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German Pages 345 [348] Year 1990
Komparatistische Studien Band 14 Goethe und Europa
Komparatistische Studien Beihefte zu „arcadia" Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft
Herausgegeben von Erwin Koppen
Band 14
W DE
G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1990
Horst Rüdiger
Goethe und Europa Essays und Aufsätze 1944-1983 Herausgegeben von Willy R. Berger und Erwin Koppen
w DE
G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1990
Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral)
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Rüdiger, Horst: Goethe und Europa : Essays und Aufsätze 1944—1983 / Horst Rüdiger. Hrsg. von Willy R. Berger u. Erwin Koppen. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1990 (Komparatistische Studien ; Bd. 14) ISBN 3-11-011805-X NE: GT
Copyright 1990 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin
Vorwort der Herausgeber Als die Herausgeber dieses Bandes ihr ursprüngliches Projekt, eine umfangreiche Sammlung der wichtigeren wissenschaftlichen Aufsätze und Essays des 1984 verstorbenen Bonner Komparatisten Horst Rüdiger zu veröffentlichen, aus finanziellen Gründen aufgeben mußten, wurden sie sich schnell darüber einig, daß eine schmalere Auswahl aus dem OEuvre Rüdigers thematisch gebunden sein müsse. Dabei ergab sich wie von selbst, daß der vorgesehene Band diejenigen Arbeiten enthalten sollte, in denen das Thema „Goethe" im engeren oder weiteren Sinne eine Rolle spielte. Rüdiger selbst hatte schon zu seinen Lebzeiten die Zusammenfassung seiner Goethe-Arbeiten ins Auge gefaßt, war er doch vom Werk und nicht zuletzt auch von der Persönlichkeit Goethes so stark geprägt, daß es fast als ein Versehen seiner geistigen und wissenschaftlichen Biographie wirkt, daß zu diesem Thema kein Buch aus seiner Feder erschienen ist. Daß Rüdiger ein Goethe-Kenner ganz besonderer Art war, wurde schon dem Neophyten der Vergleichenden Literaturwissenschaft klar, als er seine erste wissenschaftliche Begegnung mit dem damals noch „außerordentlichen" Professor in Mainz hatte, und zwar in einem Seminar über das Europäische Tagebuch. Wie in den komparatistischen Lehrveranstaltungen der ausgehenden 50er Jahre üblich, saßen nur 8 — 10 Studenten dem vor nicht allzu langer Zeit aus Italien berufenen Professor gegenüber und hofften, etwas über Baudelaire und die Brüder Goncourt, über Kafka und Ernst Jünger, über Samuel Johnson und Sören Kierkegaard zu erfahren. Diese Hoffnungen sollten ä la longue nicht betrogen werden. Am Anfang des Weges aber stand Goethe. Ehe es an die Texte seiner Tagebücher ging, gab Rüdiger, locker aus dem Stand dozierend, eine Einführung in die Goethe-Philologie, die so eindringlich war, daß sie dem Hörer bis heute, selbst in Einzelheiten noch präsent geblieben ist. Präzise wurden die Prinzipien, die Vor- und Nachteile der einzelnen Goethe-Ausgaben erläutert, wurden die Probleme der Edition eines Textes wie dieser Tagebücher aufgezeigt und analysiert. Imponierend dabei war nicht nur die Sachkunde, mit der Rüdiger diese Dinge vortrug, sondern die völlig unverkrampfte und unpedantische Art und Weise des Vertrags, die auf eine selbstverständliche, beinahe naturwüchsige Vertrautheit mit dem Gegenstand hinwies. Diese Vertrautheit zeichnete sich um so klarer
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ab, je stärker neben den editionsphilologischen auch die biographischen und literarischen Aspekte des Themas in den Vordergrund traten. Später hat der Mainzer Student, nunmehr als Assistent an der Seite des Meisters, noch so manches andere seiner Goethe-Seminare verfolgen können. Unvergeßlich blieben ihm drei Veranstaltungen aus der Zeit, als Rüdiger in Bonn auf einer germanistischen Professur die Berufung auf den noch zu begründenden komparatistischen Lehrstuhl abwartete. Die Seminare aus jenen Jahren, die zweifellos den Höhepunkt dieser interimistischen Lehrtätigkeit als Germanist bildeten, behandelten Goethes Schriften der italienischen Zeit, den Helena-Akt des Faust II und den West-östlichen Divan. Natürlich war die Atmosphäre im Massenfach Germanistik anders als in den intimen komparatistischen Cenacles der Mainzer Zeit. Vergeblich versuchte Rüdiger, durch besonders hohe Leistungsanforderungen und eine straffe, fast scharfe Führung der Seminare, sich den Zudrang der Studenten vom Leibe zu halten — er mußte nunmehr stets 50 — 70 Hörerinnen und Hörern gegenübertreten. Aber selbst in diesem etwas ungemütlichen Klima wurde es auch dem obtusesten Studenten alsbald klar, daß dieser Dozent nicht routinemäßig einer Berufspflicht genügte, sondern daß ein von der Sache Durchdrungener über seinen Lieblingsgegenstand redete, auch hier übrigens ohne viel Aufhebens und feierliches Getue, vielmehr in gewohnt lockerer und familiärer, nicht selten humoristischer Art. Daß Rüdiger auch in diesen germanistischen Veranstaltungen seinen Studierenden die komparatistischen Dimensionen einer wissenschaftlichen Goethe-Betrachtung eröffnete, zeigte schon die Wahl der Themen: im ersten Fall wurde das alte Thema „Goethe und Italien" dann nicht so behandelt, wie es in typisch germanistischen Darstellungen geschieht (Italien nur Kulisse in Goethes Lebens- und Bildungsweg), sondern ein italianistisch versierter Komparatist zeigte, daß Italien mehr war als ein biographisches Requisit und machte begreiflich, warum dieses Land Goethe zum Faszinosum geworden war. Im Helena-Akt schließlich war Rüdiger vollends in seinem Element: Hier konnte er nicht nur Goethe als Brennpunkt verschiedenster literarischer Einflüsse aus allen Epochen und Kulturbereichen Europas zeigen, sondern vor allem auch sein Verhältnis zur Antike beleuchten, in der Rüdiger sich mit der gleichen Vertrautheit zu bewegen wußte wie im Italien des 18. Jahrhunderts oder der Gegenwart. Im Seminar über den West-östlichen Divan schließlich wurde die Grenze von der europäischen Literatur zur Weltliteratur überschritten: der Nichtorientalist Rüdiger hatte sich mit der ihm gewohnten Energie hinreichend in die Materie eingearbeitet, um auch hier mit Verve und Brillanz seinem Seminar die Vorzüge der komparatistischen Betrachtungsweise zu eröffnen.
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Alle diese Seminare wurden übrigens von gleichzeitigen, vorhergehenden oder anschließenden Forschungen zu ihren Themen begleitet (man wird in der folgenden Sammlung unschwer deren Früchte ausmachen können). Es ist wohl nicht unzulässig, in diesem Zusammenhang an das Humboldtsche Ideal der Einheit von Lehre und Forschung zu erinnern, im Falle Horst Rüdigers gar noch weiter zu denken und von einer Einheit von Lehre, Forschung und Leben zu sprechen. Denn Goethe spielte in wiederum gleichsam natürlicher Weise auch im Alltag seiner geistigen Vita activa eine Rolle. Kaum konnte man mit ihm ein längeres Gespräch über literarische oder wissenschaftliche Fragen führen, ohne daß nicht irgendwann unversehens von Goethe die Rede war. Vertrauten Besuchern in seiner Endenicher Wohnung oder seinem Partschinser Haus konnte es widerfahren, daß er sie unmittelbar nach der Begrüßung in sein Arbeitszimmer führte, um ihnen dort eine Stelle aus Goethe vorzulesen, die ihm jüngst durch ihre vortreffliche Formulierung, ihre Lebensweisheit, nicht selten auch durch ihre Kuriosität aufgefallen war. Oft hieß es auch ganz pauschal: „Ach wissen Sie, ich habe gerade mal wieder den Zweiten römischen Aufenthalt gelesen", und es folgte auf diese Äußerung ein Privatissimum, das fünf Minuten dauern konnte oder auch fünfzig, aber nie langweilig oder oberflächlich war. Rüdigers alltägliche Rede war durchwirkt mit literarischen Zitaten, die meisten natürlich aus Goethe. Anders als für die Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts, mit denen er es an umfassender Kenntnis des weltliterarischen Zitatenschatzes im allgemeinen und der Goethe-Zitate im besonderen sehr wohl hätte aufnehmen können, stellte für ihn das Zitat weder eine Demutsgeste vor einer Geistesgröße noch das Abzeichen literarischer Bildung dar, vielmehr war es ein eher verspieltes Ornament seiner Ausdrucksweise, das nicht selten einen ironischen oder humoristischen Charakter trug. Dementsprechend hätte man den größten Teil der von ihm besonders gerne und häufig verwandten Goethe-Zitate auch gar nicht im Büchmann finden können, vielmehr handelte es sich um ungewöhnliche oder drastische Stellen oder Verse. Die von ihm bevorzugten Zitate etwa aus dem Faust waren nicht die wohlbekannten „geflügelten Worte", dafür hörte man gerne aus seinem Munde Vom Har^ bis Hellas immer Vettern (wozu sich, auch im Universitätsbereich, mancherlei Gelegenheit bot), oder angesichts einer nahenden Mahlzeit Die Zeit kommt auch heran, / Wo wir was Guts in Ruhe schmausen mögen. Zur Charakterisierung so mancher wissenschaftlicher Bemühungen von Kollegen oder Studenten zitierte er Getretner Quark / Wird breit, nicht stark (aus dem West-östlichen Divari), und auch der Meister Iste aus dem von ihm überaus geschätzten Nachlaßge-
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dicht Das Tagebuch fehlte nicht in seinem eklektischen Goethe-Zitatenschatz. Etwas „seriösere", von ihm gern verwandte Goethe-Zitate waren Bilde Künstler, rede nicht, das Wort von den Unterhaltungen der Gelehrten untereinander, zu dessen Anwendung es immer wieder neue Gelegenheiten gab, und schließlich aus dem Nausikaa-Ftzgment Ein weißer Glan% ruht über Land und Meer, / Und duftend schwebt der Äther ohne Wolken, die ihm als die schönsten Verse Goethes galten. In wiederum scherzhafter Absicht pflegte er gerne Faust II, 11 559 bis 11 562 (Ein Sumpf %ieht am Gebirge hin l Verpestet alles schon Errungene; ...) in vorgerückter Stunde zu zitieren oder besser gesagt zu rezitieren, nämlich um die chargierende, in hohlem Pathos schwelgende Vortragsweise eines ihm bekannten Schmierenrezitators zu imitieren. Er selbst las übrigens, wenn es darauf ankam, Goethesche Verse in sehr eindrucksvoller Art, nämlich in schlichtem, neutralem Ton, aber deutlich akzentuierend, wobei er sowohl Sinn wie Metrum klar, aber nicht aufdringlich hervortreten ließ. So durchdrungen also die geistige Existenz Horst Rüdigers vom Werk und der Persönlichkeit Goethes war — ein „Goetheaner" war er nicht. Seine Bewunderung Goethes — die er übrigens entschlossen auf den Goethe der italienischen Zeit und auf den alten Goethe konzentrierte — war alles andere als vorbehaltlos. Den geheimrätlich zugeknöpften Habitus des Weimarischen Ministers empfand er dem Genie des Dichters als durchaus inadäquat, ja beinahe schon als lächerlich, und dessen politische Ansichten hat man ihn oft, sowohl im kleinen Kreis als auch vor großem studentischen Auditorium mit dem jede Differenzierung ausschließenden Scheltwort „reaktionär" charakterisieren hören. Auch bestimmte Arten deutscher Goethe-Rezeption und deutscher Goethe-Betrachtung waren ihm suspekt. Dazu gehörten die Bildungs- und Humanitätsschwärmerei der Oberlehrer des 19. Jahrhunderts ebenso wie die Gralshüterattitüde auch der rezenteren Gemanistik. Con gusto stritt er etwa mit seinen Bonner germanistischen Kollegen der älteren und auch der jüngeren Generation über Richard Friedenthals Goethe, den er gegen alle Anwürfe, insbesondere gegen die des allzu leichtfertigen und flapsigen Umgangs mit einem tiefernsten Gegenstande, energisch in Schutz nahm. Möge das Buch auch seine Fehler haben, so zeige es doch ein völlig plausibles und der menschlichen Wirklichkeit Goethes vermutlich sehr nahekommendes Bild. Dabei hätte Rüdiger selbst ein solches Buch nie schreiben können, auch wenn er es gewollt hätte, denn als Goethe-Forscher konnte er sehr zünftig werden. An Beweisen dafür wird es in diesem Band nicht fehlen. Erwin Koppen
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Horst Rüdiger war ein Mann von klassischer Bildung und humanistischer Gelehrsamkeit. Griechisch und Latein waren ihm von Jugend an vertraut, zahlreiche Editionen und Übersetzungen zeugen von der Souveränität, mit der er über die Literatur der Alten Welt verfügte, und es war nicht von ungefähr, daß seine erste große Buchpublikation den europäischen Humanismus zum Gegenstand hatte; in die Portraits von Cicero oder Erasmus, von Winckelmann oder George ist überall auch das verhüllte Idealportrait des Verfassers selbst eingezeichnet. Die Prägung durch die Bildungsmacht der Antike hat auch Rüdigers Verhältnis zu Goethe entscheidend bestimmt. Es war Goethes schöpferische Auseinandersetzung mit dem griechisch-römischen Altertum und es war Goethes Italien-Erlebnis, denen Rüdigers vornehmliches Interesse galt, und so stehen denn auch die Italienische Reise, die Römischen Elegien und Faust II im Mittelpunkt dieses Bandes. Goethe hat Italien wesentlich durch Rom erfahren, und Rom wiederum war ihm nicht der erhabene Trümmerrest, dessen sich schon zu seiner Zeit eine sentimentale RuinenRomantik zu bemächtigen begann, es war ihm der lebendig gebliebene weltgeschichtliche Mythos, in den einzutauchen er als eine Art von geistiger Wiedergeburt empfunden hat. Gerade die Römischen Elegien, in der ausfeilenden Niederschrift erst nach der Rückkehr nach Weimar und nach der beglückenden Liebesbegegnung mit Christiane Vulpius entstanden, sind Zeugnis der erneuernden Kraft, die Goethe durch klassischen Boden empfing. Eine erotische, die körperliche Liebe thematisierende Lyrik, die weder dem Grobianischen noch dem Galanten verfiel noch auch im petrarkisierenden Spiritualismus sich auflöste, hatte es in dieser Individualität und Kraft des Ausdrucks zuvor nicht in deutscher Sprache gegeben; daß Goethe dieses — die Zeitgenossen provozierende — Kunstund Wagestück nur gelingen konnte, indem er den bewußten Rückgriff auf die augusteische Liebeselegie mit der elementaren existentiellen Erfahrung verknüpfte, die er den italienischen Jahren verdankte, hat Rüdiger überzeugend gezeigt. Zu Goethes poetischer Evokation der Alten Welt gehören auch große Teile von Faust II, vor allem die Klassische Walpurgisnacht und der ffe/ena-Akt, die Rüdiger beide besonders liebte, nicht weil hier — das freilich auch — der mythologische Apparat der Antike noch einmal auf grandiose Weise in Szene gesetzt wird, sondern weil sich in ihnen, zum theatralischen Symbol eindrucksvoll überhöht in der Reimerfindungsszene zwischen Faust und Helena, ,nordischer' Faust-Stoff und antike Sphäre so vollkommen durchdringen — eine Herausforderung für die komparatistische Analyse. Hinzu treten die Studien über Alfieri und Manzoni, die Goethe im tagesliterarischen Meinungskampf zeigen und die in ihrer gekonnten
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Verbindung von literarhistorischem Material und treffsicherem Urteil Musterbeispiele des vergleichenden Verfahrens sind. Genuin komparatistischen Charakter haben auch die Arbeiten zur Praxis des literarischen Übersetzens bei Goethe und Schüler, und man mag bedauern, daß Rüdiger, der selbst ein kompetenter Übersetzer gewesen ist, sich nicht in einem größeren theoretischen Zusammenhang über diesen Gegenstand geäußert hat. Der Aufsatz über die Pflan^ensymbole in Goethes ,Divan' entstammt dem Nachlaß und erscheint hier zum ersten Mal, doch hat der Divan stets zu Rüdigers Vorzugslektüre gehört. Hier gab es die gleiche symbiotische Verschmelzung von gegensätzlichen Kultursphären wie in der klassischromantischen Phantasmagorie des He/ena-Aktes, zu der aber das Ingrediens des literarischen Exotismus hinzukam: Goethes gewiß sekundär vermittelte, gleichwohl kongeniale Anverwandlung der persisch-arabischen Poesie. Endlich wäre der Aufsatz über die Metapher des Herzens zu nennen, der Goethe nur am Rande behandelt. Indes kam es den Herausgebern darauf an, eine an entlegener Stelle veröffentlichte Studie allgemein zugänglich zu machen, in der Rüdiger, ohne den Zwang zur strikten akademischen Observanz, ein motivgeschichtliches Thema geistreich und kolloquial zugleich abhandelt. Der hier vorgelegte Band läßt naturgemäß kein geschlossenes GoetheBild sichtbar werden. Rüdiger beschränkte sich auf das, was ihn selbst an Goethes geistiger Welt besonders anmutete: eben das Thema Italien und die Rezeption der Antike. Goethes Teilnahme an der englischen oder französischen Literatur, an Shakespeare und Lord Byron, an Diderot und Voltaire, kommt nicht in den Blick, und bezeichnend ist auch, daß neben dem späten Goethe und dem Goethe der italienischen Zeit der junge Goethe ausgeklammert bleibt; in der Tat sind der Gefühlskult der WertherPhase, die kraftgenialische Attitüde des Stürmers und Drängers, die enthusiastische Naturschwärmerei der jugendlichen Lyrik Rüdiger vergleichsweise fremd geblieben, so wie Goethe selbst später seiner frühen Produktion nur mit einer gewissen Reserviertheit gegenübergestanden hat. Rüdiger verstand sich auf das Stilprinzip der Kürze. Jene clara et illustris brevitas, die er an Horaz rühmte, zeichnet auch seine eigenen Arbeiten aus, die geprägt sind durch eine Sprache von konziser Präzision, diktiert von einem sicheren Empfinden für den angemessenen Ausdruck. Er hatte ein Mißtrauen gegen alles Manieristische, gegen den dekorativen Aufwand tönender Rhetorik; unleidlich war ihm auch jede Art des Wissenschaftsjargons, wo dieser sich zum bloßen Imponiergehabe aufbläht. In der Mischung aus lapidarer Gedrungenheit und natürlicher, unprätentiöser Eleganz des Stils drückt sich Rüdigers Persönlichkeit für
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alle, die ihn kannten, auf unverwechselbare Weise aus. Wenn es denn wahr ist, daß der Stil der Mensch sei, so ist der Hauptzug dieses Stils jene feste, solid in sich gegründete Männlichkeit, die auch der Hauptzug seines Charakters war. Abneigung gegen das spekulative AI fresco, gegen die Sinnhuberei der ,Eigentlichkeit', behutsame Zurückhaltung bei der Skizzierung geistes-, ideen- und problemgeschichtlicher Zusammenhänge — so stellen sich Rüdigers Aufsätze in ihrem methodischen Zugriff dar. Bei der Weite des Überblicks, über den sie wie selbstverständlich gebieten, sind sie gearbeitet mit einer gediegenen philologischen Sorgfalt, mit einer mikroskopischen Versessenheit aufs bezeichnende Detail, die doch nirgendwo positivistisch bloß sich selbst genügt, sondern es vermag, im Einzelnen stets auch den Zusammenhang, im bloßen Faktum die leitende Idee aufscheinen zu lassen. Rüdigers Interesse an Goethe war Ausdruck von Wahlverwandtschaft. Dabei wahrte er Distanz; den Kultformen der Goethe-Verehrung begegnete er, wenn nicht im geschriebenen Wort, so doch gesprächsweise, mit nachsichtiger Ironie oder satirischer Drastik. Dennoch: in jener lebenslangen passionierten Beschäftigung mit einem Werk, die Liebe zu nennen wir uns nicht scheuen sollten, stellt sich eine Gemeinsamkeit des geistigen Erlebens dar, wie sie bei jedem von uns insgeheim oder sogar bewußt und gewollt die Wahl unserer Vorlieben und Vorbilder steuert. Wenn Rüdiger über Italien, wenn er über Goethe und die Antike, wenn er über Theokrit und Vergil und die bukolische Tradition sprach, dann spürte man, hier redete nicht der bestallte Professor, hier handelte jemand von Dingen, die ihm kein leerer Wortschall, sondern lebendig erfahrener Geist waren. Italien, das Goethe nach zwei Jahren gnädigst gewährten Bildungsurlaubs wieder verlassen mußte, ist für Horst Rüdiger für mehr als vier Jahrzehnte die geliebte Wahlheimat geworden. Sein Haus in Partschins, inmitten der Gletscher und Gärten Südtirols und genau auf der Grenze zwischen nordischer und mediterraner Sphäre, war und ist bis heute Raststation und gastfrei-behagliche Herberge für Freunde aus aller Welt, die es im Sommer über die Alpen ins gelobte Land zieht. Die in diesem Band versammelten Aufsätze folgen der Fassung der Erstdrucke. Die dadurch bedingten Unterschiede in der Zitierweise oder gelegentlich bei der Schreibung von Eigennamen (Katull und Catull, Angelika und Angelica Kauffmann usw.) wurden beibehalten. Errata sind stillschweigend berichtigt; bei der bewundernswerten redaktionellen Sorgfalt, die Rüdiger allen seinen Arbeiten angedeihen ließ, war das nur in wenigen Fällen notwendig. Zwei Aufsätze (Goethes Rom-Erlebnis und Pßan^ensymbole in Goethes ,Divan') sind hier zum ersten Mal gedruckt; die
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Anmerkungen wurden nach den knappen Hinweisen, die sich bei den nachgelassenen Manuskripten fanden, von den Herausgebern erstellt. Für gelegentliche Überschneidungen erbitten wir die Nachsicht des Lesers; insbesondere die kleine, novellenartig ausgesponnene Erzählung von der schönen Mailänderin oder die Reimerfindungsszene aus Faust II gehören hierher. Rüdiger selbst hätte bei der Drucklegung von Goethes RomErlebnis, das ihm als eines seiner Vortragsmanuskripte diente, einige Wiederholungen wohl getilgt; die Herausgeber fühlten sich zu einem solchen Eingriff nicht berechtigt. Willy Richard Berger
Wir danken allen, die zum Zustandekommen dieses Bandes beigetragen haben, insbesondere Herrn Bernd Viebach und Herrn Matthias Vogel, die sich der Mühe des Korrekturlesens unterzogen, bei den Aufsätzen aus dem Nachlaß die Anmerkungen verifiziert und das Schriftenverzeichnis, dessen ersten Teil die Festschrift Teilnahme und Spiegelung enthält, auf den letzten Stand gebracht haben. Vor allem aber gebührt unser Dank Frau Lisa Rüdiger, die uns die Bibliothek und die Manuskripte Horst Rüdigers zur Verfügung gestellt hat. Ihr, der treuen Weggenossin des Verstorbenen und der ewig jungen, liebenswürdigen Gastgeberin, sei dieser Band zugeeignet. Bonn/Köln im Januar 1990
E. K. und W. R. B.
Inhalt Vorwort der Herausgeber Goethes und Schillers Übertragungen antiker Dichtungen
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Ein Versuch im Dienste der Weltliteratur-Idee: Goethes Übersetzung von Manzonis Ode „II Cinque Maggio"
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Zum Verständnis von Goethes Tagebuch der Italienischen Reise, der Römischen Elegien und der Venetianischen Epigramme . . .
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Curiositas und Magie. Apuleius und Lucius als literarische Archetypen der Faust-Gestalt
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Weltliteratur in Goethes „Helena"
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Die Metapher vom Herzen in der Literatur
117
Die Kritik der Romantiker und Goethes an den Tragödien Alfieris
160
Teilnahme Goethes an Manzoni
194
Zur Komposition von Goethes Zweitem römischen Aufenthalt. Das melodramatische Finale und die Novelle von der „schönen Mailänderin"
214
Goethes „Römische Elegien" und die antike Tradition
233
Europäische Literatur — Weltliteratur. Goethes Konzeption und die Forderungen unserer Epoche
262
Goethes Rom-Erlebnis
280
Pflanzensymbole in Goethes „Divan"
300
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Inhalt
Nachweis der Erstdrucke
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Verzeichnis der Schriften Horst Rüdigers
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Register
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Goethes und Schillers Übertragungen antiker Dichtungen In Goethes und Schillers Gesamtwerk nehmen die Übertragungen aus fremden Sprachen einen verhältnismäßig geringen Platz ein. Unter den Übertragungen selbst stehen diejenigen aus modernen Sprachen, besonders aus dem Französischen und bei Goethe auch aus dem Italienischen, an Umfang erheblich vor denen aus den beiden antiken Sprachen. Bei Goethe überwiegen die aus dem Griechischen übertragenen Texte die lateinischen bei weitem; bei Schiller ist das Verhältnis ausgeglichener, obwohl auch bei ihm, wenigstens nach dem Umfang und dem äußeren Eindruck, das Griechische vor dem Lateinischen steht. Nicht alle von Goethe und Schiller übertragenen antiken Dichtungen sind nur um ihrer selbst willen, das heißt wegen ihrer dichterischen und sprachlichen Schönheit, verdeutscht worden; für die Wahl vieler Stücke haben Nebenzwecke, besonders Übungsabsichten, den Ausschlag gegeben. Das gilt in noch höherem Maße für die in die vorliegende Sammlung nicht aufgenommenen Übertragungen oder Anleihen aus wissenschaftlichen Schriftstellern der Antike, deren sich Goethe paraphrasierend gern bediente, um eigene Ansichten zu erläutern und historisches Material für die „Farbenlehre" zu sammeln, um sie souverän umzugestalten oder auch nur im Zusammenhang eigener Gedankengänge anzuführen; ebenso für Schillers ausführliche Prosazitate aus der „Iphigenie bei den Taurern" des Euripides anläßlich seiner Anzeige von Goethes „Iphigenie". Die Übungsabsichten beziehen sich nun freilich weniger auf die Fremdsprache als auf die Muttersprache, mit anderen Worten: auf den eigenen Stil. Und sie betreffen nicht allein die Sprache, sondern bei Schiller auch die dramatische und epische Technik, die „Manier" des Euripides und Vergils. An ihr wollte er seine eigene Technik verbessern lernen, deren Mängel er erkannt hatte. Darum haben die Übertragungen im allgemeinen auch einen recht geringen interpretatorischen Wert und sind philologisch oft nicht einwandfrei (was ebenso | für Goethes Übersetzerschaffen gilt); dagegen sind sie als Zeugnisse für die stilistische und technische Arbeit beider Dichter ungemein aufschlußreich. Das rechtfertigt ihre erneute Zusammenstellung und die erstmalige Gegenüberstellung des Urtextes, die es dem Leser ermöglicht, immer zu vergleichen und den für die
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Goethes und Schillers Übertragungen antiker Dichtungen
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Dichter wesentlichen Gesichtspunkt zu beurteilen. Wenn dabei die antiken Dichtungen aus dem übertragenen Dichtungsgut anderer Völker herausgegriffen werden, so aus dem Grunde, weil die Antike die entscheidende Bildungsmacht der Goethe-Zeit war und das Werk beider Dichter durch die Auseinandersetzung mit ihr die Gestalt angenommen hat, in der es unsterblich geworden ist. Auffallend ist die schon gestreifte Verteilung des Griechischen und Lateinischen bei Goethe und Schiller, die hier zum Ausgangspunkt einer geistesgeschichtlichen Einordnung der Übertragungen beider Dichter gewählt werden soll. Goethe übertrug fast nur aus dem Griechischen; die wenigen lateinischen Stücke umfassen Schularbeiten („Labores iuveniles", wie sie ihr kritischer Herausgeber genannt hat) und gelegentliche Versuche, die zum Teil den Sinn des Urtextes nur annäherungsweise umschreiben. Im übrigen beschränkte sich Goethe auf die Hilfe Knebels und Riemers, wenn er in den „Materialien zur Geschichte der Farbenlehre" oder als Abschluß seines Berichtes über den „Zweiten römischen Aufenthalt" verdeutschter Stellen aus Lukrez oder Ovid bedurfte. Gewiß ist es kein Zufall, wenn er etwa den unermüdlichen Riemer am 2. April 1829 bat, er möge ihm aushelfen, denn er finde zur Übersetzung der schönen Stelle aus Ovids „Tristien" nicht den mindesten rhythmischen Anklang in seinem ganzen Wesen. Diesen Anklang fand er zu keinem der großen römischen Dichter, weder zu Vergil noch zu Horaz noch zu Katull oder zu den Elegikern. Sie konnten ihn wie Properz wohl durch die Atmosphäre fesseln, die ihn selbst in Rom umgeben hatte, aber sie reizten ihn nicht zur Übersetzung, | am wenigsten Vergü, der römischste, politischste, pathetischste von allen. Für Goethe ist der Streit um die Größe Homers und Vergils, der die Jahrzehnte vor seinem Wirken so stark bewegt hatte, eindeutig zugunsten des Griechen entschieden. Er steht während aller Wandlungen seines langen Lebens immer im Strome des deutschen Neuhumanismus, der von Winckelmann zu Humboldt führt. Seine Vertreter stellten die Griechen wegen ihrer Originalität auf geistigem Gebiet über die Römer und erstrebten eine ideale Verbindung des deutschen Geistes mit dem griechischen, die der natürlichen Verbindung des romanischen, vor allem des italienischen und französischen Geistes zum römischen entsprechen sollte. Die geistesgeschichtlichen Wurzeln dieser Haltung gehen bis auf die Reformation und den deutschen Humanismus zurück; die Richtung findet unmittelbar vor Goethe in Lessings und Herders Kampf gegen das römisch-französische Drama des Grand Siecle und für die Vorbildlichkeit der griechischen und Shakespeareschen Tragödie ihren schärfsten Ausdruck.
