Don Carlos
X X
DramenA Eleusisches Fest ErstlingsstückeA GedichteA
X X
X
Kabale und Liebe
X
JugenddramenA Kassandra Kulturhistorische GedichteA
X
X X X X X X
Die Piccolomini
X
Maria Stuart Schiller Macbeth Bearbeitung Über Goethes Iphigenie
X X X
X
X X
X X
Wallensteins Lager
X
WallensteinC Wallensteins Tod
X
X X
X X X X X
Wilhelm Tell
Abb. 15: Aufsatzthemen Fulda: Schiller, Quelle: Eigene Erhebung
146
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
1836 1837 1839 1840 1843 1848 1852 1853 1854 1855 1856 1857 1858 1859 1860 1861 1862 1863
Aufsatzthemen zu Lessing, Fulda
Abhandlung über die Fabel Der Dichter Lessing (Leben und Werke) Emilia Galotti Hamburgische Dramaturgie Laokoon Lessing über das französische Drama Lessings Verdienste für die deutsche Literatur Minna von Barnhelm
1864 1865 1866 1867 1868 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881
Nathan der Weise
Abhandlung über die Fabel Der Dichter Lessing (Leben und Werke) Emilia Galotti Hamburgische Dramaturgie Laokoon Lessing über das französische Drama Lessings Verdienste für die deutsche Literatur
X
X
Nathan der Weise
X
Minna von Barnhelm
147
1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
Abhandlung über die Fabel Der Dichter Lessing (Leben und Werke) X X X X
X X
Emilia Galotti Hamburgische Dramaturgie
X
Laokoon Lessing über das französische Drama Lessings Verdienste für die deutsche Literatur
X X X
X X
X X X X X X X
Minna von Barnhelm
X 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1925 1926
Nathan der Weise
X
Abhandlung über die Fabel Der Dichter Lessing (Leben und Werke) X
X X X X X X
Laokoon Lessing über das französische Drama Lessings Verdienste für die deutsche Literatur
X X X
X X
X X X X X X
X
X X
X
X X X
Nathan der Weise
X X
Hamburgische Dramaturgie
Minna von Barnhelm
X X X X
Emilia Galotti
148
1927 1928 1929
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
Abhandlung über die Fabel Der Dichter Lessing (Leben und Werke)
X X X X X X
Minna von Barnhelm
X
Laokoon Lessing über das französische Drama Lessings Verdienste für die deutsche Literatur
X X
Hamburgische Dramaturgie
X
Emilia Galotti
Nathan der Weise
Abb. 16: Aufsatzthemen Fulda: Lessing, Quelle: Eigene Erhebung
Fasst man die Ergebnisse zum Gymnasium in Fulda zusammen, dann zeigt sich: Der Autor Schiller dominiert. Im betrachteten Zeitraum von 1836 bis 1929 wurden 218 Hinweise auf die Behandlung Schillers im Unterricht gefunden sowie 226 Aufsatzthemen. Bemerkenswert ist zudem, dass die Zahl der Aufsatzthemen noch die der Unterrichtsgegenstände übertrifft. Goethe und Lessing liegen zahlenmäßig hinter Schiller. Für Goethe ergibt sich eine Zahl von 173 Unterrichts- und 116 Aufsatzthemen, während es bei Lessing 118 Unterrichts- und 65 Aufsatzthemen sind. Zusammengefasst ergibt sich somit folgendes Gesamtbild: Goethe Schiller Lessing Unterrichtsstoff Aufsatz Unterrichtsstoff Aufsatz Unterricht Aufsatz Anzahl der 173 Beiträge
116
218
226
118
65
Abb. 17: Summe aller Beiträge bezüglich Kanonautoren in Fulda, Quelle: Eigene Erhebung
Gymnasium Gießen In Hessen hatte in der Folge der Reformation Phillip der Großmütige 1527 die Universität Marburg gegründet, die erste von Anfang an protestantische Universität. Nach dessen Tod war man bemüht, calvinistische Anschauungen durchzusetzen, mit der Konsequenz, dass vier bedeutende lutherische Theolo-
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
149
gieprofessoren die Universität verließen. Ihre Anregung, eine eigene hessendarmstädtische lutherische Hochschule ins Leben zu rufen, griff Ludwig V. auf. Im August 1605 fand eine Konferenz statt, auf der der Beschluss gefasst wurde, in Gießen eine Universität zu gründen. Neben der Universität sollte die Stadt auch ein Gymnasium erhalten. Als Vorschule (Pädagogium) war es dann mehr als zwei Jahrhunderte an die Universität angegliedert. Der Unterricht dieses Pädagogiums begann unentgeltlich am 21. Oktober 1605 mit zunächst 70 Schülern und vier Lehrern. Unterrichtet wurden die Fächer Latein, Griechisch, Logik und Arithmetik. Die Unterrichtsfächer Deutsch, Geschichte, Naturgeschichte, Geographie, Physik und die neueren Sprachen wurden hingegen noch nicht berücksichtigt. 1627 wurde das Pädagogium mit der lateinischen Stadtschule vereinigt. Infolge dessen zogen es viele Eltern vor, ihre Söhne ins Marburger Pädagogium zu schicken. Nachdem die Schülerzahlen stetig zurückgingen, erhielt Gießen einige Jahre später sein Pädagogium zurück. Die Wiedereröffnung fand am 5. Mai 1650 statt.45 Das Pädagogikum war der Vorläufer des heutigen Landgraf-Ludwig-Gymnasiums in Gießen.46 Für das Fach Deutsch war in den Klassenstufen Prima, Sekunda und Tertia eine Wochenstundenzahl von jeweils drei Stunden vorgesehen. Lediglich zu Anfang der 1870er Jahre wurde die Stundenzahl in der Prima auf zwei Stunden reduziert. Ab 1878 sind in den Schulprogrammen keine Angaben mehr zum Lehrpensum vorhanden, so dass sich keine weiteren Aussagen zur Entwicklung der Wochenstundenzahl treffen lassen. Im Deutschunterricht benutzte die Anstalt je nach Jahr folgende Lesebücher: Jahr ab 1840 ab 1860 ab 1870 ab 1874 ab 1884 1886 ab 1887
Titel der Lesebücher Henses kleine Sprachlehre Wackernagels Lesebuch Wackernagels Lesebuch und die Grammatik nach Bauers Grundzügen der neuhochdeutschen Grammatik Masius Lesebuch und die Grammatik nach Bauer Hieckes deutsches Lesebuch Hieckes deutsches Lesebuch und Wackernagels Lesebuch Hieckes deutsches Lesebuch und Masius Lesebuch
Abb. 18: Lehrbücher Gießen, Quelle: Eigene Erhebung
Nach der Sichtung der Schulprogramme des Pädagogiums zu Gießen erkennt man, dass Goethe, Schiller und Lessing erst ab Mitte der 1880er Jahre zum Ge-
45 Vgl. Messer, August: Beilage zum Jahresbericht des Großherzoglichen Landgraf-LudwigsGymnasiums zu Gießen Ostern 1908. Geschichte des Landgraf-Ludwigs-Gymnasiums zu Gießen. Programm-Nummer 830. Gießen 1908, S. 3ff. 46 Vgl. http://www.llg-giessen.de (Letzter Zugriff am 02.10.2015).
150
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
genstand des Deutschunterrichts wurden. Auffällig ist dabei auch, dass relativ viele Werke in den Unterricht integriert wurden: So waren es bei Goethe »Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit«, »Egmont«, »Götz von Berlichingen«, »Hermann und Dorothea« sowie »Iphigenie auf Tauris« von Goethe (vgl. Abbildung 19). Von Schiller fanden »Die Braut von Messina«, »Die Räuber«, »Don Carlos«, »Wallenstein« und »Wilhelm Tell« Eingang in den Deutschunterricht (vgl. dazu Abbildung 20).
1780 1791 1794 1802 1804 1805 1806 1809 1810 1813 1820 1822 1826 1828 1832 1840
Unterrichtsstoff zu Goethe, Gießen
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Der Dichter Goethe (Leben und Werke) Die Leiden des jungen Werthers DramenA Egont FaustC GedankenlyrikA GedichteA Götz von Berlichingen Hermann und Dorothea Iphigenie auf Tauris Stücke GoethesA Torquato Tasso
151
1841 1842 1843 1844 1845 1846 1847 1848 1849 1850 1851 1858 1860 1861 1862 1863
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Der Dichter Goethe (Leben und Werke) Die Leiden des jungen Werthers DramenA Egont FaustC GedankenlyrikA GedichteA Götz von Berlichingen Hermann und Dorothea Iphigenie auf Tauris X X X
Stücke GoethesA
1865 1866 1867 1868 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880
Torquato Tasso
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Der Dichter Goethe (Leben und Werke)
X X
Die Leiden des jungen Werthers X X X
DramenA Egont X
FaustC GedankenlyrikA
X X X X X
X
X
Götz von Berlichingen Hermann und Dorothea
X
GedichteA
Iphigenie auf Tauris Stücke GoethesA X
X
Torquato Tasso
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1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1892 1893 1894 1895 1896 1897
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Der Dichter Goethe (Leben und Werke)
X X X X X X X X X X X X X X X X
X
Die Leiden des jungen Werthers DramenA
X X X X X X X X X X X X X
Egont FaustC GedankenlyrikA GedichteA
X X
Götz von Berlichingen
X X X X X X X X X X X X X
Hermann und Dorothea
X X X X X X X X X X X X X
Iphigenie auf Tauris
X X X X X X X X
X
X X X X X X X X X X X X X
Stücke GoethesA
1898 1899 1900 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908
Torquato Tasso
X X X X X X X X X
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Der Dichter Goethe (Leben und Werke) Die Leiden des jungen Werthers DramenA
X X
X X
Egont FaustC
X X
GedankenlyrikA GedichteA
X X
Götz von Berlichingen
X X X X X X X X
Hermann und Dorothea
X X X X X X X X X X
Iphigenie auf Tauris
X X
X X
Torquato Tasso Abb. 19: Unterrichtsstoff Gießen: Goethe, Quelle: Eigene Erhebung
X
Stücke GoethesA
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
153
1780 1791 1794 1802 1804 1805 1806 1809 1810 1813 1820 1822 1826 1828 1832
Unterrichtsstoff zu Schiller, Gießen
BalladenA Das Ideal und das Leben Das Lied von der Glocke Das Siegesfest Der Dichter Schiller (Leben und Werke) Die Braut von Messina Die Jungfrau von Orleans Die Künstler Die Räuber Don Carlos DramenA Eleusisches Fest GedankenlyrikA GedichteA Geschichte des 30jährigen KriegsE JugenddramenA LyrikA Lyrische GedichteA Maria Stuart Die Piccolomini Stücke SchillersA Über das Erhabene WallensteinC Wallensteins Tod Wilhelm Tell
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1840 1841 1842 1843 1844 1845 1846 1847 1848 1849 1850 1851 1858 1860 1861
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
BalladenA Das Ideal und das Leben Das Lied von der Glocke Das Siegesfest Der Dichter Schiller (Leben und Werke) Die Braut von Messina Die Jungfrau von Orleans Die Künstler Die Räuber Don Carlos DramenA Eleusisches Fest GedankenlyrikA GedichteA Geschichte des 30jährigen KriegsE JugenddramenA LyrikA Lyrische GedichteA X
Maria Stuart Die Piccolomini
X X
Stücke SchillersA Über das Erhabene X
WallensteinC
X
X
X
Wilhelm Tell
X
Wallensteins Tod
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1862 1863 1865 1866 1867 1868 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875 1876 1877
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
BalladenA Das Ideal und das Leben Das Lied von der Glocke Das Siegesfest Der Dichter Schiller (Leben und Werke)
X
Die Braut von Messina X
Die Jungfrau von Orleans Die Künstler Die Räuber Don Carlos X X
DramenA Eleusisches Fest GedankenlyrikA
X X X
GedichteA Geschichte des 30jährigen KriegsE JugenddramenA LyrikA Lyrische GedichteA
X X
Maria Stuart
X
Die Piccolomini X X
Stücke SchillersA Über das Erhabene
X X
X X X
X X
WallensteinC Wallensteins Tod
X
X X X X
Wilhelm Tell
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
1878 1879 1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1892 1893
156
BalladenA Das Ideal und das Leben Das Lied von der Glocke
X X X X
Das Siegesfest Der Dichter Schiller (Leben und Werke)
X X X X X X X X X X
X X
Die Braut von Messina Die Jungfrau von Orleans Die Künstler Die Räuber
X X X X X X X X X
Don Carlos
X X X X X X X
X
DramenA X X X X
Eleusisches Fest GedankenlyrikA X
X X X X
X X
X
GedichteA Geschichte des 30jährigen KriegsE JugenddramenA LyrikA
X X X
Maria Stuart
X
Lyrische GedichteA Die Piccolomini Stücke SchillersA Über das Erhabene
X X X X X X X X X
WallensteinC Wallensteins Tod
X X X X X X X X X
Wilhelm Tell
157
1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
X
BalladenA X
Das Ideal und das Leben Das Lied von der Glocke
X X X X X X X X X X
X X X
Das Siegesfest Der Dichter Schiller (Leben und Werke)
X X X X X X X X X X
X
Die Braut von Messina
X X X X X X X
X X X X X X X X X X X X X
Die Jungfrau von Orleans X
Die Künstler Die Räuber
X X X X X X
Don Carlos
X X X X X X X
DramenA X X X X X X
X X X
GedankenlyrikA X X X X X X
GedichteA
X X X
Eleusisches Fest
Geschichte des 30jährigen KriegsE X
JugenddramenA X X X X
LyrikA Lyrische GedichteA
X X X X X X
Maria Stuart Die Piccolomini Stücke SchillersA X
X X X X X X X X X X X X X X
Wilhelm Tell
X
Wallensteins Tod
X X X X X X
WallensteinC
X X
Über das Erhabene
Abb. 20: Unterrichtsstoff Gießen: Schiller, Quelle: Eigene Erhebung
158
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
Wie bei Goethe und Schiller wird auch G. E. Lessing ab Mitte der 1880er Jahre zum Gegenstand des Deutschunterrichts. Die im Unterricht behandelten Texte sind der »Laokoon«, die »Hamburgische Dramaturgie« sowie »Emilia Galotti« und »Minna von Barnhelm« (vgl. Abbildung 21).
1780 1791 1794 1802 1804 1805 1806 1809 1810 1813 1820 1822 1826 1828 1832 1840 1841
Unterrichtsstoff zu Lessing, Gießen
Abhandlung über die Fabel Der Dichter Lessing (Leben und Werke) DramenA Emilia Galotti Hamburgische Dramaturgie Die Juden Laokoon Minna von Barnhelm Miss Sara Sampson X
Nathan der Weise Philotas
1842 1843 1844 1845 1846 1847 1848 1849 1850 1851 1858 1861 1862 1863 1865 1866 1867
Wie die Alten den Tod gebildet
Abhandlung über die Fabel Der Dichter Lessing (Leben und Werke) DramenA Emilia Galotti Hamburgische Dramaturgie Die Juden Laokoon Minna von Barnhelm Miss Sara Sampson Nathan der Weise Philotas Wie die Alten den Tod gebildet
159
1868 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881 1882 1883 1884
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
X
Abhandlung über die Fabel Der Dichter Lessing (Leben und Werke)
X X X
DramenA Emilia Galotti
X
Hamburgische Dramaturgie
X
Die Juden X X
Minna von Barnhelm
X
Laokoon
X X
X
X
Miss Sara Sampson X
Nathan der Weise
X
Wie die Alten den Tod gebildet
X 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1902 1903
Philotas
X X X X X X X X X X X X
X
X X X X X
Abhandlung über die Fabel Der Dichter Lessing (Leben und Werke) DramenA Emilia Galotti
X X X X X X X X X X X X X X X
Hamburgische Dramaturgie
X X X X X X X X X X X X X X X X X X
Laokoon
X X X X
X
X X X X X X X X
Nathan der Weise X
X
Wie die Alten den Tod gebildet
X X X
Philotas
X X X X X X X
X X
Miss Sara Sampson
X X X X X X X X X X X X
Minna von Barnhelm
X X X X X X X X X X X X X
Die Juden
160
1904 1905 1906 1907 1908
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
X X X X X
Hamburgische Dramaturgie
X X
Emilia Galotti
X X X
DramenA
X X X
Abhandlung über die Fabel Der Dichter Lessing (Leben und Werke)
Die Juden X X
Minna von Barnhelm
X X X X X
Laokoon Miss Sara Sampson Nathan der Weise Philotas Wie die Alten den Tod gebildet
Abb. 21: Unterrichtsstoff Gießen: Lessing, Quelle: Eigene Erhebung
Da sowohl Goethe als auch Schiller und Lessing erst ab Mitte der 1880er Jahre Eingang in den Literaturkanon des Giessener Pädagogiums fanden, verwundert es nicht, wenn sich auch erst ab diesem Zeitpunkt Aufsatzthemen finden lassen. Es sind dies vor allem Goethes »Götz von Berlichingen«, »Hermann und Dorothea« und »Iphigenie auf Tauris«, Der »Torquato Tasso« sowie »Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit«, die im Unterricht behandelt wurden, spielen in den Aufsätzen eine untergeordnete Rolle (vgl. Abbildung 22).
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
161
1780 1791 1794 1802 1804 1805 1806 1809 1810 1813 1820 1822 1826 1828 1832 1840
Aufsatzthemen zu Goethe, Gießen
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Ausspruch Goethes Der Dichter Goethe (Einflüsse, Entwicklung) Die Leiden des jungen Werthers Egmont ErstlingsdramenA Götz von Berlichingen Hermann und Dorothea Ilmenau Iphigenie auf Tauris Lyrische GedichteA Seh’ ich den Pilgrim
1841 1842 1843 1844 1845 1846 1847 1848 1849 1850 1851 1858 1860 1861 1862 1863
Torquato Tasso
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Ausspruch Goethes Der Dichter Goethe (Einflüsse, Entwicklung) Die Leiden des jungen Werthers Egmont ErstlingsdramenA Götz von Berlichingen Hermann und Dorothea Ilmenau Iphigenie auf Tauris Lyrische GedichteA Seh’ ich den Pilgrim Torquato Tasso
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
1865 1866 1867 1868 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880
162
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Ausspruch Goethes Der Dichter Goethe (Einflüsse, Entwicklung) Die Leiden des jungen Werthers Egmont ErstlingsdramenA Götz von Berlichingen Hermann und Dorothea Ilmenau Iphigenie auf Tauris Lyrische GedichteA Seh’ ich den Pilgrim
1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1892 1893 1894 1895 1896 1897
Torquato Tasso
X X X X X
X X X
X X
X X
Die Leiden des jungen Werthers
X X X X X X X
X X X X X X X X X X X X X X X X X
X X
X X
Hermann und Dorothea
X X X X
ErstlingsdramenA Götz von Berlichingen
X
Ausspruch Goethes Der Dichter Goethe (Einflüsse, Entwicklung) Egmont
X
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit
Ilmenau X X X X X
Torquato Tasso
X X
Seh’ ich den Pilgrim
X
Lyrische GedichteA
X X X
Iphigenie auf Tauris
163
1898 1899 1900 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit X X X X X X
X X
X
Die Leiden des jungen Werthers
X
Ausspruch Goethes Der Dichter Goethe (Einflüsse, Entwicklung)
X
X
Götz von Berlichingen
X X X
X X X X
X
Hermann und Dorothea
X X
X X X X X X
Egmont X
X
Ilmenau X X
X X
Iphigenie auf Tauris Lyrische GedichteA
X
Torquato Tasso
X
Seh’ ich den Pilgrim
X X
ErstlingsdramenA
Abb. 22: Aufsatzthemen Gießen: Goethe, Quelle: Eigene Erhebung
Bei der Betrachtung der nachfolgenden Abbildung 23 fällt auf, dass Schillers »Don Carlos«, »Wallenstein« und »Wilhelm Tell« in den Aufsätzen thematisiert wurden. Wenig Aufmerksamkeit fanden »Die Jungfrau von Orleans« und »Kabale und Liebe«.
164
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
1780 1791 1794 1802 1804 1805 1806 1809 1810 1813 1820 1822 1826 1828 1832
Aufsatzthemen zu Schiller, Gießen
Ausspruch Schillers BalladenA Briefe über Don Carlos Das Glück Das Lied von der Glocke Das Siegesfest Der Dichter Schiller (Einflüsse, Entwicklung) Der Kampf mit dem Drachen Der Ring des Polykrates Der Schatzgräber Die Braut von Messina Die Götter Griechenlands Die Jungfrau von Orleans Die Klage der Ceres Die Künstler Don Carlos Eleusisches Fest ErstlingsstückeA Geschichte des Abfalls der NiederlandeE Kabale und Liebe Kassandra Lyrische GedichteA Maria Stuart Über Goethes Egmont WallensteinC Wallensteins Lager Wallensteins Tod Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Wilhelm Tell
165
1840 1841 1842 1843 1844 1845 1846 1847 1848 1849 1850 1851 1858 1860 1861
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
Ausspruch Schillers BalladenA Briefe über Don Carlos Das Glück X
Das Lied von der Glocke Das Siegesfest Der Dichter Schiller (Einflüsse, Entwicklung) Der Kampf mit dem Drachen X
Der Ring des Polykrates Der Schatzgräber Die Braut von Messina Die Götter Griechenlands
X
Die Jungfrau von Orleans
X
X
Die Klage der Ceres Die Künstler Don Carlos Eleusisches Fest ErstlingsstückeA Geschichte des Abfalls der NiederlandeE Kabale und Liebe Kassandra Lyrische GedichteA X
Maria Stuart Über Goethes Egmont WallensteinC Wallensteins Lager
X
X
Wilhelm Tell
X
Wallensteins Tod Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
1862 1863 1865 1866 1867 1868 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875 1876 1877
166
Ausspruch Schillers BalladenA Briefe über Don Carlos Das Glück Das Lied von der Glocke Das Siegesfest Der Dichter Schiller (Einflüsse, Entwicklung) Der Kampf mit dem Drachen Der Ring des Polykrates Der Schatzgräber Die Braut von Messina Die Götter Griechenlands Die Jungfrau von Orleans Die Klage der Ceres Die Künstler Don Carlos Eleusisches Fest ErstlingsstückeA Geschichte des Abfalls der NiederlandeE Kabale und Liebe Kassandra Lyrische GedichteA Maria Stuart Über Goethes Egmont WallensteinC Wallensteins Lager Wallensteins Tod Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Wilhelm Tell
167
1878 1879 1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1892 1893
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
Ausspruch Schillers BalladenA Briefe über Don Carlos Das Glück X
X X
Das Lied von der Glocke Das Siegesfest Der Dichter Schiller (Einflüsse, Entwicklung)
X
Der Kampf mit dem Drachen Der Ring des Polykrates Der Schatzgräber
X X
X
Die Braut von Messina Die Götter Griechenlands Die Jungfrau von Orleans X
Die Klage der Ceres Die Künstler
X X X
X X
X
X X
Don Carlos Eleusisches Fest
X
ErstlingsstückeA Geschichte des Abfalls der NiederlandeE Kabale und Liebe X
Kassandra Lyrische GedichteA
X
Maria Stuart Über Goethes Egmont WallensteinC
X X X X X X X X
Wallensteins Lager
X
X
Wallensteins Tod Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? X
X X
Wilhelm Tell
168
1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
X
Ausspruch Schillers
X
BalladenA X
Briefe über Don Carlos
X
Das Lied von der Glocke
X
Das Siegesfest Der Dichter Schiller (Einflüsse, Entwicklung)
X
Das Glück X X X
X
Der Kampf mit dem Drachen Der Ring des Polykrates Der Schatzgräber
X
Die Braut von Messina
X
X
X X
Die Götter Griechenlands X X X X X
Die Jungfrau von Orleans Die Klage der Ceres X
X
X X X X
X X
Eleusisches Fest
X
Don Carlos
X
Die Künstler
X
ErstlingsstückeA Geschichte des Abfalls der NiederlandeE
X X
Kabale und Liebe Kassandra X
Lyrische GedichteA
X X
Maria Stuart
X
Über Goethes Egmont X X X X X
X
X
Wallensteins Tod Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?
X X
X X X X X
X X
Wilhelm Tell
Abb. 23: Aufsatzthemen Gießen: Schiller, Quelle: Eigene Erhebung
X X
X
Wallensteins Lager
X
WallensteinC
169
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
Im Unterschied zu Goethe und Schiller finden sich von Lessing lediglich fünf Texte, die zum Schwerpunkt der Deutschaufsätze gemacht wurden. Es sind dies vor allem »Emilia Galotti« und »Minna von Barnhelm«, die »Hamburgische Dramaturgie« und der »Laokoon« fanden statt dessen kaum Beachtung (vgl. hierzu die folgende Abbildung 24).
1780 1791 1794 1802 1804 1805 1806 1809 1810 1813 1820 1822 1826 1828 1832 1840 1841 1842 1843 1844 1845 1846
Gießen
Abhandlung über die Fabel Emilia Galotti Hamburgische Dramaturgie Laokoon
1847 1848 1849 1850 1851 1858 1860 1861 1862 1863 1865 1866 1867 1868 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875 1876
Minna von Barnhelm
Abhandlung über die Fabel Emilia Galotti Hamburgische Dramaturgie Laokoon
1877 1878 1879 1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899
Minna von Barnhelm
X
X
X
X
X X
X X X X X X X X X X X X X X
Abhandlung über die Fabel Emilia Galotti Hamburgische Dramaturgie
X
Laokoon X
X X X X X X X X X X X
X
Minna von Barnhelm
170
1900 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
Abhandlung über die Fabel
X
X
X X X
Minna von Barnhelm
X X X X
Laokoon
X
X
Hamburgische Dramaturgie
X X
Emilia Galotti
Abb. 24: Aufsatzthemen Gießen: Lessing, Quelle: Eigene Erhebung
Zusammenfassend zeigt sich bei der Sichtung der Schulprogramme des Pädagogiums zu Gießen, dass sich der Kanonisierungsprozess von Goethe, Schiller und Lessing auch hier erst ab Mitte der 1880er Jahre vollzog. Die veränderten Lehrplanbestimmungen im ausgehenden 19. Jahrhundert führten nicht nur zu einer stärkeren Behandlung Goethes, Schillers und Lessings im Unterricht, sondern auch zu einer intensiveren Thematisierung der Autoren in Aufsätzen. In den Jahresberichten gibt es 212 Verweise auf die Behandlung Friedrich Schillers im Deutschunterricht. Anders als bei den im Vorfeld betrachteten Schulen ist Lessing zahlenmäßig mit 140 Hinweisen nicht so weit abgeschlagen, sondern liegt mit Goethe (139) gleich auf (vgl. hierzu Abbildung 25). Goethe Schiller Lessing Unterrichtsstoff Aufsatz Unterrichtsstoff Aufsatz Unterricht Aufsatz Anzahl der 139 Beiträge
95
212
98
140
47
Abb. 25: Summe aller Beiträge bezüglich Kanonautoren in Gießen, Quelle: Eigene Erhebung
Die Tabelle (Abb. 25) unterstreicht, dass Goethe und Schiller bei den Aufsatzthemen dominierten, für Goethe fanden sich 95 Themen und für Schiller 98, Lessing wurde 47 mal als Gegenstand für Aufsätze gewählt.
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller
V.
171
Abschluss
Bei der empirischen Erhebung der Schulprogramme von 11 hessischen Gymnasien – hier wurden lediglich die Ergebnisse von drei Gymnasien zusammengefasst – zeigte sich eine Konzentration auf die Behandlung von Goethe, Schiller und Lessing im Unterricht wie auch bei den gestellten Aufsatzthemen. Bei allen drei Autoren zeigte sich im Untersuchungszeitraum, dass die Kanonisierung erst ab etwa 1870 einsetzte. Dabei gelangten sukzessive einzelne Texte in den Kernkanon, während andere eher an den Rand gedrängt wurden. Zum Kernkanon wurden Goethes »Götz von Berlichingen«, »Hermann und Dorothea« und »Iphigenie auf Tauris«. Im Prozess von Kanonisierung gelangten von Schiller »Das Lied von der Glocke«, »Die Jungfrau von Orleans«, »Wallenstein« sowie »Wilhelm Tell« ins Zentrum und von Lessing der »Laokoon« und die »Minna von Barnhelm«. Es kann angenommen werden – und die Schulprogramme weisen dies aus – dass der Prozess von Kanonisierung durch die kulturellen Rahmenbedingungen mitbestimmt wurde. So setzte die Kanonisierung von Schiller ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit den öffentlichen Feiern zum 100. Geburtstag 1859 ein und fand vor allem an seinem 100. Todestag 1905 ihren Höhepunkt. Auch Lessings Kanonisierung bekam mit den Feiern zum 100. Todestag im Jahr 1881 einen Schub.47 Nicht unterschlagen werden sollte auch der Hinweis von Wilfried Barner, der darauf aufmerksam gemacht hat, dass bei »den deutschen KlassikerDebatten des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende (…) immer wieder die fundamentale Tatsache zu bedenken (ist), daß im ›Triumvirat‹ Lessing, Goethe, Schiller alle drei auch eminente Theaterautoren sind.«48 Betrachtet man abschließend jene drei Autoren, die nach der Auswertung der Schulprogramme zu Kanongrößen wurden, so ergibt sich bei der Auswertung der elf hessischen Gymnasien folgendes Bild:
47 Vgl. dazu bereits Gansel, Carsten: »Das Herz geht uns auf, wenn wir von Lessing hören oder ihn lesen« – G. E. Lessing im Kulturraum Schule um 1900. In: Mit Lessing zur Moderne. Soziokulturelle Wirkungen des Aufklärers um 1900. Hrsg. Von Wolfgang Albrecht und Richard E. Schade. Kamenz: Lessing-Museum 2004, S. 205–222. 48 Barner, Wilfried: Lessing um 1900 – Aspekte einer Klassikerkonstellation. In: Albrecht/ Schade, Mit Lessing zur Moderne. 2004, S. 19–24. Barner verweist auch darauf, dass die sich durchsetzende Rede vom »geheimen Triumvirat« auf eine Ansprache von Julius Petersen zur »Eröffnungsfeier des Braunschweiger Goethe-Lessing-Jahres am 20.1.1929« zurückgeht. Siehe Ders.: Goethe und Lessing. In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Philologisch-Historische Klasse. H. 4/2000, S. 3–30, hier: S. 6.
172
Carsten Gansel und Michaela Leon-Neuhaus
450
400
350
300
Goethe
250
Unterrichtsstoff Aufsatzthemen
200
150
100
50
0 Bensheim Darmstadt Dillenburg
Frankfurt
Fulda
Gießen
Hersfeld
Kassel
Korbach
Limburg
Marburg
Abb. 26: Beiträge in Bezug auf den Autor Goethe, Quelle: Eigene Erhebung
450
400
350
300
Schiller
250
Unterrichtsstoff Aufsatzthemen 200
150
100
50
0 Bensheim Darmstadt Dillenburg
Frankfurt
Fulda
Gießen
Hersfeld
Kassel
Korbach
Limburg
Abb. 27: Beiträge in Bezug auf den Autor Schiller, Quelle: Eigene Erhebung
Marburg
173
Zur Kanonisierung von Lessing, Goethe und Schiller 450
400
350
300
Lessing
250
Unterrichtsstoff Aufsatzthemen 200
150
100
50
0 Bensheim Darmstadt Dillenburg
Frankfurt
Fulda
Gießen
Hersfeld
Kassel
Korbach
Limburg
Marburg
Abb. 28: Beiträge in Bezug auf den Autor Lessing, Quelle: Eigene Erhebung
Die Diagramme zeigen, dass sowohl hinsichtlich der Behandlung im Deutschunterricht wie auch bei den gestellten Aufsatzthemen Schiller auf Platz 1 steht. An den elf untersuchten hessischen höheren Lehranstalten gibt es 2699 Treffer bei der Behandlung im Unterricht und 1604 bei Aufsatzthemen, Goethe liegt mit 2158 Treffern bei den Unterrichtsgegenständen und 1166 Aufsatzthemen ein wenig zurück. Lessing folgt auf Platz 3 mit 1362 Unterrichtsbeiträgen und 611 Aufsatzthemen. Gleichwohl lässt sich sagen, dass Schiller, Goethe und Lessing deutlich an der Spitze stehen, eine Art Triumvirat bilden und ab Ende des 19. Jahrhunderts zu Autoren des Kernkanons gemacht werden.
Cezary Lipin´ski
Zur Präsenz von Gotthold Ephraim Lessing im schlesischen Schulwesen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts am Beispiel von Schulprogrammen ausgewählter höherer Schulen in Kattowitz und Breslau
»Die deutsche Sprache hat – der Himmel sei dafür gepriesen – keinen Stil, sondern alle mögliche Freiheit, und dennoch gibt es so wenige deutsche Schriftsteller, die das schöne Recht, jede eigentümliche Denkart auch auf eigentümliche Weise darzustellen, zu ihrem Vorteile benutzten! Die wenigen unter ihnen, die einen Stil haben, kann man an den Fingern abzählen, und es bleiben noch Finger übrig. Vielleicht ist Lessing der einzige, von dem man bestimmt behaupten kann: er hat einen Stil.«1 (Ludwig Börne)
1.
Zur Quellen- und Parameterwahl
Auf Grund der allgemeinen Zielsetzung des Beitrags, bei dem es in erster Linie um die Ermittlung des Stellenwertes des literarischen und kulturtheoretischen Schaffens von Gotthold Ephraim Lessing im Kulturraum Schule um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert geht, sollen im Folgenden der Vollständigkeit der Darstellung halber Programme unterschiedlicher höherer Schulen Schlesiens auf die Präsenz dieses Schriftstellers hin untersucht werden. Es ist hier von der Annahme ausgegangen worden, dass die Ergebnisse stichhaltiger werden können, wenn einerseits verschiedene Bildungszentren Schlesiens ins Visier gelangen, andererseits aber, wenn ihnen jeweils etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, indem man sich nicht bloß auf die oberflächliche Betrachtung der ein oder anderen Anstalt beschränkt, sondern vielmehr die Gewinnung einer breiteren Perspektive anstrebt. So wurden zwei höhere Kattowitzer Schulen: eine für die Knaben – das Städtische (später Königliche) Gymnasium, eine für die Mädchen – die Städtische Höhere Mädchenschule, mit dem ihr zugeordneten Lehrerinnen-Seminar und Lyzeum gewählt, da sie zusammen eigentlich den gesamten Bereich des höheren Schulwesens der damals kleinen provinziellen oberschlesischen Stadt abdecken und insofern ein recht komplettes Bild des dortigen Bildungshorizonts vermitteln. Um die Daten ins Gleichgewicht zu 1 Börne, Ludwig: Aufsätze und Erzählungen. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Neu bearb. u. hrsg. v. Inge und Peter Rippmann. Düsseldorf: Melzer-Verlag 1964. Bd. 1, S. 592.
176
Cezary Lipin´ski
bringen, sollen demgegenüber im ersten Schritt die Ergebnisse der Recherchen in den Schulprogrammen und Jahresberichten zweier prominenter höherer Schulen der schlesischen Metropole Breslau zur Darstellung gelangen. Es handelt sich dabei um die alten akademischen Gymnasien (Gymnasia illustria) zu St. Maria-Magdalena und zu St. Elisabet, welche zu den traditionsreichsten Einrichtungen dieser Art auf deutschem Boden gerechnet wurden und die seit geraumer Zeit als Eliteschulen schlechthin galten. Als ein interessantes Komplement wurde ihnen das damals neugegründete Städtische Johannes-Gymnasium angeschlossen, »das im liberalen Geist geführt, bis 1918 das erste und einzige Breslauer Gymnasium mit jüdischen Lehrkräften war«2. Bei der bekannten Judenfreundlichkeit Lessings versprach das, wie es schien, interessante Ergebnisse, zumal die Anstalt im sich hinziehenden »Breslauer Schulstreit« die verrufene Konfessionslosigkeit3 erfolgreich behaupten konnte. Die Schulprogramme und Jahresberichte über die Gymnasien liefern ein an sich gutes, weil weitgehend unverfälschtes (auch wenn nicht immer ins Detail gehendes) Material. Dies ergibt sich aus ihrem berichterstattenden Charakter, der voraussetzt, dass sämtliche erledigten Lehraufgaben für das abgelaufene Schuljahr der Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Die Präsenz Lessings konnte dort v. a. in zwei Bereichen festgestellt werden: 1. im erledigten, mitunter als Hausarbeit aufgetragenen Lesestoff, womit meistens Darstellungen und/oder Referate über das Leben Lessings und dessen Bedeutung einhergingen; 2. in den Aufgaben für die deutschen Aufsätze, die im Vergleich zur ersten Kategorie weit abwechslungsreicher und differenzierter waren.4 In dem letzten Bereich wurde nicht selten ein Zusammenhang entweder mit den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft oder akuten Tagesthemen aufgebaut, wodurch mitunter wichtige gesellschaftspolitische Tendenzen der Zeit zur Sprache kamen. Der nachträgliche Charakter der Schulschriften weckt, wie bereits festgestellt, zusammen mit deren vorgeschriebener Sachlichkeit den Anschein hoher Objektivität. Die »Jahresberichte geben weitaus authentischer Auskunft über den 2 Szöllösi-Janze, Margit: Fritz Haber. 1868–1934. Eine Biographie. München: C. H. Beck 1998, S. 32. Siehe auch: Rahden, Till van: Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden und, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 35. 3 Vgl. »Der Minister von Mühler wies bei einer Besprechung der Sache im Abgeordnetenhause (am 12. Dezember 1868) darauf hin, daß grade die Konfessionslosigkeit als eine ganz bestimmte Forderung in den Vorstellungen des breslauer Magistrats hingestellt sei, – und fügte hinzu: Welche Folgen hat der Ausdruck ›konfessionslos‹?« Provinzial-Correspondenz. Jg. 8, Nr. 27 vom 6. Juli 1870. 4 Die angeführten Bereiche schöpfen die Möglichkeiten, Lessings Präsenz festzustellen, nicht aus. Nicht uninteressante Informationen vermitteln z. B. auch die zuweilen genauen Angaben über die vorhandenen und wachsenden Bücherbestände. Gleichwohl würde die Einbeziehung der für die Lehrer- und/oder Schülerbibliothek angekauften bzw. von der Ortsprominenz geschenkten Ausgaben den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen.
Zur Präsenz von Gotthold Ephraim Lessing im schlesischen Schulwesen
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Schulalltag an Gymnasien und über das, was ›wirklich‹ im Unterricht behandelt wurde, als dies Lehrpläne und materielle Verfügungen tun«5. Gleichwohl soll dieser Umstand nicht über die potentiellen selbstdarstellerischen Benefits hinwegtäuschen. Es ist durchaus einleuchtend, dass die einzelnen höheren Schulen Jahresberichte und Programme, zu deren Veröffentlichung sie per Gesetz verpflichtet waren, als eine Möglichkeit ansahen, ihre Position in der gegebenen Bildungslandschaft, sei es zu etablieren, sei es auszubauen. So ist zumindest anzunehmen, dass z. B. etliche Gymnasien, von der Kenntnis der religiösen und nationalen Zusammensetzung sowie der gesellschaftspolitischen Struktur einer Region ausgehend, ihr Bildungsangebot exakt auf die Bedürfnisse bzw. Erwartungen der Bevölkerung zuschnitten. Es ist besonders vor dem Hintergrund der Tatsache denkbar, dass einzelne höhere Schulen, wie z. B. die Kattowitzer Mädchenanstalt, lange Zeit im stark von sozialen Vorurteilen und dem überkommenen Rollenzwang geprägten Milieu um das pure Überleben kämpfen mussten. Ein anderer nicht minder triftiger Grund dafür, die Schulschriften zu einem wichtigen Faktor der schulischen Marketingstrategie zu machen, lässt sich in Breslau beobachten, wo eine relativ große Zahl der höheren Schulen – es gab dort in den 1880er Jahren elf Anstalten dieses Typs – auf einen Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen schließen lässt. So konnte auch eine starke Präsenz Lessings in den Programmen je nach der Bevölkerungsstruktur, den Anforderungen der Zeit u. dgl. aus der Perspektive der Schule als fördernd oder aber hindernd gesehen werden. Denkbar wäre beispielsweise, dass für eine Gegend mit einem starken Anteil an ethnischen und religiösen Minderheiten von einer eher wohlwollenden Haltung gegenüber dem für den Inbegriff der Toleranz gehaltenen »Nathan«-Autor ausgegangen werden könnte, während homogenere Landesteile mit deutlich bürgerlichem Einfluss – und besonders in den Perioden einer verstärkten patriotischen Propaganda, die im kaum 50jährigen Bestehen des Deutschen Kaiserreichs nicht selten in einen anglo-, gallo- und slawophoben Nationalismus ausartete6 – ihm eher indifferent bis abgeneigt gegenüberstanden. Auf der anderen Seite hängt das Interesse an Lessing mit dem allgemeineren Interesse am humanistischen Bildungsgut und Menschenbild sowie den Möglichkeiten, diese »umzusetzen«, zusammen.7 Mit 5 Gansel, Carsten: Gotthold Ephraim Lessing und das kulturelle Gedächtnis zwischen 1800 und 1914 – Plädoyer für eine Neusichtung von Quellen. In: Gansel, Carsten/Siwczyk, Birka (Hg.): Gotthold Ephraim Lessings »Nathan der Weise« im Kulturraum Schule (1830–1914). Göttingen: V& R unipress 2009, S. 19f. Über die Rolle der Schulschriften und deren hohen Quellenwert siehe ebd., S. 19–26. 6 Wehler, Hans-Ulrich: Das Deutsche Kaiserreich. 1871–1918. 7. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994, S. 109. 7 Vgl. Rürup, Reinhard: Deutschland im 19. Jahrhundert. 1815–1871. 2. durchges. und bibliogr. ergänzte Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1992, S. 200.
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dem ›Allerhöchsten Erlass‹ vom 26. November 1900 erfolgte eine weitgehende Umstrukturierung des preußischen Schulwesens im Sinne des sog. Berechtigungswesens. »Da […] nach 1900 der realgymnasiale Abschluß alle Karrierewege öffnete, erhöhte sich [auf Kosten des humanistischen Gymnasiums, C. L.] seine Attraktivität für die jüdischen Schüler«.8 Diese vorläufige Entscheidung im (in Schlesien bereits seit der Mitte des 18. Jahrhunderts andauernden) Streit der »Humanisten« mit den »Realisten«9, dürfte nach 1908 auch im Bereich des Mädchenschulwesens zum Tragen gekommen sein. Die »verstärkte staatsfunktionale Verkoppelung der höheren Bildung«10 und die vehemente Förderung und der Ausbau diverser Konkurrenzformen zum traditionellen Gymnasium (Realschule, Realgymnasium, Oberrealschule) verlagerte allmählich das Interesse der Bevölkerung auf das Realschulwesen. In diesem Kontext fällt es schwer anzunehmen, dass die Position Lessings in deutschen Schulen von den skizzierten Entwicklungen hätte unbetroffen bleiben können.
2.
Die Schulen im Einzelnen
2.1
Das Städtische [seit 1906 Königliche] Gymnasium zu Kattowitz
2.1.1 Zur Geschichte der Anstalt Das Ende des 16. Jahrhunderts gegründete Kattowitz war bis 1839, als es in den Besitz der Familie von Winkler kam, ein unbedeutendes Dorf. Die Winklers begannen schnell mit einer intensiven Industrialisierung ihrer Güter und errichteten große Berg- und Hüttenwerke. Die Menge der in die Gegend strömenden und Arbeit suchenden Bevölkerung veranlasste die oberschlesische Eisenbahn, dort 1846 eine Station zu errichten. Infolgedessen nahm der Zustrom der Menschen dermaßen zu, dass die Einwohnerzahl innerhalb weniger Jahrzehnte auf über 4 000 stieg. Die Dynamik der wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung bewog den preußischen König Wilhelm I. dazu, dem Ort im September 1865 die Städteordnung zu verleihen. Im Dezember 1866 nahm die Stadtverwaltung ihre Tätigkeit auf. Die neugegründete Stadt begann sich von nun an in einem aufsehenerregenden Tempo zu entwickeln. 1871 zählte Kattowitz bereits 7 500 Einwohner, 1874 über 10 000, 1888 überschritt es die Marke 8 Rahden, Juden und andere Breslauer. 2000, S. 181. 9 Vgl. Grünhagen, C[olmar]: Schlesien unter Friedrich dem Großen. Bd. 2: 1756–1786. Breslau: Wilhelm Koebner 1892, S. 477–480. 10 Herrlitz, Hans-Georg/Hopf, Wulf/Titze, Hartmut/Cloer, Ernst: Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung. 4. überarb. und aktualisierte Aufl. Weinheim/ München: Juventa Verlag 2005, S. 42.
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von 15 000,11 um im Jahr 1900 eine Einwohnerzahl von über 31 000 auszuweisen, »davon 6 263 Evangelische und 2 264 Juden«12. Anfänglich waren die Kinder bei dem in der Nähe liegenden Dorf Bogutschütz (pol. Bogucice) eingeschult. 1827 wurde in Kattowitz eine einklassige katholische Elementarschule eingerichtet, deren Lehrer ein regelmäßiges Gehalt (50 Thlr.) bezog. 1856 wurde eine private evangelische Schule eröffnet, die 1873 ihren privaten Charakter verlor und von der Stadt übernommen wurde. 1870 verwendete die junge Stadt schon über 4 000 Thaler für die Elementarschulen. Bereits aus dem Jahre 1869 datieren die ersten Pläne, eine höhere Schule zu errichten. In dem im August gefassten Beschluss ist von einer zweiklassigen gehobenen Simultanschule die Rede. Im September desselben Jahres wurde die Gründung eines Gymnasiums mit simultanem Charakter beschlossen. Eine so kostspielige Initiative war jedoch nur mit einer bedeutenden fremden finanziellen Unterstützung denkbar. Diese Hilfe versprachen sich der Magistrat und die Stadtverordneten von der oberschlesischen Steinkohlen-Bergbau-Hilfskasse, die bereits ähnliche Projekte, wie die Realschule in Tarnowitz, gefördert hatte. Die Zusicherung dieser Hilfe (ein jährlicher Beitrag von 2 000 Thlrn. auf 20 Jahre und ein einmaliger Beitrag von 5 000 Thlrn. für die Einrichtung der Anstalt) erfolgte im Januar 1870. Angesichts der drohenden Konkurrenz (die Stadtverwaltung von Myslowitz plante, ein evangelisches Gymnasium zu gründen) intensivierten die Stadtverordneten ihre Bemühungen um die Errichtung der Schule: Es wurden das Kuratorium der Anstalt gewählt, das Statut aufgestellt, ein Entwurf zum Etat für das Schuljahr 1871/72 ausgearbeitet, die entsprechenden Behörden informiert und um Genehmigung ersucht. »Die königliche Regierung erkannte in einer Verfügung vom 14. Februar 1871 das Bedürfniss der Errichtung einer höheren Lehranstalt für Kattowitz und Umgegend an, verlangte aber den amtlichen Nachweis dafür, dass für das Elementarschulwesen hinreichend gesorgt sei, und dass die Steuerkraft der Stadt durch die Errichtung einer solchen Anstalt nicht über das zulässige Mass angestrengt werde. Nachdem derselbe durch einen ausführlichen Bericht des Magistrates geführt worden war, gab die königliche Regierung ihre Zustimmung zu der Gründung zunächst eines Progymnasiums mit simultanem Charakter […].«13
Das Königliche Provinzial-Schulkollegium in Breslau hat seinerseits kraft der Verfügung vom 20. Mai 1871 die »Einrichtung eines christlich SimultanGymnasiums in der Stadt Kattowitz sowie die Eröffnung desselben am 1. Oct. 11 Hoffmann, Georg: Geschichte der Stadt Kattowitz. Kattowitz: G. Siwinna 1895, S. 102. 12 Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. 6. gänzlich neubearb. und vermehrte Aufl. Leipzig/Wien: Bibliographisches Institut 1907. Bd. 10, S. 757. 13 Programm des städtischen Gymnasiums zu Kattowitz. Ostern 1872. Kattowitz: G. Siwinna 1872, S. 4.
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1871«14 gestattet. Unter der Leitung des im Juni gewählten Direktors, Dr. Ernst Müller aus Guben, der diese Stelle über 31 Jahre bis zu seinem Tod 1903 innehatte, wurde am 5. Oktober mit der Aufnahme der Schüler begonnen, und am 9. Oktober 1871 fand die Eröffnungsfeier des Gymnasiums statt. Das Städtische Gymnasium zu Kattowitz lässt sich als eines mittlerer Größe einstufen, das sich im Laufe der Zeit trotz der immer stärkeren Konkurrenz von der Seite ähnlicher Anstalten in der Gegend (z. B. des Gymnasiums in Königshütte) einen guten Ruf erwarb. Das Wachstum und die Stabilisierung des Gymnasiums in der uns interessierenden Zeit veranschaulicht die folgende Tabelle. Religion Katholisch
1871 54
1877 79
1882 46
1896 86
1898 200
1900 231
1905 197
1914 363
Evangelisch Jüdisch
39 47
73 128
76 101
89 102
110 98
76 82
98 88
152 60
Zusammen
140
280
223
277
408
389
383
575
2.1.2 Gotthold Ephraim Lessing in Programmen und Jahresberichten der Kattowitzer Anstalt In den Programmen des Kattowitzer Städtischen Gymnasiums aus den Jahren 1871–1875 wird Lessing nicht erwähnt. Dies ist insofern verständlich, als für das Schuljahr 1871/72 nur Schüler für untere und mittlere Klassen (von der Sexta bis zur Tertia) aufgenommen wurden. Gleichwohl ist es gut möglich, dass auch damals einzelne Texte Lessings im Unterricht besprochen wurden, weil in allen Klassen mit dem populären »Deutschen Lesebuch für höhere Lehranstalten. In acht Abteilungen« von Hopf und Paulsiek (das bis zur Jahrhundertwende weit über zwanzig Auflagen erlebte) gearbeitet wurde, in dem sich Lessings Texte in den Abteilungen für fast alle Altersstufen finden. Im Schuljahr 1875/76 hatte das Gymnasium zum ersten Mal eine Prima, in der Lessing von Anfang an überraschend stark vertreten war. Im Deutschunterricht wurden nun »Minna von Barnhelm«, »Emilia Galotti«, »Nathan der Weise« sowie eine Auswahl aus der »Hamburgischen Dramaturgie« und dem »Laokoon« gelesen. »Besprochen und zum Theil gelesen« wurden darüber hinaus die »Abhandlungen über die Fabel« und »Über das Epigramm«. Selbst diese starke primärtextuelle Basis erschöpft aber noch nicht die Präsenz des »Nathan«Autors in den erledigten Lehraufgaben der Prima. Hinzu kommen Lessings Lebensbilder, Ausführungen über dessen Bedeutung für die deutsche Literatur, 14 Ebd., S. 5.
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freie Vorträge der Primaner über den Schriftsteller und vier der insgesamt zehn monatlich abzuliefernden deutschen Aufsätze: 1) »Gang der Handlung in Lessings ›Minna von Barnhelm‹«; 2) »Auf welchem Wege gelangt Lessing, in seinem Laokoon zu dem Satze, dass die Malerei Körper, die Poesie Handlungen darzustellen habe?«; 3) »Lessings und Jacob Grimms Ansichten über die Fabel«; 4) »Lessings Verhältnis zu seinen Eltern, dargestellt aus seinen Briefen an dieselben«.15 Lessings »Verdienste um die deutsche Literatur« waren außerdem das Thema einer Klassenarbeit im genannten Schuljahr. Genauso plötzlich, wie er erschien, verschwindet Lessing im folgenden Schuljahr fast gänzlich aus dem Programm der Primaner. Seine Stelle nimmt eine reiche Auswahl aus Schriften Goethes ein. Nur noch unter den Themen für die deutschen Aufsätze findet sich eines, in dem Lessing zwar vorkam, das er aber mit anderen Großen teilen musste: »Lessings, Göthes und Schillers Verdienste um das deutsche Drama«16. Die Praxis der abwechselnden Präsenz Lessings und Goethes im Programm der Prima stabilisierte sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten. Sie ging unmittelbar aus der Anlage des Kurses der Prima hervor, der zweijährig war. Erst 1897 wurde die Prima in Unter- und Oberprima geteilt, nachdem 1894 die Trennung der Sekunda in eine obere und eine untere Abteilung und der Tertia bereits 1874 durchgeführt worden war. Der anfänglich recht große Umfang (drei Dramen und vier theoretische Texte sowie Referate, Lebensbilder u. a.), in dem Lessing in Programmen des Kattowitzer Gymnasiums präsent war, konnte bis zum Schuljahr 1891/92 aufrechterhalten werden. Die Gründe für die Behandlung Lessings ausschließlich auf der Prima-Stufe wurden indirekt in der Abhandlung »Ueber den deutschen Unterricht in der Secunda des Gymnasiums«17 erläutert, die dem Programm des Gymnasiums für das Jahr 1877 vorangestellt war und aus der Feder des Direktors der Anstalt, Ernst Müller, stammte. »Hier ist nun die Frage zu erörtern, warum gerade Schiller in der Secunda zu behandeln sei. Allerdings würde es dem Gange der Entwickelung unserer Litteratur mehr entsprechen, wenn man von Klopstock auf Lessing überginge. Allein das rechte Verständniss der litterarischen Wirksamkeit und Bedeutung Lessings kann einem Secundaner nicht eröffnet werden, während die späteren dramatischen Dichtungen Schillers, namentlich Maria Stuart, Wallenstein und Tell, von den Schülern dieser Stufe sehr wohl verstanden und genossen werden können. Wird ferner wenigstens eins von den genannten Dramen, die doch wohl als der Höhepunkt in der Entwickelung unserer dramatischen Poesie angesehen werden müssen, gelesen und nach Inhalt und Form 15 Programm des städtischen Gymnasiums zu Kattowitz. Ostern 1876. Kattowitz: G. Siwinna 1876, S. 19f. 16 Ebd., S. 15. 17 Müller, Ernst: Ueber den deutschen Unterricht in der Secunda des Gymnasiums. In: Ebd., S. 1–14.
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genau erklärt, so ergiebt sich daraus für die Schüler ein sicherer Massstab für die Beurteilung der Dramen Lessings und Göthes, mit denen sie sich in der Prima zu beschäftigen haben, ein Vorteil, der wenigstens nach meiner Erfahrung nicht zu unterschätzen ist.«18
Die Überzeugung, dass Lessings Werk für die Entwicklung der deutschen Literatur zwar von großer Tragweite und sogar kennzeichnender als das Schrifttum anderer im Programm angeführten Schriftsteller, gleichwohl zu schwierig sei, um es vor der Prima durchzunehmen, scheint, an den Lehraufgaben anderer Anstalten ähnlichen Typs für das Fach Deutsch gesehen, mit allen nötigen Korrekturen allgemein gültig gewesen zu sein. Zuweilen sind in der Gewichtung der bestehenden Lehraufgaben Veränderungen eingetreten. So kommt z. B. »Laokoon« ab 1878 ohne den Zusatz »Auswahl« vor. Im Übrigen erweist sich aber das um die Mitte der 1870er Jahre eingeführte »Lessing-Modell« als überraschend stabil. 1893, gerade als Lessing aus dem Programm für ein Jahr zu Gunsten Goethes verschwinden sollte, wurde der Grundstein zu einer neuen Tradition gelegt. »Minna von Barnhelm« und folgerichtig auch die Besprechung des Lebenslaufes von Lessing wurden in die Sekunda verschoben, sodass das Stück aus dem Programm der Prima-Klasse von 1894 verschwand. Mit der 1895 erfolgten Teilung der Sekunda in eine obere und eine untere Abteilung mit jeweils einjährigem Kursus sollte das Lustspiel in der Untersekunda endgültig seinen festen Platz finden und von nun an in der Tat der einzige feste Punkt des Lessing-Programms des Gymnasiums bleiben. Eine Ausnahme stellte hier gerade das Brückenschuljahr 1894/95 dar, in dem das Lustspiel logischerweise sowohl in der Ober- als auch Untersekunda besprochen werden musste. Die Teilung der Prima im Schuljahr 1897/98 ermöglichte eine Konsolidierung der übrigen Texte Lessings und deren Planung in einjähriger Perspektive. Das erste Jahr dieser neuen Phase setzte noch einen starken Akzent mit »Laokoon«, der »Hamburgischen Dramaturgie« und »Emilia Galotti«, die in der Oberprima ohne Kürzungen gelesen wurden. »Laokoon« gehörte gleichzeitig zu den Lehraufgaben der Unterprimaner. Die folgenden Jahre brachten kleine Veränderungen. Beispielsweise sollte die »Hamburgische Dramaturgie« in der oberen Abteilung der Prima in Auszügen gelesen werden. Zum Programm dieser Klasse gehörte darüber hinaus »Emilia Galotti«, während »Laokoon« in der unteren Prima-Klasse ganz gelesen und besprochen wurde. Ab 1904 wurde der Text nur noch in Auszügen in der Unterprima gelesen; gleichzeitig verschwand »Nathan« aus dem Programm. Die neuen Vorgaben stabilisierten sich 1906. Von nun an sollten nur noch »Emilia Galotti« in der Prima und »Minna von Barnhelm« in der Untersekunda ohne Kürzungen gelesen werden. Die Auszüge aus der 18 Ebd., S. 10.
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»Hamburgischen Dramaturgie« gehörten zum Oberprima-, die Auszüge aus »Laokoon« zum Unterprima-Programm. Der Vollständigkeit halber müssen wir noch auf die Abhandlung »Wie die Alten den Tod gebildet« hinweisen, die in den Schuljahren 1900/01 und 1903/04 zweimal in der Unterprima zur Besprechung gelangte. Das erhobene Datenmaterial zeigt mit aller Deutlichkeit die Vorliebe für »Minna von Barnhelm« als das mit Abstand beliebteste Drama Lessings an deutschen Schulen. Auf Platz 2 rangiert »Emilia Galotti«, während »Nathan der Weise«, der immerhin zwanzig Jahre auf der Lektüreliste für die Prima stand, nach 1896 im Programm des Kattowitzer Gymnasiums keine Erwähnung mehr findet, was einerseits, an Lehraufgaben anderer höherer Schulen gemessen, ganz und gar untypisch war, andererseits vor dem Hintergrund der Bevölkerungsstruktur der Stadt und der Gegend, wo man schon seit dem 18. Jahrhundert mit einem starken jüdischen Einfluss zu tun hatte, verwundern muss. In diesem Kontext kann man nicht umhin, einen deutlichen Rückgang der Zahl der jüdischen Schüler seit den 1890er Jahren festzustellen. 1871 machten sie 33,5 Prozent der Schüler aus, in den 1890er Jahren sogar deutlich mehr (1896: 36,8 Prozent); bereits am Anfang des neuen Jahrhunderts registriert man eine deutliche Verminderung ihres Anteils an der Gesamtzahl der Schüler, der auf fast ein Fünftel (1900: 21,0 Prozent) zurückging, um 1914 am Vorabend des großen Kriegs auf eine Quote von weniger als 12 Prozent zu sinken.19 Auf eine vertiefte Beschäftigung mit Lessings Texten weisen auch Aufsatzthemen, Klassenarbeiten, schriftliche Abituraufgaben u. ä. im Fach Deutsch hin, und das in einer Zahl, die nur in den beschriebenen Schuljahren 130 übersteigt.20 Es befinden sich darunter »typische« Themen, die man ohne Schwierigkeiten auch andernorts finden kann, wie z. B. »Welche Eigenschaften zeigt der deutsche Soldat in Lessings Minna von Barnhelm?« (das Thema einer Klassenarbeit für Untersekunda von 1905), »Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Lessings Emilia Galotti und Schillers Kabale und Liebe?« (das Aufsatzthema für Untersekunda von 1910), »Welche Bedeutung hat Lessing für das deutsche Drama gehabt?« (die Aufgabe für die Abiturienten zu Ostern 1888) oder »Weshalb will Tellheim seine Verlobung mit Minna von Barnhelm lösen?« (die Aufgabe für die Sekunda-Abschlussprüfung von 1893). Dennoch finden sich unter ihnen mitunter sehr komplexe Probleme, deren Lösung, wie es scheint, die Möglichkeiten eines Gymnasiasten überschritt (z. B. »Welche Einflüsse machen sich bei Lessings dramatischer Wirksamkeit geltend?« oder »Herders Charakter, Geistesrichtung und Schreibweise, verglichen mit der Lessings« – beide 1884), 19 Siehe Anm. 8. 20 Die vollständige Liste der Aufsatzthemen für den Deutschunterricht wird im Anhang angeführt.