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Goethes und Schillers Übertragungen antiker Dichtungen
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Bei Schiller scheint es auf den ersten Blick nicht anders zu liegen. Auch er übertrug ein Drama des Euripides, die „Iphigenie in Aulis", fast vollständig, ein zweites, die „Phönizierinnen", teilweise; mit einem dritten, der „Iphigenie bei den Taurern", beschäftigte er sich ausführlich. Seine Übertragungen aus dem Griechischen erreichen an Umfang fast das Doppelte der Übersetzungen aus dem Lateinischen. Das Verhältnis hätte sich noch weiter zugunsten des Griechischen verschoben, wenn Schiller andere Übersetzungspläne durchgeführt hätte. Erstens hatte er vor, zusammen mit seinem früheren Lehrer Nast eine deutsche Ausgabe aller griechischen Tragiker zu schaffen, worüber er bis 1794 mit Cotta im Briefwechsel stand. Zweitens wollte er den „Agamemnon" des Aischylos (eines der schönsten Stücke, „die je aus einem Dichterkopfe gegangen sind", heißt es am 4. Dezember 1788 an die Schwestern Lengefeld) übertragen, wurde daran aber durch seine Berufung nach Jena verhindert. Ferner versprach er die Übertragung des VI. Buches der „Äneis", das sein Lieblingsstück aus dem | römischen Epos war. Vielleicht ist schon das Aufgeben der griechischen Pläne und die Unvollständigkeit der „Phönizierinnen" bezeichnend; auf jeden Fall aber ist es von hoher geistesgeschichtlicher Bedeutung, daß Schiller in Wahrheit gar nicht aus dem Griechischen, sondern aus dem Französischen und Lateinischen übersetzt hat. Denn wenn er auch den Urtext vor sich liegen hatte, so verstand er doch viel weniger Griechisch als etwa Goethe, der sich von Jugend auf mit griechischen Übungen abgegeben hatte. Daß er „den griechischen Text gründlich benutzt hat", wie Reinhard Buchwald will, ist trotz gelegentlichen Verbesserungen der französischen und lateinischen Fassungen nicht zutreffend. Diese waren für ihn maßgebend; er fand sie im „Theatre des Grecs" von Brumoy, das von Prevost verbessert worden war und in dieser Bearbeitung seit 1786 in Paris erschien und das trotz Verzicht auf den Vers gewisse künstlerische Ansprüche erhob; ferner in der lateinischen Interlinearversion von Barnes, die zuerst 1694 und in einer neuen Ausgabe 1778 erschienen war. Steinbrücheis Verdeutschung aus dem Jahre 1763 zog er nur gelegentlich zu Rate. Es ist nun gewiß nicht nur Bescheidenheit, wenn er sich am 9. März 1789 gegenüber Körner äußert: „... Mache Dir den Spaß, meine Übersetzung mit der lateinischen des Josua Barnes zusammenzuhalten; denn diese lateinische war, als die treueste, mein eigentliches Original. Dann wirst du mir vielleicht eingestehen, daß ich einen großen Grad eigener Begeisterung nötig hatte und daß ich sehr von dem Meinigen habe zusetzen müssen, um sie so leidlich zu liefern. Ich fordere viele unserer Dichter auf, die sich so viel auf ihr Griechisch und Latein zugute tun, ob sie bei so wenig erwärmendem Text nur so viel geleistet hätten, als ich leistete. Ich konnte
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Goethes und Schillers Übertragungen antiker Dichtungen
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nicht wie sie mit den Feinheiten des Griechischen mir helfen — ich mußte mein Original erraten oder vielmehr, ich mußte mir eins erschaffen." Das ist eindeutig, und obwohl es nichts bedeutet bei der Bewertung der Euripides-Übertragungen als deutscher Sprachkunstwerke, kann man dem Philologen Wilhelm Schlegel nicht | ganz Unrecht geben, wenn er Schiller boshafterweise über sein Werk sagen läßt: „Ohn alles Griechisch hab ich ja Verdeutscht die Iphigenia." Ohne es im mindesten zu ahnen, hat Schlegel damit den Punkt getroffen, auf den sich nicht nur Schillers Übertragungen aus dem Griechischen beziehen, sondern sein Verhältnis zur Antike überhaupt: die innere Fremdheit gegenüber dem Griechentum in neuhumanistischer Interpretation, wie sie Winckelmann und Humboldt am eindeutigsten gegeben haben, die im tiefsten Grunde ablehnende Haltung gegen die von jenen erstrebte ideale Verbindung von deutschem und griechischem Geist. Die geringe Kenntnis des Griechischen und die Benutzung der französischen und lateinischen Medien (die ja gerade als sprachliche Gestaltungen und selbst als Interlinearversion nicht nur Medien, sondern gleichzeitig Geist waren) ist nur äußerlich sichtbarer Ausdruck dieser Haltung. Deren ist sich Schiller auch bewußt gewesen, am klarsten in der Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung", wo er seine geistige Existenz mit Resignation und zugleich mit Stolz gegen seine Zeit abgrenzt. Die ablehnende Haltung gegen Wesen und Ziele des Neuhumanismus ergibt sich aus Schillers Verwurzelung im barocken Geistesgefüge, auf die neuerdings Walther Rehm mit erwünschter Deutlichkeit hingewiesen hat. Auch durch die Übertragungen aus fremden Sprachen fällt auf dieses Problem neues Licht. Zunächst einmal wird man es nicht mehr — wie es noch Albert Köster tat — als „wunderliche Ironie" und als bloßes „Zugeständnis an die Wünsche des fürstlichen Hauses" in Weimar empfinden, daß Schillers Schaffen kurz vor dem Tode mit der Verdeutschung von Racines „Phädra" abschließt. Gewiß hat Schiller besonders in seiner Jugend den „falschen Regelzwang" der französischen „pseudoantiken Kunst" bekämpft, „die er durch die stolze Zahl seiner eigenen Dramen aus Deutschland gerade verdrängen wollte". Anderseits aber wandte er sich gerade darum Euripides zu, weil er seiner | Regelmäßigkeit und Formenstrenge bedurfte, um sich von der als falsch erkannten übertriebenen Regellosigkeit des jugendlichen Schaffens zu befreien. Am 20. August 1788 schrieb er an Körner: „Ich lese jetzt fast nichts als Homer. Ich habe mir Vossens Übersetzung der ,Odyssee' kommen lassen ... Die ,Iliade' lese ich in einer prosaischen Übersetzung. In den nächsten zwei Jahren,
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Goethes und Schillers Übertragungen antiker Dichtungen
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habe ich mir vorgenommen, lese ich keine modernen Schriftsteller mehr. Vieles, was Du mir ehemals geschrieben hast, hat mich ziemlich überzeugt. Keiner tut mir wohl; jeder führt mich von mir selbst ab, und die Alten geben mir jetzt wahre Genüsse. Zugleich bedarf ich ihrer im höchsten Grade, um meinen eigenen Geschmack zu reinigen, der sich durch Spitzfündigkeit, Künstlichkeit und Witzelei sehr von der wahren Simplizität zu entfernen anfing. Du wirst finden, daß mir ein vertrauter Umgang mit den Alten äußerst wohltun — vielleicht Klassizität geben wird." In der Tat: die „Klassizität" seiner späteren Dramen verdankte er nicht zuletzt dem Studium und der Übertragung des Euripides; bestimmt haben die Chöre der „Iphigenie" auf die Chöre der „Braut von Messina" und die letzte übersetzte Szene aus den „Phönizierinnen", als Jokaste zwischen ihren feindlichen Söhnen steht, auf die ähnliche Situation Isabellas in der „Braut" nachgewirkt. Aber von diesen handgreiflichen Einzelheiten abgesehen, ist es die dramatische Technik als solche, in der sich Schiller an Euripides schult. Am 20. Oktober 1788 schreibt er über die Übersetzung der „Iphigenie" an Körner: „Die Arbeit übt meine dramatische Feder, führt mich in den Geist der Griechen hinein, gibt mir, wie ich hoffe, unvermerkt ihre Manier." Und am 12. Dezember heißt es an denselben Freund: „Noch immer habe ich den Euripides vor. Die ,Iphigenia' ist zwar nicht sein bestes Stück; aber es wäre nicht gut, wenn ich das beste gewählt hätte, um Lehrgeld darin zu geben. Die Hauptsache ist die Manier, die im Schlechten herrscht wie im Besten und in jenem fast noch leichter bemerkt wird. Mein Stil hat diese Reinigung sehr nötig. Ich hoffe, ehe ein Jahr um ist, sollst | Du an diesem Studium der Griechen — Studium kann ich es aber für jetzt noch kaum nennen — schöne Früchte bei mir sehen." Durch die nachdichtende Einfühlung in Stil und Technik des Euripides also wollte Schiller selbst zur „Klassizität" vordringen — eben dahin, wo die großen Dichter des französischen Barock gestanden hatten, denen er sich auch aus inneren Gründen verwandt fühlen mußte — verwandter vielleicht, als seinem humanistischen, aus der christlichen Wertwelt herausgetretenen Zeitgenossen. Der Kampf gegen die Nachahmung der Franzosen war in Deutschland nach Gottscheds Diktatur eine geistesgeschichtlich notwendige Tat der Befreiung gewesen, die Schiller bis zu den äußersten Möglichkeiten durchdacht und ausgeführt hatte. Aber auch diese Revolution konnte nicht um ihrer selbst willen weitergeführt werden, wie es die ewigen Stürmer und Dränger gewünscht hätten. Sie waren in dem Augenblick für immer abgetan, als Goethe in Italien den antiken Kunstwerken Auge in Auge gegenüberstand und Schiller sich
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dem Studium Homers und der Übertragung des Euripides zuwandte — im gleichen Jahre 1788. Nicht also das eigentlich Griechische, das Goethe bei seinen Übertragungen Homers und Euripides' verwandt berührt hatte, zog Schiller an dem modernsten der griechischen Dramatiker an, sondern das schlechthin Dramatische und die „Klassizität". Wie hätte es bei seiner mangelnden Kenntnis der griechischen Sprache auch anders sein sollen? Um so besser konnte Schiller schon seit seiner Schülerzeit Lateinisch; der römischen Welt entstammt sein antiker Lieblingsdichter Vergil. Gewiß schätzte auch er den Dichter Homer höher als den Dichter Vergil; gefühlsmäßig und im Bezirk innerster religiöser Entscheidungen aber mußte ihm die Szene der Zerstörung Trojas durch die beinahe als barbarisch geschilderten Griechen, die Szene des heroisch-pathetisch-sentimentalen Liebestodes der Dido näherliegen als die von Goethe mit heidnischer Lust übertragenen homerischen Liebesszenen zwischen Aphrodite und Ares und zwischen Zeus und Hera. Dort war „fester Mut in schweren Leiden", Durchhalten im widrigsten | Geschick, Freiheit der Willensentscheidung in der Vernichtung des eigenen, zunichte gewordenen Daseins gestaltet; hier waren die Götter erhöhte Menschen, die über ihr Mißgeschick lachten und einander betrogen, wenn sie ihre selbstsüchtigen Ziele verfolgten. Dort war eine moralische Welt geschaffen, die im Staat und im Vaterland ihre Krönung fand; hier herrschten noch urtümliche, vorstaatliche, durch kein moralisches Gesetz im Schillerschen Sinne gebundene Zustände, und der Freiheit stand die Zügellosigkeit gefährlich nahe. Die Welt Vergils, nicht die Homers war es, die Schiller verwandt erschien. Vielleicht hätte ihm der Stil Senekas noch mehr entsprochen, wenn nicht bei diesem großen Vorbild aller barocken Tragiker die Freiheit der Entscheidung völlig aufgehoben gewesen und unter den Schritten eines übermächtigen Schicksals vernichtet worden wäre. Auch hier können wir uns schließlich auf Schiller selbst berufen. In seinen erläuternden Bemerkungen über „Die Zerstörung von Troja im zweiten Buch der ,Äneide'" spricht er vom Stil Vergils und von der „ganzen Gravität seines Ganges", die er durch die „gefällige Versart" der Stanze mildern wolle, woran wir den Verfasser der Abhandlung „Über Anmut und Würde" wiedererkennen. Am Schluß der Bemerkungen verspricht er für die Zukunft weitere Übertragungen, „wäre es auch nur, um den römischen Dichter bei unserm unlateinischen Publikum in die ihm gebührende Achtung zu setzen, welche er ohne seine Schuld scheint verscherzt zu haben, seitdem es der Blumauerschen Muse gefallen hat, ihn dem einreißenden Geist der Frivolität zum Opfer zu bringen." Blumauers Travestie der „Abenteuer des frommen Helden Äneas", die 1784 bis 1788 erschien, ist vielleicht zu harmlos, um Schillers Urteil wirklich zu
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verdienen. Wenn aber tatsächlich diese Rettungsabsicht bei der VergilÜbertragung mitspielte (und es besteht kein Grund, Schillers ausdrückliche Versicherung anzuzweifeln), so beweist diese Tatsache wiederum, wie Schiller durch die „Frivolität" in seinem innersten Empfinden verletzt war. Er stellte ihr die „Gravität" des Römers gegenüber, die er durch die fließende italienische Strophe dem modernen Ge-|schmack näherbrachte — die Eigenschaft, die an den Kern seines Glaubens heranführt und ihn tief mit der römischen und barocken Welt verbindet. Nach der Bestimmung der Übertragungen Goethes und Schillers im geistesgeschichtlichen Raum wenden wir uns den einzelnen Übersetzungen zu. Während diese in unserem Text den Originalen gegenüberstehen und nach der Entstehungszeit der letzteren geordnet sind (mit Ausnahme Aisops und Phädrus', die einen passenden Übergang vom griechischen zum römischen Schrifttum bilden), werden sie hier in der Zeitfolge ihrer eigenen Entstehung behandelt. Am Anfang stehen Goethes Schülerübersetzungen von Aisop und Phädrus, die wohl noch in die Frankfurter Jugendzeit fallen, wahrscheinlich in das Jahr 1765. Der Zufall hat die losen Zettel aufbewahrt, in denen sich die Freude des Knaben an der dichterischen Wiedergabe des Übungstextes spiegelt. Die anderthalb Studentenjahre in Straßburg vermittelten Goethe die genauere Bekanntschaft mit Homer. Mit jugendlichem Selbstgefühl schrieb er am 12. Juni 1771 (?) an seinen Tischgenossen Salzmann: „Ich habe in der Zeit, daß ich hier bin, meine griechische Weisheit so vermehrt, daß ich fast den Homer ohne Übersetzung lese." Daß er sich damals schon selbst der Übertragung Homers widmete, ist nicht überliefert. Dagegen fällt gewiß in die Monate von September 1771 bis Mai 1772, während deren er sich wieder in Frankfurt aufhielt, die Übertragung der unter Pindars Namen laufenden V. Olympischen Ode, die ebenfalls auf einem besonderen Blatt erhalten ist. Es war die Zeit der Lektüre Pindars und ihrer Wirkung auf Goethes eigenes Schaffen. Nach einer längeren Pause folgte die Übertragung der Pythagoras zugeschriebenen Verse. In einem Brief aus Ilmenau schrieb Goethe am 8. September 1780 an Frau v. Stein: „Dann las ich zur Abwaschung und Reinigung einiges Griechische. Davon geh ich Ihnen in einer unmelodischen und unaus-jdrückenderen Sprache wenigstens durch meinen Mund und Feder auch Ihr Teil." Nach den Versen fährt er fort: „Wenn Sie sich das nun wieder übersetzen, so haben Sie etwas zu tun und können gute Gedanken dabei haben." Im gleichen Jahr diktierte Goethe übrigens die seit zwei Jahren vorbereiteten „Vögel — Nach dem Aristophanes". Das Lustspiel wurde am
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18. August 1780 in Ettersburg unter Mitwirkung Goethes aufgeführt. In der Theateranzeige hieß es: „Die Vögel, eines Lustspiels nach dem Griechischen und nicht nach dem Griechischen erster Akt." Entschieden richtiger ist die Kennzeichnung „nicht nach dem Griechischen"; denn von Aristophanes finden sich in dieser Parodie von Goethes Beziehungen zu Klopstock und Gramer lediglich Anklänge und vielleicht die Anlage einiger Gestalten. Das Verhältnis zu Aristophanes ist etwa das gleiche wie später in Platens „Verhängnisvoller Gabel" und im „Romantischen Ödipus", die sich ebenfalls gegen literarische Zeitgenossen — die Verfasser der Schicksalstragödien und Immermann — richteten: Eine Idee und bis zu einem gewissen Grade auch der aristophanische Stil wurden übernommen und mit neuem Gehalt gefüllt. Bald darauf folgte die reizende Verdeutschung der pseudoanakreonttschen Verse auf die Zikade (erster Titel: „An die Heuschrecke"), die Goethe kurz vor dem 22. September 1781 auf der Reise nach Dessau in der Nähe von Merseburg schrieb. Sie erschienen zuerst im Tiefurter Journal und wurden 1788 mit der jetzigen Überschrift in die zweite Sammlung der Gedichte aufgenommen. Ebenfalls im Tiefurter Journal wurde zuerst das Gedicht „Der Becher" abgedruckt, das aus der gleichen Zeit stammt, aber trotz dem Zusatz „Aus dem Griechischen" keine Übertragung ist, sondern nur eine Idee des Anakreontikers aufnimmt. Beide Gedichte waren Frau v. Stein gewidmet. Wiederum vergingen fast anderthalb Jahrzehnte, ehe sich Goethe der Übertragung eines anderen griechischen Gedichtes widmete. Möglicherweise bestimmte ihn zur teilweisen Verdeutschung des pseudohomerischen Hymnos auf den Delischen Apollon ein äußerer Anlaß: das Erscheinen der Hören, für | die der Herausgeber Schiller Stoff benötigte. Jedenfalls scheint Goethe die Übersetzung Anfang Juli 1795 Schiller in Jena bei der Durchreise nach Karlsbad übergeben zu haben. Am 11. August erbat er sich die Handschrift zurück, um sie vor der Veröffentlichung nochmals durchzusehen. Philologische Bedenken gegen eingeschobene Stellen ließ er unbeachtet. Um die gleiche Zeit scheinen auch die //o/wr-Übersetzungen entstanden zu sein. Die Schilderung des Hauses des Alkinoos aus der „Odyssee" ist von Goethes eigener Hand auf zwei Bogen erhalten und Mitte der neunziger Jahre entstanden, während die Verdeutschung von Ilias XIII, 95 — 110, von Schreiberhand stammt und nicht vor Mitte 1795 anzusetzen ist1. 1
Nach freundlicher Mitteilung von Ernst Beutler. Weitere Auskünfte über die Stücke aus Homer konnten derzeit weder von Ernst Beutler noch von Hans Gerhard Graf erteilt werden.
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Wie nahe Goethe griechisches Gedankengut stand, auch wenn die bersetzungen daf r nicht immer den Beweis liefern, zeigt eine Briefstelle an Schiller vom 15. Dezember desselben Jahres: „Leider sind es fter die Meinungen ber die Dinge als die Dinge selbst, wodurch die Menschen getrennt werden." Dieser Satz ist die Umschreibung der beiden Zeilen, die Goethe als Leitwort ber die 1831 von Soret veranstaltete bersetzung der „Metamorphose der Pflanzen" schrieb:
Ταράσσει τους ανθρώπους ου τα πράγματα, άλλα τα περί των πραγμάτων δόγματα. Ob er die griechischen Worte schon 1795 kannte, l t sich nicht feststellen, m glicherweise verdankt er die Kenntnis des Satzes einem Essay von Montaigne, dessen Eingangsworte lauten: „Die Menschen, sagt ein alter griechischer Spruch, werden gequ lt von den Dingen selbst." Leider gibt Montaigne seine Quelle nicht an2; auf jeden Fall taucht der Satz nach fast vier Jahrzehnten in der Urfassung wieder auf und liefert damit einen Beweis f r die Gegenwart griechischen Geistesgutes in Goethes Denken. Die naturwissenschaftlichen, insbesondere die optischen | Studien f hrten Goethe im Jahre 1801 zu eingehender Besch ftigung mit wissenschaftlichen Schriftstellern des Altertums. Am 19. Januar begann und am 20. Oktober vollendete er die bersetzung der Abhandlung von „Theophrast oder vielmehr Aristoteles von den Farben", die er f r ein echtes Werk des Peripatetikers hielt. Er t uschte sich damit ebenso wie bei den apokryphen Gedichten Pindars, Pythagoras', Anakreons und Homers; es kam ihm ja auch nicht auf Echtheit, sondern auf das fruchtbare Moment an, das ihn selbst zur Sch pfung anregte. In dieser Hinsicht verhielt er sich hnlich wie Winckelmann gegen ber den r mischen Kopien griechischer Originale. Was die Abhandlung ber die Farben betrifft, so erstrebte er freilich wissenschaftliche Stichhaltigkeit, wobei er sich trotzdem vor Zusammenziehungen, Zus tzen und Auslassungen in der bersetzung nicht scheute. Bei den Meinungen der brigen griechischen Philosophen ber das Wesen der Farben beschr nkte er sich neben gelegentlichen w rtlichen Zitaten auf Umschreibungen und Inhaltsangaben. Da er auf die pseudoaristotelische Schrift besonderen Wert legte, beweist die Tatsache, da er sie 1802 nochmals mit Friedrich August Wolf durcharbeitete. Sie erschien wie die brigen St cke in den „Materialien zur Geschichte der Farbenlehre" im Jahre 1810. Hier wurde auch ein 2
Eine genauere Feststellung war durch kriegsbedingte Umst nde nicht m glich. Den Hinweis verdanke ich Bruno Snell.
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Stück aus Lukre^ in Knebels Übertragung aufgenommen, die Goethe seit 1807 kannte; vollständig gedruckt wurde sie übrigens erst 1821. Zum ersten Male übertrug Goethe im Jahre 1803 einige Zeilen eines lateinischen Dichters. Der Anlaß war ganz äußerlich: Der Theaterdichter Friedrich Hildebrand v. Einsiedel, ein Bekannter Goethes, hatte das Weimarer Theaterprogramm schon 1801 mit einer freien Übersetzung und Theaterbearbeitung der „Brüder" des Teren^ bereichert; jetzt folgte der „Eunuchus" unter dem Titel „Die Mohrin". Goethe lieferte einige Verse aus dem letzten Akt dazu; am 12. Februar berichtete er Einsiedel über die gut verlaufene Leseprobe, und am 19. Februar fand die Uraufführung statt. Noch 1830 las Goethe im Terenz. | Ebenfalls im Jahre 1803 durchdachte Goethe das erstemal die Novelle „Der Mann von fünfzig Jahren", die er später in „Wilhelm Meisters Wanderjahre" einarbeitete. Die Ausführung des Romanes begann am 17. Mai 1807, wurde durch verschiedene Jahre fortgesetzt und 1821 abgeschlossen. In der genannten Novelle begibt sich der Major während seiner Freizeit auf sein Gut und sucht seine Gedichte und Auszüge aus alten und neuen Schriftstellern hervor. „Bei seiner Vorliebe für Horaz und die römischen Dichter", heißt es weiter, „war das meiste daher, und es fiel ihm auf, daß die Stellen größtenteils Bedauern vergangner Zeit, vorübergeschwundner Zustände und Empfindungen andeuteten." Darauf folgt die sehr frei wiedergegebene Stelle aus Hora% (von einer plumpen „Verfehlung des Sinnes" kann natürlich keine Rede sein), und nach einer Zwischenbemerkung kehrt der Major zu den römischen Dichtern zurück: „Jene Stelle des Ovid fiel ihm wieder ein, und er glaubte jetzt durch eine poetische Umschreibung ... sich am besten aus der Sache zu ziehen." Nach der Paraphrase folgt eine aufschlußreiche Bemerkung zum Stile der Übersetzung: „Mit diesem Übertragenen war unser Freund nur wenige Zeit zufrieden; er tadelte, daß er das schön flektierte Verbum: dum fierent in ein traurig abstraktes Substantivum verändert habe, und es verdroß ihn, bei allem Nachdenken die Stelle doch nicht verbessern zu können." Das ist einer der wenigen Anlässe, wo sich Goethe zu einer bestimmten Übersetzungsschwierigkeit geäußert hat. (Die wesentlichste theoretische Betrachtung zu dem Problem des Übersetzens überhaupt mit einer Gliederung nach Übersetzungsgattungen findet sich in den „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des Westöstlichen Divans" unter dem Titel „Übersetzungen"; eine andere, gegen die poetischen Übersetzungen gerichtete und für die prosaischen Übersetzungen eintretende Äußerung findet man im 11. Buch von „Dichtung und Wahrheit" anläßlich der Wielandschen ShakespeareÜbersetzung.)
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Wie wir bereits der Benutzung naturwissenschaftlicher antiker Texte durch Goethe begegnet sind, so finden wir nun | auch den Kunstkritiker bei der Auswertung griechischer Überlieferung. Eine völlig freie, auch Umstellungen des Urtextes nicht ausweichende Wiedergabe aus Pausanias' „Reisebeschreibung" enthält die Abhandlung über „Polygnots Gemälde in der Lesche zu Delphi", die Ende 1803 geschrieben und im folgenden Jahre in einer Sonderbeilage der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung veröffentlicht wurde. In das gleiche Gebiet gehört der Aufsatz über „Philostrats Gemälde", das heißt über die durch Pbilostratos beschriebenen Gemälde, mit einem Nachtrag. Goethe folgte hier teils wörtlich, teils dem Sinn nach, teils aber auch mit wesentlichen Veränderungen der Vorlage, mit der er sich zuerst 1804 und 1805 beschäftigt hatte, auf die er dann 1813 zurückkam und deren Bearbeitung er 1818 und 1820 in Kunst und Altertum herausgab. In der gleichen Zeitschrift erschien 1818 mit dem Datum vom 20. November 1812 die Abhandlung über „Myrons Kuh". Nach der Tagebuchaufzeichnung beschäftigte sich Goethe am 19. November 1812 mit diesem Werk der griechischen Bildhauerkunst und ließ sich am 26. Dezember von Riemer die entsprechenden Epigramme der Griechischen Anthologie bringen. Seine These läuft darauf hinaus, daß die Kuh ein Kalb gesäugt habe; zum Beweise übertrug er die drei Epigramme. Über den Wert der sechsunddreißig erhaltenen Epigramme auf das Kunstwerk war sich Goethe klar: „Man findet sie eintönig, sie stellen nicht dar, sie belehren uns nicht." Trotzdem beteiligte er sich selbst an den „rhythmischen Scherzen", indem er seine Ansicht in zwei Distichen am Schluß des Aufsatzes gedrängt zusammenfaßte. Zu den Scherzen, die Goethe zuweilen liebte, gehören auch die beiden Rätsel aus den Komödien des Alexis und des Antiphanes. Er füllte damit die letzte Seite eines Heftes von Kunst und Altertum aus dem Jahre 1823 und benutzte die Verse des Alexis, um sie mit einer launigen Schlußwendung, die er zudichtete, in das Stammbuch seines Enkels einzutragen. Bisher haben wir ein eigentlich künstlerisches Interesse Goe-|thes nur an den Übertragungen Pindars, Anakreons und des Homerischen Hymnos feststellen können: Nur diese drei Stücke nahm Goethe allein aus dem Grunde vor, um sie in sein „geliebtes Deutsch zu übertragen". Im hohen Alter tritt ein weiterer griechischer Dichter hinzu, den Goethe um seiner selbst willen verdeutschte: Euripides. Er kannte ihn freilich schon seit seiner Jugend. In „Götter, Helden und Wieland" tritt Wieland neben Euripides auf und wird vor dem Mann, „der geboren wurde, da Griechenland den Xerxes bemeisterte", arg verspottet. Der Brief an Frau von Stein
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vom 12. September 1780 und die Tagebuchaufzeichnung vom 3. April 1799 bezeugen weitere Lektüre der euripideischen Tragödien. Die „Iphigenie" ist der am deutlichsten vernehmliche Widerhall der EuripidesStudien im gesamten Schaffen Goethes. 1802 befaßte er sich mit Wielands Übersetzung des „Ion". 1820 lernte er in Karlsbad den Gräzisten Gottfried Hermann kennen, der ihm bald darauf einige Schriften übersandte, darunter seine Ausgabe der Fragmente des „Phaeton". Goethe notierte in den „Tag- und Jahresheften" von 1821: „Die Fragmente ,Phaetons', von Ritter Hermann mitgeteilt, erregten meine Produktivität. Ich studierte eilig manches Stück des Euripides, um mir den Sinn dieses außerordentlichen Mannes wieder zu vergegenwärtigen. Professor Göttling übersetzte die Fragmente, und ich beschäftigte mich lange mit einer möglichen Ergänzung." Die Frucht dieser Arbeit waren die drei in „Kunst und Altertum" in den Jahren 1823 und 1827 veröffentlichten Aufsätze über den „Phaeton", in denen „sich das Zerstückte zu restaurieren schien". Goethe selbst war mit Göttlings Übersetzung offenbar zufrieden; Wilamowitz dagegen nicht. Er urteilte: „Die philologischen Berater gaben dem modernen Dichter nur eine des Antiken unwürdige Übersetzung und gingen ihm nicht mit dem zur Hand, was freilich für jede solche Rekonstruktion ein unerläßliches Erfordernis ist, mit der Kenntnis von der Manier des Euripides." Gottfried Hermann dagegen machte im Neudruck seiner Ausgabe in den „Opuscula" von 1828 ausdrücklich auf Goethes Be-| mühungen um die Wiederherstellung des Zusammenhanges der Tragödie aufmerksam: „Adverterunt haec fragmenta Goethium, quamvis grandaeva in senecta non cithara carentem. luvabit contulisse, quae scripsit in libro cui indicem fecit Kunst und Altertum ..." Hatte sich Goethe bei der Übersetzung des „Phaeton" noch auf die Hilfe der Mitarbeiter verlassen, so regte ihn eine weitere Schrift Gottfried Hermanns über die „Bakchen" des Euripides vom Jahre 1823 zur eigenen Übertragung an. Er veröffentlichte die Szene mit einer kurzen Inhaltsangabe der vorangehenden Handlung ebenfalls in Kunst und Altertum im Jahre 1827. Damit ist Goethes Tätigkeit als Übersetzer antiker Dichtungen abgeschlossen. Die drei Verse des Sophokles, die sich auf einem losen Zettel von Goethes eigener Hand erhalten haben, sind ebensowenig näher zu bestimmen wie das im Nachlaß aufgefundene Gedicht des Bakchylides, das seinem Stil nach früh, etwa in der Zeit der Pindar-Begeisterung, anzusetzen ist. Goethe hat die Mängel der Verdeutschung offenbar selbst empfunden, denn er übergab die Verse nicht der Öffentlichkeit. Noch einmal übertrug Goethe ein Stück wissenschaftlicher antiker Prosa: die berühmte Definition der Tragödie durch Aristoteles, mit der
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sich schon Lessing und andere so scharfsinnig befaßt hatten. In der „Nachlese zu Aristoteles' Poetik", die in Kunst und Altertum im Jahre 1827 erschien, suchte Goethe den Sinn der Stelle durch seine Übersetzung zu erläutern: „Die Tragödie ist die Nachahmung einer bedeutenden und abgeschlossenen Handlung, die eine gewisse Ausdehnung hat und in anmutiger Sprache vorgetragen wird, und zwar von abgesonderten Gestalten, deren jede ihre eigene Rolle spielt und nicht erzählungsweise von einem einzelnen, nach einem Verlauf aber von Mitleid und Furcht mit Ausgleichung solcher Leidenschaften ihr Geschäft abschließt." Das ist nicht nur Verdeutschung, sondern bis in die Einzel-|heiten Umsetzung des fremden Inhalts in den allerpersönlichsten Stil, wie es Goethe für den größten Teil seiner Übertragungen aus Fremdsprachen gehalten hat. Die Formulierung ist überdies das Ergebnis einer durch Jahrzehnte immer wieder aufgegriffenen Beschäftigung mit dieser Definition, die von der Jugendlektüre der „Poetik" im Jahre 1767 über das gemeinsame Studium mit Schiller zwanzig Jahre später, die erneute Lektüre im Herbst 1800, die Diskussion mit Wolf im Jahre 1802, die Äußerungen von 1824 und 1825 bis zur abschließenden Darstellung in dem angeführten Aufsatz reicht. Wie tief selbst eine anscheinend so abliegende Arbeit in das Zentrum von Goethes Schaffen führt (auch wenn Aristoteles dabei mißverstanden worden sein sollte), mag die Bemerkung über den in Frage stehenden Begriff der Katharsis zeigen: „Er versteht unter Katharsis diese aussöhnende Abrundung, welche eigentlich von allem Drama, ja sogar von allen poetischen Werken gefordert wird." Und noch einmal wandte sich Goethe am 2. April 1829 an Riemer und bat ihn um die Übersetzung einiger Verse aus Ovids „Tristien", die ihm der Trennungsschmerz beim Abschied aus Rom ins Gedächtnis gerufen hatte. Er adelte die Bemühung des Hilfreichen, der sich dem Stile des Meisters angepaßt hatte, indem er die Rechenschaft über den „Zweiten römischen Aufenthalt" mit dieser Gabe abschloß. Schillers Übertragungen aus antiken Dichtern sind nicht wie die Goethes über sein ganzes Leben verteilt, sondern drängen sich mit einem kurzen Vor- und Nachspiel auf etwa drei Jahre zusammen. Das Vorspiel bildet wie bei Goethe eine Übungsübersetzung. Im letzten Studienjahr auf der Karlsschule besuchte Schiller die Vergil-Vorlesungen Friedrich Ferdinand Drucks, eines jungen Lehrers, dem vielleicht Schillers Vergil-Begeisterung überhaupt, mit hoher Wahrscheinlichkeit aber die Anregung zu der Übertragung aus dem I. Buch der „Äneis" zu danken ist, die 1780 unter dem Titel „Der Sturm auf dem | Tyrrhener Meer" in Haugs Schwäbischem
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Magazin abgedruckt wurde. Daß es sich um eine Jugendarbeit handelt, würde schon der später abgelehnte Hexameter beweisen, noch mehr der Stil und die Wahl des Stückes selbst, das mit seiner Schilderung entfesselter Naturgewalten möglicherweise auf den lange Jahre danach gedichteten „Taucher" nachgewirkt hat. Acht Jahre später, in einer der glücklichsten und stillsten Zeiten seines Lebens, befand sich Schiller in Volkstedt und siedelte in der zweiten Hälfte des August 1788 nach Rudolstadt über, um der Familie Lengefeld näher zu sein. Der „Don Carlos" war beendet, bald danach auch die „Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande" und kleinere Arbeiten. Schiller beschäftigte sich mit dem Plan zu den „Maltesern", mit der Rezension von Goethes „Egmont" und las Homer, die „Odyssee" in der Voßschen, die „Ilias" in Stolbergs Prosaübersetzung. Es ist reizvoll, an Hand des Briefwechsels das Auftauchen des Planes zur EuripidesÜbertragung zu verfolgen. Das erstemal hören wir davon am 3. September in einem Briefe an Lotte v. Lengefeld: „Gestern lasen wir in der ,Odyssee', und eine Szene aus den ,Phönizierinnen' des Euripides hätte uns bald Tränen gekostet." Hinsichtlich seiner Arbeit am „Geisterseher", die er gleichzeitig unter der Hand hatte, heißt es am 16. Oktober an Lotte: „Ich habe jetzt eine gar angenehme Beschäftigung bei meinem Euripides, die mir lieber ist als alle Geisterseher." Am gleichen Tage bat er Crusius dringend um Euripides' und Sophokles' Tragödien mit lateinischer Übersetzung sowie um Steinbrücheis deutsche Übersetzung. Er scheint sie umgehend erhalten zu haben, denn schon am 20. Oktober berichtete er Körner: „Ich bin jetzt mit einer Übersetzung der ,Iphigenia von Aulis' aus Euripides beschäftigt. Ich mache sie in Jamben, und wenn es auch nicht treue Wiedergebung des Originales ist, so ist es doch vielleicht nicht zu sehr unter ihm." Darauf folgt der schon angeführte Satz über seine Hoffnung, mit der „Manier" des Euripides vertraut zu werden. Den äußeren Anlaß zur | Übertragung gaben wahrscheinlich die Schwestern v. Lengefeld; er traf in der glücklichsten Weise mit Schillers eigenem Wunsche zusammen, in den Geist der Antike einzudringen. Caroline berichtete später darüber: „Die Bekanntschaft mit den griechischen Tragikern vollendete diese neue Gestaltung unseres Kunstsinnes. Diese große Darstellung der Menschheit in ihrer Allgemeinheit und ewigen Naturwahrheit ergriff uns im tiefsten Innern und entzückte uns so sehr, daß wir viele Stellen der Tragödien, die wir aus Brumoys ,Griechischem Theater' kennenlernten, übersetzten, um nur diese Reden, Gefühle und Bilder vermittels unserer Sprache inniger in Herz und Seele aufzunehmen. Schiller versprach uns, unsere Lieblingsstücke zu verdeutschen; und daß dies Leben und Weben in
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diesen Urgebilden auch ein Wendepunkt für seinen eignen Geist wurde, ja auf den ,Wallenstein' mächtig einwirkte, ist wohl nicht zu verkennen." Schon am 27. November konnte Schiller Caroline mitteilen, daß er die „Phönizierinnen" übersetze: „Die schöne Szene, worin Jokaste sich die Übel der Verbannung von Polynices erzählen läßt, ist es, was mich vorzüglich dazu bestochen hat. Ich bedaure nur, daß ich bei diesen Arbeiten zu sehr pressiert bin und mich nicht genug mit dem Geist meines Originals familiarisieren konnte, ehe ich die Feder ansetzte. Aber die Arbeit gibt mir Vergnügen und kann am Ende doch keine andre als vorteilhafte Wirkungen auf meinen eigenen Geist haben." Nach der Rückkehr nach Weimar wird die Stellung zu Euripides kritischer. Am 4. Dezember heißt es an Lotte und Caroline: „Mein Euripides gibt mir noch viel Vernügen, und ein großer Teil davon kommt auch auf sein Altertum. Den Menschen sich so ewig selbstgleich zu finden, dieselben Leidenschaften, dieselben Kollisionen der Leidenschaften, dieselbe Sprache der Leidenschaften3. Bei dieser unendlichen Mannigfaltigkeit immer noch diese Ähnlichkeit, diese Einheit | derselben Menschenform. Oft ist die Ausführung so, daß kein anderer Dichter sie besser machen könnte; zuweilen aber verbittert er mir Genuß und Mühe durch viele Langeweile. Im Lesen ginge sie noch an, aber sie übersetzen zu müssen, und zwar gewissenhaft! Oft macht mir das Schlechtere die meiste Mühe. Im nächsten Monat werden Sie wohl die Früchte meines jetzigen Fleißes zu lesen bekommen." Die Arbeit schritt in der Tat rasch vorwärts. Schon am 12. Dezember erfuhr Körner: „Diese Woche wird die ,lphigenie' fertig, und von den ,Phönizierinnen' sind bereits zwei Akte übersetzt," das heißt alles, was überhaupt übersetzt wurde. Damit war also die Übersetzungsarbeit beendet. Kurze Zeit nahmen noch die „Anmerkungen" zur „Iphigenie" in Anspruch, und schon am 8. Januar verhandelte Schiller mit Göschen über technische Einzelheiten des Abdrucks in der Thalia, wo beide Dramen mit den Anmerkungen in den ersten Heften des Jahrgangs 1789 veröffentlicht wurden. Die „Anmerkungen" sind in verschiedener Hinsicht besonders aufschlußreich. Daß Schiller an einigen Stellen neben dem französischen auch den griechischen Text zitierte und sich damit „das Ansehen eines Philologen geben" wollte, wie Köster behauptet, ist natürlich nicht richtig; es würde auch Schillers unbestechlichem Charakter nicht entsprochen haben. Man kann aus diesen Anmerkungen nur seine Gewissenhaftigkeit feststellen und die Mühe, die er sich machte, um dem genauen Sinn des ·' Die Worte erinnern auffällig an einige Sätze aus La Bruyeres „Discours sur Theophraste".
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Urtextes auf die Spur zu kommen. Im übrigen sollten diese Anmerkungen kein philologisches „Blendwerk" sein und sind es auch nicht. Für die kritische Stellung zu Euripides, die in der schönsten Weise durch den Vergleich zwischen Euripides' und Goethes „Iphigenie" ergänzt wurde, ist das kurze Vorwort über die „Iphigenie in Aulis" von besonderer Bedeutung. „Diese Tragödie", beginnt Schiller, „ist vielleicht nicht die tadelfreieste des Euripides, weder im ganzen noch in ihren Teilen." Agamemnons wie Achills Charaktere seien zweideutig; Achills Verhalten sei inkonsequent, der Chor „ein ziemlich überflüssiger Teil der Handlung". Mit | scharfem Blick hebt Schiller den Widerspruch zwischen der Erzählung von Göttersagen und dem erschütterten Glauben der euripideischen Menschen hervor. Dagegen schreibt er Iphigenies Charakterzeichnung dem Dichter „als einen vorzüglich schönen Zug" an, findet aber bei Klytämnestra den Hinweis auf die spätere Ehebrecherin und Mörderin zu tadeln, weil sie den eindeutigen Charakter der zärtlichen Mutter zerstöre. Auch diese Bemerkung ist treffend und verrät den selbständig schaffenden Dramatiker. Die Charakterisierung des Stückes im ganzen läßt an Schillers eingangs behandelte innere Beziehung zur französischen Barocktragödie denken: „Die Gesinnungen in diesem Stücke sind groß und edel, die Handlung wichtig und erhaben, die Mittel dazu glücklich gewählt und geordnet. Kann etwas wichtiger und erhabener sein als die — zuletzt doch freiwillige — Aufopferung einer jungen und blühenden Fürstentochter für das Glück so vieler versammelten Nationen?" Könnte man nicht mit den gleichen Worten eine Tragödie Racines kennzeichnen? Über die Problematik seines Übersetzungsstiles besonders bei den Chören war sich Schiller im klaren. Er wollte ja aber die Vorlage nicht nur übersetzen, sondern wirklich verdeutschen, und daß er das Gefühl hatte, dieser Vorsatz sei ihm gelungen, beweist die Tatsache, daß er den Chor der „Vierten Zwischenhandlung" unter dem Titel „Die Hochzeit der Thetis" in seine erste größere Gedichtsammlung vom Jahre 1800 aufnahm. Er schreibt darüber: „Die gereimte Übersetzung der Chöre gibt dem Stück vielleicht ein zwitterartiges Ansehen, indem sie lyrische und dramatische Poesie miteinander vermengt; vielleicht finden einige sie unter der Würde des Drama. Ich würde mir diese Neuerung auch nicht erlaubt haben, wenn ich nicht geglaubt hätte, die in der Übersetzung verlorengehende Harmonie der griechischen Verse — ein Verlust, der hier um so mehr gefühlt wird, da in dem Inhalte selbst nicht immer der größte Wert liegt — im Deutschen durch etwas ersetzen zu müssen, wovon ich gern glaube, daß es jener Harmonie nicht nahe kommt, was aber, wäre es auch nur der | überwundenen Schwierigkeit wegen, vielleicht
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einen Reiz für diejenigen Leser hat, die durch eine solche Zugabe für die Chöre des griechischen Trauerspiels erst gewonnen werden müssen. Kann mich dieses bei unsern griechischen Zeloten nicht entschuldigen, so sind sie hinlänglich durch die Schwierigkeiten gerächt, die ich bei diesem Versuche vorgefunden habe." Schiller hatte im voraus recht, als er von „Zeloten" sprach; in der Tat gibt es nach der Lektüre der Tragödie kaum etwas Unerquicklicheres als den Vergleich der kritischen Urteile über Schillers Leistung von Kösters Bekrittelung bis zu Bergers Verhimmelung. Sehr vernünftig äußerte sich dagegen der kongeniale Humboldt, der ja selbst auf diesem Gebiete reiche Erfahrung besaß: „Vielleicht bringt nur diese völlige Übertragung des Antiken in eine uns ganz eigentümliche und uns angeborene Manier uns den Gegenstand näher ... Bei allem anderen und eigentlichen Übersetzen geht man immer mehr aus seinem eignen Charakter heraus, als daß man das Fremde in denselben hinüberzieht; es ist daher immer mehr oder weniger bloß gelehrte Arbeit. Jede bloße Übersetzung läßt mich kalt, da so eine eigentliche Umwandlung des Fremden in die eigene Natur bis in das Innerste der Seele eingreift." Noch einmal faßte Schiller am 9. März 1789 gegenüber Körner zusammen, was ihm die Beschäftigung mit Euripides bedeutet hatte, und verteidigte gleichzeitig die Übersetzung der Chöre: „Die Gründe, aus denen Du mich rechtfertigst, daß ich mich damit beschäftige, sind auch die meinigen: mehr Simplizität in Plan und Stil daraus zu lernen. Setze noch hinzu, daß ich mir bei mehrerer Bekanntschaft mit griechischen Stücken endlich das Wahre, Schöne und Wirkende daraus abstrahiere und mir mit Weglassung des Mangelhaften ein gewisses Ideal daraus bilde, wodurch mein jetziges korrigiert und vollends gerundet wird — so wirst Du mich nicht tadeln, wenn ich zuweilen darauf verfalle, mich damit zu beschäftigen. Zeit und Mühe hat es mir allerdings gekostet, und das, was im Euripides schlecht war, bei weitem am meisten. Die Chöre haben durch mich gewonnen, d. h. was sie bei manchem | anderen Übersetzer nicht gewonnen hätten; denn vielleicht sind sie im Original durch die Diktion vortrefflich." Daran schließen sich die bereits angeführten Sätze über das mangelnde Verhältnis zum Original an. Am 30. April berichtete Schiller dem Freunde mit Genugtuung, daß die Idee, die Chöre in Reimen zu übersetzen, auch Bürger sehr eingeleuchtet habe; „er findet auch griechischen Geist in der Übersetzung". Desgleichen freute er sich über die Zustimmung seines früheren Lehrers Nast, die er am 15. November Lotte und Caroline mitteilte. Die Nachwirkung der Euripides-Übertragungen ist nicht nur im eigenen Schaffen Schillers von der Rezension der Goetheschen „Iphigenie"
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über den durch Caroline bezeugten Einfluß auf den „Wallenstein" bis zur „Braut von Messina" sichtbar, sondern auch in der dauernden weiteren Beschäftigung mit Euripides. Am 13. April 1799 bat er Cotta, ihm die Tragödien in der neuesten Ausgabe von Beck mitzubringen. Kurz darauf, am 26. April, äußerte er sich anläßlich der „Maria Stuart" vor Goethe über die dramatische Methode des Euripides, „welche in der vollständigsten Darstellung des Zustandes besteht". Noch am 1. Januar 1802 bat er sich von Goethe den „Ion" aus, wohl wegen der durch Wieland beabsichtigten Übertragung der Tragödie. Freilich war die Beschäftigung mit Euripides für Schiller nur Übung und Durchgang, entsprang nur einem Bildungserlebnis, dessen er bedurfte, um seine dramatische Technik zu vereinfachen und dem klassischen Ideal näherzubringen. Wie bald er sich angeeignet hatte, was er zu lernen wünschte, zeigen nicht nur die angeführten kritischen Briefstellen über Euripides, sondern vor allem die nach dem Erscheinen der Versfassung von Goethes „Iphigenie" gleichfalls im Jahre 1788 geschriebene und 1789 überarbeitete Rezension „Über Goethes ,Iphigenie auf Tauris'". Sie erschien 1789 in der Kritischen Übersicht der neusten schönen Literatur der Deutschen, wurde aber nicht vollendet, da die Zeitschrift einging. Vielleicht ist es schon bezeichnend, daß Schiller sich hier nicht die Mühe | machte, die Vorlage in Versen wiederzugeben, und daß er stellenweise Inhaltsangaben zwischen die Zitate einflocht. Wahrhaft entscheidend und für seine weitere Entwicklung geradezu umstürzend aber war die Erkenntnis, daß Schiller hier die Antike durch einen modernen Dichter überwunden sah. Hatte er noch kurz vorher von der Notwendigkeit gesprochen, seinen eigenen Stil am Studium des Euripides zu reinigen, so kam es ihm nunmehr darauf an, einen wirklich eigenen, das heißt nicht mehr durch die griechischen Dramatiker bestimmten, sondern der gegenwärtigen Welt entwachsenen Stil zu schaffen. Gerade indem er dieses Vorhaben ausführte, wurde er dem Meister ebenbürtig. Auch die Übertragung des II. und IV. Buches von Vergils „Äneis" verdankt einem äußeren Anlaß ihre Entstehung. Im April 1789 lernte Schiller Bürger persönlich kennen und berichtete darüber am 30. April Lotte und Caroline und im gleichen Sinne Körner: „Wir haben uns vorgenommen, einen kleinen Wettkampf, der Kunst zu Gefallen, miteinander einzugehen. Er soll darin bestehen, daß wir beide das nämliche Stück aus Vergils ,Äneide', jeder in einer ändern Versart, übersetzen. Ich habe mir Stanzen gewählt." Es war also eine ganz ähnliche Situation wie zwischen Kleist und Zschokke, als die Idee zum „Zerbrochenen Krug" entstand.