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neben solchen, die sich auf die Kreativität und kognitive Selbstständigkeit der Schüler fördernd auswirkten und die Vermutung nahe legen, dass die Beschäftigung mit dem philologischen Stoff – besonders in den höheren Klassen – auf einem guten Niveau stattfinden konnte (u. a.: »Malerei und Dichtkunst, ihre Gebiete und ihr Verhältnis nach Lessings Laokoon, durch selbstgefundene Beispiele illustriert«, 1888, oder »Wie denke ich mir ein Bild: »Die Abfahrt der Griechen von Troja« nach den Grundsätzen in Lessings Laokoon?«, 1892). Eine kritische Durchsicht der Themen lässt, wenn auch nur annähernd, auf die Behandlung der Stoffe schließen. Besonders im Bereich des Dramas stößt man auf ein markantes Profil. Die Stücke, darunter auch die Lessings, werden wohl als fertige und parate Persönlichkeitsvorlagen verwendet, bzw. ein Material, das zur Reflexion und Auseinandersetzung mit verschiedenen Persönlichkeitstypen veranlasst und sie rechtfertigt. Diese deutlich überwiegende charakterologische Rezeption birgt oft ein verkapptes Identifikationsangebot, wie z. B. in den Aufsätzen: »Was versteht Tellheim unter Ehre und wie lässt er sich durch dieselbe in seinen Handlungen bestimmen?« (1895), »Wodurch erweckt Lessing im I. Akte seines Lustspiels ›Minna von Barnhelm‹ unsre Teilnahme für den Major von Tellheim?« (1900), »Der Wachtmeister Paul Werner in Lessings Minna von Barnhelm. Eine Charakteristik« (1903) oder »Wodurch zeigt Just seine Dienertreue? Nach Lessings Minna von Barnhelm« (1903). Mit Vorliebe wird hier immer wieder zu Vergleichen gegriffen, damit im Prozess eines GegeneinanderAbwiegens die Stichhaltigkeit der Identifikationsmuster umso einleuchtender erscheint. Die Themen wie: »Tellheim, Werner, Riccaut de la MarliniHre, die drei Vertreter des Krieges in ›Minna von Barnhelm‹« (1886), »Die beiden Gruppen der Männercharaktere in Lessings ›Emilia Galotti‹ geschildert und geschieden« (1888), »Riccaut de la MarliniHre und Major von Tellheim. Ein Vergleich« (1898), »Major von Tellheim und Riccaut de la MarliniHre, zwei Offiziere Friedrichs des Grossen« (1900), »Just und Werner. (Ein Vergleich nach Lessings ›Minna von Barnhelm‹)« (1901), »Riccaut und Tellheim« (1903) usw. gehören hierher. Eine nächste thematische Gruppe bilden diejenigen Aufsätze, die durch Anvisierung negativer Muster eine Reflexion über die anstrebenswerten Eigenschaften ermöglichen und so die positiv zu bewertenden um so markanter hervortreten lassen. Diese Tendenz triff z. B. für den Aufsatz: »Charakteristik des Prinzen und Marinellis in Lessings Emilia Galotti« (1896) zu. Die These vom Übergewicht der charakterbildenden Optik in der Betrachtung der Dramen, auch der Lessings, wird im Verlauf der vorliegenden Ausführungen in der Abhandlung »Über Charakterbildung der Schüler höherer Lehranstalten« aus der Feder des für das Fach Deutsch in den oberen Klassen zuständigen Dr. Waldemar Wolff eine starke Unterstützung erhalten. Diese »real-utopische« Optik wird durch den intendierten Aufbau referenzieller Bezüge zwischen der textuellen und extratextuellen Wirklichkeit gekennzeichnet. Man kann das gut in dem
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schon erwähnten Aufsatz: »Major von Tellheim und Riccaut de la MarliniHre, zwei Offiziere Friedrichs des Grossen« (1900) oder dem Thema: »Welche Eigenschaften zeigt der deutsche Soldat in Lessings Minna von Barnhelm?« (1905) beobachten. Das thematische Spektrum runden die Arbeiten ab, in denen ein dramentechnischer Diskurs zur Sprache kommt. Selbst wenn seine Aufgabe v. a. darin bestand, den Grad der literaturwissenschaftlichen Reflexion über das Gelesene zu steigern, und dadurch Lesehilfe zu leisten, ist seine eher untergeordnete Rolle nicht zu übersehen. Zu solchen Themen gehören u. a.: »Die Exposition in ›Minna von Barnhelm‹« (1895), »Wie schürzt sich in Lessings »Minna von Barnhelm« der dramatische Knoten?« (1901) oder: »Hat Lessing in seiner Emilia Galotti die in der hamburgischen Dramaturgie aufgestellten Regeln befolgt?« (1901).
2.2
Das Städtische Lyzeum mit Oberlyzeum, Oberrealschul-Studienanstalt i. E. und Lehrerinnen-Seminar zu Kattowitz O.-S.
2.2.1 Zur Geschichte der Anstalt Die bewegte, schon an ihren wechselnden Namen21 deutlich ablesbare Geschichte dieser Einrichtung, deren unentwegte Versuche, sich durch ein immer wieder neu an die Bedürfnisse des Milieus zugeschnittenes Angebot einen festen Platz in der Bildungslandschaft der Region zu sichern, legt ein beredtes Zeugnis davon ab, wie schwer es trotz der permanent unternommenen Versuche war, überkommene Denkschemata zu durchbrechen, um den jungen Frauen eine angemessene Bildung zu geben. Die zahlreichen Umwandlungen, welche die Schule durchlief, sind Zeugnisse der Hindernisse, mit denen sie zu kämpfen hatte. Die städtische höhere Töchterschule zu Kattowitz O.-S. wurde relativ schnell, jedenfalls an der Entwicklung von Kattowitz als einer Stadt gemessen, am 5. April 1875 ins Leben gerufen, nachdem dort schon 1864 eine private höhere Töchterschule gegründet worden war. Die Übernahme jener Anstalt durch die Stadt wurde ursprünglich mit Begeisterung begrüßt, die sich aber später nur noch bei den Behörden erhielt. Das Jubiläum des zehnjährigen Bestehens der 21 Bis zur endgültigen Benennung firmierte die Schule unter den Namen a) Städtische Höhere Töchterschule [ab 1891 Mädchenschule] zu Kattowitz O.-S., b) Städtische Höhere Mädchenschule und Lehrerinnen-Seminar zu Kattowitz O.-S., c) Städtische Höhere Mädchenschule mit Lyzeum (Frauenschule und Höherem Seminar) und Volksschullehrerinnen-Seminar zu Kattowitz O.-S., d) Städtische Höhere Mädchenschule mit Lyzeum (Frauenschule und Höherem Seminar) Oberrealschul-Studienanstalt i. E. und VolksschullehrerinnenSeminar zu Kattowitz O.-S.
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Schule gab ihrem Rektor, A. Seedorf, einen Anlass, die Hoffnung auszudrücken, dass auch die »Indifferente[n] oder Gegner mit der Zeit die Unrichtigkeit ihrer Beurteilung einsehen und der Anstalt das Vertrauen zuwenden«22 würden. »Zehn Jahre«, so Seedorf, »hat die Schule den Stürmen, die von aussen und innen die Existenz derselben bedrohten, widerstanden und ist in den letzten Jahren in ruhigere Bahnen eingetreten, welche ein allmähliches gedeihliches Fortschreiten mit Sicherheit vorausbestimmen lassen.«23 Der Widerstand, auf den die Anstalt schon in ihren ersten Jahren gestoßen war, und die Abneigung gegen tiefgreifende Veränderungen im Bereich der gesellschaftlichen Rollenverteilung mussten tatsächlich enorm gewesen sein, wenn ihr späterer Leiter, Bünger, noch 1907 nicht nur auf die Aufgaben der Kattowitzer Bildungsstätte verwies, sondern sich durch die Umstände genötigt fühlte, überhaupt die Daseinsberechtigung des höheren Mädchenschulwesens vor Augen zu führen. »Die Höhere Mädchenschule ist nicht eine Luxusschule, die man haben oder nicht haben kann, sondern eine höhere Lehranstalt für Mädchen, die eben so notwendig ist, wie höhere Knabenschulen, denn der deutschen Frau fällt in der Gegenwart mehr als in früheren Zeiten eine sehr wichtige Rolle bei der geistigen und sittlichen Weiterbildung unseres Volkes zu, und deshalb müssen unsere jungen Mädchen, an die das Leben des XX. Jahrhunderts erhöhte Anforderungen stellt, auch mit größerem Wissen und Können von der Schule ausgerüstet werden, als bisher vielfach geschehen konnte.«24
Die Schülerinnenzahl, die für die oberschlesische Anstalt von Anfang an ein bedeutendes Problem darstellte, konnte im Laufe der Zeit stabilisiert werden. Im Mai 1875 gab es 156 Schülerinnen, im Mai 1885 waren es 189. Die schwierigste Phase musste die Schule um das Jahr 1881 durchmachen, als die Schülerinnenzahl zeitweise unter 150 fiel. Seitdem nahm die Zahl der Anmeldungen, wenn auch nicht kontinuierlich so doch erkennbar, zu, sodass 1890 die Marke von Zweihundert überschritten werden konnte. Vom Mai 1876 bis Oktober 1880 war mit der Einrichtung eine Lehrerinnenbildungsanstalt verbunden. Im Schuljahr 1906/07 wurde der Beschluss gefasst, »den Ausbau der Anstalt zu einer vollen Doppelanstalt durchzuführen.«25 Die Selekta, die sich mehrere Jahre lang
22 Jahresbericht der städtischen höheren Töchterschule zu Kattowitz O.-S. über das Schuljahr 1884/85. Hrsg. von A. Seedorf. Kattowitz: G. Siwinna 1885, S. 3. 23 Ebd. 24 Jahresbericht der Städtischen Höheren Mädchenschule und des Lehrerinnen-Seminars (mit Berechtigung zu Entlassungs-Prüfungen) zu Kattowitz O.-S. über das Schuljahr 1906/07 vom Direktor Bünger. Kattowitz: Buch und Kunstdruckerei Julius Herlitz [1907], S. 3. 25 Ebd., S. 4. Die Schule musste ein relativ gutes fachliches Niveau erreicht haben. Das lässt sich zum einen am Aufwuchs der Anstalt ablesen (beispielsweise umfasste die Höhere Mädchenschule im Schuljahr 1909/10 zehn aufsteigende Stufen mit insgesamt 16 Klassen, da sechs Klassen wegen großer Schülerinnenzahl geteilt werden mussten), das unter eher ungünstigen Umständen erfolgte. Zum anderen an den verschiedenen Bildungseinrichtungen,
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bewährt hatten, verschwanden ab 1909, da die Reform des Mädchenschulwesens von 1908 zehn Stufen voraussetzte und somit die wahlfreien Kurse entbehrlich machte. Das Höhere Lehrerinnen-Seminar begann sich 1907 aus dem Volksschullehrerinnen-Seminar als eine selbstständige Anstalt zu entwickeln und erreichte 1909 seine endgültige dreiklassige Gestalt, während das ebenfalls dreiklassige Volksschullehrerinnen-Seminar als »organisch nicht mehr dazu gehörige Anstalt«26 fortbestand und abgegliedert werden sollte. Im beginnenden 20. Jahrhundert scheint niemand mehr die Existenz und Aufgaben des Kattowitzer Frauen-Bildungszentrums in Frage gestellt zu haben. Die hohen Schülerinnenzahlen erbringen den Beweis einerseits für den Bildungswillen junger Frauen, die darin eine Chance für sich sahen, selbstständig zu werden, andererseits für das Verständnis der Eltern für die gesellschaftlichen Umwandlungen der Wendezeit des 19. zum 20 Jahrhundert. Aus einer kleinen, ums Überleben kämpfenden Einrichtung mit 156 Schülerinnen wuchs die Anstalt zu einem Bildungszentrum, in dem im Schuljahr 1909/10 insgesamt 755 Schülerinnen unterrichtet wurden, davon 553 (kath. 207, evang. 186, jüdisch 160) in der Höheren Mädchenschule, 77 (kath. 37, evang. 26, jüdisch 14) im Höheren Lehrerinnen-Seminar, 34 in der Oberrealschulstudienanstalt i. E. (kath. 10, evang. 15, jüdisch 9) und 91 im Volksschullehrerinnen-Seminar (kath. 78, evang. 13, jüdisch 0).
2.2.2 Lessing in Programmen der Kattowitzer Mädchenschule und der mit ihr verbundenen Bildungseinrichtungen Der Vergleich mit dem Städtischen (Knaben-)Gymnasium zu Kattowitz zeigt eine weit geringere Präsenz Gotthold Ephraim Lessings in Schulschriften der Höheren Mädchenschule. Ähnlich wie im vorigen Fall sieht man eine besondere Vorliebe für »Minna von Barnhelm«, die von Anfang an im Programm der oberen Klassen der Höheren Töchter-, dann Mädchenschule und später des Lyzeums stand. Das beliebte Drama stellte auch eine wichtige Grundlage für die Aufsatzthemen dar ; gleichwohl sind diese nicht so zahlreich und wirken etwas formelhafter : »Welche Handlungen charakterisieren den Major von Tellheim in Lessings ›Minna von Barnhelm‹ als echten Edelmann« (1887), »Tellheim und seine Untergebenen« (1891), »Riccaut de la MarliniHre und Major von Tellheim« (1910), »Tellheims Gründe für sein Verhalten gegen Minna und deren Widerdie ihr im Laufe der Jahre angekoppelt wurden; ferner an der verhältnismäßig zahlreich besuchten Selekta, in die z. B. im Schuljahr 1906/07 22 Schülerinnen eintraten. 26 Jahresbericht der Städtischen Höheren Mädchenschule mit Lyzeum (Frauenschule und Höherem Seminar) und Volksschullehrerinnen-Seminar zu Kattowitz O.-S. Schulnachrichten über das Schuljahr 1909/10. Kattowitz O.-S.: Siegfried Perls 1910, S. 1.
188
Cezary Lipin´ski
legung« (1914). Lessings »Minna« war auch das bevorzugte Stück in der Oberrealschulstudien-Anstalt i. E. Zu einer deutlichen Steigerung des Interesses an Texten Lessings kam es interessanterweise im frühen 20. Jahrhundert, gerade als dieses in der parallelen Knabenanstalt nachließ. So tauchten zwischen 1912 und 1914 in den wissenschaftlichen Klassen des Oberlyzeums sowohl »Emilia Galotti« als auch »Nathan der Weise« als Lektüren auf. Auch die Oberrealschulstudien-Anstalt i. E. erweiterte ihre Lehraufgaben in der II. Klasse um »Nathan« (1912/13–1913/14) und in der III. Klasse um die »Hamburgische Dramaturgie« (1914), unter Beibehaltung der »Minna« im Programm der V. Klasse. Aber richtig populär war Lessing im Höheren Lehrerinnen-Seminar unmittelbar am Vorabend des großen Krieges (Schuljahr 1913/14). Nicht nur »Nathan« und »Emilia« wurden damals in der II. Klasse besprochen, sondern auch die »Erziehung des Menschengeschlechts« und eine Auswahl aus den »Briefen, die neueste Literatur betreffend«, wobei schon früher versucht wurde, Lessings Werke, namentlich »Nathan« und »Emilia«, sei es als Schul- oder Privatlektüre, in das Programm der Anstalt (u. a. 1906/07, 1910/11) zu integrieren. Im Schuljahr 1909/10 trat Lessing als der wichtigste Themenlieferant hervor, dem die meisten (im genannten Jahr gleich sieben27) Seminaraufsätze galten. 1908/09 wurde mit der Höheren Mädchenschule das Volksschullehrerinnen-Seminar verbunden, in dessen Programm »Minna von Barnhelm« und »Nathan der Weise« zumindest im Schuljahr 1909/10 stehen. An die Besprechung dieser Texte in der Klasse B. wurden auch zwei Aufsatzthemen28 angeschlossen.
2.3
Breslauer Gymnasien
2.3.1 Zu Traditionen der Breslauer Gymnasien Unter den elf höheren Schulen, über die Breslau in dem uns interessierenden Zeitraum (etwa dem Bestehen des Deutschen Reiches) verfügte, ragten fünf humanistische Gymnasien heraus: das Maria-Magdalena-, das Elisabet-, das Matthias-, das Friedrichs- und das Johannes-Gymnasium. Das Königliche St. Matthias-Gymnasium blickte bereits auf eine lange Tradition zurück, da es 27 1. »Tellheim nach dem ersten Aufzug in ›Minna von Barnhelm‹« (Klassenaufsatz); 2. »Paul Werner«; 3. »Wie führt Lessing in ›Minna von Barnhelm‹ den Konflikt herbei?« 4. »Rechas Engelschwärmerei«. 5. »Nathans erste Begegnung mit dem Tempelherrn« (Klassenaufsatz); 6. »Wie vollzieht sich bei dem Tempelherrn der Umschwung der Stimmung?« (Klassenaufsatz); 7. »Was erfahren wir im ›Nathan‹ über die Vorgeschichte«. 28 1. »Riccaut de la MarliniHre und Major von Tellheim«; 2. »Klopstock und Lessing« (Klassenaufsatz).
Zur Präsenz von Gotthold Ephraim Lessing im schlesischen Schulwesen
189
1638 als Jesuitengymnasium unmittelbar nach der Einschleusung der ersten Jesuiten nach Breslau gegründet worden war. Das Friedrichsgymnasium war eine eher typisch preußische Gründung, die sich 1812 aus einer Realschule entwickelte. Dafür machte das Johanneum Schlagzeilen, lange bevor die Anstalt dem ersten Jahrgang der Schüler ihre Pforten öffnen konnte. Bereits aus der Grundsteinlegung 1865 entwickelte sich eine jahrelange Kontroverse zwischen den Stadtverordneten der schlesischen Hauptstadt, deren katholischer Bevölkerung und dem preußischen Staat, die allgemeines Aufsehen erregte und als »Breslauer Schulstreit« in die Geschichte einging. Die zwei berühmtesten elitären Gymnasien Breslaus, das zu St. Maria-Magdalena und das zu St. Elisabet29, beide noch im 13. Jahrhundert (das Magdalenäum 1267; das Elisabetanum 1293) als Trivialschulen gegründet, konnten – über das Stadium der Lateinschulen – im 16. (1562 das Elisabetanum) und 17. Jahrhundert (1643 das Magdalenäum) in den Rang von Gymnasien aufsteigen. Das Magdalenäum war im 19. Jahrhundert deutlich größer ; im Schuljahr 1871/72 beispielsweise wurden dort insgesamt 1196 Schüler unterrichtet. In den darauf folgenden Jahren nahm die Schülerzahl zwar etwas ab, sie fiel jedoch nicht unter 800 Schüler. Demgegenüber war die Elisabetschule mit ihren 643 Schülern im Schuljahr 1872/73 oder gar 540 Schülern (von denen fast die Hälfte, nämlich 256, jüdischer Herkunft waren) im Schuljahr 1883/84 wesentlich kleiner. Ganz anders stand es um das 1872 gegründete Johannes-Gymnasium. Die Schülerzahl betrug damals 485 Schüler, darunter 69 jüdische. In den nächsten Jahren änderten sich die Verhältnisse nur unerheblich, im Schuljahr 1873/74 z. B. lagen die Zahlen entsprechend bei 522 und 79. Dafür konnte man in den 1890er Jahren eine deutliche Abschwächung der Wachstumsdynamik registrieren, als die Schülerzahlen auf 277 christliche und 102 jüdische Gymnasiasten sanken. Dabei machte sich aber nicht bloß die um die Hälfte verminderte Schülerzahl bemerkbar, vielmehr gab es eine radikale Veränderung der Größenverhältnisse zwischen den christlichen und jüdischen Schülern, die sich in den 1890er Jahren anbahnten, um am Anfang des 20. Jahrhunderts zum Ausbruch zu gelangen. Um diese Tendenz zu veranschaulichen, sei hier noch auf das Schuljahr 1906/07 hingewiesen, als das Gymnasium 348 christliche und 193 jüdische Schüler hatte.
29 Von 1562 an, als die Anstalt unter Rektor Winkler den Status eines Gymnasiums erhielt und ein neues Gebäude bezog, schrieb sich das Elisabetanum, um seine lange humanistische Tradition hervorzuheben, ohne »h«.
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Cezary Lipin´ski
2.3.2 Lessing in Programmen der Breslauer Gymnasien Die Recherchen in Schulschriften des Maria-Magdalena-Gymnasiums aus den 1870er Jahren ergaben eine klare, wenn auch nicht überwältigende Textauswahl Lessings. Als Lektüren wurden Auszüge aus der »Hamburgischen Dramaturgie« und »Laokoon« in der Oberprima sowie »Minna von Barnhelm« und »Emilia Galotti« in der Obersekunda gelesen. Unter den angeführten Aufsatzthemen sind diejenigen, welche sich mit dem Schaffen des »Nathan«-Autors beschäftigen würden, äußerst rar. Beispielsweise wurde für das Jahr 1872 nur ein einziges Thema in der Obersekunda (»Darstellung der Fabel aus Lessing’s ›Philotas‹«) angeführt, ebenso 1876 in der Unterprima (»Inwiefern kann man ›Minna von Barnhelm‹ ein preussisches Drama nennen?«). Manchmal werden die Angaben recht unpräzise, was beim Fehlen einer Zusammenstellung von konkreten Aufsatzthemen jede sichere Identifikation der Einzelheiten der Lektüreliste schier unmöglich macht. So wird im Oberprima-Programm von 1873 die »Lectüre Lessingscher und Schiller’scher prosaischer Schriften«30 erwähnt, während in dem Programm von 1876 von der »Lectüre prosaischer und poetischer Werke von Lessing und Goethe« die Rede ist. Interessantes und Aufschlussreiches bringt das Magdalenäum-Programm von 1874, in dem zwar keine Werke Lessings explizit angeführt werden, dafür aber der Schriftsteller im Kontext der Patriotismus-Debatte in der dieses Programm eröffnenden Abhandlung »Goethes Verhältnis zu Vaterland und Staat« aus der Feder eines gewissen »College[n] Tardy« auftaucht. Tardy, der vor allem für Latein und Griechisch zuständig war, aber auch Deutsch unterrichtete, rechnet Lessing zu »denselbigen deutschen Männern, welche für das künstlerische und wissenschaftliche Leben ihres Volkes und Zeitalters das tiefste Verständnis verriethen, [denen aber] der Antheil an den politischen und nationalen Angelegenheiten abhanden gekommen war«31, so dass ihre Äußerungen bis in die Gegenwart hinein »das schmerzlichste Erstaunen«32 erregen. Er beruft sich dabei auf die bekannte Stelle aus »Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer«: »Ich dächte! Recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staate Männer geben möchte, die über die Vorurteile der Völkerschaft hinweg wären, und genau wüßten, wo Patriotismus, Tugend zu sein aufhöret.«33 In der Folge führt Tardy,
30 Jahres-Bericht des städtischen Gymnasiums zu St. Maria-Magdalena über das Schuljahr von Ostern 1872 bis Ostern 1873. Hrsg. von dem Director der Anstalt Dr. Otto Heine. Breslau: Grass, Barth & Comp. (W. Friedrich) 1873, S. 36. 31 Tardy : Goethes Verhältnis zu Vaterland und Staat. In: Programm des Gymnasiums zu St. Maria-Magdalena Breslau. Breslau: Grass, Barth & Comp. (W. Friedrich) 1874, S. 7. 32 Ebd., S. 6. 33 Lessing, Gotthold Ephraim: Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer. In: Ders.: Werke. Hrsg. von Herbert G. Göpfert in Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke,
Zur Präsenz von Gotthold Ephraim Lessing im schlesischen Schulwesen
191
ohne eine genauere Quelle angegeben zu haben, eine Aussage aus »einem späteren Briefe« an, die er ebenfalls Lessing zuschreibt: »Was ich von dem übertriebenen Patriotismus einfliessen lassen, war weiter nichts, als eine allgemeine Betrachtung, die nicht sowohl der Grenadier, als tausend ausschweifende Reden, die ich hier – in Berlin – alle Tage hören muss, bei mir rege gemacht hatten. Ich habe überhaupt von der Liebe des Vaterlandes (es thut mir leid, dass ich Ihnen vielleicht meine Schande gestehen muss) keinen Begriff und sie scheint mir auf ’s Höchste eine heroische Schwachheit, die ich recht gern entbehre.«34
Lessings Aussage über den »Patriotismus als einer heroischen Schwachheit« rief offensichtlich an der Schwelle zum 20. Jahrhunderts immer noch Entrüstung hervor und wurde als eine Verirrung eines bedeutenden Mannes gedeutet und kritisch hinterfragt. Sie gab nicht nur Anlass zu Kritiken seitens etlicher Lehrer, sondern funktionierte auch eine Zeit lang als ein beliebtes Aufsatzthema, wofür u. a. die Programme des Johannes-Gymnasiums mit den Klassenarbeiten von 1892/93 »Ist der Patriotismus, wie Lessing einmal sagt, eine heroische Schwachheit?« und von 1898/99 »Hat Lessing mit seiner Äußerung recht, dass der Patriotismus eine heroische Schwachheit sei?« den Beweis erbringen. Tardy zitiert noch den berühmten, gleichwohl aus seiner Sicht alle freiheitlichen Bemühungen beleidigenden Ausspruch Lessings »Was Blut kostet ist gewiß kein Blut werth«35 und schließt seine Ausführungen zum »Nathan«-Autor ab, indem er mit Fassungslosigkeit die Absurdität von dessen negativem Urteil über den Staat als »notwendiges Übel« konstatiert. Dabei beruft sich Tardy erneut auf keine konkrete Textstelle; die Vermutung liegt aber nahe, dass es sich wieder um eine Aussage aus »Ernst und Falk« handelt: »Wende dich itzt, wie du willst. – Genug, ich denke mir nun aus deinen Reden die Freimäurer als Leute, die es freiwillig über sich genommen haben, den unvermeidlichen Übeln des Staats entgegenzuarbeiten.«36 Demgegenüber glaubt der Breslauer Gymnasiallehrer, dass der Staat »nach der heutigen Anschauung die menschenwürdigste Schöpfung« darstelle, »das [Uebel] unabweislich sei, weil mal die Menschen auf der weiten Erde nicht existiren könnten, ohne sich zu einzelnen Staaten zu vereinen und durch diese von einander zu trennen«37. Durch die Nachforschungen in den Programmen des Breslauer Elisabetanums der 1870er und 1880er Jahre konnte eine etwas andere Auswahl von Lessings Texten als im Fall der Konkurrenzanstalt ermittelt werden.
34 35 36 37
Gerd Hillen, Albert von Schirmding und Jörg Schönert. 8 Bde. München: Hanser 1970ff. Bd. 8, S. 465. Zitiert nach Tardy, Verhältnis. 1874, S. 6. Die Briefstelle: Gotthold Ephraim Lessing an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 14. Februar 1759. Lessing, Ernst und Falk. In: Werke. Bd. 8. 1970ff., S. 480. Ebd., S. 467. Tardy, Verhältnis. 1874, S. 6.
192
Cezary Lipin´ski
1871/ 1872
1872/ 1873
X
X
1883/ 1884
1. »Hamburgische Dramaturgie« (Prima) 2. »Laokoon« (Prima) 3. »Briefe, die neueste Literatur betreffend« (Auswahl) (Prima)
1885/ 1886 X
X
4. (Unbestimmte) Auswahl aus Lessings Werken (Prima B) 5. »Abhandlungen [über die Fabel]« (Sekunda)
X X
6. »Minna von Barnhelm« (Sekunda) 7. »Nathan der Weise« (Sekunda)
X X
X
8. »Emilia Galotti« (Sekunda)
X
X
X
Das interessante Novum gegenüber den Programmen anderer höherer Schulen stellte dort die konsequente Zuordnung von literar- oder kulturtheoretischen Schriften Lessings zu den Lehraufgaben der Prima dar, bei gleichzeitiger Vorverlegung sämtlicher Dramen sowie der »Abhandlungen [über die Fabel]« auf die Sekunda. Die Zusammenstellung der Themen für schriftliche Aufsätze weist auf eine etwas eingehendere und vielseitigere Beschäftigung mit dem Gelesenen hin. Schuljahr Klasse 1. 1871/ Prima 1872 Sekunda 2. 1872/ 1873 3. 1883/ 1884
Aufsatzthema »Lessings und Herders Wirken als die Veranlassung der Sturm- und Drangperiode« 1. »Versuch einer Charakteristik des Prinzen in Lessings ›Emilia Galotti‹«; 2. »Inhaltsangabe des Lustspiels ›Minna von Barnhelm‹ von Lessing« (Klausurarbeit.)
Sekunda 1. »Versuch einer Charakteristik der Gräfin Orsina in Lessings ›Emilia Galotti‹«; 2. »Wie motiviert Lessing die Ermordung der ›Emilia Galotti‹?« Prima A »Das Fehlerhafte an der Handlung in Lessings ›Sara Sampson‹« Prima B »Die Exposition in Lessings ›Minna von Barnhelm‹« Sekunda 1. »Lessings Persönlichkeit nach ihrer rein menschlichen Seite«; 2. »Gang der Untersuchung in der ersten von Lessings Abhandlungen über die Fabel«
4. 1885/ 1886
Prima
1. »Die aristotelische Definition der Tragödie (im Anschluss an Lessings ›Hamburgische Dramaturgie‹)«; 2. »Wie hat Lessing in seinem Jugendlustspiel die ›Juden‹ dargestellt?« 3. »In Lessings ›Philotas‹ lässt sich sowohl griechischer als Shakespearescher Einfluss nachweisen«; Abiturienten Prüfung: Ostern 1886: »Zu welchen Resultaten ist Lessing in seiner Hamburgischen Dramaturgie gelangt?«
Zur Präsenz von Gotthold Ephraim Lessing im schlesischen Schulwesen
193
Im Johannes-Gymnasium haben wir es mit einer »typischen« Auswahl von Lessings Texten zu tun. Die drei wichtigsten Dramen, »Nathan«, »Emilia« und »Minna«, wurden bezeichnender Weise von »Laokoon« und der »Hamburgischen Dramaturgie« begleitet. Die Auswahl vervollständigen einige Fabeln, die zu den Lehraufgaben der unteren Klassen (hier erneut der Quinta) gehörten. Die übrigen Werke – mit Ausnahme der »Minna«, die üblicherweise in der Sekunda besprochen wurde – wurden auf verschiedenen Stufen der Prima durchgenommen. Aber nicht die Auswahl, wie die folgende tabellarische Darstellung klar zeigt, verdient in erster Linie besondere Aufmerksamkeit; vielmehr ist es deren zeitliche Gestaltung, die auf eine deutliche Dynamisierung des Interesses an Lessings Texten im schulischen Bereich unmittelbar nach der Jahrhundertwende schließen lässt. In dieser Zeit gelangten alle fünf offenbar für klassisch gehaltenen Hauptwerke auf die Lektüreliste. An die Besprechung im Unterricht schloss sich in diesem Fall eine Festigung des Stoffes durch relativ zahlreiche Aufsätze sowie Klassen- und Klausurarbeiten an. Dabei reichte die Formulierung der Themen nicht über das (Zeit-)Typische hinaus. »Minna« wurde vor allem im Zusammenhang mit dem preußischen Staat sowie dessen Militär, und »Emilia« mit der Wirklichkeit der deutschen Duodezstaaten des 18. Jahrhunderts in Verbindung gebracht, während »Nathan« (in dieser Hinsicht aber auch »Minna«) vor allem als Charakterdrama gelesen wurde.
»Laokoon« (Prima) »Laokoon« (Unter-Prima) »Laokoon« (Unter-Prima) (Auswahl)
»Laokoon« (Ober-Sekunda) (Auswahl) »Minna von Barnhelm« (Ober-Sekunda)
»Minna von Barnhelm« (Unter-Sekunda) »Nathan der Weise« (Unter-Prima)
2. 3. 4.
5. 6.
7. 8.
13. »Emilia Galotti« (Ober-Prima)
»Lessings Fabeln« (Quinta) 11. (aus dem Lesebuch) 12. »Emilia Galotti« (Prima)
9.
»Nathan der Weise« (Ober-Prima) (Privatim) 10. »Nathan der Weise« (Ober-Prima)
»Hamburgische Dramaturgie« (Ober-Prima)
1.
Text (Klasse) X X
X
X X
X
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X
X X
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X X
X
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X
1873/ 1874/ 1876/ 1890/ 1891/ 1892/ 1893 1898/ 1902/ 1903/ 1904/ 1905/ 1906/ 1874 1875 1877 1891 1892 1893 1894 1899 1803 1804 1805 1806 1907
194 Cezary Lipin´ski
Zur Präsenz von Gotthold Ephraim Lessing im schlesischen Schulwesen
195
Schuljahr Klasse 1.
1890/ 1891 1892/ 1893
2.
1893/ 1894
3.
1898/ 1899
Aufsatzthema 1. »Wie erscheint Tellheims Charakter im ersten Aufzuge der Unter›Minna von Barnhelm‹?«; 2. »Soldaten Friedrichs des Großen. Sekunda Nach ›Minna von Barnhelm‹«[Klassenaufsatz]
OberPrima
»Ist der Patriotismus, wie Lessing einmal sagt, eine heroische Schwachheit?« [Klassenaufsatz] 1. »Der Wirt in Lessings ›Minna von Barnhelm‹ und in Goethes Unter›Hermann und Dorothea‹«; 2. »Der deutsche Soldat in Lessings Sekunda ›Minna von Barnhelm‹«. 1. »Major von Tellheim und Riccaut de la MarliniHre«; 2. »Der UnterMajor von Tellheim. Ein Charakterbild«; 3. »Charakteristik Sekunda des Wirtes und des Dieners Just aus ›Minna von Barnhelm‹« 1. »Tellheim und Riccaut. Ein Vergleich«; 2. Die Vorgeschichte Untervon Lessings ›Minna von Barnhelm‹« [Klassenarbeit]; 3. »SolSekunda daten Friedrichs des Großen (Nach Lessings ›Minna von Barnhelm‹)« UnterPrima OberPrima
»Charakteristik Nathans des Weisen nach Lessing« 1. »Hat Lessing mit seiner Äußerung recht, dass der Patriotismus eine heroische Schwachheit sei?« [Klassenaufsatz]
1. »Was erfahren wir im ersten Aufzuge von Lessings ›Minna Obervon Barnhelm‹ und Tellheims Charakter?«; 2. »Minna von Sekunda Barnhelm«; 3. »Tellheim« 1. »Welche Züge der Verwandtschaft zeigen Lessings ›Emilia OberGalotti‹ und Schillers ›Kabale und Liebe‹«; 2. »Was hat der Prima Derwisch in Lessings ›Nathan‹ mit dem Klosterbruder gemein?«
4.
1902/ 1903
5.
1903/ 1904
Ober»Minnas ›Spiel‹ und seine Wirkung auf Tellheim« [KlassenSekunda aufsatz] 1. »Welche dramatische Bedeutung hat das erste Gespräch Oberzwischen Marinelli und dem Prinzen?«; 2. »Die Audienzszene Prima in Lessings ›Nathan‹ und Schillers ›Don Carlos‹. (Ein Vergleich.)«
6.
1904/ 1905
7.
1905/ 1906
Ober»Züge der Treue in Akt I von ›Minna von Barnhelm‹« Sekunda »Wie widerlegt Lessing in seinem ›Laokoon‹ die Behauptung UnterWinckelmanns, das »edle Einfalt und Stille Größe« das Prima vorzüglichste Kennzeichen der bildenden Kunst sei?« 1. »Wie berühren sich Goethes ›Iphigenie‹ und Lessings Ober›Nathan‹?«; 2. »Wie berühren sich Lessings ›Nathan‹ und Prima Schillers ›Don Carlos‹?« Ober»Was nimmt uns für ›Minna von Barnhelm‹ besonders ein?« Sekunda OberPrima
»Welche dramatische Bedeutung hat die Orsina-Szene in Lessings ›Emilia Galotti‹?«
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Cezary Lipin´ski
(Fortsetzung) Schuljahr Klasse 8.
1906/ 1907
Aufsatzthema »Mit welchem Recht nennt Goethe ›die zwei ersten Akte von OberLessings ›Minna‹ das unerreichbare Muster einer ExposiSekunda tion‹?« 1. »Die beiden Wachtmeister in Schillers ›Wallenstein‹ und in Lessings ›Minna von Barnhelm‹«; 2. »Nach ihren Taten sind sie (Homers Helden) Geschöpfe höherer Art, nach ihren UnterPrima Empfindungen wahre Menschen.« (Lessing, Laokoon); 3. »Gang der Untersuchung in Stück 1–4 von Lessings ›Laokoon‹«
OberPrima
1. »Wie berühren sich Lessings ›Nathan der Weise‹ und Schillers ›Don Carlos‹?«; 2. »Welche dramatische Bedeutung hat der erste Akt von Lessings ›Emilia Galotti‹?«; 3. »Ein deutscher Fürstenhof des 18. Jahrhunderts (Nach Lessings ›Emilia Galotti‹)«; 4. »Inwiefern erinnert Lessings ›Hamburgische Dramaturgie‹ an die Befreiungskriege?«
Über die Möglichkeit hinaus, vielfältige Relationen zur außertextuellen historisch-politischen Wirklichkeit aufzubauen, hatten die drei wichtigsten Stücke Lessings für den gymnasialen Unterricht den Vorzug, dass sie einen verhältnismäßig hohen Grad an bühnentechnischer Reflexion gestatteten, indem sie genug Raum für Vergleiche mit anderen deutschen »klassischen« Dramen ließen: »Minna« mit Goethes »Hermann« und Schillers »Wallenstein«, »Nathan« mit Goethes »Iphigenie« und Schillers »Don Carlos«, »Emilia« mit Schillers »Kabale«. Die an sich sehr anspruchsvolle komparatistische Arbeit scheint damals ein relativ wichtiges didaktisches Instrument gewesen zu sein, auf das bei Bedarf immer wieder gern zurückgegriffen wurde.
3.
Zur Bedeutung von persönlichen Vorlieben bei der Erstellung von Schulprogrammen
Vor dem Hintergrund der manifesten Unterschiede in der Präsenz Lessings in den Programmen der einzelnen höheren Schulen Schlesiens in den analogen Zeitperioden drängt sich die Frage auf, welche Rolle bei der Aufstellung von mehr oder minder verbindlichen Richtlinien für den Deutschunterricht die persönlichen Vorlieben der Schulleiter und/oder der für das Fach zuständigen Lehrer spielen konnten. Bei einzelnen Bildungsanstalten wird deutlich, dass man sich weitgehend an die von den Aufsichtsbehörden vorgeschriebenen Lehrpläne hielt. Dies belegen Verweise auf verbindliche amtliche Vorschriften. In solchen Fällen begnügte man sich meistens mit der Auflistung von Aufsatzthemen, die offenbar jedes Jahr neu ausgearbeitet wurden und deren Formulierung
Zur Präsenz von Gotthold Ephraim Lessing im schlesischen Schulwesen
197
weitgehend vom ästhetischen Geschmack und persönlichen Standpunkt des jeweiligen Deutschlehrers abhing. So findet sich z. B. im Jahresbericht des Städtischen Lyzeums mit Oberlyzeum von 1913 die typische Angabe: »Da infolge der endgültigen Durchführung der durch die Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens vom Jahre 1908 vorgeschriebenen Lehrpläne eine wesentliche Aenderung in den erledigten Lehraufgaben gegen das Vorjahr nicht eingetreten ist, werden in diesem Jahre die im Lyzeum erledigten Lehraufgaben mit Genehmigung des Königl. Provinzialschulkollegiums nicht mehr abgedruckt.«38
Diese sich besonders deutlich am Anfang des 20. Jahrhunderts abzeichnende Tendenz führt dazu, dass sich die erledigten Pensen manchmal nur noch an den Themen der aufgegebenen Aufsätze identifizieren lassen. Wenn also den Schulschriften früher eine Identität stiftende bzw. selbststilisierende Dimension innewohnte, die eine nicht unbedeutende Rolle in den damaligen Vermarktungsstrategien einzelner Schulen spielte, wurde diese eingebüßt, sobald der Brauch aufkam, wichtige Einzelheiten bezüglich des erledigten Lehrstoffs auszusparen. Zur Illustration des Problems greifen wir zum Programm des Elisabetanums für das Schuljahr 1885/86, wo es unter den Aufsatzthemen für die Prima auch zwei gibt, die auf eine schulische Beschäftigung mit Lessings »Die Juden« und »Philotas« schließen lassen,39 während das Programm lediglich die »Hamburgische Dramaturgie« erwähnt; sonst ist dort nur von der »kursorischen Lektüre« der Texte »aus der Zeit von 1700 bis Lessings Tod«40 die Rede. Unterschiede in der Zuordnung einzelner Texte zu bestimmten Klassen und Stufen und die Tatsache, dass in den einzelnen Schulen unterschiedliche Akzentuierungen in Bezug auf Lessings Werk gesetzt wurden, legen die Schlussfolgerung nahe, dass es eine relative Entscheidungsfreiheit jenseits der Vorgaben der Aufsichtsbehörden gegeben haben musste. Zu fragen wäre allerdings nach deren Grenzen. Das Phänomen lässt sich an der Geschichte des Kattowitzer Städtischen Gymnasiums konkretisieren. Die starke Präsenz Lessings setzte dort mit dem ersten Prima-Jahrgang im Schuljahr 1876/77 ein, als die Verantwortung für das Fach Deutsch beim Leiter der Anstalt, Dr. Ernst Müller, lag. Müller, der Philologie und Geschichte an der Berliner Universität studiert hatte und »mit 38 Jahresbericht des Städtischen Lyzeums mit Oberlyzeum, Oberrealschul-Studienanstalt und Lehrerinnen-Seminar zu Kattowitz O.-S. Für das Schuljahr 1913. Vom Direktor Bünger. Kattowitz O.-S.: G. Siwinna 1914, S. 13. 39 1. »Wie hat Lessing in seinem Jugendlustspiel die Juden dargestellt?«; 2. »In Lessings ›Philotas‹ lässt sich sowohl griechischer als Shakespearescher Einfluss nachweisen.« 40 Gymnasium zu St. Elisabet. Bericht über das Schuljahr 1885–1886. Zugleich Einladung zu den am 12., 13. und 14. April stattfindenden Schulfeierlichkeiten von Dr. Johannes Paech, Direktor. Breslau: Grass, Barth & Comp. (W. Friedrich) 1886, S. 8.
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Begeisterung der klassisch-philologischen Bildung anhing«41, war v. a. im Bereich der klassischen Sprachen Griechisch und Latein tätig. Das erwähnte Jahr war zwar das einzige, in dem er die Primaner auch in Deutsch unterrichtete, gleichwohl scheinen gerade damals die Weichen für das gymnasiale Literaturprogramm der folgenden achtzehn Jahre gestellt worden zu sein. Klassische Interessen durften bei Müller durchaus Sympathien für Lessing geweckt haben, auch wenn er in seiner Antrittsrede als Direktor des Gymnasiums die Aufgaben des Fachs Deutsch eher im Kontext des zeitspezifischen Elans der Gründungsjahre definierte. »Die Aufgabe des deutschen Unterrichtes auf den höheren Schulen fällt somit in die Augen. Der Schüler ist einzuführen in die Schätze unserer Märchen und Sagen, er muss kennen lernen die Helden der mittelalterlichen Dichtung mit ihrer Tapferkeit und Treue, er muss vertraut werden mit den herrlichen Gestalten unserer neueren Poesie, er muss vor allen Dingen herabsteigen zu dem unversiegenden Quell des deutschen Liedes in dem alle Schmerzen und alle Freuden unseres Volkes ausgesprochen sind. Und wenn er die Lieder deutscher Sehnsucht und deutscher Hoffnung liest, so wird er geloben einst als Mann nach seinen Kräften mit zu bauen an dem, wozu die grossen Männer unserer Tage den Grund gelegt, an dem Gebäude der deutschen Einheit, Wohlfahrt und Gesittung.«42
Abgesehen von dem besonderen Charakter einer Antrittsrede, welche sowohl den politischen Interessen der vorgesetzten Behörden als auch den lokalen der versammelten Ortsprominenz gebührend Rechnung tragen musste (sowie dem national-politischen Hintergrund der Reichsgründung), wirkt der Hang Müllers, immerhin eines klassischen Philologen, zur verstärkten Behandlung von Lessings Werken im Deutschunterricht einigermaßen überzeugend. Unter Müllers Nachfolger in der Funktion als Deutschlehrer, Dr. Waldemar Wolff aus Rieda bei Halle an der Saale, der ab dem Schuljahr 1877/78 mit wenigen Ausnahmen den Unterricht bis zu seinem Tod 1893 leitete, wurde Lessings Präsenz im Deutschunterricht zu einem kohärenten Modell gefestigt. Seinen Vorgesetzten leuchteten aber die Gründe für Wolffs Interesse am »Nathan«-Autor zunächst nicht ganz ein. Erst als Wolff 1892 die Abhandlung »Über Charakterbildung der Schüler höherer Lehranstalten« veröffentlichte, wurden auch seine Motive plausibel. Wolff, ein evangelischer Theologe, zu dessen Zuständigkeitsbereich v. a. Religions-, Hebräisch-, Geschichts- und Deutschunterricht (besonders in den obersten Klassen) fielen, verlieh dort seinen Lessing-Sympathien Ausdruck.
41 Aus dem Nachruf auf Dr. Ernst Müller. In: Jahresbericht über das Städtische Gymnasium zu Kattowitz. Ostern 1903. Kattowitz: Gebrüder Böhm, Buch- und Kunstdruckerei 1903, S. 17. 42 Programm, 1872, S. 13f.
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199
»Wie fern liegt uns doch die Zeit, wo der Deutsche in jenem Weltbürgertum lebte, das ihn über dem idealen Reiche des Geistes das gegebene Reich der Wirklichkeit vergessen liess, wo ein Genius wie Lessing klagen musste: »O über den thörichten Versuch der Deutschen ein Nationaltheater zu gründen, da sie doch keine Nation sind«, wo ein Göthe und Schiller sich zagend zurückzogen aus dem störenden Kampfe der Gegenwart, in dem kurzsichtigen Glauben, dass eine allmähliche, gesetzmässige Umbildung bewirken müsste, was doch nur die gewaltige That zustande bringen konnte.«43
Keine Schule eignete sich nach seiner Ansicht »in vollkommenerem und reicherem Masse« zur Persönlichkeitsziehung als die höhere, wo »persönliche, gesellschaftliche und nationale Bildung den Charakter des in das Leben tretenden Schülers«44 formen würden. Den Charakter definiert Wolff als »jene Bestimmtheit und Fertigkeit«, die dem Willen durch »Beugung, Überzeugung und Liebe für das Edle und Gute« (S. 3)45 gegeben werden. In den höchsten Klassen »scheint es [deshalb] angemessen, mit aller Energie auf das Sittliche der Gemeinschaft, sei es des Staates, sei es der Kirche hinzuweisen; dass jede Ordnung eine von Gott gewollte und zugleich eine dem menschlichen Wesen entsprechende sei. Ein Hinweis auf die Socialdemokratie als eine sittliche Verirrung wäre hier gewiss am Platze.«46
Das Fach Deutsch sei dafür prädestiniert, charakterformend zu wirken. Der geeignete Weg scheint Wolff ein emotional besetzter, erlebbarer Deutschunterricht zu sein, als dessen inbrünstiger Anhänger er sich herausstellt. »Lass den Schüler den Inhalt des Gelesenen nicht nur mit dem Verstande, sondern auch mit dem Gemüte auffassen, der Schüler soll mitfühlen, mit darin leben, das wird ihn zum grossen Teil über das Gemeine erheben, wird ihn bewegen, das Idealbild, das in jedem Lesestück, in jedem Liede enthalten ist, in sich aufzunehmen und auszugestalten.«47
Bei einer Zielsetzung, welche die persönlichkeitsbildende Dimension des Literaturunterrichts hervorhebt, kann es nicht verwundern, dass gerade dem Drama eine besondere, über die Grenzen des eng begriffenen Schulischen hinausgehende Rolle zugedacht wurde. Ein Charakteristikum einer solchen Behandlung von Stücken ist die Zumutung eines realtypischen Charakters, was das Schwinden der Möglichkeiten zu einer klaren Linienziehung zwischen literarischer Fiktion und außertextueller Welt nach sich zieht. 43 Wolff, Waldemar: Über Charakterbildung der Schüler höherer Lehranstalten. In: Jahresbericht über das Städtische Gymnasium zu Kattowitz. Ostern 1892. Kattowitz: L. Neumann 1892, S. 3. 44 Ebd., S. 5. 45 Ebd., S. 3. 46 Ebd., S. 6. 47 Ebd., S. 7.
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Cezary Lipin´ski
»Endlich in den oberen Klassen ist es die Welt im Kleinen, das Drama, – hier berufe ich mich auf unsren grossen Schiller – das durch die Darstellung des Charakters, wie er handelt und lebt, entschieden charakterbildend wirken muss. Der Schüler soll sich hineinleben in jene grossen Gestalten der Tragödie, soll Stellung zu ihnen nehmen in Liebe und Hass, in Bewunderung und Abneigung. Das Studium des Dramas, insbesondere der Tragödie, kann nicht genug empfohlen werden für die Bildung des Charakters […].« (S. 7)
Aus der Sicht Wolffs ist also auch Lessing nicht nur ein wichtiger deutscher Schriftsteller, der sich über respektable literarische Leistungen ausweisen kann, sondern im gleichen Maße einer, dessen Werke dem rein pädagogischen Interesse des Lehrers Rechnung tragen. Mit dem Tod Wolffs 1893 verringerte sich die Präsenz Lessings im Programm des Gymnasiums. Prof. Dr. Georg Hoffmann, ein Breslauer, der bereits ab 1881 in der Kattowitzer Anstalt als Geschichtslehrer tätig war, übernahm jetzt auch den Deutschunterricht in den obersten Klassen. Nicht nur die zeitliche Koinzidenz zwischen seinem Antreten der Stelle als Deutschlehrer und der durchgreifenden Reduktion des mit dem »Nathan«-Autor zusammenhängenden Lehrstoffs, sondern auch seine spätere Tätigkeit als Leiter der Anstalt scheinen den Beweis dafür zu erbringen, dass die vorgenommenen Kürzungen mindestens teilweise auf ihn persönlich zurückgingen. Von den Dramen blieben im Programm vorerst nur noch »Minna von Barnhelm« und »Emilia Galotti« übrig. Von den literartheoretischen Werken sollte nur noch »Laokoon« besprochen werden. 1903 versetzte der plötzliche Tod des langjährigen Direktors Ernst Müller das Kattowitzer Gymnasium in tiefe Bestürzung. Auch für den Deutschunterricht blieb er nicht ohne Folgen. Seitdem wurde auch die letzte kulturtheoretische Schrift Lessings, die sich im Programm der Anstalt erhielt: »Laokoon«, nur noch in Auszügen behandelt. Über die allem Anschein nach weit negativere Einschätzung der Bedeutung Lessings als Lehrstoff für das Gymnasium durch Hoffmann hinaus darf man aber auch den Zeitkontext nicht aus den Augen verlieren. Die Anforderungen an die Gymnasialbildung hatten sich am Anfang des 20. Jahrhunderts so gravierend verändert, dass die bisher verfolgten »traditionellen« Ziele des Gymnasiums (Umgang mit klassischen Sprachen und Literaturen, betont humanistische Allgemeinbildung) mit ihnen teilweise unvereinbar wurden. Die Herausstellung des Utilitarismus in der Jugendbildung, die Überbetonung der Fortschritte der modernen Naturwissenschaften und überschwängliche unreflektierte Technologiebegeisterung lies die alte Forderung nach der »praxisnahen« Realschulausbildung wieder aufleben. Diese Zeittendenzen kommen auch in Hoffmanns ziemlich halbherziger Verteidigung des humanistischen Gymnasiums zur Sprache, welche er als der neu in das Amt
Zur Präsenz von Gotthold Ephraim Lessing im schlesischen Schulwesen
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eingeführte Direktor in seiner feierlichen Ansprache 1904 formulierte.48 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen kann die fortschreitende Reduktion der Präsenz Lessings im Programm der Kattowitzer Anstalt, abgesehen von den persönlichen Vorlieben, zum Teil als ein Versuch aufgefasst werden, neuen Anforderungen zu entsprechen und so der Konkurrenz seitens der Schulen mit dem Realprofil standzuhalten. Auf der anderen Seite darf man nicht den Ortskontext aus den Augen verlieren. Konnten Breslauer Gymnasien trotz der neuen Gewichtung der Ziele der höheren Schulausbildung um die Jahrhundertwende weitgehend an den alten Idealen festhalten, so war das im jungen Kattowitz ohne längere humanistische Tradition und mit einem großen Anteil des Proletariats an der Gesamtbevölkerung nur bedingt möglich.
Resümee Die erhobenen Daten erlauben durchaus den Schluss, dass das Werk Gotthold Ephraim Lessings ein fester Bestandteil der Schulprogramme der schlesischen Gymnasien v. a. im Bereich des Deutschunterrichts war. Die angeführte 48 »So lange die Deutschen sich damit begnügten, das Volk der Dichter und Denker zu sein, so lange es ihnen nicht vergönnt war, auf politischem, gewerblichem und kommerziellem Gebiete eine hervorragende Rolle zu spielen, so lange schien das humanistische Gymnasium für die Eigenart des deutschen Volkes die geeigneteste Bildungsstätte zu sein, und neben den humanistischen Anstalten bestanden nur verhältnismässig wenige und zum Teil schwach besuchte Schulen realistischen Charakters. Als dann aber besonders nach der ruhmvollen Begründung des deutschen Reiches die deutsche Industrie einen gewaltigen Aufschwung nahm, als unter dem Schutz der deutschen Flagge der deutsche Handel sich die entferntesten Meere und die entlegensten Küsten erschloss, stellte es sich als unabweisbar nötig heraus, für einen grösseren Teil der heranwachsenden Jugend Bildungsstätten zu schaffen, auf welchen sie für die Betätigung im praktischen Leben besser vorgebildet werden konnten als dies auf dem humanistischen Gymnasium möglich war. So entstanden in kurzer Zeit überaus zahlreiche Realschulen, und bald entbrannte zwischen den Anhängern des humanistischen Gymnasiums und dieser neu emporblühenden Schulgattung ein heftiger Streit […]. Durch die Weisheit der vorgesetzten Behörde wurde es allerdings von vornherein verhindert, dass der Gegensatz ein so schroffer wurde: weder schwebt das humanistische Gymnasium ausschliesslich in idealen Höhen, so dass es den Boden unter den Füssen verlöre, noch sind die realen Anstalten so ausschliesslich auf das praktische Bedürfnis zugeschnitten, dass sie ihren Schülern keine Anregung zu einer idealen Lebensauffassung zu geben vermöchten. Durch die Beschränkung der den klassischen Sprachen gewidmeten Zeit ist es dem Gymnasium ermöglicht worden, seinen Schülern mathematische, naturwissenschaftliche und neusprachliche Kenntnisse in weit höherem Masse ins Leben mitzugeben, als dies früher der Fall war. Auf der andern Seite gewähren auch in den realen Anstalten nicht nur der Unterricht in Religion, Geschichte und der Muttersprache, sondern auch die Lektüre der Meisterwerke fremder Schriftsteller und bei entsprechendem Betrieb auch die Naturwissenschaften reiche Anregung zu idealem Denken.« (Jahresbericht über das Städtische Gymnasium zu Kattowitz. Ostern 1905. Kattowitz: Gebrüder Böhm, Buch- und Kunstdruckerei 1905, S. 18f.)
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Cezary Lipin´ski
Zusammenstellung wird allerdings u. a. wegen der in bestimmten Perioden typischen Praxis, die Lehraufgaben für einzelne Fächer entweder nur teilweise oder gar nicht abzudrucken, unvollständig bleiben müssen. Die Listen der benutzten Lehrbücher, die sich in den Jahresberichten der Schulen finden, und der Verweis auf diese in den Pensen für einzelne Fächer berechtigen zur Schlussfolgerung, dass Lessing in einem schwer zu erschließenden Umfang bereits in den unteren Gymnasialklassen besprochen wurde. Die Grundlage zu dieser Beschäftigung lieferten die offiziell zugelassenen Lesebücher. Über die Inhalte werden aber leider keine Informationen gegeben. Der »Nathan«-Autor galt offenbar als bedeutender, die humanistische Bildung begünstigender, gleichzeitig aber nicht einfacher Schriftsteller. Deshalb traute man meistens erst den oberen Prima-Klassen den Umgang mit dessen Werk zu. Eine Ausnahme stellte vor allem »Minna von Barnhelm« dar. Dieser im schulischen Raum beliebteste Text Lessings eignete sich nach einem allgemeinen Urteil – wohl des komödienhaften Charakters wegen – bereits für die SekundaKlassen. Notabene wurde diese Meinung auch im Ausland geteilt. (»Minna« ist mit 1778 der am frühesten ins Polnische übersetzte Text Lessings49 überhaupt, zu dem es auch recht früh didaktische Materialien gab.) Andererseits war Lessings Bedeutung nicht unumstritten. Im Deutschen Kaiserreich, wo Sozialdarwinismus und Pangermanismus50, übrigens nicht ohne Hilfe des Staates, zu herrschenden Ideologien aufstiegen, klangen seine kritischen Aussagen über Christentum und Patriotismus nicht nur kontrovers, sondern wirkten sich subversiv auf das Wertesystem der deutschen NachmärzGesellschaft aus. Aber auch in den Tätigkeitsbereichen, in denen man seine Bedeutung bislang fast ohne Vorbehalt anerkannte, z. B. in der Literaturkritik, wurden ihm am Anfang des neuen Jahrhunderts kleine Nadelstiche versetzt. So hielt man ihn wohl für den Vater einer letztendlich negativ eingestuften Tendenz in deutschen Schulen, die dazu geführt habe, dass bei der deutschen Jugend ein »Verständnis für das Grosse und Schöne und [eine] freudige Anerkennung überlegener Geister, nicht nur derjenigen, die offiziell in die Lehrpläne aufgenommen«51 waren, kaum vorhanden gewesen seien. Stattdessen habe man sie zu 49 Lessing, Gotthold Ephraim: Minna Barnhelm czyli szcze˛´scie z˙ołnierskie. Komedya w 5 aktach. Przeł. J. Debouhr [d. i. J. D. K. Mei.]. Warszawa: J. A. Poser 1778. (Teatr Polski; 4). Die erste Übersetzung der »Emilia Galotti« erschien erst 1820 (Emilia Galotti. Tragedya w 5 aktach. Przeł. Wojciech Bogusławski. In: Wojciech Bogusławski: Dzieła dramatyczne. Warszawa: N. Glücksberg 1820. T. 3, S. 6–151.). »Nathan« wurde 1867 (Nathan. Poemat dramatyczny. Przeł. Rozalia z Feliksjw Saulsonowa. Lipsk: W. Gerhard 1867) übersetzt. 50 Wehler, Das Deutsche Kaiserreich. 1994, S. 179–181. 51 »Jeder Künstler, der aus sich schafft, arbeitet, wie er muss, und ein wirklich grosser Künstler schafft wirklich Grosses, gleichviel ob es den jeweilig anerkannten Kunstregeln entspricht oder nicht. Diese spuken nur in den Köpfen der Kritiker und ändern sich fortwährend, wodurch? – eben durch die grossen Künstler. Diesen lohnt man gewöhnlich zu ihren
Zur Präsenz von Gotthold Ephraim Lessing im schlesischen Schulwesen
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»Kritikastern« erzogen. Ganz gleich, welchen Charakter die angeführten Beispiele haben, sie alle dokumentieren eine starke Position Lessings im Bewusstsein damaliger Deutscher. Noch an der Schwelle zum 20. Jahrhundert war er keine versteinerte Größe, sondern ein lebendiges und dynamisches Moment, das die mentale Lage der Deutschen nach wie vor mitprägte.