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Sowohl die Wahl des Stoffes wie des Versmaßes muß überraschen, wenn man sich Schillers Rezension von Gotthold Friedrich Stäudlins „Proben einer teutschen ,Äneis' nebst lyrischen Gedichten" aus dem Jahre 1781 vergegenwärtigt. Damals hatte er über die „undankbare Arbeit" der Übersetzung geschrieben: „Virgil wird auch im teutschen Gewand den Teutschen ewig unerkannt bleiben — Virgil wird und muß in jeder Übersetzung unendlich verlieren ... Von einer Übersetzung fodere ich, daß sie Treue mit Wohlklang verbinde, daneben den Genius der Sprache, in der sie geschrieben ist, nicht aber den der Originalsprache atme. Also gehört zu einem guten Übersetzer genaue Philologie einer doppelten Sprache. Ich nehme zuerst die teutsche vor. Herr Stäudlin hat | den Hexameter zu seinem Verse gewählt, und wie mich deucht, wählte er recht. Ein starker, ernster und feierlicher Gang macht diesen vorzüglich zur Epopee geschickt. Aber bei dem Hexameter ist eben das Bedenkliche, daß er so gern ermüdet, wenn man nicht genug Wortfülle und Sprachgewalt, — nicht genug metrisches Ohr — und poetische Musik hat, ihm eine unterhaltende Mannigfaltigkeit zu geben." Also Vergil ist nahezu unübersetzbar; begeht man das Wagnis doch, ihn zu verdeutschen, so ist der Hexameter das geeignete, wenn auch nur einem wirklichen Sprachund Verskünstler angemessene Metrum. So urteilte Schiller 1781. Acht Jahre später war er anderen Sinnes geworden. Er hielt Vergil jetzt für durchaus übersetzbar, allerdings zog er die schwierige Stanze dem einfacheren Hexameter vor. Die Gründe dafür hat er im Vorwort zur „Zerstörung von Troja im II. Buch der ,Äneide'", das im Jahrgang 1792 der Neuen Thalia abgedruckt wurde, genauer angegeben: „Die hauptsächlichste Schwierigkeit, die ihm [dem Verfasser] bei Ausführung seines Vorhabens aufstieß, war die Wahl einer Versart, bei welcher von den wesentlichen Vorzügen des Originals am wenigsten eingebüßt würde und welche dasjenige, was schon allein der Sprachverschiedenheit wegen unvermeidlich verlorengehen mußte, von einer anderen Seite einigermaßen ersetzen könnte. Der deutsche Hexameter schien ihm diese Eigenschaft nicht zu besitzen, und er hielt sich für überzeugt, daß dieses Silbenmaß, selbst nicht unter Klopstockischen und Vossischen Händen, diejenige Biegsamkeit, Harmonie und Mannigfaltigkeit erlangen könnte, welche Virgil seinem Übersetzer zur ersten Pflicht macht. Durch dieses Medium also glaubte er es schlechterdings aufgeben zu müssen, mit der Schönheit des Virgilischen Verses zu ringen. Er glaubte, die ganze eigene magische Gewalt, wodurch der Virgilische Vers uns hinreißt, in der seltenen Mischung von Leichtigkeit und Kraft, Eleganz und Größe, Majestät und Anmut zu finden, wobei der römische Dichter von seiner Sprache unstreitig weit mehr unterstützt | wurde, als
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der deutsche von der seinigen hoffen kann. Mußte von diesen beiden so verschiedenen Eigenschaften des Ausdrucks eine der ändern in der Übersetzung nachgesetzt werden, so glaubte er bei derjenigen Versart, welche der Kraft, Majestät und Würde zwar einigen Abbruch tut, aber dem Ausdruck von Grazie, Gelenkigkeit, Wohlklang desto günstiger ist, am allerwenigsten zu wagen ... Die harten Schläge, welche der Verfasser der ,Äneis' so oft auf das Herz seines Lesers führt, der großenteils kriegerische Inhalt seines Gedichts, die ganze Gravität seines Ganges werden durch eine gefällige Versart gemildert, und die Harmonie, die Anmut in der Einkleidung söhnt vielleicht nicht selten mit der anstrengenden, oft gar empörenden Schilderung aus. Diese Rücksicht vorzüglich bewog den Verfasser, den achtzeiligen Stanzen den Vorzug zu geben, derjenigen unter allen deutschen Versarten, wobei unsere Sprache noch zuweilen ihrer angestammten Härte vergißt und durch ihren männlichen Charakter doch noch hinlänglich verhindert wird, ins Weichliche oder Spielende zu fallen. Der Verfasser konnte diese Wahl um so mehr bei sich rechtfertigen, da es seit Erscheinen des ,Idris' und ,Oberon' zur ausgemachten Wahrheit geworden ist, daß die achtzeiligen Stanzen, besonders mit einiger Freiheit behandelt, für das Große, Erhabene, Pathetische und Schreckhafte selbst einen Ausdruck haben — freilich nur unter den Händen eines Meisters ... Wer übrigens die Schwierigkeiten kennt, die sich einem Übersetzer der ,Äneis' und vollends in einer gereimten Versart in den Weg stellen, wird eher im Fall sein, zu wenig als zu viel zu erwarten. Nicht die geringste darunter war, eine glückliche Einteilung zu treffen, wobei der lateinische Dichter seinem Übersetzer nicht nur nicht vorgearbeitet, sondern sehr oft entgegengearbeitet hat. Das lateinische Original bewegt sich in einem stetigen Strome fort, und Virgil hat sich in vollem Maße der Freiheit bedient, welche diese Form ihm gewährte. Dieser fortströmende Gang des Gedichts mußte nun in der Übersetzung durch viele kurze Ruhepunkte unter-|brochen und ein einziges zusammenhängendes Ganze in mehrere kleine, sich leicht ineinanderschmiegende Ganze aufgelöst werden, wenn anders die Stanzenform ungezwungen scheinen und das sklavische Gepräg einer Übersetzung verwischt werden sollte. Hier konnte es freilich nicht fehlen, daß nicht öfters vier oder fünf lateinische Hexameter in eine ganze Stanze ausgesponnen oder auch umgekehrt acht und neun Verse des Originals in den engen Raum von acht Stanzenzeilen gepreßt wurden. Bei einem Dichter, der sich so wenig nehmen läßt als Virgil, war die letztere Operation unstreitig die bedenklichste, doch glaubt der Verfasser, die seinem Originale gebührende Achtung selten oder nie dabei übertreten zu haben. Es kam ihm zustatten, daß selbst der gedrängte,
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wortsparende Virgil, dem Wohllaut oder der unerbittlichen Versform zu Gefallen, nicht selten entbehrliche Wiederholungen und selbst Flickwörter sich erlaubte, welche die Schonung des Übersetzers weniger verdienten. Sehr gerne unterwirft er sich einer jeden kaltblütigen, kritischen Prüfung, was die Gewissenhaftigkeit und Treue seiner Übersetzung betrifft, verbittet sich aber hiemit aufs feierlichste jede Vergleichung seiner Arbeit mit der unerreichbaren Diktion des römischen Dichters, welche unausbleiblich und ohne seine Schuld zu seinem Nachteil ausfallen muß; denn er fordert alle gewesene, gegenwärtige und noch kommende deutsche Dichter auf, in einer so schwankenden, unbiegsamen, breiten, gotischen, rauhklingenden Sprache, als unsre liebe Muttersprache ist, mit der feinen Organisation und dem musikalischen Fluß der lateinischen ohne Nachteil zu ringen." Was Schiller also bestimmte, die Stanze für seine Vergil-Verdeutschung zu wählen, war außer den Gründen des Wohlklanges und der Schmiegsamkeit vor allem die Tatsache, daß sie durch Wielands beide Versepen seit 1768 beziehungsweise 1780 im Deutschen eingeführt war, und zwar in einer Form, in welcher der strenge Bau der Strophe bei Ariost, Tasso und Marino bereits aufgelockert war. Erst Ende März 1791 führte Schiller den Plan von 1789 aus und berichtete Körner am | 10. April darüber, indem er mit den gleichen Gründen wie in der Vorrede die Wahl der Stanzen begründete. Nach 32 vollendeten Stanzen wurde er durch einen schweren Anfall seiner Krankheit an der Weiterarbeit verhindert. Nachdem er halbwegs genesen war, führte er das Werk im Herbst weiter und schrieb am 24. Oktober an den Freund: „Binnen neun Tage, denn so lange ists, daß ich wieder an diese Arbeit kam, habe ich 103 Stanzen noch dazu übersetzt, so daß das ganze zweite Buch in nächster Thalia erscheinen kann. So schwer diese Arbeit scheint und vielleicht manchem auch sein würde, so leicht ging sie mir vonstatten, nachdem ich einmal in Feuer gesetzt war. Es gab Tage, wo ich 13, auch 16 Stanzen fertig machte, ohne längere Zeit als des Vormittags 4 Stunden und ebensoviel des Nachmittags daran zu wenden. Die Arbeit wird Dich freuen, denn sie ist mir gelungen. Für die ersten Stanzen, die ich je gemacht, und für eine Übersetzung, bei der ich oft äußerst geniert war, haben sie eine Leichtigkeit, die ich mir nimmer zugetraut hätte." Am 7. November ging das Manuskript der „Zerstörung von Troja" an Göschen, am 19. eine Abschrift an Körner; am gleichen Tage war auch das IV. Buch beendet. Der Freund antwortete sofort zustimmend, und Schiller schrieb ihm am 28. November zurück: „Es freut mich sehr zu hören, daß Du an den Stanzen Geschmack gefunden hast. ... Etwa 30 ausgenommen, sind die meisten im Flug hingeworfen, daher kommt vielleicht die Ungleichheit des Tons, wozu Virgil mich oft verführt haben mag. Aber die Eilfertigkeit selbst, mit der
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ich sie hinwarf, gibt mir großes Vertrauen zu mir selbst, denn sie beweist, daß Leichtigkeit bei mir jetzt nicht sowohl mehr das Werk der Miihey sondern Fertigkeit ist. Dein Gedanke nach Durchlesung der Stanzen war ganz der meinige: daß ich ein episches Gedicht machen sollte." Im Gefolge der Vergil-Übertragung taucht nun der Plan des Gustav-AdolfEpos auf; wäre er ausgeführt worden, so wäre die Wirkung der Beschäftigung mit dem römischen Epos noch sichtbarer geworden als in den Balladen. Schiller ließ das Manuskript noch einige Zeit liegen, weil er, wie er Kör-|ner am 4. Dezember mitteilte, mit einigen Stanzen noch nicht zufrieden war; am 9. Januar aber konnte er Baggesen davon in Kenntnis setzen, daß die Stanzen von seiner Hand seien, ja er stellte ihm anheim, sie seinen Wohltätern, dem Erbprinzen von Augustenburg und dem Grafen Schimmelmann, vorzulegen. Die „Zerstörung von Troja" erschien 1792 in der Neuen Thalia, der Gesang von „Dido" im folgenden Heft des gleichen Jahrgangs. Beide Gesänge überarbeitete Schiller gründlich für die Aufnahme in seine Gedichtbände von 1800 und 1803. In dieser endgültigen Form geben wir sie in unserem Text wieder. Zum Vergleich mögen hier die beiden ersten Stanzen der „Zerstörung von Troja" und die erste Stanze des „Dido"-Gesanges in der ursprünglichen Fassung folgen: Der ganze Saal war Ohr, jedweder Mund verschlossen, Und Fürst Äneas, hingegossen Auf hohem Polstersitz, begann: Dein Wille, Königin, macht Wunden wieder bluten, Die keine Sprache schildern kann; Wie Trojas Stadt verging in Feuerfluten, Den Jammer willst du wissen, die Gefahr, Wovon ich Zeuge, ach, und meistens Opfer war. Wer, selbst aus der Dolopen rauhem Schwärme, Gibt tränenlos den traurigen Bericht? Und uns umschattet schon die Nacht mit feuchtem Arme, Zum Schlummer winkt der Sterne sinkend Licht. Doch du hast Lust, mein Schicksal zu betrauern, Der Teukrer Not und Trojas letzten Tag. Seis denn! Wie sehr mir auch vor der Erinnrung schauern, Der Geist davor zurückefliehen mag! Längst aber krank vom Pfeil des Liebesgottes, nährt Die Königin ein Feur, das heimlich sie verzehrt, Mit immer wachsender Begier umranken Des teuren Gastes Bild die trunkenen Gedanken,
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Des Volkes Glanz, des Führers Heldenmut. Sein Anblick, seine Worte brannten Tief in ihr Herz, noch nie gefühlte Kämpfe bannten Den süßen Schlaf aus dem empörten Blut. | Wie schon bemerkt, sind die Stanzen nicht nach den strengen Regeln italienischer Verskunst gebaut, sondern in der freieren Wielandschen Form. Statt der vorgeschriebenen Ordnung der drei Reime im Italienischen (abababcc) verwandte Schiller meist deren vier, die dazu noch frei verschränkt wurden (z. B. aabbccdd oder ababcddc oder aabcbcdd). Die Strophen sind zwar mit Ausnahme der neunreihigen Schlußstrophe der „Zerstörung von Troja" in der vorliegenden Fassung immer achtreihig, enthielten aber in der ersten Fassung der „Zerstörung" auch mehrere andere sieben- oder neunreihige Strophen. Der Rhythmus ist bis auf wenige, in den Anmerkungen besonders verzeichnete Fälle rein jambisch, wechselt aber von vier bis zu sechs Hebungen; die sechshebigen Verse wiederum wurden oft zu reinen Alexandrinern, wenn der Einschnitt nach der dritten Hebung zu liegen kam. Mit besonderer Sorgfalt hat Schiller nur darauf geachtet, daß der Strophenschluß immer mit einem Sinnabschluß zusammenfiel; ja er unterstrich diese Regel dadurch, daß er den Abschluß der Stanzen oft pointierend überhöhte, wie es seinem Sinn für dramatische Wirkung entsprach. Bei aller Freiheit der Übertragung, ja bei der durch die Stanzenform öfter bedingten Kürzung oder Ausweitung der Vorlage bleibt zuletzt doch die Treue beachtlich, mit der Schiller die beiden Gesänge im Deutschen wiederzugeben vermocht hat. In der Tat hat er die erste wirklich lesbare deutsche Vergil-Übertragung geschaffen. Das kurze Nachspiel zu Schillers Tätigkeit als Übersetzer aus den antiken Sprachen fällt in das Jahr 1795, als der erneute Durchbruch zum eigenen Dichtertum erfolgt war. Damals entstand die „Elegie", die nach ihrer Umarbeitung den Titel „Der Spaziergang" erhielt und zum ersten Male im gleichen Jahr in den Hören abgedruckt wurde. In das Gefüge der großen kulturphilosophischen Schau fügte Schiller das berühmte Epigramm des Simonides auf die lakedaimonischen Gefallenen ein. Wahrscheinlich kannte er es aus einer der vorhergehenden Verdeutschungen, die Christian zu Stolberg | 1782 in den „Gedichten aus dem Griechischen übersetzt", Georg Christoph Tobler im Schweitzerischen Museum von 1785 und Herder in der Zweiten Sammlung der „Zerstreuten Blätter" von 1786 veröffentlicht hatten. Die Versuche, von denen keiner völlig gelungen ist, regten ihn zum Wettstreit an, und zweifellos ist Schillers Übertragung, besonders nach der verbesserten Umarbeitung, die glücklichste.
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Obwohl keine der Übertragungen Goethes und Schillers zu den Hauptwerken der Dichter gehört, bieten doch fast alle interessante Aufschlüsse über ihr Schaffen und ihre Beziehung zur Antike und zu modernen Völkern. Weder Goethe noch Schiller waren geborene Übersetzer, wie man Luther, Wieland, Herder, Wilhelm Schlegel, Tieck, Gries und andere nennen kann; dazu waren beide viel zu selbständig schaffende Geister. Auch fehlte ihnen eben aus diesem Grunde das romantische Vermögen der Anpassung und Einfühlung, das bei den geborenen Übersetzern bis zur Aufgabe des selbständigen persönlichen Stiles führen kann. Aber gerade darum spricht aus fast allen ihren Übertragungen und selbst aus den Mängeln und Schwächen ihre einmalige Persönlichkeit, die auch dem kleinsten Bruchstück einen höheren Wert verleiht.
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Ein Versuch im Dienste der Weltliteratur-Idee: Goethes Übersetzung von Manzonis Ode „II Cinque Maggio" Am 5. Mai 1821 starb Napoleon auf St. Helena. Manzoni erfuhr die Nachricht am 17. Juli in Brusuglio; von seiner Frau auf dem Klavier begleitet, dichtete er in drei Tagen, bis zum 19. Juli, seine „Ode", die er später „II cinque maggio" nannte. Am 12. Januar 1822 erhielt Goethe „von Serenissimo" das Gedicht übermittelt, beschäftigte sich am Tage darauf mit ihm, übersetzte es in der Nacht des 14., „mundirte" seine Arbeit und las sie am 15. in kleinem Kreise vor. Einen Monat später sah er die Übersetzung nochmals durch und kopierte sie im Dezember „für Mailand". 1823 erschien die Übersetzung im 4. Heft von „Kunst und Altertum"1. Auch Lamartine, Victor Hugo, Byron, Chamisso und andere Dichter Europas ließen sich durch Manzonis Dichtung zu eigener Schöpfung anregen2. Der Tod des Herrschers der Franzosen als Vorwurf, das Haupt | der italienischen Romantik als Gestalter des Stoffes in der klassischen Form der Ode, der deutsche Dichter als sein Interpret — nirgendwo nach dem „Divan" scheint der vom greisen Goethe in die Diskussion geworfene 1
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Weim. Ausg. III 427, mit den Tagebuchstellen; Text 204 ff., mit Lesarten 427 f. — Dem italienischen Text gegenübergestellt in: Italienische Gedichte aus acht Jahrhunderten (H. Rüdiger), Bremen 1958, 290 ff., mit Kommentar 410 ff. — Manzoni wird zitiert nach Liriche e tragedie I (V. Arangio-Ruiz), Tor. 1949, 91 ff. Vgl. Georges Roth: Lamartine et Manzoni, in: Revue de litt. comp. V (1925) 156; G. A. Alfero: Una eco tedesca del „Cinque maggio" di A. Manzoni — „La morte di Napoleone" di Adelbert von Chamisso, in: Giorn. stör, della lett. it. LXXIX (1922) 128 ff. — Die ältere kritische Literatur Italiens über Goethe und Manzoni behandelt Carlo Fasola: Goethe und sein italienisches Publikum, in: Goethe-Jb. XXX (1909) 154 ff., mit Bibliographie 170 ff.; hier besonders die Nummern 28, 57, 66, 87, 92, 98, 103, 166. Neuere Arbeiten sind verzeichnet bei Fernand Baldensperger — Werner P. Friederich: Bibliogr. of Comp. Lit., Chapel Hill 1950, 421, 549, sowie bei Fritz Strich: Goethe und die Weltlit.2, Bern 1957, 386, 389. Das Beste zum Thema ebd. pass., besonders 256 ff.; doch ist Strich die Bedeutung der Manzoni-Übersetzung für sein Thema, die er 260 nur flüchtig erwähnt, offenbar entgangen. Die Stellen, wo Goethe sich mit Manzoni beschäftigt, sind übersichtlich zusammengestellt in: Gedenkausg. XIV (F. Strich) 1093 und XI (E. Beutler) 928, 938.
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Gedanke einer „künftigen Epoche der Weltliteratur" dichterisch greifbarer verwirklicht als in seiner Übersetzung von Manzonis Ode. Die „Teilnahme Goethes an Manzoni", am „Conte di Carmagnola", am „Adelchi", an den „Promessi sposi" ist bekannt3; trug er sich doch sogar mit dem Gedanken, an dem Roman das zu tun, was er für Benvenuto Cellinis Autobiographie getan hatte. (Die Verdeutschung wurde dann durch die Vermittlung von Streckfuß, der bereits den „Adelchi" übersetzt hatte, einem jüngeren Autor anvertraut und in „Kunst und Altertum" angezeigt.) Umgekehrt verehrte Manzoni von früh auf Goethe als seinen „Meister", und der mit Lob sparsame Dichter schrieb 1822 in das Widmungsexemplar des „Adelchi" das „Egmont"-Wort4: „Du bist mir nicht fremd. Dein Name war's, der mir in meiner ersten Jugend gleich einem Stern des Himmels entgegenleuchtete. Wie oft hab' ich nach dir gehorcht, gefragt!" Der „Conte di Carmagnola" wiederum schien späteren italienischen Manzoni-Forschern in seiner Konzeption dem „Egmont" aufs nächste verwandt, und wenn sich der Innominato in den „Promessi sposi" durch den Klang der Glocken zurückhalten läßt, seinem Leben ein Ziel zu setzen, so ist in dieser Geste gewiß eine Erinnerung an Fausts Selbstmordversuch lebendig. In der kritischen Bewunderung für den produktiv-dämonischen Genius des Korsen aber waren der Weimarer Minister und der lombardische Patrizier miteinander einig, beide unter verschiedenen nationalen Voraussetzungen und mit jeweils anderen Vorbehalten. „Che volete?" sagte Manzoni zu Can tu5, „era un uomo ehe bisognava ammirare senza poterlo amare ... La sua morte mi scosse, come se al mondo venisse a mancare qualche elemento essenziale ...". So hätte sich auch Goethe zu einem Gesprächspartner äußern können. | Manzonis Ode muß Goethe tief beeindruckt haben; sonst hätte dieser kaum sogleich nach der Einsichtnahme die schwierige Aufgabe in Angriff genommen, sie zu übersetzen. Das nächstliegende Ziel der Arbeit bestand darin, ein Meisterwerk der zeitgenössischen italienischen Literatur in Deutschland bekanntzumachen, welches den Verleumdern des großen Toten mit der gleichen Entschiedenheit entgegentrat wie seinen früheren Schmeichlern. Der zu Beginn (19 f.), in der Mitte (57 ff.) und am Schluß (103 f.) ausgesprochenen Gesinnung Manzonis konnte sich Goethe rückhaltlos anschließen: hatte er sich doch ebenfalls zu keiner extremen 3 4
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Vgl. Strich 260 f.; Fasola 157, 165 f. Als Autograph wiedergegeben bei Friedrich Schurr: Die romanischen Literaturen des 19. und 20. Jh.s I, Potsd. 1935, 310. A. Manzoni: Reminiscenze I, Mil., 113; hier nach I Class, ital. Ill l 2 (L. Russo — R. Rugani), Fir. 1952, 372.
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Haltung gegenüber dem lebenden Herrscher bereitfinden können. In der Vornehmheit der Gesinnung, im Adel des Herzens fühlte sich der Übersetzer dem Dichter verbunden. Es war zunächst der zeitkritische Gehalt der Ode, welcher Goethe die Übersetzung nahelegte. In einer tieferen Schicht sprachen andere Gesichtspunkte für die Übernahme der Aufgabe. Mindestens seit den „Divan"-Jahren lag die Idee der Weltliteratur in Goethe bereit, wenngleich er den Begriff selbst erst ein rundes Jahrzehnt später zum ersten Male gebraucht hat6. Den Deutschen kam dabei nach seiner Meinung vornehmlich die „schöne Rolle" der Vermittler zu, auch wenn gerade sie im Zeitalter der Weltliteratur „am meisten zu verlieren" haben würden; allen Nationen gleichzeitig aber die Aufgabe, die innerhalb einer einzelnen Nation obwaltenden Differenzen „durch Ansicht und Urteil der übrigen" auszugleichen. So erklärt sich beispielsweise Goethes Eingreifen in den Streit der Anhänger von Klassik und Romantik in Italien; so auch der Wunsch, einen Dichter, den er hochschätzte, außerhalb seiner eigenen Sprachgrenzen bekanntzumachen7. Die „durchaus erleichterte Kommunikation" zwischen den Völkern, die | „sich immer vermehrende Schnelligkeit des Verkehrs", auch das Gewahrwerden des Fremden infolge der Kriegsereignisse schien seinem aufs Praktische gerichteten Sinn das erstrebte Ziel zu befördern. Und keine geringe Aufgabe kam in diesem Zusammenhang dem Übersetzer zu. Am 1. Januar 1828 schrieb Goethe anläßlich der Übersetzung seines „Tasso" ins Englische an Carlyle: „... eben diese Bezüge vom Originale zur Übersetzung sind es ja, welche die Verhältnisse von Nation zu Nation am allerdeutlichsten aussprechen und die man zur Förderung der vor- und obwaltenden allgemeinen Weltliteratur vorzüglich zu kennen und zu beurteilen hat". Und am 24. April 1831 schloß er einen längeren Hinweis an Boisseree über ein geschicktes Übersetzungsverfahren mit den Sätzen: „Dies sind die unmittelbaren Folgen der allgemeinen Weltliteratur, die Nationen werden sich geschwinder der wechselseitigen Vorteile bemächtigen können. Mehr sag ich nicht, denn das ist ein weit auszuführendes Kapitel". Indessen hatte sich Goethe schon früher wiederholt zum Thema geäußert, am ausführlichsten in „Dichtung und Wahrheit" anläßlich von 6
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Die zwanzig Stellen, an denen Goethe sich des Wortes bediente, sind bei Strich 369 ff. zusammengestellt; danach die folgenden Zitate. Vgl. auch Werke XII 2 (H. J. Schrimpf), Hbg. 1956, 361 ff. Übertrieben ist freilich Strichs Behauptung 260: „Es war ... Goethe, dem Manzoni nicht nur seinen deutschen, sondern auch seinen italienischen, ja seinen Weltruhm verdankte".
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Wielands und Eschenburgs Shakespeare-Übersetzung in Prosa (III 11; entstanden Winter 1812/13) sowie im Kapitel „Übersetzungen" der zwischen 1816 und 1818 niedergeschriebenen „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans". In dieser seiner systematischsten, wenn auch zwischen Übersetzungsör/ und Übersetzungsepofhe nicht scharf trennenden Betrachtung des Problems unterscheidet Goethe „dreierlei Arten Übersetzung": die erste, „schlicht-prosaische" genannt, die — eben als Prosa — „alle Eigentümlichkeiten einer jeden Dichtkunst völlig aufhebt und selbst den poetischen Enthusiasmus auf eine allgemeine Wasserebne niederzieht" und vornehmlich der Erbauung dient (Beispiel: Luthers Bibel-Übersetzung); die zweite, „parodistische" Epoche, „wo man sich in die Zustände des Auslandes zwar zu versetzen, aber eigentlich nur fremden Sinn sich anzueignen und mit eignem Sinne wieder darzustellen bemüht ist" (Repräsentanten: die Franzosen und Wieland); endlich die dritte Epoche, „wo man die Übersetzung dem Original identisch machen möchte, so daß eins nicht anstatt des ändern, sondern an der Stelle des ändern gelten solle". Nicht ein Ersatz des Originals will also diese Art Übersetzung sein, sondern — | eben kraft der erreichten Identität mit dem Original — gleichsam ein anderes Original in der Übersetzersprache. Der identifizierende Übersetzer „gibt mehr oder weniger die Originalität seiner Nation auf, und so entsteht ein Drittes, wozu der Geschmack der Menge sich erst heranbilden muß" (Repräsentant: „der nie genug zu schätzende Voß"). Daß die Sympathie Goethes in der „Divan"-Zeit der dritten Übersetzungsart gilt, unterliegt keinem Zweifel. Zwar hatte er selbst einst den „Reineke Fuchs" „parodistisch" in Hexameter übersetzt und von „jenen kritischen Übersetzungen, die mit dem Original wetteifern", noch in der Autobiographie gesagt, sie dienten „eigentlich nur zur Unterhaltung der Gelehrten untereinander". Jetzt aber, aus der genaueren Kenntnis des Orients, hält er die kritischen Übersetzungen für die eigentlich erstrebenswerten und lehnt insbesondere die „parodistischen" Annäherungen an das Original während der zweiten Epoche entschieden ab. Die FerdusiUmarbeitung eines Ungenannten scheint ihm der „traurigste Mißgriff; nach einer „Sakontala"-Übersetzung in Prosa wünscht er sich nunmehr eine Übersetzung der dritten Art, welche das indische Gedicht „in seiner ganzen Eigentümlichkeit aufs neue erfreulich und einheimisch machte"; und er tadelt eine englische Übersetzung der zweiten Art als „paraphrastisch und suppletorisch", weil sie „dem nordöstlichen Ohr und Sinn" durch die gewohnten Jamben schmeichle und „Transpositionen der Motive" vornehme, die der ästhetische Blick mißbillige. Dabei gilt der dritte Zeitraum nicht nur als der „höchste", sondern zugleich als der „letzte",
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was am Schluß des Kapitels als eine Art Rückkehr zum Beginn auf einer höheren Stufe erläutert wird: „Eine Übersetzung, die sich mit dem Original zu identifizieren strebt, nähert sich zuletzt der Interlinearversion und erleichtert höchlich das Verständnis des Originals, hiedurch werden wir an den Grundtext hinangeführt, ja getrieben, und so ist denn zuletzt der ganze Zirkel abgeschlossen, in welchem sich die Annäherung des Fremden und Einheimischen, des Bekannten und Unbekannten bewegt". — Wir fassen zusammen: Die höchste Übersetzungskunst besteht in der vollkommenen Identität des Übersetzten mit dem Originale, unter Preisgabe der nationalen Eigenarten des Übersetzers und mit dem Ziele, „die ganze Eigentümlichkeit" des Fremden in die heimi-|sche Welt hinüberzupflanzen, damit wir uns mit den Gesinnungen und Denkweisen des Fremden vertraut machen, „bis wir uns endlich damit völlig verbrüdern könnten". Diesem Programm entspricht zunächst einmal die künstlerische Verfahrensweise im „Divan", wo das Heidelberger Tal und die Hügel Thüringens oder des Rheingaus auf einer phantastischen Landkarte des weltenschaffenden Geistes unbekümmert neben Venedig oder Schiras liegen; wo niemand mehr in hergebrachter Weise „franzet oder britet, italienert oder teutschet"; wo Bibel und Koran einander nicht feind sind, Marianne sich unversehens in Suleika verwandelt, Sinnlichkeit und Sinnbildlichkeit einander unauflöslich durchdringen; wo die Sprache befreit ist von der starr einengenden Regel und sich geläutert dem Gesetz der persönlichsten Prägung fügt — „dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe", so Hafis oder Hatem wie Goethe selbst. Doch auch für die Übersetzungskunst im engeren Sinne stellt das einschlägige Kapitel aus den „Noten und Abhandlungen" ein Programm dar, das Goethe freilich nur in einem einzigen Falle konsequent ausgeführt hat: eben mit seiner Verdeutschung von Manzonis „Cinque maggio", welche mithin einen weiteren Versuch in Richtung auf die erstrebte Epoche der Weltliteratur darstellt. Keine andere Übersetzung Goethes ist so kühn, ja ungefällig gefügt wie diese; keine andere setzt zu ihrem Verständnis die Kenntnis des Originales so unbedingt voraus wie der „Fünfte Mai". Zeitlich fast genau in der Mitte zwischen dem Übersetzungskapitel in den „Divan"Noten und der frühesten Verwendung des Begriffes ,WeItliteratur' (15. Januar 1827) entstanden, steht dieser Versuch auch in der Mitte zwischen der reinen Poesie des west-östlichen Zyklus und der theoretisch begründeten Organisation der Weltliteratur durch „freien geistigen Handelsverkehr" und Übersetzungen. Daß aber gerade eine italienische Dichtung Gegenstand des Experimentes wurde, ist einer der Glücksfälle, an denen der literarische Austausch der beiden Nationen nicht eben reich ist.
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Goethes Übersetzung von Man^pnis Ode „II Cinque Maggio"
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Über das eigentümliche Metrum von Manzonis Ode hat sich bereits De Sanctis in seiner Zürcher Vorlesung von 1858/59 geäu-|ßert8, „descrivendolo come una stanza di dodici versi, divisa in due parti eguali, ciascuna delle quali contiene due versi piani, tre sdruccioli e un tronco ehe rima col tronco delFaltra, cosicche la diluita chiarezza della scuola precedente e sostituita da concisione filosofica, e un epiteto vale un ritratto, una parola compendia una vita, e c'e avarizia di parole, odio delle improprieta, morte della rettorica, morte della cantilena, e in ogni stanza sei sdruccioli non danno riposo, spingono sempre innanzi, fino alia pausa naturale del tronco: un metro ehe da manzoniani e da antimanzoniani, quando apparve, sembro, e fu tacciato non italiano ma tedesco". Ob die Kritiker mit dieser Behauptung recht hatten, bleibe dahingestellt; wir werden sehen, daß Goethe das angeblich so ,deutschee Metrum jedenfalls nicht übernommen hat — wahrscheinlich darum, weil es ihm zu ,italienischc, zu wenig geeignet für den deutschen Odenstil erschien. Denn das metrische Schema der Ode, das in gleicher Gestalt im Ermengarda-Chor des „Adelchi" (IV 1) und ähnlich mehrfach in den „Inni sacri" wiederkehrt, ist nach den Regeln italienischer Dichtkunst streng durchgeführt, wobei freilich der schwebenden Betonung im Vortrag die größte Freiheit bleibt. Jeder erste, dritte und fünfte Vers einer Strophe ist ein Settenario sdrucciolo (acht Silben), jeder zweite und vierte ein Settenario piano (sieben Silben), während der abschließende sechste Vers ein Settenario tronco ist (sechs Silben). Der Rhythmus ist vorzugsweise jambisch oder trochäisch, mit Ausnahme der gleitenden Versausgänge der Achtsilbler: immobile — immemore — attonita. Die stärkste Wirkung erzielt der Schlußvers einer jeden Strophe, weil auf die Endsilbe jeweils ein stumpfer Hauptton zu liegen kommt. Die relative Seltenheit betont ausgehender Wörter im Italienischen legte dem Dichter mehrfach die Apokopierung der Endsilbe nahe: mär — stampar — sperar — altar — lor — amor — invan — man — sovvenir (Manzoni bemühte sich wiederholt vergeblich, diesen Gallizismus zu ersetzen9) — ubbidir; in achtzehn Strophen enden zehn Schlüsse mit apokopierten Wörtern. Auf diese Weise entsteht der eigentümlich männliche, kriegerisch-harte, so wenig kantilenenhafte Ton der Ode, der ihrem Gegenstand, dem toten Feld-|herrn, angemessen ist. Die Wirkung verstärkt sich durch das Reimen der Strophenschlüsse untereinander; es ergibt sich für jeweils den letzten Vers einer Strophe das Schema a a a a b b b b c c d d e e f f f f . Wie mächtige 8
9
Hier nach dem Referat von Benedetto Croce: Del „Cinque maggio" (1947), in: A. Man2oni — Saggi e discussioni4, Bari 1952, 131 f. Vgl. ebd. 141 sowie Arangio-Ruiz 19.