Lebzeiten damit, dass man sie zunächst möglichst lange ignoriert und dann, wenn das nicht mehr angeht, ihre Kunst durch hämisch absprechende Kritik blosszustellen sucht. Das ist meistens der Dank der Welt, wenn ihr die grossen Künstler das Beste ihres Könnens geben. Es ist ja bekannt, dass gerade die Deutschen in dieser Beziehung gross sind. Auch die Schule hat vielfach ihren Anteil an dieser Undankbarkeit; anstatt die Jugend zu Kritikastern zu erziehen, soll man sich bemühen, ihr Verständnis für das Grosse und Schöne und freudige Anerkennung überlegener Geister beizubringen, nicht nur derjenigen, die offiziell in die Lehrpläne aufgenommen sind, sondern aller. Das hat Lessing sicher nicht geahnt, dass er, als er die Kunst von überlieferten Fesseln freizumachen suchte, es Späteren ermöglichte, ihr neue Fesseln anzulegen.« In: Hacks, Franz: Über einige der hervorragendsten ausländischen Romane des 19. Jahrhunderts. Zweiter Teil. Beilage zum XXXIII Jahresbericht des städtischen Gymnasiums zu Kattowitz. Kattowitz: Gebrüder Böhm 1904, S. 34f.
»Hamburgische Dramaturgie« (Prima)
»Hamburgische Dramaturgie« (Auswahl) (Prima)
10.
11.
»Hamburgische Dramaturgie« (Auswahl) (Oberprima)
»Laokoon« 14. (Auswahl) (Prima)
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»Hamburgische Dramaturgie« 12. (Oberprima)
»Nathan der Weise« (Prima)
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»Minna von Barnhelm« (Untersekunda)
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»Minna von Barnhelm« (Sekunda)
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»Emilia Galotti« (häusl. Lesestoff) (Oberprima)
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»Emilia Galotti« (Oberprima)
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Schuljahr
Lessing im Programm des Städtischen [seit 1906 Königlichen] Gymnasiums zu Kattowitz
»Emilia Galotti« (Prima)
A.
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»Laokoon« (Prima)
»Laokoon« (Auszüge) (Oberprima)
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Freie Vorträge über Lessing (Prima)
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Lessings Bedeutung für die dt. Literatur (Prima)
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Lessings Leben (Prima)
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»Wie die Alten den Tod gebildet.« (häusl. Lesest.) (Unterprima)
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»Abh. über das Epigramm« (häusl. Lesest.) (Unterprima)
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»Abhandlung über die Fabel« (häusl. Lesest.) (Unterprima)
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»Über das Epigramm« (Prima)
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»Laokoon« (Auszüge) (Unterprima)
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»Abhandlungen 20. [über die Fabel]« (Prima)
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»Laokoon« 18. (Unterprima)
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»Laokoon« 16. (Oberprima)
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Text (Stufe)
Schuljahr
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Zur Präsenz von Gotthold Ephraim Lessing im schlesischen Schulwesen
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HÖHERES LEHRERINNEN-SEMINAR »Minna von Barnhelm« (Seminar B)
»Nathan der Weise« (Privatlektüre) (Seminar B) »Nathan der Weise« (II. Klasse) »Emilia Galotti« (II. Klasse) »Erziehung des Menschengeschlechts« (II. Klasse)
II. 1.
2. 3. 4.
7.
6.
5.
»Briefe, die neueste Literatur betr.« (Auswahl) (II. Klasse) Lebensbild Lessings und »Im Zusammenhange damit Behandlung [seiner] Hauptwerke« (II. Klasse) Aufnahmeprüfung für das LehrerinnenSeminar »Minna von Barnhelm«
»Minna von Barnhelm« (II. Klasse)
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Tabellarische Übersicht über die Präsenz G. E. Lessings in den Programmen der höheren Mädchenschulen zu Kattowitz
HÖHERE TÖCHTERSCHULE [MÄDCHENSCHULE] »Minna von Barnhelm« (I. Klasse)
B.
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»Minna von Barnhelm« (A. Klasse) »Nathan der Weise« (B. Klasse)
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VOLKSSCHULLEHRERINNEN-SEMINAR
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»Emilia Galotti« (O II [wissenschaftliche Klasse] »Nathan der Weise« (O I [wissenschaftliche Klasse])
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2.
»Hamburgische Dramaturgie« (Auszüge) (III. Klasse)
3.
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IV. LYZEUM, OBERLYZEUM 1. »Minna von Barnhelm« (O II)
»Minna von Barnhelm« (V. Klasse) »Nathan der Weise« (II. Klasse)
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III. OBERREALSCHULSTUDIEN-ANSTALT I. E.
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Zur Präsenz von Gotthold Ephraim Lessing im schlesischen Schulwesen
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Fritz Markewitz
Ein Beitrag zur textsortenlinguistischen Erschließung von Schulprogrammen
Schulprogramme spielten lange Zeit in der Forschung keine Rolle und dies insbesondere dort nicht, wo man eigentlich davon hätte ausgehen können, dass auf ihrer Grundlage Aussagen zur Geschichte des Unterrichts gemacht würden – der Bildungsforschung und der Erziehungswissenschaft. Bisher wurden sie insbesondere von der germanistischen Literaturwissenschaft und der Bibliothekswissenschaft untersucht. In der Literaturwissenschaft sind Schulprogramme in Verbindung mit Fragen der Kanonisierung wie auch der Konstituierung des kulturellen Gedächtnisses zum Gegenstand geworden. In diesem Rahmen wurde auch ihre Bedeutung für die Geschichte des Faches Germanistik hervorgehoben. In seinem Einführungsaufsatz des Bandes »Gotthold Ephraim Lessings ›Minna von Barnhelm‹ im Kulturraum Schule (1830–1914)« geht Carsten Gansel, neben einführenden Beschreibungen der Struktur, Geschichte und Funktionen von Schulprogrammen, auf die vielfältigen (fach)wissenschaftlichen Perspektiven ein, unter denen Schulprogramme in den Blick genommen werden können; ein Erkenntnisgewinn wäre erwartbar, sowohl für die Schulgeschichtsforschung, die historische Bildungsforschung, die Buch- und Bibliothekswissenschaften, die Schul-/ Fächerforschung, die Biographieforschung, als auch, speziell für die germanistische Literaturwissenschaft, für die Geschichte des Deutschunterrichts, Forschungen das kulturelle Gedächtnis betreffend und auch systemtheoretische Ansätze.1 Das bisherig existierende Forschungsdefizit hinsichtlich einer systematischen Erschließung und Charakterisierung von Schulprogrammen soll leitend für diesen Beitrag sein. Exemplarisch wird dabei auf die Möglichkeit einer textsortenlinguistischen Untersuchung von Schulprogrammen aus systemtheoretischer 1 Vgl. Gansel, Carsten: Zur Rolle und Funktion von Schulprogrammen bzw. Jahresberichten der höheren Schulen im 19. Jahrhundert. In: Gotthold Ephraim Lessings »Minna von Barnhelm« im Kulturraum Schule (1830–1914). Hrsg. von Carsten Gansel und Birka Siwczyk. Göttingen: V& R unipress 2011, S. 11–19, hier : S. 15f.
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Fritz Markewitz
Perspektive verwiesen. Das Einbeziehen der Systemtheorie dient der genaueren Bestimmung, da textexterne Merkmale, die durch die Zugehörigkeit der Textsorte zu einem oder mehreren Systemen bestimmt werden, textinterne Merkmale und damit auch die Textsorte als Ganzes determinieren. Die wechselwirkenden Beeinflussungs- und Konstitutionsprozesse von System(en) und Textsorte können so adäquat beschrieben und konstruktiv in die Analyse eingearbeitet werden. Um die Beschäftigung mit Schulprogrammen zu legitimieren, bedarf es des Herausstellens von spezifischen Merkmalen und Inhalten, die für den modernen Wissenschaftsbetrieb nutzbar gemacht werden können. Im bisherigen Verlauf ihrer Wiederentdeckung durch die verschiedenen Wissenschaftszweige rekurrierten die Autoren der jeweiligen Aufsätze auch auf die bisher geringe und eher unsystematische Nutzung von Schulprogrammen als Quellenmaterial. Die von Carsten Gansel und Birka Siwczyk verantwortete Reihe »Lessing im kulturellen Gedächtnis« erschließt zahlreiche Beiträge, die bislang in der Lessing-Forschung nicht zur Kenntnis genommen wurden und dies eben deshalb nicht, weil sie in Schulprogrammen erschienen sind. Gansel hebt in diesem Kontext die Bedeutung der Institution Schule, insbesondere des humanistischen Gymnasiums, für die kulturelle Sinnproduktion hervor und beschreibt diese als »entscheidende[n] Umschlagplatz für ›Bedeutungen‹«2. Im Kulturraum Schule würden die ›Bedeutungen‹ »archiviert und durch Kanonisierungen«3 werde »ein institutionalisiertes kulturelles Gedächtnis mitproduziert«4. Schulprogramme, deren Produktions- und zumindest partieller Rezeptionsort die Institution Schule war, können als Quelle für den Konstitutions- bzw. Konstruktionsprozess von ›Bedeutungen‹ für das kulturelle Gedächtnis verstanden und entsprechend ausgewertet werden. In diesem Zusammenhang analysiert, führten bisherige Forschungen zu Schulprogrammen zu einer Neubewertung der Lessing-Rezeption an Schulen, in denen der Autor, entgegen früherer Forschungsmeinungen, nicht nationalistisch vereinnahmt und dementsprechend interpretiert, sondern auf differenzierte Art und Weise aufbereitet und ausgedeutet wurde.5 Nun lassen sich Schulprogramme nicht nur aus literaturwissenschaftlicher 2 Gansel, Carsten: Gotthold Ephraim Lessing und das kulturelle Gedächtnis zwischen 1800 und 1914 – Plädoyer für eine Neusichtung von Quellen. In: Gotthold Ephraim Lessings »Nathan der Weise« im Kulturraum Schule 1830–1914. Hrsg. von Carsten Gansel und Birka Siwczyk. Göttingen: V& R unipress 2008, S. 11–34, hier : S. 17. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Vgl. Gansel, Carsten: Zur Wirkungsgeschichte von G. E. Lessings »Minna von Barnhelm« in den Höheren Lehranstalten des 19. Jahrhunderts oder Wie man in der Geschichte des Deutschunterrichts eine »Meistererzählung« konstruiert und bis in die Gegenwart ›falsch‹ ›erzählt‹. In: Bildung durch Dichtung – Literarische Bildung. Bildungsdiskurse literaturvermittelnder Institutionen um 1900 und um 2000. Hrsg. von Christian Dawidowski. Frankfurt/M.: Peter Lang 2013, S. 119–142.
Ein Beitrag zur textsortenlinguistischen Erschließung von Schulprogrammen
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Perspektive zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen machen. Betont wird ihre Bedeutung für weitere Wissenschaftszweige, etwa die historische Bildungsforschung oder die Wissenschaftsgeschichte.6 Auch bzgl. bibliothekswissenschaftlicher Fragestellungen erfahren Schulprogramme Beachtung.7 Ansätze und Perspektiven einer textsortenlinguistischen Erschließung, auch im Hinblick auf eine systematische Aufarbeitung, finden sich dagegen kaum. Ziel dieses Beitrages ist es, Möglichkeiten der textsortenlinguistischen Einordnung von Schulprogrammen aus systemtheoretischer Perspektive aufzuzeigen. Der gewählte systemtheoretische Ansatz soll der Beschreibung und Analyse der verschiedenen, die Textsorte konstituierenden sowie konstruierenden Merkmale dienen. Innerhalb der textsortenlinguistischen Forschung herrscht relative Übereinstimmung hinsichtlich der Bedeutung textexterner Merkmale für die Untersuchung von Textsorten. Im Laufe ihrer Entwicklung kam es zur Pragmatisierung der Textlinguistik, die sich dem interaktionalen Gefüge von Text und Umwelt öffnete.8 In diesem Zusammenhang konstatieren Christina Gansel und Frank Jürgens, dass »primär textsortenklassifizierend und maßgebend für die Existenz und das Wesen einer Textsorte […] die textexternen Merkmale [sind]«9. Jede Textsorte konstituiert sich in einem konkreten situationalen Gefüge und Sinnzusammenhang mit prägenden, bzw. die Textsorte determinierenden Merkmalen. Textsorten sind damit an Handlungsrollen der jeweiligen Systeme gebunden.10 Daher muss die Textsorte – so die Position von Christina Gansel – in das kontextuelle Umfeld eingeordnet und die sie bestimmenden textexternen Merkmale berücksichtigt und beschrieben werden.11 Beschreibungsmomente der Systemtheorie, von Luhmann als den gesamten Bereich der Wirklichkeit abdeckende Supertheorie mit Universalitätsanspruch angelegt,12 lassen sich für das der Textsorte zugehörige und zu analysierende kontextuelle Umfeld nutzbar machen. Christina Gansel hat nun mehrfach nachgewiesen, in welcher Weise ein Luhmann folgender systemtheoretischer 6 Vgl. Zimmer, Ilonka: Schulprogramme als Quellen für die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik und der Literaturwissenschaft. In: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 2008, H. 33/34, S. 125–133, hier : S. 125f. 7 Vgl. Wieckhorst, Katrin: Schulschriften und ihre Erschließung in Bibliotheken. Halle: Schriften zum Bibliotheks- und Büchereiwesen in Sachsen-Anhalt 95, 2013, S. 13–17. 8 Vgl. Heinemann, Margot/Heinemann, Wolfgang: Grundlagen der Textlinguistik. Interaktion – Text – Diskurs. Tübingen: Niemeyer 2002, S. IX. 9 Gansel, Christina/Jürgens, Frank: Textlinguistik und Textgrammatik. Göttingen: V& R unipress 2009, S. 91. 10 Vgl. ebd., S. 79–80. 11 Vgl. Gansel, Christina: Textsortenlinguistik. Göttingen: V& R unipress 2011, S. 13. 12 Vgl. Berghaus, Margot: Luhmann leicht gemacht. Eine Einführung in die Systemtheorie. Köln u. a.: Böhlau 2011, S. 24f.
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Ansatz für die Textlinguistik produktiv ist, weil möglich wird, die Funktionsweise einzelner und die Verbindung bzw. das relationale Gefüge verschiedener (komplexer) Systeme zu beschreiben und zu erklären.13 Es konnte nachgewiesen werden, wie produktiv es ist, wenn Methodik und Perspektive der Systemtheorie mit Beschreibungsansätzen der Textsortenforschung verbunden werden. Auf diese Weise ist es möglich, das komplexe Beziehungsverhältnis, darunter z. B. die Bezüglichkeit, die wechselseitige Einflussnahme und die gegenseitige (Mit-)Konstituierung von System(en) und Textsorte(n) adäquat abzubilden und zu beschreiben.14 Dabei werden die zu analysierenden Dimensionen eines Textes aus textlinguistischer und systemtheoretischer Perspektive zueinander in Beziehung gesetzt: Textlinguistik Funktion
Fragen an den Text Wozu?
Systemtheorie Sozialdimension/ Kommunikation
Situation
Wer in welchem Kontext? Was und wie?
Sozialdimension/ Kommunikation Sachdimension/ Differenzierung
Wann?
Zeitdimension/ Evolution
Inhaltliche und sprachliche Struktur Diachrone Textsortenbeschreibung (Quelle: Gansel 2011, S. 39)
Diese Möglichkeit der Analyse soll im Folgenden exemplarisch anhand der näher zu bestimmenden Textsorte ›Schulprogramm‹ nachvollzogen werden. Methodisch wird in der textsortenlinguistischen Forschung versucht, »auf der Grundlage einer beträchtlichen Menge von Textexemplaren einer Textsorte (Korpus) prototypische Merkmale herauszustellen«15. Da der Beitrag als Einführung in die textsortenlinguistische Erschließung von Schulprogrammen konzipiert ist, ist das zugrundeliegende Korpus noch recht klein angelegt. Nichtsdestotrotz lassen sich für die Textsorte charakteristische Merkmale und Entwicklungstendenzen ableiten. Als Korpus dienen 18 ausgewählte Schulprogramme, die von der Universität Gießen digitalisiert wurden und in ihrer Datenbank unter dem Sachgruppenpunkt ›Literatur‹ zu finden sind.16 Die Auswahl 13 14 15 16
Vgl. ebd., S. 38–50. Vgl. Gansel, Textsortenlinguistik. 2011, S. 12–14. Ebd., S. 13. Für Informationen hinsichtlich des Aufbereitungs- und Digitalisierungsprozesses von Schulprogrammen an der Universität Gießen siehe z. B.: Kalok, Lothar : Schulprogramme. Eine fast vergessene Literaturgattung. In: Aus mageren und aus ertragreichen Jahren. Hrsg. von Irmgard Hort und Peter Reuter. Gießen: Universitätsbibliothek Gießen 2007, S. 174–199, hier S. 185–195. Auch an weiteren universitären Standpunkten gibt es seit einiger Zeit Projekte zur Erschließung und Digitalisierung, siehe z. B.: Lemanski, Thorsten/Siebert, Irmgard/
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unter Berücksichtigung des Bezugspunktes ›Literatur‹ soll der konzeptionellen Ausrichtung des gesamten Bandes entsprechen. Als Analysemodell, das Beobachtungs- und Beschreibungskriterien sowohl der Textsortenlinguistik als auch der Systemtheorie zueinander in Beziehung setzt, dient das von Cindy Meinhardt innerhalb eines Greifswalder Forschungsprojekts zur Verbindung von Textlinguistik und Systemtheorie entwickelte Modell.17 Es bietet sich für die Schulprogramme insbesondere wegen der Berücksichtigung der Zeitdimension an, die für die Beschreibung von Bedeutung sein wird.
I.
Schulprogramme als Textsorte
Nach Christina Gansel und Frank Jürgens »konstituieren sich [Textsorten] durch ein prototypisches Aufeinander-Bezogen-Sein kontextueller und struktureller Merkmale. Sie bilden den Rahmen für prototypische, auf Konventionen der Sprachteilhaber beruhende sprachliche Muster mit charakteristischen funktionalen, medial-situativen und thematischen Merkmalen sowie einer diesen Merkmalen entsprechenden formalen Struktur«.18
Sie lassen sich also innerhalb eines bestimmten situativen Kontextes verorten und zeichnen sich durch charakteristische und vom Kontext (mit)bestimmte spezifische Merkmale aus. Dabei ist diese (Mit-)Bestimmung wechselwirkend: »Textsorten sind nicht nur durch den Kommunikationsbereich determiniert. Sie können sich als grundlegend für seine Existenz erweisen«19. Schließlich sind Textsorten »keine konkreten Texte, sondern […] bilden vielmehr die Vorlagen«20. Während der ersten Orientierung auf die Textsorte ›Schulprogramm‹ würde die Zuordnung zum Subsystem Schule und damit im Sinne von Luhmann dem gesellschaftlichen Teilsystem Erziehung naheliegen; die Textsortenbetitelung als ›Schulprogramm‹ evoziert dies, ebenso wie Verweise auf den Produktionsort und die Autoren – beide im schulnahen Umfeld angesiedelt. Darüber hinaus
17
18 19 20
Weber, Rainer : Erschließung und Digitalisierung von Schulprogrammen. Bericht über ein Projekt der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf. In: Bibliotheksdienst 45, 2011, H. 3/4, S. 233–249. Meinhardt, Cindy : Textsorten sinnhaft beschreiben – ein Modellvorschlag für die Textsortenbeschreibung mit systemtheoretischen Impulsen am Beispiel von Rektoratsantrittsreden der Universität Greifswald im 20. Jahrhundert. In: Textsorten und Systemtheorie. Hrsg. von Christina Gansel. Göttingen: V& R unipress 2011, S. 227–251, hier S. 233f. Gansel/Jürgens, Textlinguistik und Textgrammatik. 2009, S. 92. Gansel, Textsortenlinguistik. 2011, S. 12. Christoph, Cathrin: Die Pressemitteilung als Textsorte der strukturellen Kopplung von Wirtschaft und Journalismus. In: Textsorten und Systemtheorie. Hrsg. von Christina Gansel. Göttingen: V& R unipress 2011, S. 119–139, hier S. 126.
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wurden die charakteristischen Merkmale der Textsorte, übersieht man die Geschichte der Schulprogramme, größtenteils präskriptiv von der preußischen Bildungsbehörde festgelegt. Nach der Differenzierung von Textsorten unter systemtheoretischer Perspektive in a) Kerntextsorten, b) Textsorten der konventionalisierten, institutionell geregelten Anschlusskommunikation und c) Textsorten der strukturellen Koppelung,21 würde man die Textsorte ›Schulprogramm‹ wohl eher a) oder b) zuordnen – als eine zu einem System zugehörige Textsorte. Dies bedarf der Relativierung. Zunächst hinsichtlich der Textsortenbetitelung: Diese Zuordnung lässt noch keinen validen Rückschluss auf den (oder möglicherweise auch die) Kommunikationsbereich(e) zu. Nicht die Bestimmung der Textsorte über ihre Betitelung ermöglicht die Zuordnung zu einem bestimmten Kommunikationsbereich, sondern über den Kommunikationsbereich und den jeweiligen (systemischen) Hintergrund kann die Textsorte bestimmt werden. »Um also Textsorten kommunikationsadäquat ordnen oder klassifizieren zu können, reicht eine Betrachtung von Textsortenbenennungen nicht aus. Vielmehr ist die Ermittlung der Kommunikationsbereiche und ihrer funktionalen Ausdifferenzierung in gesellschaftlichen Systemen erforderlich. Sie bilden den Rahmen, in dem Textsorten verschiedene Leistungen übernehmen«.22
Auch der Bezug zu Entstehungsort und Autor lässt keine eindeutige systemische Zuordnung zu, da diese Perspektivierung nicht den unterschiedlichen Möglichkeiten von Textsorten gerecht wird; schriftlichen Texten, als entkoppelte Kommunikation verstanden, ist inhärent, dass sie autor- und ortsunabhängige Funktionen und Merkmale aufweisen und/oder entwickeln. Schließlich ist auch der Verweis auf präskriptive Bestimmungen durch eine staatliche Institution nicht ausreichend. Zwar wurden formale und inhaltliche Kriterien der Schulprogramme ab dem 23.08.1824 durch die preußische Bildungsbehörde im Circular-Rescript festgesetzt,23 doch fand eine Festigung der Textsorte ›Schulprogramm‹ definierenden Merkmale schon vor diesen institutionellen Festsetzungen statt24 und lässt sich zum anderen durch den Bezug zur institutionellen Rahmung kein gerechtfertigter Rückschluss auf die Ausschließlichkeit der systemischen Zugehörigkeit ableiten. Vielmehr können Schulprogramme als eine zwischen mindestens zwei Teilsystemen, dem Teilsystem Erziehung und dem Teilsystem Wissenschaft, stehende Textsorte charakterisiert werden. Damit ließe 21 Vgl. Gansel/Jürgens, Textlinguistik und Textgrammatik. 2009, S. 78. 22 Ebd., S. 57. 23 Vgl. Kirschbaum, Markus: Litteratura Gymnasii. Schulprogramme deutscher höherer Lehranstalten des 19. Jahrhunderts als Ausweis von Wissenschaftsstandort, Berufsstatus und gesellschaftspolitischer Prävention. Koblenz: Schriften des Landesbibliothekszentrums Rheinland-Pfalz 2007, S. 27. 24 Vgl. ebd., S. 21.
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sich die Textsorte ›Schulprogramm‹ als Textsorte der strukturellen Kopplung definieren: Denn in der Tat lässt sich sagen, dass Schulprogramme »zur Kommunikation fester Beziehungen zwischen Systemen [dienen]«25. Die Zuordnung von Schulprogrammen zu den Teilsystemen Erziehung und Wissenschaft ergibt sich fast zwangsläufig aus ihrem groben Aufbau, nämlich der Einteilung in Schulnachrichten und wissenschaftliche Abhandlung(en). Die Schulnachrichten waren eng mit dem schulinternen Leben und Umfeld verbunden und beinhalteten deskriptiv u. a. Schüler- und Lehrerverzeichnisse, den behandelten Unterrichtsstoff der einzelnen Fächer, Prüfungs- und Jahresschulchroniken, Erlasse sowie weitere schulinterne Bekanntmachungen und Einladungen zu Prüfungen oder Festen. Der Umfang der Schulnachrichten vergrößerte sich dabei im Laufe der Geschichte der Schulprogramme. Bestanden sie anfangs nur aus den Bekanntmachungen der Abschlussprüfungen, erweiterten sich die Nachrichten ab der Festlegung durch das Circular-Rescript um ein Vielfaches. Die Konzeption, »Einladungsschriften und wissenschaftliche Abhandlungen herauszugeben, [bedeutete] gleichwohl die formale und auch intentionale Annäherung an ein Universitätsinstitut«26.27 Die wissenschaftlichen Abhandlungen, anfangs meist philologische Spezialarbeiten in abwechselnd lateinischer und deutscher Sprache, waren schon vor der staatlichen Festlegung von Inhalt und Struktur fester Bestandteil der Schulprogramme. Eher gegenteilig wirkten sich Erlasse der preußischen Bildungsbehörde aus, nach deren Statuten es nur noch dem Gymnasium und seinen damaligen Unterformen (Progymnasium, Realgymnasium und Realprogymnasium) erlaubt war, wissenschaftliche Abhandlungen innerhalb ihrer Schulprogramme zu veröffentlichen. Realschulen wurden von da an ausgeschlossen.28 Ab 1876 wurde die Verpflichtung zum Verfassen von wissenschaftlichen Abhandlungen aufgehoben, dennoch blieb ihre Produktion konstant. Markus Kirschbaum verweist auf das stabile Verhältnis der Schulprogramme »mit und ohne Abhandlung […] [das] bei etwa drei zu eins« lag.29 Diese Konstante begründet sich auch durch das Selbstverständnis der Autoren der wissenschaftlichen Abhandlungen – den Lehrern, deren Vorstellung 25 Gansel/Jürgens, Textlinguistik und Textgrammatik. 2009, S. 78. 26 Kirschbaum, Litteratura Gymnasii. 2007, S. 22. 27 Auch zum Subsystem Familie lässt sich über die Konzeption der Schulprogramme ein Zugehörigkeitsgefüge herstellen: »Die regelmäßige Veranstaltung, über deren Ablauf das Programm informierte, war die öffentliche Prüfung […]. Im Gegensatz zu den Revisionen […] waren zu diesem öffentlichen Prüfungsaktus aus Gründen des Zusammenhaltes zwischen Schule und Familie die Eltern der Examinanden eingeladen«. In: Ebd., S. 12. 28 Vgl. ebd., S. 37. 29 Ebd.
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ihrer beruflichen Verortung innerhalb der Gesellschaft noch lange Zeit durch das Bild des Gelehrten, nicht das des Lehrenden geprägt war. Noch 1908 betont Richard Ullrich die Relevanz des Schreibens einer wissenschaftlichen Abhandlung für den Autor als Person als auch für das Selbstbewusstsein bzw. Selbstverständnis seines Stands.30 Nichtsdestotrotz unterlagen die wissenschaftlichen Abhandlungen Veränderungsprozessen inhaltlicher und struktureller Natur. Einführend sei auf die sich abzeichnende Entwicklung weg von philologischen bzw. fachwissenschaftlichen Spezialthemen hin zu einem stärker lokalen Themenbezug und zu didaktischen Abhandlungen, die sich nun eindeutiger der Schule und damit dem Teilsystem Erziehung zuordnen lassen, verwiesen. Rudolf Klussmann veröffentlichte zwischen 1889 und 1916 fünf Bände, in denen die Abhandlungen von 1876 bis 1910 von den Schulen, die am Programmaustausch teilgenommen hatten, aufgeführt wurden. Überblickt man die Entwicklung der Abhandlungen zum Thema Pädagogik und Methodik, erkennt man sowohl die hohe Zahl an Abhandlungen zu diesen Themen als auch den progressiven Verlauf innerhalb des aufgezeichneten Zeitraums. Auch im Vergleich zu exemplarisch ausgewählten anderen Fächern (Mathematik, Philosophie und Theologie), um auszuschließen, dass die Zunahme nicht genereller Natur war, erkennt man die deutliche Aufwertung der Bedeutung der Pädagogik innerhalb der Abhandlungen: Fächer/Themen Pädagogik und Methodik Mathematik Philosophie
1876–1885
1886–1890
1891–1895
1896–1900
1901–1910
1162
1087
1538
1871
3312
228 116
164 103
138 88
118 59
225 163
Theologie 139 101 107 103 146 (Quelle: Klussmann 1889, S. 1ff., 209ff., 242ff.; 1893, S. 1ff., 193ff., 215ff.; 1899, S. 1ff., 238ff., 260ff.; 1903, S. 1ff., 253ff., 270ff.; 1910, S. 1ff., 452ff., 484ff.)
Schon diese hinführende Orientierung auf die Textsorte ›Schulprogramm‹ unterstreicht ihren komplexen Charakter und ihre Heterogenität als Textsorte, die sich zwischen mehreren Teilsystemen verorten lässt und dementsprechend erst über die verschiedenen wechselwirkenden Einfluss- und Abhängigkeitsprozesse adäquat zu beschreiben ist. Die Entwicklung der Textsorte muss daher auch als eng mit der Entwicklung, Ausdifferenzierung und Konstituierung der Teilsysteme Wissenschaft und Erziehung verknüpft angesehen werden. Für die weitere 30 Vgl. Ullrich, Richard: Programmwesen und Programmbibliothek der Höheren Schulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Übersicht der Entwicklung im 19. Jahrhundert und Versuch einer Darstellung der Aufgaben für die Zukunft. Berlin: Weidmann 1908, S. 480.
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textsortenlinguistische Analyse werden Fragen nach Aufnahme und Reglementierung von Schulprogrammen innerhalb der jeweiligen Systeme von großer Bedeutung sein. Schließlich machen es die sich wechselseitig beeinflussenden Entwicklungsprozesse von System und Textsorte unerlässlich, die Konstitutions- und Veränderungsprozesse in den Blick zu nehmen: Wie und in welche Richtung hat sich die Textsorte entwickelt und welche Ursachen können für diese Entwicklungen bestimmt werden? Im folgenden Analyseteil soll auf die eingeführte Hypothese eingegangen werden, dass nämlich die Textsorte ›Schulprogramm‹ als eine Textsorte angesehen werden kann, die der strukturellen Koppelung dient. Diese Position sei exemplarisch an ausgewählten Schulprogrammen nachgewiesen. Es wird in diesem Rahmen davon ausgegangen, dass Schulprogramme der Kommunikation sowohl zwischen als auch innerhalb der verschiedenen Teilsysteme dienten. Dabei befand sich die Textsorte in Interaktion mit den Teilsystemen Erziehung und Wissenschaft. Die Heterogenität, was z. B. Funktions- oder Adressatenorientierung angeht, soll weiterverfolgt und als eine der Ursachen für das Verschwinden der Textsorte bestimmt werden; als eine aus fehlender Akzeptanz durch die Systeme bzw. nicht vorhandene Anbindung an diese ableitbare Entwicklung. Das ausgebliebene Beziehungsverhältnis lässt sich unter systemtheoretischer Perspektive als Fehlen von notwendiger Anschlusskommunikation beschreiben. Christina Gansel stellt heraus: »Die Systemtheorie geht davon aus, dass soziale Systeme immer anschlussfähig operieren müssen, das bedeutet, dass soziale Systeme aufhören müssen zu existieren, wenn sie nicht kommunizieren.«31.
Das Verschwinden der Textsorte ›Schulprogramme‹ muss von daher innerhalb dieses Zusammenhanges betrachtet werden, um Gründe ableiten zu können, warum Schulprogramme als systeminadäquat hätten eingestuft werden können.
II.
Analyse
Cindy Meinhardt bringt in ihrem Modell die verschiedenen Beschreibungsdimensionen der Textsortenlinguistik mit denen der Systemtheorie in ein konstruktives Verhältnis, um eine durch die jeweilige theorieinterne Berücksichtigung der Zusammenhänge legitimierte Verbindung herstellen zu können. Meist gilt die Situativität, bzw. in diesem Zusammenhang die Situationsdimension, als zentrale Kategorie für die Textsortenklassifikation und die Sozialdimension als zentrale Kategorie für die Systemtheorie. Bei der Verbindung bleibt dieser 31 Gansel, Textsortenlinguistik. 2011, S. 54.
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Zusammenhang bestehen, erfährt zusätzliche Rechtfertigung durch die enge Verbindung beider im integrativen Ansatz.32 Zusätzlich spielt bei Meinhardt die zeitliche Dimension eine große Rolle; deutlich wird diese zu den anderen Dimensionen in Beziehung gesetzt, indem bei allen überprüft wird, inwiefern der zeitliche Kontext Einfluss auf diese hat.33 Ein Beschreibungsproblem ergibt sich aus der konzeptionellen Anlage des Modells. Die einzelnen Dimensionen werden in ein interdependentes Verhältnis zueinander gesetzt, was eine lineare Darstellung erschwert. Die Gleichzeitigkeit und Beeinflussung der Dimensionen muss berücksichtigt, dennoch sollen ihre spezifischen Merkmale herausgestellt werden. Situationsdimension In welchem Kontext?
Sachdimension Was?
Sozialdimension Wer?
Funktionsdimension Wozu?
Strukturdimension Wie?
Zeitdimension Wann? (Quelle: Meinhardt 2011, S. 233)
II. I.
Situationsdimension
Der Ausgangspunkt der Analyse der Situationsdimension wird innerhalb des Modells von Meinhardt mit der Frage umschrieben, »welche[…] kontextuellen Rahmenbedingungen[…] die zeitlichen Einheiten auf[weisen]«.34 In diesem Zusammenhang wird der Begriff des Kommunikationsbereiches für die Analyse bedeutsam sein.35 Dieser konstituiert sich »durch Systeme, die sich wiederum durch Kommunikation bilden«.36 Das interdependente Verhältnis von System 32 33 34 35 36
Vgl. ebd., S. 39–45. Vgl. Meinhardt, Textsorten. 2011, S. 234. Ebd. Vgl. Gansel/Jürgens, Textlinguistik und Textgrammatik. 2009, S. 70. Meinhardt, Textsorten. 2011, S. 235.
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und Kommunikationsbereich ist für beide so beeinflussend wie notwendig. Jeder Text lässt sich innerhalb von Kommunikationsbereichen verorten. Da die Kommunikationsbereiche in eine systemische Rahmung eingelassen sind, ist der innerhalb des Kommunikationsbereiches verortete Text an das System gebunden und dadurch bestimmbar. Dabei sind »Textsorten […] nicht nur durch den Kommunikationsbereich determiniert, sie konstituieren ihn gleichfalls«.37 Schulprogramme scheinen sich in diesem Zusammenhang nicht eindeutig einem Kommunikationsbereich und damit einer systemischen Rahmung zuordnen zu lassen, sondern stattdessen auf die großen Teilsysteme Erziehung und Wissenschaft, mit den jeweiligen Subsystemen Schule(n) und Universität(en), beziehbar zu sein. Diese unterschiedlichen systemischen Rahmungen wirken sich konkret auf die Textsorte aus. Schon vor der institutionellen Festlegung von Struktur und Inhalt durch die preußische Bildungsbehörde waren Bezüge zu den jeweiligen Systemen und damit auch die Textsorte beeinflussenden systemischen Rahmungen gegeben. Von dem Teilsystem Erziehung ausgehend ist der konkrete Anlass der Schulprogramme bestimmbar ; diese wurden als Einladungsschrift für schulinterne/-bezogene Feiern, Reden, Aufführungen und insbesondere die einmal jährlich stattfindenden Abschlussprüfungen konzipiert. Dieser vom Subsystem Schule ausgehende zeremonielle Akt der öffentlichen Prüfungen war das Entstehungsmoment für das regelmäßige Erscheinen der Schulprogramme und findet sich dementsprechend betont auf den Titelbildern der Schulprogramme, die als »Einladungsschrift«38 verstanden wurden. Das Erscheinungsdatum ist eng an das der öffentlichen Prüfungen gebunden. Ansonsten finden sich nur wenige Hinweise auf die Rahmung durch das Teilsystem Erziehung. Die frühen Schulprogramme (bis 1824) enthalten neben der wissenschaftlichen Abhandlung nur eine kurze Übersicht über die jeweiligen Schüler (nach Klassen geordnet), die als Redner aufzutreten hatten.39 In dieser Phase ist der Bezug der Textsorte zum Teilsystem Wissenschaft noch um einiges stärker,40 das Erfüllen von Kriterien für die Teilhabe und -nahme an 37 Gansel/Jürgens, Textlinguistik und Textgrammatik. 2009, S. 70. 38 Vgl. Snell, Christian Wilhelm: Eine Einladungsschrift zu den in unserm akademischen Pädagog den 16ten, 17ten und 18ten September zu haltenden öffentlichen Prüfungen und Redeübungen. Gießen: Gedruckt von Johann Jacob Braun 1782, S. 1. 39 Vgl. ebd., S. 15f.; Welcker, Friedrich Gottlieb: Landgraf-Ludwigs-Gymnasium. Paedagogium Academicum. Gießen 1815, S. 95f. 40 Dies ist auch zu erkennen, bezieht man Aufbau und Struktur des Titelblattes in die Analyse mit ein: Bei früheren Schulprogrammen ist der Titel der wissenschaftlichen Abhandlung, sowohl was Größe als auch Umfang angeht, dominant gesetzt. Vgl. Snell, Eine Einladungsschrift. 1782; Welcker, Landgraf-Ludwigs-Gymnasium. 1815. Im Laufe der Entwicklung der Schulprogramme verändert sich dies, bzw. lassen sich verschiedene Darstellungsmöglichkeiten ausmachen, in denen auch die schulische Zugehörigkeit, z. B. über die Gesamtbetitelung als Jahresbericht oder Größe und Umfang des Namens der Schule, stärker betont wird. Vgl. z. B.: Schädel, Otto: Jahresbericht der höheren Mädchenschule zu Worms. Ostern 1895.
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fachwissenschaftlichen Diskursen innerhalb der Texte durch den Bezug auf Fachliteratur und/oder Forschungsmeinungen ausgewiesen. Ab der ›Verstaatlichung‹ des Bildungswesens und dem damit zusammenhängenden Circular-Rescript von 1824 zeigt sich eine Veränderung hinsichtlich der Verortung der Textsorte innerhalb der verschiedenen systemisch gerahmten Kommunikationsbereiche. Die preußische Bildungsbehörde als vorschreibende Institution veränderte mit ihren Anweisungen und Erlassungen die Bindung der Schulprogramme an die Kommunikationsbereiche der Teilsysteme Erziehung und Wissenschaft zugunsten des Teilsystems Erziehung. Erkennbar ist dies an der Zunahme der tatsächlichen Schulnachrichten innerhalb der Schulprogramme auf der einen, als auch der Verortung in und schließlich Loslösung der wissenschaftlichen Abhandlungen von den Schulprogrammen auf der anderen Seite. Nahmen die tatsächlichen Schulnachrichten vorher nur wenige Seiten innerhalb des Schulprogramms ein, so wird ihnen im Laufe der Entwicklung der Textsorte mehr und mehr Raum gegeben.41 Die Vorgaben zum Inhalt der Schulnachrichten durch die preußische Bildungsbehörde und ihre Umsetzung innerhalb der Schulprogramme deuten die sich verändernde systemische Bezüglichkeit der Textsorte an. Neben der strukturellen Aufwertung der Schulnachrichten lässt sich der systemische Bezug zum Teilsystem Erziehung auch anhand der wissenschaftlichen Abhandlungen nachweisen. Neben der steigenden Frequenz von Abhandlungen mit schulnahen Themen, erkennt man tendenziell auch einen Rückgang, was ihren Umfang angeht. Bis in die 1890er Jahre nahm eine durchschnittliche Abhandlung ungefähr um die zwanzig bis fünfundzwanzig Seiten ein,42 doch ab Ende des 19. Jahrhunderts nimmt diese Zahl rapide ab.43 Ausnahme innerhalb dieses Korpus ist die über vier SchulWorms: Druck von Eugen Kranzbühler 1895; Rotter, Leopold: Zweiundzwanzigster JahresBericht des Kaiser Franz Joseph-Gymnasium (Landes-, Unter- und Communal-Obergymnasium) in Mähr.-Schönberg. Veröffentlicht am Schlusse des Schuljahres 1901. Mähr.Schönberg: Druck von Franz Slawik 1901. 41 Vor dem Circular-Rescript sind es ungefähr ein bis zwei Seiten, doch blickt man auf die Entwicklung ab dieser Zäsur, steigert sich die Seitenzahl exponentiell auf durchschnittlich über elf Seiten. Dieser Wert variiert von Schule zu Schule (vgl. z. B. die Schulprogramme des K. K. Staats-Obergymnasiums mit über 20 Seiten und den Jahresbericht der Höheren Mädchenschule zu Worms mit 15 Seiten), dennoch ist die allgemeine Tendenz erkennbar, die den Schluss der Steigerung und damit zunehmenden Wichtigkeit der schulinternen Berichte zulässt. 42 Vgl. Rossel, Karl: Ankündigung der öffentlichen Schulprüfung des Herzoglich Nassauischen Pädagogiums zu Wiesbaden am 11. und 12. März 1842. Wiesbaden: Gedruckt bei Ludwig Riedel 1842, S. 3–28; Olzberger, Anton/Riepl, Robert: Jahresbericht des Großherzoglichen Gymnasiums zu Büdingen. Schuljahr 1855 auf 1856. Linz: Druck von Jos. Feichtingers sel. Erben 1860, S. 3–22; Matthaei, Wilhelm: Programm des Progymnasium Fridericianum zu Laubach. Schuljahr 1883–1884. Grünberg: Buchdruckerei von Heinrich Robert 1884, S. 3–28. 43 Vgl. Schlenger, Jakob: Programm des Großherzoglichen Gymnasiums zu Mainz. Schuljahr 1889–1890. Mainz: Buchdruckerei von H. Prickarts 1890, S. 3–19; Rotter, Zweiundzwan-
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programme angelegte wissenschaftliche Abhandlung von Ludwig Chevalier »Zur Poetik der Ballade« (1891, 1892, 1894 und 1895). Allerdings erkennt man auch hier die degressive Entwicklung: Von fast 60 Seiten 1891, über knappe 50 Seiten 1982 und 36 Seiten 1894 bis auf 23 Seiten 1895. Schließlich folgte am Anfang des 20. Jahrhunderts eine weitere Zäsur : Die wissenschaftlichen Abhandlungen konnten von der Textsorte ›Schulprogramm‹ abgelöst und als eigenständige Beilage behandelt werden.44 Innerhalb dieses Ausdifferenzierungsprozesses findet sich eine Vielzahl an strukturellen Möglichkeiten. Neben dem Schulprogramm, bestehend aus Schulnachrichten und Abhandlung, wurden Abhandlungen nun auch losgelöst von den eigentlichen Schulnachrichten vertrieben. Auch gab es Schulprogramme ganz ohne wissenschaftliche Abhandlung (auch nicht als Beilage). Schließlich veränderte sich Inhalt und Struktur der Abhandlungen. So konnten die Beilagen (fach)wissenschaftlicher, (schul)didaktischer, aber auch literarischer Natur sein und sich z. B. aus Gedichten zusammensetzen, wie etwa Eduard Ottos oder Bonifaz Rauchs45 Beilagen. Zieht man die damals geführten Debatten hinsichtlich Aufbau, Inhalt und Umfang der Schulprogramme hinzu, verstärkt sich der bisher gewonnene Eindruck: Kritisiert wurden auf der einen Seite strukturelle Momente, darunter die prekäre Lagerungsproblematik, die fehlende Zugänglichkeit, bzw. Verfügbarkeit46 und der hohe Kostenaufwand (sowohl für die Material-, Recherche-, Druck- und schließlich Austauschkosten, die ab 1876 an die Verlagsbuchhandlung Teubner überwiesen werden mussten) als auch inhaltliche auf der anderen Seite, bezogen auf Wert und Notwendigkeit der wissenschaftlichen zigster Jahres-Bericht des Kaiser Franz Joseph-Gymnasium. 1901, S. 3–42 und 43–54 (diese Ausnahme hinsichtlich des Umfangs erklärt sich durch das Fachgebiet: Wurden als Korpus nur Schulprogramme verwendet, die sich unter den Sachgruppenpunkt ›Literatur‹ subsumieren ließen, so finden sich innerhalb dieses Schulprogramms zwei wissenschaftliche Abhandlungen und eben eine (und auch die zahlenmäßig größere) zu einem mathematischen Thema, die zudem größtenteils aus tabellarischen Vergleichen besteht). 44 Vgl. Jahn, Franz: Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht des Friedrichs-Realgymnasiums zu Berlin. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1904; Klein, Albert: Entstehung und Komposition des Marienburger Tresslerbuches. Bericht über das Schuljahr 1904/05. Großherzogliche Oberrealschule nebst Vorschule zu Offenbach am Main. Offenbach am Main: C. Forgers Druckerei 1905; Rauch, Bonifaz: Beilage zum Jahresbericht des humanistischen Gymnasiums Metten für das Schuljahr 1911/12. Metten 1912. 45 Rauch schaltet seinen Gedichten zwar eine knappe Abhandlung über die Motive ›Tod‹ und ›Sterben‹ innerhalb der modernen Lyrik vor. Doch ist diese schon allein durch das Layout (Seitenzahlen der Abhandlungen sind römischer, die der sich daran anschließenden Gedichte arabischer Natur) wie durch eine Zäsur vom weiteren Inhalt abgetrennt. 46 Dieses Problem sollte dadurch gelöst werden, indem die einzelnen Schulen an einem Austausch-Programm für Schulprogramme teilnahmen, das durch die Verlagsbuchhandlung Teubner geregelt wurde. Vgl. Ullrich, Programmwesen und Programmbibliothek. 1908, S. 170f.
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Abhandlungen in Relation zum Herstellungsaufwand und der meist nur geringen Beachtung.47 Die wissenschaftlichen Abhandlungen wurden als Belastung empfunden und galten als nicht notwendig innerhalb des Teilsystems Erziehung. Angeführte Gründe für die Abhandlungen, dass diese von allgemeinem Interesse waren48 oder von Schülern zur Vertiefung und Aneignung von Unterrichts- oder zumindest unterrichtsverwandten Inhalten verwendet werden konnten, geben eher Aufschluss über ihre intendierte Ausrichtung als tatsächliche Realisierung. Diese Auslegungsmöglichkeit erhärtet sich, bedenkt man Umfang und progressive Entwicklung didaktischer Themen innerhalb der Abhandlungen. Schließlich kann dies anhand von Veränderungen der Sozial-, Funktions- und Strukturdimension nachgewiesen werden. Antworten auf Fragen hinsichtlich des langen Bestehens von wissenschaftlichen Abhandlungen als nichtsdestotrotz relevantem Teil der Schulprogramme lassen sich nun sowohl mit Bezug auf das Selbstverständnis der Lehrer als Fachwissenschaftler (und erst später als Erzieher und Didaktiker) als auch im Zusammenhang mit der sich entwickelnden Beziehung der Teilsysteme Wissenschaft und Erziehung beantworten. Die Entwicklung der Schulprogramme muss im Zusammenhang der Interaktion dieser Teilsysteme gesehen werden.49 Anhand von Schulprogrammen sind diese Entwicklungs- und Ausdifferenzierungsprozesse vertiefend beobachtbar und darstellbar.
II. II.
Sozialdimension
Innerhalb dieser Dimension sind die jeweiligen Akteure, sowohl Produzenten als auch Rezipienten, näher zu bestimmen. Bei den Produzenten zeigt sich zunächst größere Kontinuität, da sich diese stabil dem schulinternen Umfeld zuordnen lassen. Zu unterscheiden ist zwischen den Herausgebern der Schulprogramme und den Autoren der wissenschaftlichen Abhandlungen. Als Herausgeber fungierten die Direktoren der Schulen.50 Diese Rollenzuschreibung ist allerdings nicht durchgängig in allen Schulprogrammen angegeben. Im hier verwendeten Korpus findet sich bei sieben Schulprogrammen dieser Hinweis.51 47 Vgl. Haubfleisch, Dietmar/Ritzi, Christian: Schulprogramme – zu ihrer Geschichte und ihrer Bedeutung für die Historiographie des Erziehungs- und Bildungswesens. In: Bibliothek und Forschung. Die Bedeutung von Sammlungen für die Wissenschaft. Hrsg. von Irmgard Siebert. Frankfurt am Main: Klosterberg Verlag 2011, S. 165–205, hier S. 180–183; Ullrich, Programmwesen und Programmbibliothek. 1908, S. 433–446. 48 Vgl. Matthaei, Programm des Progymnasium Fridericianum zu Laubach. 1884, S. 3. 49 Vgl. Haubfleisch/Ritzi, Schulprogramme. 2011, S. 165–205, hier S. 174–180. 50 Vgl. Kirschbaum, Litteratura Gymnasii. 2007, S. 13. 51 Rossel, Ankündigung der öffentlichen Schulprüfung. 1842; Olzberger/Riepl, Jahresbericht des Großherzoglichen Gymnasiums zu Büdingen. 1860; Matthaei, Programm des Progym-
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Das fehlende Anzeigen der Herausgeberschaft lässt sich dadurch erklären, dass in weiteren fünf Schulprogrammen52 der Direktor auch gleichzeitig Verfasser der Abhandlung und somit für das Entstehen des vollständigen Schulprogramms zuständig war. Diese Doppelfunktion wurde über das einmalige Nennen des Autornamens für das gesamte Schulprogramm angezeigt. Eine weitere Ursache mag auch sein, dass vorgegeben war, dass der Direktor als Herausgeber der Schulprogramme aufzutreten hatte. Als Verfasser der wissenschaftlichen Abhandlungen berechtigt (und bis 1876 auch verpflichtet) waren die Mitglieder des jeweiligen Lehrerkollegiums. Restriktionen gab es vor und nach dem CircularRescript von 1824 nur wenige, die Vorgaben der preußischen Bildungsbehörde ließen den Lehrern großen Spielraum und eine relativ freie Themenwahl. Das Thema der Abhandlung sollte dem Autor nicht fremd und von allgemeinem Interesse zumindest für die gebildeten Stände sein.53 Weiterhin wurde betont, dass das Interesse am Inhalt der Abhandlung der Förderung des Interesses am öffentlichen Unterricht zu dienen hatte.54 Damit wurde eine spezifische(re) Adressierung der wissenschaftlichen Abhandlung vorgenommen, die sich nicht im Selbstzweck und der Teilnahme (des Autors) an fachwissenschaftlichen Diskussionen erschöpfte, sondern dezidiert auf das Einbeziehen des schulnahen, insbesondere des familiären, Umfeldes der Schüler abzielte. Im Laufe ihrer Entwicklung als Textsorte veränderte sich der Inhalt der Abhandlungen, was Rückschlüsse auf sich verändernde soziale Dimensionen erlaubt. Auf die Zunahme und Stärkung der Bedeutung didaktischer Inhalte und Themen wurde schon verwiesen, ebenfalls ist eine Entwicklung hin zu lokalen Themen auszumachen,55 die sich als Versuch einer stärkeren Anknüpfung an das (lokale) schulnahe Umfeld erklären ließe. Dass wir weiterhin dennoch klassische
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53 54 55
nasium Fridericianum zu Laubach. 1884; Dingeldein, Otto: Programm des Großherzoglichen Gymnasiums zu Büdingen. Büdingen: Hellersche Hofbuchdruckerei 1888; Schlenger, Programm des Grossherzoglichen Gymnasiums zu Mainz. 1890; Rotter, Zweiundzwanzigster Jahres-Bericht des Kaiser Franz Joseph-Gymnasium. 1901; Werner, Ferdinand: Grossherzoglich Hessisches Gymnasium Fridericianum zu Laubach. Bericht über das Schuljahr 1904–1905. Grünberg: Buchdruckerei von Heinrich Robert 1905. Vgl. Chevalier, Ludwig: Zehnter Jahresbericht des K. K. Staats-Obergymnasiums in Prag Neustadt (Stephensgasse). Prag: Selbstverlag des K. K. Staats-Obergymnasiums 1891; Ders.: Elfter Jahresbericht des K. K. Staats-Obergymnasiums in Prag Neustadt (Stephensgasse). Prag: Selbstverlag des K. K. Staats-Obergymnasiums 1892; Ders.: Dreizehnter Jahresbericht des K.K. Staats-Obergymnasiums in Prag Neustadt (Stephensgasse). Prag: Selbstverlag des K. K. Staats-Obergymnasiums 1894; Ders.: Vierzehnter Jahresbericht des K. K. StaatsObergymnasiums in Prag Neustadt (Stephensgasse). Prag: Selbstverlag des K. K. StaatsObergymnasiums 1895; Schädel, Jahresbericht der höheren Mädchenschule zu Worms. 1895. Vgl. Ullrich, Richard: Programmwesen und Programmbibliothek der Höheren Schulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. 1908, S. 264. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 271.
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wissenschaftliche Abhandlungen finden, bezeugt die langsame Ausdifferenzierung aber auch tendenzielle Entwicklung der Rolle und des Selbstverständnisses der Lehrenden. Diese befinden sich im 19. Jahrhundert im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Erziehung, Gelehrten- und Lehrerrolle. Innerhalb des heterogenen Kontextes der wissenschaftlichen Abhandlungen spiegeln sich diese Konstitutions- und Entwicklungsprozesse wider. Das heterogene Rollenverständnis der Protagonisten bedingt eine heterogene intendierte (und realisierte) Adressatenschaft. Zum einen richteten sich Schulnachrichten und wissenschaftliche Abhandlungen an ein schulnahes Umfeld, also die Schüler, ihre Eltern, Ehemalige, lokale Träger, Gönner, Freunde und allgemein Interessierte, um eine generelle Übersicht über das Lehrsystem zu geben.56 Die Schulnachrichten boten einen Einblick in die Arbeitsweise der jeweiligen Schule, verwiesen auf behandelte Themen, verwendete Bücher, Stipendien für die Schüler inkl. Namensnennung der Spender bzw. der spendenden Organisation (dabei wurde auf lokale Unterstützung speziell verwiesen57), und rekurrierten über die Bekanntmachungen auf konkrete Bestimmungen bzgl. der Aufnahme neuer Schüler zum beginnenden Schuljahr. Die Bekanntmachungen beinhalteten Altersvorgaben (neuntes Lebensjahr), Hinweise auf mitzubringende amtliche Dokumente (Geburtsurkunde, Impfschein, Zeugnisse) und Bedingungen für die Aufnahme, darunter sowohl in lateinischer als auch deutscher Sprache lesen und schreiben zu können, »in der Orthographie einige Sicherheit [zu] besitzen und im Rechnen in den vier Grundrechnungsarten eingeübt [zu] sein«58.59 Dies richtete sich an das Elternhaus der Schüler. Weiterhin war die Bildungsbehörde ein spezifischer Adressat der Schulnachrichten. Über die Aufzählung von Schüler- und Lehreranzahl, Nachweis der unterrichteten Stunden, behandelten Themen, verwendeten Bücher etc. gab die Schule einen Rechenschaftsbericht über ihre pädagogische Arbeit.60 All dies lässt sich noch dem Teilsystem Erziehung zuschreiben. Die wissenschaftlichen Abhandlungen allerdings erweiterten das Adressatenfeld. Zunächst wurde ihr Nutzen und ihre Bedeutung für das schulnahe 56 Vgl. ebd., S. 264. 57 Vgl. z. B. Chevalier, Ludwig: Zehnter Jahresbericht des K. K. Staats-Obergymnasiums in Prag Neustadt (Stephensgasse). 1891, S. 69. 58 Matthaei, Wilhelm: Programm des Progymnasium Fridericianum zu Laubach. Schuljahr 1883–1884. 1884, S. 38. 59 Es gibt auch hier Ausnahmen: So findet sich bei Schädel nur der Hinweis auf mitzubringende amtliche Dokumente (Geburtsschein und Impfschein). (Vgl.: Schädel, Jahresbericht der höheren Mädchenschule zu Worms. 1895, S. 23.). Offen bleibt die Frage, ob die oben ausgeführten Bedingungen so bekannt waren, dass an dieser Schule verzichtet wurde, sie extra anzuführen, oder ob sie auf diese verzichtete. 60 Vgl. Ullrich, Richard: Programmwesen und Programmbibliothek der Höheren Schulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. 1908, S. 530.
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Umfeld betont: Schülern sollte es der Vernetzung und/oder Vertiefung von Inhalten oder der Ausbildung neuer Interessen dienen,61 Eltern sollten sie eine Unterstützung sein, sowohl ihren Kindern bei Unterrichtsvor- und -nachbereitung zu helfen62 als sie auch über Arbeit und Rolle der Lehrer aufzuklären,63 und schließlich sollten sie allen allgemein Interessierten Einblicke in jeweilige Fachwissenschaften, -diskussionen und schulische Wissen(schafts)sphären geben. Diese Art der Öffentlichkeitsarbeit, u. a. um die (wissenschaftliche) Leistungsfähigkeit der Schule zu dokumentieren und positiv herauszustellen, richtete sich auch an ein schulfernes Umfeld, insbesondere an Fachkollegen an Schulen und Universitäten. Die Adressierung anderer Lehrer lässt sich ähnlich der Adressierung anderer universitärer Fachwissenschaftler charakterisieren, indem, zwecks Teilhabe an einer fachwissenschaftlichen Diskussion, ein Beitrag verfasst wird, in dem auf bisherige Forschung verwiesen und die eigenständige Ausarbeitung oder Positionierung präsentiert wurde. Im weiteren Verlauf sind zwei prozesshafte Entwicklungen auszumachen, die durch die jeweilige systemische Rahmung der Kommunikationsbereiche interdependent beeinflusst wurden: Die erste Entwicklung betrifft die inhaltliche Positionierung der wissenschaftlichen Abhandlungen zu schulnahen Themen. Dies zeigt sich sowohl an gewählten Themen als auch an der Bezugnahme innerhalb der Abhandlungen, in denen deutlich(er) ihr Wert für den Unterricht betont wird. Dies verlief in zwei Phasen. Zunächst einmal ist der Bezug zur Schule eher einleitender Natur und wird durch den eigentlichen Inhalt der Abhandlung nur wenig bestätigt: So begründet zwar Chevalier Konzeption und Ausrichtung seiner Abhandlung mit dem Hinweis, dass »die Schule feste Begriffe braucht«64 und auch Schlenger vernetzt seine Arbeit mit der schulischen Sphäre, indem er auf die Gefahr einer maßlosen »Conjecturalkritik«65 hinweist, die, falsch bzw. mit »Willkür«66 betrieben, »die Texte unserer alten Klassiker [verunstaltet und verwüstet] […], wie das ja leider […] in unseren Schulausgaben bereits vielfach geschehen ist«67; doch über diese einleitenden Hinweise auf den schulischen Bereich hinaus, findet kein weiteres In-Beziehung-Setzen statt und die Autoren verbleiben innerhalb ihrer philologischen Forschungen. Im Laufe der Entwicklung spiegelte sich der schulische Bezug deutlicher 61 62 63 64
Vgl. ebd., S. 280f. Vgl. ebd., S. 287. Vgl. ebd., S. 289. Chevalier, Ludwig: Zehnter Jahresbericht des K.K. Staats-Obergymnasiums in Prag Neustadt (Stephensgasse). 1891, S. 3. 65 Schlenger, Programm des Großherzoglichen Gymnasiums zu Mainz. 1890, S. 3. 66 Ebd. 67 Ebd.
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innerhalb der Abhandlungen wider, auch dann noch, wenn sie als (wissenschaftliche) Beilagen zu den Schulnachrichten konzipiert wurden.68 Sowohl Verweise auf die Relation zum Unterricht und damit die Bedeutung für andere Lehrende, als auch zum schulnahen Umfeld (z. B. die Eltern) lassen sich dabei textintern nachweisen: In Schädels Arbeit etwa ist die schulische Anbindung schon deutlich den einleitenden Worten zu entnehmen: »Da der Unterricht der obersten Klassen den organischen Abschluss der genannten Arbeit der Schule bilden soll, so muß bei seiner Anlage dies Ziel stets im Auge behalten werden. Da gilt es nun, besonders innerhalb des weiten Stoffgebiets der sprachlichhistorischen Fächer zu sichten«.69
Dieser Fragestellung folgend befasst er sich mit ausgewählten Facetten eines schulischen Literaturkanons70 – stets unter dem Aspekt, dass die gewählte Literatur sich auch für eine Mädchenschule eignen soll.71 Darüber hinaus finden sich Anmerkungen bzgl. (der Relevanz) des Einbeziehens und des Aufklärens des Elternhauses: »Bei der Wiedergabe an dieser Stelle hatten wir […] den rein praktischen Zweck im Auge, den verehrlichen Eltern zu zeigen, in welcher Weise die oberste Klasse einen organischen Abschluss der Schularbeit anstrebt«72. Die zweite Entwicklung bezieht sich auf die Aufnahme der wissenschaftlichen Abhandlungen innerhalb der universitären Sphäre. Die damals geführten Debatten können hier nur in Grundzügen umrissen werden. Generelles Streitthema war der wissenschaftliche Wert der Abhandlungen. Zunächst wurde auf die fehlende Kontrolle hinsichtlich wissenschaftlicher Standards verwiesen, auf die gering(er)en wissenschaftlichen Qualifikationen der Lehrenden und die unzureichenden Hilfsmittel für ein wissenschaftliches Arbeiten.73 Schließlich auch darauf, dass die intendierten fachwissenschaftlichen Adressaten nicht erreicht wurden. Dies hing nicht nur mit der möglichen Problematik der Verfügbarkeit zusammen,74 sondern auch mit Publikationsorgan und -weg; beides wurde im Kommunikationsbereich des Teilsystems Wissenschaft mehr und mehr marginalisiert. 68 Vgl. dazu Schädels Abhandlung »Zur Lektüre der oberen Klasse«, Jahns »Über das Wesen des Komischen« oder Werners »Die Bedeutung einer zeitgenössischen Gedichtsammlung für die Schule«. 69 Schädel, Jahresbericht der höheren Mädchenschule zu Worms. 1895, S. 3. 70 Vgl. ebd., S. 3f. 71 Z. B.: »So dürfte denn doch nachgerade zu erwägen sein, ob nicht die Reinheit und Gemütstiefe der englischen Literatur gerade für die Mädchenschule und die Bedeutung der englischen Sprache als Weltsprache für die höhere Schule überhaupt eine Verschiebung zugunsten des Englischen gebietet«. Ebd., S. 6. 72 Ebd., S. 7. 73 Vgl. Ullrich, Programmwesen und Programmbibliothek. 1908, S. 445–446; Kirschbaum, Litteratura Gymnasii. 2007, S. 84f. 74 Vgl. Kirschbaum, Litteratura Gymnasii. 2007, S. 78–80.
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Die sich verändernden Rahmenbedingungen, die geringe Aufnahme durch die universitär-wissenschaftlichen Kreise, die gleichzeitige Veränderung von Lehrerausbildung und -selbstverständnis mit entsprechenden Auswirkungen auf die wissenschaftlichen Abhandlungen, mögen weitere Hinweise auf die Ausdifferenzierung der Schulprogramme geben. Diese sind in einem sich entwickelnden, verändernden und individuellen Kommunikationsverhältnis von Produzent und intendierten/tatsächlich erreichtem Rezipient zu betrachten. Dabei treten die Produzenten in unterschiedlichen Rollen auf. Sie können sich als Gelehrte, Erzieher und Didaktiker, aber auch als Literaten verstehen und konzipierten dementsprechend ihre Abhandlungen. Die Adressaten differenzieren sich in schulnahe und schulferne Rezipienten aus, die sich innerhalb verschiedener Kommunikationsbereiche und damit verbundenen systemischen Rahmungen verorten lassen.
III.
Sachdimension
Schon mehrfach wurde auf Aufbau, Struktur und Inhalt der Schulprogramme verwiesen. Daher findet nur eine grundsätzliche Einführung in die Sachdimension statt. Der Aufbau vor und nach den Vorgaben durch die preußische Bildungsbehörde ist recht ähnlich, auch wenn sich der Umfang im Laufe der Zeit verändert hat: Zum einen haben wir die wissenschaftliche Abhandlung, zum anderen die Schulnachrichten. Umfang der letzteren wird im Laufe der Entwicklung der Textsorte mehr und mehr anwachsen. Zwar wurden genaue Vorgaben über Inhalt und Aufbau der Schulnachrichten gemacht,75 dennoch finden sich schulspezifische Unterschiede: Jede Schule ging dabei leicht divergierende Wege der Aufbereitung ihrer Schulnachrichten was etwa Anordnung, Reihenfolge oder Darstellung (z. B. tabellarischer Natur) anging. Der von der Schule gewählte Aufbau blieb dann relativ konstant.76 Die Schulnachrichten umfassten Lehrerverzeichnisse (meist mit Hinweis auf Zu- oder Abgänge, Krankheiten oder Beurlaubungen), Schülerverzeichnisse, Verzeichnisse der Abiturienten und sonstigen Abgänger, die Stundenzahl innerhalb der einzelnen Klassen, den Lehrstoff, die Lehrbücher, die Sammlung der Lehrmittel inkl. der hinzugekommenen Schul- und Schülerbibliotheksbestände und sonstigen Neuaus75 Vgl. Haubfleisch/Ritzi, Schulprogramme. 2011, S. 165–205, hier S. 166–168. 76 Vgl. Chevalier, Zehnter Jahresbericht des K. K. Staats-Obergymnasiums in Prag Neustadt (Stephensgasse). 1891, S. 62–82; Chevalier, Elfter Jahresbericht des K. K. Staats-Obergymnasiums in Prag Neustadt (Stephensgasse). 1892, S. 57–79; Chevalier, Dreizehnter Jahresbericht des K. K. Staats-Obergymnasiums in Prag Neustadt (Stephensgasse). 1894, S. 40–66; Chevalier, Vierzehnter Jahresbericht des K. K. Staats-Obergymnasiums in Prag Neustadt (Stephensgasse). 1895, S. 27–53.
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stattungen (z. B. der naturwissenschaftlichen Labore), die fakultativen Schulangebote (z. B. das Erlernen weiterer Sprachen), Schulreden, eine Schulchronik, ein Verzeichnis der Stiftungen/Unterstützungen und die Bekanntmachungen und Erlasse. Vergleicht man die umzusetzenden Vorgaben mit den früheren Schulnachrichten, die meist nur aus einem Namensverzeichnis der Prüflinge bestand, ist der veränderte Umfang leicht erklärbar. Die wissenschaftlichen Abhandlungen, die zuvor sowohl durch Umfang als auch Position die Textsorte dominierten, unterlagen weit weniger spezifischen Vorgaben durch die Verordnungen der preußischen Bildungsbehörde77. Dabei wurde auf die frühere Sitte, sie abwechselnd auf lateinischer78 und deutscher Sprache zu verfassen, zugunsten der deutschen Sprache verzichtet. Die Abhandlungen sollten von allgemeinem Interesse sein und darüber hinaus der Vermittlung zwischen Schule und Gesellschaft dienen.79 Zunächst hatten sie meist philologische Themen zum Inhalt, doch im Laufe ihrer Entwicklung differenzierten sie sich weiter aus und es entstand ca. ab den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts ein zunehmend stärker werdender Bezug zum schulnahen Umfeld, nachweisbar durch die Aufwertung didaktischer und lokaler Themen. Dies ist allerdings eher als Tendenz feststellbar. Auch später finden sich Abhandlungen mit fachwissenschaftlicher Ausrichtung. Der sich verändernde Themenbezug lässt sich durch Vorgaben innerhalb der Situations- und der Sozialdimension erklären. Zwar können auch die zu fachwissenschaftlichen Diskussionen verfassten Werke im Unterricht genutzt werden, doch waren schulnahe Abhandlungen sowohl für andere Lehrer als auch die Schüler wohl von größerer Bedeutung:80 Neben Schädel81 befasste sich auch Werner mit Fragen betreffend den Lesestoff an Schulen, besprach Lehrbücher82, verwies auf aus seiner Sicht »Geschmacksverirrungen«83 was die Auswahl und Aufnahme bestimmter Dichter anging, konstatierte aber auch, dass »ein neuer Geist […] in den Lesebüchern [weht]«84. Neben Hinweisen auf die Aufgabe von Schule, die »anregen und Winke geben [solle], für die Weiterarbeit«85, schloss er seine 77 So konnte die wissenschaftliche Abhandlung auch aus einer Rede bestehen. Insgesamt lassen sich mehrere Strukturformen hinsichtlich der Einbettung der Abhandlungen ausmachen: Zunächst das Schulprogramm mit einer Abhandlung und den Schulnachrichten. Dann gibt es auch Schulprogramme mit einer Rede statt einer Abhandlung, mit einer Rede und einer Abhandlung und mehreren Abhandlungen. Schließlich wurden die Abhandlungen als wissenschaftliche Beilagen eigenständig zu/neben den Schulnachrichten vertrieben. 78 Vgl. Welcker, Landgraf-Ludwigs-Gymnasium. 1815. 79 Vgl. Ullrich, Programmwesen und Programmbibliothek. 1908, S. 264. 80 Vgl. ebd., S. 270. 81 Vgl. Schädel, Jahresbericht der höheren Mädchenschule zu Worms. 1895, S. 3–7. 82 Vgl. Werner, Großherzoglich Hessisches Gymnasium Fridericianum zu Laubach. 1905, S. 5f. 83 Ebd., S. 5. 84 Ebd., S. 6. 85 Ebd.
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Arbeit mit Überlegungen, sowohl wie eine Gedichtsammlung als Lehrbuch auszusehen habe86 als auch bzgl. der Rolle des Lehrers, in dessen Hand es liege, die richtigen Dichter/Gedichte auszuwählen, um die geistige Entwicklung der Schüler zu unterstützen und zu gewährleisten.87 Ebenfalls beschäftigten sich die Autoren der Abhandlungen mit Struktur, Inhalt und Gesamtziel einzelner Unterrichtsfächer (auch in bildungspolitischer Hinsicht): So bestimmte Rotter das Ziel des (altklassischen) Unterrichts darin, »dass sich das Wissen zum lebensvollen Besitz, zum selbstständigen Können auf intellectuell-sittlichem Gebiete, zu Geist und Charakter verdichte, zum Wohl des einzelnen sowie des politisch-socialen Lebens«88 und verwies damit auch auf gesellschaftspolitische Aufgaben der Schule. Des weiteren positionierte er sich gegen strafende Maßnahmen im Unterricht89 und gab Ratschläge, was geeignete Lehrgegenstände angeht.90 Weitere Hinweise auf die Anbindung an das Teilsystem Erziehung wurden über die Verweise innerhalb der Arbeit gegeben: Rotter bezog sich sowohl auf didaktische Werke – wir finden in den Fußnoten u. a. Bezüge zu Willmanns »Didaktik II«91, Willmanns und Lotzes »Mikrokosmos III«92 und Dettweiters »Didaktik und Methodik des lat. Unterrichts«93, auf Abhandlungen mit ähnlichen Themen – in diesem Fall Professor Gaßners Arbeit im 1881 erschienenen Schulprogramm der Oberrealschule in Wien94 – und schließlich auf Vorgaben der Bildungspolitik bzw. -behörde95. Schließlich finden sich Überlegungen bzgl. der sozialen Interaktion zwischen Schüler und Lehrer : So ging Jahn in seiner Arbeit »Über das Wesen des Komischen« auch der Frage nach, ob sich Komik in den schulischen Alltag einbetten ließe. Diesem Teilbereich seines Aufsatzes sind drei Punkte vorgeschaltet, die zunächst das Wesen des Komischen näher definieren sollen: »Metaphysik des Komischen«96, »Psychologie des Komischen«97 und »Ästhetik des Komischen«98. 86 Vgl. ebd., S. 7f. 87 Vgl. ebd., S. 6. 88 Rotter, Zweiundzwanzigster Jahres-Bericht des Kaiser Franz Joseph-Gymnasium. 1901, S. 43. 89 »Wenn jedoch nicht der äußere Zwang und der Corporalstock der Disciplinarvorschriften, sondern der Unterricht als solcher deshalb das mächtigste Erziehungsmittel ist«; ebd., S. 43–44. 90 Vgl. ebd., S. 45ff. 91 Vgl. z. B. ebd., S. 44. 92 Vgl. z. B. ebd., S. 50. 93 Vgl. z. B. ebd., S. 52. 94 Ebd., S. 53. 95 »Auf diesen Mangel hinweisend verlangt der Ministerialerlass vom 2. Juli 1887 Zl. 13276 mit vollem Recht«, ebd. 96 Vgl. Jahn, Franz: Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht des Friedrichs-Realgymnasiums zu Berlin. 1904, S. 3–11. 97 Vgl. ebd., S. 11–21.
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Unter dem Aspekt »Der praktische Nutzen des Komischen«99 diskutierte er dann verschiedene Möglichkeiten, Komik in die Schule zu integrieren. Er verwies darauf, wie wichtig Humor schon für das alltägliche Leben sei und damit auch für das schulische von Vorteil wäre: »Die komische Empfindung selbst wirkt erfrischend und belebend auf Körper und Geist. Sie schafft Erholung und Beschäftigung zugleich. Sie schärft den Verstand und belustigt das Gemüt. Sie macht die Dinge interessant. Sie beruhigt in Gefahren, in Not und Trübsal. Oft hat ein Scherz geholfen, wo alle anderen Mittel vergeblich waren«.100
Jahn reflektierte, inwiefern Humor den Lehrern und den Schülern zugute kommen würde,101 bestimmte allgemeine Verhaltens- bzw. Umgangsweisen102 und definierte Humor schließlich zunächst »nur als ein Erziehungsmittel«103 aber auch »als ein Ziel, ein Ideal […] zu dem Schule erziehen soll«104. Auch auf Schwierigkeiten dieser Aufgabe, zu Humor als Ideal zu erziehen, verwies er und endete seine Abhandlungen sowohl mit einer möglichen Aufgabe von Schule, nämlich Humor innerhalb »der ästhetischen oder Kunsterziehung auf der Schule«105 stärker zu berücksichtigen, als auch mit einem Verweis auf eine später von ihm erscheinende Schrift zum Thema Humor : »Das Problem des Komischen in seiner geschichtlichen Entwicklung«106. Er nutzte die Abhandlung somit zusätzlich, um Werbung für sich und seine Arbeiten zu machen. Nach Ablösung der wissenschaftlichen Abhandlungen von den eigentlichen Schulnachrichten, die ihnen als Beilagen hinzugefügt werden konnten, erweiterte sich die Sachdimension ein weiteres Mal. Neben (fach)wissenschaftliche und didaktische traten nun auch eher literarische Formen, z. B. Gedichtsammlungen: Sowohl Ottos Gedichtsammlung von 1903 als auch Rauchs von 1912 verweisen mit Titel und inhaltlichem Kontext der Gedichte allerdings noch auf die schulische Sphäre. Letzterer rechtfertigte seine Beiträge zudem mit der Bemerkung, dass die Gedichte schon auf Schulfesten vorgetragen wurden und so Bezug zum Schulbetrieb hätten.107 Die Ambitionen der Autoren sind dabei eher literarischer als wissenschaftlicher oder erzieherischer Natur.
98 99 100 101 102 103 104 105 106 107
Vgl. ebd., S. 21–32. Ebd., S. 32. Ebd. Vgl. ebd., S. 34. Vgl. ebd., S. 34f. Ebd., S. 35. Ebd. Ebd., S. 36. Ebd. Vgl. Rauch, Beilage zum Jahresbericht des humanistischen Gymnasiums Metten. 1912, S. III.
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IV.
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Funktionsdimension
Die Funktionsdimension bestimmt sich nach Meinhardts Modell durch die Frage, »welche Funktion […] anhand des kontextuellen und sozialen Rahmens […] herauszulesen [ist]«108. Die bisherige Analyse lässt auch in diesem Zusammenhang auf eine Pluralität an Funktionen und Funktionsausdifferenzierungsprozessen schließen. Wolfgang Heinemann und Dieter Viehweger unterscheiden Funktionstypen nach vier Primärfunktionen: Sich ausdrücken, Kontaktieren, Informieren und Steuern.109 Dabei bestehen zwischen diesen Grundtypen »fließende Übergänge«.110 All diese lassen sich bei der Textsorte ›Schulprogramm‹ nachweisen. So zielen z. B. die Bekanntmachungen am Ende der Schulnachrichten über zu erfüllenden Vorgaben für die Aufnahme des Kindes an der jeweiligen Schule direkt auf die »unmittelbare Einflussnahme des Textproduzenten auf das Handeln des Adressaten«111 ab, sind also der Steuerungs-Funktion zugehörig. Die bisherige Analyse deutet schon an, dass sich die Schulnachrichten insbesondere, aber auch die wissenschaftlichen Abhandlungen in bestimmter Ausprägung, nun aber sowohl der Kontakt-, als auch der Informations- und der Ausdrucks-Funktion zuordnen lassen können.112 Zur Erfüllung aber auch Ausdifferenzierung kommt es, wenn sich innerhalb des Kommunikationsbereiches und der systemischen Rahmung die intendierten Verbindungen zwischen Text und Rezipient realisieren. Schulnachrichten erfüllen z. B. nur dann ihre Steuerungs- und Informations-Funktion, wenn sie von Familie und Schule akzeptiert und entsprechend (weiter)verwendet werden. Für das Teilsystem Erziehung mit seinen ausdifferenzierten möglichen Adressaten (von der Familie der Schüler bis zur Institution der preußischen Bildungsbehörde), wie auch für das Teilsystem Wissenschaft mit möglichen Adressaten und schließlich hinsichtlich der wechselwirkenden Bezüglichkeit beider Systeme lassen sich intendierte und realisierte Funktionen bestimmten. Für den Zweck dieses Beitrages dient die Frage der sich verändernden Funktionsrealisierung innerhalb der unterschiedenen Teilsysteme Erziehung und Wissenschaft als Orientierung. Erweist sich die Textsorte dabei als nicht funktionsadäquat für den jeweiligen Kommunikationsbereich, so findet keine Anwendung mehr statt und sie wird sich evtl. in weitere Textsorten ausdifferenzieren. Für die Schulprogramme kann dies so interpretiert werden. Auf der einen Seite lässt sich ihre Entwicklungsgeschichte innerhalb des durch das Teilsystem Wissenschaft 108 Meinhardt, Textsorten. 2011, S. 234. 109 Vgl. Heinemann, Wolfgang/Viehweger, Dieter: Textlinguistik. Eine Einführung. Tübingen: Niemeyer 1991, S. 149–153. 110 Ebd., S. 149. 111 Ebd., S. 152. 112 Vgl. ebd., S. 149–152.
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gerahmten Kommunikationsbereichs als wechselseitiger Marginalisierungsprozess betrachten und auf der anderen Seite als Resultat einer fehlenden Funktionsausdifferenzierung innerhalb des Teilsystems Erziehung lesen. Eine Ausdifferenzierung, die wir in heutiger Zeit im Teilsystem Erziehung mit so unterschiedlichen und voneinander getrennten Textsorten wie Elternbrief, Rahmen-, Schul- und Lehrplan, Lektüreschlüssel oder Interpretationshilfe, Didaktik-Ratgeber etc. verbinden. Diese Entwicklung und ansetzende Ausdifferenzierung hinsichtlich der verschiedenen Funktionen, ebenso wie die systemischen Prozesse bzgl. fehlender Funktionsadäquatheit, lassen sich anhand der Entwicklungsgeschichte der Textsorte ›Schulprogramm‹ nachvollziehen.
V.
Strukturdimension
Innerhalb der Strukturdimension steht die Frage, inwiefern »die Aussagen über den Text realisiert [werden]«113, im Vordergrund. Zu beachten ist, dass die Strukturdimension aufs engste mit den anderen Dimensionen verbunden ist: Wie ich etwas sprachlich organisiere, hängt davon ab, wozu, mit welcher Intention und in welchem Kontext, ich es aufbereite.114 Statt einer im Rahmen dieses Beitrages nicht zu realisierenden umfassenden Analyse soll auf die Möglichkeiten weiterführender Forschung verwiesen werden. Insbesondere stehen hierfür die wissenschaftlichen Abhandlungen im Fokus der Untersuchung. Grundsätzlich bedingen die unterschiedlichen Funktionen, Produzenten und Rezipienten auch eine unterschiedliche innertextliche Realisierung. Zur Beschreibung kann man auf die Konzepte der Fachsprachen(zuordnung) oder der Stilanalyse zurückgreifen. »Der Stil wird in der Textlinguistik als wesentliches Merkmal von Texten gesehen und auf textexterne Aspekte bezogen«.115 Unterschieden werden können z. B. nach dem Modell von Elise Riesel fünf Funktionalstile: a) der Stil der öffentlichen Rede, b) der Stil der Wissenschaft, c) der Stil der Presse und Publizistik, d) der Stil der Alltagsrede und e) der Stil der schönen Literatur.116 Schon ein oberflächliches Abgleichen mit Ergebnissen dieses Beitrages legt die Zuordnung jeweiliger Schulprogramme bzw. ihrer wissenschaftlichen Abhandlungen zu
113 Meinhardt: Textsorten. 2011, S. 234. 114 Vgl. Gansel/Jürgens, Textlinguistik und Textgrammatik. 2009, S. 62: »Im Rahmen von Textordnungen und Textsortenbeschreibungen erweist es sich also als erforderlich, textinterne (z. B. stilistische Merkmale von Texten) Kriterien auf textexterne (den Kommunikationsbereich, die kommunikative Situation) zu beziehen.« 115 Ebd., S. 61. 116 Vgl. ebd., S. 60–61.
Ein Beitrag zur textsortenlinguistischen Erschließung von Schulprogrammen
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unterschiedlichen Funktionsstilen nahe. Die gehaltenen Reden117 dem Stil a), die Abhandlungen118 Stil b) und die als Beilagen den Schulprogrammen hinzugefügten Gedichte119 Stil e). Alle drei Funktionsstile finden sich innerhalb dessen, was unter dem Begriff der wissenschaftlichen Abhandlung (und später Beilage) begrifflich subsumiert wird; ein weiteres Indiz für die angeführte fehlende Funktionsadäquatheit von Schulprogrammen, deren Heterogenität als Textsorte sich durch eine Vielzahl an möglichen Kommunikationsbereichen, Rezipienten und Funktionen konstituiert. Wenn z. B. die wissenschaftlichen Abhandlungen dem In-Beziehung-Setzen von Schule und Familie dienen sollen, kann sich der wissenschaftliche Stil einiger Abhandlungen als hinderlich oder irritierend erweisen. Andererseits ist der Stil der schönen Literatur unter Umständen nicht dem Kommunikationsbereich des Teilsystems Wissenschaft angemessen. Der textexterne heterogene Kommunikationsbereich (mit divergierenden Produzent-Rezepient-Beziehungen und Funktionen) der verschiedenen Teilsysteme wirkt sich textintern auf die sprachliche Realisierung aus. Rückwirkend ist es die textinterne sprachliche Realisierung, die textexterne Merkmale hervorbringt, festigt oder verändert. Innerhalb dieses interdependenten Verhältnisses von textexternen und textinternen Merkmalen ist die Konstruktion und Konstitution der Textsorte auszumachen, darüber hinaus aber die Problematik ihrer Vielfalt an Möglichkeiten der Bezüglichkeit zu beachten. Die heterogene Ausprägung der Textsorte und die verschiedenen möglichen Zugehörigkeitsgefüge erschweren die systemische Ein- bzw. Zuordnung von Schulprogrammen (auch hinsichtlich eines bestimmten Kommunikationsbereiches). Die fehlende Bindung, wechselnde Rezipienten, Funktions- und damit auch Sach- und Strukturbestimmungen mögen ein Grund für das problematische Verhältnis von Textsorte und Systemen gewesen sein. Neben einer Stilanalyse, z. B. nach Funktionsstiltypen, ist mit der Analyse von Fachsprachlichkeit innerhalb der Schulprogramme bzw. ihrer wissenschaftlichen Abhandlungen/Beilagen ein weiterer produktiver methodischer Weg angezeigt, die Textsorte näher beschreiben zu können. Thorsten Roelcke gibt für die Analyse von Fachsprachen verschiedene Strukturebenen an, auf denen eine solche Untersuchung stattfinden kann: auf der Ebene des Fachwortes, der Ebene der Fachsprachengrammatik (mit Kriterien hinsichtlich bestimmter Wortbildungsmöglichkeiten, der Flexionsmorphologie und der
117 Z. B. Olzberger/Riepl, Jahresbericht des Großherzoglichen Gymnasiums zu Büdingen. 1860, S. 23–30. 118 Z. B.: Chevalier, Zehnter Jahresbericht des K. K. Staats-Obergymnasiums in Prag Neustadt (Stephensgasse). 1891, S. 3–61. 119 Z. B. Rauch, Bonifaz: Beilage zum Jahresbericht des humanistischen Gymnasiums Metten. 1912, S. 1–34.
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Syntax), sowie auf makro- und mikrostruktureller Ebene.120 Problematisch ist die Bezüglichkeit zu modernen Fachsprachen, die sich von denen des 19. Jahrhunderts unterscheiden können. Einen Lösungsansatz bietet Viliam Schwanzer, indem er bestimmte substantielle und formale Universalien der Wissenschaftssprache bestimmt; darunter Sachbezogenheit, Eindeutigkeit, Klarheit, Effizienz, Ökonomie und invariante Intentionen.121 Der Bezug auf fachsprachliche Universalien könnte die Übertragung hinsichtlich einer Analyse von fachsprachlichen Merkmalen in Schulprogrammen legitimieren. So lässt sich z. B. auch das Kriterium der Sachbezogenheit, realisiert durch das Passiv und eine Entpersönlichung, was z. B. verwendete Personalpronomen angeht,122 oder das der Klarheit, über eine strenge Thema-Rhema-Gliederung123 innerhalb der Abhandlungen, die sich dem Kommunikationsbereich des Teilsystems Wissenschaft zuordnen lassen, nachweisen. Auf der Basis eines repräsentativen Korpus könnte man sowohl vorhandene fachsprachliche Elemente nachzuweisen versuchen als auch aus diachroner Perspektive die Entwicklung von Fachsprache(n) während des 19. Jahrhunderts zumindest teilweise verfolgen und beschreiben. Schulprogramme würden sich auch in dieser Hinsicht als ergiebige Quelle erweisen. Dabei muss man hinsichtlich des verorteten Kommunikationsbereichs und der realisierten Funktions-, Sozial- und Sachbestimmungen genau differenzieren, um den heterogenen Realisierungsmöglichkeiten von Schulprogrammen begegnen zu können.
VI.
Zeitdimension
Die letzte noch zu beschreibende Dimension wird mit der Frage bestimmt, »welchen Einfluss […] der Zeitpunkt (der zeitgeschichtliche Einfluss) auf die Textsorte in Bezug auf Irritationen bzw. Stabilisierungen einer Textsorte [hat]«.124 Die Bedeutung, die diese Dimension auf die anderen Ebenen hat, ist im Verlaufe der bisherigen Untersuchungen deutlich geworden bzw. wird die Zeitdimension als grundlegendes Moment innerhalb der Analyse der anderen Dimensionen schon immer mitberücksichtigt. Dementsprechend knapp fällt die Beschreibung der Zeitdimension für die Textsorte ›Schulprogramm‹ nun aus. 120 Vgl. ebd., S. 71ff. 121 Vgl. Schwanzer, Viliam: Syntaktisch-stilistische Universalia in den wissenschaftlichen Fachsprachen. In: Wissenschaftssprache. Beiträge zur Methodologie, theoretischen Fundierung und Deskription. Hrsg. von Theo Bungarten. München: Fink 1981, S. 213–230, hier S. 215. 122 Vgl. ebd., S. 217–220. 123 Vgl. ebd., S. 223. 124 Meinhardt, Textsorten. 2011, S. 234.
Ein Beitrag zur textsortenlinguistischen Erschließung von Schulprogrammen
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»Textsorten konstituieren sich zu irgendeinem Zeitpunkt in der Evolution der Kommunikation eines sich bildenden sozialen Systems, sie entwickeln sich weiter und sind von Veränderungen betroffen«.125 Die Textsorte ›Schulprogramm‹ ist eng mit den Entwicklungs-, Konstituierungs- und Ausdifferenzierungsprozessen der Teilsysteme Erziehung und Wissenschaft verbunden. Innerhalb dieser dynamischen Prozesse sind Anziehungs- und Abstoßmomente bezüglich der Interaktion und Beziehung zwischen der Textsorte und den verschiedenen Systemen beständig auszumachen. Tendenzielle Entwicklungen lassen die Lesart zu, dass es im Laufe der Geschichte der Schulprogramme zu einer stärkeren Anknüpfung an das Teilsystem Erziehung kam. Aus systemtheoretischer Perspektive und mit Bezug auf die von Luhmann beschriebenen Verfahren der Evolution (Variation, Selektion und (Re)Stabilisierung) können Schulprogramme innerhalb ihrer Entwicklungsprozesse genauer verortet werden. Die beschriebenen Veränderungen ergaben sich dann, »wenn es die Kommunikationsbedingungen erforder[te]n. Eine abgewandelte Struktur, die neuen Bedingungen Rechnung trägt, bedeutet eine Strukturselektion, die die Kommunikation wieder stabilisiert«.126
VII.
Fazit und Ausblick
Die eingenommene systemtheoretische Perspektive zur textsortenlinguistischen Erschließung von Schulprogrammen hat sich als konstruktiver Ansatz hinsichtlich eines umfassenden Beschreibens und In-Beziehung-Setzens von textexternen und textinternen Momenten zur Untersuchung der Schulprogramme erwiesen. Mit dem verwendeten Analysemodell von Meinhardt ließen sich die in wechselwirkender Beziehung zueinander stehenden, die Textsorte konstituierenden und konstruierenden Dimensionen ausdifferenziert(er) beschreiben und zueinander in Relation setzen. Schulprogramme erweisen sich innerhalb der Analyse als heterogene Textsorte, die zwischen verschiedenen Teil- und Subsystemen verortbar ist. Die Einordnung als »Textsorte[…] der strukturellen Koppelung«127 mag als orientierender Bezugspunkt ausreichend sein, doch kann nur bedingt davon gesprochen werden, dass sie der »Kommunikation fester Beziehungen zwischen Systemen [diente]«128. Die Heterogenität der verschiedenen Dimensionen erschwert die Realisierung solch fester Beziehungen und damit die Bestimmung 125 126 127 128
Gansel, Textsortenlinguistik. 2011, S. 110. Ebd., S. 112. Gansel/Jürgens, Textlinguistik und Textgrammatik. 2009, S. 78. Ebd.
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als Textsorte der strukturellen Koppelung, ebenso wie aber die Zuordnung zu einer der beiden anderen Textsortenarten (Kerntextsorten oder Textsorten der konventionalisierten, institutionell geregelten Anschlusskommunikation). Aus diachroner Perspektive zeigt sich die dynamische Ausdifferenzierung und Veränderung von Schulprogrammen, in Anziehungs- und Abstoßprozessen zu den jeweiligen Teil- und Subsystemen. Die als tendenziell beschriebenen Entwicklungen lassen die Interpretation zu, dass es im Laufe ihrer Geschichte zu einer Annäherung an das Teilsystem Erziehung kam; gleichzeitig kann eine fehlende oder zumindest geringer werdende Akzeptanz durch das Teilsystem Wissenschaft textintern und textextern festgemacht werden. Schließlich und trotz Entwicklungsprozesse erwiesen sich Schulprogramme auch für das Teilsystem Erziehung als funktionsinadäquat. Erkennbar ist dies, erneut aus systemtheoretischer Perspektive, anhand fehlender oder doch zumindest geringer Anschlusskommunikation. Zwar gab es Bezüge innerhalb der wissenschaftlichen Abhandlungen zu anderen Schulprogrammen,129 doch hier ist die Frage der Relevanz dieser insgesamt für die Beziehung von Textsorte und System zu stellen. Da sich der Beitrag als Einführung in diese komplexen Beschreibungs- und Analyseprozesse versteht, bedarf es weiterer textsortenlinguistischer Untersuchungen zur Konkretisierung und Differenzierung hier getroffener Bestimmungen und Prozessbeschreibungen. Auf Basis eines breiteren Korpus kann die exemplarisch aufgezeigte Methode der Textsortenbestimmung aus systemtheoretischer Perspektive vertiefend angewandt werden, um strukturelle und inhaltliche Veränderungs- und Anpassungsprozesse beschreiben und charakterisieren zu können. Dies würde auch einem besseren Verständnis der wechselseitigen Beziehungs- und Entwicklungsverhältnisse der Teilsysteme Erziehung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert dienen.
129 Vgl. Chevalier, Zehnter Jahresbericht des K. K. Staats-Obergymnasiums in Prag Neustadt (Stephensgasse). 1891, S. 38; Rotter, Zweiundzwanzigster Jahres-Bericht des Kaiser Franz Joseph-Gymnasium. 1901, S. 53.
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»Keine Macht der Welt vermag das garstige Lied von dem, was Politik im engeren Sinne bedeutet, in ein Geschenk der Musen zu verwandeln.«1 Zum Lessingbild in pädagogischen Zeitschriften im ›Dritten Reich‹ »Unsere Schuld und Unschuld sind unendlicher Mißdeutungen, unendlicher Beschönigungen fähig.« Lessing: »Philotas«, 7. Auftritt
1. In der Zeitschrift für Deutschkunde veröffentlichte Gerhard Fricke2 1934 – zu diesem Zeitpunkt vertrat er die Professur von Julius Petersen an der Berliner Universität – seinen Aufsatz »Das Humanitätsideal der klassischen deutschen Dichtung und die Gegenwart. I. Lessing«. Darin heißt es: »Und so unmöglich es ist, jene letzte große schöpferische Epoche des deutschen Geistes mit dem summarischen Schlagwort der humanistisch-liberalistisch-individualistischen Entartung in Bausch und Bogen abzutun, so gefährlich und unwürdig wäre es, nun etwas aus Leben und Werk der großen Träger jener Epoche die mehr oder minder schmalen Teile isolierend herauslösen, die scheinbar eine direkte positive Beziehung zur deutschen Gegenwart haben und alles andere, sehr häufig das Wesentliche, ohne das auch jene Teilbezüge schief und unwahr werden, in Schweigen und Vergessenheit zu hüllen. […] wir sind es jenen Männern, die ein Ganzes waren und denkend und 1 Das Titelzitat aus: Suter, Ernst: Lessing politisch gesehen. In: Zeitschrift für Deutschkunde 52, 1938, S. 414–420, hier : S. 415. 2 Gerhard Fricke (1901–1980), 1931 bis September 1934 Privatdozent für Neuere Deutsche Philologie an der Universität Göttingen, September 1934 bis November 1934 ao. Professor für Deutsche Literaturgeschichte an der Universität Berlin, November 1934 bis September 1941 Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Kiel sowie Direktor des dortigen Instituts für Literatur- und Theaterwissenschaften, September 1941 bis November 1944 Professor für Deutsche Philologie an der Reichsuniversität Straßburg, November 1944 bis September 1950 Lehrbeauftragter an der Universität Göttingen; vgl. Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Bd. 1. Hrsg. und eingeleitet von Christoph König. New York/ Berlin: de Gruyter 2003, S. 525–527.
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dichtend ein Ganzes erschufen, schuldig, sie als Ganzes zu nehmen und mit ihrem Werk als einem Ganzen fertig zu werden.«3
1934 hatte Fricke auch die Herausgeberschaft der »Zeitschrift für Deutschkunde« übernommen, zunächst zusammen mit Walter Linden und Walther Hofstaetter, ab 1937 mit Max Vanselow. 1939 kam als Herausgeber Joachim Müller hinzu. Bis zur ressourcenbedingten Zusammenlegung mit der »Zeitschrift für Deutsche Bildung« 1943 verkörperte die Person Frickes eine gewisse Kontinuität bei der Herausgabe der »Zeitschrift für Deutschkunde«. Zu Fricke nahezu gegenläufig argumentierte Wilhelm Poethen4 1936 in der »Zeitschrift für Deutsche Bildung«, deren Herausgeberschaft er bereits 1933 übernommen hatte: »Nicht der Lessing der Emilia und des Nathan […] gehört in unsere heutige Schule, sondern der Lessing, der ein zielklarer Erfasser und Vorkämpfer deutschen Wesens war, der die Franzosen in ihre Schranken wies und Shakespeare entdecken half, der Lessing mit der kämpferischen Haltung als Lebensprinzip, der Lessing eines wesentlich nordisch geprägten Stils.«5
Sein Aufsatz trägt den Titel »Die Lesestoffwahl im Rahmen der heutigen Forderungen«. Ein drittes Beispiel sei zitiert: 1935 erschien ein Aufsatz von Hellmuth Fechner6 unter dem Titel »Lessing und wir« in der »Nationalsozialistischen Erziehung«, »Kampf- und Mitteilungsblatt« des Nationalsozialistischen Lehrerbundes. Darin heißt es u. a.: 3 Fricke, Gerhard: Das Humanitätsideal der klassischen deutschen Dichtung und die deutsche Gegenwart. I. Lessing. In: Zeitschrift für Deutschkunde 48, 1934, S. 369–383, hier S. 370f. 4 Wilhelm Poethen war ab 1933 einer der Herausgeber der Zeitschrift für Deutsche Bildung. Zwischen 1921 und 1930 leitete er die Provinzialgewerbeschule in Krefeld, die 1937 zum Fichte-Gymnasium wurde. Forschungen zu den Autoren der behandelten Aufsätze, für die nur wenige Angaben vorliegen, müssten an anderer Stelle erfolgen. 5 Poethen, Wilhelm: Die Lesestoffauswahl im Rahmen der heutigen Forderungen. In: Zeitschrift für Deutsche Bildung 12, 1936, S. 14–27, hier S. 25. 6 Bei Hellmuth Fechner handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um jene Person, die in: Hensel, Rolf: Stufen zum Schafott. Der Berliner Stadtschulrat und Oberbürgermeister von Görlitz: Hans Meinshausen. Berlin 2012 (= Zeitgeschichtliche Forschungen 44) Erwähnung findet. Dr. Hellmuth Fechner war Historiker und Studienassessor an verschiedenen Berliner Bildungseinrichtungen und vor seiner Einberufung zur Wehrmacht Studienrat an der InaSeidel-Schule Berlin. Neben mehreren Beiträgen in der ›Nationalsozialistischen Erziehung‹ veröffentlichte Fechner 1934 eine Broschüre über Hans Meinshausen, zusammen mit Wilhelm Rose die Bände 7 und 8 des Nationalpolitischen Handbuches (Berlin 1935) und die »Geschichte des deutschen Volkes 1648 bis 1871« (München, Berlin 1941, 3. Auflage (= »Geschichtliches Unterrichtswerk für höhere Schulen«)). Seit Mai 1933 war er Mitglied der NSDAP, 1933/34 Anwärter der SS; vgl. Rolf Hensel, S. 281–287, auch zur beruflichen Entwicklung Fechners nach 1945 in Niedersachsen.
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»Wir sollten uns auf ihn besinnen. Auf Lessing? Den Dichter des ›Nathan‹, den Philosemiten? Auf Lessing, den typischen Vertreter der Ich-Zeit, den Vorkämpfer der Aufklärung, der unsere arme, kleine, ach so schwache Vernunft zur Gottheit erhob? […] Uns sollte der Vertreter einer solchen Epoche etwas zu sagen haben, uns, die wir das Erwachen des völkischen Gedankens in allen Lebensäußerungen erfuhren? Und darf Lessing uns überhaupt etwas zu sagen haben? Ja! Wer anders denkt, kennt Lessing nicht. Wer sich mit solchen einfachen Erklärungen wie ›liberal‹, ›Aufklärer‹, ›Judenfreund‹ zufrieden gibt, darf nicht den Anspruch erheben, zur wirklichen Gedankentiefe nationalsozialistischer Weltanschauung vorgedrungen zu sein.«7
Die drei zitierten Textpassagen aus drei verschiedenen Zeitschriften verweisen in einer Zeit institutioneller und ideologischer Gleichschaltung auf durchaus recht unterschiedliche Sichtweisen und Akzentsetzungen, auch wenn innerhalb der Texte manche der hier zitierten Aussagen noch relativiert werden und sich Widersprüche auftun. Dabei kann man davon ausgehen, dass die Artikel durchaus als richtungweisend verstanden wurden, zwei Verfasser hatten die Herausgeberschaft der jeweiligen Zeitschrift inne, Hellmuth Fechner gehörte zumindest zu den prägenden Autoren der »Nationalsozialistischen Erziehung«. Diese Heterogenität der Sichtweisen mag zunächst überraschen, dennoch bewegt sie sich offenbar noch innerhalb dessen, was in der nationalsozialistischen Diktatur Mitte der 1930er Jahre akzeptiert wurde. Zu prüfen wird noch sein, in welchen Kontext der Lessing-Rezeption zwischen 1933 und 1945 diese Aufsätze einzuordnen sind. Die »Zeitschrift für Deutschkunde«, gegründet 1887 als »Zeitschrift für den deutschen Unterricht«, und die »Zeitschrift für deutsche Bildung«8, gegründet 1925, gingen aus der national orientierten schulischen Reformbewegung der Deutschkunde hervor und wurden von Hochschulgermanisten und Deutschlehrern gleichermaßen getragen, wenngleich die »Zeitschrift für Deutsche Bildung« ihren Schwerpunkt auf »programmatisch-konzeptionelle Abhandlungen und unterrichtspraktische Beiträge«9 legte. Das bedeutet, dass zwei Aspekte bei der Entstehung und Veröffentlichung von Beiträgen für diese Zeitschriften von Bedeutung sind: fachinterne Maßstäbe, ein innerdisziplinäres Selbstverständnis der Literaturwissenschaft auf der einen Seite und auf der anderen bildungspolitische Erwägungen. Letztere spielten unter den Gegebenheiten des Nationalsozialsozialismus eine dominierende Rolle, doch blieb das Verhältnis der beiden Seiten ein Spannungsfeld, eine Gratwanderung. Gerhard Kaiser bezeichnet diese beiden Aspekte in seiner umfangreichen Publikation »Grenzverwirrungen. Literaturwissenschaft im 7 Fechner, Hellmuth: Lessing und wir. In: Nationalsozialistische Erziehung 4, 1935. 8 Nur ein Beitrag der insgesamt 14 Aufsätze, die hier als Materialgrundlage dienen, erschien nicht in diesen Zeitschriften. 9 Engeler, Knut: Geschichtsunterricht und Reformpädagogik. Berlin 2009, S. 136.
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Nationalsozialismus« als »Eigensinn und Resonanz«.10 ›Eigensinn‹ meint dabei keine potentielle Widersetzlichkeit im Sinne der Alltagssprache sondern das Selbstverständnis und die inneren Maßstäbe der Literaturwissenschaft, den ihr eigenen Sinn. ›Resonanz‹ bezeichnet die Stellung des Fachs innerhalb des NSStaates, insbesondere den Aspekt der Kommunikation und Wirkung innerhalb der Gesellschaft über die Fachgrenzen hinweg bis hin zu Fragen der Legitimation der Literaturwissenschaft in der ›Volksgemeinschaft‹. Diese beiden Aspekte bilden keinen starren Dualismus, sondern einen variablen Bereich ständiger Auseinandersetzungen um die Festlegung von Grenzen, wobei auch die Literaturwissenschaft weder als ›rein‹ und autonom noch als der Diktatur vollkommen willfähriges Instrument gesehen wird. Je nach dem kommunikativen Ziel einer Veröffentlichung in den pädagogischen Zeitungen zwischen 1933 und 1945 erwiesen sich die Grenzverschiebungen zwischen den Aspekten »Eigensinn und Resonanz« als besonders markant. Insbesondere die »Zeitschrift für Deutschkunde« und die »Zeitschrift für Deutsche Bildung« erwiesen sich als wichtigste Verteilermedien zwischen dem literaturwissenschaftlichen und dem erzieherischen Feld. »Beide Zeitschriften zielen […] nicht nur auf eine disziplininterne Leserschaft, sondern setzen mit dezidiertem volkspädagogisch-politischem Impetus auch auf den erzieherischen und politischen Resonanzraum.«11 Dabei ist für das Verhältnis zwischen beiden Zeitschriften auch von einer Konkurrenzsituation auszugehen, einer Konkurrenz »um Marktanteile und um die Deutungshegemonie im erzieherisch-deutschkundlichen Feld«.12 Das lässt zunächst die Vermutung zu, dass es eine große Bereitschaft gab, schulpolitische Entscheidungen in diesen Organen weitgehend zu antizipieren und dem wachsenden Druck seitens der nationalsozialistischen Schulpolitik auf das Fach nachzugegeben. Gerade was die Auseinandersetzung mit Lessing betrifft, war die Aufnahme von außerdisziplinären Beiträgen, die neue Zugangs- und Aufbereitungsweisen von tradierten Gegenstandsbereichen im Sinne der NS-Politik forderten bzw. anboten, ein Gradmesser dieser Bereitschaft. Anderseits wurde seitens der Herausgeber darauf geachtet, dass Veröffentlichungen in beiden Zeitschriften stets mit innerfachlichem Renommee verbunden blieben. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, unter diesen Voraussetzungen jene Aspekte und Veränderungen des Lessingbildes zu analysieren und zu beschreiben, 10 Kaiser, Gerhard: Grenzverwirrungen. Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus. Berlin: Akademie Verlag 2008, S. 8. Kaiser entwickelt daraus eine handhabbare methodische Grundlage für seine fachgeschichtlichen Betrachtungen der NS-Zeit und integriert dabei Vorzüge des Ansatzes der mehrfach perspektivierten Wissenschaftshistoriographie und des ideologiekritischen Ansatzes. 11 Kaiser, Grenzverwirrungen. 2008, S. 518. 12 Ebd., S. 349.
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die sich in den zwischen 1933 und 1945 herausgegebenen und für das Bildungswesen relevanten Aufsätzen abbilden, und sie mit der Lessing-Rezeption im ›Dritten Reich‹, soweit dafür Untersuchungen vorliegen, in Beziehung zu setzen.13 Die Analyse der Beiträge erfolgt in der Reihenfolge ihres Erscheinens. Dabei kann es in diesem Rahmen nicht um verlagspolitische Fragen und Zensurüberlegungen gehen, auch nicht um karrierestrategische Erwägungen der einzelnen Beiträger oder quantitative Erhebungen der ›Lessing-Aufsätze‹ im Vergleich zu anderen Themen. Auch zu Fragen der praktischen Folgen dieser Erörterungen im Schulunterricht können auf Grundlage allein der Beiträge keine Aussagen getroffen werden. Auf einzelne der vorliegenden Aufsätze wurde bisher in unterschiedlichen Untersuchungen Bezug genommen.14
2. Zunächst ist festzustellen, dass die Materialgrundlage mit insgesamt vierzehn Aufsätzen innerhalb von elf Jahren (bis 1944) vergleichsweise schmal bleibt.15 Auf die Ursachen wird noch zurückzukommen sein. 13 In Rechnung zu stellen ist dabei jedoch, dass auch die Lesart des heutigen Betrachters auf einer methodischen Konstruktion basiert. Sie muss weder mit den Intentionen des Autors noch mit den Interpretationen der zeitgenössischen Betrachter übereinstimmen. Vgl. Horn, Klaus-Peter : Pädagogische Zeitschriften im Nationalsozialismus. Selbstbehauptung, Anpassung, Funktionalisierung. Weinheim: Deutscher Studienverlag 1996, S. 18. 14 Horst Joachim Frank zitiert Poethen im Zusammenhang mit den im Deutschunterricht der NS-Zeit wirkenden Selektionsmechanismen (Frank, Horst Joachim: Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfängen bis 1945. München: dtv 1973, S. 885; Schmiesing, Ann: Lessing and the Third Reich. In: A Companion to the Works of Gotthold Ephraim Lessing. Hrsg. von Barbara Fischer und Thomas C. Fox. Rochester/New York: Camden House 2005, S. 261–280, S. 267). Schmiesing geht neben Poethen auf Suter und Fellmann ein. In »Theater im Dritten Reich. Theaterpolitik, Spielplanstruktur, NS-Dramatik.« (SeelzeVelber : Kallmeier 2000) werden die Aufsätze von Poethen und Fechner stark vereinfachend als Belege für die Vereinnahmung Lessings in der Symbiose der Verteidigung des ›traditionellen Lessing‹ und der weitgehenden Ablehnung gedeutet (S. 340). Jo-Jacqueline Eckardt weist in ihrem Aufsatz »Das Lessingbild im Dritten Reich« (In: Lessing Yearbook. Bd. 23, 1991, S. 69–78) auf das Spannungsfeld von ideologischen Vorgaben und vorhandenen sowie genutzten Spielräumen in der Praxis hin (S. 74). 15 Außerhalb des hier gesetzten Rahmens von Artikeln in pädagogischen Zeitschriften sind im Untersuchungszeitraum weitere Aufsätze erschienen, die Leben und Werk Gotthold Ephraim Lessings zum Gegenstand haben. Für das Verständnis des Kontextes seien sie hier zumindest erwähnt: Huber, Ernst Rudolf: Lessing, Klopstock, Möser und die Wendung vom aufgeklärten zum historisch-individuellen Volksbegriff. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 104, 1944, S. 2f.; Schn.: Was ist uns heute Lessing? In: Deutschlands Erneuerung 18, 1934, S. 121–159; Mann, Otto: Neue Lessingforschung. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 59, 1934, S. 374–380; Spindler, Kurt: Gotthold Ephraim Lessing. In: Mitteilung der Landesvertretung für sächsischen Heimatschutz 26, 1937, S. 129–132.
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Die vierzehn Aufsätze wurden von zwölf Autoren verfasst, von Gerhard Fricke und Lothar Böhme liegen jeweils zwei Texte vor. Acht Beiträge sind in der »Zeitschrift für Deutschkunde« erschienen, fünf in der »Zeitschrift für Deutsche Bildung«. Dem Aufsatz »Deutschunterricht und Nationalsozialismus«16 von Lothar Böhme wurde offenbar so viel Bedeutung beigemessen, dass er in beiden Zeitschriften erscheinen konnte. Ein Aufsatz schließlich wurde in der »Zeitschrift für Deutschwissenschaft und Deutschen Unterricht« (die Zusammenlegung beider Zeitschriften ab 1943) veröffentlicht. Ein anderer Aufsatz war in der »Nationalsozialistischen Erziehung« publiziert worden. Von den vierzehn Aufsätzen widmeten sich sieben ausschließlich Lessing und seinem Werk. Die anderen sieben Beiträge behandelten eine umfassendere Thematik und bezogen Lessing dabei mehr oder weniger umfangreich, meist an markanter Stelle, ein. Von den zwölf Autoren hatten acht einen schulpraktischen Hintergrund, waren aber auch publizistisch tätig. Vier waren Inhaber einer Universitätsprofessur bzw. Dozenten. Aufschlussreich ist die zeitliche Abfolge des Erscheinens der Aufsätze. Im Jahr der Machtübernahme der NSDAP 1933 erschienen bereits drei Aufsätze zu Lessing. 1934, 1935 und 1936 waren zwei Publikationen im Jahr zu verzeichnen, 1938, 1939, 1941 und 1944 folgte dann jeweils nur eine Veröffentlichung. Dabei kristallisiert sich eine gewisse ›Periodisierung‹ heraus. In den Jahren 1933 bis 1935 fand eine Standortbestimmung statt. Sie bestand in der Frage, ob Lessing überhaupt einen Platz im Lehrplan der nationalsozialistischen Schule beanspruchen konnte und, falls ja, auf welche Weise und in welchem Umfang. Materieller und Deutungskanon wurden mit der Ideologie des Nationalsozialismus in Verbindung gebracht. 1936 und 1938 folgten Phasen, die vor allem konkreten Fragen des Lesestoffs in der Schule und didaktischen Fragen vorbehalten war. 1939 bis 1941 reagierten die Autoren auf die veränderte Situation, die mit dem Krieg eingetreten war. Eine nähere Betrachtung verdient die Häufigkeit, mit der in Aufsätzen auf Werke Lessings eingegangen wurde, freilich sind solche Erwähnungen qualitativ und quantitativ sehr heterogen. Die meisten explizit zu Lessing verfassten Arbeiten versuchen eine Gesamtsicht und eine Gesamtbewertung. An erster Stelle der Beschäftigung, zumindest tiefergehender Erwähnungen, steht »Nathan der Weise«. In sieben Aufsätzen wird auf das Drama eingegangen. Das schien ›notwendig‹, um es aus dem Kanon zu ›verabschieden‹. An zweiter Stelle findet sich, das mag weniger überraschen, das Lustspiel »Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück«. In sechs Aufsätzen erfolgen Interpretationen, Wertungen und Einordnungen des Stücks, das zugleich zu den meistgespielten jener Zeit 16 Böhme, Lothar : Deutschunterricht und Nationalsozialismus. In: Zeitschrift für Deutschkunde 47, 1933, S. 387–398.
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gehörte. Dies erklärt denn auch, warum Lessings Lustspiel als einzigem Werk zwei komplette Aufsätze gewidmet waren. Jeweils drei längere Erwähnungen sind dem »Philotas« und der kunsttheoretischen Abhandlung »Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie« vorbehalten. Zweifelsohne war Letztere ein Erbe aus dem Kanon des humanistischen Gymnasiums. »Philotas« hingegen war in seiner fast zweihundertjährigen Fehlinterpretation, ausgehend von Johann Wilhelm Ludwig Gleim, ein willkommener Beleg für Opferbereitschaft und Heldentod. Auf das Trauerspiel »Emilia Galotti« wurde an zwei Stellen eingegangen. In seiner Konfliktstruktur zwischen Individuum und gesellschaftlichem Umfeld erschien es offenbar als eher problematisch. Einmalige Bezugnahmen erfolgten auf »Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer«, auf »Die Erziehung des Menschengeschlechts« und auf »Miß Sara Sampson«. Einer der ersten Autoren, der sich nach dem Machtantritt der NSDAP auch an das Thema Lessing ›wagte‹, war Richard Eichenauer17 mit seiner Publikation »Deutschunterricht und Rassenkunde«. Seine Schrift ist ein Versuch, den literarischen Kanon des Gymnasiums mit einem der Grundpfeiler der nationalsozialistischen Ideologie zu verknüpfen. Nun existierten Richtlinien und Lehrpläne für eine verpflichtende rassenkundliche Betrachtung von Dichtungen jedoch erst 1938.18 Die Umstände zeigen Eichenauer als einen Vorreiter des Rassegedankens in der Schule, zugleich demonstriert sein Text die methodische Brüchigkeit, ja nahezu lächerliche Unhaltbarkeit seines Vorgehens. Das rassenkundliche Herangehen konnte sich im Kern der Literaturwissenschaft nicht etablieren und fand sich am ehesten bei Autoren mit besonderen kulturpolitischen Ambitionen, bei einzelnen Vertretern aus dem Lager der Schulpraktiker wie Eichenauer selbst und bei einzelnen Nachwuchswissenschaftlern, da die linientreu politische Überreizung wiederum auch zur fachlichen Ausgrenzung führen konnte und kein einheitliches methodisch-wissenschaftliches Rassekonzept existierte.19 Gleichzeitig wurden von Autoren wie Eichenauer verbindliche Signale der Machthaber schon frühzeitig aufgegriffen und ihnen ›entgegengearbeitet‹. Damit erhöhte sich der radikalisierende Druck auf die veröffentlichenden Zeitschriften, und nach außen wurde die Bereitschaft zur fachlichen Erneuerung signalisiert. 17 Eichenauer, Richard: Deutschunterricht und Rassenkunde. In: Zeitschrift für Deutschkunde 47, 1933, S. 522–532. Vermutlich handelt es sich beim Autor um den Musikwissenschaftler und Lehrer Richard Eichenauer (1893–1956). Er war Lehrer und Direktor des Bochumer Reformrealgymnasiums, ab 1933 Direktor der Bauernhochschule Goslar. Eichenauer trat u. a. mit einer Reihe berüchtigter rassekundlicher Schriften hervor: Die nordische Schule (1930), Musik und Rasse (1932); Die Rasse als Lebensgesetz in Geschichte und Gesittung. Wegweiser für die deutsche Jugend (1934). 18 Vgl. Kaiser, Grenzverwirrungen. 2008, S. 348. 19 Vgl. ebd., S. 295 und S. 365.
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Eichenauer forderte kein Fach Rassekunde, sondern die permanente Einbeziehung dieser Betrachtungsweise in alle fachlichen Gegenstände und methodischen Erwägungen. Dabei berief er sich mehrfach auf Hans F. K. Günther20. Längsschnittartig machte Eichenauer seine Überlegungen an verschiedenen literarischen Beispielen seit der Antike deutlich und verband das vielfach mit unterrichtspraktischen Hinweisen und forderte in kruder Weise den »rassekundlichen Blick« des Lehrers. Wie ist das nun mit Lessing in Übereinstimmung zu bringen? Tellheim ist für ihn der Prototyp des nordischen Menschen. Er schrieb dazu: »Dieses Drama [›Minna von Barnhelm‹] bietet in der Gestalt Tellheims das Musterbeispiel eines – von Lessing natürlich unabsichtlich – rassisch geformten Menschenbildes. In allen Einzelheiten seines Wesens und Verhaltens ist Tellheim […] nordisch […]. Ein Fachgenosse erzählte mir, er habe Tellheim als das Urbild des ›vornehmen Menschen‹ herausarbeiten und dann finden lassen, daß dieser vornehme Mensch, rassenkundlich benannt, eben der nordische Mensch sei. (In Prima könnte man auf eine solche Einzelbetrachtung zurückgreifen und den Schülern die Macht des Rassischen daran klarmachen, daß Lessing, der doch in den bewußten Bezirken seines Geistes ganz anderen Idealen nachging […] sozusagen gegen seinen Willen doch in einer solchen Schilderung die Richtigkeit der rassenkundlichen Auffassung bezeugt.«21
Literaturwissenschaftliche Intentionen spielten für den Autor keine Rolle mehr, das Werk wurde zum Lieferanten ideologischer Belege degradiert. Bemerkenswert, da in den 1930er Jahren noch häufiger zu beobachten, ist die Tatsache, dass Lessing – historisch verbrämt – entmündigt wird: An die Erkenntnisgrenzen seiner Zeit sei er gestoßen, und was sich mit seiner Geisteshaltung nicht in Übereinstimmung bringen ließ, tat er unbewusst. Damit wurden die Voraussetzungen seiner ideologischen Indienstnahme geschaffen. Eine derartige Rabulistik allerdings ließ sich auf »Nathan der Weise« nicht mehr anwenden und mündete daher in eine entsprechende Distanzierung von der Dichtung: »Lesenswertes schöngeistiges Schrifttum, das sich stofflich mit Rassenfragen befaßt, haben wir nicht viel. Lessings ›Nathan‹ wird man sich kaum entgehen lassen, um an ihm zu zeigen, daß wir heute ganz anderer Meinung sind als der Dichter.«22
Eichenauer versuchte einen Grundsatzartikel zu liefern, der sich frei von fachlichem Ethos auf eine der wichtigsten und im Holocaust folgenreichsten ideologischen Säulen des Nationalsozialismus bezog. Der zweite 1933 erschienene Aufsatz mit dem Anspruch der Vermittlung grundlegender Orientierungen war der schon erwähnte Text »Deutschunter20 Hans F. K. Günther (1891–1968) war »Rasseforscher« und gilt als einer der theoretischen Begründer der nationalsozialistischen Rasse-Ideologie. 21 Eichenauer, Deutschunterricht und Rassenkunde. 1933, S. 526. 22 Ebd., S. 529.