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Goethes Übersetzung von Man^onis Ode „II Cinque Maggio"
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Klammern liegen die vierfach gereimten Schlüsse der Eingangs- und Endstrophen um die nur doppelt reimenden Mittelstrophen 9 bis 14, am Ende im besonderen gerechtfertigt durch den religiösen Aufschwung der Ode ab Strophe 15. Sonst ist der Reimschmuck sparsam verwandt; nur die beiden Siebensilbler jeder Strophe sind klingend verbunden. Die Erfahrungen Foscolos und Leopardis liegen hinter Manzoni; die antikisierende Gattung der Ode kann auf tönenden Schmuck weitgehend verzichten. Goethe hat dieses metrische Schema nicht übernommen. Zunächst scheint er beabsichtigt zu haben, ein dem originalen ähnliches Schema streng durchzuführen. Die beiden ersten Strophen sind regelmäßig gebaut: alternierende Acht- und Siebensilbler, meist in jambischem Takt; auf den abschließenden Sechssilbler Manzonis verzichtet Goethe allerdings ganz. Doch schon zu Beginn der zweiten Strophe setzen Unregelmäßigkeiten ein: Stumm, sinnend nach der letztesten Stunde des Schreckensmannes: Das sind zwar für das Auge noch Acht- bzw. Siebensilbler, doch zwingt die natürliche Betonung am Versanfang zu einem daktylenähnlichen Rhythmus, der das mechanische Taktschema sprengt. Von der dritten Strophe ab gibt Goethe das äußere Schema auf und führt mehr und mehr echte Daktylen ein, wodurch die Sieben- zu Achtsilblern werden: die Muse schweigend ... Vermischte sie nicht die ihre. Dieser rhythmische Typus wird im Laufe der Übersetzung immer häufiger; von der 14. Strophe an überwiegt er deutlich. Es entstehen dem Takt nach durchaus unregelmäßige Gebilde, die sich den freien Rhythmen nähern, oft mit doppeltem Daktylus in einem einzigen Verse oder gar mit anapästischem Auftakt: Und leitete ihn auf bluebende Fußpfade, die hoffnungsreichen, Zu ewigen Feldern, ^um hoechsten Lohn Der alle Begierden foschaemet;
(9 Silben) (8 Silben) | (10 Silben) (9 Silben)
Er sieht, wie auf Schweigen und Finsterniß, Auf den Ruhm den er durchdrungen.
(10 Silben) (8 Silben)
So löst sich Goethe im Laufe der Übersetzung vom strengen romanischen Schema; er schreibt freie Rhythmen, wie sie dem Geiste und der Tradition der deutschen Odendichtung gemäß sind.
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Goethes Übersetzung von Man^pnis Ode „II Cinque Maggio"
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Dieser Beobachtung der progressiven Auflösung des metrischen Schemas entspricht die weitere Feststellung, daß auch der regelmäßige Wechsel von stumpfen und klingenden Versausgängen, der bis Vers 31 folgerichtig durchgeführt ist, von nun ab nicht mehr streng eingehalten wird. Zwar finden sich bereits von der zweiten Strophe ab Wörter vom Typus letztesten, die nur mit Anstrengung einen schwachen Nebenton auf der Schlußsilbe zu tragen vermögen und mithin eigentlich den italienischen jsdruccioli' entsprechen; doch mindestens als Intention ist das Schema des klingenden Ausganges im 2., 4., und 6. Vers überall sichtbar. Vers 32 aber, der klingend ausgehen müßte, lautet: Entscheide dieß! Wir beugen uns; er endet also stumpf10. Umgekehrt geht Vers 77 klingend aus, obwohl nach dem Schema stumpfer Abschluß gefordert wäre. Die Schlußstrophe weist überhaupt nur noch ein einziges klingendes Versende auf, und zwar im Gegensatz zu Manzoni gerade das letzte: Ihm ja zur Seite sich fügte, während alle übrigen Verse stumpf ausgehen. Das ursprünglich beabsichtigte Schema hat sich auch in diesem Falle völlig aufgelöst; der enthusiastisch unregelmäßige Schritt der Ode bestimmt den rhythmischen Gang der Übersetzung. | Im Odenstil deutscher Tradition liegt es ferner begründet, wenn Goethe auf die in diesem Falle im Deutschen leicht zu erzielenden Reime verzichtet. Der Reimzwang pflegt einer der Hauptgründe für die Abweichung einer Übersetzung vom Originale zu sein, während Goethe sich offensichtlich so eng wie möglich an Manzoni halten wollte. Er möchte das Original nicht mechanisch nachahmen, sondern es in eine Stil-Lage transponieren, welche in ihrer Eigenart dem italienischen Stil entspricht. Nur hat Goethe die freie rhythmische Bewegung nicht von Anfang an durchgeführt, sondern sich erst im Laufe der Arbeit in den rhythmischen Schwung der Odendichtung hineingesteigert. Dann aber veränderte er die strenger gebauten ersten Strophen nicht mehr, wodurch sich in der Übersetzung ein Effekt der formalen Steigerung ergibt, der dem gleichmäßig gebauten Original fehlt. „Beim Übersetzen muß man bis ans Unübersetzliche herangehen; alsdann wird man aber erst die fremde Nation und die fremde Sprache gewahr", 10
Anders ist Vers 48 zu beurteilen: Er ist regelmäßig, weil Goethe las: Und ^weitnal auf dem Altar. Ähnlich Vers 72: Sank die ermüedete Hand hin, wobei hin tonlos ist.
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Goethes Übersetzung von Man^pnis Ode „II Cinque Maggio"
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lautet eine von Goethes nachgelassenen Maximen11. Unübersetzlich scheint mir die eigentümlich rhetorische Form von Manzonis Ode zu sein, die der seelischen Erschütterung des Dichters durch das weltgeschichtliche Ereignis nicht durchgehend adäquat ist. Das entscheidende Formprinzip der italienischen Dichtung, seit den Humanisten gepflegt und zur Norm des guten Stiles erhoben12, legt sich erkältend über das Feuer der Begeisterung, das für den Odendichter als charakteristisch gilt, und droht, das primäre Erlebnis unter der Last eines abstrakten Bildungszwanges zu ersticken. Die italienische Kritik hat auf die Stilbrüche im „Cinque maggio" seit langem hingewiesen13. Für Carducci gehört die Dichtung „per ineguaglianza di forza concettiva e di espressione concettuale ... tra le inferior! del Manzoni". Zu einem noch schärferen Urteil kam Filippo Meda anläßlich eines Aufsatzes zum hundertsten Jahrestag der Entstehung der Ode: „... nulla mancherebbe alia gloria del Manzoni | se egli non avesse scritto il ,Cinque maggio'". Croce selbst spricht — entgegen dem oben angeführten Urteil von De Sanctis — von „espressioni artificiose e prosaiche" und von „cadenze melodrammatiche". Er führt eine Reihe künstlicher Wendungen an, besonders aus den religiös getönten Schlußstrophen, denn diese „ne abbondano piu delle altre". Und er weist darauf hin14, daß die religiöse Idee vom Dichter zwar nicht mit kalter Überlegung an die historischen Bilder angehängt, sondern im Sturm der Konzeption gleichzeitig mit diesen entstanden sei; daß aber beide Teile innerlich nicht miteinander verschmölzen, sondern getrennt voneinander blieben, „come olio galleggiante sulPacqua. Tutt'al piu e da dire ehe in qualche punto, e particolarmente nelle ultime strofe, l'insistenza soverchia e l'intento scoperto di pia celebrazione ed edificazione turbano le letterarie proporzioni del componimento ...". — Es könnte der Einwand erhoben werden, daß hier eine »veraltete liberale' Kunstauffassung an der religiösen Schlußwendung Anstoß genommen habe. Doch ähnliche Beobachtungen machte erst jüngst Riccardo Bacchelli zu Manzonis Hymnen und Oden15: „... concetto e immagine ed espressione poetica ... sorgono faticosamente dal contrasto e dal tormento, da una forma di continue raggiunta e ripresa, in travaglio perpetuo". Und Vladimiro 11 12
13 14 15
Literatur und Leben, in: Gedenkausg. XV (F. ERNST) 1088. Vgl. Giuseppe Prezzolini: The Legacy of Italy, N. . 1948, pass., besonders das Kapitel Humanism, 97 ff. Das Folgende nach Croce 140 f. Ebd. 137; vgl. auch De Sanctis' Meinung 134 f. Introduzione zu: Manzoni, Opere, Mil.-Nap. 1953, XXVII; vgl. auch XXIX über den „Cinque Maggio": „... potente anche nelle sprezzature e quasi incongruenze formali e logiche d'una fulminea e veramente ispirata ispirazione, davvero pindarica".
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Goethes Übersetzung von Manzonis Ode „11 Cinque Maggio"
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Arangio-Ruiz hat nachdrücklich auf das künstlich Gezwungene in Manzonis großen Oden hingewiesen: „Qualcosa in essi di troppo teso, d'insolito, se non di aristocratico, ehe non l'appagava. La dove il nodo della poesia e H per sciogliersi e ci si avvia ormai verso la conclusione, li sempre una grande comparazione (Come sul capo al naufrago ...) ... Un altissimo contenuto ... ehe deve trovare la sua forma, e ehe qualche volta stenta a trovarla, e trova come formule. E la forma ehe non nasce assieme al suo contenuto ..."16. Es besteht kein Zweifel: Manzonis „Cinque maggio" enthält einen künstlerisch nicht bewältigten Rest von Intention, den der Leser als gequälte oder rhetorische oder erbauliche Diktion empfindet. | Wenn sich aber schon das künstlerisch Runde und Geglückte, das Schöne jeder wirklichen Übersetzung entzieht — um wieviel unübersetzlicher muß dann das künstlerisch Problematische bleiben! Kommen Gehalt und Form, Idee und Ausdruck im Original nicht zu harmonischer Deckung, so steht der Übersetzer vor einer schlechthin unlösbaren Aufgabe. Und wenn die Übersetzersprache über keine echte Entsprechung zum rhetorisch überhöhten, zugleich aber manieristisch knappen Stil des Originales verfügt, so bleibt dem Übersetzer nichts anderes übrig, als entweder ganz frei umzudichten oder aber sich um so fester an das Original anzuschließen, auch unter Hintanstellung der Möglichkeiten seiner eigenen Sprache. Manzonis „Cinque maggio" war für Goethe das gegebene Objekt, die theoretisch geforderte Verleugnung der nationalen Besonderheiten in der Praxis auszuprobieren. Der Übersetzer hat das mühevoll Künstliche von Manzonis Diktion offenbar empfunden; aber er hat es bewußt beibehalten, ja er hat die Härten des Originales in einigen Fällen noch verstärkt. Er wollte die „fremde Sprache gewahr werden", die er von Jugend auf kannte und im Lande gesprochen hatte; er wollte sie nicht ,verdeutschen' und wollte vor allem nicht auf die Unebenheiten verzichten, die dem Gedicht unter des Dichters Händen geblieben waren. So mußte gleichsam ein doppelt ,unnatürliches' und ungefüges Gebilde entstehen: das des ungelösten Originals im Spiegel einer von Grund auf anders strukturierten Sprache, welche bereit ist, sich ihrer Eigenheiten zum Heile der Weltliteratur-Idee versuchsweise einmal zu entäußern. Von dem usurpierten Rechte des ,Nachdichters', das Original zu interpretieren, statt es wiederzugeben, macht Goethe nur in bescheidenem Maße Gebrauch. Hin und wieder fügt er ein die Umstände verdeutlichendes Adverb, eine Konjunktion oder ein Adjektiv ein: 5 tief ... starr, 11 " 19 f.
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Goethes Übersetzung von Manzonis Ode „II Cinque Maggio"
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Nochmals; 33 tief, 34 einmal; 37 doch; 45 Sodann ... wieder; 59 ^ugleich; 71 kraftlos; 93 höchsten; 103 das den Abschluß vorbereitende Und also ... denn; einmal ein Verbum, welches dem gleichen Zwecke der Verdeutlichung eines Bildes dient: 47 zurückgedrängt. Gan2 selten läßt er originale Adjektive aus, ohne damit den Sinn oder die Verständlichkeit zu schädigen: 32 ardua; 46 | tristo; vielmehr entsteht in diesem letzten Falle gerade durch die bloße Reihung schmuckloser Substantive — Kaiserpalast, Verbannung — die Wirkung eines blind und erbarmungslos fortschreitenden Schicksals. Mehrfach hingegen verstärkt Goethe schlichtere oder schwächere Formulierungen Manzonis: 2 sospiro — Hauche-Seufzer; 8 dell'uom fatale (nach Vergil An. XI 232) — des Schreckensmannes; 12 verrä — sich erkühnten; 40 pensando — gelüstet; 52 aspettando — lauschten; 75 rai (von Arangio-Ruiz 19 als „parola rara, desueta" gekennzeichnet) — Augenstrahl; 79 ripenso — schaut (wodurch das bloße Zurückdenken an die Vergangenheit zur visionär erleuchteten Gegenwart wird); 99 Scrivi ancor questo (was Croce 141 als schlecht empfindet) — Sprich es aus! (wiederum plastischer als das Original; ähnlich die Verpersönlichung von a/te%%a in 100: ehe piü superba a/te%%a — Daß Stoiber-höheres Wesen). Dem Ziele, die Intention des Dichters schärfer herauszuarbeiten, dient auch die Anwendung des Superlativs im Bilde der Rückerinnerung in Vers 83 f.: e il concitato imperio, e il celere ubbidir —
Die aufgeregteste Herrscherschaft Und das allerschnellste Gehorchen,
wobei Goethe mit Herrscherschaft eine Bildung versucht hat, die dem Ziele dient, den Wert des Abstraktums imperio genau wiederzugeben. Umgekehrt hat Goethe den wegen des fehlenden Vergleiches von Manzoni selbst als unglücklich empfundenen Komparativ in 36 mit feinstem künstlerischen Takt durch die ungesteigerte Form wiedergegeben: ehe volle in lui del creator suo spirito piü vasta orma stampar.
der sich einmal Von allgewalt'ger Geisteskraft Grandiose Spur beliebte.
Der Passus gehört auch wegen der Übersetzung von volle mit sich ... beliebte, in dem die Souveränität des göttlichen Willens wie im italienischen Verbum mitschwingt, zu den glücklichsten Identifizierungen mit dem Originale. Ein gleiches gilt für die vortreffliche Verdeutschung von 58 pietä durch frommem Gefühle oder 90 pietosa durch Liebher^ig. Nur selten hat Goethe entschiedenere Formulierungen Manzonis leicht gemildert. 9 ne sä quando, von der „starr erstaunten" Erde | gesagt, wird ins Dubitative entrückt: Sie wüßte nicht ob ... (wohl zu verstehen: wie wenn sie nicht wüßte, ob ...). Ähnlich 24: un cantico / ehe forse non morrä —
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Goethes Übersetzung von Manzonis Ode „II Cinque Maggio"
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Gesang / Der wohl nicht sterben möchte, durch das Adverb wie den Modus gleichsam in doppelter Weise gegen das Mißverständnis der Anmaßung gesichert17, sowie 102 durch den einschränkenden Zusatz eines Wohl. Umgekehrt ist in 85 das wenig sinnvolle, ja verwirrende forse in Goethes Übersetzung weggefallen: Ahi! forse a tanto strazio cadde lo spirto anelo ...
Ach, bei so schrecklichem Schmerzgefühl Sank ihm der entathmete Busen ...
Absichtliche Änderungen des Originales hat sich Goethe im übrigen kaum gestattet. II mio genio (14) wäre deutsch kaum anders als durch Geist wiederzugeben gewesen; die unpersönliche Muse scheint ein überflüssiges Opfer Goethes an die poetische Tradition, schwächer auf jeden Fall als Manzonis persönlicher Dichtergenius. Im Bilde der due secoli (49), die einander feindlich gegenüberstehen — Revolution und Restauration, Aufklärung und Romantik —, mag gerade bei Manzoni als christlichem Dichter die Vorstellung vom saeculum als irdischer Zeit und Welt mitschwingen; gespaltne Welt verschiebt Manzonis Zeitvorstellung einseitig ins Räumliche und bleibt ohne das Original unklar. Auch dem berüchtigten Golgatha (101) trifft al disonor del Golgota nicht genau (Croce 141 findet die Wendung wenig glücklich). Denn gemeint ist, wie Manzoni selbst erläuterte18, das „improperium Christi" (Hebr. 11, 26), die „stultitia crucis" des Paulus (1. Kor. 1,18; 23) oder — wie die großen französischen Prediger sagten — das „opprobre de la Croix". Goethe blieb diese Kommentierung Manzonis unbekannt, denn sie war nur brieflich erfolgt. Hier liegt auch die Schwierigkeit begründet, die übrigens nicht sehr zahlreichen Mißverständnisse des Textes durch Goethe gerecht zu beurteilen. Ihm lag ein unkommentierter Text vor; doch auch | die Kommentatoren haben mindestens an einer Stelle, die Goethe zum Verhängnis wurde, keine Einigkeit erzielt. Wir sehen ab von Goethes angeblichem „granchio" in 80, wo /' percossi valli (die zerstörten Wälle = Breschen in den Befestigungsanlagen) mit durchwimmelte Thäler (le percorse valli) wiedergegeben ist, was bereits G. M. Cattaneo mit „großer Genugtuung", Carducci hingegen „ohne Pedanterie" bemerkte; denn um die Übersetzung zu beurteilen, wäre zunächst zu klären, ob Goethe sich überhaupt geirrt hat, d. h. was für ein Text ihm vorlag. Diese Frage ist aber nicht mehr zu 17
18
Erst der lÄterzthistoriker hat das Recht, bestimmter zu urteilen. So De Sanctis (zit. bei Croce 130): „... ehe ,cerfamente non morrä, tanto e nuovo e profondo, e tanto impulso ha dato alia moderna lirica eroica, purificandola dalle volgari passioni'". Opere 73; vgl. Class, ital. 384.
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Goethes Übersetzung von Manzonis Ode „II Cinque Maggio"
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beantworten19. Im übrigen handelt es sich vor allem um das schwerfällig ausgeweitete Gleichnis vom Schiffbrüchigen (61—68): 19
Vgl. Fasola 162, 167 und Nr. 92 seiner Bibliographie, ferner Alfero 128. In der WA 428 steht: „die falsche Lesart percorse valli wiedergebend statt percossi vallf. Wo aber findet sich diese? Auf meine Anfrage antwortete mir Herr Dr. Hahn von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar — Goethe- und Schiller-Archiv: „In unserem Archiv wird lediglich die Reinschrift der Übersetzung Goethes, die Eckermann besorgt hat und die als Druckvorlage für die Ausgabe letzter Hand gedient hat, aufbewahrt. Andere Unterlagen zu Goethes Übersetzung haben sich nicht finden lassen. Allerdings möchte auch ich Ihrer Annahme zustimmen, daß Goethe diese Übersetzung nicht nach dem Druck vorgenommen hat, daß ihm vielmehr eine frühere Niederschrift oder Abschrift zur Verfügung gestanden hat." Herr Dr. Eberhard Müller-Bochat unterzog sich liebenswürdigerweise der Mühe, den Erstdruck der Ode zu überprüfen, der — neben einer Abschrift — allein als Vorlage Goethes in Frage kommen könnte: II giorno quinto di maggio voltato in esametri latini da Erifante Critense (sie! Mit Tinte verbessert in: Eritense) con lettera al traduttore di Alessadro (sie!) Manzoni, Lugano, presso Francesco Veladini e comp., s. a., 8°, 15 pp. Es handelt sich um eine zweisprachige italienisch-lateinische Ausgabe. Der richtige Name des Übersetzers lautet Pietro Soletti (vgl. auch Class, ital. 373); der Druckort im Tessin erklärt sich wohl aus den Zensurschwierigkeiten (s. u.). Der Katalog der Florentiner Nationalbibliothek (Standnummer: Bibl. Naz. Centr. 4863.28) datiert das Heft auf 1822; Manzonis Brief an Soletti ist am 20. Juni 1822 geschrieben. Da Goethe den Text bereits am 12. Januar erhielt, bestehen nur zwei Möglichkeiten: Entweder war das Heft vordatiert, oder Goethe erhielt Manzonis Handschrift bzw. eine frühere Abschrift, wie auch Margareta Hudig-Frey: Manzoni — Dichter, Denker, Patriot, Bern 1958, 81 — leider ohne Quellenangabe — berichtet. Die Abschrift, auf der Solettis Hexameterübersetzung beruht, enthielt Manzonis Brief zufolge einige Fehler, die aber im Druck berichtigt und zur Rechtfertigungg des Übersetzers nur anmerkungsweise angegeben sind. (Die entsprechende Stelle des Briefes lautet: „... La copia dell'Ode da lei comunicatami differisce dal testo in qualche piccola cosa: Le noto qui sotto le poche differenze per obbedirla, non giä perche Ella cangi nulla alia Versione, la quäle sta pur bene com'e.") Die Varianten beziehen sich aber nicht auf Vers 80; auch der Druck gibt richtig percossi valli. Und in den Varianten von Manzonis Handschrift findet sich ebenfalls nur ein Schwanken zwischen dem bedeutungsgleichen gli aperti valli und i percossi valli. — Herr Müller-Bochat konnte ferner die Sammlung 27 traduzioni in varie lingue del 5 maggio di A. Manzoni, raccolte da C. A. Meschia, Foligno s. a. (nach Fasola 1883), einsehen und feststellen , daß eine stattliche Anzahl von Übersetzern die maskulinen valli als „Täler" mißverstanden hat, so vor allem die spanischen Interpreten, da in ihrer Sprache die Genusverhältnisse umgekehrt sind, aber auch mehrere deutsche (erst jüngst wieder Bruno Goetz: Italienische Gedichte von Kaiser Friedrich II. bis Gabriele D'Annunzio, Zur. 1953, 299). Wenn Goethe aber durchrvimmelte Thäler schreibt, so entspricht das Adjektiv zweifellos eher dem Sinn von percorse. Daraus wäre — wie aus der Briefstelle Manzonis an Soletti — abermals zu schließen, daß fehlerhafte Abschriften im Umlauf waren. Wie die Abschriften entstanden, erzählte Manzoni selbst Cantu (zit. in Class, ital. 372): Der Zensor habe ihm abgeraten, die Ode zu veröffentlichen; „ma dal suo stesso uffizio ne uscirono le prime copie a mano". Eine von diesen Abschriften könnte durch Karl August in Goethes Hand geraten sein. Das
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Goethes Übersetzung von Man^onis Ode „II Cinque Maggio"
Come sul capo al naufrago l'onda s'avvolve e pesa, l'onda su cui del misero, alta pur dianzi e tesa, scorrea la vista a scernere prode remote in van; tal su quelPalma il cumulo delle memorie scese!
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Wie über's Haupt Schiffbrüchigem Die Welle sich wälzt und lastet, Die Welle die den Armen erst Emporhob, vorwärts rollte, Daß er entfernte Gegenden Umsonst zuletzt erblickte; So ward's dem Geist, der wogenhaft Hinaufstieg in der Erinnrung. |
Arangio Ruiz (94; nach Pasquale Vannucci20) kommentiert: „Celebre similitudine, e assai discussa. Dice: — Come il naufrago ehe in un primo tempo (ma l'ordine e invertito) riesce a sostenersi sull'onde, a tener alto il capo se discerna, ma invano, un lembo di terra; ehe infine, affranto, disperato, s'abbandona ed e vinto (,1'onda s'avvolve e pesa'); cosi Napoleone. — Ogni altra interpretazione (e se ne e proposta altra assai diversa) e nettamente da respingere". Dagegen Bacchelli (71): „Noi escludiamo l'interpretazione dei due tempi, ossia, del naufragio imminente e del naufragio compiuto; il naufrago viene travolto e sprofondato dall'onda ehe appena prima lo sollevava in cresta a cercare colPocchio una riva". Entscheidend für das Verständnis ist doch wohl das tertium | comparationis. Verglichen werden soll das Überwältigtwerden einer Seele unter der Flut (cumulo) der Erinnerungen mit dem Begrabenwerden eines Schiffbrüchigen unter der Flut der Wogen (onda). Ausgeführt wird jedoch nicht eigentlich das Gleichnis des Flutens, wie es logisch wäre, sondern — im Hinblick auf Napoleon in St. Helena — das Bild von der Ausschau des Schiffbrüchigen in die rettende Ferne. Dieses Bild aber lenkt die Vorstellungskraft des Hörers auf den Gedanken der Rettung ab, welcher dem eigentlichen Vergleich — Untergehen in den Fluten (des Meeres und der Erinnerung) — gedanklich entgegengesetzt ist und überdies dem Begrabenwerden zeitlich vorangeht. Das Bild ist mehr rhetorischer Schmuck als zwingendes Gleichnis; es rechtfertigt sich aber durch die Beschwörung der Vergangenheit des Helden, der als historische Persönlichkeit ,Schiffbruch erlitten' hatte. — Goethe hat den schwierigen Text offenbar mißverstanden. Er bezieht alta und tesa auf onda statt auf vz'sta, was auch der weit vorangestellte, von vista abhängige Genetiv del misero nahelegt. Er kommt dadurch nicht allein zur verbalen Übersetzung der
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in Liriche e tragcdie I nach 96 und bei Schurr 307 wiedergegebene Autograph vom Anfang der „Ode" ließe mögliche Verlesungen eines Setzers oder Abschreibers leicht verstehen. Ehe jedenfalls von einem „granchio" gesprochen werden kann, muß eindeutig geklärt werden, welchen Text Goethe tatsächlich gelesen hat. Näheres, doch nicht Überzeugendes in: Class, ital. 380 f.