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richt und Nationalsozialismus« von Lothar Böhme23, ebenfalls ein Schulpraktiker. Dem Aufsatz lag eine Rede zugrunde, die er am 30. Mai 1933 vor dem NS-Lehrerbund in Leipzig gehalten hatte. In seinem Anspruch reichte Böhme noch über Eichenauer hinaus, ging es ihm doch nicht nur um eine Säule der NS-Ideologie, sondern um die Verbindung des Deutschunterrichts mit dem gesamten Nationalsozialismus. Der Text wirkt inkonsistent, Böhme operiert mit ideologischen Versatzstücken, seine Sprache ist pathetisch. Vor allem sympathisierte er knapp drei Wochen nach der Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz mit der offenen Gewalt gegen Geist und Wort, forderte Verbote – der einzige Aufsatz, der sich in dieser Weise mit der ersten gewaltgeprägten Phase nach der nationalsozialistischen Machtergreifung gemein machte. »So segensreich aber die lodernden Flammen, die undeutschen Geist vernichteten, und die Säuberung der Büchereien gewesen sind, so schnell ist die Gefahr doch nicht beseitigt.«24 Die ›nationalsozialistische Revolution‹ begrüßte er, »um die heilsam schaffende Gewalt freizumachen«25. 1500 Jahre Literaturgeschichte waren in ein neues, ideologisch handhabbares Korsett zu bringen. Jüdisches Schrifttum und Thomas Mann sollten aus den Schulen verbannt werden. Die Darstellung des 18. Jahrhunderts erscheint in besonderer Weise als brüchig und widersprüchlich: »Aber die Tiefe und der weltweite Umblick ist wenigstens zur Zeit der Klassik erkauft durch den Mangel an nationaler Bestimmtheit und Bewusstheit. Sie wird beherrscht durch die Humanitätsidee. […] Dargestellt ist diese Idee in Iphigenie, Nathan, Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, seinen Humanitätsbriefen usw. Nation, Volkstum, Glaubensart, Rasse, Herkunft sind letzten Endes Hüllen, die oft daran hindern, das zu erkennen und zu erleben, was alle verbindet: das gemeinsame Menschentum. Am unverhohlensten ist diese Idee bekanntlich in Lessings Nathan dargestellt worden.«26
Etwas später heißt es hingegen wieder : »Lessings Nathan wird gewiß von der gefährlichen, weil national, rassisch und völkisch entkräftenden Humanitäts- und Toleranzidee beherrscht, aber Lessing war es doch, der in den Berliner Literaturbriefen und der Hamburger Dramaturgie die geistige Vorherrschaft der Franzosen in Voltaire entscheidend schlug und, seltsam genug, die Idee germanischer Geistesverwandschaft an Shakespeares Dramen entwickelte. So wirkt Lessing trotz seiner selbst, möchte man sagen, als ein Vorkämpfer der Freiheit deutschen Geistes. Das muß bei Lessing herausgearbeitet werden!«27 23 24 25 26 27
Zu Lothar Böhme konnten keine biografischen Angaben ermittelt werden. Böhme, Deutschunterricht. 1933, S. 390. Ebd. Ebd., S. 391f. Ebd., S. 394.
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Böhmes Text richtete sich fast ausschließlich auf die außerfachliche Resonanz. Zugleich erwächst der Eindruck, als ob sich jemand schweren Herzens von seinem bildungsbürgerlichen Wertekanon verabschiedet. Böhme vollzieht die gleiche Selektion des lessingschen Werkes wie bereits Eichenauer. Auch die dritte Publikation aus dem ersten Jahr des »Dritten Reiches« stammt von einem Schulmann, dem Gymnasiallehrer Andreas Müller28. Sein Aufsatz trägt den Titel »Das Drama als Kunstwerk«. Die kommunikative Strategie seines Aufsatzes ist hingegen eine völlig andere als die von Böhme und Eichenauer. Ihm geht es fast ausschließlich um fachlichen Erkenntnisgewinn, verständlich und nutzbar zwar, weitab jedoch von ideologischer Anbiederung an das Regime oder überzeugter politischer Selbstverwirklichung. Eine zurückhaltende Wertschätzung für Lessing kommt bei Müller zum Ausdruck, er nimmt ihn gemeinsam mit Shakespeare vor allem im Bezug auf Goethe wahr : »Nicht aus einer bestimmten, überwältigenden Leidenschaft heraus, wie die Tragödien Shakespeares, nicht aus einer gereiften philosophischen Erwägung, wie Lessings Werk, sind die Dichtungen Goethes entstanden, sondern aus dem innigen Erleben einer nur dem Bereiche des Gemütes, der Gefühle eigenenden Zerspaltenheit […] Darum muß auch die Sprache dieser Dichtungen gleich fern der Sprache Shakespears wie der Sprache Lessings stehen; sie kann weder den Tatcharakter der einen, noch die dialektische Überspitzung der anderen besitzen.«29
Die Prägung durch Friedrich Gundolf ist unverkennbar und findet auch explizite Erwähnung:30 »Wir wissen durch Gundolf, wie stark die Sprache in Lessings ›Nathan‹ den gleichen Geist der Dialektik widerspiegelt, aus dem die Gesamtidee der Dichtung entstanden ist.«31 Müller vertieft dies in der Erläuterung der dialektischen Anordnung der lessingschen Figuren. Die werkimmanente Betrachtung Müllers verweigerte sich in ihrer Idee und Geschlossenheit der ideologischen Anknüpfung an den neuen Zeitgeist: 28 Müller, Andreas: Das Drama als Kunstwerk. In: Zeitschrift für Deutsche Bildung 9, 1933. Bei Andreas Müller handelt es sich wahrscheinlich um den Deutschlehrer des späteren Bonner Komparatisten Erwin Koppen in Bonn: »Seine germanistischen Publikationen waren und sind nur guter zeitgenössischer Durchschnitt, aber wenigstens nicht schlechter als das meiste dessen, was damals von Universitätsgermanisten publiziert wurde. Schlechthin überragend war er hingegen als akademischer Lehrer. Ich setze das Wort ›akademisch‹ hier mit vollem Bedacht, hatte sein Unterricht doch durchaus das Niveau von Universitätsseminaren gehobener Qualitätsstufe.« Koppen, Erwin: Über Zufall, Notwendigkeit und anderes. In: Wege zur Komparatistik: Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft. Sonderheft für Horst Rüdiger zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Erwin Koppen und Rüdiger von Tiedemann. Berlin/New York: de Gruyter 1983, S. 64. 29 Müller, S. 245f. 30 Ebd., S. 242. 31 Noch im gleichen Jahr sollten Gundolfs Schriften verboten werden, weil er jüdischer Abstammung war, daran änderte auch die Tatsache nichts, dass er zu den Hochschullehrern von Joseph Goebbels gehörte.
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»Wir fordern also vom vollendeten Kunstwerke eine innere Übereinstimmung, Harmonie zwischen seiner inhaltlichen Idee, der Gruppierung der Personen, der Komposition und der Sprache.«32
Müller war es – in Hinwendung an seine Kollegen – noch wichtig, Kindern ästhetisches Empfinden nahezubringen. 1934 erschien mit dem eingangs bereits zitierten Beitrag von Gerhard Fricke erstmals der Aufsatz eines Hochschulgermanisten, der nicht selten auch Stellung gegen bereits erschienene Beiträge bezog. Insbesondere die ahistorischen Verkürzungen (die nicht nur im Falle Lessings Anwendung fanden) werden von ihm abgelehnt. Anders als bei den Autoren aus der Schule kam es Fricke darauf an, innerfachliches Renommee, schulpraktische Relevanz und Resonanz im politisch-ideologischen Machtraum in Übereinstimmung zu bringen. Fricke formulierte in seinem Aufsatz zunächst äußerst interessante Gedanken zum Umgang mit der Klassik, lieferte dann im ersten Teil eine stringente, nahezu mitreißende und für die Zeit modern anmutende Interpretation »Nathans des Weisen«, um im zweiten Teil den Versuch einer Widerlegung des nathanschen Humanitätsideals zu unternehmen. Mit dem Beitrag zum Humanitätsideal (der Darstellung Lessings war ein erster Abschnitt gewidmet, ein zweiter Abschnitt Herder, ein dritter Goethe) thematisiert Fricke sehr bewusst einen neuralgischen Punkt, denn das Humanitätsideal war bisher ein fester Bildungsbestandteil. Gerhard Fricke erläuterte seine Überzeugung, dass die kulturelle Selbstverwirklichung des Nationalsozialismus der ›germanischen Art‹ wesensgemäßer sein werde als die klassisch-idealistische-romantische Schöpfung. Vom Humanitätsideal des »Nathan« sei man unwiderruflich entfernt. Er schloss dann aber unmittelbar an: »Dennoch bleiben die großen Gestalten und Gestaltungen von Lessing bis Hebbel unaufhebbares Bildungsgut auch für die nationalsozialistische Erziehung […], weil es uns überkommenes hohes völkisches Erbe ist, weil es unsere Väter sind, unsere eigene Herkunft, die wir nicht einfach durchstreichen und ignorieren können.«33
Es folgt die Interpretation des »Nathan«, ihr widmet Fricke mehr als die Hälfte seines Aufsatzes, der aber über »Nathan« hinaus auf das Gesamtwerk Lessings zielt. Fricke motivierte den Schritt, da »Nathan« Lessings persönlichste und bekenntnisstärkste Dichtung sei, die die Summe seiner kämpferischen geistigen und persönlichen Existenz ziehe und sein eigentliches Vermächtnis bleibe, wie sie ja bisher und noch immer zum »klassischen« Bildungsgut der deutschen Schule gehört hatte. Unter anderem führte er aus: »Das Wahre und Gute bedarf
32 Ebd., S. 243. 33 Fricke, Humanitätsideal. 1934, S. 369.
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nicht irgendwelcher beglaubigender Institutionen, es überzeugt durch sich selber, durch seine eigene Natur.«34 Im zweiten Teil trat Fricke seine Beweisführung an, dass dieses Humanitätsideal von falschen Voraussetzungen ausgehe. Er unterstellte, im Widerspruch zur eigenen Interpretation, dass »Nathan« Ausdruck einer einseitigen Vernunft sei, die das Individuum in die Isolierung führe, dass dagegen die Bindung an die Religion, die Rasse, das Volk von entscheidender Bedeutung seien.35 Entsprechende Bezüge baute Fricke bereits in der Interpretation auf: »Dieses Hindurchstoßen durch alle ›positiven‹, d. h. zufälligen Bedingtheiten rassischer, konfessioneller, geschichtlicher Art zum Menschen überhaupt war für Lessing von befreiender Wichtigkeit.«36 In der stufenweisen Widerlegung heißt es: »So führt der Glaube an einen von allen konkreten Bezügen ablösbaren Vernunftkern des Menschen, der immer und überall identisch sein muß, unbemerkt und unvermeidlich dazu, daß der wirkliche, der existierende Mensch, der ›positive‹ Mensch sich in einen ›reinen‹, einen ideellen auflöst, den Lessing den ›natürlichen‹ nennt, obwohl er in der reinen Natur nirgend anzutreffen ist.«37
Von der Dichtung ausgehend kommt er auf das Humanitätsprinzip zurück: »Und die Humanität führt zu einer fortschreitenden entmenschlichenden Aushöhlung und Aussaugung der äußeren und inneren Konkretheit und Bestimmtheit des Menschen.«38 Auch Frickes Text ist zutiefst widersprüchlich. Seinen literarischen Gegenstand lässt er zunächst in vollem Glanz erstrahlen, um ihn dann auf die ideologische Schlachtbank zu führen. 1934 gehörte auf Grund der voranschreitenden institutionellen Gleichschaltung und exzessiven Gewalt allerdings bereits Mut dazu, eine solche Interpretation des »Nathan« vorzulegen; andererseits war der Aufsatz aber auch ein nicht zu überschätzender Dienst für die NS-Machthaber. Gerhard Kaiser charakterisierte Fricke in folgender Weise: »Ein akademischer Akteur, der – in einem Maße wie etwa Gerhard Fricke – sowohl die staatlichen und parteilichen Instanzen durch sein weltanschauliches Engagement für den NS zu überzeugen weiß, als auch den Respekt der disziplinären Gemeinschaft und 34 Ebd., S. 374. 35 Dies hat ja Lessing in seinem humanen Lösungskonzept keineswegs in Abrede gestellt, so heißt es in der Ringparabel: »Nun wessen Glauben zieht man denn am wenigsten in Zweifel, doch den seinen, doch dessen Blut wir sind.« Die Aufforderung zum sittlich-humanreligiösen Wettbewerb baut ja gerade auf diesen Bindungen auf. Die Grundthesen zu »Nathan« finden sich in ähnlicher Weise auch in Frickes Aufsatz »Der deutsche Mensch der Aufklärung« (in: Der deutsche Mensch. Stuttgart/Berlin 1935). 36 Fricke, Humanitätsideal. 1934, S. 373. 37 Ebd., S. 381. 38 Ebd.
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seiner Studenten durch seinen fachlichen und didaktischen Leistungen für sich zu gewinnen versteht, bleibt zumindest im Rahmen der Literaturwissenschaft gewiss eine Ausnahme nach 1933.«39
Fricke wirkte also in seinem Fach und bei dessen ›Anwendung‹ in der Schule programmbildend, seine Texte waren wissenschaftlich und weltanschaulich kompatibel.40 Wie bei Fricke ist bei der jüngeren Generation von Germanisten in der NS-Zeit ein besonderes bildungspolitisches Engagement zu beobachten, das aus der weltanschaulichen Orientierung resultierte. Fricke verkörperte den etablierten Nachwuchswissenschaftler jener Zeit. Eine für ihn wenig schmeichelhafte Beurteilung erfuhr er in einem Gutachten, das wegen einer möglichen Berufung nach Marburg von Alfred Goetze aus Gießen angefertigt wurde: Fricke sei ein »Konjunkturritter«, der vor 1933 »extrem liberalistisch« gewesen sei und der »vier Wochen nach der Machtergreifung die Bücher verbrannt [habe], die er eben noch gepriesen« hatte.41 Mit Kriegsbeginn gehörte er zu den Unterzeichnern des Planes »Zum wissenschaftlichen Einsatz Deutscher Germanisten im Kriege«.42 Den Funktionären der NS-Kulturpolitik war klar, dass »Nathan« zu bedeutend war, um ihn plötzlich aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden zu lassen. Der Versuch, ihn allmählich im ›Speichergedächtnis abzulegen‹, war die einzige Möglichkeit, sich seiner zu ›entledigen‹. Gerhard Fricke legte mit seinem Beitrag einen der ersten umfassenden Grundsatzartikel zu Lessing mit einem programmatischen Anspruch für die Germanistik und die Schule während des ›Dritten Reiches‹ vor.43 Nachdem sich Richard Eichenauer zur Verbindung des Deutschunterrichts mit der Rassenideologie als einer der Säulen des Nationalsozialismus geäußert hatte, widmete sich Robert Kleuker 1934 einem Thema, das die Traditionsbildung und letztlich auch historische Legitimation des ›Dritten Reiches‹ in den Mittelpunkt stellte: dem Preußentum.44 Der Ertrag bleibt vergleichsweise 39 Kaiser, Grenzverwirrungen. 2008, S. 100. 40 Entsprechend ›folgerichtig‹ trifft seine Konkurrenten dann auch – je nach Situation – wechselnd der Vorwurf, nicht wissenschaftlich genug oder nicht nationalsozialistisch zu sein. 41 Zitiert nach Kaiser, Grenzverwirrungen. 2008, S. 255. 42 Vgl. ebd., S. 55. 43 Zum Verhältnis von Hochschulgermanistik und Schule äußerte sich Fricke wie folgt: »Also: gerade weil die Arbeit der Hochschule nicht gelehrter Selbstzweck ist, sondern in erster Linie auf den Beruf, auf den sie vorbereitet, zu dienen hat, gerade darum kann es unmöglich ihr Amt sein, dieses »Dienen« so flach und direkt aufzufassen, daß sie etwa, die Dichtung, die sie behandelt, gebrauchsfertig für die pädagogische Praxis macht.« Zitiert nach Kaiser, Grenzverwirrungen. 2008, S. 535. 44 Kleuker, Robert: Das Preußentum in der Dichtung. In: Zeitschrift für Deutschkunde 48, 1934, S. 383–394. Kleuker war offenbar auch Gymnasiallehrer. 1907 erschien seine Disser-
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schmal. Anhand eines literaturgeschichtlichen Längsschnitts mit einem Schwerpunkt auf die für das Gymnasium relevante Literatur verwies Kleuker auf die Spiegelungen preußischer Geschichte in Drama und Roman; dabei ging es ihm vor allem um das Herauskristallisieren preußischer Eigenschaften und Ideale. Dies geschah in Form einer rückwärtsgewandten Projektion dessen, was nach 1933 aus nationalsozialistischem Selbstverständnis unter Preußentum zu verstehen war. Kleuker machte auf diese Problematik durchaus aufmerksam: »Einer der umstrittensten Begriffe im Leben unseres Volkes ist das Preußentum.« Die Welt Friedrichs II. stellte er im Gegensatz zu »süßlicher Anakreontik und kosmopolitischer Humanität«45 dar. Zu den ›Kronzeugen‹ in Kleukers Darstellung zählt auch Lessings »Minna von Barnhelm«, wahrgenommen in der Deutungstradition der Preußenverherrlichung, die bekanntermaßen die doppelbödig-kritischen Passagen des Lustspiels allzu gern übersah. Im Sinne der Volksgemeinschaft schrieb Kleuker : »[K]ein Geringerer als der Sachse Lessing [verkörpert] den Geist dieses Preußentums in der Gestalt des friderizianischen Offiziers und Edelmannes Tellheim. So stark ist dieses preußische Erlebnis Lessings, daß der Kosmopolit in ihm zurücktrat vor der selbstsicheren nationalen Haltung und Würde seines Helden.«46
Kleuker führt die Linie des Preußentums in der Dichtung weiter über Friedrich de la Motte-Fouqu8 und Achim von Arnim hin zu Heinrich von Kleist, »dem preußischsten aller Dichter«.47
3. Während in den ersten beiden Jahren der NS-Diktatur gewissermaßen eine Bestandsaufnahme erfolgte und eine mitunter scharfe Weichenstellung, begann sich schließlich ein umfassenderes Lessingbild für die nationalsozialistische Schule herauszubilden, samt den angestrebten Reduzierungen. Lessing ›etablierte‹ sich, und das ist auch den Aufsätzen in den pädagogischen Zeitschriften ablesbar. Dafür steht insbesondere der schon zitierte Artikel von Hellmuth Fechner aus der »Nationalsozialistischen Erziehung«. Das Traditionsverständnis, das Fricke formuliert hatte, ohne die Denunziation Lessings durch Parteitation »Dr. Samuel Johnsons Verhältnis zur französischen Literatur«. Zusammen mit Fritz Behrend gab er 1928 »Deutsche Laienpredigten: Von Goethe bis Watzlik« heraus. 45 Kleuker, Preußentum. 1934, S. 384. 46 Ebd. 47 Die Darstellung findet ihre Fortsetzung mit Vertretern des 19. und 20. Jahrhunderts, dann zunehmend als Namenssammlung und ideologische Bestandsaufnahme (Alexis, Hesekiel, Fontane, v. Liliencron, Stratz, von Unruh bis hin zur völkischen Weltkriegsliteratur).
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funktionäre, wurde bei Fechner popularisiert und z. T. aber polemischer formuliert, indem der Umgang mit Traditionen auch zum Gradmesser der »Gedankentiefe nationalsozialistischer Weltanschauung« erhoben wurde. Andererseits schritt die Vereinnahmung Lessings für den Zeitgeist nun noch weiter voran. Bei Fechner erhielt Lessing seinen Platz im Gefüge des neuen literaturgeschichtlichen Verständnisses, der im Kern nicht so weit von dem des ›Vorbereiters‹ einer goethezentrierten Literaturwissenschaft der Vergangenheit entfernt war : »mit Recht feiert man Heinrich v. Kleist als den Klassiker des Nationalsozialismus. Noch aber fehlt einer, der die Blütezeit unserer Literatur und des deutschen Geisteslebens eingeleitet hat: Gotthold Ephraim Lessing.«48 Auch auf Schiller und Goethe wird natürlich Bezug genommen. Im Weiteren klopfte Fechner einige Werke Lessings auf ihre ›Brauchbarkeit‹ ab: Lessing »war nicht nur der Dichter des ›Nathan‹; aus der gleichen Feder und dem gleichen Herzen floß viel Größeres«49. Fechner führte aus, dass Rassefragen noch nicht relevant gewesen seien. Geflissentlich wird hier davon abgelenkt, dass ›Rassefragen‹ gerade im »Nathan« durchaus eine Rolle spielten, freilich unter ganz anderen Vorzeichen. »Minna von Barnhelm« fand Würdigung, und Fechner zitierte Goethes Beschreibung aus »Dichtung und Wahrheit« als ein Lustspiel »von vollkommenem norddeutschen Nationalgehalt«50. Noch stärker rückt aber nun »Philotas« in den Fokus. In bisher nicht gekannter Weise wurde ein Werk der Dichtung ganz unmittelbar auf den Alltag und die Ziele der Diktatur bezogen. Philotas sei »Verherrlichung des Heldentums und vaterländischen Opfergeistes«.50 »›Der Tod fürs Vaterland ist ewiger Verehrung wert; wie gern stürb ich ihn auch!‹ Das ist die Gesinnung der Lessingschen Dichtung. Könnten die Soldaten Adolf Hitlers ihre Stellung zu Nation und Staat schlichter und ehrlicher ausdrücken?«51
Fechner knüpfte dabei an die von Gleim ausgehende Fehldeutung des »Philotas« an. Auch Lessings Kritik an der Dominanz der französischen Literatur in Deutschland wurde von Fechner aufgegriffen und umgedeutet:
48 49 50 51
Fechner, Lessing und wir. 1935, S. 321. Ebd. Zitiert nach ebd. Ebd. Warum Fechner ein Zitat aus Ewald Christian von Kleists »Cissides und Paches« verwendet, um die »Gesinnung der Lessingschen Dichtung« zu kennzeichnen, ohne auf die Quelle hinzuweisen, muss hier ungeklärt bleiben.
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»Indem Lessing so die Literatur und damit das gesamte deutsche Geistesleben von der Fremdherrschaft, wenn auch noch nicht von allen fremden Einflüssen, befreite, half er dem nationalen Aufschwung des folgenden Jahrhunderts den Weg bereiten.«52
Fechner verstieg sich dabei zu der Behauptung, dass Lessings Affinität zu Shakespeare und den Griechen Ausdruck rassischen Instinkts sei und entzog seinem Aufsatz damit selbst jede innerfachliche Relevanz. Fechner bemühte schließlich das aus Herders Nekrolog stammende Bild des ›Kämpfers‹ Lessing und kennzeichnete ihn als einen Überwinder der Aufklärung: »Und wie weit sind solche Gedanken von der Oberflächlichkeit der Aufklärung entfernt! Denn ist es vorstellbar, daß dieser Mann allein die menschliche Vernunft hat gelten lassen? […] Kann man da von Lessing als dem Repräsentanten der Aufklärung reden?«53
Das Fazit von Fechners Lessingbild: »So können und dürfen wir uns dem nicht verschließen: auch Lessing ragt hinein in unsere Zeit, die auf den Taten und Gedanken der großen Männer unseres Volkes beruht, ragt lebendig hinein in die gewaltige, brodelnde Gegenwart […] überall begegnet uns der wahrheitsliebende und kämpfende, der selbstlos-bescheidene und tapfere, aber auch der suchende, fehlende und irrende, faustisch-germanische Mensch, der ewige Deutsche!«54
Während die ersten Beiträge auch Ausdruck einer suchenden Bestandsaufnahme waren, schloss Fechners Beitrag diese Entwicklung ab, indem er eine ausschließlich für die nationalsozialistische Schule konzipierte und an den Interessen der NS-Bewegung orientierte Lessingdeutung lieferte. Die Aufsätze der ersten drei Jahre nach Machtantritt der NSDAP sind von einer Phase der programmatischen Klärung und Selbstverständigung innerhalb enger ideologischer Grenzen gekennzeichnet. Zwar fand keine durch Argumente aufeinander bezogene kontroverse Diskussion innerhalb der Zeitschriften mehr statt, und auch von einer Meinungsvielfalt kann nicht mehr ausgegangen werden, allerdings bildete sich noch ein Spektrum unterschiedlich akzentuierter Ansätze und Erkenntnisinteressen ab. Sie waren Ausdruck eines Spannungsfeldes zwischen unterschiedlichen Adressaten und Kommunikationsstrategien, fanden ihre Entsprechung aber auch in der gewollten Kompetenzüberschneidung zum Teil konkurrierender staatlicher Organe und Parteigremien mit Entscheidungsgewalt. Daraus resultierten Spannungen, so z. B. zwischen dem ›Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda‹ unter Joseph Goebbels und 52 Ebd., S. 322. 53 Ebd. 54 Ebd. Mit Blick auf die Schulpraxis vermerkte Fechner, dass die Bedeutung der Fabel im »Handbuch für den nationalpolitischen Unterricht« von Johannes Eilemann hervorgehoben wird.
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dem sogenannten ›Amt Rosenberg‹, dem ›Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP‹. Das führte zu Verwirrungen und Komplikationen, konnte aber auch gewisse Freiräume zur Folge haben.55 Hintergrund dieser Prozesse waren die institutionelle Gleichschaltung und die schrittweisen schul- und hochschulpolitischen Veränderungen einschließlich der Entfernung missliebiger Professoren und Lehrer einerseits sowie andererseits die fachliche Standortbestimmung und Neuorientierung der Germanistik.56 Die meisten Germanisten waren bereits vor 1933 der Begrifflichkeit und Argumentationslogik ihres Faches als »volkhafter Wesens- und Wertewissenschaft« verpflichtet.57 Dadurch nahm die Disziplin im Verlauf der 1930er Jahre eine immer stärker herrschaftslegitimierende Funktion wahr. Zu beobachten ist bei einer Reihe von Fachvertretern ein semantischer Umbau ihres Publikationsstils in Richtung einer höheren ideologischen Kompatibilität. Getragen wurde diese Entwicklung auch von hohen Erwartungen, die sowohl Fachgermanisten als auch Lehrer mit der Machtergreifung Hitlers verbanden und die im Verlauf der weiteren politischen Entwicklung nicht selten enttäuscht worden sind.58 Bezogen auf den Untersuchungsgegenstand Lessing lässt sich ein Konsens darüber feststellen, dass Lessing mit (Teilen seines Werkes) zum Traditions- und damit zum Lehrplanbestand gehörte. Im Bereich der politischen und ideologischen Entscheidungsträger war dieser Konsens aber nicht selbstverständlich. Zu beobachten sind in dieser Phase vielmehr Angriffe auf Lessing, die wesentlich auf antisemitischen Argumentationen beruhten. Gegenstand der Erörterung in den pädagogischen Zeitschriften war die Auswahl und Funktionalisierung von ›passfähigen‹ Elementen des lessingschen Werkes bzw. dessen relative Autonomie, also die Frage, wie sich die Ideologie der NS-Bewegung mit dem überkommenen Kanon ins Verhältnis setzen ließ, sowohl von der Textauswahl als auch von der Deutung her. Veränderungen gab es im Deutungskanon, die ungenehmen Seiten Lessings ließen sich durch die zeitbedingt ›eingeengte‹ Sicht Lessings ›entschuldigen‹. Fricke allerdings distanzierte sich von dieser Sichtweise und versuchte, Lessing einen falschen Denkansatz nachzuweisen. Ein bloßes Verbot des »Nathan« ist nicht festzustellen, vielmehr fand eine von der NS-Ideologie getragene, abgestufte ›Auseinandersetzung‹ mit den Grundsätzen der Aufklärung und dem humanistischen Menschenbild statt, das im »Nathan« seinen Ausdruck findet, bis hin zu dessen Diffamierung. 55 Vgl. Horn, Zeitschriften. 1996, S. 91, hier Zensurinstanzen betreffend. 56 Siehe dazu Barbian, Jan-Pieter : Literaturpolitik im ›Dritten Reich‹. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. München: dtv 1993. 57 Vgl. Kaiser, Grenzverwirrungen. 2008, S. 475. 58 Vgl. Horn, Zeitschriften. 1996, S. 18.
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4. Nachdem diese Phase der Neuorientierung und der Etablierung eines ›neuen‹ angepassten Lessingbildes einen relativen Abschluss gefunden hatte, erschienen 1936 vier Aufsätze, die Lessing zumindest zum Teil thematisieren. Geprägt war die weitere Entwicklung zunächst von praktischen Anwendungen des ›angepassten‹ Lessingbildes. Einzelne Werkinterpretationen entsprechend den Veränderungen im Textkanon folgten, didaktische Angebote wurden unterbreitet. Es entsteht der Eindruck eines Verlustes an Tiefgang und Reflexion, augenfällig ist die starke Präsenz des »Philotas« in den Beiträgen. Heinrich Pälmer reflektierte in seinem Aufsatz »Volk und König« in der »Zeitschrift für Deutsche Bildung« die Schwierigkeiten und Möglichkeiten, die Epoche der Aufklärung zu behandeln.59 Pälmers Überlegungen gingen zunächst dahin, auf die Behandlung der Epoche zu verzichten; er verwarf jedoch den Gedanken. Da die Epoche dem deutschen Volk nicht erspart blieb, solle »der aufklärerische[n] Irrtum«60 auch den Schülern nicht erspart werden. Die Thematik »Volk und König« betrachtet Pälmer vom Mittelalter bis in die damalige Gegenwartsliteratur, an dieser Stelle soll jedoch nur auf »Philotas« eingegangen werden. An Pälmers Analyse ist vor allem interessant, wie er das Selbsttötungsmotiv von Philotas zum Ausgangspunkt des Unterrichts macht. Als Muster des Todes für Volk und Vaterland mag Pälmer »Philotas« nicht interpretieren, da das Volk nicht zum Motivgeflecht der Dichtung gehört.61 Den Schülern ist die Rolle des Verteidigers der Entscheidung von Philotas zugedacht, der Lehrer führt zur skeptischen Analyse des Motivs: Die ›Legitimität‹ der Selbsttötung wird in Frage gestellt, wenngleich jedoch aus anderen Gründen als bei Lessing. Mit dem als persönlich interpretierten Motiv Philotas’ passt er für Pälmer nicht in das Raster der Selbstaufopferung im Sinne des Nationalsozialismus. Der informative Wert des Artikels besteht insbesondere in dem konkreten Einblick, den er in die Möglichkeiten didaktischen Vorgehens im Unterricht ermöglicht. 59 Pälmer, Heinrich: Volk und König. Ein Beispiel für die Behandlung der Aufklärung im deutschen Unterricht. In: Zeitschrift für Deutsche Bildung 11, 1935, S. 317–332. Zu Pälmer konnten keine näheren biographischen Angaben ermittelt werden. Inhalt und Stil des Beitrages lassen auf eine Tätigkeit als Gymnasiallehrer schließen. Seine Dissertation unter dem Titel »Daseinsprobleme und Lebensgefühl im Werk Jakob Schaffners« erschien 1933. 1941 veröffentlichte er gemeinsam mit Georg Müller »Idealismus und Wirklichkeit. Jahresbericht der Friedrich von Bodelschwingh-Schule« mit einem Umfang von 19 Seiten. 60 Pälmer, Volk und König. 1935, S. 318. 61 Pälmer konzipierte eine Abschlussstunde in der Unterprima, die sich dem Königsgedanken vom Mittelalter über die Aufklärung bis in die Gegenwart widmet. Allerdings ging es, das wird im Text deutlich, nicht um den Königsgedanken im historischen Kontext, sondern um den Führergedanken.
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Auch die »Zeitschrift für Deutschkunde« widmete dem Trauerspiel »Philotas« einen zweiseitigen, auf die Unterrichtspraxis bezogenen Artikel, in dem es um den Heldenbegriff ging. Sein Autor war der Lehrer Waldmar Fellmann62. Der Beitrag wirkt eher wie ein Appell, in der Analyse bleibt er hinter dem Text Pälmers zurück. Fellmann empfahl die Behandlung des »Philotas« in der Unterprima anstelle von »Emilia Galotti« oder »Miß Sara Sampson«, die beide nur noch literarhistorischen Wert hätten; ihnen sei »Philotas« »an dichterischer Kraft, Gehalt und Lebenswert weit überlegen im Sinne und mit dem Rechte geistiger Führung im Deutschunterricht«.63 Fellmann hob hervor, dass die »Selbstaufopferung des Philotas […] auf geschickte Weise vorbereitet und aufs genaueste begründet«64 würde. Er führte weiterhin aus, dass die Schönheit der Sprache des »Philotas« nur mit der Luthers und einiger Gedichte Goethes vergleichbar sei: »Mit herrlich scharf geschliffener Klinge führt Lessing seine Dialoge als Wortgefechte, im Monolog springen klingend blanke Gedanken gegeneinander, oft genug spürt man, daß Lessing ein guter Fechter war.«65
Als Schwerpunkte empfahl Fellmann, ›das Klassische‹ und ›das Preußische‹ im »Philotas« zu behandeln. Damit wird, um Nuancen verschieden, wiederum das gängige »Philotas«-Klischee bedient. Kontrapunktisch zu Beiträgen, die sich in dieser Phase immer stärker der schulpolitischen Relevanz Lessings widmeten, wirkt der Aufsatz von Paul Böckmann66. Mit »Lessings Begründung der klassischen Symbolform« 62 Fellmann, Waldemar : Wer ist ein Held? Ein Hinweis auf Lessings »Philotas«. In: Zeitschrift für Deutschkunde 50, 1936, S. 96–97. Nähere biografische Angaben konnten nicht ermittelt werden. Möglicherweise war Dr. Waldemar Fellmann zu dieser Zeit Religionslehrer am Landerziehungsheim Schloss Bischofstein im Eichsfeld. Nach 1945 übernahm er die zunächst die Schulleitung des heutigen Johann-Sebastian-Bach-Gymnasiums in Windsbach. Folgende Veröffentlichungen sind ihm zuzuordnen: »Über den Anteil des nationalen Moments an der Reformation« (1925), offenbar seine Dissertation; in der ›Zeitschrift für Deutschkunde‹ veröffentlichte Fellmann 1938 den Beitrag »Angst als Fehlerquelle«. 63 Fellmann, Held. 1936, S. 96. 64 Ebd., S. 97. 65 Ebd. 66 Böckmann, Paul: Lessings Begründung der klassischen Symbolform. In: Zeitschrift für Deutschkunde 50, 1936, S. 413–428. Paul Böckmann (1899–1987) arbeitete nach dem Studium der Germanistik (außerdem Geschichte, Philosophie und Theologie) zunächst als Lehrer, Promotion 1923 zu Schiller, Habilitation 1930 zu Hölderlin, 1930–1936 Privatdozent für Deutsche Literaturgeschichte und allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg, WS 1935/36 Vertretung in Kiel, 1936–1937 ao. Prof. für Deutsche Literaturgeschichte und allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg, 1937/38 Lehrstuhlvertretung für Neuere Deutsche Literaturgeschichte in Heidelberg, 1938–1946 ao. Prof. für Deutsche Philologie in Heidelberg, Berufung nach Kiel 1943 aus politischen Gründen
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bearbeitete er allerdings ein Thema, das offensichtlich nicht im unmittelbaren Fokus politisch-ideologischen Interesses stand. Es handelt sich um einen in didaktischer Perspektive verfassten, sachbezogenen Fachartikel von hohem Abstraktionsgrad, der die von außen an das Fach herangetragenen ideologischen Forderungen weitgehend unterläuft. Böckmann stellte sich die Neusichtung und Bewertung der ästhetischen Schriften Lessings zum Ziel, die zum Kanon insbesondere des humanistischen Gymnasiums gehört hatten. Nicht ohne Bedauern stellte er fest, dass ein »Werk wie die Hamburgische Dramaturgie […] immer schwerer in ihrer epochemachenden Bedeutung verstanden werden« könne und »gegenwärtige Würdigungen« farblos oder ablehnend seien; die Kunst würdigte er als Ausdrucksmittel humanistischer Weltanschauung.67 Dichterische Form war für Böckmann an die Kraft der Persönlichkeit gebunden. Die Kunstauffassung, die sich in dem Text manifestiert, distanziert sich implizit aber nachdrücklich von diesbezüglichen Erwartungen und Forderungen: »Die Moral ist zwar nicht Absicht der Kunst, aber doch Endzweck, sofern die Dichtung eine bestimmte Haltung des Menschen darstellt und also auch auf das praktische Verhalten des Menschen zurückwirkt.«68
Der Aufsatz enthält jedoch auch dialektische Passagen, die ihn mit Blick auf die ideologischen Entscheidungsträger legitimieren, ohne seine Grundaussagen aufzugeben: »Das nationale Pathos schien Lessing wichtiger als die ästhetische Zielsetzung, da ja die Kunstform erst durch die persönliche Empfindung, die selbst wieder national gebunden ist, einen inneren Gehalt gewinnt.«69 Böckmanns Darstellung verstand und vermittelte Lessing wieder in den Grundkoordinaten des 18. Jahrhunderts, ohne ihn dafür ›entschuldigen‹ zu müssen: »Der Glaube an die Humanitas gibt den Erörterungen Lessings erst ihre Substanz, so daß auch der Laokoon nicht einfach ein zeitloses Gesetzbuch, sondern die Rechtfertigung eines eigenen Stilwillens gibt.«70 1936, in dem Jahr, in dem die meisten Aufsätze zur Thematik erschienen waren, schrieb Wilhelm Poethen seinen schon erwähnten Aufsatz über den materiellen Kanon, der auf den schulpolitischen Entscheidungen und fachlichen Überlegungen der ersten Jahre der Diktatur basierte. Der schulpolitische Gestaltungswille dominierte in diesem Fall die innere Verpflichtung gegenüber dem Lehrgegenstand. Abgesehen von den aufschlussreichen Intentionen und
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blockiert, seit 1937 Mitglied der NSDAP; vgl. König, Internationales Germanistenlexikon. 2003, S. 217–219. Böckmann, Symbolform. 1936, S. 413. Ebd., S. 418. Ebd., S. 423. Ebd., S. 427.
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Forderungen Poethens fördert der Beitrag Aufschlussreiches zu Tage. Noch 1936 wurde »Nathan der Weise«71 offenbar von einer Reihe von Lehrern behandelt: »Und hier kommen einem bei der Durchsicht der für Aufklärung und Klassik genannten Werke ernste Bedenken. Es muß außerordentlich bedenklich machen, wenn man in fast jedem Plan der Unterprima etwa Lessings Emilia Galotti und Nathan der Weise, der Oberprima etwa Goethes Werther findet.«72
Freilich sind anhand des vorliegenden Textes keine Aussagen möglich, in welcher Weise auf »Nathan der Weise« im Unterricht Bezug genommen wurde. Erhellend ist bereits der Titel von Poethens Aufsatz. Der Begriff der ›heutigen Forderungen‹ wird weder näher erläutert noch begründet; der Ausgangspunkt der Erörterung bleibt vage.73 Das Bild, das sich für Poethen bei der Lesestoffauswahl ergab, war das einer ›Übergangszeit‹. Deutlich wird, dass es im Schulalltag ein großes Beharrungsvermögen in Kanonfragen gegeben hat: »Aber beschämend ist auf der anderen Seite, wenn in den Tertien – genau wie vor 30 oder 40 Jahren – oft nur Uhlands Herzog Ernst von Schwaben und Eichendorffs Schloß Dürande oder Webers Dreizehnlinden und Scheffels Ekkehard, wenn in der Untersekunda oft nur Lessing und Storm oder Schiller und Gottfried Keller genannt werden, nichts aber von gegenwartswichtigem Schrifttum.«74
Da Parallelklassen unterschiedliche Lesepläne besaßen, gab es zu diesem Zeitpunkt für die Pädagogen noch gewisse Auswahlspielräume. Andererseits ist Poethens Text der erste der hier untersuchten, in dem für ideologische Verstöße die Drohung des Berufsverlustes ausgesprochen wurde. Belege finden sich auch dafür, dass von Seiten der Schule ideologischer Druck auf die Hochschulgermanistik ausgeübt wurde: »Die jetzige und die nächste Deutschlehrergeneration wird nicht warten können, bis die Wissenschaft ihr den Neuaufbau der Literaturgeschichte vermittelt hat. Sie wird sich selbst den Weg in dieses Neuland bahnen müssen«.75 Für den Deutungskanon regte Poethen, offenbar anknüpfend an Eichenauer, an: »Es kann fruchtbar werden, wenn wir erkennen lassen, daß etwa in Lessings Minna von Barnhelm, in Goethes Hermann und Dorothea, in Storms Schimmelreiter oder
71 Poethen, Lesestoffauswahl. 1936, S. 23. Poethen führt »Nathan« hier neben vielen anderen Texten als Beispiel aus dem Lesestoffplan einer Unterprima an. Welcher Abstand zwischen dem gehaltenen Vortrag und dem Druck des Aufsatzes 1936 lag, lässt sich allerdings nicht ermitteln. 72 Ebd., S. 24. 73 In Rechnung zu stellen ist, dass Poethens Aufsatz auf einem Vortrag basierte. 74 Poethen, Lesestoffauswahl. 1936, S. 15. 75 Ebd., S. 17.
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in Bindings Opfergang rassisch verschieden geprägte Gestalten sich gegenüberstehen.«76
Poethen schwankte zwischen der Empfehlung, eine Reihe von Werken Lessings aus den Lehrplänen entweder zu entfernen oder sie als ›Negativfolie‹ zu behandeln. »Wenn also solche Werke, von denen uns heute eine Kluft trennt, durchgenommen werden, dann nicht so, daß Nathan der Weise noch weiter als höchster Ausdruck des Humanitäts- und Toleranzgedankens und zum bloßen ›Verstehen‹ der Aufklärung, daß Emilia noch weiter als Mustertragödie behandelt wird, sondern in einer Auseinandersetzung mit der Aufklärung, da der Nationalsozialismus selbst eine große Auseinandersetzung mit der Aufklärung ist. Wenn der Lehrer sich das zutraut und wenn die Klasse reif genug ist, mag er das gelegentlich tun. Aber diese Werke allgemein in einen Lehrplan aufzunehmen wäre verfehlt.«77
Auch wenn Poethen den Lektürekanon in einer ›Übergangszeit‹ sieht, kann doch davon ausgegangen werden, dass Mitte der 1930er Jahre vor allem Fragen seiner praktischen Umsetzung an den Schulen im Mittelpunkt standen. Erst zwei Jahre später erschien in den pädagogischen Zeitschriften erneut ein Artikel, der Lessing thematisierte. Nach fünf Jahren nationalsozialistischer Prägung von Literaturwissenschaft und Schule zog Ernst Suter78 in seinem Aufsatz »Lessing politisch gesehen« eine Bilanz: »Wir sehen heute einen anderen Lessing als die Generationen vor uns. Fraglich vielleicht, ob es ein ›richtiger‹ Lessing ist; es ist gewiß, daß es ein anderer ist.«79 Der Text ist von subjektiver Aufrichtigkeit geprägt und von eigenartiger Zerrissenheit zwischen der Liebe zur Literatur und der ›Einsicht in die ideologischen Notwendigkeiten‹ jener Jahre. Zugleich ist er ein Plädoyer für die historische Gebundenheit von Dichtung. »Nein, auch Lessing war kein Nationalsozialist, und wer ihn dazu machen möchte, der treibt nicht nationalsozialistische Wissenschaft, sondern einen gesinnungstollen Mummenschanz.«80 Suters Beitrag fügte der bisherigen Entwicklung wenig Neues hinzu. Eine Reihe von Gedanken bisheriger Publikationen wiederholen sich in widersprüchlichen Formulierungen zwischen naivem Pathos und zeitkritischer Skepsis. Das Motiv des historischen Irrens findet sich (»Auch ist die Geschichtsbetrachtung 76 Ebd., S. 18. 77 Ebd., S. 25. 78 Dr. Ernst Suter war Gymnasiallehrer im Oberbergischen Land. Er unterrichtete Deutsch, Sport und Musik. Weihnachten 1941 fiel er 36-jährig als Kriegsfreiwilliger vor Moskau. Einer seiner Schüler, der Autor und Lehrer Clemens Kugelmeier erinnert in »Gezeiten: Rückblicke auf eine Katastrophe« (Aachen 2010) an ihn und beschreibt ihn als einen begabten Lehrer, freundlichen Idealisten und großen Preußenverehrer. 79 Suter, Lessing politisch gesehen. 1938, S. 414. 80 Ebd., S. 415.
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der Gegenwart in erster Linie nicht das Gericht über die Vergangenheit. Lessing hat viel geirrt, weil er viel gestrebt hat.«81), ebenso der Topos des nordischen Dichters und die Bedeutungsverschiebung im Kampf gegen die französische Literatur, schließlich auch der »Philotas« als »hohes Lied heroischen Opferwillens«82. Abschließend bestätigte Suter die Präsenz Lessings im Lehrplan unter den Koordinaten der NS-Zeit noch einmal: »Ein Dichter, der um diese Werte gerungen hat, der wie Lessing seinem Volke von wahrer Ehre, wahrer Liebe, wahrem Gehorsam als wirklicher Künstler gesprochen hat, ist politisch in unserem Sinne. Lessing wird leben.«83
5. Mit Kriegsbeginn 1939 gehen die Auflagen der Zeitschriften auf Grund von Papierknappheit in der Folge deutscher Autarkiebestrebungen um zunächst etwa 10 Prozent zurück. Eine Reihe von Titeln wurde bereits eingestellt,84 Hermann Göring wollte gar die Einstellung aller nicht lebenswichtigen Zeitschriften erwirken. Jedoch hatten sich nicht nur die materiellen Rahmenbedingungen geändert, auch die Zeitschrifteninhalte und Fragen des Kanons blieben vom Ausbruch des Krieges nicht unberührt. Unter den Werken Lessings gewann das Lustspiel »Minna von Barnhelm« nochmals an Bedeutung. Auf den Theaterbühnen war dies in noch weit größerem Maße der Fall, war die »Minna« doch als das Thema Krieg behandelnde Drama zugleich ein Lustspiel, das für Unterhaltung sorgen konnte. Erneut war es Gerhard Fricke, der sich an diesem einschneidenden Punkt der Entwicklung als einer der ersten zu Wort meldete. In der »Zeitschrift für Deutschkunde« erschien 1939 seine »Minna«-Interpretation.85 Einen Monat nach Kriegsbeginn hielt er es für angezeigt, »Minna von Barnhelm« als Krone des lessingschen Schaffens zu interpretieren, als »die lebendige gestalthafte Verdichtung […] der preußischen Aufklärung«86. Auffällig ist, dass Fricke nicht nur innerfachliche Konstellationen und außerfachlich-politische Ziele seiner Texte auf das geschickteste und rhetorisch beeindruckend in Balance zu halten 81 82 83 84 85
Ebd., S. 416. Ebd., S. 418. Ebd., S. 420. Kugelmeier bezeugt die Behandlung Lessings in Suters Unterricht. Vgl. Horn, Zeitschriften. 1996, S. 78. Fricke, Gerhard: Lessings »Minna von Barnhelm«. Eine Interpretation. In: Zeitschrift für Deutschkunde 53, 1939, S. 273–292. Dieser Aufsatz wie auch die 1934/35 erschienene Publikation »Das klassische Humanitätsideal und die deutsche Gegenwart« fanden nochmals Aufnahme in Frickes Band »Vollendung und Aufbruch. Reden und Aufsätze zur deutschen Dichtung« (Berlin 1943). 86 Fricke, Minna. 1939, S. 273.
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vermochte, er fand auch stets den geeignetsten Zeitpunkt für seine fachlichpolitischen ›Inszenierungen‹. Im Falle der »Minna«-Interpretation ist allerdings zu konstatieren, dass die Zugeständnisse an den Zeitgeist geringer scheinen als bei seinem Lessing-Text aus dem Jahr 1934, trotz Verschärfung der allgemeinen Rahmenbedingungen mit Kriegsbeginn. Vermutlich liegt dies zunächst an der Tatsache, dass Lessing im Kanon der Schule des ›Dritten Reiches‹ etabliert war, auf welche Weise wurde hier zumindest angedeutet. Es ging nicht mehr um den Versuch, Richtungsentscheidungen zu beeinflussen. Des Weiteren bot eine Interpretation der »Minna« 1939 wohl weniger Konfliktpotential als eine Analyse des »Nathan« im Jahr 1934. Nach einer kurzen Skizze zur literaturgeschichtlichen Einordnung der »Minna von Barnhelm« verdeutlichte Fricke dem Leser den tiefliegenden Charakter dieses Lustspiels. Es sei »überblüht von einer Menschlichkeit und einem lebendigen Seelentum, in dem sich tieferer, das Tragische streifender Ernst und schwerelose anmutige Heiterkeit wunderbar vereint, eine Einheit zugleich der hellen, klaren, wachen Vernunft und des verschwiegenen starken Gefühls«.87
Fricke würdigte in nationaler Färbung die überzeitliche charakterliche Typisierung in ihrer historischen Konkretisierung. Er beschrieb die Ausschließlichkeit der Tugend Tellheims als Ausgangspunkt des Konflikts, weil diese andere hindere, ebenfalls ihre Sittlichkeit zur Wirkung zu bringen. Zwar unterstrich Fricke an mehreren Stellen die Verbindung von Soldatischem und Menschlichem bei Tellheim, den Ehrbegriff untersucht er jedoch gerade nicht in dieser Richtung: »Die Ehre ist nichts anderes als der Ausdruck von Tellheims sittlicher Existenz als ganzer.«88 Folglich sah Fricke die Haltung Tellheims auch nicht als zu korrigierende Schrulle, sondern als Handlungsorientierung. Diese ordnete er Lessings Gesamtwerk zu: »Es ist wichtig, dass dieser Grundzug Lessingscher Humanität gesehen wird, wie er vom ›Freigeist‹ und der ›Sara Sampson‹ bis zum ›Nathan‹ und dem ›Testament Johannis‹ sein ganzes Schaffen durchläuft: Das Sittliche besteht bei ihm gar nicht mehr aus einer Summe von Tugenden, sondern aus einer einzigen Haltung des Herzens […].«89
Riccaut spielte nur in seiner Funktion für den Aufbau des Lustspiels eine Rolle, die ›Möglichkeit‹, das Klischee der Franzosenfeindschaft zu bedienen, unterläuft er bewusst. Als ein Abrücken Frickes vom Engagement für den Nationalsozialismus lässt 87 Ebd., S. 274. 88 Ebd., S. 276. 89 Ebd., S. 277.
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sich dies wiederum nicht lesen. Im Juli 1940 nahm Gerhard Fricke in Weimar an der »Kriegseinsatztagung deutscher Hochschulgermanisten« teil. Im Jahr 1941 widmete sich erneut ein Autor »Minna von Barnhelm«, nämlich der Jenaer Dozent Heinz Stolte in der »Zeitschrift für Deutsche Bildung«.90 Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung lagen bereits zwei Jahre Fronteinsatz hinter ihm. Während die Semantik Frickes noch die Entstehungszeit des Aufsatzes spüren lässt, entzieht sich die Publikation Stoltes fast völlig den Koordinaten seiner Zeit. Bei ihm wird kein einziger Dienstgrad erwähnt, Just sogar als Diener bezeichnet, nicht als Bursche. Stoltes Aufsatz gliedert sich in zwei Teile. Den ersten widmet der Autor einer detaillierten, klaren Analyse des Lustspielaufbaus, den zweiten ebenfalls einer Interpretation. Stolte verdeutlichte, welche Funktion die Struktur für die Handlung hat. Mit Fricke stimmt er darin überein, dass der Konflikt tiefer liegt als nur zwischen Liebe und Ehre. Dass sich Beiträge während der Kriegsjahre »Minna von Barnhelm« zuwenden, überrascht zunächst nicht. Das Stück avancierte während des ›Dritten Reiches‹ zu einem der meistgespielten des klassischen Repertoires. In Übereinstimmung mit den zeitgenössischen Deutungen wurde die Geschichte um Tellheim dabei oft genug als preußischer Heldenmythos inszeniert, daneben gab es jedoch ebenso Inszenierungen mit einem subtilen Widerstandspotential, z. B. die Jürgen Fehlings 1935 in Hamburg. Auch zwei Filme und eine frühe Fernsehproduktion nahmen sich des Stoffes an. Zwischen 1933 und 1945 wurde »Minna von Barnhelm« 246 Mal inszeniert – das sind zwei Drittel aller LessingInszenierungen – davon 119 Mal in den fünf Kriegsspielzeiten.91 In ihrem Ton jedenfalls unterscheiden sich die Aufsätze von Fricke und Stolte merklich von den Texten, die in der z. T. enthusiastischen Situation zwischen 1933 und 1936 verfasst worden sind. Das mag den Erfahrungen der Autoren mit dem Regime und mit dem Krieg geschuldet sein. Einer der engagierten und frühen Fürsprecher der nationalsozialistischen Prägung des Deutschunterrichts, Lothar Böhme, meldete sich noch einmal 1944 zu Wort.92 Böhmes Aufsatz ist das in sich widersprüchlichste Zeugnis des 90 Stolte, Heinz: Lessings »Minna von Barnhelm«. In: Zeitschrift für deutsche Bildung 17, 1941, S. 71–80. Heinz Stolte (1914–1992) war ab 1937 Assistent für Deutsche Philologie an der Universität Jena. 1938 legte der das Staatsexamen für das Lehramt an höheren Schulen (Deutsch, Geschichte) ab. Anschließend die Berufung zum Dozenten in Jena, gleichzeitig Kriegsdienst an der Ostfront. Ab 1944 Dozent für das gesamte Gebiet der Deutschen Philologie. Stolte blieb parteilos. Seine Dissertation widmete er Karl May, die Habilitation thematisierte Eilhart und Gottfried. Vgl. König, Internationales Germanistenlexikon. 2003, S. 1818–1820. 91 Vgl. Schmiesing, Theater im ›Dritten Reich‹. 2000, S. 341; Hanke, Matthias: Lessing auf der Bühne und im Film des ›Dritten Reiches‹. Kamenz: Lessing-Museum 2011. 92 Böhme, Lothar : Über das Verständnis von Dichtungen vom Gegenwartserleben her. In: Zeitschrift für Deutschwissenschaft und Deutschunterricht 2, 1944, S. 17–25.
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vorliegenden Textkorpus. Klassische Dichtungen und ›Gegenwartserleben‹ lassen sich in keiner halbwegs schlüssigen ›Erzählung‹ mehr in Übereinstimmung bringen. Wie es scheint, überforderte der Versuch Böhme mental und intellektuell, sein Text ist zum Teil wirr. An einer Stelle schreibt er vom »Endsieg der reinen Menschlichkeit«93. Durchhalteparolen stehen ohne rechten Zusammenhang neben der Darstellung des klassischen humanistischen Menschenbildes. Lessings »Nathan der Weise« wurde von Böhme wieder zitiert, zugleich in Ablehnung und offenbarer Faszination, – gewollt oder ungewollt. In seinem Artikel richtete er sein Augenmerk ausschließlich auf den klassischen Kanon. Im Zusammenhang mit der Papiergeldszene ›Faust am Kaiserhof‹ stellte er fest: »Am Ende stand das Nichts.«94 Es ist die Parallele im Gespür für den Verfall. Auffällig oft richtete Böhme die Frage des Schuldigwerdens an die klassischen Texte und thematisiert die Unwirksamkeit eines literarisch vermittelten Menschenbildes im Angesicht millionenfachen Todes. Als eines der Beispiele des humanistischen Menschenbildes nennt er wieder Lessings »Nathan«, die Menschengruppe im Schlussbild, »die sich hinweg über alle Unterschiede des Glaubens, der Rasse, des Volkes, der sozialen Herkunft, der politischen Feindschaft zu einer Einheit zusammengefunden hat im Zeichen edlen Menschentums«95. Böhme drückte die Sehnsucht nach der Vergangenheit vor 1933 deutlich aus. Der Text endet mit einem Bekenntnis zu Uniform und Gleichschritt, zu staatlicher Macht und Verpflichtung durch die Gemeinschaft, damit danach »die andere Gestirnseite wieder aufgehen [kann], wo die deutsche Seele wohnt«.96 Einer genaueren Zuordnung entzieht sich der Aufsatz Lothar Böhmes auf Grund seines disparaten Charakters.
6. Vierzehn Aufsätze in elf Jahren, – das ist eine vergleichsweise schmale Materialbasis. Die kommunikative Struktur einiger Beiträge legt nahe, dass deren Thesen und Überlegungen auf hier nicht exakt bestimmbare Erwartungen oder Vorgaben reagierten. Das wirft die Frage auf, in welchen konkreten Rahmenbedingungen die Aufsätze für die pädagogischen Zeitschriften entstanden und in welchen sie rezipiert wurden. Welche Wahrnehmung Lessings dominierte die offizielle Sicht? Während im Bereich pädagogischer Zeitschriften nach 1933 zwar vehement 93 94 95 96
Böhme, Verständnis. 1944, S. 24. Ebd., S. 18. Ebd., S. 23. Ebd., S. 24.
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erörtert wurde, wie und mit welchen Einschränkungen Lessing mit dem nationalsozialistischen Weltbild in Beziehung zu setzen ist, wurden seine Relevanz als Lehrstoff und seine Stellung in der Literaturgeschichte niemals prinzipiell in Frage gestellt. In der Wissenschaft und in der Schule hatte sich die Sichtweise auf Lessing zwar grundsätzlich verändert, fachinterne und künstlerische Erwägungen sowie ein gewisses Beharrungsvermögen führten aber an manchen Stellen auch zu Diskrepanzen zu den kulturpolitischen Forderungen. Grundsätzlich aber prägte gerade diese Zeit eine öffentliche Abwertung Lessings (nicht nur gegenüber den Jahren zwischen 1871 und 1929).97 Anders als bei Johann Gottfried Herder oder Heinrich von Kleist bot Lessings vielschichtiges Werk weit weniger Anknüpfungspunkte für eine direkte Bezugnahme zur Ideologie des Nationalsozialismus, dafür aber hinreichend Anlass für antisemitische Angriffe. Entsprechend handelt es sich bei dem zwischen 1933 und 1945 dominierenden Lessingbild um eine Vereinnahmung, die sich aus Elementen der Verfälschung, der teilweisen Negation des bisher Erinnerten und der Verabsolutierung einzelner Elemente zusammensetzt. Bereits 1929, anlässlich der Feierlichkeiten zu Lessings 200. Geburtstag, äußerte ein Jäcklein Rohrbach (vermutlich ein Pseudonym Georg Strassers) die Meinung, der »Nathan« habe »seit etwa Jahren verheerend gewirkt«, und so sei »dieses Abwehr-Drama eines Zeitmenschen die Bibel des Liberalismus geworden, […] die ›gebildete‹ Ausrede des deutschen Spießers, der allem, was da kreucht und fleucht, Daseinsberechtigung zuspricht.«98 Der Hamburger Senat hatte bereits 1933 beschlossen, das Preisgeld des 1929 gestifteten und 1930 erstmals vergebenen Lessing-Preises zu senken sowie den Vergaberhythmus auf drei Jahre zu strecken (später wieder zwei Jahre) und ihn mit dem neu gestifteten Dietrich-Eckart-Preis zu koppeln. Alfred Rosenberg gehörte zu jenen führenden Protagonisten des Nationalsozialismus, die sich explizit auch zu Lessing äußerten. In einer Rede im März 1935 an der Reichsführerschule Bernau führte er aus: »Es gab einmal eine Zeit, da große deutsche Träumer von einer ›Erziehung des Menschengeschlechts‹ sprachen und alle ihre Kräfte dafür einsetzten, dem langersehnten Ziel einer ›Humanisierung der Menschheit‹ erfolgreich zustreben zu können. Niemand von uns wird diese große innere Bereitschaft und die Kraft des Überzeugungsmutes, der einst von Lessing und Herder ausging, gering schätzen, verdankt doch Deutschland ihnen viele seiner schönsten Antriebe.«99 97 Vgl. Schmiesing, Lessing. 2005. 98 Zitiert nach Hartung, Günter : Die drei Ringe. Thesen zur Rezeptionsgeschichte des »Nathan«. In: Bausteine zu einer Wirkungsgeschichte. Gotthold Ephraim Lessing. Hrsg. von Hans-Georg Werner. Berlin/Weimar : Aufbau 1984. 99 Rosenberg, Alfred: Gestaltung der Idee. Blut und Ehre. II. Band. Reden und Aufsätze 1933–1935. Hrsg. von Thilo von Trotha. München: Eher 1936, S. 47.