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Goethes Übersetzung von Manzonis Ode „U Cinque Afaggio"
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Adjektive, sondern schließt auch 65 f. als Folgesatz an, wobei er den Versen den Sinn gibt, als hätte der Schiffbrüchige die rettende Küste zwar erblickt, aber gleichsam zu spät, umsonst; während Manzoni doch sagen will, daß er den Blick überhaupt vergeblich hat umherschweifen lassen, daß er also die Küste gar nicht entdeckte. Aus dem Mißverständnis von alta und tesa ergibt sich dann der weitere Irrtum, daß scese mit Hinaufstieg wiedergegeben und der Geist statt des cumulo zum Subjekt des Hauptsatzes gemacht wird. Bemerkenswert aber erscheint, daß Goethe durch zwei hinzugefügte Zeitadverbien — erst ... %ulet%t — ein zeitliches Folgeverhältnis deutlich werden lassen wollte, wenngleich an der falschen Stelle. Schwierigkeiten durch einen vorangestellten Genetiv — und zwar nicht nur für Goethe21 — entstanden auch in 27 f.: di quel securo il fulmine tenea dietro al baleno —
Des sichern Blitzes Wetterschlag Aus leuchtenden Donnerwolken. |
Der Sinn ist klar (Arangio-Ruiz 92): „il fulmine dell'azione seguiva immediatamente il ,baleno' della decisione", wobei unter di quel securo die selbstsichere Unbedenklichkeit des Tatmenschen zu verstehen ist. Goethe hat die Beziehung offenbar nicht verstanden und übersetzt mit einem schönen Bilde, das den Sinn zwar nicht zerstört, aber auch nicht trifft. — In 57 ist der Verbannte segno — , — der leidenschaftlichen Teilnahme. Goethes Übersetzung — ... Die Tage Müßiggangs ... Zeugen von gränzenlosem Neid ..., wobei Zeugen entweder als Substantiv und Apposition zu Tage oder (wahrscheinlicher) als Verbum zu Tage zu verstehen ist —, entfernt sich von der Meinung des Dichters. — Zu 86 cadde lo spirto anelo bemerkt Bacchelli (72): „Fanimo anelante di fatica terrestre e brama di fede celeste", worin beide Bedeutungen von anelo enthalten wären. Auf jeden Fall trifft der entathmete [atemlos, leblos gewordene] Busen nur die Grundbedeutung des Wortes, nicht aber die hier näherliegende übertragene Bedeutung im Sinne von ,strebend, begehrend*. Schließlich sei noch auf zwei veränderte Satzzeichen hingewiesen, mit denen Goethe den ausgreifenden Bogen von Manzonis Kola vorzeitig unterbricht. Die Verse 7 f., 21
Ebd. 377. — Die soeben erwähnte Sammlung von C. A. Meschia war mir selbst nicht zugänglich. — Einem Gespräch mit Francesco Politi verdanke ich manchen Hinweis zum Verständnis von Manzonis Ode.
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Goethes Übersetzung von Man^onis Ode „II Cinque Maggio"
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muta pensando all'ultima ora dell'uom fatale, ergänzen, durch ein Komma getrennt, das starre Erstaunen der Erde: La terra al nun^io sta. Goethe setzt jedoch hinter Vers 6 einen Punkt, was ihn dann offenbar in 9 zu der oben besprochenen elliptischen Fügung Sie wüßte nicht ob ... veranlaßt hat, um dem nunmehr subjektlos gewordenen Satz ein deutliches Subjekt zu geben. — Auffälliger ist der Punkt nach Strophe 7. Denn durch die scharfe Trennung der Strophen, die bei Manzoni durch ein Semikolon lose verbunden sind, bleibt Goethes 7. Strophe ohne Hauptverbum, welches bei Manzoni zu Beginn der 8. Strophe erscheint, die vorangehenden Subjekte in einem tutto resümierend: Tutto eiprovo. Bei Goethe trennt der Punkt wiederum den Gedanken. In beiden Fällen war der Stropheneinschnitt für ihn zwingender als der übergreifende Zusammenhang des Satzgebildes. | Bezeichnender als die Abweichungen vom Original sind indessen diejenigen Stellen, an denen Goethe, auch auf Kosten der geläufigen deutschen Satzfügung, genau am Urtext festhält. Hier sind zunächst die nachgestellten Adjektive bemerkenswert, meist durch Kommata getrennt, wodurch bei unflektierter Verwendung absolute Fügungen, also verkürzte Nebensätze nach lateinischem Gebrauch entstehen: 3 Die Hülle lag, uneingedenk,\Verwais't ...; 74 des Tags, des leeren; 77 von Tagen vergangnen; 89 in Lüfte, leichter athembar; 92 Fußpfade, die hoffnungsreichen; 99 Glaubenskraft, immer triumphend. Diese Zweitstellung entspricht in jedem Falle dem Original; nur in 89 ist Goethe über Manzoni noch hinausgegangen, denn hier steht das italienische Adjektiv voran: e in piü spirabil aere. Ähnlich verfremdende Effekte erzielen die für Goethes Altersstil ganz allgemein charakteristischen Partizipien. In seiner Übersetzung verwendet Goethe sie fast manieristisch: Wir zählen 14 aktive Participia praesentis und 22 passive Participia perfecti. Gewiß handelt es sich dabei oft um Wörter in rein adjektivischer Funktion, die wir nicht als befremdlich empfinden; doch abgesehen von der Häufung an einigen Stellen — 4f. Verwais't ... getroffen ... erstaunt; 49 — 51 gespaltne ... Bewaffnet ... Ergeben; 75 — 77 blitzenden ... übergefaltet ... vergangnen — ist mehrfach ganz offensichtlich eine latinisierende Fügung angestrebt, die dem Ziele der Verfremdung des Deutschen dient. So 13 f., wo Goethe die Härte eines akkusativisch gemeinten Partizips neben einem nominativischen nicht scheut und wiederum über Manzoni hinausgeht, indem er ein gleichgeordnetes, durch e verbundenes Verbum in ein untergeordnetes Verhältnis zwingt: Lui folgorante in solio vide il mio genio e tacque;
Ihn wetterstrahlend auf dem Thron Erblickte die Muse schweigend.
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Goethes Übersetzung von Man^pnis Ode „II Cinque Maggio"
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Ähnlich 53f.: ei fe' silenzio, ed arbitro s'assise in mezzo a lor;
Gebietend Schweigen, Schiedesmann Setzt' er sich mitten inne.
In allen diesen Fällen ist das Bestreben des Übersetzers deutlich, ebenso eng am Wortlaut wie an der Wortstellung des Urtextes zu bleiben, um die Ausdrucksfähigkeit des Deutschen bis an die Grenze des Möglichen zu treiben. | Aus dem Versuch, die Idee ,Weltliteratur' hier einmal stilistisch zu demonstrieren, erklären sich wohl auch die eigentümlichen Härten und Kühnheiten, an denen die Übersetzung reich ist. Die vier Verse 7 bis 10 zeigen vier ungewöhnliche sprachliche Erscheinungen: muta pensando all'ultima ora delFuom fatale; ne sä quando una simile orma di pie mortale ...
Stumm, sinnend nach der letztesten Stunde des Schreckensmannes, Sie wüßte nicht ob solcherlei Fußstapfen Menschenfußes ...
Über die elliptische Fügung in 9 und ihre Gründe haben wir bereits gesprochen; auch über die Verwandlung eines einfachen Aussagesatzes ins Dubitative. Die Trennung der Vorsilbe nach von ihrem Verbum bringt diese in die Zweideutigkeit einer Präposition, aus der sie historisch entstanden ist; das ist im Griechischen häufiger, im Deutschen aber bei partizipialer Verwendung ungewöhnlicher Brauch. Der hypertrophische Superlativ letztesten, auch aus der Marienbader „Elegie" bekannt (52: Den letztesten [Kuß] mir auf die Lippen drückte) ist vom Original nicht gefordert; er unterstreicht auch formal die Endgültigkeit und Irreversibilität des tödlichen Schicksals. Das Fehlen des Artikel vor Menschenfußes entspricht zwar dem Italienischen, ist aber auch sonst in der Übersetzung bis zur Manier getrieben (z. B. 36, 55, 61, 77, 80), und zwar meist entgegen den glatteren Fügungen Manzonis. In 10 ist durch die Wiederholung von Fuß und die chiastische Stellung dieses Wortes in den beiden Zusammensetzungen eine bewußt manieristische Wirkung erreicht. — Ungewöhnlich scheint auch die Verbindung des Verbums erblicken mit einem Infinitiv, analog dem Gebrauch von sehen (l4 ff): Erblickte die Muse ... Ihn fallen, steigen, liegen. Die auffälligste Irregularität der Übersetzung besteht jedoch im Wechsel des Subjekts in den Versen 49 bis 52: Ei si nomo: due secoli, Tun contro l'altro armato, sommessi a lui si volsero, come aspettando il fato;
Er trat hervor: gespaltne Welt, Bewaffnet gegen einander, Ergeben wandte sich zu ihm Als lauschten sie dem Schicksal. |
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Goethes Übersetzung von Man^onis Ode „U Cinque Maggio"
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Denkbar wäre eine einfache Verschreibung, sei es in wandte oder in lauschten; wahrscheinlicher ist auch hier der Versuch, dem Original insofern nahezubleiben, als der Plural secoli, zunächst verdrängt durch die Vorstellung einer singular gespaltnen Welt, im zweiten Verbum wieder aufgenommen wird: gegen die starre Regel der Grammatik zwar, doch im Bestreben, „bis ans Unübersetzliche heranzugehen" und die Übersetzung dem Originale so weit wie irgend möglich identisch zu machen. Wenn es richtig ist, daß Goethes Übersetzung von Manzonis Ode „II cinque maggio" in den Umkreis der Weltliteratur-Idee und zu der dieser Idee entsprechenden Übersetzungstheorie gehört, so erübrigt sich bis zu einem gewissen Grade die Frage nach ihrem ästhetischen Wert. Denn abgesehen von den künstlerischen Schwächen des Originales, die keine Übersetzung verdecken dürfte, geht es Goethe hier gar nicht um schöne oder gefällige Prägung, vielmehr um ein Experiment, welches mehr auf die kulturorganisatorische Vermittlung fremden Sprachgeistes als auf die ästhetischen Möglichkeiten zur Verwirklichung des eigenen Sprachgeistes zielt. Ganz offensichtlich sollte in dieser Übersetzung nicht paraphrasiert werden; es kam Goethe allein darauf an, die deutsche Sprachfähigkeit durch kühn erzwungene Annahme fremder Eigentümlichkeiten zu erweitern, das Deutsche zu entdeutschen, zu europäisieren. Hier sind zum ersten Male in einer dichterischen Übersetzung die Verfremdungseffekte durchgeführt, die Schleiermacher rund ein Jahrzehnt zuvor in seiner Akademieabhandlung „Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens" gefordert und in seiner Platon-Übersetzung praktisch zu verwirklichen gesucht hatte22. Die Frage, welche sich auf Grund dieses Verfahrens ergibt, kann also in sinnvoller Weise nicht mehr nach dem künstlerischen Erfolg gestellt werden, sondern allein nach der Notwendigkeit des Über-|setzens: Wenn die Übersetzung nicht als Ersatz des Originales dienen, sondern dieses in der Übersetzersprache mit allen seinen Eigenheiten reproduzieren soll — wozu dann überhaupt noch Übersetzungen? Handelt es sich nicht in der Tat nur um „Unterhaltung der Gelehrten untereinander", wie Goethe das Verfahren in der Autobiographie nicht ohne Ironie gekennzeichnet hatte23. Vom Gesichtspunkt der Originaldichtung her mag die Frage 22
23
Vgl. Horst Rüdiger: Über das Übersetzen von Dichtung, in: Akzente 2/1958, bes. 185 ff., mit Beispielen für die Forderung von Verfremdungseffekten bei modernen Übersetzern. Dichtung und Wahrheit III 11, in: Gedenkausg. X (E. Beutler) 541.
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Goethes Übersetzung von Man^pnis Ode „U Cinque Maggio"
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bejaht werden; nicht aber unter dem Aspekt der Erweiterung der Übersetzersprache. Denn die Idee ,Weltliteratur' erfordert eben das Abstandnehmen von der eigenen geistigen Behausung. Diese Distanz wird nicht zuletzt durch identifizierende Übersetzungen bewirkt, indem solche die Erstarrung in den autochthonen grammatischen Formen lösen und das Lied in jene „drehende" Bewegung setzen, die Goethe an Hafis preist. Die identifizierende Übersetzung läßt uns das Heimische, Angestammte, Autarke fragwürdig erscheinen und öffnet den Blick für andere Strukturen des Geistes, auf die wir nicht verzichten können, wenn wir nicht in den Grenzen der literarischen Provinz verweilen wollen. Die originale Schöpfung in der eigenen Sprache kann Verfremdung in der Regel nur durch künstlich erzwungene Effekte, etwa durch Sprachmischung, erreichen, wie zahlreiche Beispiele moderner Lyrik von Benn bis Pound lehren; die identifizierende Übersetzung hingegen erzwingt unsere Teilnahme am Fremden in der natürlichsten Weise durch die unstarre Behandlung der eigenen Sprache. Sie ist gerechtfertigt als Mittel, den „Geschmack der Menge" zur Idee ,Weltliteratur' heranzubilden.
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Zum Verständnis von Goethes Tagebuch der Italienischen Reise, der Römischen Elegien und der Venetianischen Epigramme Auf den letzten Seiten von ^Dichtung und Wahrheit' spricht Goethe über die Rolle des Zufalls an einem entscheidenden Wendepunkt seines Lebens1. Den Anlaß bilden die Verwicklungen, die sich aus dem Verzicht auf Lili Schönemann und dem Entschluß zur Flucht aus ihrer Nähe ergeben haben. Zwei Möglichkeiten bieten sich ihm, den Plan ins Werk zu setzen: Das jungvermählte herzogliche Paar von Sachsen-Weimar, gerade auf der Durchreise in Frankfurt, hat ihn in seine Residenz eingeladen, während der Vater ihm täglich vom „herrlichsten Kunst- und Naturhimmer' Italiens schwärmt, den er selbst vor 35 Jahren genossen hatte. Infolge einer vermeinten Zurücksetzung durch die Weimarer fühlt sich Goethe in seinem Selbstgefühl verletzt; so scheint sich die Flucht nach Norden zu zerschlagen. Der Vater, über das Betragen hoher Herrschaften offenbar genau im Bilde, hält mit spöttischer Kritik an den edlen Absichten des Hofes nicht zurück. Doch ein Mittelsmann klärt das Mißverständnis auf und versichert Goethe, der Kammerrat von Kalb werde ihn demnächst in höchstem Auftrag nach Weimar geleiten. Nun nimmt Goethe Abschied von den Frankfurter Freunden; doch von Kalb — ein fataler Name in der deutschen Literaturgeschichte — läßt ungebührlich auf sich warten. So findet sich Goethe erneut in einer „sonderbaren", ja höchst peinlichen Lage: Der „Sitzengebliebene" muß die Öffentlichkeit meiden, wenn er ihr Gespött nicht herausfordern will, während der Vater daheim „die bedenklichsten Glossen" macht. Freilich ist er auch willens, dem Sohn im Mißgeschick beizustehen: Er versieht ihn mit Geld und Kredit für Italien, befriedigt damit aber mehr die eigenen Wünsche als das Trachten des Begünstigten, welches im Augenblick gar nicht nach Sü-| den steht. Dennoch entschließt sich Goethe, wenn auch zögernden Sinnes, zum Aufbruch. Heidelberg ist die erste Station und zugleich die letzte auf 1
IV. Teil, 20. Buch: X (E. Beutler) 843 ff., bes. 847 f. Dazu Briefe vom Okt. '75: XVIII (E. Damm) 289 f., 1034. „Flucht" auch in Tgb. vom 30. Okt. '75: Tgb. 17.
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dieser mißglückten Flucht nach Italien. Die Gastgeberin, eine Demoiselle Delph, beginnt Ehe- und Berufspläne für den jungen Mann zu schmieden; aber die klug Berechnende kalkuliert nicht ein, was der Greis in rückblikkender Besinnung „das Dämonische" nennen wird. Es erscheint ihm in Gestalt einer nächtlichen Stafette mit einem Schreiben, das die Verspätung des säumigen Kammerrates entschuldigt, das erneute Mißverständnis ausräumt und Goethe dringend bittet, nach Weimar zu kommen. Nun genügt eine Viertelstunde Bedenkzeit — Italien lockt, auch die Delph erhebt Einwände, fleht, zürnt —, dann ist die Flucht nach Norden beschlossen. Mit Egmonts bangender Frage — „Wohin es geht, wer weiß es?" — reißt er sich von der verstimmten Gastgeberin los. Am 7. November 1775 trifft er in Weimar ein. — Mit einer anderen Flucht — „Früh drei Uhr stahl ich mich aus Karlsbad" — hebt der nächste Abschnitt der Selbstdarstellung an, der erste Teil der italienischen Reise'. Das Motiv der Flucht, das die beiden so exponierten Stellen der Autobiographie über die Lücke der elf Weimarer Jahre hinweg miteinander verknüpft, bedeutet mehr als gefällige literarische Stilisierung. Flucht, ,Hegire', ist auch das einleitende Gedicht des West-östlichen Divans' überschrieben, das 1814 entstanden ist, und geflüchtet war Goethe in seinem Leben schon früher, wenn ihm die Umstände seines Daseins unerträglich zu werden schienen. Nur dem beschränkten Verstande, der im Entweichen nichts anderes als einen Akt der Feigheit zu erkennen vermag, ist es erlaubt, dieses Verhalten zu schelten. Im rechten Augenblicke durchgeführt, stellt sich der Abbruch zur Gewohnheit gewordener oder ins Gewöhnliche abgesunkener Lebensbeziehungen als demütiges Eingehen auf den Wink des „Dämonischen" dar. Für | Goethe verbindet sich damit die Idee der Erhaltung, der Erneuerung des Lebens. Beharrendes Verweilen wäre der Tod gewesen; Flucht ist die Vorbedingung der Wiedergeburt. Die nun endlich, nach wiederholten vergeblichen Ansätzen, Anfang September 1786 ausgeführte Reise nach Italien ist zuallererst ein vitales Ereignis in Goethes Dasein: Sie ermöglicht das ersehnte „neue Leben"; sie ist ein Entweichen aus quälenden Bindungen in die Freiheit und zunächst auch in die Einsamkeit des „dezidierten Inkognito"2. Es sind keine Launen, sondern instinktiv angewandte Mittel zur Genesung von einer bedrohlichen Erkrankung, wenn Goethe bis zu seiner Ankunft in Rom drei Grundsätze strikt durchführt: die nahezu absolute Geheimhaltung seines Unternehmens, die Verleugnung seiner Identität und die Assimilation an die fremde Sprache und das fremde 2 An Herder, 2. Dez. '86: T. 326.
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Volkstum3. Und es ist nun auch kein Zufall mehr, wenn er die Wiedergeburt seiner Person in dem Lande sucht, dem Europa neben so mancher Erneuerungsbewegung die Renaissance seiner Ursprünge im klassischen Altertum verdankt. Der Überdruß an der Weimarer Welt hatte mannigfache Ursachen. Die Reise nach Thüringen, im Oktober 1775 als vorübergehende Unterbrechung des unbefriedigenden Frankfurter Daseins geplant, hatte zur endgültigen Niederlassung in Weimar geführt. Die „enthusiastische Aufnahme", die er dort fand4, mag Goethe bestimmt haben, schon im Juni 1776 in den Staatsdienst einzutreten. Im Januar 1779 übernahm er die Leitung der Kriegs- und Wegebaukommission; an seinem 30. Geburtstag folgte die Ernennung zum Geheimrat, 1782 die Erhebung in den Adelsstand. Das genialische Treiben mit dem Herzog, die mäßigende, doch zugleich verwirrende Begegnung mit Charlotte von Stein, die planloszerstreute Beschäftigung mit biologischen, anatomischen und geologischen Problemen, vor allem aber die im Laufe der Jahre anwachsenden Amtsgeschäfte waren der stillen und | konzentrierten literarischen Produktion nicht günstig. Zwar entstanden im ersten Weimarer Jahrzehnt Gedichte, die zu Goethes schönsten zählen; auch ^ilhelm Meisters theatralische Sendung wurde abgeschlossen, doch der Roman blieb unveröffentlicht. ,Faust', ,Egmonf, ,Tasso' und andere dramatische Unternehmungen lagen in fragmentarischer Gestalt, zum Teil auch in einer Prosa vor, die dem Bedürfnis nach Stilisierung der Bühnensprache durch den Vers und nach klassischer Abrundung des Gehaltes nicht mehr genügte. Die ,Iphigenie' ist die einzige umfangreichere Dichtung, die Goethe in dieser Periode der vitalen Stockungen abgeschlossen hat; aber gerade sie erfüllte seine Ansprüche am wenigsten und fand erst auf der Reise vom Gardasee nach Rom ihre Gestalt in Versen. In den Tagebüchern mehren sich die Äußerungen des Unmuts und der Bedrängnis: „War zugefroren gegen alle Menschen" (Dezember 1778); „früh Tasso. Rechnungen. Briefe. Kriegskommission" (1. November 1780); im Dezember 1781 bereiteten ihm die „allzu kostspieligen Ausschweifungen" des Herzogs Verdruß5, 3
Zur Geheimhaltung vgl. Anm. 10. Lüftung des Geheimnisses: An Karl August, 3. Nov. '86 aus Rom: T. 351 = Ital. Reise, XI (E. Beutler) 136. Verleugnung der Identität: T. 17 f. (72), 20 (74), 373; XVIII 942. Goethe reiste unter dem Namen Giovanni Filippo Möller; vgl. Trunz XI 605. Assimilation: Goethe legte Landestracht an: T. 50. (95), 105 (136); er ahmte die südliche Gestik nach: T. 78 (114), und sprach italienisch: T. 50 (96). 4 Erstes Schema zu .Dichtung und Wahrheit' vom 11. Okt. '09: X 868. 5 Tgb. 36, 46 f.
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1784/85 dessen politisch-militärischer Ehrgeiz. Ähnliche Äußerungen finden sich in den Briefen, deren Ton geschäftlich kühl und deren Sprache karg wird bis an die Grenze des Verstummens. Zum ersten Male dient ein seltsam amtlicher Mitteilungsstil als durchsichtige Maske, die Regungen des Herzens vor Außenstehenden zu verbergen6. Unter dem Druck der Geschäfte spart er sich die Lektüre von Herders ,Ideen' für einen Sonntagmorgen auf, „um wenigstens die ersten Stunden des Sabbats zu feiern", und die knappe Mitteilung an den Verfasser unterzeichnet er drastisch7: „Geben vom Rade Ixions". Mit dem Scharfblick des entfremdeten Freundes berichtet Lavater im Juli 1786, wenige Wochen vor dem Aufbruch nach Italien8: „Ich fand Goethe älter, kälter, weiser, fester, verschlossener, praktischer." Der Entschluß, sich vom „Rade Ixions" loszuketten, geht | auf das Jahr 1785 zurück 9 . Goethe wäre seinem Freiheitsdrang wohl bereits früher gefolgt, hätte ihn Frau von Stein nicht daran gehindert: unwissentlich zwar, einfach durch die in sich ruhende, bezaubernde Gegenwart der um nahezu sieben Jahre reiferen Frau, aus deren Ehe mit dem herzoglichen Oberstallmeister bis 1774 sieben Kinder hervorgegangen waren, von denen drei am Leben blieben. Das zwiespältige Verhältnis — „meine Schwester oder meine Frau" — wurde durch die Aufnahme von Charlottes Lieblingssohn Fritz in Goethes Haus enger und noch komplizierter, als es infolge der Stellung der Liebenden in der Hofgesellschaft ohnehin war. Goethe erfuhr von neuem die Qual, eine Neigung erweckt und erwidert zu haben, die nach Lage der Umstände nie zur Bindung führen konnte. Gerade diese Zwiespältigkeit, in den Augen der Welt wohl auch Zwielichtigkeit der Beziehung mag Goethe im innersten Herzen bestimmt haben, die Flucht zu wagen und das Geheimnis zu wahren — auch vor der am nächsten Betroffenen10. Die ungebrochene, durch die Trennung gesteigerte Neigung aber bewog ihn, die Geliebte durch Tagebucheintragungen an seiner Wiedergeburt teilnehmen zu lassen.
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Ernst Beutler in der Einführung zu XVIII 980 f., mit Beispielen. 20. Febr. '85: XVIII 837; 1169 weitere Beispiele. XXII (W. Pfeiffer-Belli) 155. Erstes Schema zu .Dichtung und Wahrheit': X 869. Soviel ich sehe, gibt es nur einen unbestimmt gehaltenen, dem Adressaten kaum verständlichen Hinweis auf die Reise: an Jacobi, 12. Juli '86: XVIII 938. Eingeweiht war allein der Diener Seidel, 23. Juli '86: ebd. 942, wo der Name Möller für ein zu leistendes Akkreditiv auftaucht. Vgl. ferner: an Seidel, 18. 9. '86: XIX (H. Ostertag) 17 f.
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Das Tagebuch Der „gleichsam unterirdischen Reise"11 war ein heiter-erwartungsvoller Karlsbader Urlaubsmonat in Gesellschaft der Geliebten, des Herzogs und Herders vorangegangen. Mitte August hatte Goethe der heimkehrenden Charlotte bis ins Erzgebirge Geleit gegeben; am 28. feierten die Kurgäste seinen 37. Geburtstag. In der Nacht vor dem Verschwinden sendet er der Geliebten den letzten Gruß12: „Adieu! Lebe wohl, du süßes Herz! ich bin dein" — dann schreibt er ihr erst am 18. September aus Verona, ohne jedoch seinen Aufenthaltsort preiszugeben. Gleichzeitig kündigt er das Tagebuch an, freilich mit der Bitte, die Aufzeichnungen geheimzuhalten; erst in Rom, als die „stockenden Zeiten" vorüber sind, ermächtigt er sie, die Notizen auch den Freunden zugänglich zu machen13. Den ersten Teil sendet er am 14. Oktober aus Venedig ab; das zweite Stück, nur ein Drittel vom Umfang des ersten, folgt aus Rom. Hier hat Goethe zunächst keine weiteren Aufzeichnungen niedergeschrieben14: „Es ging nicht"; „es dringt zu eine große Masse Existenz auf einen zu"; diese aber verlangt passive Hingabe. An die Stelle des Tagebuches treten nun Briefe teils privater, teils „ostensibler", das heißt „mittelbarer" Art, auch „Zirkularschreiben" genannt15, weil sie für den Freundeskreis bestimmt waren. Daß ein Tagebuch indessen auf der weiteren Reise tatsächlich geführt wurde, beweisen erhaltene Bruchstücke16. Was nicht erhalten ist, hat Goethe später selbst vernichtet, so wie er die Briefe der Geliebten, „wiewohl ungern", alsbald nach Empfang verbrannte17. Geblieben ist nur der wunderbare Abschiedsgruß an sie aus Palermo, den Goethe im Februar 1818 Zelter schenkte, damit er ihn „fromm bewahre"18. Damals lebte die Empfängerin noch; es war neun Jahre vor ihrem Tode. Neben der Absicht, Charlotte an den Erlebnissen des Freundes teilnehmen zu lassen, erfüllt das Tagebuch von Anfang an eine weitere Aufgabe: Es soll als Rohmaterial für den geplanten Reisebericht dienen. In einem 11
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T. 351 = XI 136. 2. Sept. '86: T. 6. 6. Jan. '87, 17. Jan. '87: T. 248, 257. 7. Nov. '86, 17. Jan. '87: T. 215, 257. T. 215, 223, 229, 257, 278, 353. Sie reichen bis zum 21. Febr. '87: T. 288. T. 289 — 313. Über die übrigen erhaltenen unmittelbaren Zeugnisse im Goethe-Archiv vgl. Erich Schmidt, T. S. XXIII. T. S. XXII; 17. Febr. '87: T. 284. Ihre eigenen Briefe 1776-1786 hat sich Frau v. Stein nach der Entfremdung zurückgeben lassen und selbst verbrannt: E. Schmidt, T. S. 422 f. 18. April '87: T. 295, 426.