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Der Angriff gegen Lessing folgte dann über dessen jüngere Wirkungsgeschichte: »Die Erziehung wurde im letzten halben Jahrhundert unbiologisch und allen inneren Gesetzen der Rassen und Völker entgegen als ein magisches Zaubermittel hingestellt.«100 Solche Äußerungen steckten gewissermaßen auch den Rahmen des ›zulässigen‹ Umgangs mit Lessing ab.101 Wenige Wochen später bemerkte Rosenberg in einem Schreiben an die Gestapo, dass »augenblicklich ein Lessingkult am wenigsten am Platz sein dürfte«.102 Insgesamt war Lessing aber zu bedeutend, um auf ihn verzichten zu können. Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts hat er sich einen unerschütterlichen Platz im Bildungskanon und im Theaterkanon erworben. Auch Adolf Bartels bemerkte 1934: »Man kann sich ihn aus unserer Kulturentwicklung nicht wegdenken, es würde eine ganz unausfüllbare gewaltige Lücke klaffen.«103 Spätestens ab 1934 versuchte das Hitler-Regime, nach den Vernichtungsaktionen des ersten Jahres seine Herrschaft in der Gesellschaft zu stabilisieren. Unter anderem gelang das durch die historische Legitimation des eigenen Systems, und dafür bot die kulturelle Bedeutungsaufladung beste Voraussetzungen. Auch Lessing schien dafür geeignet. Eng damit verbunden war der Versuch des Regimes, sich für traditionell bildungsbürgerliche Kreise akzeptabel und attraktiv zu machen. Es war nicht möglich, das NS-Regime gegen eine ganzes Volk zu etablieren, es war nur möglich, es mit und durch das Volk zu etablieren, durch Manipulation, Ansprechen von Idealen und Traditionen. Pragmatismus ging dabei vor Prinzipientreue. Eine nochmalige Zäsur stellt das Jahr 1936 dar, insbesondere für das Theater. Verbotene Theaterautoren, jüdische und emigrierte Autoren sowie der Rückgang ausländischer Theaterliteratur hinterließen eine schmerzhafte Lücke im Repertoire. Zeitgenössische Propagandastücke konnten diese Lücke nicht schließen, und so wurde der Klassik im weitesten Sinne wieder mehr Raum gegeben. Diese zunehmende Präsenz wiederum dürfte auch auf die Schule ausgestrahlt haben. Mit welchem konkreten »Material« wurde bei der Herausbildung eines spezifischen Lessingbildes während der NS-Zeit gearbeitet? Es fällt auf, dass sich die durch politische Macht abgesicherte Herausbildung dieses Lessing-Bildes fast ausschließlich aus dem Repertoire der Vergangenheit bedient und dabei bestimmte Topoi des 19. Jahrhunderts aufgreift, wie beispielsweise den des ›Kämpfers‹ Lessing. Diese werden neu kombiniert und funktional akzentuiert. 100 Ebd., S. 48. 101 Inwieweit eine solche Äußerung auch taktischem Kalkül entsprang, lässt sich angesichts von Rosenbergs »Der Mythus des 20. Jahrhunderts« erahnen. 102 Zitiert nach Schmiesing, Theater im ›Dritten Reich‹. 2000, S. 340. 103 Bartels, Adolf: Lessing und die Juden. Eine Untersuchung. Zweite durchgearbeitete Auflage. Leipzig: Koch 1934.
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Darüber versucht mitunter das Vokabular der Zeit hinwegzutäuschen. Eine neue Zutat liefert lediglich der rassische Aspekt, der u. a. Lessing einen ›nordischen Stil‹ zuschrieb. Letztlich nicht mehr als eine Worthülse, weil eine Sprachanalyse Lessings den von den Nationalsozialisten selbst definierten Kriterien nicht standhält. Insofern ist das Jahr 1933 eine kulturell-ideologische Zäsur, der man inhaltlich nicht allzu viel Bedeutung beimessen kann. Ein radikaler Bruch hingegen ist sie, was die Mechanismen der Umbildung des kulturellen Gedächtnisses betrifft. Zu bilanzieren bleibt, dass die Schule auch und gerade für den Zeitraum zwischen 1933 und 1945 eine zentrale Stellung bei der Herausbildung des kulturellen Gedächtnisses einnahm. Pädagogische Zeitschriften, insbesondere für den Deutschunterricht, prägten diesen Prozess mit und reflektierten ihn auch mehr oder weniger bewusst, was zugleich ihren besonderen Quellenwert ausmacht. Ambivalenzen und Aporien im Umgang mit Lessing finden sich hier in bisweilen unvermutet starker Ausprägung; Sie haben vor allem mit der Vielschichtigkeit in den Deutungsmöglichkeiten des lessingschen Werkes und mit Lessings Wahrheitsbegriff zu tun. Dennoch kann man nicht davon ausgehen, dass sich Raum für kollektive ›Gegengedächtnisse‹ gefunden hätte, wohl aber beachtenswerte Unterströmungen, die versucht haben, unterprivilegierte Aspekte dieses Autors zumindest im Bewusstsein einer Binnenöffentlichkeit zu halten. Dem gegenüber standen starke Bemühungen, die Grundpfeiler der NSIdeologie schnell in der Schule zu etablieren und zu festigen. Bezogen auf die Reflexion der lessingschen Wirkungsgeschichte entstand ein kollektives ›Gegengedächtnis‹ nur durch das Exil und die Auslandsgermanistik. Mit dem Blick auf die vorliegende Thematik wäre hier eine Analyse der in den USA herausgegebenen »Monatshefte für den deutschen Unterricht« bzw. des »Journal of English and Germanic Philology« ertragreich.
Werner Nell
Lessing in Galizien: Deutschsprachige Schule und jüdische Literatur
1. Zusammen mit der Bukowina, jener Landschaft, von der Paul Celan 1958 bei der Entgegennahme des Bremer Literaturpreises sagte, sie sei »ein Land, in dem Bücher und Menschen lebten«1, bildet Galizien bis heute einen ebenso Phantasie anregenden wie real historisch bemerkenswerten Erfahrungs- und Erinnerungsraum, dessen Ausstrahlung sich sowohl in der deutschsprachigen und in der polnischen Literatur als auch in den vielfältigen und vielsprachigen Werken jüdischer Autoren der ganzen Welt wiederfindet.2 Wie in einem Brennglas werden in dieser Landschaft, deren territoriale Vorläufer sich bis ins Hochmittelalter zurückverfolgen lassen und die in Folge der ersten, am 5. August 1772 in Sankt Petersburg beschlossenen polnischen Teilung von da an als »Kronlandschaft Galizien und Lodomerien« bis 1918 zum Österreichischen Kaiserreich gehörte, die Entwicklungslinien und Konfliktpotentiale europäischer Gemeinschaftsbildungen und deren Grenzen, handelt es sich nun um religiöse, nationale, ethnische oder auch historisch gefasste Strukturbildungen, erkennen. Zusammen mit der 1775 aufgrund des Vertrages von Konstantinopel dazugekommenen, vorher zum osmanischen Reich gehörigen Bukowina kann Galizien bis zur endgültigen Zerstörung seiner Vielfalt im Völkermord des nationalsozialistischen Deutschland und in den unterschiedlichen Verfolgungen und Deportationen der stalinistischen Zeit eines der Beispiele bilden, an denen sich die 1 Vgl. Celan, Paul: Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen. In: Ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden Bd. 3: Prosa, Reden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 185f., hier: S. 185. 2 Für die deutsch-polnischen Perspektiven vgl. Kozuchowski, Adam/Nell, Werner : Galizien – Projektionen, Erinnerungen und Geschichte. In: Deutsch-polnische Erinnerungsorte/Polskoniemiecki miejsce pamie˛ci. Hrsg. von Robert Traba u. a. Paderborn: Schöningh 2010; Nell, Werner : Der Westen im Osten. Galizien in Montr8al. In: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 2008; Stenberg, Peter : Journey to Oblivion. The End of the East European Yiddish and German Worlds in the Mirror of Literature. Toronto u. a.: University of Toronto Press 1991.
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multikulturellen und transkulturellen Gemengelagen und Mischungsverhältnisse der älteren europäischen Lebenszusammenhänge3 ebenso erkunden lassen wie diese Befunde sich wohl auch auf andere, z. T. Jahrtausende alte Siedlungsund Kulturräume in Europa und darüber hinaus übertragen lassen.4 Auch wenn die politische Einheit Galizien bereits 1919 von der Landkarte verschwand und die für Galizien charakteristisch gemischten Bevölkerungsverhältnisse spätestens 1945 zerstört waren, kommt unter diesem Stichwort doch nicht nur eine der älteren Landschaften Ost- oder »Zwischen-Europas«, auch dies – ähnlich wie Mitteleuropa, Zentraleuropa oder Mittelosteuropa – eine mitunter im Lauf der vergangenen Jahrhunderte durchaus ideologisch besetzte Hilfskonstruktion5, in den Blick. Vielmehr stellt Galizien als Wiege des chassidischen Judentums und einer Vielfalt weiterer, teils jüdischer, teils aber auch anderer kultureller Überlieferungen, nationaler, regionaler, zugleich aber auch trans- bzw. auch subnationaler Muster von Vergemeinschaftungen, sozialer und politischer Organisationsformen und nicht zuletzt als Schauplatz und Erfahrungsraum von Entzweiungen und Differenzsetzungen auch eine Art Modellfall für die Beschäftigung mit religiösen, ethnischen und/oder kulturellen Mischungsverhältnissen dar, wie sie gerade im Blick auf die (aktuellen) europäischen Verhältnisse6, genauso gut aber auch sonstwo auf der Welt erneut in Erscheinung treten bzw. schon immer und immer wieder auch Aufmerksamkeit gefordert und Unruhe erzeugt haben.7 Der österreichische Historiker Moritz Cs#ky hat in dieser Hinsicht schon vor einigen Jahren von den Landschaften Zentraleuropas als einem »Laboratorium« gesprochen, »in dem kontinuierlich 3 Vgl. hierzu pointiert Matthes, Joachim: Interkulturelle Kompetenz. Ein Konzept, sein Kontext und sein Potential. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47, 1999, S. 411–429, hier: S. 412f. 4 Vgl. dazu die vielfältigen Beispiele kultureller Interferenzzonen bei Ascherson, Neil: Schwarzes Meer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, bes. S. 343ff. 5 Vgl. dazu Miller, Aleksej: Die Erfindung der Konzepte Mittel- und Osteuropa. In: Europa und die Grenzen im Kopf. Hrsg. von Karl Kaser u. a. Klagenfurt: Wieser 2003, S. 139–163; Schmale, Wolfgang: Wie europäisch ist Ostmitteleuropa? In: Themenportal Europäische Geschichte (2006). (Zugriff am 27.05.2008). 6 Vgl. dazu u. a. Diner, Dan: Zweierlei Osten. Europa zwischen Westen, Byzanz und Islam. In: Das Europa der Religionen. Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus. Hrsg. von Otto Kallscheuer. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1996, S. 97–113. 7 Dass es sich hierbei keineswegs um einen Kampf zwischen diversen Kulturen handelt, wie es – trotz aller theoretischer und empirischer Widerlegungen, die dieser Ansatz inzwischen gefunden hat – noch immer gerne in öffentlichen Debatten mit Bezug auf die 1993 erstmals vorgelegten Thesen Samuel Huntingtons gesehen wird, sondern vielmehr um unterschiedlich motivierte Konfliktlagen innerhalb der jeweiligen Gesellschaften, in denen dann freilich auch religiöse oder sonstige kulturelle Orientierungen und Symbole als Medien der Konfliktaustragung, mitunter verschärfend, ebenso aber auch mitunter entlastend in Erscheinung treten können, lässt sich – auch empirisch – für alle Kontinente zeigen; vgl. Croissant, Aurel/Wagschal, Uwe/Schwank, Nicolas/Trinn, Christoph: Kulturelle Konflikte seit 1945. Die kulturellen Dimensionen des globalen Konfliktgeschehens. Baden-Baden: Nomos 2009.
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Prozesse stattfinden, die heute, im Zeitalter der Globalisierung und der kulturellen Vernetzung, weltweit von Relevanz geworden sind.«8 Die Besonderheit »Galizien« beruht nun aber nicht allein darauf, dass sich hier bereits in frühen Stadien der gesellschaftlichen Entwicklung zur Moderne Mischungsverhältnisse kultureller, religiöser und sozialer Art innerhalb einzelner lokaler Verschränkungen eingestellt haben bzw. beobachten lassen, die ansonsten erst wieder für weiter fortgeschrittene Stadien der Industriemoderne, genau genommen sogar erst unter den Bedingungen einer reflexiv gewordenen Moderne9, erneut ins Zentrum gesellschaftlicher Wahrnehmung und entsprechender kultureller Diskurse um Anerkennung und Gleichgewichtigkeit getreten sind.10 Vielmehr lassen sich die Eigentümlichkeiten und die Besonderheit dieser Landschaften Osteuropas, zumal Galiziens, wohl vor allem dadurch erklären, dass sie zum einen mit wechselnden Schicksalen und Zugehörigkeiten zu den jeweiligen Peripherien recht alter und ziemlich großer Reiche (das Habsburgerreich, das bis 1806 ja auch noch den Kaiser des Heiligen römischen Reiches stellte, ist hier ebenso zu nennen wie das Zarenreich und das Osmanische Reich) gehörten.11 Zum anderen – als Zentrum aus einer Binnenperspektive betrachtet – bildet Galizien ziemlich genau den Mittelpunkt eines Dreiecks, das die drei Städte Sankt Petersburg, Konstantinopel und Bremen verbindet und zeigt sich so als Überschneidungszone unterschiedlicher Kultureinflüsse und sozialer Erfahrungen, nicht zuletzt auch religiöser Codierungen: »Westlicher« Protestantismus, wie er vor allem von deutschsprachigen Siedlern aus Nordund Westdeutschland seit dem 17. Jahrhundert in diese Landschaft gebracht wurde, steht hier neben römischem und griechischem Katholizismus, russischorthodoxem Bekenntnis und islamischen Einflüssen.12 Sephardisches und askenasisches Judentum treffen nicht nur aufeinander, sondern differenzieren sich bis in die einzelnen Familien und Biographien hinein nach orthodoxen und 8 Cs#ky, Moritz: Geschichte und Gedächtnis. Erinnerung und Erinnerungsstrategien im narrativen historischen Verfahren. Das Beispiel Zentraleuropas. In: Österreichische Osthefte 44, 2002, H. 1/2, S. 56–69, hier S. 68. 9 Vgl. dazu Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996. 10 Grundlegend Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1993; Beck-Gernsheim, Elisabeth: Juden, Deutsche und andere Erinnerungslandschaften. Im Dschungel der ethnischen Kategorien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 22ff. 11 Die Möglichkeiten und Grenzen einer hieran anschießenden postkolonialen Erkundung Galiziens diskutiert Wendland, Anna Veronika: Imperiale, koloniale und postkoloniale Blicke auf die Peripherien des Habsburgerreiches. In: Kolonialgeschichten. Regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen. Hrsg. von Claudia Kraft u. a. Frankfurt a. M./New York: Campus 2010, S. 211–235. 12 Zur langen Dauer dieser Bezugsgrößen vgl. Brague, R8mi: Orient und Okzident. Modelle »römischer« Christenheit. In: Das Europa der Religionen, S. 45–65.
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liberalen Ansichten; westlich-aufgeklärter Wissenschaftsorientierung steht eine mit dem Chassidismus verbundene mystische Vorstellungswelt gegenüber. Allein bereits unter diesen Vorgaben – von der Stratifikation durch soziale Erfahrungen und ökonomische Lagen, politischen Ideen und Ideologien einmal ganz zu schweigen – werden vielfältig differenzierte und zugleich ineinander verschlungene Geschichten und Erfahrungen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und Individuen erkennbar. Im Blick auf die »gemeinsame« und zugleich »geteilte« Gewaltgeschichte13 dieser Bevölkerungsgruppen und deren Erscheinungsformen und Folgen zeigen sich auch kulturelle Orientierungen und künstlerische Gestaltungen dieser Lebenszusammenhänge und Erfahrungen in einer Form von Vorstellungen und Projektionen, denen nach dem zunächst endgültigen – bzw. vielleicht doch auch »nur« vorläufigen14 – Untergang dieser Welt in den Gewaltausbrüchen des Zweiten Weltkriegs und der Shoah der zusätzliche Glanz bzw. Schatten einer lediglich imaginativ noch fassbaren, de facto wohl für immer verloren gegangenen Welt »von Gestern«, ja eines »NichtOrtes«15 zugewachsen ist. Noch jüngst hat der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch im Sinne postmoderner historiographischer Konstruktionen Galizien als eine im Ganzen »erfundene Landschaft« bezeichnet: »Manche Regionen bilden auch dann noch ein Ganzes, wenn sie ruiniert und abstoßend sind. Galizien ist durch und durch künstlich, mit den Fäden pseudohistorischer Kombinationen und quasipolitischer Intrigen zusammengesponnen. Völlig zu Recht lässt sich behaupten, dass Galizien nur eine hundertfünfzig Jahre alte Erfindung einiger österreichischer Minister sei.«16
Konkreter historisch ausgerichtet hat der israelische, auch in Deutschland lehrende Historiker Dan Diner von Galizien als einer Landschaft und Gesellschaft im Zeitstau gesprochen, ein Stau, der eben nicht allein dadurch gekennzeichnet ist, dass sich hier in merkwürdig reservater Weise ältere, vormoderne Vorstellungs- und Erfahrungswelten erhalten bzw. in eigenartiger Tönung sich mit den Erfahrungen einer peripheren Moderne verknüpfen konnten, sondern dass diese in sich verschachtelte Welt durch den Untergang im NS-Massenmord an 13 Vgl. zu dieser Differenzierung Hirschmann, Albert O.: Wieviel Gemeinsinn braucht die liberale Gesellschaft? Über »teilbare« und »unteilbare Konflikte«. In: Leviathan 22, 1994, S. 293–304. 14 Immerhin haben nach 1990 einzelne Gruppengeschichten auch wieder neu begonnen, nicht zuletzt das Leben einer jüdischen, mit Frankreich und Nordamerika ebenso wie mit Israel in Verbindung stehenden jüdischen Diaspora; vgl. Hofbauer, Ernst/Weidmann, Lisa: Verwehte Spuren. Von Lemberg bis Czernowitz. Ein Trümmerfeld der Erinnerungen. Wien: Ibera 1999, S. 82ff.: Ein New Yorker Rabbi in Lemberg. 15 Vgl. dazu grundlegend Magris, Claudio: Weit von Wo. Verlorene Welt des Ostjudentums. Wien: Europa 1971. 16 Andruchowytsch, Juri: Das letzte Territorium. Essays. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 68.
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der jüdischen Bevölkerung mit dem Siegel eines unaufhebbaren Untergangs ebenso abgeschlossen wie gezeichnet wurde. »Die Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Zeiten wird durch das Ereignis des Holocaust insofern evoziert, als der durchaus historische Vorgang der Vernichtung der europäischen Juden im Bewusstsein so etwas wie eine historische Zeitvorstellungen zerstörende Reaktion auslöst…«17
Die Folge, so Diner weiter, sei »eine Kontaminierung von Vergangenheit und Zukunft durch ein Ereignis, dessen Gedächtnisdauer von einer Halbwertszeit bestimmt wird, die eher zuzunehmen als abzunehmen scheint.«18 Der besondere bereits bei Celan angesprochene und von Andruchowytsch pointiert angesprochene Charakter eines Landes »auf dem Papier«, dessen historische Unzeitgemäßheit bei Diner gerade als ausschlaggebend für seine eigene Geschichte und deren Weiterwirken gesehen wurde, beruht damit freilich zumindest auf drei Verschränkungen: Derjenigen von Literatur und Leben, derjenigen von Zentrum und Peripherie und derjenigen von Moderne und Vormoderne, wobei nach Diner die jüdische Bevölkerung Galiziens auch hier eine besondere Rolle spielt: »Für eine jenseits des Nationalstaates signifikante Lebensform in imperialen Kontexten und die dort vorzufindende Affinität von Vormoderne und Nachmoderne ist die Geschichte der Juden paradigmatisch.«19 Denn anders als es in nationalistisch aufgeladenen Homogenitäts- und Abstammungsideologien des 19. Jahrhunderts erscheint, war gerade das vormoderne Europa von großer Heterogenität und eben auch Mobilität geprägt und stellte in dieser Hinsicht einen Vorrat an Alteritätserfahrungen und Befähigungen zum Umgang mit Alterität zur Verfügung, der nunmehr nach den nationalen Entmischungsprozessen des 19. und 20. Jahrhunderts, so der Soziologe Joachim Matthes erst mühsam unter dem Stichwort »interkulturelle Kompetenz« wieder angeeignet werden muss: »Im Zuge dieser Entwicklung hat die neuzeitliche europäische Welt etwas verloren, worüber sie zuvor durchaus verfügte: ein Verständigungs- und Regelwerk für die Koexistenz mit Fremdem »im eigenen Haus«, in räumlicher Mischung. (…) Für eine Untersuchung dessen, was heute unter dem Konzept der interkulturellen Kompetenz thematisiert wird, ist festzuhalten, dass die europäische ›Moderne‹ diesen Verlustposten in sich trägt.«20 Wenn Matthes im weiteren Gang seiner Überlegungen den europäischen Gesellschaften bescheinigt, dass in ihnen 17 Diner, Dan: Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten. München: Beck 2003, S. 8. 18 Ebd., S. 9. 19 Ebd., S. 11; vgl. auch ebd., S. 228–262. 20 Matthes, Interkulturelle Kompetenz, S. 412.
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»die Fähigkeit, mit unterschiedlichen Formen des ›Fremden‹ in beständiger Nachbarschaft umzugehen, … nicht zum Repertoire von Gesellschaften [gehört], die auf dem Prinzip der Exilierung des Fremden beruhen…«21,
so beschreibt dies nicht nur die Rahmenbedingungen, unter denen das Zusammenleben unterschiedlicher Minoritäten in Mittelosteuropa/Galizien zunächst stattfand und dann auch gestört, ja zerstört werden konnte, sondern bringt als Paradigma eben auch wieder die jüdische Bevölkerung Galiziens in den Blick, der Diner hinsichtlich der Möglichkeiten eines Zusammenlebens unterschiedlicher sozialer Gruppen in »beständiger Nachbarschaft« eine repräsentative Rolle in präzise der Bedeutung zuschreibt, in der auch Georg Simmel von der Figur des »Fremden« spricht: »Die Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen enthält, ist zu einer, am kürzesten so zu formulierenden Konstellation gelangt: die Distanz innerhalb dieses Verhältnisses bedeutet, dass der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, dass der Ferne nah ist. Denn das Fremdsein ist natürlich eine ganz positive Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform…«.22
Für Diner stehen nun im Blick auf Galizien nicht so sehr die Gestaltung räumlicher Nähe und Distanz und deren Verschlingungen in unterschiedlichsten Siedlungs- und Mobilitätsmustern im Mittelpunkt der Argumentation23, obwohl diese Relation auch eine Facette der Ausstrahlung ausmacht, die seit dem 19. Jahrhundert v. a. mit den Vorstellungen und Repräsentationen des Stetls verbunden war und die – gerade vor dem Hintergrund des Untergangs/der Zerstörung dieser »alten« Welt, beginnend mit den Auswanderungen und Pogromen des späten 19. Jahrhunderts und endend in den Gewaltaktionen zur Mitte des 20. Jahrhunderts – dann auch dazu geführt hat, dass Stetl-Geschichten, gleichsam im Gefolge und in Analogie zu den Dorfgeschichten etwa eines Bertold Auerbach entstanden, sich beim Lese- und sonstigen Unterhaltungspublikum, auch dem deutschen, schon damals und dann auch wieder erneut einer entsprechenden Beliebtheit erfreuen konnten.24 Darüber hinaus geht es für Diner vor allem um das Ineinander Verschlungen-Sein von Zeitstrukturen, das 21 Ebd., S. 424. 22 Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Form der Vergesellschaftung. Berlin: Duncker & Humblot 51968, S. 509. 23 Zur Rolle und historischen Tiefendimension dieser ineinander verschlungenen räumlichen Bewegungen und Strukturen vgl. Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München Wien: Hanser 2003, bes. S. 431ff. 24 Dies gilt noch für die Erfolgsgeschichte des im deutschen Sprachraum erstmals 1968 in Hamburg aufgeführten Musicals »Anatevka« (»Fiddler on the Roof«, erstmals engl. 1964), nach der Erzählung »Tewje der Milchiger« (1894/1916) des jiddisch schreibenden Autors Scholem Alejchem (1859–1916) und hat wohl auch einigen Anteil an der in den letzten Jahrzehnten deutlich gewachsenen Popularität der Klezmer-Musik.
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sich dann auch im Selbstbild und in der kulturellen Repräsentation der jüdischen Bevölkerung Galiziens wiederfindet und so auch in die aktuell von Galizien ausgehende Ausstrahlung eingegangen ist: »Einer solchen Perspektive nach stellen die Judenheiten der östlichen Imperien bei aller ihnen sonsthin zugesprochenen Modernität kollektiv ein gewissermaßen vormodernes Element in der sich herausbildenden Moderne insofern dar, als ihnen in den Prinzipien der Gleichheit sich anverwandelnder Lebenswelten die Male vorgeblich längst abgelegter Vergangenheiten eingeschrieben sind. Eben diese in die Moderne hineingetragenen korporatistischen Residuen einer vormodernen ›natio‹ erheben die Geschichte der Judenheiten in den Rang eines Seismographen für die Verwerfungen der europäischen Geschichte von der Aufklärung bis in die Katastrophengeschichte des jüngst abgelaufenen Jahrhunderts hinein.«25
Mehr noch, wie im Folgenden im Blick auf die Lessing-Rezeption in Galizien zu zeigen ist, können diese räumlich-zeitlichen Verschachtelungen auch als Anzeiger und Koordinaten einer Bildungsgeschichte, auch der Geschichte einer auf die deutsche Literatur bezogenen Bildung, gesehen werden. Immerhin hatte Diner den Charakter und die Erfahrungen dieser jüdischen Bevölkerungsgruppen und ihrer Lebenswelten bereits auf den Seiten zuvor mit Attributen wie »transnational«, »transterritorial«, »urban«, »mobil« und »textuell« bestimmt, wobei gerade dieser letztgenannte Aspekt dann auch direkt zu Lessing führt. Gerade die Rezeptionsgeschichte seiner Werke, v. a. aber auch die Bezugnahme auf ihn als historische, zumal aber auch moralisch gedeutete Figur in der jüdischen Literatur und in den deutschsprachigen Schulen Galiziens lässt sich so als ein Bezugsfeld und Reaktionsmuster, ja als Versuch beschreiben, gegenüber den mit der Moderne sich abzeichnenden neuen Diskursordnungen, die sich, wie es Michel Foucault und nach ihm Zygmunt Bauman beobachtet haben, zunächst auf Einschließungen und dann auf klassifikatorische Ausschließungsprozesse stützen26, ein Gegenbild und einen entsprechenden Gegendiskurs zu entwickeln. Dieser zielt mit Rückbezug auf Lessing statt der Zuspitzung von Nachbarschaftszu Volkstumskonflikten auf die Entfaltung einer abstrakteren und zugleich doch auch lebenspraktisch konkret gewendeten Ebene »der« Menschheit und des individuellen Menschseins. Vor dem Hintergrund einer gerade durch die unterschiedlichen Bezugswelten und Erfahrungen gemischten Identitätsbestimmung geht es hier zum einen um die generalisierende Abstraktion von Stammesoder Volkstumsangehörigen zu »Menschen« als Angehörigen einer Weltbürger-
25 Diner, Gedächtniszeiten, S. 14. 26 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M.: Fischer 1991, S. 10ff.; Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg: Junius 1992, bes. S. 46ff.
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gesellschaft27, zum anderen um die Sicherung und Legitimierung konkreter Individualität, wie sie im Anschluss an die jüdische Tradition in der Gegenwart v. a. in der Ethik Emanuel Levinas28 ihren Ausdruck gefunden hat. Für beide Bewegungen finden sich in Lessings Texten und Gestalten Leitlinien und sie bildeten zumal für die jüdische, zumeist deutsch- und französischsprachige bürgerliche Bildungsschicht in den Städten Galiziens eine Art Identifikationsvorlage und offensichtlich auch ein Muster der Selbstbestimmung.
2. In dieser Hinsicht stellt die Lessing-Rezeption des jüdischen, in Galizien, in Städten wie Lemberg, Brody oder Czernowitz lebenden deutschsprachigen Bürgertums, das seinerseits, wie bei Diner beschrieben, durch die Verschlingung von Vormoderne und Moderne unter den Bedingungen einer sich beschleunigenden Tendenz der Moderne zur Klassifikation und Vereinseitigung steht, einen der Versuche dar, sich eben dieser Moderne mit den Vorstellungen und der Programmatik einer auf Generalisierung und Abstraktion zielenden universal ausgerichteten Moderne (autonome Kunst, Menschenrechte, Individualismus, Toleranz) »in weltbürgerlicher Absicht« zu stellen und diese zugleich an die Bildungsgeschichte der einzelnen (Individuen) anzuschließen.29 Dass dieses Vorhaben dann in einem mit den seinerzeit technisch und logistisch modernsten Mitteln durchgeführten und entsprechend als »zeitgemäß« ideologisch unterfütterten Massenmord endete, zeigt zunächst einmal, dass dieser Weg offensichtlich – weniger aus immanenten, als vielmehr aus äußeren historischen und politischen Gründen – der Weg in eine Sackgasse war. Aber freilich gehen von dieser Versiegelung eines zunächst doch außerordentlich viel versprechenden Weges noch immer auch Verstörungen aus, nicht zuletzt angesichts der vielfältigen Hoffnungen auf Glück und Emanzipation und Verständigungsmöglichkeiten, die – und auch dies mag im Rückblick als eine Art Menetekel wirken – in Galizien und auch in anderen mittel- und osteuropäischen Landschaften von Angehörigen unterschiedlichster sozialer Gruppen geteilt 27 Vgl. Meyer, Michael A.: Jüdische Identität in der Moderne. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1992, S. 19ff. 28 Vgl. dazu die vorzügliche Einführung von Stegmaier, Werner : Levinas. Freiburg/Basel/Wien: Herder 2002, S. 131ff. 29 Zu diesen beiden Dimensionen, die sich nicht zuletzt auch in der Geschichte des deutschen Bildungsbegriffs und seinen Konzeptualisierungen wiederfinden lassen vgl. Assmann, Aleida: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee. Frankfurt a. M./New York: Campus 1993; zur Rolle deutscher Bildungsideen aus jüdischen Perspektiven vgl. auch Barner, Wilfried: Von Rahel Varnhagen bis Friedrich Gundolf. Juden als deutsche Goethe-Verehrer. Göttingen: Wallstein 1992.
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wurden, die tatsächlich vom Umgang mit deutscher Literatur und Kultur eine Verbesserung der Geschichte der Menschheit im Sinne ausgeweiteter und gestärkter Humanität erwarteten.30 Lessing, der ja bekanntlich bereits am 15. Februar 1781 in Braunschweig gestorben ist, dürfte freilich mit dem politischen Gebilde Galizien, das sich erst knapp zehn Jahre vor seinem Tod konstituierte, kaum etwas verbunden haben, wenn ihm auch die Landschaften östlich der Oder und Weichsel nicht zuletzt durch die Familiengeschichte seines 1729 in Dessau geborenen späteren Freundes Moses Mendelssohn, dessen Eltern aus den eben auch von Juden bewohnten Landschaften östlich der Oder in Dessau zugewandert waren, bekannt gewesen sein dürften. Dass sich Lessing überdies in verschiedenster Weise mit der jüdischen Tradition, mit den damals in Erscheinung tretenden Formen der Judenfeindschaft, zumal aber auch mit den Fragen des Verhältnisses von Juden und Christen unter den Vorgaben einer durch die Aufklärung geprägten Vorstellung von der reflexiven Selbstbeschränkung des Religiösen und einer darauf sich dann gründenden Toleranz zwischen Bekenntnissen aller Art, auch den religiösen, beschäftigt hat, muss an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.31 Beachtenswert erscheint der Hinweis darauf, dass die Falle, die der Sultan in »Nathan der Weise« Nathan zunächst stellen möchte, um ihn seines Vermögens zu berauben, indem er ihm die Frage nach der »wahren« Religion vorlegt, zeithistorisch ihre Entsprechung in jener Penetranz hat, mit der Lavater – in der Maske des »aufgeklärten« Zeitgenossen und kritischen Kopfes32 – Mendelssohn 1769 vor die Wahl stellte, entweder die von Lavater übersetzten Argumente Bonnets für die überragende Stellung des Christentums zu widerlegen oder aber zu konvertieren33, wobei sich Mendelssohns prekäre Lage »als Jude in 30 Hier wäre auf die durchaus ambivalente Wirkung der Herder’schen Kultur- und Geschichtsphilosophie in Osteuropa (und darüber hinaus) gesondert einzugehen; vgl. Ascherson, Schwarzes Meer. 1998, S. 318ff. 31 Dazu einführend jetzt: Nisbet, Hugh Barr : Lessing. Eine Biographie. München: Beck 2008, S. 93ff.; auch wenn man mit der Einschätzung der Philosophie Mendelssohns als »größtenteils unselbständig; ihre Originalität besteht mehr in ihrer Neukombination von vorliegenden als in eigenen neuen Gedanken« (ebd., S. 228) keineswegs zufrieden sein kann. Der Gedanke, dass Juden nicht originell sind, sondern lediglich aufs Neue kombinieren, findet sich so auch im Arsenal des gewöhnlichen Antisemitismus. 32 Vgl. hierzu Jasper, Willi: Lessing. Aufklärer und Judenfreund. Berlin u. a.: Propyläen 2001, S. 239ff. 33 Jasper, Willi: Deutsch-jüdischer Parnass. Literaturgeschichte eines Mythos. Berlin u. a.: Propyläen 2004, S. 32; dort auch weitere Hinweise zu Mendelssohns Originalität: »Der selbst auferlegte Zwang, sich in zwei Kulturen und Bildungssystemen zu behaupten, ließ Mendelssohn sehr früh eine besondere theoretische Position entwickeln. Er musste sich gegenüber der jüdischen Orthodoxie als rechtgläubiger Jude beweisen und gleichzeitig die christliche Welt davon überzeugen, dass auch ein aufgeklärter Philosoph Jude bleiben konnte.« (ebd., S. 34).
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ungesicherter rechtlicher und bürgerlicher Stellung« eben nicht direkt durch die Einführung einer Geschichte »aus dem Osten« lösen ließ, sondern eben für diesen auch ein wirkliches Risiko darstellte. Dass Lessing insbesondere mit dem »Nathan«, ebenso aber auch, wenn auch weniger bekannt, mit dem frühen Stück »Die Juden« (1749/54) Argumentationsmuster und Charaktere entworfen und auf die Bühne gestellt hatte, die dann im 19. Jahrhundert einem sich an sozialen Aufstiegsoptionen ausrichtenden jüdischen Bürgertum als Vorlage und Orientierungsrahmen dienen konnten, hat Willi Jasper u. a. an diversen Veröffentlichungen und anderen Würdigungen zeigen können, die von jüdischer Seite im Umfeld des Jahres 1879, also anlässlich der Erinnerung an den hundert Jahre zuvor veröffentlichten »Nathan« und zugleich aus Anlass des 150. Geburtstag Lessing vorgelegt wurden, wobei die Situation einige Jahre nach der Gründung des zweiten Kaiserreichs v. a. auch durch einen erstarkenden und sich auch politisch organisierenden Antisemitismus verschärft wurde. »In engagierter Form beteiligten sich vor allem deutsche Juden an der Vorbereitung von Jubiläumsaktivitäten. […] Eine Rückbesinnung auf den Freundschaftsmythos Lessing/Mendelssohn und die Beschwörung des Nathan-Ideals entsprachen daher in hohem Maße der deutsch-jüdischen Gefühlslage.«34
Angesichts der von Diner angesprochenen supranationalen Ausrichtung der jüdischen Bevölkerungen Europas im Ganzen und der vor allem bei den bürgerlichen Judenheiten Osteuropas vertretenen Orientierung an den Leitvorstellungen deutscher Klassik und Romantik, wobei beide Strömungen – anders als in den späteren deutschnationalen Traditionen – auch in Kontinuität zum Denken der Aufklärung, namentlich Kants gesehen wurden35, nimmt es nicht wunder dass sich Lessing offensichtlich auch in Galizien und hier zumal in den von vielen Kindern des jüdischen Bürgertums im 19. und frühen 20. Jahrhundert besuchten deutschsprachigen Schulen in Lemberg und Brody großer Aufmerksamkeit und Beliebtheit erfreuen konnte. Neben Schiller hatte er offensichtlich gerade im Blick auf die aus Galizien kommenden deutschsprachigen Schriftsteller eine Bedeutung, die über seine Rolle als literarischer Klassiker und Schulbuchaufklärer weit hinaus ging bzw. solchen Orientierungen an deutscher Klassik und Aufklärung eine ebenso eigentümliche wie maßgebliche Wendung ins Politische und Ethische gab, die auch über die Grenzen eines politischen Deutschland hinausreichten. 34 Ebd., S. 53. 35 Vgl. dazu Graetz, Michael: Jüdische Aufklärung. In: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit Bd.1: Tradition und Aufklärung 1600–1780. Hrsg. von Mordechai Breuer und Michael Graetz. München: Beck 1996, S. 251ff.
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»Seine Werke – vor allem ›Nathan‹ und ›Die Juden‹ – sowie seine persönliche Beziehung zu Moses Mendelssohn ›bedeuten‹, so Chaim Shoham, eine Bürgschaft dafür, dass es tatsächlich Aussichten auf eine Lösung der jüdischen Existenzfrage in Europa und besonders im Osten gebe.«36
Lessing spielte dabei als Leitbild und Identifikationsfigur freilich nicht nur in theoretisch-abstrakter Hinsicht eine Rolle, sondern kam auch gleichsam im Alltag an: »Und als die Juden Galiziens«, so berichtet Jasper weiter aus dieser Zeit einer allgemeinen Lessing-Begeisterung, die nicht nur die deutschsprachigen Juden Europas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfasst hatte, »aufgefordert wurden, deutsche Namen zu tragen, nannten sich die meisten Gebildeten Lessing.«37 Allerdings war dies auch die Zeit, in der sich in Deutschland, und auch in anderen Ländern und Territorien Europas, nicht zuletzt in Osteuropa, antisemitische Zirkel und Hetzmeuten bildeten, die nicht nur die kulturellen Grundlagen von Antisemitismus und Pogrombereitschaft schufen, sondern auch den Weg für den Massenmord der Nazis eröffneten; die entsprechenden Folgen finden sich ebenfalls in Jaspers Studie beschrieben »Den Nationalsozialismus hat fast keiner der jüdischen Lessings überlebt.«38 Was sich im Rückblick auf das 20. Jahrhundert als Weg in eine Sackgasse, in einen Abgrund erwies, aus dem es kein Entkommen gab, stellte sich zur Mitte des 19. Jahrhunderts, zumal für die Akteure in konkreten, eben auch landschaftlich und rechtlich konkreter bestimmten Situationen noch anders dar. Kaum anderswo wurden die Hoffnungen auf eine soziale und historische Wirkung kulturell entworfener bzw. vermittelter Ideale so ernst genommen wie innerhalb des jüdischen, deutschsprachigen, nicht zuletzt auf das Habsburgerreich und seine Impulse zur Emanzipation hin ausgerichteten bürgerlichkleinstädtischen Bevölkerung Galiziens39 und der aus ihm hervorgehenden Künstler und Gelehrten. »So erweist sich das Jüdische als Essenz der mitteleuropäischen und zugleich der deutschen Kultur und ist der einzige echte, unverdorbene Vermittler ihrer Ideale.«40 Was sich hier in einer allgemeinen Einschätzung findet – es ist auch auf den Einfluss bzw. das Vorbild hinzuweisen, das Lessing als Aufklärer und seine Ideen der religiösen Toleranz, aber auch sein Entwurf eines durch bewusste 36 Jasper, Lessing, S. 283; das Zitat im Zitat stammt von Chaim Shoham, zit. nach Lessing Yearbook 12, 1981. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Freilich ist auch bemerkenswert, dass der Antisemitismus in Galizien insbesondere erst nach 1868 seinen Aufschwung nahm, dem Jahr, in dem im die rechtliche Gleichstellung der Juden in Galizien Gesetzeskraft erhielt; vgl. Himka, John-Paul: Confessional relations in Galicia. In: Galicia. A multicultured land. Hrsg. von Christopher Hann und Paul Robert Magocsi. Toronto u. a.: University of Toronto Press 2005, S. 22–35, hier S. 29. 40 Magris, Weit von Wo, S. 161.
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Asymmetrien gestalteten vernünftigen Gesprächs etwa für die Ausbildung eines von Claudio Magris so beschriebenen »jüdischen Stoizismus« seit dem 19. Jahrhundert bedeuteten41 –, lässt sich freilich auch aus der Sicht einzelner Biographien in Galizien belegen. So berichtet David Bronsen in seiner großen, 1974 auf Deutsch erschienenen Biographie Joseph Roths über die Schulzeit des 1894 im galizischen Brody bei Lemberg geborenen Roth, der dort von 1905 bis 1913 das deutschsprachige K. u. K. Kronprinz-Rudolf Gymnasium besuchte und hier u. a. am Deutschunterricht des ebenfalls jüdischen Professors Max Landau teilnahm: »Wirkte Roth außerhalb des Gymnasiums scheu und befangen – beim Deutschunterricht war kaum etwas davon zu bemerken. Er führte erhitzte Diskussionen über Literatur mit seinem Professor und zögerte nicht, eigene Ansichten zu verteidigen. Über literarische Werke sprach er gern in kritisch-wissenschaftlicher Form und erwies sich als der einfallsreichste seiner Klasse bei Lessings Laokoon und der darauffolgenden Auseinandersetzung über Kunstgesetze.«42
Roths Vertrautheit mit der deutschen Sprache und mit den Klassikern der deutschen, aber auch der Weltliteratur, lässt sich u. a. mit seinen Notizen aus dem Jahr 1915 belegen, aus denen David Bronsen zitiert: »Ich schätzte den Faust und den Wilhelm Tell, Shakespeare lernte ich auswendig und Hölderlin und obwohl ich Widersprüche entdeckte, lag doch das Verschiedene, das die großen Männer trennt, unter einer einzigen Schicht von Erhabenheit, Anmut und Adel. Nie hätte ich so gehandelt, wie ihre Helden. Aber ich glaube doch, dass die Dichter und ihre Helden objektiv Recht hatten. Ich wusste nicht, weshalb Nathan der Weise es nötig hatte, so edel zu sein. Ich empfand Mitleid im tragischen Sinn mit Shylock … Um diese Zeit begann ich, Dichter zu lieben, Dramen und Gedichte. Ich behielt alles im Gedächtnis, ohne eigentlich auswendig zu lernen. Ich schätzte ihre Schönheiten, die Sprache, das Bild und den Klang und ließ mich verführen, auch den Inhalt zu lieben, mehr, als mir zustand.«43
Roth hatte sich diese Vertrautheit und einen gewissen »naiven« Realismus im Umgang mit den Schöpfungen des Fiktiven, wie er sich auch bei Elias Canetti findet und der wohl ein ganzes auf Heroismus und moralische Selbstvergewisserung hin angelegtes Interpretationsmilieu in den deutschsprachigen Schulen 41 »Der ›jüdische Stoizismus‹ erkennt sich in der vergangenen individualistischen Kultur des 19. Jahrhunderts und im antiquierten klassischen Humanismus wieder, dem Schalom Asch im Protagonisten seiner Erzählung »Der kleyner daytsh« (1928) ein Denkmal gesetzt hat: Der sanfte, weitherzige und introvertierte Leser Lessings und Schillers trägt in die flammenden ›modernen‹ Diskussionen der jungen Leute in den Warschauer Caf8s das Zeugnis einer Menschheitsreligion und der Achtung vor dem Individuum.« (Magris, Weit von Wo, S. 161). 42 Bronsen, David: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1974, S. 86. 43 Ebd., S. 87; die betrifft freilich nicht nur die deutsche Literatur ; Bronson zitiert aus einem Interview mit Roth während dessen späterer Pariser Exilzeit aus dem Jahr 1934: »Parmi les 8crivains plus anciens, je pr8fHre Rabelais, mon cher La Fontaine dont, tout petit, j’apprenais les fables par cœur, Balzac, Flaubert…« (ebd.).
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Mittelosteuropas und ihrer Absolventen repräsentiert, zunächst durch den Besuch der deutschsprachigen Baron-Hirsch-Schule zwischen 1901 und 1905 angeeignet. Hier fand der Unterricht in deutscher Sprache statt, zudem gab es pro Woche neben dem Unterricht in polnischer und hebräischer Sprache auch einen zweistündigen Deutschunterricht; ferner bestand für die Schüler die Aufgabe innerhalb der ersten vier Schuljahre den gesamten Pentateuch aus dem Hebräischen ins Deutsche zu übersetzen.44 Im Falle Roths schloss sich der Besuch des oben bereits genannten Gymnasiums bis ins Jahr 1913 an, wo er v. a. in Professor Landau einen großen Förderer fand, der freilich auch in seinem eigenen Bildungsgang noch einmal die Rahmenbedingungen, Brechungen und Problemstellungen auswies, von denen aus sich auch die Rolle der deutschen Sprache und Literatur für die jüdische Bevölkerung Galizien beleuchten lässt. »Landau«, so Bronsen in seiner Joseph Roth-Biographie, »ein polnischer Jude, galt wie Roth als ›Assimilant‹, aber anders ausgerichtet als dieser. […] Er gab sich durch seine polenfreundliche Einstellung zugleich antizionistisch und antihabsburgisch. Als Lehrer allgemein beliebt, stieß er jedoch wegen seiner Sympathien für Polen unter der jüdischen Schülerschaft auf Widerstand.«45
Im Rahmen der von ihm befragten Zeitzeugen hörte Bronsen aber auch noch einen anderen, möglicherweise Ressentiment beladenen Bericht über die Vorgeschichte Landaus: »Professor Landau hatte Polonistik studiert, aber die polnischen Behörden wollten nicht, dass er als Jude Polonistik unterrichtet, und sie haben ihn bei den Prüfungen durchfallen lassen. Nachdem er zweimal erfolglos zur Prüfung angetreten war, wechselte er auf Germanistik um.«46
3. Auch wenn der Wahrheitsgehalt dieser Berichte von Zeitzeugen und vom Hörensagen angezweifelt werden kann, so belegen sie doch zugleich, dass es zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen im Rahmen ihrer ethnischen Orientierungen, die sich für viele als Selbstfindungsprogramme darstellten und zur Ausbildung entsprechender politisch-ideologischer Vorstellungen beitrugen, diverse Spannungen und Auseinandersetzungen gab, die im Falle der Juden eben v. a. dadurch noch einmal gesteigert wurden, dass sie in der Überschneidungssituation ethnischer, religiöser, sozialer und kultureller Zugehörigkeiten 44 Vgl. dazu Joseph Roth 1894–1939. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek Frankfurt a. M. Frankfurt a. M.: Buchhändler-Vereinigung 1979, S. 21. 45 Bronsen, Joseph Roth, S. 85. 46 Ebd.
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jeweils mehrere Optionen zur Verfügung hatten bzw. in durchaus uneindeutigen Zuordnungsverhältnissen sich bewegten. Zum einen machte dies sie immer erneut zu Projektionsfiguren der Illoyalität oder zum Opfer unterschiedlichster Verdächtigungen und Verratsvorwürfe.47 Zum anderen bot ihnen dies aber auch die Möglichkeit, die Eindeutigkeit von Zuordnungen zu unterlaufen oder eben auch den Versuch zu unternehmen, die Lösung von Konflikten der Identität und Zugehörigkeit durch die Verschiebung der Bezugsmuster auf eine universalere Ebene zu suchen, auf der mehrere Identitäten als Facetten eines universal gültigen Menschseins gesehen werden konnten.48 Joseph Roth brachte dies im Gespräch mit Jjzef Wittlin auf die Formel: »Wir sind alle Bruchstücke. […] Auch Du gehörst dazu.«49 Dass damit mehr als lediglich eine persönliche Option benannt werden konnte50, mag bereits ein Blick in die Sozialstatistik der Zeit zeigen. In dem ersten mir zugänglichen Lexikon-Eintrag zu Galizien, in der 1890 erschienen siebten Auflage von Pierers Konversationslexikon51 finden sich die folgenden Bevölkerungsangaben: 1880 habe die Bevölkerung Galiziens aus 5 958 907 Personen bestanden, 1888 seien es bereits 64 555 885 gewesen; der Sprache ließen sich davon 51,5 % als Polen, knapp 43 % als Ruthenen (Ukrainer) und 5,45 % als Deutsche bezeichnen; nach religiösen Bekenntnissen unterschieden, wird darauf verwiesen, dass die Polen römisch-katholisch und die Ukrainer der griechisch-unierten Kirche angehören. Bemerkenswert ist, dass hier von 11,5 % der Bevölkerung als Juden gesprochen wird, während eine protestantische Kirchenorganisation zwar angesprochen wird, hierzu aber keine Zahlen genannt werden. In der 1853 in Lemberg erschienenen Untersuchung »Das Königreich Galizien und Lodomerien … in geographisch-historischstatistischer Sicht« von Hipolit Stupnicki52 wird eine Gesamtbevölkerungszahl von 5,29 Millionen angegeben, die Zahlenverhältnisse (228 000 römische Katholiken, 230 000 griechische Katholiken, knapp 34 000 Protestanten und 47 Vgl. dazu Diner, Gedächtniszeiten, S. 254f.; Mosse, George L.: Die Geschichte des Rassismus in Europa. Frankfurt a. M.: Fischer 1990, S. 148ff. 48 Vgl. Sznaider, Nathan: Wie viel Transnationalismus verträgt die Kultur? Ein jüdischer Blick. In: Wieviel Transnationalismus verträgt die Kultur? Hrsg. von Willi Jasper. Berlin: Dr. Köster 2009, S. 97–112. 49 Bronsen, Joseph Roth, S. 28. 50 Für Roth vgl. Forst de Battaglia, Otto: Wanderer zwischen drei Welten. In: Joseph Roth und die Tradition. Aufsatz- und Materialiensammlung. Hrsg. u. eingel. von David Bronsen. Darmstadt: Agora 1975, S. 77–86. 51 Pierers Konversationslexikon, 6. Bd., Stuttgart: DVA 1890, Sp. 136. 52 Stupnicki, Hipolit: Das Königreich Galizien und Lodomerien, sammt dem Grossherzogthume Krakau und den Herzogthume Bukowina in geographisch-historisch-statistischer Beziehung. Mit einer Karte dieses Königreiches. Lemberg: Piller 1853. Nachdruck Berlin: Scherer 1989, S. 7; »Uibersicht [!]des Flächenraums und der Gesammtbevölkerung«; Faltblatt S. 6.
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etwa 340 000 Juden) liegen aber in der gleichen Größenordnung vor wie um die Jahrhundertwende 1900. Der Große Brockhaus von 1954 nennt dagegen die Zahlen von 1931: 8,5 Millionen Einwohner, 5 Millionen davon sprachen Polnisch, 2,9 Millionen Ukrainisch, 500 000 Menschen Jiddisch: »Die Bevölkerung in Westgalizien ist im Wesentlichen polnisch, in Ostgalizien ukrainisch mit einer kolonisatorischen Oberschicht von Polen, zu denen besonders in den Städten noch zahlreiche Juden in Gewerbe und Handel kamen. Neben Resten deutschen Bürgertums bestand noch eine Reihe deutscher Bauernkolonien mit (1939) etwa 60 000 Köpfen.«53
Was sich hier hinter den Zahlen erkennen lässt, sind die tatsächlich »gemischten« Verhältnissen in den entsprechenden Sprach- und Religionsgruppen, hatte sich doch bereits Kaiser Franz Joseph II. in den 1780er Jahren darum bemüht, »die Juden Galiziens, von denen viele im Mittelalter, als sie noch das Judendeutsch sprachen, aus Deutschland eingewandert waren, den Polen und Ruthenen gegenüber als ein germanisierendes Element hinzuzuziehen. Vorerst mussten sie aber selbst germanisiert werden. So wurden sie genötigt, sich deutsche Familiennamen beizulegen. […] Deutsch klingende Namen wurden erteilt, – die schöneren gegen entsprechendes Entgelt, andere durch Laune oder Willkür eines Beamten.«54
1789 wurde die damit eingeschlagene Linie durch ein Toleranzpatent auch rechtlich abgesichert und führte über weitere behördliche und politische Schritte im 19. Jahrhundert zunächst einmal dazu, dass sich tatsächlich viele Juden von der Orientierung an deutscher Sprache und Kultur eine sowohl Sicherheit stiftende als auch soziale Anerkennung und schließlich bürgerliche Gleichstellung gewährleistende Hilfe erhofften. Entsprechend frequentiert waren die deutschen Schulen und auch die das Interesse an der deutschen Literatur »blühte« – bis zu den sich verschärfenden antisemitischen Tendenzen im zweiten Kaiserreich55 und seit den 1880er Jahren auch im Reich der Habsburger, auf die u. a. Karl Emil Franzos und Joseph Roth mit ihren Werken aufklärerischen Einfluss zu nehmen hofften. Bereits unter Kaiser Franz Joseph II. war seit den 1780er Jahren nicht nur eine im Sinne der Aufklärung konzipierte Siedlungs- und Wirtschaftspolitik begonnen worden, die auch zur Ansiedlung deutscher Bauern und in späterer Zeit zu Germanisierungsbestrebungen in Galizien führte. Vielmehr wurden in dieser 53 Der Große Brockhaus in 12 Bänden. Bd. 4. Wiesbaden 1954, S. 363. Für diese letzten Zahlen ist natürlich zu berücksichtigen, dass Galizien nach 1918 aufgeteilt und sich so in zwei verschiedenen Staaten: in Polen und in der Sowjetunion wiederfand. 54 Bronsen, Joseph Roth, S. 45. 55 Vgl. dazu Zmarzlik, Hans-Günther : Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich 1871–1918. In: Die Juden als Minderheit in der Geschichte. Hrsg. von Bernd Martin und Ernst Schulin. München: dtv 1981, S. 249–270; Elbogen, Ismar/Sterling, Eleonore: Die Geschichte der Juden in Deutschland. Eine Einführung. Frankfurt a. M.: EVA 1966, S. 249ff.
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Zeit auch bereits erste Schritte in Richtung einer Emanzipation der Juden aus den vorhergehenden Beschränkungen unternommen, so dass es nicht Wunder nimmt, dass es insbesondere die Gruppen emanzipationsorientierter, den neuen Zeiten gegenüber aufgeschlossener Juden waren, die sich zugleich der deutschen Sprache, ihrer kulturellen Vertreter und so auch dem Schrifttum der deutschen Aufklärung, Klassik und Romantik zuwandten. Die Verehrung Heinrich Heines, die Roth mit anderen galizischen Schriftstellern teilte, gehört ganz in dieses Umfeld. In diesem Rahmen spielten die deutschsprachigen Schulen und ein in den städtischen Zentren, in Lemberg z. B. durch die seit 1776 sich zunächst in kürzerer oder längerer Zeit in der Stadt aufhaltenden Theatertruppen bestimmtes Theaterleben eine wichtige Rolle. In diese Jahre fallen dann auch die Gründungsprojekte erster deutsch-jüdischer Schulen, wobei die genaueren Daten offensichtlich nicht zu bestimmen sind.56 Diese boten nun allerdings ein großes und neues Feld für die Beschäftigung mit deutscher Literatur und deutschsprachigen Theaterstücken, wobei neben Schiller vor allem dann auch Lessing eine wichtige Rolle spielte. Leider sind die vorliegenden Angaben für die Präsenz der Stücke Lessings auf dem Lemberger Theater nur recht kursorisch; so wird bereits für 1782 eine deutschsprachige Schauspielertruppe erwähnt, die unter ihrem Leiter Joseph Hilverding auch die populärsten »deutschen« Stoffe zur Aufführung brachte, darunter »die gängigen Theaterstücke von Lessing, Goethe, Goldoni und Voltaire«.57 1798 wird davon berichtet, dass der polnische, aus Warschau geflohene Theaterunternehmer Wojciech Bogusławsi, der mit seiner Schauspieltruppe seit 1795 in Lemberg gastiert hatte, nunmehr auch mit der Inszenierung deutschsprachiger Stücke großen Anklang finden konnte; am 9. April 1798 inszenierte er »Hamlet« in polnischer Sprache. »Daneben«, so Isabel Röskau-Rydel, »gab es Aufführungen der Werke des beim Publikum sehr beliebten August von Kotzebue, von Friedrich Wilhelm Ziegler, Franciszek Zabłocki. Alois Friedrich Graf von Brühl, Gotthold Ephraim Lessing, Carlo Goldoni… Bogusławski verstand es, das Repertoire auf das Lemberger polnische Publikum zuzuschneiden.«58
Offensichtlich fand er mit seinen Aufführungen auch den Zuspruch des deutschsprachigen Publikums, das damit zugleich den Vorrang der polnischen Theatertruppe anerkannte. Für die 1840er Jahre wird dann davon berichtet, dass neben den immer noch beliebten Komödien Kotzebues, Stücken von MoliHre 56 Vgl. Röskau-Rydel, Isabel: Kultur an der Peripherie des Habsburger Reiches. Die Geschichte des Bildungswesens und der kulturellen Einrichtungen in Lemberg von 1772 bis 1848. Wiesbaden: Harrassowitz 1993, S. 108f. 57 Ebd., S. 236. 58 Ebd., S. 245f.