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undatierten Brief aus Venedig, noch immer ohne Ortsangabe, setzt Goethe die Geliebte von dieser Absicht in Kenntnis19: „Anfangs gedacht ich, mein Tagebuch allgemein zu schreiben, dann, es an dich zu richten und das Sie zu brauchen, damit es kommunikabel wäre; es ging aber nicht, es ist allein für dich. Nun will ich dir einen Vorschlag tun. Wenn du es nach und nach abschriebst, in Quart, aber gebrochne Blätter, verwandeltest das Du in Sie und ließest, was dich allein an-|geht oder du sonst denkst, weg, so fand ich, wenn ich wiederkomme, gleich ein Exemplar, in das ich hinein korrigieren und das Ganze in Ordnung bringen könnte." Charlotte, durch die nach Goethes eigenen Worten an den Herzog „etwas sonderbar scheinende Unternehmung"20 der Flucht verstimmt, erfüllte die Bitte nicht; Goethe hat die Redaktion, zunächst für den Druck einiger Aufsätze, später der italienischen Reise', an Hand des Tagebuches und der originalen Briefe selbst vorgenommen, und zwar ohne jede Rücksicht auf deren Gefühlsgehalt21. Beides hatte er bald nach seiner Rückkehr von Charlotte zurückgefordert, gleichsam zum äußeren Zeichen der seelischen Entfremdung. Erst Ende 1813 ging er an die Redaktion derjenigen Teile der Autobiographie, welche die Italien-Reise bis zur Rückkehr aus Sizilien umfassen. Diese Bände erschienen 1816/17. Der ,Zweite Römische Aufenthalt', der zu wesentlichen Teilen ebenfalls aus Korrespondenz, Tagebüchern und eingestreuten Füllseln von befreundeter Hand beruht, kam als dritter Teil erst 1829 ans Licht. Über die Unterschiede zwischen dem Rohmaterial einerseits und der endgültigen Fassung der ,Italienischen Reise' auf der anderen Seite im einzelnen zu handeln, ist hier nicht der Ort22. Anders als die italienische Reise' entbehrt das Tagebuch der Stilisierung zu literarischer Form und Vollkommenheit. Entstanden ist das Reisejournal offenbar auf Grund flüchtig hingeworfener Notizen oder Dispositionsschemata23, wie Goethe sie auch für andere Werke angefertigt hat. Der Verfasser nennt die Aufzeichnungen selbst wiederholt „gesudelt"24, was wohl nicht allein die äußere Form meint, obwohl die Lektüre der buchstabengetreuen Wiedergabe zeigt, daß Rechtschreibung, Zeichensetzung, Abkürzungen usw. sehr sorglos behandelt sind. Dennoch eignet 19 20 21 22 23 24
T. 8. T. 371. Vgl. die Beschreibung der Blätter durch E. Schmidt, T. S. XXIII f. Vgl. E. Schmidt, T. S. XXIV ff., XXXII; Weber 9 f.; Truna XI 572. Abdruck einer Probe: T. 374. T. 112 (142), 126 (150), 203 (206), 207 (210).
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den „flüchtigen Bemerkungen"25 die frischeste Unmittelbarkeit, und wenn man von der endgültigen Fassung der italienischen Reise' \ auf ihre Quelle zurückschließen darf, so offenbar besonders in den — vielleicht eben deshalb — nicht vernichteten frühen Teilen. Das Tagebuch steht „als Denkmal des ersten Eindrucks, der, wenn auch nicht immer wahr, uns doch köstlich und wert ist"26. So wirken die Berichte an Charlotte oft genug wie stenographierte Notizen; ein „pp." ersetzt die Ausarbeitung des Geschauten oder Gedachten, welche der rückblickenden Muße überlassen bleibt. Die Beobachtungen über Witterung, Klima, Pflanzen, Steine, Menschen sind noch nicht organisch in den Fluß der Erzählung eingeschmolzen, sondern als Exkurse gegeben. Wiederholt verweist Goethe der Einfachheit halber auf die dreibändigen ,Historisch-kritischen Nachrichten von Italien' seines Reiseführers D. J. J. Volkmann, 1770/71 zu Leipzig in 1. Auflage erschienen, damit Charlotte daheim das Werk zur Hand nehmen und den Weg des Freundes verfolgen könne27. Die „Anmerkungen" zu Volkmann sind Ergänzungen, Berichtigungen oder Betrachtungen beim Vergleich des Gelesenen mit der geschauten Wirklichkeit. In welcher Weise aber Goethe seine Notizen oder sogar einen flüchtigen Gruß später zu entpersönlichen, zu objektivieren und aus dem Abstand der Erinnerung zu allgemeiner Gültigkeit zu erheben vermochte, möge ein einziges Beispiel verdeutlichen. Im Tagebuch wünscht er Charlotte eine „Gute Nacht! Felicissima notte\ sagt der Ital.[iener]". Der entsprechende Passus in der italienischen Reise' lautet28: „Gute Nacht! so können wir Nordländer zu jeder Stunde sagen, wenn wir im Finstern scheiden; der Italiener sagt Felicissima notte\ nur einmal, und zwar wenn das Licht in das Zimmer gebracht wird, indem Tag und Nacht sich scheiden, und da heißt es denn etwas ganz anderes. So unübersetzlich sind die Eigenheiten jeder Sprache: Denn vom höchsten bis zum tiefsten Wort bezieht sich alles auf die Eigentümlichkeiten der Nation, es sei nun in Charakter, Gesinnung oder Zuständen." So ist die ,Italienische Reise' die | literarische Stilisierung des Aktes der Selbstbildung an den Gegenständen der Natur, der klassischen Kunst und des fremden Volkstums, geschrieben aus dem Rückblick des Greises auf die Erfahrungen im Mannesalter; das Tagebuch bekennt die Liebe des Schreibers und vergegenwärtigt den gelebten Augenblick für die Geliebte und die Freunde. Die improvisierte Niederschrift im Sturme der Empfindung läßt das Tagebuch zum Dokument der „Revolution" werden, die sich im lange 25 26 27 28
T. 27 (80). 10. Okt. '86: T. 166 (181}. T. 108 ff. (138ff.), 124 ff. (149f.) u. ö. 5. Okt. '86: T. 148 (167) = Ital. Reise, XI 87.
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unterdrückten Künstlertum Goethes vollzieht29: „Die Seele quoll auf, und er fühlte eine innere Art von Verklärung sein selbst, ein Gefühl von freierem Leben, höherer Existenz, Leichtigkeit und Grazie." Das Organ, welches die „Umwandlung sein selbst" vollbringt, ist das Auge; gibt er sich doch lange Zeit der Illusion hin, er sei zum Maler geboren. Hunderte von Zeichnungen aus der italienischen Zeit sind die beredten Zeugen der Selbsttäuschung. Doch auch dieser Irrtum dient ihm zum besten, weil er ihm die Gegenständlichkeit und die Formen der Welt eröffnet. Sie waren ihm in Weimar verschlossen gewesen — „die Gegenstände standen gleichsam nur eine Handbreit von mir ab, waren aber durch eine undurchdringliche Mauer von mir abgesondert" —; nun lichtet sich der Nebel, „und ich erkenne die Gegenstände"30. Wiederholt braucht er das Bild, es sei ihm „schuppenweise von den Augen" gefallen31, und er wird nicht müde, den Freunden daheim in immer neuen Wendungen die ursprüngliche Gewalt seines Augenerlebnisses zu vermitteln. Dabei ist es ihm „nur jetzt um die sinnlichen Eindrücke zu tun, die mir kein Buch und kein Bild geben kann, daß ich wieder Interesse an der Welt nehme und daß ich meinen Beobachtungsgeist versuche ,.."32. Man hüte sich, diese elementare Lust am Gegenständlichen und Gegenwärtigen ins Metaphysische umzudeuten; bitter Unrecht würde dem Manne geschehen, der mit der Treue eines Handwerkers beim Verarbeiten von schönem Eichenholz zuschaut | und darüber die Betrachtung anstellt33: „Ich kann nicht genug sagen, was mir meine sauer erworbnen Kenntnisse der natürlichen Dinge, die doch der Mensch als Materialien braucht und zu seinem Nutzen verwendet, überall helfen und mir die Sachen aufklären." Er will „einen reinen Eindruck der Gegenstände gewinnen": „Ich will ... die Augen auftun, bescheiden sehen und erwarten, was sich mir in der Seele bildet"; „ich will ... euch nicht nur sagen: Ich hab es gesehn, sondern es euch sehen machen"34. Dies also ist die eigentliche Absicht des Sichberauschens an Formen, Farben, Gegenständen der Natur und der Kunst: die Gestalten rein „in der Seele zu besitzen"35. Die hingebende Betrachtung der Dinge „mit einem stillen, feinen Auge"36 ist ein ästhetisch-künstlerischer und zugleich ein human-sittlicher Akt, welcher — unter Vorwegnahme zweier 29 30 31 32 33 34 35 36
30. Sept. '86: T. 129 (152). 10. Okt. '86, 30. Sept. '86: T. 168 (182), 128 (152). T. 252, 128 (152). 10. Sept. '86: T. 45 (91}. 5. Okt. '86: T. 143 (164). T. 102 (134), 325, 269. Über eine Büste: T. 103 (135). T. 122 (147).
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moralischer Schlüsselbegriffe des ,Divans' — bereits ganz auf die Idee des ,Reinen' und des ,Rechten' zielt. So spricht „die Gegenwart der Dinge" zu ihm, wie er „den ganzen Tag in einem Gespräche mit den Dingen" ist37: die „scharfe, sichre Gegenwart ..., diese ganze, wahre (nicht scheinbare, effektlügende, zur Imagination sprechende), derbe, reine, lichte, ausführliche, gewissenhafte, zarte, umschriebene Gegenwart", wie es, in entschiedenem Gegensatz zur Kunstkritik der Zeit, von Mantegnas Gemälden in Padua heißt38. So — und allein auf diese Weise — erlernt Goethe die „Haupt- und Grundbegriffe des Lebens sowohl als der Kunst"39. Die Lebenslehre besteht in der Erkenntnis, daß ihn das Schicksal weder zum Staatsmann noch zum bildenden Künstler bestimmt habe, sondern zum Dichter und zum Naturforscher40. Das künstlerische Ergebnis ist zunächst die Umschmelzung der Jphigenie' und des ,Tasso' in die klassische Form, dann aber auch die Erkenntnis41, daß die Gegenständlichkeit seiner Poesie eine Folge der aufmerkenden Übung des Auges sei. So kann er seine „Umwandlung" wiederholt als Genesung, | ja als „Wiedergeburt" feiern, die ihn „von innen heraus umarbeitet"42. Er folgt darin seinem verehrten Lehrer Winckelmann. Dessen Kunstgeschichte hatte er bereits in Leipzig studiert; nun schaffte er sich sogar die italienische Übersetzung an und begann am 13. Dezember 1786 Winckelmanns Briefe zu lesen43. Hier konnte er Bestätigung der Äußerung finden, die er wenige Tage zuvor Herder gegenüber getan hatte44: „Ich zähle einen zweiten Geburtstag, eine wahre Wiedergeburt von dem Tage, da ich Rom betrat" — denn auch Winckelmann hatte einem Jugendfreunde geschrieben45: „Ich würde sagen: ich habe bis in das achte Jahr gelebet; dieses ist die Zeit meines Aufenthalts in Rom und in anderen Städten von Italien." Auch in weiteren Lebens- und Kunstfragen hätte er Übereinstimmung feststellen können: Wie Winckelmann nannte er die Zeit ,eder und die Kunst lang46; darum mieden beide in Rom zerstreuende Gesellschaft und suchten allein den Umgang fördernder Freunde. Ganz ähnlich 37 38 39 40 41 42 43 44
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46
T. 94 (128). T. 114 (14?); vgl. Trunz XI 588. 22. Okt. '86: T. 196 (201). Vgl. die Belege bei Weber 20 ff. Zu Eckermann, 20. April '25: XXIV (E. Beutler) 154. T. 250, 326, 355; 241, 247, 329, 354. T. 325, 328. T. 326. Briefe II (W. Rehm), Berlin 1954, 275: 8. Dez. '62; vgl. ferner I (1952), 430: 10. Nov. '58; III (1956), 37: 15. Mai '64. T. 230; Winckelmann: Briefe III 254: 18. April '67.
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wie der Meister stellte Goethe im Tagebuch dezidiert fest47: „Der Apoll von Belvedere übersteigt alles Denkbare" (in der italienischen Reise' milderte er dann, das Werk sei „im Urbilde ... grenzenlos erfreulich"). Vor allem aber mußte es ihn anrühren, wenn er im autobiographischen Entwurfe Winckelmanns las48, dieser messe sein Leben nach dem Genuß ab. Denn ,Genuß* sowie die innerlich damit verbundenen Begriffe Freude, Heiterkeit, Glück, Freiheit, Zufriedenheit, Gesundheit kehren im Tagebuch fast auf jeder Seite wieder, ja Goethe entwickelt an einer Stelle geradezu eine Philosophie des Genießens49. Ihre Maxime lautet, dem Reisenden obliege die Aufgabe, den „abstrakten Genuß" zu suchen, etwa die Idee eines Künstlers aus dem zeitgebundenen Kunstwerke derart herauszuschmelzen, daß der Genießende das Werk „wieder rein in seine Seele bringe". Hier wirkt das gleiche Bestreben, dem wir bereits begegnet sind: die geschauten Gestalten „in der Seele zu besitzen". Die | Philosophie des Genusses aber zielt nicht auf jenes Genießen, das gemein macht, sondern das den Menschen produktiv werden läßt, ihn befreit und beglückt. Nur aus der Gewißheit, im Genießen das Rechte getan zu haben, kann Goethe beim Abschied aus Palermo im Überschwang der Seligkeit die Freude, eine ,Göttin' des Jahrhunderts, mit den großartigsten Sätzen beschwören, die ihr neben Schillers Hymnus gewidmet worden sind50: „Dies ist ein unsäglich schönes Land ... Wieviel Freude macht mir mit jedem Tage mein bißchen Wissen der natürlichen Dinge, und wieviel mehr müßte ich wissen, wenn meine Freude vollkommen sein sollte. Was ich Euch bereite, gerät mir glücklich, ich habe schon Freudentränen vergossen, daß ich Euch Freude machen werde. Leb wohl, Geliebteste, mein Herz ist bei Dir, und jetzt, da die weite Ferne, die Abwesenheit alles gleichsam weggeläutert hat, was die letzte Zeit über zwischen uns stockte, so brennt und leuchtet die schöne Flamme der Liebe, der Treue, des Andenkens wieder fröhlich in meinem Herzen." Nun brauchte er, wenn er heimkehren würde, die „Gespenster" nicht mehr zu fürchten, welche so oft mit ihm gespielt hatten51: jene „Wortschälle", die ihn ängstigten, wenn er den Namen Venedig gehört hatte, ohne sich von der Stadt eine lebendige Vorstellung machen zu können, jene in Kabinetten und Museen erstarrte Natur, mit der er zuvor sich 47
T. 240 = Ital. Reise, XI 164; Winckelmann: Briefe I 212: 30. März '56. Briefe II 275. v 25. Sept. '86: T. 106 f. (137f.). 50 18. April '87: T. 295. - Zur ,Göttin Freude' vgl. Franz Schultz, Klassik und Romantik der Deutschen, 2. A. Stuttgart 1952, I 19-21; II 136 f. 51 T. 270. 48
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hatte begnügen müssen52. Nun war ihm zum ersten Male der Anblick des Meeres vergönnt gewesen; er hatte Vesuv und Ätna in Tätigkeit gesehen; erschüttert hatte er den Anblick der Tempel von Pästum, Segesta und Agrigent genossen. Es war ihm die lebendige Erfahrung geworden, daß Vergüs Vers über den stürmisch bewegten Gardasee nicht aus kalter Kunstfertigkeit entstanden ist, sondern die Wirklichkeit rein darstellt; an der Aufführung einer italienischen Tragödie war ihm der eristische Charakter des griechischen Trauer-]spiels aufgegangen; der Gesang der venetianischen Gondolieri, „über deren toten Buchstaben wir uns so oft den Kopf zerbrochen haben", war ihm „menschlich und wahr" geworden53. Bei einer religiösen Feier in Rom hatte er zum ersten Male Griechisch rezitieren hören, und es klang neben den barbarischen Sprachen, „wie ein Stern in der Nacht erscheint"54. So konnte er denn heimkehren, wenn auch schweren Herzens. Und da sich ihm das dichterische Wort zum Abschied versagte, schloß er die italienische Reise' mit den entliehenen Versen Ovids ab, die der Dichter bei seiner Verbannung aus Rom gesungen hatte. Ja, er vertraute guten Bekannten später mehrfach an55, es habe nur wenig gefehlt, so wäre er Italien ganz verfallen. Nicht ohne Erschütterung aber liest man das Geständnis des Greises56, er sei, mit seinem Zustande in Rom verglichen, „eigentlich nachher nie wieder froh geworden". Denn nur dort habe er empfunden, „was eigentlich ein Mensch sei". Das Tagebuch für Charlotte bestätigt die späte Erinnerung aus dem Augenblick der Empfindung: Der Geliebten hatte er einst geschrieben57, er könne ihr gar nicht sagen, was er in kurzer Zeit an Menschlichkeit gewonnen habe; täglich werfe er eine neue Schale ab und hoffe, „als ein Mensch wiederzukehren". An keinem Dichter hat sich die erneuernde Kraft der ,Saturnia tellus' reiner bewährt als an Goethe. Die Elegien Es gehört zu den auffallendsten Tatsachen in Goethes Schaffen, daß der Lyriker in Italien nahezu verstummte. Bedurfte es der Entfernung von der gewaltig andringenden Wirklichkeit, ehe sich diese wieder ins lyrische 52 53 54
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T. 119 (145), 151 (169). T. 52 (97), 149 (168), 158 (175). T. 256. Zu Reinhard, 30. Mai/10. Juli '07: XXII 465; zu v. Müller, 25. April '19: XXIII (W. Pfeiffer-Belli) 52. Zu Eckermann, 9. Okt. '28: XXIV 289. 25. Sept. '86, 6. Jan. '87: T. 105 (136), 247.
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Wort bannen ließ? Doch das ,Nausikaa'-Drama, über dem er seinen sizilischen Aufenthalt „verträumte", dieser mediterranste Entwurf der | gesamten deutschen Literatur, ist ja Fragment geblieben, nachdem die Gegenwart der homerischen Landschaft von den Schleiern der Erinnerung verdeckt war. Vielleicht hätte Goethe auch die ,Römischen Elegien' niemals niedergeschrieben, wäre nicht eine andere, neu belebende Gegenwart mit der Erinnerung zu poetischem Einklang verschmolzen. Gewiß, Christiane Vulpius, die 23jährige Arbeiterin aus Bertuchs Weimarer Fabrik für künstliche Blumen, die Goethe knapp einen Monat nach seiner Rückkehr aus Italien kennenlernte und die den unmittelbaren Anlaß zum Bruch mit Charlotte von Stein bildete, ist nicht die ,Faustine' der Römischen Elegien' (XVIII); doch beider Gestalten sind in den Gedichten gegenwärtig und gehen ineinander über wie zwei sich deckende Schattenrisse. ,Erotica Romana' hat Goethe die ,Elegien' zunächst überschrieben und hat hinzugesetzt: ,Rom 1788'; denn im Januar dieses Jahres war er FAUSTINE begegnet. Im Juli setzte sich das durch die Heimreise (im April) abgebrochene römische Verhältnis gleichsam nahtlos mit Christiane fort. Gewiß schon in Rom konzipiert, sind die ,Elegien' jedoch erst vom Herbst 1788 bis zum Frühjahr 1790 ausgeführt worden. Nun nannte er Christiane sein „gewisses kleines Eroticon"58. Seltsame Vertauschung der Personen und Beziehungen! Doch ähnelten die Frauen einander offenbar wirklich. Beide gehörten den unteren sozialen Schichten an; beide blieben von Goethes Künstler- und Forscherdasein ausgeschlossen; bei beiden fand er frauliche Wärme und beglückenden Sinnengenuß. Faustine59, eine junge Witwe mit Kind (VI), vom Oheim mit südländisch-kleinbürgerlichem Mißtrauen überwacht (XV f), genoß zusammen mit der Mutter die Freigebigkeit des „nordischen Gastes" (II) — nach lokalem Sprachgebrauch war sie seine mantenuta. Was in Rom die Mutter der Geliebten gewesen war, ersetzten in Weimar die Tante und die Stiefschwester Christianes. Hier wie dort war das Verhältnis in den Augen der Gesellschaft | ein Skandal und eine Mesalliance, an deren Folgen in Rom die 58
59
An Herder, 10. Aug. '89; vgl. an Karl August, 3. April '90; XIX 151, 162 (,Erotio' Druckfehler für ,Erotico'?). Dazu Ernst Maaß, Die ,Venetianischen Epigramme', in: Jb. der Goethe-Ges. XII (1926), 74. Über den Namen vgl. die Vermutung von Theodor Siebs, Faustina, in: Jb. der GoetheGes. XII (1926), 93 ff. Der Annahme, bei der Szene in der Osteria (XV) handele es sich lediglich um eine literarische Reminiszenz aus Ovid, widerspricht Goethes eigenes Zeugnis: vgl. Anm. 64. Auch an der Tatsache, daß Faustine bald als Witwe mit Kind (VI), bald selbst als „Kind neben der Mutter" auftritt (XV), was Siebs sehr stört (94 f., Anm. 3), wird sich sonst niemand stoßen: Das eine schließt das andere nicht aus, zumal in der dichterischen Sprache. Die römische Faustine läßt sich zugunsten Christianes aus Goethes Leben nicht weginterpretieren.
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Geliebte (VI), in Weimar wohl Goethe selbst am meisten litt, so wie Faust oder Egmont das soziale Gefalle, welches die Helden von ihren Geliebten trennt, als unüberwindliche Schranke begreifen lernen. Die Gretchen- und Klärchen-, die Faustine- und Christiane-Beziehung gehört zu den erotischen Urkonstellationen in Goethes Dasein. In der unterdrückten XXI. Elegie hat er die Fehdeerklärung der naserümpfenden Hofgesellschaft mit der souverän-ironischen Frage beantwortet: ... und hebet am Ende Sich ein brokatener Rock nicht wie ein wollener auf? Freilich ist es geschmacklos und überdies falsch, das Verhältnis zu diesen Frauen in die Kategorie der ,niederen Minne' einzureihen. Die Liebe zu Faustine-Christiane spielt zwar auf einer tieferen sozialen Ebene als die Neigung zu Lili Schönemann oder Charlotte von Stein; aber sie führt auch in eine höhere vitale, geistige und poetische Welt. Ihr mangelt alles Sehnsüchtig-Romantische, Formlos-Schwebende, alles wertherisch „Verwünschte" (II, 1. Fassung); es fehlt ihr „Seele", „Tiefe", „Gemüt", „Innerlichkeit"60, aber auch Lüsternheit und Prüderie — mit einem Wort: all jene Eigenschaften, die man in romantischen Weltgegenden mit der Vorstellung von einer echten oder einer schlechten Liebe zu verbinden pflegt. Selbst Schiller, der die ,Elegien' 1795 in den ,Horen' zuerst abdruckte, meinte in einem Briefe an den vertrauten Körner61, bei aller Anerkennung ihrer literarischen Qualität seien sie doch schlüpfrig und nicht sehr dezent". Nichts falscher als dieser Puritanismus: Schlüpfrigkeit wäre das Letzte, was man den ,Elegien( vorwerfen könnte. Dabei hatte Goethe die vier gewagtesten Stücke dem Publikum wohlweislich vorenthalten (XXI —XXIV): Der Preis des „echten nacketen Amors", das unverhüllte Eingeständnis | der Angst vor venerischer Erkrankung und die beiden Priapeen hätten sich für deutsche Ohren, welche der herzlichen Offenheit der römischen Elegiker noch entwöhnt waren, wohl kaum geschickt. Trotzdem gaben geringere Geister als Schiller ihrer Entrüstung öffentlichen Ausdruck; auch Charlotte hatte „für diese Art Gedichte keinen Sinn"62: Sie konnte nicht begreifen, daß sie sich Goethe eben durch ihr Unverständnis seiner vitalen Wiedergeburt entfremdet hatte. Denn ihm war in Rom der Sinn aufgegangen für den innigsten Zusammenklang von Leib, Seele und Geist, für das „Sehen mit fühlendem Äug, Fühlen mit sehender Hand", für sinnliche Beglückung und plastische 60 61 62
Emil Staiger in der Einführung zu I 736. 14./20. Sept. '94: XXII 213. Vgl. die Äußerungen bei Trunz I 490 sowie die dort verzeichnete Literatur.
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Belehrung in einem (V). Dies ist der tief unromantische, widernordische, der wahrhaft klassische Gehalt der ,Elegten': die Vergeistigung des Eros und die Erotisierung des Geistigen. Es sind zwei interdependente Vorgänge, die sich seit den Tagen von Amors römischen „Triumvirn" (V), Catull, Tibull und Properz — neben Ovid, Goethes Meister und Muster der Gattung Liebeselegie —, nie mehr wiederholt hatten. Nur Dante und Shakespeare haben, freilich unter anderen inneren Voraussetzungen, den Eros in vergleichbarer Weise vergeistigt. In der deutschen Literatur hebt mit den ,Elegien' ein Ton an, wie ihn kein Dichter vor Goethe und auch er selbst bisher nie angeschlagen hatte: der Preis des Leibes, welcher beseelte Form ist und den Geist des Genießenden bildet. Nach Goethe gibt es ebenfalls nichts Vergleichbares: Klassisch sind die ,Elegien' auch durch ihre Unwiederholbarkeit, neben der alle Nachahmungen blutarmer Klassizismus sind. In den voritalienischen Jahren war Goethe aus dem Traditionszusammenhang der großen europäischen Dichtung herausgetreten und hatte gesungen, „wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet": regellos, intuitiv, frei, ,natürlich' und meist in altdeutschen Reimpaaren. In den ,Elegien' knüpft er den abgerissenen Faden wieder an und dichtet | gesetzmäßig, gebunden, kunstvoll, nach klassischen Mustern und Metren. Er fügt sich den prosodischen Regeln des Distichons; ja bei seinen späteren Elegien ging er so weit, den pedantischen Ansprüchen der metrischen Puristen nachzugeben und die ursprünglich lockerer geformten Verse zu ihrem Schaden zu ändern63. Zum Glück entgingen die ,Römiscben Elegien' August Wilhelm Schlegels Schulmeistereien: Sie sind metrisch nicht immer korrekt; dafür ist ihnen der poetische Glanz erhalten geblieben. Nur in der römischen Künstlerfreiheit konnten die ,Eroticd gedeihen; darum ist die uralte Beziehung zwischen Roma und Amor das eigentliche Thema der Gedichte. Denn nicht allein die großen römischen Elegiker wirken in ihnen fort, wenn Goethe Selbsterlebtes erzählt oder die Geliebte mit einem fingierten Namen belegt, wenn er das mythologische Arsenal seiner Vorgänger übernimmt und die Götter in sein Schicksal eingreifen läßt oder zahlreiche Einzelmotive wiederholt, als wollte er sich mit dem Geiste der römischen Elegie völlig identifizieren; vielmehr erfährt der moderne Dichter den Urmythos der Quiriten mit höchster Entzückung am eigenen Leibe: den Glauben, daß Roma sich der besonderen Gunst der Venus und ihres Sohnes Amor erfreue, so wie Lukrez es gesungen hatte: 63
Vgl. Trunz I 483 ff., mit Beispielen.
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Aeneadum genetrix, hominum divumque voluptas, alma Venus ... Nur durch der Liebe verwandelnde Kraft heben Paläste und Straßen zu sprechen an; nur Eros vermag den Stein zu beseelen, das Historische zur Gegenwart, das Erstarrte zum Leben zu erwecken (I). Die ,Elegieri verkörpern im Wort die Wiedergeburt des Menschen Goethe und zugleich des heidnischen Mythos der Stadt Rom und ihrer klassischen Dichtung. Sie sind Bild und Sinnbild der Überwindung des von außen in | unbekannten Bildungsstoff eindringenden Fremdlings, der vollzogenen Anverwandlung und Einverleibung der fremden Welt mittels der alldurchwaltenden Urkraft der Liebe. Wie Lukrez diese spezifisch römische Kraft in seinem Proömium beschwört, so feiert Goethe sie erneut in der I. Elegie: Eine Welt zwar bist du, o Rom; doch ohne die Liebe Wäre die Welt nicht die Welt, wäre denn Rom auch nicht Rom. Und sie bleibt im gesamten Zyklus — dem ersten, den Goethe komponiert hat — allgegenwärtig im reizendsten Wechselspiel mit der römischen „Vor- und Mitwelt" (V), vom „Pantheon" der hohen kapitolinischen Götter (XI) bis hinab zu den „Popinen" und zur Osteria alia Campana, wo er der Geliebten zum ersten Male begegnet war (XV)64. Neben dem großen Thema verbindet die innere Form die Sammlung zu einem Ganzen. Fast alle Gedichte sind durch die Kraft des Gegensatzes künstlerisch geformt (und in diesem Mittel kündigen sich bereits die Epigramme an): Wie in der I. Elegie ein „noch nicht" mit dem ersehnten „bald", das in bedächtige Betrachtung versunkene Dasein des Bildungsreisenden mit der verheißenen Liebeserfüllung in Kontrast steht, so im letzten Gedicht die Verschwiegenheit des Liebhabers mit der spielerischen Offenheit des Dichters, der sein Geheimnis den Distichen anvertraut. Die Harmonisierung all dieser Gegensätze im sanften Flusse der klassischen Rhythmen, die stets so ungezwungen erscheinende Beziehung oftmals entlegener mythologischer Beispiele, aktueller Vorfälle (II: der „Malbrough"-Schlager), südlicher Bildeindrücke (VII: „Sternhell glänzet die Nacht ...") auf das persönliche Thema und den bildungsgeschichtlichen Hintergrund der ,Elegien' bildet den geheimen künstlerischen Reiz dieses Zyklus. Erst im , ' hat Goethe ähnliche Vollkommenheit wieder erreicht, l 64
Vgl. das Gespräch mit dem Maler Zahn, 8./10. Sept. 1827: XXIII 510.