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und Aleksander Fredo auch Lessings »Emilia Galotti« in Lemberg aufgeführt worden sei.59 Lessing findet sich aber nicht nur als Schul- und Theaterautor, als kulturpolitischer und religionskritischer Bezugspunkt und nicht zuletzt als Beispiel für die Realisierung eines Freundschafts- und Toleranz-Ideals in Galizien wieder, sondern auch als literarisches Motiv und Bildungserlebnis in der deutschsprachigen jüdischen Literatur aus Galizien. Hier ist nun von dem 1848 in dem podolischen Czortkow geborenen, in Czernowitz aufgewachsenen und später dann 1904 in Berlin gestorbenen Schriftsteller Karl Emil Franzos60 zu sprechen, der sowohl biographisch, so stellt es Jost Hermand im Nachwort zur 1994 erfolgten Neuausgabe von Franzos’ erfolgreichstem Roman »Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten« (zunächst postum 1905) dar, von Leitbildern wie Mendelssohn und Lessing, »Nathan dem Weisen«, Börne und Heine beeinflusst war61 als auch in der Orientierung an der deutschen Kultur so etwas wie ein Emanzipationsversprechen für alle Menschen, so auch für die Juden Mittelosteuropas, sehen wollte. »Worin er das Heil des Judentums sieht«, so Hermand, »ist nicht der lang erwartete Messias, sondern die deutsche Kultur. Aufgrund dieser Prämisse ist in seinen Werken immer wieder von jenem edlen Land im ›Westen‹ die Rede, wo ›Bildung und Duldung‹ zu Hause sind.«62
Bereits in der frühen Erzählung »Schiller in Barnow«, zunächst 1876 in der in zwei Halbbänden veröffentlichten Sammlung von Erzählungen »Aus HalbAsien. Culturbilder aus Galizien, Südrussland, der Bukowina und Rumänien« enthalten, wird der Gedanke an einem privaten, aus Zufall entstandenen Leseund Freundeskreis der Gedichte Schillers entfaltet, der aus einem ruthenischen Schulmeister, einem polnischen, aber deutsch sprechenden katholischen Mönch und einem armen jüdischen Studenten besteht, die alle drei von dem Wunsch zusammengeführt werden, »weil wir […] etwas lernen wollen.«63 Schon zuvor hatte der Mönch, in der Liebe verzweifelt, die wohltuende und emanzipatorische Kraft der Texte Schillers kennengelernt: 59 Ebd., S. 252. 60 Vgl. dazu das schöne Porträt bei Gaus, Karl-Markus: Halb-Asien, ein deutscher Traum. Zum hundertsten Todestag des Schriftstellers Karl Emil Franzos. In: NZZ 28. Januar 2004. (Zugriff am 22. November 2009). 61 Vgl. Hermand, Jost: Nachwort. In: Karl Emil Franzos: Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten. Hamburg: EVA 1994, S. 355–373, hier S. 368. 62 Ebd. 63 Franzos, Karl Emil: Schiller in Barnow. In: Karl Emil Franzos. Erzählungen aus Galizien und der Bukowina. Hrsg. von Joseph Peter Strelka. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung 1988, S. 31.
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»Der Eindruck, den er da empfing, war ein ungeheurer. Was sich so stammelnd aus seinem armen, kämpfenden Herzen empor gerungen: das Evangelium der Menschenliebe, hier scholl es ihm voll und prächtig entgegen. Schiller ist so recht der Dichter der Armen und Beladenen. Von jener Stunde an war der junge Mönch Franziskus nicht mehr einsam, wie er es bisher, sein Leben lang, gewesen. Nun hatte er einen Freund, der zu ihm sprach. Und mit welchen Stimmen!«64
Stimmen, die er nun mit seinen beiden Freunden teilen konnte. Auch der wohl bereits 1878 begonnene und 1893 zunächst nur in einer russischen Fassung veröffentlichte, aus nicht ganz erkennbaren Gründen erst nach Franzos’ Tod dann 1905 auch auf Deutsch erschienene und zunächst in Deutsch geschriebene Roman »Der Pojaz« erzählt zentral von einem Lebens- als Bildungsweg, der den Protagonisten Sender Glatteis aus dürftigen Verhältnissen am Rande auch der jüdischen Gesellschaft, der Vater war von Beruf »Schnorrer«, über Bildung und Literatur auf den Weg der Selbstbestimmung und auch Selbstfindung führt, ihn dann aber an den starren Verhältnisse Galiziens, auch am Starrsinn der orthodox geprägten, dem Chassidismus anhängenden jüdischen Umgebung scheitern und zugrunde gehen lässt. Auch hier gibt es ein Leseerlebnis, das sich diesmal statt um Schiller, freilich um Lessing dreht und sich in einer alten, kalten Klosterbibliothek ereignet, weil Sender, der Protagonist, fasziniert von dem Wunsch, Schauspieler zu werden, hier zunächst einmal hofft, die Bücher zu finden, mit deren Hilfe er Deutsch, eben die Sprache des Theaters und der wandernden Schausteller-Truppen in Galizien, lernen kann: »Ratlos wendete er den Blick von einem Fach zum anderen. Da fiel ihm eine Bücherreihe ins Auge, die etwas geringerer Staub bedeckte als die übrigen. […] Er trat näher und zog einen der Bände hervor. ›Theater‹, las er. ›Theater von Gotthold Ephraim Lessing‹. Darunter stand in großem Druck: ›Nathan der Weise‹. Kaum vermochte er das Buch zu halten, so sehr durchzitterte ihn jähe Freude. Wie hatte er sich […] darnach gesehnt, endlich auch so ein ›aufgeschriebenes Spiel‹ zu lesen! Hier hatte er ein solches vor sich und es handelte dazu noch von einem Juden. Und Lessing hatte es geschrieben!«65
Auf den folgenden Seiten beschreibt der Erzähler dann, wie sich der Umgang mit Literatur, im Besonderen auch noch mit einem Text, der in einer ebenso stilisierten wie gegenüber den eigenen Lebenserfahrungen abgehobenen Sprache verfasst schien, in der Vorstellungswelt des Jungen wiederfindet; Franzos gestaltet dies in einer satirischen, zugleich doch auch recht naiven didaktischen Weise, die auch vor gewissen schrägen, aber auch altbacken komischen Effekten nicht zurückschreckt;66 möglicherweise wurden damit 64 Ebd., S. 30. 65 Franzos, Der Pojaz, S. 95. 66 Die Satire richtet sich dabei zum einen auf das Unverständnis des hinterwäldlerischen
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aber auch eine Rezeptionshaltung und ein etwas naiver Idealismus angesprochen, wie sie sich innerhalb der hier in den Blick genommenen sozialen Gruppen Galiziens und ihrer zwischen Realismus und Bildungsideal hin und her gerissenen Vertreter als Rezeptionshaltung auch tatsächlich finden ließ. Dass Lessings Texte freilich nicht nur der Beförderung von Bildung und Toleranz und der Selbstbestimmung bislang marginalisierter sozialer Gruppen dienen können, sondern in vertrackter Weise doch auch dazu genutzt werden konnten, gerade unter Berufung auf ihre Humanität die Prävalenz der eigenen Glaubensüberzeugungen – gleichsam unter dem Deckmantel der Berufung auf Lessings kulturelle Bedeutung – zu vertreten, kann u. a. an einem Text gezeigt werden, der das zeitgenössische Lessingverständnis in Galizien aus der Sicht eines Vertreters der deutschsprachigen Dominanzkultur belegt. Dass hierbei Schulprogramme eine zentrale Quelle für die Bedeutung und Nutzung eines Autors bei der Herstellung und Verbreitung nationalistisch orientierter Kohäsionsbestrebungen darstellen, als Stützen also eines »nationalen Gedächtnisses« instrumentiert und auch funktionalisiert werden, gehört damit natürlich auch zu den Rahmenbedingungen, unter denen sich die Wirkungsgeschichte Lessings unter den multiperspektivischen kulturellen Orientierungen Galiziens auch darstellen lässt.67 Dabei führt der Text des Gymnasialprofessors Johann Sternat: »Entwicklung der Idee des Lessingischen Dramas: Nathan des Weisen und Darlegung des Sinnes der in ebendemselbem [sic! W. N.] Stücke enthaltenen Parabel von den 3 Ringen in seiner Beziehung auf die Idee«68 wieder in Joseph Protagonisten Sender Glatteis und seine bildungsferne Umgebung, zum anderen werden aber auch die Welten bezeichnet, die zwischen Lessings ideell konzipiertem Jerusalem und den Jerusalem-Vorstellungen der galizischen Landbevölkerung lagen. Mehr noch: Auch der trügerische Charakter der in diesen Zusammenhängen vertrauten Jerusalem-Bezüge kommt zum Vorschein, wenn Sender sich das Personenverzeichnis des »Nathan« vor Augen hält und innerlich kommentiert: »›Nathan, ein reicher Jude in Jerusalem‹… ›Was?!‹ Sender unterbrach sich erstaunt und las noch es nochmals. ›Reich?!‹ rief er höhnisch – ›und in Jerusalem?! Mein lieber Mensch‹ er meinte Lessing -, ›ich glaub’ gern, daß du ein großer Dichter bist, und ob du trotzdem auch ein Schweinemagen bist, wird sich erst zeigen, aber daß du nichts von Juden verstehst, seh’ ich schon jetzt! Hast Du schon heutzutag’ von einem reichen Juden in Jerusalem gehört? Andere Leut’ noch nicht!‹ Auch diese Kritik war begreiflich. Das ungemeine Elend, in dem heute die jüdischen Bewohner der heiligen Stadt dahinleben, ist ein ständiger Gesprächsstoff des östlichen Ghetto – wird doch für diese armseligen Müßiggänger unablässig gesammelt, und es vergeht kaum ein Monat, wo nicht ein Sendling von dorther auftaucht und durch grelle Schilderungen das Mitleid der polnischen und russischen Juden für ihre verkommenen Glaubensbrüder wachruft.« Ebd., S. 96. 67 Vgl. dazu die Einführung in: Gotthold Ephraim Lessings »Nathan der Weise« im Kulturraum Schule (1830–1914). Hrsg. von Carsten Gansel und Birka Siwczyk. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009, S. 11–34. (Gotthold Ephraim Lessing im kulturellen Gedächtnis – Materialien zur Rezeptionsgeschichte, Bd. 1) 68 Zit. nach: Vierter Jahresbericht des k. k. Real- und Obergymnasiums in Brody für das Schuljahr 1882. Brody : J. Rosenheim 1882, S. 3–40; jetzt in Gansel/Siwczyk, Nathan, S. 227–251.
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Roths Schule, das k. u. k. Real- und Obergymnasium in Brody, allerdings zurück in das Jahr 1882. In breitester Form widmet Sternat sich hier nicht nur einer mehrmaligen Inhaltswiedergabe und Nacherzählung des »Nathan«, sondern beansprucht zugleich den Nachweis führen zu wollen, dass nicht so sehr die vielgerühmte »Ringparabel« den »Mittelpunkt und Kern« des Stückes bilde, sondern dessen Idee sich erst aus den Teilen, die dann langatmig und mehrfach vorgestellt werden, zu einem Ganzen zusammen setzen ließen. Erst gegen Ende wird schließlich der »Grundgedanke«69 herausgestellt, und es nimmt nicht wunder, dass es sich hierbei um eine genuin »christliche Idee« handeln soll, deutlich formuliert um sich gegen konkurrierende Möglichkeiten abzusetzen, Lessing nicht für andere Lesarten und Glaubensvorstellungen zu öffnen, sondern um sich mit Hilfe des Bezugs auf Lessing von ihnen abzuschließen: »Werkthätige Liebe zu den Menschen aus Liebe zu Gott ist das Beförderungsmittel menschlicher Glückseligkeit, ist wahre Sittlichkeit und Tugend, wahre Religiosität; oder noch kürzer : Werkthätige, selbstlose Liebe ist die Grundlage der menschlicher Glückseligkeit.«70
Dem Verfasser zufolge findet sich eine solche emphatisch herausgehobene Haltung gerade nicht in allen Religionen, schon gar nicht in den Religionen, wie sie zu dieser Zeit in Galizien und anderswo wirklich existieren, sondern nur in einer einzigen: »derjenige(n), welche(r) den Forderungen der Vernunft, den Bedingungen der wahren Religion entspricht, und diese ist die christliche Religion, aber nicht, wie sie ist, sondern wie sie kraft ihres echten Steines der Liebe sein soll«.71
Bereits zuvor war Nathan, insbesondere weil er den »echt morgenländischen Zug« wählt, die Frage des Sultans nach der wahren Religion in Form eines Gleichnisses zu beantworten, mit Jesus selbst verglichen worden: »Hierin, ja theilweise sogar in der Absicht gleicht er Jesu.«72 So kann man freilich mit Toleranz auch umgehen, ist doch, so auch in der älteren Geschichte des Toleranz-Begriffs durchaus enthalten73, echte Toleranz die Duldung von etwas, das geduldet wird, obwohl man es für falsch hält. Die Idee der Toleranz erscheint damit in dieser Anordnung daran gebunden, die Wahrheit zu wissen. Im Vertrauen auf die christliche Gesinnung Lessings wird dieser in der zuletzt angeführten Lesart – Lessings eigenen Intentionen 69 70 71 72 73
Zit. nach Gansel/Siwczyk, Nathan, S. 248. Ebd. Ebd., S. 250. Ebd., S. 249. Vgl. dazu Schlüter, G./Grötker, R.: Toleranz. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 10. Basel: Schwabe 1998, Sp. 1251–1262, hier Sp. 1256ff.
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sicherlich zuwider – als Apostel eines einzigen »wahren« Glaubens gegen die anderen falschen Glaubensüberzeugungen aufgeboten. Dass dies nicht Lessings Position ist, scheint mir im Übrigen der Grund zu sein, warum Lessings Stück »Die Juden«, eben um einen solchen Hochmut der »Guten« auf der Seite des »Wahren« zu vermeiden, gerade nicht pathetisch, sondern auf der Buffo-Ebene endet. Der Vorwurf, Jude zu sein, geht in Lisettes Liebesgetändel mit Christoph: »Und wann’s dazu kömmt, ist Er [gemeint ist Christoph, der sich erst kurz zuvor dazu bekannt hatte, als Christ Diener eines Juden zu sein – W. N.] wohl gar auch ein Jude, so sehr Er sich verstellt«
und Christophs Antwort: »Das ist zu neugierig für eine Jungfer gefragt! Komm Sie nur«74 und der anschließenden Bühnenanweisung: »Er nimmt sie untern Arm, und sie gehen ab« einfach unter. Wenn die Bezeichnung eines Menschen als Juden zum Spielball im Rahmen eines erotischen Gesprächs- und Abenteuerspiels werden kann, hat er freilich seine historische Signifikanz – und damit auch seine Funktion der Diskriminierung – verloren. Offensichtlich konnte sich Lessing dies 1754 vorstellen, und so auch eine Dimension historischer und individueller Emanzipation als gleichermaßen politisches wie individuell bedeutsames Geschehen entwerfen, die auch die jüdischen, deutschsprachigen Bürger in Galizien anzusprechen vermocht hätte, nach der Shoah freilich auch im bestgemeinten Sinne nicht mehr wieder hergestellt werden kann. Auch in dieser Hinsicht stellen die west-östlichen Lebenswelten der jüdischen Bevölkerung Galiziens75 einen Erinnerungsraum der deutschen und der jüdischen kulturellen Traditionen dar, dessen Strahlkraft und Imaginationspotential zugleich von einem in der heutigen Rekonstruktion noch immer bestehenden doppelten Verlust76 berichtet: Von der Zerstörung einer ganzen Bevölkerung und Lebenswelt durch Massenmord und von dem Verlust der Unschuld einer tatsächlich wohl zunächst auf Humanität und Toleranz ausgerichteten und ebenso ausgenommenen Überlieferung.
74 Zit. Lessings Werke. Hrsg. von Kurt Wölfel. 1. Bd.: Gedichte Fabeln Dramen. Frankfurt a. M.: Insel 1967, S. 166. 75 Vgl. Diner, Gedächtniszeiten, S. 12–14. 76 Alvin Rosenfelds Titel »A Double Dying. Reflections on Holocaust Literature« (1998) ließe sich in dieser Hinsicht noch einmal modifiziert nutzen. Vgl. Rosenfeld, Alvin H.: Ein Mund voll Schweigen. Literarische Reaktionen auf den Holocaust. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000.
Heinrich Kaulen
Lessings Fabeldidaktik und ihre Bedeutung für den Deutschunterricht
Lessings »Abhandlungen über die Fabel« von 1759 sind für die Lessing-Rezeption im Kulturraum Schule im 19. und 20. Jahrhundert und bis in die jüngste Gegenwart, speziell in den Anfangsklassen der Gymnasien, zweifellos ein klassischer und kanonischer Text. Denn sie setzen sich bekanntlich nicht nur mit der Ästhetik, Gattungspoetologie und Geschichte dieser »Dichtungsart« auseinander, sondern sind zugleich, wie zuletzt Günter Jahn in seiner ausführlichen Studie gezeigt hat,1 ein grundlegendes Elementarwerk der Didaktik und Methodik des literar-ästhetischen Lernens. Die fünfte Abhandlung, die »Von einem besondern Nutzen der Fabeln in den Schulen« handelt, enthält eine der wenigen systematischen Äußerungen Lessings zur Pädagogik. Sie entwirft in kurzen programmatischen Abschnitten einen »allgemeinen Plan« schulischer Bildung, dessen Ziel ganz im Sinne der Aufklärung die Erziehung eines »selbstdenkenden Kopfes« ist, und will dieses Ideal mittels der Methode eines exemplarischen, genetischen und sokratischen Lehrens und Lernens erreichen. Eine Methodengeschichte des Deutschunterrichts ist bis heute ein Desiderat und steht aufgrund der schlechten Quellenlage vor besonderen Schwierigkeiten. Selbst die in großer Zahl überlieferten Schul- und Programmschriften geben zwar Auskunft über die Lehrinhalte und didaktischen Konzepte, nicht aber über die bei der Vermittlung in den Schulen angewandten Methoden. Dennoch wissen wir aus einigen verlässlichen Quellen, dass Lessings Konzept im Literaturunterricht immer wieder Beachtung gefunden hat. Dies gilt etwa für den Schulmann Friedrich Gedike, der Lessings Anregung zum Erfinden von Fabeln bereits im 18. Jahrhundert aufgegriffen und didaktisch weitergeführt hat,2 oder für den Pädagogen Otto Willmann, der sich beinahe hundert Jahre später (1886) im Anschluss an Lessing für antizipierende Schreibverfahren und Gestaltungs1 Jahn, Günter : Lessings Fabelabhandlungen. Ein Elementarbuch der Didaktik und Methodik. Bielefeld: Aisthesis 2000. 2 Gedike, Friedrich: Einige Gedanken über deutsche Sprach- und Stilübungen auf Schulen. Berlin: J.F. Unger 1793.
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versuche im Umgang mit erzählenden Texten aller Art ausspricht.3 In erheblich breiterem Umfang setzt sich diese Rezeption dann an der Wende zum 20. Jahrhundert im Kontext der Reformpädagogik fort, beispielsweise in Hugo Gaudigs Konzeption einer »Schule der Selbsttätigkeit«, bei C8lestin Freinet oder in Otto Karstädts Konzept der »Schaffenden Poesiestunden«.4 Vermittelt durch diese reformpädagogischen Anstöße hat sich dann nach 1945 Robert Ulshöfer in seiner für die Gymnasialpädagogik der 1950er und 1960er Jahre höchst einflussreichen »Methodik des Deutschunterrichts« unter dem Leitbegriff des »literarischen Nachgestaltens«, und übrigens wiederum mit explizitem Rekurs auf Lessings Fabeltheorie,5 für einen Deutschunterricht eingesetzt, der Texte nicht nur liest, analysiert und interpretiert, sondern sie nach Art einer poetischen Handwerkslehre auch selber gestaltet, produziert, fortschreibt, verändert oder spielerisch inszeniert – genau wie bei Lessing vornehmlich mit dem Ziel einer formalen Denk- und Erkenntnisschulung. So ist Lessings Fabelabhandlung heute überall dort ein geradezu kanonischer Prätext und Bezugstext geworden, wo von einem ›kreativen‹, ›spielerischen‹ oder ›handlungs- und produktionsorientierten‹ Deutschunterricht die Rede ist.6 Allerdings ist das vorschnelle Zitieren von literaturhistorischen Gewährsmännern und Autoritäten und die Konstruktion von Affinitäten und Genealogien kein unproblematischer Vorgang. Nicht selten nämlich bleibt der vermeintliche Erbe den Nachweis für das tatsächliche Abstammungsverhältnis schuldig und entpuppt sich die behauptete theoretische Konvergenz in der Sache als pure Strategie rhetorischer Selbstlegitimation. Schon Lessing wusste zwar, um ein Diktum aus der hier in Frage stehenden Untersuchung zu zitieren, dass man »in Gefahr [ist] sich auf dem Wege der Wahrheit zu verirren, wenn man sich um gar keine Vorgänger bekümmert« (V, 378f.).7 Aber er fährt auch mahnend
3 Willmann, Otto: Pädagogische Vorträge über die Hebung der geistigen Thätigkeit durch den Unterricht. Leipzig: Gräbner 1886. 4 Karstädt, Otto: Dem Dichter nach! Schaffende Poesiestunden. 3 Bde. Langensalza: Julius Beltz 1913 (Bd. 1), 1929 (Bd. 2), 1933 (Bd. 3). 5 Ulshöfer, Robert: Methodik des Deutschunterrichts. 3 Bde. Stuttgart: Klett 1952–1963. Zum »literarischen Nachgestalten« unter Berufung auf Lessing vgl. Bd. 1 (Unterstufe), S. 229–244; Bd. 2 (Mittelstufe), S. 215–219. 6 Zu der langen Tradition spielerischer Konzepte in der Deutschdidaktik seit den Philanthropisten des 18. Jahrhunderts und zu den damit verbundenen Problemen vgl. zusammenfassend: Kaulen, Heinrich: Spielmethoden ohne Spieltheorie? Zur Geschichte und aktuellen Konjunktur des Spielbegriffs in der Literaturdidaktik. In: Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte. Hrsg. von Thomas Anz und Heinrich Kaulen. Berlin/Boston: de Gruyter 2009, S. 579–599. 7 Lessings Fabelabhandlung wird in fortlaufenden Text zitiert nach: Lessing, Gotthold Ephraim: Werke, Bd. 5: Literaturkritik, Poetik und Philologie. Hrsg. von Jörg Schönert. München: Beck 1973, darin: Gotthold Ephraim Lessings Fabeln. Drei Bücher. Nebst
Lessings Fabeldidaktik und ihre Bedeutung für den Deutschunterricht
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und warnend fort: »Ich sehe eine Menge Fußtapfen vor mir, die ich zum Teil untersuchen muß, wenn ich überall sichere Tritte zu tun gedenke« (V, 357). So sollten wir also vorsichtig sein, Lessing allzu vorschnell und unbedacht zum Gewährsmann handlungsorientierter Unterrichtsverfahren im Sinne von Willmann, Otto Karstädt oder neuerer Ansätze zu ernennen, wie es in der aktuellen didaktischen Forschung immer wieder geschieht. Ich möchte im Folgenden diesen Rekurs auf Lessing im Namen eines produktionsorientierten Literaturunterrichts heutiger Prägung einer kritischen Prüfung unterziehen. Es ist also danach zu fragen, ob und in welcher Beziehung Lessings Fabeltheorie mit methodischen Konzepten eines handelnden Umgangs mit Texten im Literaturunterricht parallelisiert oder gar gleichgesetzt werden kann. Ist die Berufung auf Lessing mit Blick auf die Zielsetzung, das ästhetische Konzept, den Theorierahmen und die Begrifflichkeit seiner Abhandlung überhaupt gegenstandsadäquat und damit zulässig? Oder beruht sie vielmehr auf Missverständnissen und ist das Resultat eines aktualisierenden Zugriffs, der die Distanz zu einer zweihundert Jahre alten poetologischen Schrift schlicht zu negieren sucht? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich in einem ersten Schritt kurz Lessings Fabeltheorie in ihren argumentativen Grundlinien und Grundbegriffen rekonstruieren. In einem zweiten Schritt werde ich danach fragen, worin die Differenzen zwischen Lessings Theoriekonzept und der Theorie und Praxis eines handlungs- und produktionsorientierten Deutschunterrichts zu sehen sind. Unter diesem Oberbegriff fasse ich alle fachdidaktischen Konzepte zusammen, die davon ausgehen, dass das aktive Handeln mit Texten mindestens ebenso nachhaltige Lernprozesse ermöglicht wie das analytisch-begriffliche Unterrichtsgespräch, und die sich deshalb von einem breiten Repertoire von Schreib- und Transformationsaufgaben eine Förderung der Textkompetenz, Kreativität und Imaginationsfähigkeit der Lernenden, aber auch eine bessere Motivation und einen stabileren Lernerfolg versprechen. In manchen dieser Konzepte wird dabei an einer Rückbindung der kreativen Lernprozesse an kognitive Erkenntnisakte festgehalten (so etwa bei Karlheinz Fingerhut), andere dagegen gehen von einem Dualismus zwischen beiden und von einem Primat des Handlungsbezugs gegenüber jedem begrifflich-diskursiven Wissen aus. Vor allem die weit verbreiteten Praxishandbücher favorisieren in der Regel diesen zweiten methodischen Zugang.
Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten Inhalts. S. 352–419. – Dabei bezeichnet die römische Ziffer den Band, die arabische die Seitenzahl.
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Lessings »Abhandlungen über die Fabel« (1759) »Ich hatte mich«, heißt es in der »Vorrede« von Lessings Abhandlung, »bei keiner Gattung von Gedichten länger verweilet, als bei der Fabel. Es gefiel mir auf diesem gemeinschaftlichen Raine der Poesie und Moral« (V, 353). Tatsächlich sind seine Überlegungen das Resultat einer lebenslangen Beschäftigung mit diesem Genre, die in den Leipziger Studienjahren mit der Phädrus-Vorlesung seines Lehrers Johann Friedrich Christ beginnt und in den beiden Fabelsammlungen von 1753 und 1759 sowie in der programmatischen Schrift vom »Wesen der Fabel«, die der zweiten Ausgabe beigefügt ist, ihren sichtbarsten, aber keineswegs letzten Ausdruck findet. Noch im selben Jahr 1759 hat Lessing seine Abhandlung im 70. Literaturbrief (V, 225–234) mit einer werbenden Selbstrezension bedacht, die bei der Betrachtung seiner Fabeltheorie ergänzend hinzugezogen werden muss. Es geht an dieser Stelle aber nicht um Details der Lessing-Philologie. Auch die Frage, welcher Stellenwert der Fabel-Poetik in der Entwicklung der lessingschen Ästhetik, speziell auf dem Weg zwischen rhetorischer Tradition und Autonomieästhetik, zukommt, kann hier nicht näher verfolgt werden. Im Blick auf die Fragestellung wird es vor allem darum gehen, diejenigen Aspekte herauszustellen, die für sein Verständnis der Fabel und einer angemessenen Beschäftigung mit diesem Genre grundlegend sind. Zunächst ist wichtig, dass Lessing, dem alten Grundsatz des ›prodesse et delectare‹ verpflichtet, die Fabel im Schnittfeld von Dichtung, Ethik und Pädagogik situiert. Die Fabel gilt ihm eben noch nicht als autonomes Kunstwerk, das allein zum ästhetischen Spiel und Vergnügen bestimmt ist, denn sie verfolgt einen spezifischen moralischen und didaktischen Zweck. Als Denkschulung ist sie für ihn mehr als ein bloß rhetorischer Übungsgegenstand. Andererseits darf sie aber auch nicht als eine in Dichtung gegossene Morallehre missverstanden werden. Vielmehr handelt es sich um eine spezifische ästhetische Form der Erkenntnis, die an den Bereich der praktischen Vernunft angekoppelt ist. Lessing grenzt bei seinen Bemühungen, das Wesen der damals populären Gattung präzise zu bestimmen, die Fabel einerseits vom historischen Exemplum, andererseits von der Parabel ab. Während das Exemplum von einem wirklichen Fall ausgeht und zwingend der historischen Faktizität verhaftet ist, illustriert die Parabel eine Vernunfterkenntnis an einem nur möglichen Fall und bleibt dabei allgemein, unsinnlich und abstrakt. Von der Fabel fordert Lessing, dass sie beide Aspekte integriert: Sie zeigt in ihrer straff geführten Handlung einen wirklichen Fall, aber es geht ihr weniger um historische Faktentreue als um innere Wahrscheinlichkeit, und sie entwickelt den Vorgang so sinnlich und konkret, dass in diesem zugleich eine allgemeine moralische Wahrheit sinnfällig werden kann. Die berühmte Definition, zu der Lessing bei seinem Parforceritt durch die Rezeptionsgeschichte des Genres gelangt, lautet:
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In der Fabel wird nicht eine jede Wahrheit, sondern ein allgemeiner moralischer Satz, nicht unter die Allegorie einer Handlung, sondern auf einen einzeln Fall, nicht versteckt oder verkleidet, sondern so zurückgeführet, daß ich, nicht bloß einige Ähnlichkeiten mit dem moralischen Satze in ihm entdecke, sondern diesen ganz anschauend darin erkenne. (V, 379)
Oder, positiv gewendet und produktionsästhetisch formuliert: Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besondern Falle die Wirklichkeit erteilen, und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt diese Erdichtung eine Fabel. (V, 385)
Der zentrale Grundbegriff Lessings ist der Begriff der anschauenden Erkenntnis, den er nach eigenem Bekunden der »Philosophiae practicae universalis« von Christian Wolff (1739, § 302–323) entnommen hat.8 Anschauende Erkenntnis meint dabei die Vorstufe zur abstrakt-begrifflichen (symbolischen) Erkenntnis. Die Lehre soll gerade nicht durch eine kognitiv-analytische Anstrengung mühsam gewonnen werden, vielmehr soll sich das Allgemeine im Besonderen unmittelbar erschließen und auf einen Blick durch Anschauung zu erfassen sein. Es handelt sich also um einen Akt impliziter und vor-begrifflicher Erkenntnis. Lessing spricht sogar von der »Intuition des Allgemeinen« (V, 404; vgl. V, 382). Die Lehre soll – in seinen Worten – mit »Klarheit« und »Lebhaftigkeit [….] aus allen Teilen einer guten Fabel auf einmal hervor strahle[n]«, also unmittelbar sinnfällig und einleuchtend sein, und es darf »gar keine Mühe kosten, die Lehre in der Fabel zu erkennen; es müßte vielmehr [….] Mühe und Zwang kosten, sie darin nicht zu erkennen« (V, 370). Je schneller, klarer und lebhafter dieser Prozess der anschauenden Erkenntnis ablaufe, umso größer ist nach Lessing der Einfluss auf den moralischen Willen und desto weniger bleibt diese Wirkung auf eine kleine Schar intellektuell gebildeter Leser beschränkt. Deshalb verwahrt sich Lessing so entschieden gegen die verbreitete, noch von Gottsched vertretene Auffassung, die Wahrheit der Fabel sei in der eigentlichen Erzählung »verkleidet« oder hinter ihr »versteckt« und müsse erst durch eine hermeneutische Exegese begrifflich rekonstruiert werden (V, 370f.). Auch die komplexeren Wirkungsstrategien durch eine Läuterung der Affekte (also die Erweckung von Furcht und Empathie), wie sie dem Trauerspiel aufgrund seiner größeren »Weitläufigkeit« eignet, sind der Fabel als bescheidenem Demonstrationsmodell der anschauenden Erkenntnis verstellt (V, 376f., 393f.). Aus dem Umstand, dass anschauende Erkenntnis selbst »der rohesten Seele« zukommt (V, 371), folgt aber nicht, dass in der Fabel lediglich eine präskriptive oder gar dogmatische 8 Vgl. Fick, Monika: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar : Metzler 2000, S. 181–199 (»Das Fabelbuch«), hier S. 188–193.
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Verhaltensmaxime vermittelt werden kann (V, 365f.). Der Leser wird nicht fremdbestimmt, d. h. ihm wird nicht das Handeln in einer bestimmten Situation abgenommen. Er gewinnt auf eine fassliche, plausible Weise durchaus eine autonome Einsicht im Sinne eines »Erfahrungssatzes« (V, 366), aber er wird vom Autor nicht zu der normativen »Pflicht« bestimmt, etwas ganz Bestimmtes »zu tun oder zu lassen« (V, 365, 375). Die pragmatischen Schlussfolgerungen aus dem Erfahrungssatz bleiben ihm selbst überlassen. Aus diesem poetologischen Grundverständnis der Fabel leiten sich alle weiteren Bestimmungen der lessingschen Fabeltheorie ab. Der Gebrauch von Tierfiguren etwa sei kein gattungskonstitutives Apriori und habe auch nichts mit dem »Wunderbaren« im Sinne Breitingers zu tun, sondern resultiere allein aus dem Wirkungszweck und Wirkungsmechanismus des Genres. Genauso seien Form und Stil der Fabel nicht abstrakt aus einem System zu deduzieren, sondern wirkungspoetisch zu legitimieren. Gegen die französische Versfabel des 17. Jahrhunderts (La Fontaine) und selbst gegen die Verssprache des Phädrus wird das Ideal der »Einfalt« zur Geltung gebracht – verstanden nicht im Sinne von Naivität, sondern in der Bedeutung von »simplicitas«, »zierlicher Präzision«, »außerordentlicher Kürze« (V, 232) und Reduktion auf das zum Verständnis unbedingt Notwendige – einer Schreibart, die auf jedes schmückende Beiwerk, etwa auf Vers und Reim, verzichten kann. Selbst das Epimythion ist überflüssig, da sich die Einsicht kraft Intuition ja von selbst aufschließen lassen soll und gerade nicht begrifflich expliziert werden muss. »Einfalt« meint also die Synthese von Einfachheit und Komplexität, von Erfahrungsfülle und Lakonismus, wie sie Lessing in der Äsopischen Fabel (oder dem, was er davon durch die Exzerpte des Planudes aus dem Mittelalter kannte) verwirklicht sieht und zur selben Zeit in seinen eigenen Prosafabeln zu erneuern sucht. Lessings Fabeltheorie, das zeigt sich hier, ist nicht zuletzt die Selbstauslegung seiner eigenen Praxis als Fabeldichter. Aus seinen teils schroffen Wertungen anderer Autoren und den proklamierten Stilidealen spricht, wie es im 70. Literaturbrief selbstironisch heißt, »die Absicht, seine eigene Art zu erzählen, so viel als möglich, zu beschönigen« (V, 233). Deshalb kann er am Ende der Abhandlung seine wirkungsästhetischen Postulate an seiner eigenen Fabel vom »Mann mit dem Bogen« demonstrieren: je kunstvoller der Bogen verziert ist, desto weniger trifft er ins Ziel (V, 411f.; vgl. I, 259). Von besonderer Relevanz für die hier verfolgte Fragestellung ist natürlich die fünfte und letzte Abhandlung »Von einem besondern Nutzen der Fabeln in den Schulen« (V, 415–419). Auch der Verfasser maß ihr große Bedeutung zu, war doch, wie er 1759 in einem Brief an J. G. Lindner schreibt, sein »vornehmstes Augenmerk […] auf die Schulen gerichtet« (V, 894). Lessing widersteht dabei zwei naheliegenden Versuchungen, die schon im 18. Jahrhundert den Umgang mit Literatur bestimmten und auch heute noch zu beobachten sind: ihrer
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pädagogisch-moralischen Indienstnahme sowie ihrer Instrumentalisierung zu rhetorischen Übungszwecken. Was die pädagogische Funktionalisierung betrifft, ist nochmals daran zu erinnern, dass die Fabel für Lessing zwar, wie er gegen La Fontaine einwendet, kein »anmutiges poetisches Spielwerk«, also kein bloßes Medium der Zerstreuung sein darf (V, 409f.), dass sie für ihn umgekehrt aber auch kein Medium zur Verkündigung doktrinärer Lebensregeln und Verhaltensdirektiven darstellt. Eine Vorschrift, »die unmittelbar auf die Bestimmung unsers Tuns und Lassens« ziele (V, 365), verstößt aus seiner Sicht sogar gegen das Gattungsprinzip, anschauliche Erfahrungsgrundsätze zu liefern, deren Anwendung auf die Lebenspraxis den Rezipienten selbst obliegt. »Es ist [….] wahr, aus jedem solchen Erfahrungssatze können leicht eigentliche Vorschriften und Regeln gezogen werden. Aber was in dem fruchtbaren Satze liegt, das liegt nicht darum auch in der Fabel« (V, 366). Der Dichter ist also gerade nicht der Sittenlehrer der Nation im Sinne einer ebenso strengen wie unbeweglich-starren Moraldidaktik. Er schreibt nichts dogmatisch vor, sondern liefert lediglich Anlässe zum Selberdenken. Es liegt am einzelnen Individuum, davon den richtigen Gebrauch zu machen. Noch deutlicher fällt die Abgrenzung von den seinerzeit verbreiteten rhetorischen Unterrichtspraktiken aus. Dabei denkt Lessing übrigens primär an den altphilologischen Unterricht; der Unterricht in der deutschen Sprache, erst recht der Unterricht in der deutschen Literatur, wie er sich hundert Jahre später allmählich etabliert, fällt noch gar nicht in seinen Blick. Tatsächlich setzt sich die deutsche Fabel (im Unterschied zur lateinischen) erst im Zuge des 19. Jahrhunderts, lange nach Lessings Tod, im Deutschunterricht durch. Selbst ein Reformer wie Johann Heinrich Pestalozzi äußerte noch 1809 gegen ihre schulische Verwendung erhebliche Vorbehalte. Lessing wendet sich indirekt gegen Aristoteles, der als erster die Fabel aus der Poetik verbannt und in den Bereich der Rhetorik verwiesen hatte, vor allem aber gegen die methodische Unsitte, die Schüler in den Rhetorikstunden Fabeln in verschiedenen Casus erzählen zu lassen oder sie beliebig »zu erweitern« bzw. »zusammenzuziehen«: Diese Übung kann nicht anders als zum Nachteil der Fabel selbst vorgenommen werden; und da jede kleine Geschichte eben so geschickt dazu ist, so weiß ich nicht, warum man eben die Fabel dazu mißbrauchen muß, die sich, als Fabel, ganz gewiß nur auf eine einzige Art gut erzählen läßt. (V, 415f.)
Ein solcher Umgang mit Fabeln, so lautet sein Vorwurf, verfehlt zum einen die poetische Spezifik des Gegenstandes und dequalifiziert die Texte zum anderen zum beliebigen Spielmaterial für heteronome Zwecke. Was man lernt, könnte man genauso gut, wenn nicht besser an anderen Texten erwerben, ja es bedarf dazu vermutlich nicht einmal der Literatur. Dies ist zugleich eine implizite
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Abgrenzung von den in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbreiteten Spielpraktiken an den philanthropistischen Schulen. An die Stelle moralischer Indoktrination und rhetorischer Sprachübungen tritt bei Lessing das, was er den »heuristischen Nutzen« der Fabel nennt (V, 416). Er versteht darunter eine Übung im Selberdenken und -erfinden, die auf die Beweglichkeit des Denkens, die Verknüpfung getrennter Wissensbereiche und das selbständige Aufspüren neuer Fragestellungen und Wissenshorizonte zielt – Fähigkeiten, die in seinen Augen aus dem Schüler durch Erziehung ein »Genie« machen können. Die Fabel leistet zu solcher Art von ›Heuristik‹ einen wichtigen Beitrag, weil sie strukturell selbst auf dem steten Wechselspiel von Allgemeinem und Besonderem beruht und dieses bei ihren Lesern in Gang setzen kann. Das Prinzip, das der Fabel – nach Wolff und Lessing – zugrundeliegt, das »Principium der Reduction«, gleicht dem, das »allen Erfindern überhaupt das allergeläufigste sein muß«, nämlich dem Prozeß, »sich eben so leicht von dem Besondern zum Allgemeinen zu erheben, als von dem Allgemeinen zu dem Besondern sich wieder herab zu lassen« (V, 416). An dieser Stelle schließen sich die wirkungs- und gattungspoetologischen Bestimmungen Lessings mit seinen pädagogischen Reflexionen unmittelbar zusammen. Das, was seiner Auffassung nach die Fabel prinzipiell als Gattung konstituiert, soll nun auch den Umgang im Unterricht mit ihr bestimmen, indem der Lehrende »die Geschichte derselben bald eher abbricht, bald weiter fortführt, bald diesen oder jenen Umstand derselben so verändert, daß sich eine andere Moral darin erkennen läßt« (V, 418). Von den Schülern als Schreibenden ist an dieser Stelle – das ist wichtig – explizit nicht die Rede, aber die Lehrenden immerhin lässt Lessing hier tatsächlich von bloßen Vermittlern zu Literaturproduzenten werden, die in die Textvorlagen eingreifen und diese variieren. Angeregt durch den Lehrer, sollen die Schüler dann einen ähnlichen Lehrgang absolvieren, der vom »Finden« der Varianten über das Entdecken des »Principio reductionis« allmählich zum »Erfinden« eigener (äsopischer) Fabeln führt (V, 417f.). Die von Lessing genannten Beispiele zeigen, dass der Willkür der Schreibenden auf der Basis seiner normativen Gattungspoetik recht enge Grenzen gesetzt sind. Auch wird das Handeln mit Texten keineswegs in einen Gegensatz zur Vermittlung grundlegender kognitiver Kompetenzen gestellt. Im Gegenteil: »das Principium der Reduktion«, heißt es weiter, »erfordert eine weitläuftige Kenntnis des Besondern und aller individuellen Dingen, auf welche die Reduktion geschehen kann« (V, 417). Diese Kenntnis sei vorab, zum Beispiel durch Vorlesungen zur Naturkunde, zu vermitteln.
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Lessings Fabeltheorie – ein Beitrag zur Produktionsdidaktik? Gerade die Überlegungen zum Gebrauch der Fabel an den Schulen und vor allem die von Lessing avisierten Schreibübungen sind es, die in der Literaturdidaktik besondere Aufmerksamkeit gefunden und gelegentlich sogar zu einer Gleichsetzung mit Konzepten eines produktionsorientierten Deutschunterrichts geführt haben. Schon der nähere Blick auf die Fabelabhandlung hat gezeigt, dass hier aus verschiedenen Gründen Vorsicht geboten ist. Einige der grundlegenden Differenzen möchte ich zum Abschluss pointiert herausstellen. Zunächst bleibt festzuhalten, dass Lessing überhaupt keine Didaktik im weiteren Sinn intendiert, sondern seine Überlegungen am Schluss eines gattungspoetischen – und nicht pädagogischen – Diskurses entwickelt und in diesem Rahmen strikt gattungsspezifisch und gattungspoetologisch argumentiert. Diese Unterscheidung scheint zunächst ebenso selbstverständlich wie banal, hat aber weitreichende Konsequenzen. Lessings Erörterungen zum methodischen Umgang mit der Fabel sind mit seinen Überlegungen zur Gattungstypologie und -geschichte untrennbar verknüpft und verselbstständigen sich gerade nicht zu einer isolierten Methodik. Das heißt aber auch, dass seine Schlussfolgerungen und didaktischen Vorschläge nicht unbesehen auf andere Bereiche der Literaturvermittlung übertragen und generalisiert werden können. Zumindest wäre von handlungsbezogenen Ansätzen zu fordern, dass sie sich jeweils in gleicher Weise als gegenstandsadäquat und adressatenadäquat ausweisen können. Daraus folgt weiter, dass Konzepte dieser Art nicht gegen Fragestellungen der Literaturtheorie, Hermeneutik, Poetologie und anderer Teilbereiche der Literaturwissenschaft ausgespielt werden dürfen, so wenig wie das Handeln mit Texten einen Primat gegenüber den unverzichtbaren analytischkognitiven Zugängen beanspruchen kann. Wer auf diesem Feld reüssieren will, braucht daher nicht nur methodologische, sondern vor allem auch solide fachwissenschaftliche Kompetenzen. Man kann diesen genuin literaturwissenschaftlichen Problemstellungen nicht entgehen, wenn von Literaturunterricht die Rede ist. Andernfalls verkümmert Didaktik zur bloßen Methodik, wenn nicht gar zu einem Inventar beliebig einsetzbarer und austauschbarer Unterrichtsrezepte. Lessing hingegen bindet das Verfahren des »Findens« und »Erfindens« an einen ganz bestimmten Texttypus, bei dem er voraussetzt, dass dieser im Unterricht der Exegese weder bedürfe noch fähig sei. Nur deshalb kann er behaupten, dass eine Kongruenz zwischen der Sache und den vorbegrifflichen, impliziten Erkenntnisakten beim Schreiben und Umschreiben der Vorlagen bestehe. Die Rezeption der Fabel beschreibt seiner Auffassung nach eine Kreisbewegung: die »klare und lebendige Erkenntnis eines moralischen Satzes« (V, 393) entsteht durch die Reduktion des allgemeinen Erfahrungssatzes auf den
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besonderen, individuellen Fall, in dem das Subjekt wiederum umgekehrt das Allgemeine »anschauend« erkennt. Lehrprozesse, die auf das »Principium der Reduktion« führen und dieses, als wichtiges Vermögen aller »Erfinder und selbstdenkenden Köpfe« (V, 416), weiter auszubilden vermögen, sind daher nicht nur pädagogisch legitimiert, sondern erscheinen auch der Sache angemessen. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, so ist die Übertragung ähnlicher Verfahrensweisen auf andere Gegenstände keineswegs ausgeschlossen. Es wäre jedoch notwendig, jeweils spezifische Kriterien zu entwickeln, um die Sachangemessenheit, Eignung und Effizienz des jeweiligen Verfahrens genauer und differenzierter beurteilen zu können. Genau darauf verzichten indessen etliche Standardwerke zur Produktionsdidaktik, wenn sie sich – wie beispielsweise manche Arbeiten Günter Waldmanns9 – als eine Art Kompendium von Handlungsvorschlägen präsentieren, die beliebig auf alles und jedes anwendbar sein sollen. Wo bleibt da die Differenz zu den von Lessing kritisierten rhetorischen Schreibübungen, die den »Schülern aufgaben, bald eine Fabel durch alle casus obliquos zu verändern, bald sie zu erweitern, bald sie kürzer zusammenzuziehen« (V, 415)? Und noch ein weiteres Problemfeld der aktuellen Diskussion wird im Rückblick auf Lessings Abhandlung erkennbar : Überlegungen zur Behandlung einer bestimmten Sache im Unterricht setzen auf der Seite der Lehrenden nicht nur einen präzisen, theoretisch begründeten Begriff des Gegenstandes, sondern auch ein differenziertes Bild von den Lernenden, den Lernprozessen und von deren Zielen, kurz: eine Bildungstheorie, voraus. Lessing entfaltet – im Problemhorizont des 18. Jahrhunderts – in dem von ihm skizzierten »Allgemeinen Plan« der Bildung in nuce eine solche Theorie des literarischen Lernens,10 wenn er den Anteil seiner heuristisch orientierten Fabeldidaktik an der Bildung des Einzelnen zum »selbstdenkenden Kopf« zu bestimmen sucht (V, 416). Die Grenzen seines Konzepts liegen darin, dass er – zumindest in seiner Fabeltheorie (in seiner Dramentheorie ist das bekanntlich anders) – noch ganz und gar einem rationalistisch-aufklärerischen Wirkungsmodell von Poesie verpflichtet bleibt, das literarische Rezeption ausschließlich über rationale Erkenntnisprozesse definiert. »Der Fabuliste«, heißt es ausdrücklich, »hat mit unsern Leidenschaften nichts zu tun, sondern allein mit unserer Erkenntnis. Er will uns von irgend einer einzeln moralischen Wahrheit lebendig überzeugen« (V, 376). Von Affekten und Leidenschaften, von Lust und Unlust, von Vergnügen und Kreativität ist im Zusammenhang mit der Fabel nicht die Rede – Vermögen, die gerade in 9 Vgl. Waldmann, Günter : Grundzüge von Theorie und Praxis eines produktionsorientierten Literaturunterrichts. In: Handbuch »Deutsch« für Schule und Hochschule. Sekundarstufe I. Hrsg. von Norbert Hopster. Paderborn/Zürich: Schöningh 1984, S. 98–141. 10 Vgl. dazu Jahn, Fabelabhandlungen. 2001, S. 12ff., 24ff.
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produktionsorientierten Ansätzen mit ihrem Bemühen um einen ›ganzheitlichen‹, nicht nur kognitiv bestimmten Zugang eine tragende Rolle spielen. Die Differenz zu solchen Konzepten, welche die Subjektivität der Lernenden in den Vordergrund stellen und oft – nicht minder einseitig – den Spaß und das Vergnügen am Umgang mit Texten verabsolutieren, ist nicht zu übersehen. Der frühe Lessing begreift Literatur als Medium einer spezifischen Form intellektueller Erkenntnis, als rationalen Vollzug, als anschauliches Wissen, jeweils bezogen auf das Alter der Lernenden und ihre spezifische Auffassungsgabe. Das Moment der Sinnlichkeit, das im Begriff der Anschauung mitgedacht ist, bleibt bei ihm immer mit Kognition verknüpft; einen Dualismus von sinnlich-affektiven und kognitiven Verfahrensweisen gibt es bei ihm nicht. Der Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags war die Frage, ob und wieweit Lessings Fabeltheorie die Theorie und Praxis eines produktionsorientierten Literaturunterrichts antizipiert. Ich habe zu zeigen versucht, dass die Inanspruchnahme Lessings als Vorläufer dieser Konzepte in großen Teilen auf einem Missverständnis beruht. Dieses Missverständnis ergibt sich dann, wenn man nur auf die Affinität bestimmter methodischer Verfahrensweisen schaut. Solche Affinitäten aber zeugen nicht in jedem Fall von einer Übereinstimmung in der Sache. In der theoretischen Begründung, Begrifflichkeit und Zielsetzung liegen Welten zwischen den Reflexionen zum »Nutzen der Fabeln in den Schulen« und dem viel weiter gefassten und in der Regel ganz anders begründeten Konzept des handlungsorientierten Deutschunterrichts. Dies ist bei einer Abhandlung, die vor 250 Jahren in einem ganz anderen historischen Kontext entstanden ist, vielleicht auch nicht anders zu erwarten. Die Differenzen betreffen dabei sowohl Aspekte der Gegenstandskonstitution als auch die bildungs- und lerntheoretischen Prämissen. Die Beschäftigung mit Lessing kann natürlich nur einen kleinen Baustein aus der Vorgeschichte des schreibenden Umgangs mit Texten erhellen. Die Erforschung der Traditionen, in denen aktuelle literaturdidaktische Theorien stehen, ob ihnen das nun bewusst ist oder nicht, steckt erst in ihren Anfängen. Aber es ist dennoch notwendig, sich auch einzelner ›Fußtapfen‹ zu erinnern, wenn man Schritt für Schritt ein tragfähiges Fundament gewinnen will.
Manfred Beetz
Zur Diagnose von Vorurteilen in Lessings Frühwerk
Die europäische Aufklärung hat es zum ersten Mal in der Geschichte unternommen, das weite und dunkle Feld der Vorurteile in seinen Dimensionen zu erschließen. In der »Aufklärung von Vorurteilen« sah sie von Beginn an ihr ureigenstes Geschäft. Mit dem Räsonnement über ungeprüfte, aber gleichwohl fest verwurzelte Einstellungen und Annahmen hat die Aufklärung ein Thema angeschnitten, das bis heute kaum an sozialpolitischer Brisanz verloren hat. Nach Werner Schneiders philosophischer Habilitationsschrift von 1983 Aufklärung und Vorurteilskritik hat die Vorurteilsforschung zum 18. Jahrhundert seit den 90er Jahren neue Impulse gewonnen.1 Mit einem betreuten DFG1 Schneiders, Werner : Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie. Stuttgart: Frommann-Holzboog 1983; Hinske, Norbert: Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie. In: Die Philosophie der Aufklärung. Texte und Darstellung. Hrsg. von Raffael Ciafardone. Stuttgart: Reclam 1990, S. 407–458, hier S. 427ff.; Menges, Karl: Vom Vorteil des Vorurteils. Zur Rehabilitierung eines kritischen Aufklärungsbegriffs. In: Begegnungen mit dem »Fremden« Bd. X: Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Hrsg. von Yoshinori Shichiji. München: Iudicum 1991, S. 161–170; Delon, Michel: R8habilitation des pr8jug8s. In: Revue germanique internationale 3, 1995, S. 143–156; Albrecht, Michael: Moses Mendelssohn über Vorurteile. In: Aufklärung als praktische Philosophie. Hrsg. von Friedrich Grunert und Friedrich Vollhardt. Tübingen: Niemeyer 1998, S. 297–315; Adler, Hans: Aufklärung und Vorurteile oder : Philosophie und Volksbetrug. In: Literatur im Zeugenstand. Beiträge zur deutschsprachigen Literatur- und Kulturgeschichte. Hrsg. von Edward Bialek u. a. Frankfurt a. M.: Lang 2002, S. 657–676; Godel, Rainer: »Eine unendliche Menge dunkeler Vorstellungen«. Zur Widerständigkeit von Empfindungen und Vorurteilen in der deutschen Spätaufklärung. In: DVjs 76, 2002, H. 4, S. 542–576; Beetz, Manfred: Wunschdenken und Realitätsprinzip. Zur Vorurteilsanalyse in Wielands Agathon. In: Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung. Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Jörn Garber und Heinz Thoma. Tübingen: Niemeyer 2004, S. 263–286; Ders.: Aufklärung über Vorurteile in Engels Roman Herr Lorenz Stark. In: Johann Jakob Engel (1741–1802). Philosoph für die Welt, Ästhetiker und Dichter. Hrsg. von Alexander Kosenina. Hannover : Wehrhahn 2005, S. 77–95; Ders.: Aporien der Aufklärung. Wezels Diskussion von Vorurteilen in seiner Anthropologie und in Belphegor. In: Wezel-Jahrbuch 8, 2005, S. 9–41; Ders.; Godel, Rainer : Entdeckte Vorurteile auf der Weltreise. Zu Georg Forsters empirischer Anthropologie und Anerkennung des Fremden. In: Aufklärung. Stationen – Konflikte – Prozesse. Hrsg. von Ulrich Kronauer und Wilhelm Kühlmann. Eutin: Lumpeter &
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Manfred Beetz
Projekt, aus dem Rainer Godels Habilitationsschrift »Vorurteil – Anthropologie – Literatur« 2007 und eigene Beiträge entstanden, habe ich die Diskussion über die Philosophie hinauszuführen versucht.
1.
Lessing und der Vorurteilsdiskurs
Die ersten Autoren, die sich im frühen 18. Jahrhundert nachhaltig mit Vorurteilen befassten, schnitten in ihren Analysen der Entstehung und Wirkung von Vorurteilen anthropologische Probleme an. Christian Thomasius erkannte die Verwurzelung von Vorurteilen im Willen und in prärationalen Schichten der Seele. Das machte für den Halleschen Juristen und Philosophen ihre Therapie so schwierig.2 Die theoretische und literarische Reflexion von Vorurteilen veränderte sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts in ihren sozial- und kulturgeschichtlichen Voraussetzungen. Von der philosophischen Vernunftlehre verlagerte sich die Diskussion auf anthropologische Fragestellungen der praxisnäheren Popularphilosophie. Auch die aufklärerische Literatur reflektierte in fiktiven Erfahrungssimulationen Strukturen, Typen, Voraussetzungen und Funktionsweisen von Vorurteilen. In der Spätphase der Selbstreflexion der Aufklärung machten sich Autoren die Grenzen und Möglichkeiten der Vorurteilskritik bewusst. Die Ausdifferenzierung der Anthropologie in empirische Psychologie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Ästhetik hatte Auswirkungen auf die Vorurteilsbehandlung. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ersetzte teilweise ein formaler Vorurteilsbegriff den kritischen. ›Vorurteil‹ wird als ungeprüfte Vorannahme definiert; Meier, Abbt, Feder, Herder unterscheiden unentbehrliche von vermeidbaren Vorurteilen. Zur Relativierung eigener Standpunkte trugen wesentlich die Erkenntnistheorie, die vergleichende Anthropologie und das Geschichtsdenken bei. Erkenntnistheoretisch wurde die Abhängigkeit der Erfahrung vom Subjekt und seinem »Sehe-Punkt« (Chladenius) erkannt; die vergleichende Anthropologie und Reiseliteratur führt uns die Sitten und Moralvorstellungen fremder Völker, die in Halle und Göttingen entstehende Geschichtswissenschaft die Wertvorstellungen anderer Zeiten vor Augen: Vorurteile ändern sich im historischen Prozess. Liegt es da nicht nahe, das Vorurteil zu einem gewissen Grade zu rehabilitieren? Das passierte in der Tat. Auch der junge Lessing und Mendelssohn schalten sich in die Diskussion
Lasel 2007, S. 9–37; Godel, Rainer : Vorurteil – Anthropologie – Literatur. Der Vorurteilsdiskurs als Modus der Selbstaufklärung im 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2007. 2 Vgl. Beetz, Manfred: Transparent gemachte Vorurteile. Zur Analyse der praejudicia auctoritatis et praecipitantiae in der Frühaufklärung. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 3, 1983, S. 7–33, hier : S. 9, 15, 17–21.
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ein – Lessing mehr, als die neuere Forschung wahrhaben will.3 Das Thema begleitet ihn von seiner Jugend bis in die letzten Lebensjahre. Im Brief vom 30. Mai 1749 an den Pastorenvater schreibt der Zwanzigjährige: »Die Xstliche Religion ist kein Werk, das man von seinen Eltern auf Treu und Glaube annehmen soll. Die meisten erben sie zwar von ihnen […]«.4 Wie der junge Lessing unterschwellig aufbegehrt gegen die pastorale Familientradition – schon einer seiner Großväter war Pastor in Kamenz – geht er konform mit Beobachtungen der Frühaufklärung zur Vorurteilsprägung durch die Sozialisation.5 Noch in den Fragmenten eines Ungenannten publiziert Lessing Reimarus’ Überlegungen, »wie mächtig die Vorurteile der Kindheit und angeerbten Religion über die Menschen sind«. Jeder sähe in der Religion, in der er erzogen wurde, die beste und wahre, so dass ein jeder »bei der Religion seiner Voreltern bleibe, und ein jetziger eifriger Christ, eben ein so guter eifriger Türke und Jude würde gewesen sein, wenn er darin von gleichen Eltern auf solche Weise wäre erzogen worden.«6 Ähnlich wird Nathan in der Ringparabel gegenüber Saladin argumentieren – hier freilich nicht ohne Verständnis für das Fortschreiben von Traditionslinien und für die Vorurteile, die uns die eigene Biographie diktiert.7 In der Ringparabel argumentiert Nathan: Religionen stützen sich auf geschichtliche Offenbarungen, die auf Treu und Glauben angenommen werden müssen. Wessen Treu und Glauben zieht man »am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen, […] die von Kindheit an Proben ihrer Liebe uns gegeben […] Kann ich […] verlangen, dass du deine Vorfahren Lügen strafst?« Schon die Frühaufklärung entdeckte die kindliche Sozialisation als Herd von Vorurteilen. Der junge Lessing hat den Vater auch im Visier, wenn er 1749 in den Beiträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters »das Vorurteil wider das Theater, und wider die, die daran arbeiten«, geißelt (G III, S. 362). Das Motto für die Mehrzahl seiner Jugendkomödien, die bekanntlich verschiedene Vorurteilstypen mit ihren Vertretern dem Spott der Satire aussetzen, könnte eine literarische Betrachtung aus den Rettungen des Horaz abgeben. Sie nimmt ihrerseits den römischen 3 In Monika Ficks verdienstvollem Lessing-Handbuch fehlt im Sachregister das Lemma »Vorurteil«, obwohl die Verfasserin auf die Vorurteilsbehandlung Lessings zu sprechen kommt. Vgl. Fick, Monika: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. 2. Aufl. Stuttgart/Weimar : Metzler 2004. 4 Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe in 12 Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985ff. (im Folgenden zitiert mit B + römischer Bandzahl); Briefe von und an Lessing 1743–1770. Hrsg. von Helmuth Kiesel. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag 1987, B XI/1, S. 26. 5 Vgl. Beetz, Vorurteile. 1983, S. 18. 6 Lessing, Gotthold Ephraim: Werke. 8 Bde. Hrsg. von Herbert G. Göpfert. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970–1979 (im Folgenden zitiert mit G + römischer Bandzahl), G VII, S. 332, 369. 7 G II, S. 278.
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Klassiker und programmatischen Eklektiker vor dem Vorwurf der Unsittlichkeit und Religionslosigkeit in Schutz (G III, S. 619). Die ewige Weisheit, heißt es da, »erweckt von Zeit zu Zeit Leute, die sich ein Vergnügen daraus machen, den Vorurteilen die Stirne zu bieten, und alles in seiner wahren Gestalt zu zeigen, sollte auch ein vermeinter Heiliger dadurch zum Bösewichte, und ein vermeinter Bösewicht zum Heiligen werden« (G III, S. 592).
Wenn ein Autor Erwartungshorizonte seiner Zeitgenossen durchbricht, provoziert er nicht selten konservative Sittenwächter. Vermeintliche Bösewichte waren etwa Epikur, Cardano oder Spinoza, denen Bayle zum Teil ausführliche Ehrenrettungen in seinem Dictionnaire historique et critique gewidmet hatte.8 Lessing studierte es seit 1749 intensiv. Seine Gedanken über die Herrnhuter von 1750 richten sich gegen die Falschheit orthodoxer Vorurteile, mit denen man die Pietistengemeinde des Grafen Zinzendorf ausgrenzte.9 Lessings Absage an »unerforschliche« theologische Spekulationen und sein Plädoyer für ein tätiges Urchristentum lenkt nicht zufällig den Blick auf Sokrates und seine Ermahnung: »Törichte Sterbliche, was über euch ist, ist nicht für euch! Kehret den Blick in euch selbst! In euch sind die unerforschten Tiefen, worinnen ihr euch mit Nutzen verlieren könnt. Hier untersucht die geheimsten Winkel« (G III, S. 684). Introspektion und Selbsterkenntnis werden in der Vorurteilstheorie der Aufklärung als unumgängliche Voraussetzung angesehen, um die uns bestimmenden affektiven Triebkräfte und Werturteile bewusst zu machen, denn oft genug beruhen Vorurteile auf Selbsttäuschungen.10 In der Duplik wendet sich Lessing dem »Vorwurfe mutwilliger Verstockung« des Wolfenbütteler Superintendenten J. H. Reß zu (G VIII, S. 32): »Will es denn Eine Klasse von Leuten nie lernen, daß es schlechterdings nicht wahr ist, daß jemals ein Mensch wissendlich und vorsätzlich sich selbst verblendet habe? Es ist nicht wahr, […] weil es nicht möglich ist« (ebd.).
Zum Vorurteil gehört für Lessing nicht anders als für die zeitgenössische Vorurteilstheorie die Undurchsichtigkeit. Wenn ich eine eigene Auffassung als Vorurteil durchschaue, ist es schon keines mehr. Das anthropologische Wissen, dass eine »unendliche Menge dunkeler Vorstellungen« die Seele nach G. F. Meier 8 Bayle, Pierre: Historisches und kritisches Wörterbuch. Hrsg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, S. 91, 385. – Lessings akademischer Lehrer J. F. Christ verfaßte bereits eine knappe Rettung des Cardano, vgl. Schmidt, Erich: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften Bd. I. Hildesheim u. a.: Olms 1983, S. 45f. Zu Lessings Verteidigung Epikurs vgl. G V, S. 136f. 9 Vgl. Lessings Rezension eines theologischen Angriffs gegen die Herrnhuter in der Berlinischen privilegierten Zeitung 1751 (G III, S. 49f.). 10 Vgl. Beetz, Vorurteile. 1983, S. 21.
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und Sulzer regieren, erklärt die Widerständigkeit von Vorurteilen.11 Meier bezeichnet es als geradezu aussichtsloses Unterfangen, die eigene Verblendung zu erkennen.12 Lessings psychologische Vorstöße nähern sich sozialpsychologischen Einsichten der Moderne. Hass setzt nach Lessings Analyse (»Von dem Hasse«) 1. die Annahme einer deutlichen Diskrepanz zwischen mir und einem Gegner voraus. Diese wird 2. als Opposition von Vollkommenheit und Unvollkommenheit festgehalten. »Wir freuen uns folglich nicht über des Feindes Unvollkommenheit, sondern über unsere Vollkommenheit, die wir uns bei jener gedenken«.13 Ressentiments gegen andere beinhalten meist eine Selbstaufwertung. Auf sie hat Horkheimer hingewiesen.14 Indem ich eine Minorität ablehne, stelle ich mich über sie und brauche mich nicht weiter als besser zu beweisen. Mendelssohn drang 1783 in seiner psychologischen Analyse von Aggressionen zu Erkenntnissen vor, die der psychoanalytischen Sicht der autoritären Persönlichkeit nahekommen; ihr Stigma ist nach Adorno gerade Ich-Schwäche: Es gehört Nachsinnen dazu, wenn wir begreifen sollen, daß Haß und Rachsucht Neid und Grausamkeit, im Grunde nichts anders als Schwachheit, lediglich Wirkungen der Furcht sind. Furcht, mit zufälliger, unsicherer Ueberlegenheit verbunden, ist die Mutter aller dieser barbarischen Gesinnungen. […] Wer sich seiner Ueberlegenheit mit Sicherheit bewußt ist, findet weit größre Glückseligkeit in Nachsicht und Verzeihung.15
Gleichfalls im Einklang mit dem Vorurteilsdiskurs reflektiert Lessing die leichte Instrumentalisierbarkeit des Praejudizvorwurfs.16 Dessen Beliebigkeit nimmt er in der Rettung des Hier. Cardanus 1754 aufs Korn: »Es wäre ein Wunder, wenn ein so seltner Geist dem Verdachte der Atheisterei entgangen wäre. Hat man oft mehr gebraucht, ihn auf sich zu laden, als selbst zu denken und gebilligten Vorurteilen die Stirne zu bieten?« (G VII, S. 9).
Das Bemühen um Vorurteilslosigkeit fällt hier einem Vorurteil, dem notorischen Atheismusverdacht, zum Opfer. Ähnlich entlarvt Lessing in der Debatte um die Publikation der Fragmente eines Ungenannten das angebliche »Ärgernis« der Bibelkritik. Es sei »nichts als ein Popanz, mit dem gewisse Leute gern allen und jeden Geist der Prüfung verscheuchen möchten« (G VII, S. 494). Für Lessing und seinen dynamischen Wahrheitsbegriff ist damit ein neuralgischer Punkt an 11 Godel, Vorstellungen. 2002, S. 549, 553, 558–562. Mendelssohn, Moses: Vorrede zu Manasseh Ben Israels »Rettung der Juden«. In: Ders.: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Hrsg. von David Martyn. Bielefeld: Aisthesis 2001, S. 15. 12 Godel, Vorstellungen. 2002, S. 555. 13 Lessing, Gotthold Ephraim: Von dem Hasse. G VIII, S. 514f. 14 Beetz, Vorurteile. 1983, S. 19. 15 Mendelssohn, Jerusalem. 2001, S. 116. Zu Adorno vgl. Beetz, Vorurteile. 1983, S. 19. 16 Beetz, Vorurteile. 1983, S. 13. Godel, Vorurteil. 2007, S. 359.
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Vorurteilen getroffen: Sie stellen die dialektische Denkbewegung still, wiegen uns in einer falschen Zufriedenheit. Lessing pflegte nach Mendelssohns vertrauenswürdigem Bericht zu sagen: »Mit seichten Gründen behauptete Wahrheit ist Vorurtheil, nicht minder schädlich, als offenbarer Irrtum, und zuweilen noch schädlicher ; denn ein solches Vorurtheil führt zur Trägheit im Nachforschen und tötet den Untersuchungsgeist.«17
Genau dagegen revoltiert er in Wie die Alten den Tod gebildet (1769) mit einer temperamentvollen Verteidigung der Streitkultur. Sei es, dass die Wahrheit noch durch keinen Streit ermittelt wurde, »so hat dennoch die Wahrheit bei jedem Streite gewonnen. Der Streit hat den Geist der Prüfung genähret, hat Vorurteil und Ansehen in einer beständigen Erschütterung erhalten; kurz, hat die geschminkte Unwahrheit verhindert, sich an der Stelle der Wahrheit festzusetzen« (G VI, S. 407).
Vorurteil und Ansehen! Lessing kennt, konform mit der Typologie des aufklärerischen Vorurteilsdiskurses, nicht nur den negativen Vorurteilsbegriff – Vorurteil gegen etwas oder jemanden –, sondern auch den Begriff der positiven Voreingenommenheit für etwas oder jemanden. Zu letzteren zählen in der Tradition die Vorurteile der Autorität und Präzipitanz. Ersteres widerspricht der Maxime des Selbstdenkens. (Auf ihr besteht Lessing im 10. und 11. Literaturbrief gegenüber Wielands Plan einer Akademie zur Bildung von 1758. Lessing wendet sich gegen Wielands Idealisierung der antiken Bildung in einem pädagogischen Konzept, das »die Jugend nicht zum eigenen Nachdenken gewöhnet« (G V, S. 52f.). Die Voreingenommenheit aufgrund des Prestiges und Rufes, den sich ein Autor erworben hat, findet keine Gnade in Lessings Rezension von Holbergs Fabeln. Dem dänischen Autor haben einige gute Arbeiten, »das glückliche Vorurteil verschafft […], als ob alles, was aus ihrer beschäftigten Feder fließt, vortrefflich sein müße. Trotz diesem Vorurteile aber wagen wir zu sagen, daß seine Fabeln überhaupt erbärmlich […] sind« (G III, S. 57).
Das Autoritätsargument spielt auch in der theologischen Kontroverse mit Goeze eine Rolle. Lessings Position: Das Evangelium sollen wir aufgrund seiner inneren Wahrheit glauben, nicht wegen der Autorität der Evangelisten. Ebenso wenig glaubt man ein geometrisches Theorem, weil es von Euklid stammt:
17 Mendelssohn, Moses: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Begonnen von Ismar Elbogen u. a., fortgesetzt von Alexander Altmann und Eva J. Engel. Berlin: Akademie Verlag 1929–1932, Breslau 1938, Stuttgart: Frommann-Holzboog 1971ff. (im Folgenden zit. mit JubA + röm. Bandzahl) III/2, S. 132.
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»Daß es im Euklides steht, kann gegründetes Vorurteil für seine Wahrheit sein; so viel man will. Aber ein anders ist die Wahrheit aus Vorurteil glauben; und ein anders, sie um ihrer selbst willen glauben« (Axiomata X; G VIII, S. 151).
Neben dem praejudicium auctoritatis kennt Lessing auch das der praecipitantia. In seiner Abhandlung Von den lateinischen Trauerspielen […] des Seneca wirft er dem Jesuitenpater Brumoy »leichtsinnige Übereilung« bei dessen Kritik an Seneca vor (G IV, S. 85). Auch in Lessings Trauerspielen gelten das Unvernünftige und Böse als Produkte der Übereilung, der Hybris.18 Sowohl hinter ablehnenden Vorurteilen wie affirmativen Voreingenommenheiten steht in der Frühaufklärung ein gemeinsamer kritischer Vorurteilsbegriff. Er wird zur Jahrhundertmitte ergänzt durch einen neutralen Begriff des Vorurteils, der dessen Unumgänglichkeit einkalkuliert. Finden sich Spuren der Rehabilitierung des Vorurteils in Lessings Œuvre? Vor allem im Dialog mit Mendelssohn werden Lessing Grenzen des Vorurteilskritik bewusst. Bei der Lektüre von A. Fergusons Essay on the History of Civil Society (dt. 1768) überdenkt Lessing im Brief an Mendelssohn vom 9.1.1771 seine frühere Skepsis gegen geschichtsphilosophische Thesen und entdeckt beim Schotten wiederum Wahrheiten, die er »längst für keine Wahrheiten mehr gehalten. Doch ich besorge es nicht erst seit gestern, daß, indem ich gewisse Vorurteile weggeworfen, ich ein wenig zu viel mit weggeworfen habe, was ich werde wiederholen müssen« (B XI/2, S. 144f.).
Einen Monat später, am 9.2.1771, kündigt er Mendelssohn an, er werde einige ältere Vorurteile wieder aufnehmen.19 Mendelssohn schreibt 1784 im Andenken an seinen Freund Über die Frage: was heißt aufklären?: Wenn die Verbreitung von Wahrheiten »Grundsätze der Religion und Sittlichkeit« gefährdet, »so wird der tugendliebende Aufklärer mit Vorsicht und Behutsamkeit verfahren und lieber das Vorurteil dulden, als die mit ihm so fest verschlungene Wahrheit zugleich mit vertreiben.«20 Insofern Vorurteile die Plattform für Sittlichkeit und Geselligkeit bilden oder die Chance einer kulturellen Weiterentwicklung eröffnen, sind sie nach Mendelssohn unverzichtbar.21 Darum kann er folgern: »Die Bestimmung des Menschen überhaupt ist: die Vorurtheile nicht zu unterdrükken, sondern sie zu 18 Ter-Nedden, Gisbert: Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik. Stuttgart: Metzler 1986, S. 182. 19 JubA XII/2, S. 1f. 20 Bahr, Erhard (Hg.): Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Stuttgart: Reclam 1994, S. 7. 21 Albrecht, Mendelssohn. 1998, S. 303f.
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beleuchten«.22 Sie gehören für Mendelssohn zur conditio humana, insofern sie eng an Erziehung, Interessen, Lebensform, Weltbilder geknüpft sind, aus denen wir unsere Urteile speisen.23 Mendelssohn an Lavater 1770: Unsere Urteilskraft hängt von »vorgefaßten Meinungen und anerzogenen Grundsätzen [ab], daß zwey Menschen, wie Hr. L. und ich, die nach so entgegengesetzten Grundsätzen erzogen […] sind, in vielen Urtheilen und Meinungen ganz ungleich gestimt seyn müssen.« (JubA VII, S. 47).
In dieser Sicht seien Voltaire und Helv8tius zu weit gegangen; sie hätten durch ihre »Zügellosigkeit« der Aufklärung einen Bärendienst erwiesen: »Und so haben diese Herren Encyclopedisten so manches Vorurtheil gestärkt, indem sie die Wahrheit nicht verschonet haben, die einigen derselben anhängt.«24 Auch Lessing äußert sich in seinem letzten Lebensjahrzehnt eher moderat und behutsam gegenüber einer Abstempelung konfessioneller Frömmigkeitspraxis als abergläubisch und vorurteilsbasiert. Seinen Bruder Karl, der Anstoß an Emilia Galottis Religiosität genommen hatte, belehrt er mit rhetorischen Fragen: »Zeigt denn jede Beobachtung der äußerlichen Gebräuche einer positiven Religion von Aberglauben und schwachem Geiste? Wolltest Du wohl alle die ehrlichen Leute verachten, welche in die Messe gehen, und während der Messe ihre Andacht abwarten wollen, oder Heilige anrufen?« (G II, S. 706).
Ohne die epochale Leistung von Hugh Barr Nisbets glänzender Lessing-Biographie (2008) schmälern zu wollen, muss auch Kritik erlaubt sein. Nach dem englischen Germanisten trieb Lessing im Streit mit Goeze ein falsches Spiel und arbeitete mit »Winkelzügen«, indem er gegen Goeze auf katholischen Beistand spekulierte.25 Ich würde Lessings kryptokatholische Züge aus anderen Motiven ableiten: aus seiner Eigenständigkeit – auch gegenüber der protestantischen Orthodoxie. Sein Eklektizismus stellte sich über die Konfessionen und machte ihn auch für katholische Positionen empfänglich. Dass er mehr auf die moralische Praxis einer Religion gab als auf ihr Dogmengebäude, kann man als Berücksichtigung katholischer Werkgerechtigkeit lesen. Auch die Betonung der mündlichen Tradition für das Bibelverständnis wird von Lessing selbst als verwandt mit der katholischen Lehre betrachtet.26 Lessing scheut sich im Alter nicht, eigene Thesen – etwa zur Seelenwanderung – mit dem praejudicium auctoritatis zu stützen. Dass die alten Ägypter, 22 JubA VI/1, S. 141. 23 Vgl. JubA II, S. 205; JubA VII, S. 47. 24 Mendelssohn an Abbt, 16.2.1765, in: JubA XII/1, S. 74f. Mendelssohn, Jerusalem. 2001, S. 131: »Auch die Ohngötterey hat […] ihren Fanatismus.« 25 Nisbet, Hugh Barr : Lessing. Eine Biographie. München: Beck 2008, S. 743. 26 Ebd.
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Perser und Griechen an die Seelenwanderung glaubten, so heißt es im Nachlassfragment Daß mehr als fünf Sinne, »dieses muß ein gutes Vorurteil dafür wirken« (G VIII, S. 560).
2.
Vorurteilskritik im Freigeist und in den Juden
Dramen können sich die spezifische Leistungsfähigkeit des literarischen Diskurses gegenüber dem philosophischen Vorurteilsdiskurs zunutze machen. Sie bieten nicht nur die Chance, inhaltlich Vorurteile und ihre Auswirkungen zu diskutieren, sondern auch auf struktureller Ebene im Präsentationsmodus literarischer Verfahren, über Figurenzeichnung, Handlungsführung, Sympathiesteuerung, sich relativierende Dialogperspektiven und Ironie dem Rezipienten differenzierte Aufschlüsse über seine Vorlieben und Ressentiments, über Ambivalenzen moralischer Maximen und psychologische Motivationen zu vermitteln. Lessings Jugenddrama Die Juden kann man als irritierendes Beispiel dafür zitieren, dass Literatur sich nicht notwendig aus zweiter Hand Erkenntnisse der Philosophie und Sozialwissenschaft zu eigen macht, sondern durchaus in ihrem Medium eine Vorreiterrolle spielen kann. Sie greift gelegentlich – und hier haben wir einen solchen Fall – Fragestellungen und Probleme auf, die in der zeitgenössischen Philosophie und Anthropologie noch nicht auf der Agenda standen. Dass Lessing als Dramaturg gezielt Vorurteile des Publikums anvisierte, bekräftigt er im programmatischen 1. Stück der Hamburgischen Dramaturgie: Wenn sich der anspruchsvolle Dramatiker zum »Pöbel« herablässt, dann ausschließlich, »um ihn zu erleuchten und zu bessern, nicht aber ihn in seinen Vorurteilen […] zu bestärken« (G IV, S. 238f.). Lessing will den literarischen Erwartungshorizont einschließlich seiner moralischen Normen durchbrechen. Er will es an Provokationsmut und dramatischen Lösungen mit seinen Vorgängern aufnehmen. Im deutschen Drama des 18. Jahrhunderts werden schon vor Lessing religiöse Einstellungen und Vorurteile aufs Korn genommen. Die Gottschedin unternimmt es in ihrer Konfessionsatire der Pietisterey im Fischbein-Rocke (1736), das Erbauungstreiben pietistischer Konventikel in seiner Verblendung, Unduldsamkeit und Anmaßung zu entlarven. Der esoterische Mystizismus wird als Verschleierung materieller Interessen sprach- und ideologiekritisch enthüllt. Johann Christian Krügers frivole Standessatire Die Geistlichen auf dem Lande (1743) prangert in kompromissloser Schärfe die Heuchelei und Korruption protestantischer Geistlichkeit an, die sich abergläubischer Vorurteile zur Disziplinierung der Sexualität und zur Diffamierung philosophischer Vernunft bedient. In Gellerts sächsischer Typenkomödie
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Die Betschwester wird die Frömmelei der scheinheiligen Titelheldin ihrer Intoleranz und der Verbohrtheit ihrer Erziehungsmethodik überführt.
Der Freigeist Im Freigeist Lessings wird ein tugendhafter Libertin und Rationalist von seinen Vorurteilen gegenüber Geistlichen kuriert und in die Gesellschaft integriert. Die Komödie vermittelt polemische Standpunkte, indem sie Vorurteile relativiert, die in konträren Lagern verbreitet sind. Vorurteile – dies weiß der Dramatiker – beruhen oft genug auf Gegenseitigkeit. Wenn der Freigeist Adrast dem Theologen Theophan zu Beginn Scheinheiligkeit und Heuchelei unterstellt, so ist ihm gleichzeitig klar, dass er sich als Freigeist dem Verdacht der Sittenlosigkeit aussetzt (G I, S. 477). In der sozialen Interaktion können Vorurteile zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Im Freigeist etwa begegnet die Hauptfigur Adrast dem Theophan derart uneinsichtig mit einem notorischen Misstrauen, dass dieser am Ende verzweifelt ausruft: »Ich will mich bestreben, daß Sie den Theophan so finden sollen, als Sie ihn sich vorstellen.« (G I, S. 544). Der Freidenker Adrast demonstriert die von den Vorurteilstheoretikern beachtete Hartnäckigkeit von Vorurteilen mit exemplarischer Konsequenz. Selbst als der Bankier Theophans noble Bürgschaft dem Adrast eröffnet, bleibt er seinen Vorurteilen treu (G I, S. 541f.). Eine derart großzügige Noblesse vermag der Freigeist einem Theologen schlicht nicht zuzutrauen (G I, S. 543). Gerade Freigeistern, die glauben, die Aufklärung gepachtet zu haben, schreibt Lessing eigene Voreingenommenheiten zu und trifft sie so in ihrer Selbstwahrnehmung. Doch entscheidend bleibt die doppelseitige Stoßrichtung der Argumentation: Mit dem verbreiteten Vorurteil, dass Moralität ohne Offenbarungsreligion kein tragfähiges Fundament hat, räumt das Stück ebenso auf wie mit der notorischen Verdächtigung der Frömmigkeit als Unehrlichkeit oder Selbsttäuschung. Im Entwurf lautet Adrasts provokante Charakterisierung: »ohne Religion, aber voller tugendhafter Gesinnungen« (B I, S. 348). (Die Aktualität der zeitgenössischen Debatte um Freigeisterei bezeugen die 1749 anonym in Leipzig erschienene Schrift Der wider die Freygeister verteidigte geistliche Stand oder ein Beitrag in Mylius’ Wochenschrift Der Wahrsager vom 6.2.1749, der eine engere und weitere Begriffsverwendung von »Freigeist« differenziert (B I, S. 1132–1140).27) 27 Die Begriffsextension von ›Freigeist‹ im weiteren Sinn umfasst »Naturalisten, Atheisten« und ›Freigeister‹ im engeren Sinn, d. h. »practische Atheisten«, »welche so leben wie das Vieh, und ihre Vernunft so wenig brauchen, als ob sie keine hätten«. Lessings Freigeist fällt demnach nicht unter den Begriff sensu stricto, sondern sensu lato zu den »Naturalisten« oder
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Die Forschung hat anhand des Handlungsverlaufs der »Liebe über Kreuz« überzeugend Lessings anthropologische Lösung verhärteter Extrempositionen erläutert.28 Die zwei Geschlechterpaare finden sich nach dem Prinzip der Komplementarität von Kopf und Herz, so dass am Ende jedes Paar einen »ganzen Menschen« ausmacht. »Der ganze Mensch« muss in seiner leibseelischen Einheit betrachtet werden, um seine Natur zu erkennen, die uns Aufschlüsse über seine Einstellungen, seine Vorurteile gibt.29 In der Doppelhochzeit des Komödienschlusses verbinden sich Liebeshandlung und Religionsthematik über den Zusammenhang von Erkennen und Fühlen. Die Viererkonstellation unterläuft feministische Vorurteile, da die Geschlechterpositionen gegensätzlich besetzt werden: ›männlich‹ ist nicht auf ›Verstand‹ und ›weiblich‹ auf Gefühl festgelegt. Die wahre Aufklärung des Verstandes verläuft bei beiden Paaren synchron mit der Entdeckung der jeweiligen wahren Herzensbedürfnisse. In seinem verstockten Rationalismus charakterisiert sich der Deist Adrast bereits zu Beginn, wenn er ›argumentiert‹: »Ich weiß, was ich weiß« (G I, S. 477). Adrast decouvriert unfreiwillig die zirkuläre Struktur von Vorurteilen, wenn er tautologisch auf seinem Wissen vom Wissen insistiert. Ähnlich ironisiert im Misogynen der verkleidete Lelio die Argumentationsevidenz des Weiberfeindes. »Einem Manne, der es mit drei Weibern versucht hat, kann man es doch wohl endlich glauben, daß die Weiber insgesamt – insgesamt Weiber sind« (G I, S. 430). Tautologisch formulierte Vorurteile begründen als analytische Urteile sich selbst. Die tautologische Begründung im Freigeist demonstriert nicht nur die Verbohrtheit seines Vorurteils, sondern in der Verkehrung der sokratischen Selbsterkenntnis gerade deren Defizit. Als intellektueller Aufklärer misstraut Adrast Gefühlen. Als Theophan ihm am Ende die Augen öffnet über Julianes Herz, gerät der aufgewühlte Freigeist in starke Turbulenzen. Er weiß: »Es ist eine menschliche Schwachheit, sich dasjenige leicht überreden zu lassen, was man heftig wünscht« (G I, S. 546). Die Logikautoren Johann F. Schneider und Johann Jakob Syrbius konstatierten Anfang des 18. Jahrhunderts in ihren lateinischen Vernunftlehren die Tendenz zur Übereilung, wenn eine Auffassung der von uns gehätschelten Lieblingsvorstellung entspricht.30 Nicht anders wird Georg F. Meier in seinen Beyträgen zu der Lehre von den Vorurtheilen (1766) die Bedeutung des Wunschdenkens herausstellen: »Was das Herz wünscht, glaubt der Verstand, aber aus Uebereilung«.31
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»theoretischen Atheisten«, denen Natur und Vernunft die Richtschnur vorgeben und die »keines lasterhaftigen Wandels beschuldigt werden können« (B I, S. 1134f.). Böckmann, Paul: Formgeschichte der deutschen Dichtung. Hamburg: Hoffmann & Campe 1967, S. 533f.; Fick, Lessing-Handbuch. 2004, S. 69–72. Godel, Vorurteil. 2007 , S. 94ff. Beetz, Vorurteile. 1983, S. 16. Meier, Georg Friedrich: Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen
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Wenn Lessing seinen Freigeist räsonieren lässt: »Man lasse daher dem Pöbel seine Irrtümer ; man lasse sie ihm weil sie ein Grund seines Glückes und die Stütze des Staates sind […] Ihm die Religion nehmen, heißt ein wildes Pferd auf der fetten Weide los binden« (G I, S. 527f.),
erweist er sich auf der Höhe des Diskussionsstandes seiner Zeit, ja er nimmt die berühmte Preisfrage der Preußischen Akademie von 1780 vorweg. Mit seinem elitären Anspruch vertritt der Freigeist Maximen Voltaires und Friedrichs II., wie dieser sie in jungen Jahren brieflich dem Philosophen gegenüber äußerte.32 Die Frage der »Vorurteile, die Ehrerbietung verdienen«, stellte im Rahmen der Debatte um Volksaufklärung die Patriotische Gesellschaft in Bern in den 60er Jahren.33 In scharfer politischer Zuspitzung erfuhr sie ihre Formulierung im wesentlichen durch Friedrichs II. Vorschlag »Peut-il etre utile au peuple de le tromper?«34 (»Nützt es dem Volke betrogen zu werden?«). Die politische Fragestellung erzielte Anfang der 80er Jahre eine enorme Resonanz in der akademischen Welt mit über 40 Einsendungen.35 In Lessings Liebesdialog von IV/3 gesteht Adrast am Beginn einer Debatte um wahre, bzw. »verhältnismäßige« Aufklärung, dabei ging es um die Begrenzung des Herrschafts-Wissens, Religion als Zierde auch dem schönen Geschlecht zu, dessen fromme Vertreterin Juliane sich dafür bedankt und ihn mit zugleich christlichen und aufklärerischen Argumenten zurechtweist: »Religion ist ein Zierde für alle Menschen« – genauso wie die Wahrheit für alle sei und nicht nur für den esoterischen Zirkel einer intellektuellen Avantgarde (G I, S. 527f.).36 Durch den Handlungsverlauf und in der Wahl seiner Partnerin erfährt Adrast, dass Liebe an Achtung und sittlichen Respekt geknüpft ist. Der aufgeklärte Theologe wiederum entdeckt an der Attraktivität der schnippischen Henriette,
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Geschlechts. Halle 1766, S. 54. Ders.: Philosophische Sittenlehre. 5 Theile. Halle 1753–1761, IV (1758), S. 382. Vgl. Godel, Rainer : Georg Friedrich Meiers formaler Vorurteilsbegriff zwischen Universitätsphilosophie und Moralischen Wochenschriften. Erscheint in: Archiv für Begriffsgeschichte 49, 2007, S. 99–129. Fink, Gonthier-Louis: Nationalcharakter und nationale Vorurteile bei Lessing. In: Nation und Gelehrtenrepublik. Lessing im europäischen Zusammenhang. Hrsg. von Wilfried Barner und Albert M. Reh. München: Edition Text+Kritik 1984, S. 91–119, hier : S. 101. Adler, Aufklärung. 2002, S. 669f. Adler, Aufklärung. 2002, S. 671. Godel, Vorurteil. 2007, S. 149ff. Ebd., S. 668f. Ebd. S. 670. Adler, Hans (Hg.): »Nützt es dem Volke, betrogen zu werden? Est-il utile au Peuple d’Þtre tromp8?« Die Preisfrage der Preußischen Akademie für 1780. Stuttgart: Frommann-Holzboog 2007. Sauder, Gerhard: »Verhältnismäßige Aufklärung«. Zur bürgerlichen Ideologie am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 9, 1974, S. 102–126. Schneiders, Aufklärung. 1983, S. 241.
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wie existentiell die sinnliche Erfüllung der Liebe gegenüber einer blassen Tugendverehrung den Menschen betrifft.
Die Juden Lessings Jugenddrama Die Juden hat unter dem Vorurteilsaspekt die Aufmerksamkeit namhafter Lessingkenner auf sich gezogen.37 Karl S. Guthkes und Wilfried Barners Beiträge können als überzeugende »Rettungen« der Eigenständigkeit des Jugenddramas gegenüber dem erdrückenden Nathan eingestuft werden. Freudenthals, Freunds, Nisbets kenntnisreiche Untersuchungen erhellen die soziale Relevanz der antisemitischen Vorurteile im Stück oder verfolgen Lessings Vorstöße für die Emanzipation der Juden. Aber keiner der fünf genannten Wissenschaftler geht anhand der Juden auf Zusammenhänge des Dramas mit der Vorurteilstheorie und -diskussion im 18. Jahrhundert ein. Im Rückblick von 1754, in der Vorrede zum 3. und 4. Teil von G. E. Lessings Schriften, berichtet der inzwischen Fünfundzwanzigjährige von der Entstehung des Lustspiels 1749: »Es war das Resultat einer sehr ernsthaften Betrachtung über die schimpfliche Unterdrückung, in welcher ein Volk seufzen muß, das ein Christ, sollte ich meinen, nicht ohne eine Art von Ehrerbietung betrachten kann. Aus ihm, dachte ich, sind ehedem so viel Helden und Propheten aufgestanden, und jetzo zweifelt man, ob ein ehrlicher Mann unter ihm anzutreffen sei?« (G III, S. 524f.)
Aus einer großen »Lust am Theater« erwuchs der Wunsch zu testen, »was es für eine Wirkung auf der Bühne haben werde, wenn man dem Volke die Tugend da zeigte, wo es sie ganz und gar nicht vermutet« (ebd.). Angestrebt ist mit dem Experiment eine Provokation des christlichen Publikums. Doch Lessing will weniger den lauten, vordergründigen Skandal als den christlichen Zuschauer zur Überprüfung eigener Ressentiments anregen. Die Analyse eines sozial differenzierten Antisemitismus, der trotz schichten37 Vgl. Guthke, Karl S.: Lessing und das Judentum. Rezeption. Dramatik und Kritik. KryptoSpinozismus. In: Judentum im Zeitalter der Aufklärung. Hrsg. vom Vorstand der LessingAkademie. Bremen/Wolfenbüttel: Jacobi 1977, S. 229–271. Barner, Wilfried: Lessings Die Juden im Zusammenhang seines Frühwerks. In: Humanität und Dialog. Lessing und Mendelssohn in neuer Sicht. Hrsg. von Ehrhard Bahr, Edward P. Harris und Laurence G. Lyon. Detroit: Wayne State UP 1982, S. 189–209. Ders.: Vorurteil, Empirie, Rettung. Der junge Lessing und die Juden. In: Bulletin des Leo-Baeck-Intitutes 1984, H. 69, S. 29–51. Fink, Nationalcharakter. 1984, bezieht sich allerdings in erster Linie auf Lessings Stellungnahmen zur kulturellen Dominanz Frankreichs vor Deutschland. Freund, Gerhard: Erkenntliche Wahrheit. Anregungen Lessings zum Dialog zwischen Christen und Juden. In: Lessing und die Toleranz. Hrsg. von Peter Freimark, Franklin Kopitzsch und Helga Slessarev. Detroit: Wayne UP1986, S. 131–145.
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spezifischer Unterschiede zwischen der Bedientenebene und der Herrschaft auf das nämliche Grundmuster hinausläuft,38 führt die Dramenhandlung durch Anschauung vor. Vor den kriminellen falschen Juden wird der Baron von einem wahren Juden gerettet. Stereotypen verkehren sich: Der gebildete Jude handelt »christlich«, die Christen »jüdisch«. Nicht nur Maskeraden werden entlarvt, sondern auch Vorurteile. Die Satire richtet sich in erster Linie gegen die Nebenfiguren, die Hauptfigur des Reisenden wird keineswegs lächerlich gemacht. Nisbet resümiert: »Der Fremde ist das Opfer, nicht der Vertreter des Vorurteils«.39 Seine Haltlosigkeit erweist die Handlungsführung. Sie macht im illusionslosen Schluss bewusst, dass soziale Diskriminierung und juristische Präjudizien in christlicher Apartheidspolitik sich als machtvoller erweisen als die verdiente Anerkennung und Zuneigung, die ein einzelner Jude erfährt. Warum wählt Lessing für die Diskussion eines ernsten gesellschaftlichen Problems die Komödienform? Hans Mayer hat 1973 an ihr Anstoß genommen.40 Sie verfehle, indem sie einen assimilierten Juden als Philanthropen feiere, die eigentlichen Intentionen des echten Judentums und gebe die jüdische Identität preis. Der Schluss demonstriere am Ausnahmeverhalten des betuchten Außenseiters dessen Integrationsmöglichkeit in die Gemeinschaft.41 Mayer verwechselt offensichtlich die Perspektive der Baron-Figur mit der des Stücks. Letzteres besteht gerade auf der realen Desintegrierbarkeit der Juden. Der »psychologische Irrealis des Vorurteils« im Ausruf des Barons (»O wie achtungswürdig wären die Juden, wenn sie alle Ihnen glichen!« G I, S. 414) besagt nach Guthkes treffender Analyse eine Anerkennung der Integration – unter der unmöglichen Prämisse, dass alle Juden sich als barmherzige Samariter erwiesen.42 Die Lust an der Durchbrechung zeitgenössischer Denkmuster und Normen setzt auf eine Publikumsdramaturgie, in der Lachen als Befreiung von Einstellungszwängen erfahren werden kann. Dem Verlachen werden in Lessings Lustspiel nicht die Juden, sondern allenfalls die falschen Christen ausgesetzt, die 38 Barner, Die Juden. 1982, S. 198. 39 Nisbet, Lessing. 2008, S. 98. 40 Mayer, Hans: Der weise Nathan und der Räuber Spigelberg. In: JDSG 17, 1973, S. 253ff.. Ders.: Außenseiter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 333. Lessings Lustspiel zeuge von »einem profunden Mißverstehen der Judenfrage als eines Zentralthemas […] der Aufklärung«. Das unangebrachte Schema der »Typenkomödie mit ihrem Klischee der Verlachung von Vorurteilen« führe Lessing an die Grenzen der bürgerlichen Aufklärung (ebd., S. 335f.). Guthke, der schon 1971 Vorurteile als zentrales Problem von Lessings Freigeist und den Juden ausmachte, bewertet Lessings Versuch, »Lustspiel und Problemstück einander anzunähern« noch weit weniger geglückt als in der ›Minna von Barnhelm‹ (G II, S. 634). Im späteren Beitrag von 1977 (wie Anm. 36), revidiert er de facto sein Urteil. 41 Mayer, Außenseiter. 2007, S. 334. 42 Guthke, Judentum. 1977, S. 243.
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dummdreist Juden spielen, um ihre christliche Kriminalität zu tarnen, und so antisemitische Vorurteile bestätigen können. Dass Lessings Stück selbst für aufgeklärte Zeitgenossen noch genügend Sprengstoff bot, zeigt Johann David Michaelis’ kritische Rezension (G I, S. 415f.). Der von Lessings Stück provozierte Orientalist greift die deutliche Sympathiesteuerung für den Juden an, der »in allen Stücken so vollkommen gut, so edelmütig, so besorgt, […] gebildet [ist], daß es […] allzu unwahrscheinlich ist, daß unter einem Volke von den Grundsätzen, Lebensart und Erziehung, das wirklich die üble Begegnung der Christen […] mit Feindschaft oder wenigstens mit Kaltsinnigkeit gegen die Christen erfüllen muß, ein solches edles Gemüt sich gleichsam selbst bilden könne« (G I, S. 415f.).
Der Aufklärer Michaelis erkennt durchaus die Verhaltenskonditionierung der Juden aufgrund ihrer bitteren Erfahrungen mit einem unchristlichen Christentum an und führt »Grundsätze, Lebensart und Erziehung« ins Feld, die Voreingenommenheiten präformieren. Aus der kaufmännischen Lebensform leitet er den berufsbedingten Hang zum Betrug ab.43 Untersucht wird im Vorurteilsdiskurs der Aufklärung in der Tat der erwähnte Zusammenhang von Lebensform und Vorurteil. Erziehung, Umgang und Lebensform hatten Thomasius, Budde, Klemm schon in ihren frühaufklärerischen Vernunftlehren als Quellen von Vorurteilen namhaft gemacht.44 G. F. Meier, Sucro, Thomas Abbt, Garve, Thümmel, erkennen später den engen Konnex von Gesellschaftsstruktur und sozial geprägtem Denken und Verhalten.45 Ähnlich hängen nach Mendelssohn, der nur zu gut weiß, dass er als Jude auch nach Vorurteilen erzogen wurde, ideologische Vorurteile von manifesten Interessen ab, insofern sie »Lebensart, Glückseligkeit und Meynungen« betreffen.46 An dieser grundlegenden aufklärerischen Position rüttelt auch Lessing nicht. In seiner Antwort auf Michaelis’ Rezension differenziert er zwei Einwände, deren Entkräftung im Grunde auf die gleiche Argumentationslinie hinausläuft: 1. Dass »ein rechtschaffener und edler Jude« eine Unwahrscheinlichkeit darstelle; Lessing widerlegt dies durch das angefügte Antwortschreiben von Moses Mendelssohn.47 Den eingeräumten Seltenheitswert einer solchen Figur, wie er im übrigen auch für das Christentum gelte, begründet Lessing mit sozialen Verhältnissen und der Diskriminierung durch Christen: »die Verachtung und Unterdrückung, in welcher dieses Volk seufzet, und die Notwendigkeit […], bloß 43 G I, S. 415f. 44 Vgl. Beetz, Vorurteile. 1983, S. 18. 45 Schneiders, Aufklärung. 1983, S. 213, 220, 238. Beetz, Aporien. 2006, S. 16–19. Godel, Vorurteil. 2007, S. 127ff., 149ff. 46 JubA II, S. 205. Albrecht, Mendelssohn. 1998, S. 300. 47 Vgl. Lessings Brief an Michaelis vom 16.10.1754. In: G II, S. 646.
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und allein von der Handlung (d. h. dem Handel) zu leben«, erklären, warum edle Juden selten in Erscheinung treten (G I, S. 416). Hier greift der junge Autor eine Anregung Gellerts auf, der nicht nur einen vorbildlichen polnischen Juden in seinem Leben der schwedischen Gräfin von G*** präsentiert, sondern bereits die wechselseitige Konditionierung von christlichen und jüdischen Verhaltensmustern analysiert.48 Einerseits erkennt Lessing wie sein gelehrter Opponent die den Juden auferzwungene Lebensform als verhaltensdeterminierend, andererseits betont das eingerückte Briefzeugnis Mendelssohns gegenüber Michaelis, dass Tugend weder an Stand noch Nation gebunden sei, ja selbst bei sozialer Diskriminierung sich behaupten könne. Anders als der Göttinger Theologe und Hermeneutiker bescheidet sich Lessing nicht mit resignativen Klagen darüber, sondern appelliert mit der Folgerung, »daß die Unwahrscheinlichkeit wegfalle, so bald diese Umstände sie zu verursachen aufhören«, für eine Aufhebung der sozialen Repressionen (G I, S. 416f.). Lessing ermunterte den Berliner Juden Aaron Salomon Gumpertz zu einer Denkschrift für die Emanzipation der Juden und rezensierte selbst die anonym erschienene Schrift.49 Vorurteile gegen Juden haben sich in Reglements wie in Pogromen niedergeschlagen.50 In seiner Rettung des Cardanus geht Lessing darauf ein, dass »ein Jude nicht höher geschätzt [wird], als der verworfenste Hund: er wird verspottet, verfolgt, geschlagen, geplündert, ermordet, in die Sklaverei gestoßen, durch die gewaltsamsten Schändungen gemißhandelt, und mit den unsaubersten Arbeiten gemartert, so daß er von einem Tiger, dem man die Jungen geraubet, nicht so viel auszustehen haben würde« (G VII, S. 12).
2. Das zweite Problem sieht Lessing in seinem Theaterjuden, der als reisender Philanthrop dramaturgisch unwahrscheinlich ausfalle. Lessings Erwiderung beruft sich gleichfalls auf die genaue Berücksichtigung der Umstände: Gerade weil er deren habituelle Prägungen durch Lebensform und soziale Situation ernstnehme, habe er seinem Reisenden Wohlhabenheit und Bildungsinteresse verliehen, damit er der Verachtung der Christen weniger als ein jüdischer Hausierer oder Trödler ausgesetzt sei: 48 Gellert, Christian Fürchtegott: Leben der schwedischen Gräfin von G***. Hrsg. von JörgUlrich Fechner. Stuttgart: Reclam 1968, S. 114f.: »Der rechtschaffene Mann! Vielleicht würden viele von diesem Volke beßre Herzen haben, wenn wir sie nicht durch Verachtung und listige Gewalttätigkeiten niederträchtig und betrügerisch in ihren Handlungen machten […]«. Vgl. Kopitzsch, Franklin: Lessing und seine Zeitgenossen im Spannungsfeld von Toleranz und Intoleranz. In: Deutsche Aufklärung und Judenemanzipation. Hrsg. von Walter Grab. Tel-Aviv: Universität 1980 (= Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte, Beiheft 3), S. 37. 49 Nisbet, Lessing. 2008, S. 95. 50 Vgl. Kopitzsch, Zeitgenossen. 1980, S. 33–38, 43. Guthke, Judentum. 1977, S. 242. Trepp, Leo: Geschichte der deutschen Juden. Stuttgart: Kohlhammer 1996, S. 78f.
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»Besteht man aber darauf, daß Reichtum, bessere Erfahrung, und ein aufgeklärterer Verstand nur bei einem Juden keine Wirkung haben könnten: so muß ich sagen, daß dieses eben das Vorurteil ist, welches ich durch mein Lustspiel zu schwächen gesucht habe; ein Vorurteil, das nur aus Stolz oder Haß fließen kann, und die Juden nicht bloß zu rohen Menschen macht, sondern sie in der Tat weit unter die Menschheit setzt.« (G I, S. 417).
Vor diesem Textbefund schloss sich Gert Ueding 1978 Mayers umstrittener These an, dass nach Lessing Besitz und Bildung die Grundlage für eine Emanzipation der Juden abgeben.51 In ihren menschlichen Reaktionsweisen auf Lebensumstände und soziale Bedingungen unterscheiden sich Juden nicht von Christen, sondern gegebenenfalls Juden von Juden. In seinem Revidierten General-Privilegium und Reglement für die Judenschaft im Königreich Preußen von 1750 differenziert Friedrich II. sechs absteigende Klassen von Juden, die von der schmalen Schicht der Generalprivilegierten über die ordentlichen und außerordentlichen Schutzjuden, über publique Bedienstete, bloße »Tolerierte« bis hinab zu den Privatdienstboten reichte. Sie waren nach Status und Rechten klar unterschieden.52 Ein reicher gebildeter Schutzjude besitzt nach Lessing Privilegien, die ihn vom »lüderlichen Gesindel« der Vaganten wünschenswert unterscheiden und für eine edle Denkungsart und Handlungsweise prädisponieren können (G I, S. 418). Wie Thomasius, für den Lessing sein Leipziger Lehrer Johann Friedrich Christ erwärmte, hatte auch Gellert die Eigenliebe als eine Hauptwurzel von Vorurteilen ermittelt.53 Die Abwertung des Fremden kommt der Aufwertung der In-Group zustatten, ohne dass noch besondere Anstrengungen für sie zu erbringen wären. Mendelssohn analysiert dies in seinem von Lessing veröffentlichten Brief an Gumpertz: Theologen »denken der christlichen Religion einen großen Vorschub zu tun, wenn sie alle Menschen, die keine Christen sind, für Meichelmörder und Straßenräuber erklären« (G I, S. 420). Was Lessings Stück selbst betrifft, so deutet der generische Plural des Titels an, dass an dem, was dem einzigen Vertreter des Judentums auf der Bühne widerfährt, kollektive Vorurteile aufgezeigt werden. »Die Juden« darf das Lustspiel heißen, weil es um keinen Einzelfall geht, sondern um nationale und religiöse Vorurteile. Bezogen auf den spezifischen Handlungsplot stellt der Titel eine ironische Verallgemeinerung dar: Die im Stück aktiven Juden sind gar keine. Somit zitiert der Titel bereits Vorurteile. Als ihre zentralen Charakteristika werden in einem Dialog 51 Ueding, Gert (Hg.): Materialien zu Hans Mayers »Außenseiter«. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978, S. 18, 35. 52 Trepp, Geschichte. 1996, S. 78f. 53 Zu Thomasius vgl. G V, S. 760. Beetz, Aporien. 2006, S. 14. Zu Christ vgl. Schmidt, Lessing. 1983, Bd. I, S. 45.
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zwischen einem Christen und einem in seiner Identität noch unausgewiesenen Juden ungeprüfte Generalisierungen und eine brüchige, oft zirkuläre Begründungsstruktur bloßgelegt.54 Der Reisende bleibt höflich, auch nachdem er ausführliche Expektorationen mit ethnologischen und physiognomischen Verallgemeinerungen über sein Volk hinnehmen musste: »Ich bin kein Freund allgemeiner Urteile über ganze Völker […]. Ich sollte glauben, daß es unter allen Nationen gute und böse Seelen geben könne.« (G I, S. 389). Lessings vorrangige Intention war es weniger, sich als Philosemit in der Öffentlichkeit einen Namen zu machen; viel entschiedener strebte er einen Bewusstseinswandel des christlichen Publikums an.55 Es ging Lessing nicht um eine pauschale Idealisierung der Vertreter einer unterdrückten Minorität, sondern um eine kritische, gerechte Betrachtung des typischen Einzelfalls. Am Ende des Lustspiels Die Juden, nachdem der Reisende sich selbst als Jude geoutet hat, bittet er den überraschten Gesprächspartner, »daß Sie künftig von meinem Volke etwas gelinder und weniger allgemein urteilen« (G I, S. 413). Seine Bescheidenheit sticht angenehm von der Arroganz der Christen ab. Lessing stellt im Sinn der Ästhetik des 18. Jahrhunderts schon in seinen frühen Typenkomödien nicht nur Typen dar, sondern bemühte sich um eine individualisierende und differenzierte Einschätzung wichtiger Figuren. Deshalb ist sein reisender Jude skizzenhaft als individuelle Gestalt gezeichnet.56 Die Unterschiede zwischen den Individuen eines Volkes sind sprechender als die zwischen den Völkern.57 Lessing führt beides vor : am reisenden Juden eine angemessene Wachsamkeit gegenüber sich aufdrängenden, möglicherweise übereilten Schlüssen und am christlichen Baron das typische Vorurteilen-Aufsitzen. Als die wichtigsten Typen der praejudicia galten Thomasius die Vorurteile der Übereilung und der Autorität. Letzteres resultiert aus einer allzu großen Verehrung für andere, ersteres basiert auf zu großem Selbstvertrauen und der Eigenliebe. In Lessings Juden sucht der Reisende vorbildlich, sich gerade vor dem Vorurteil der Übereilung zu hüten. Als handfeste Indizien – ein falscher Bart beim Vogt mit dem sprechenden Namen »Krumm« – auftauchen, ermahnt sich der Reisende selbst zur behutsamen Prüfung des Verdachtsmoments (G I, S. 405). Mehrfach kontrolliert er sich, um nicht »übereilt« zu schließen (G I, S. 406, 409–411). Er möchte keine Vorverurteilung des Vogts: »In der Tat ist es nichts Geringes, einem Herrn seine Untergebnen so verdächtig zu machen.« (G I, S. 407). Zurückhaltung des Urteils im Sinn einer sorgfältigen Prüfung hatte schon die 54 55 56 57
Barner, Die Juden. 1982, S. 194. Vgl. Barner, Vorurteil. 1984, S. 35. Nisbet, Lessing. 2008, S. 98. Fink, Nationalcharakter. 1984, S. 102f.
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Frühaufklärung empfohlen. Das Rezept steht in einer bis auf die Stoa zurückreichenden Tradition. Man verweigert die Epoch8, die Entscheidung zur Zustimmung eines Urteils, um ein unüberlegtes zu vermeiden.58 Als Gegenbeispiel demonstriert Lessing eine fadenscheinige Beweisführung, in der singuläre Erfahrungen, ungeprüfte Gerüchte und eigene Voreingenommenheiten sich zirkulär zu massiven Vorurteilen verdichten, im 6. Auftritt am Gesprächsbeitrag des Barons. Dieser beteuert gegenüber dem Reisenden, dass ihn »wirkliche Juden« angefallen haben. Der Schulze habe »vor einigen Tagen ihrer drei auf der Landstraße angetroffen. Wie er sie mir beschreibt haben sie Spitzbuben ähnlicher, als ehrlichen Leuten, gesehen. Und warum sollte ich auch daran zweifeln? Ein Volk, das auf den Gewinst so erpicht ist, fragt wenig darnach, ob es ihn mit Recht oder Unrecht, mit List oder Gewaltsamkeit erhält – Es scheinet auch zur Handelschaft, oder deutsch zu reden, zur Betrügerei gemacht zu sein« (G I, S. 388).
Vorurteile gelten in der Tradition als ungeprüfte Annahmen oder Einstellungen, aus denen sich Verhaltenskonsequenzen ergeben. Zu einer vorsichtigeren Einschätzung der Beweislage und zum Zweifel an der Täterkategorisierung hätte der Baron allen Grund. Er übernimmt vom Schulzen die Vermutung, dass die Gesehenen überhaupt Juden waren, sowie die eingefärbte Beschreibung, dass sie Spitzbubengesichter hatten. Ebenso wenig stört den Baron, dass es dem Schulzen zufolge drei Vaganten und nicht nur zwei waren und dass sie vor einigen Tagen gesehen wurden. Erhärtet werden generelle Aussagen durch ein einziges Exempel: »Die Juden haben mir sonst schon nicht wenig Schaden und Verdruß gemacht«. Dass ein Jude vom Baron die zweimalige Bezahlung eines unterschriebenen Wechsels erzwang, reicht diesem für die generelle und gnadenlose Verurteilung: »es sind die allerboshaftesten, niederträchtigsten Leute« (G I, S. 388). Die singuläre Erfahrung erlaubt dem Ressentimentgeladenen unter Missachtung jeder erkenntnistheoretischen Reflexion die induktive Generalisierung. Lessing führt im nämlichen Auftritt der Juden vor, wie Ressentiments unsere Wahrnehmung beeinflussen: »DER BARON. Und ist es nicht wahr, ihre Gesichtsbildung hat gleich etwas, das uns wider sie einnimmt? Das Tückische, das Ungewissenhafte, das Eigennützige, Betrug und Meineid, sollte man sehr deutlich aus ihren Augen zu lesen glauben – Aber, warum kehren Sie sich von mir? DER REISENDE. Wie ich höre, mein Herr, so sind Sie ein großer Kenner der Physiognomie; und ich besorge, daß die meinige – DER BARON. O! Sie kränken mich. […] Ohne ein Kenner der Physiognomie zu sein, muß ich Ihnen sagen, daß ich nie eine so aufrichtige, großmütige und gefällige Miene gefunden habe, als die Ihrige.« (G I, S. 388) 58 Beetz, Vorurteile. 1983, S. 17, 21f.
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Lessing schneidet eine Diskussion über Physiognomik an, die im späteren Verlauf des 18. Jahrhunderts – etwa 1777/78 zwischen Lavater und Lichtenberg – an Brisanz gewann. Die physiognomische Vorurteilsstruktur wird an der Beobachtung selektiver Wahrnehmung verdeutlicht. Die semitische Gesichtsbildung wirkt auf den Antisemiten abstoßend, er liest – darin ein Vorgänger von Julius Streicher – den Augen Verschlagenheit ab. Lessing macht deutlich, wie sehr die körpersprachliche Interpretation eine Projektion darstellt. Solange der Blick des Barons unbefangen bleibt und er noch nicht ahnt, dass sein Gesprächspartner Jude ist, kann er an ihm keinerlei semitische Merkmale feststellen.59 Die überraschende Enthüllungspointe des Reisenden setzt für ihr Gelingen zum einen voraus, dass es sich um einen assimilierten Juden handelt,60 sie erhellt schlaglichtartig zum andern, dass hier von verschiedenen Rassen gar nicht mehr die Rede sein kann. Vom manipulierbaren Äußeren – das erweisen die Theaterrequisiten der jüdischen Bärte – wie von der erworbenen Pathognomik – der Baron betont die »aufrichtige, großmütige und gefällige Miene« des Reisenden – lässt sich nur bedingt auf die ethnische Zugehörigkeit und die moralische Qualität eines Menschen schließen. Wie Vorurteile unsere Sinneswahrnehmung bestimmen, zeigt Lessing gleichfalls im Misogynen. Da der »Wumshäter« allergisch auf die holde Weiblichkeit reagiert, kann vor ihm Hilaria nur in der Hosenrolle des Lelio reüssieren. Der Frauenhasser ist blind für die personale Identität, ja selbst für die täuschende Ähnlichkeit der Doppelrolle Lelio/Hilaria. Er bestreitet sie, weil Vorurteile wie gefärbte Gläser Sichttrübungen bewirken (G I, S. 468f.).61 Der Misogyne beruft sich auf sein verlässliches Augenmaß, das ihn die Unterschiede der Personen erfassen lasse: Der virtuelle Lelio erscheint ihm eine Handbreit größer als seine Schwester, »besser gewachsen und schlanker« als sie (G I, S. 463) – ein Musterfall für eine Wahrnehmungsverzerrung durch Vorurteile. Die schon dem englischen Empirismus vertraute Metaphorik der Optik für Vorurteile nutzt Lessing im Freigeist.62 Theophan erklärt Adrast, er hätte längst Julianes Augensprache, die ihre Zuneigung verrät, entziffern können, »wenn Adrast gelassen genug wäre, richtige Blicke zu tun. Er betrachtet alles durch das gefärbte Glas seiner vorgefaßten Meinungen, und alles oben hin; und würde wohl oft lieber seine Sinne verleugnen, als seinen Wahn aufgeben« (G I, S. 546). Der »Wahn« konstituiert die empirische Wahrnehmung. Provozierend nicht nur für eine Komödie ist der Dramenschluss der Juden. 59 60 61 62
Vgl. Fink, Nationalcharakter. 1984, S. 102. Guthke, Judentum. 1977, S. 244. Vgl. Beetz, Vorurteile. 1983, S. 16f. Beetz, Vorurteile. 1983, S. 16f.; Godel, Vorstellungen. 2002, S. 17f.; Godel, Vorurteil. 2007, S. 246ff.
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Gesellschaftliche Barrieren und Vorurteile verhindern, dass Liebende sich verbinden. Die von Vorurteilen beherrschten christlichen Repräsentanten unter den Figuren werden von ihnen nicht geheilt. Der Diener des Juden mit dem scheinheiligen Namen Christoph fühlt in sich »die ganze Christenheit beleidigt«, weil er so spät erfährt, dass er einem Juden diente (G I, S. 413). Als er allerdings neben dem Versprechen der Entlohnung die entwendete Dose zurückerhält, dämmert ihm eine ›neue‹ Einsicht, die über alte Ansichten freilich nicht hinaus kommt: »es gibt doch wohl auch Juden, die keine Juden sind« (G I, S. 414). In diesem missglückten Differenzierungsversuch bestätigt die Ausnahme nur die Regel: Auf die Majorität der Juden trifft weiterhin der Schimpfname ›Jude‹ zu. Auch der Baron hätte allen Grund zum Umdenken. Doch auch er revidiert sein antisemitisches Vorurteil nicht. Der »Himmel« verhindert angeblich, dass er seinem Lebensretter seine Tochter, die ihn liebt, zur Frau gibt. (G I, S. 413). Es siegt das juristisch bindende Präjudiz gegen eine Mischehe von Juden und Christen.63 Institutionelle Barrieren, die nicht vom Himmel errichtet sind, verhindern eine Integration und die Emanzipation der Juden in der Gesellschaft. Lessing prangert nicht »den teuflischen Mechanismus der Diskrimination« an, wie Barner formuliert,64 sondern deren gesellschaftliche Bedingungen. Die Forschung – u. a. Barner selbst – hat nachdrücklich auf die sozialen und politischen Repressionen in Sachsen und Brandenburg-Preußen Mitte des 18. Jahrhunderts hingewiesen, denen die Juden ausgesetzt waren.65 Anders als im Nathan spielt Religiöses im Jugendwerk Lessings kaum eine Rolle.66 Martin Krumm, der den willkommenen Sündenbock für seine Untaten bei dem »gottlosen Gesindel« der Juden findet, schließt: »Darum ist es auch ein Volk, das der liebe Gott verflucht hat« (G I, S. 380). Der Reisende räsoniert in der 3. Szene darüber, dass sich Juden und Christen in ihrem Verhalten nichts an Bosheit schenken. »Wie aber, wenn es bei der einen [Völkerschaft, M. B.] ein Religionspunkt, und beinahe ein verdienstliches Werk wäre, die andere zu verfolgen?« (G I, S. 382). Auch Lessings Nathan wird zurecht als Drama der Verständigung über Vorurteilsschranken gelesen werden. Zur Sprache kommen nicht nur religiöse, kulturelle oder soziale Vorurteile, sondern vor allem ihre gefährlichen Wirkmechanismen. Protagonisten, die von Ressentiments geheilt werden und an obstinaten Gegenspielern, deren Starrsinn bloßgestellt wird, trägt das 63 Fink, Nationalcharakter. 1984, S. 103. 64 Barner, Vorurteil. 1984, S. 43. 65 Kopitzsch, Zeitgenossen. 1980, S. 33, 35, 43; Möller, Horst: Aufklärung, Judenemanzipation und Staat. In: Grab, Deutsche Aufklärung und Judenemanzipation. 1980, S. 119–153, hier : S. 138ff.; Barner, Vorurteil. 1984, S. 31, 36, 40, 44f.; Freund, Wahrheit. 1986, S. 133; Trepp, Geschichte. 1996, S. 78f. 66 Barner, Vorurteil. 1984, S. 39. Barner, Die Juden. 1982, S. 192.
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anthropozentrische Lehrstück zur Erziehung des Menschengeschlechts bei. Das utopische Schlusstableau mit den wechselseitigen Umarmungen aller deutet die Möglichkeit an, dass sich die Angehörigen verschiedener Religionen vielleicht einmal als Mitglieder derselben Menschheitsfamilie erkennen. Das in seinem Schluss modernere Jugendstück gibt sich keinen Illusionen über die Barrieren einer Integration der Juden und deren geschichtliche Realisierungschancen hin.