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Die Epigramme Mit den ,Ekgieri lassen sich die ,Epigramme — Venedig 1790' als dichterische Gesamtleistung nicht vergleichen. Sie sind die manchmal lieblichen, öfter bitteren Früchte von Goethes zweiter Italien-Reise, die ihn vom 13. März bis 20. Juni 1790 nach Venedig führte. Von dort wollte er die Herzogin Anna Amalia heimgeleiten, mußte aber nahezu zwei Monate auf ihre Rückkehr aus Neapel warten. Nun vertrieb er sich die Zeit, so gut es ging, durch Lektüre, Kunstbetrachtung, zoologische und optische Studien sowie durch „mancherlei Unterhaltung", deren die ,Epigramme( mehr oder minder verhüllt gedenken65. Unter diesem Aspekt stellen sie ein Tagebuch in Distichen dar. Schon drei Tage nach seiner Ankunft meldet Goethe den Beginn der Niederschrift; im Laufe eines Monats waren die Epigramme auf hundert angewachsen66; später kamen noch weitere hinzu. Schließlich waren wohl „einige Hunderte" beisammen, die sich freilich nicht ausnahmslos als „produzibel" erwiesen und nach einer Auswahl verlangten67. Eine solche erschien 1796 anonym in Schillers ,Musenalmanach', leicht überarbeitet in den ,Schriften' von 1800, während die unterdrückten Stücke, soweit sie noch lesbar waren68, erst aus dem Nachlaß ans Licht kamen. Eine alte Erfahrung bestätigt, daß man einen Ort, wo man glücklich gewesen ist, meiden sollte, wenn man nicht enttäuscht werden möchte: Nicht die Umgebung hat sich geändert, wohl aber der Mensch, der sie erlebte. Goethes Proteus-Natur hatte sich in den dreieinhalb Jahren, seit er Venedig zum ersten Male gesehen hatte, gründlich gewandelt; Labilität gehört zu den Merkmalen seines Schöpfertums. Jetzt liebte er Christiane „leidenschaftlich" und fühlte auf der Reise, wie sehr er „an sie geknüpft" war und an das „kleine Geschöpf in den Windeln", das sie ihm zu Weihnachten 1789 | geboren hatte69. „Kleine Bewegungen der Ungeduld" überkamen den sonst so Geduldigen70. Selbst seiner Liebe zu Italien war „ein tödlicher Stoß versetzt"; er war nun „ganz aus dem Kreise des italienischen Lebens gerückt" und meinte gelernt zu haben, daß er „auf keine Weise mehr allein sein und nicht außerhalb des Vaterlandes leben" 65
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An Herder, 15. April '90: XIX 163; Tierschädelfund: an Karoline Herder, 4. Mai '90: ebd. 165; Optik mit den ersten Angriffen gegen Newton: Epigr. 77 — 79. An Karl August, 3. April '90, an Karoline Herder, 4. Mai '90: XIX 162, 164. An Schiller, 20. Okt. '94. Vgl. Maaß a. a. O. 68. An Herder, 28. Mai '90, an Karl August, 3. April '90: XIX 167, 162. An Charlotte v. Kalb, 30. April '90, an Karoline Herder, 4. Mai '90: XIX 164 f.
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könne71. Der arglosen Karoline Herder sandte er das mit Recht unveröffentlicht gebliebene Epigramm, in dem er sich einem Gärtner vergleicht, welchem es schlecht ansteht, sein Gärtchen zu vernachlässigen und in der Welt umherzufahren72. So war Enttäuschung am Orte der früheren Seligkeit, verstärkt durch die klimatische Ungunst des Frühlings73, die Folge der inneren Wandlung. Diese Wandlung betraf auch das Verhältnis zum christlichen Glauben. Goethe fuhr „als ein Heide" nach Venedig, so wie er Winckelmann später „einen gründlich gebornen Heiden" nannte74. Italien aber ist ein katholisches Land; man kann es als Andersgläubiger nicht genießen, wenn man nicht wenigstens den äußeren Formen und Bräuchen der Religion Nachsicht entgegenbringt. Dies hatte Goethe 1786 getan. Bereits in Regensburg hatte er damals notiert75: „Wie freut mich's, daß ich nun ganz in den Katholizismus hineinrücke und ihn in seinem Umfange kennenlerne." In Vicenza war er noch weiter gegangen76: „Man müßte, wenn man hier leben wollte, gleich katholisch werden, um teil an der Existenz der Menschen nehmen zu können. Alles ladet dazu ein, und es ist viel Freiheit und Freimütigkeit unter ihnen." Auch das war im Geiste Winckelmanns gedacht; doch beide Passus fehlen in der italienischen Reise'. Auf der Weiterreise hatte es dann an kritischen Äußerungen nicht gefehlt, besonders im Zusammenhang der Kunstbetrachtung77; einer der schärfsten Hiebe trifft den „Hokuspokus" der Kerzenweihe in der Sixtinischen Kapelle78. Aber gerade hier empfand er auch „Größe", ließ sich im Genuß nicht beirren und „unterdrückte | jedes schärfere Urteil. „Wir erfreuten uns des Erfreulichen"79. Vor allem richtet sich die Kritik kaum jemals gegen die christliche Religion als solche, sondern gegen den Kultus und die klerikalen Mißstände, gegen die auch Faustine ihrem QuiritenZorn freien Lauf läßt (VI. Elegie). 71
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An Karl August, 3. April '90, an Herder, 28. Mai '90, an Charlotte v. Kalb, 3. April '90: XIX 162, 167, 164. 4. Mai '90: XIX 166 = Epigr. 157. — Den obszönen Nebensinn von „Gärtchen", ital. „giardino [della natura]", um dessentwillen das Epigramm unterdrückt wurde, dürfte Karoline so wenig verstanden haben wie die meisten Interpreten. Vgl. Elegie XXII, Vers 9, 14, 45, sowie Elegie XXIII. XIX 161 f.; Epigr. 22-25. An Herder (!), 15. März '90: XIX 161; Winckelmann und sein Jahrhundert: XIII (Chr. Beutler) 424. Vgl., ferner die unterdrückten Epigr. 107 f. T. 15 (70). T. 103 (134}. T. HOf. (140), 124 (149), 135 (157), 160 (176), 185 (192f.), 309. T. 274. T. 226 f.
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Anders 1790 in Venedig. Zahlreiche epigrammatische Invektiven zielen auf den Gehalt des Christentums. Zwar blieben die bösesten Stücke zu Lebzeiten unveröffentlicht, vor allem der bereits in den ,Elegien' (XVIII, XVII) anklingende indirekte Vorwurf, die Trübung des unbefangenen erotischen Genusses durch die Gefahr venerischer Erkrankungen stehe in innerem Zusammenhang mit dem Christentum (104; vgl. auch 146), auf jeden Fall aber die Verdächtigung der fleischlichen Liebe als Sünde. Doch genügten die publizierten Stücke, um ihren Verfasser nach Nietzsches Wort80 den Deutschen „anstößig" werden zu lassen. So beschränken sich auch moderne Herausgeber gern auf einen Teilabdruck: Goethe habe gewußt, „daß man beim Auswählen von dergleichen Erzeugnissen kritisch sein muß"81. Indessen dachte er offenbar auch bei den — mit Schillers Billigung! — veröffentlichten Stücken nicht kritisch genug, um sein Urteil jetzt noch immer zu unterdrücken und seiner Offenherzigkeit Zügel anzulegen. Wer die mephistophelischen, die voltairischen Züge in Goethes Wesen, seine Skepsis und den bis zur Verachtung getriebenen Pessimismus hinsichtlich der menschlichen Natur kennenlernen will, darf auf die Gesamtlektüre nicht verzichten. Da wird mit Entschiedenheit erklärt: „Alle Weiber sind Ware" (133), und fast glaubt es der Dichter, wenn man ihm erzählt, er sei „selbst ein verpfuschtes Geschöpf (124) — ist doch der Mensch ohnehin „ein erbärmlicher Schuft" (73). Venedig bei Regen heißt „Sankt Markus im Kot" (24), sein Emblem ein „geflügelter Kater" (20). Die Invektive scheint sich zur Blasphemie zu steigern, wenn Goethe neben Tabak, Wanzen und Knoblauch das Kreuz einen ihm besonders ver-|haßten Gegenstand nennt (66) oder dem eifernden Christen Lavater vorhält, er habe nach der „gekreuzigten Puppe" gegriffen (110). Von Iphigenies zarter Weiblichkeit ist nichts mehr, noch nichts ist von den drei Ehrfurchten der Wanderjahre' zu spüren. Die kritische Betrachtung würde sich ihr Geschäft jedoch ungebührlich erleichtern, wenn sie solche Ausfälle absolut setzte. Zunächst richtet sich der Spott nicht allein gegen das Christentum und den Menschen als grundverderbtes Geschöpf; auch den einzelnen Nationen bleibt nichts erspart, an der Spitze den einst geachteten Italienern. Mit gutem Humor hatte Goethe 1786 die hygienischen Mißstände und Unbequemlichkeiten des Landes hingenommen, ja sogar einen Plan durchdacht, der Unsauberkeit in Venedig zu steuern82. Damals war er ganz frei gewesen von dem Gefühl der Überlegenheit, mit dem sich der Nordländer im Süden gern 80 81 82
Der Fall Wagner, Kap. 3, in: Werke VIII, Stuttgart 1921, 13. Trunz I 496; die Ausgabe bringt 43 Nummern. T. 53 (98), 76 f. (11 if.), 129 f. (153}.
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brüstet. So hatte er an Herder über einen gemeinsamen Bekannten geschrieben83: „Er wird auf die Italiener schimpfen und verschweigen, wie er sich aufgeführt." Nun schimpfte er selbst und vermißte „deutsche Redlichkeit" (4). Doch gerade dieses Epigramm enthüllt am Schluß die Ursache des Zornes: Faustinen find ich nicht wieder. Das ist Italien nicht mehr, das ich mit Schmerzen verließ. Oder noch deutlicher, in Verbindung mit dem antichristlichen Affekt, die Pilger-Epigramme (6f, 2l)84: Wir sind alle Pilger, die wir Italien suchen; Nur ein zerstreutes Gebein ehren wir gläubig und froh. Natürlich war es noch immer das alte Italien, welches er jetzt wiedersah; aber aus dem schwärmenden Pilger war — und zwar gerade infolge der klärenden Italien-Erfahrung — ein Ernüchterter geworden. Alles Schwärmerische, Propheten-]hafte, Heuchlerische, Betrügerische, Hysterische (105) war ihm nun ebenso herzlich zuwider wie die daraus entstandene Idee eines politischen Umsturzes mit dem Ziele utopischer Menschheitsbeglückung. So erklären sich die Epigramme gegen die Französische Revolution (50 — 58). Vom höchsten Richter erwartet er als „Vernünftiger", nicht wie Bock und Schaf den Platz an seinen Seiten, sondern ihm „grad gegenüber" zu finden (48). Denn „als ein vernünftiger Mann, als ein vergnügter", vor allem aber als „freier Mensch" — nicht als Christ oder Stoiker — möchte er „dem Ende der Tage" nahen (114, 116). Am biographisch-psychologischen Hintergrund dieser Wandlung kann kein Zweifel bestehen: Der Kampf gegen die Schwärmerei gilt nicht zuletzt den eigenen Jugendtorheiten (54), als deren letzte nun der verglühte Italien-Enthusiasmus erscheint. In dieser Hinsicht bedeuten die ,Epigramme1 einen Akt der Selbstreinigung: Sie sind Sinnbild und Ausdruck der überwundenen, insgeheim aber vielleicht noch immer gefürchteten Südwehkrise, notwendiges Durchgangsstadium von der eigenen Schwärmerei zur „Vernunft". Dies Wort ist nun freilich nicht mehr im Sinne Voltaires oder gar der Revolution zu verstehen, sondern als Schritt auf dem Wege zur Weisheit des Alters, der Entsagung. So liegen hinter der scharfen Ablehnung neue Werte zur Entfaltung bereit; sie heißen in der 83
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25. Jan. '87: T. 339. Vgl. Maaß a. a. O. 84, wo freilich der Zusammenhang mit Nr. 21 unbeachtet bleibt. Verfehlt ist die Interpretation von Karl Victor, Goethe, Bern 1949, 104, der Epigr. 7 als Erotikon versteht. Es gehört mit Nr. 6 zusammen und meint das Verhältnis zu Italien.
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Sprache dieses Überganges: das Heidnische, Vernunft, Freiheit — auch Liebesfreiheit zum Heile der Dichtung (134). Die Radikalität der Kritik zeigt sich besonders an der Gruppe von Epigrammen, die sich gegen das Deutsche richten. Sie zielt nicht so sehr auf nationale Untugenden als auf bestimmte politische und geistige Wesensmerkmale einer in den urbanen Spielregeln noch wenig erfahrenen Gesellschaft. Mit der verallgemeinernden Zuspitzung, die der Gattung Epigramm eigen ist, stellt Goethe fest, die deutsche Dichtkunst liege im argen (33). Um den Dichter kümmert sich | weder Kaiser noch König; ein kleiner Herzog muß ihm Augustus und Mäcenas in einer Person sein (34 b). Sein Werzeug aber, die deutsche Sprache, stellt für ihn den „schlechtesten Stoff" dar, ein „unüberwindliches" Hindernis (29, 76). Man kann die Scheltrede nicht aus der Welt schaffen, wenn man entgegen dem Wortlaut annimmt, hier sei „gar nicht die deutsche Sprache" gemeint, sondern „der Werkstoff des Dichters" schlechthin85. Es läge schon näher, empirisch zu verfahren und darauf hinzuweisen, daß die ,Epigramme' selbst das Gegenteil von Goethes Behauptung bezeugen: Sind doch einige geradezu Muster des klassischen Gattungsstils, wie ihn Lessing definiert hat (z. B. 8, 38 f., 97, 153)86. Doch der Nachlaß zeigt, daß Goethe bei seiner Kritik an ganz bestimmte Aussagebereiche denkt, welche der deutschen Sprache verschlossen sind und ihn gerade in Venedig zur Gestaltung reizten: Das Phallische läßt sich im Deutschen nur plump ausdrücken (145), und auf die Frage, wie er es wagen könne, „unziemliche Sachen" deutsch zu schreiben, folgt die resignierte Antwort (121): „Deutsch dem kleinen Bezirk leider ist griechisch der Welt." Das aber heißt: Was sich in der Sprache der Provinz nicht sagen läßt, ließ sich einst und ließe sich noch immer in der Sprache der Welt, etwa im Griechischen, ausdrücken. Goethe hat es versucht, indem er sich souverän der Vorbilder bediente, die ihm die literarische Tradition auch hier an die Hand gab: den Epigrammatiker Martial in erster Linie, sodann Horaz, Vergil, Catull, Properz und sogar die Apostelgeschichte87, nicht zuletzt aber die ,Griechische Anthologie'. Wenn er sich bemüht, die venetianischen ,Lazerten' einzuführen, ohne Sitte und guten Geschmack zu verletzen (67 f.), so tut er es 85
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Arthur Hübner, Goethe und die deutsche Sprache, in: Goethe II (1937) 117 f., nach Trunz I 498. Zerstreute Anmerkungen über das Epigramm, in: Werke VI (G. Witkowski), Leipzig—Wien o. J., 139ff., bes. 143, 146. Vgl. dazu meine Bemerkungen in: Konkrete Vernunft (Rothacker-Festschrift), Bonn 1958, 346 f. Vgl. die Nachweise bei Maaß a. a. O.
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mit der Eleganz der großen Anthologie-Dichter, und gerade die lieblichsten seiner Epigramme sind dem Geiste dieser Sammlung verpflichtet (das Bukolikon 13, die Verse auf das gefundene Perlchen, 28, | oder 101 f. auf die nahende Geburt des Sohnes). Wo sich aber das Phallische mit elementarer Gewalt vordrängte wie in einigen Epigrammen auf das Akrobatenkind ,Bettine' oder auf die ,Lazerten' in Venedigs Spelunken, da mußte er freilich auf die Öffentlichkeit verzichten (138 — 148): nicht weil sich ihm der Werkstoff Sprache versagt hätte, sondern weil das Deutsche — damals der Bibelsprache Luthers noch näher als heute — in der Tat der „schlechteste Stoff gewesen wäre, um antike Unbefangenheit auszusprechen. Als Geschöpfe antiken Freimuts gehören auch die ,Epigramme' zu Goethes klassischen Hervorbringungen. Nicht mit unbedingtem Rechte gilt der ^ibellus Epigrammatum' als Buch des Unmuts. Gewiß, Goethe sagt selbst, daß ihm, fern der Geliebten, die Langeweile, die Vorläuferin des schöpferischen ennui, als „Mutter der Musen" zu Hilfe gekommen sei (27, 49). Und sofern sie Produkte der Mißstimmung sind, kündigen die ,Epigramme' in der Tat die ,Xenien' und das ,Buch des Unmuts' im , ' an. Indessen stehen die gute Laune und der persönliche Mut dem Unmut nahe zur Seite: „Dichten ist ein lustiges Handwerk" (46). Mit leichter Hand sind die Verse geschrieben (49, 100), wie die Gelegenheit dem Reisenden Stoff bietet (81). In einem nachgelassenen Stück vergleicht Goethe sie dem Werk eines „verständigen Kochs", der die Speisen in rechter Weise zu mischen verstehe (119). Die Wendung erinnert an die lanx satura der Römer, welche „Satire metaphorisch als bunte Schüssel vom Tisch des Lebens" verstanden88. Locker wie die römischen Satiren-Zyklen ist auch der Zyklus der ,Epigramme' komponiert — jedenfalls loser verknüpft als die ,Elegten' mit ihrem durchgehenden Hauptthema —, und satirisch ist vor allem die Grundstimmung. Sie bildet Goethes Antwort auf die moralische Korruption und die Provokation durch Welt und Gesellschaft (59 f., 73 — 75); auch sie will lachend die Wahrheit verkünden — nur | Leider läßt sich noch kaum was Rechtes denken und sagen, Das nicht grimmig den Staat, Götter und Sitten verletzt (112). Indessen klingt Goethes Antwort keineswegs immer nur grimmig und gallig; über der Sammlung steht das sorglose Motto: Wie man Geld und Zeit vertan, Zeigt das Büchlein lustig an. 88 Ebd. 90.
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Witz, Spott, Satire, auch Unmut und kritische Invektive möchten nicht ernster genommen sein, als sie gemeint sind. Die ,Epigramme' aus Venedig sind das Produkt der wechselnden Laune, zwittrige Geschöpfe der Stimmung und der Mißstimmung zugleich.
Anmerkungen Goethes Werke, Briefe und Gespräche werden zitiert nach der Gedenkausgabe (E. Beutler), Zürich 1948 ff., mit Band- und Seitenzahl. Die »Römischen Elegien' sind in der vorliegenden Ausgabe von I bis XX (zu Goethes Lebzeiten veröffentlicht) und XXI bis XXIV (aus dem Nachlaß) durchnumeriert; in entsprechender Weise die ,Venetianischen Epigramme' von l bis 103 (mit der Zählung 34 a und 34 b) bzw. 104 bis 158. Die nachgelassenen Elegien XXI bis XXIV sind also mit den in der Gedenkausgabe II 110—114 abgedruckten Stücken I—IV, die nachgelassenen Epigramme 104—158 mit den in II175—185 abgedruckten, aber unnumerierten Stücken identisch. Tagebücher und Briefe Goethes aus Italien an Frau von Stein und Herder (= T.) werden nach der Erstausgabe (E. Schmidt), Schriften der Goethe-Ges. II, Weimar 1886, zitiert, jedoch in moderner Rechtschreibung und Zeichensetzung. Bei Zitaten aus dem ,Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein' ist die Seitenzahl der vorliegenden Ausgabe in kursiv gesetzten Ziffern in ( ) hinzugefügt. Die übrigen Tagebücher (= Tgb.) — ebenfalls modernisiert — werden zitiert nach: Tagebücher (H. Nette), Düsseldorf-Köln 1957. Einführung und Kommentar zu den Schriften der italienischen Zeit bieten: Goethes Werke — Festausgabe XVII — Italienische Reise, Zweiter Römischer Aufenthalt (R. Weber), Leipzig 1926, 7-33, 568-671; Bibliographie: 565-568 (= Weber); Goethes Werke I - Gedichte und Epen (E. Trunz), 3. A. Hamburg 1956, 482-499; Bibliographie: 491, 493, 497 (= Trunz I); Bd. XI - Italienische Reise, 3. A. 1957, 557-678; Bibliographie: 679 — 686, mit Verzeichnis der von Goethe benutzten Italien-Literatur: 680 — 683 (= Trunz XI). — Außer den bei Weber und Trunz genannten Ausgaben der .Italienischen Reise', sei auf die mit bisher zum Teil unveröffentlichten Illustrationen versehene Ausgabe dieses Werkes, München o. J. (1960), hingewiesen.
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Curiositas und Magie Apuleius und Lucius als literarische Archetypen der Faust-Gestalt
Vom
bis Hellas immer Vettern!
Lucius, ein junger Grieche mit römischer Bildung, kommt in Geschäften nach Thessalien, der Heimat seiner mütterlichen Ahnen. Wie im Lande der Hexen und Hexenkünste nicht anders zu erwarten, gerät er alsbald in zweifelhafte Gesellschaft. Die Frau seines Gastfreundes übt magische Praktiken aus, und ihre reizende Dienstmagd Photis, am Kochtopf nicht minder tüchtig als im Bett, erweist sich dem Gaste auch darin erbötig, daß sie bereit ist, ihn an den Zauberkünsten der Herrin teilnehmen zu lassen. Leider ergreift sie in der Eile den falschen Salbentopf, und statt der erwünschten Vogelfedern wachsen Lucius Borsten, Schwarte, Zagel und lange Ohren — kurz, er wird versehentlich zum Esel. Dies wäre indessen kein unheilbarer Schaden, weil seine Rückverwandlung in Menschengestalt nur an die Bedingung geknüpft ist, ein paar Rosen zu fressen. Gerade daran hindert ihn lange Zeit ein tückisches Geschick. Aus dem Stalle, den man ihm zunächst als Quartier zugewiesen hat, wird er von Räubern entführt. Nach der Befreiung aus ihrer Gewalt muß er den Mühlstein drehen, dann Holz schleppen, schließlich will man den Ungebärdigen kastrieren. Zwar entrinnt er auch dieser ernstlichen Bedrohung; dafür fällt er Bettelpriestern in die Hände, die ihn zuschanden prügeln, weil er den Bauern ihr unzüchtiges Treiben verraten hat. Ein Müller, ein Gärtner, ein Koch und ein Bäcker, ein reicher Herr, dem er als Clown dienen muß, eine Dame mit sodomitischen Gelüsten sind seine weiteren Besitzer. Im Amphitheater soll er gar einer zum Tode verurteilten Verbrecherin öffentlich beiwohnen. Auf der Flucht vor solcher Zumutung gerät er in eine Isis-Prozession und frißt, der Weisung der Göttin folgend, dem Priester den Rosenkranz aus der Hand. Da wird er wieder zum Menschen und überdies zum treuen Diener der Göttin. Mehr noch: Lucius entpuppt sich als Mann aus Madaura in Nord-|afrika (XI 27, 9) und als Anwalt (30, 4) — mit anderen Worten: als Apuleius selbst (um 125 bis um 180),
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„Curiositas" und Magie
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der witzige Autor des Romanes, welcher unter dem Titel Metamorphosen überliefert und als Goldener Esel in die Weltliteratur eingegangen ist. Der einzige vollständig erhaltene Roman der römischen Literatur ist seit langem ein Gegenstand wissenschaftlicher Bemühung. Seine Sprache gehört zu den wenigen Quellen des Vulgärlateinischen, in denen sich die Redeweise der romanischen Völker bereits ankündigt; sein Stil ist ein monströses Monument des „tumor Africus" und des Manierismus, sein Inhalt ebenso amüsant zu lesen wie schwer zu deuten. Die Nachwirkung des Goldenen Esels reicht von Augustinus, der dem Roman seinen populären Titel gab, über Boccaccio, der Apuleius einige seiner besten Novellenstoffe verdankt, bis in die Goethe-Zeit; die Verdeutschung von August Rode, ohne Ortsangabe 1783, ist ein Meisterwerk der vorklassischen deutschen Übersetzungsliteratur J . Die philologische Fragestellung richtet sich insbesondere auf das Problem des Ursprungs der Gattung Roman aus dem Geiste der Mysterienreligion, das mit der Exegese des XI. Buches der Metamorphosen sowie des eingelegten Amor und Psyche-Mythos eng zusammenhängt. Zwei Auffassungen stehen einander gegenüber. Nach Rudolf Helm2 ist es ebenso unangebracht, dem Roman „einen erbau-| liehen religiösen Zweck zuzuschreiben ... wie in den Leiden der Psyche einen tieferen mystischen Gehalt zu sehen und eine Läuterung anzunehmen ... Auch einen älteren ursprünglichen Eselsroman zu postulieren und als eine Quelle der früheren wie der späteren griechischen Romanliteratur zu betrachten und gar diesen ganzen Zweig der antiken Erzählertätigkeit als rein religiös begründet zu denken, ist sicherlich ein mißglücktes Resultat übertriebenen Scharfsinns und ungehemmter Kombinationslust." 1
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Kaum veränderter Neudruck, hg. v. Horst Rüdiger, Zur. 1960; Nachwort 515 — 559 (zit.: Rüdiger). Nach der Übersetzung von A. R. neu bearbeitet ... und hg. v. Erich Burck, Hbg. 1961; Zum Verständnis des Werkes 256-309 (zit.: Burck). - Ausgaben und moderne Übersetzungen: Metamorphosen oder Der goldene Esel, hg. v. Rudolf Helm, Bln. 1956; Einleitung 1—27. Der goldene Esel — Metamorphosen, hg. v. Edward Brandt, besorgt v. Wilhelm Ehlers, Mch. 1958; Anhang 503-528. Diese Ausgabe enthält, 529 — 607, auch Text und Wielands Übersetzung des pseudolukianischen Lukios oder Der Esel; nach ihr wird zitiert (= Brandt). — Kritische Literatur: vgl. Rüdiger 560 f.; Burck 228 (zu Amor und Psyche), 247 (zum XI. Buch), 310; Brandt 507 f., 511, 513, 528; Paul Junghanns, Zur Er^äblungstecbnik von Apuleius' Metamorphosen und ihrer Vorlage, Lpg. 1932 (Philologus Suppl. XXIV 1), Lit.-Verzeichnis; mit einseitiger Stellungnahme, aber reichhaltig Hermann Riefstahl, Der Roman des Apuleius — Beitrag %ur Romantheorie, Fkft./M. 1938 (Frankfurter Studien XV), passim, bes. 4 — 8; Albin Lesky, Apuleius von Madaura und Lukios von Patrai, in: Hermes LXXVI (1941), 43-50. Der antike Roman2, Gott. 1956, 75 f.; danach Brandt 504 f.
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„Curiositas" und Magie
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Diese Sätze richten sich vornehmlich gegen die einschlägigen Untersuchungen von Richard Reitzenstein und Karl Kerenyi3. Dagegen argumentiert Reinhold Merkelbach in seinem Buch Roman und Mysterium in der Antike*: „Epos, Lyrik und Drama haben ihren Ursprung in der Religion. Die Entstehung des Romans glaubten die Gelehrten — mit Ausnahme von Karl Kerenyi — anders erklären zu können. Aber schon aus allgemeinen Gründen ist wahrscheinlich, daß es mit dem Roman nicht anders steht als mit den übrigen literarischen Gattungen der Antike ... Die antiken Liebesromane hängen eng mit den Mysterien des sinkenden Altertums zusammen ... Die Romane werden zu Hauptquellen für diese | Religionen ..." Sie seien „Mysterientexte"; die Metamorphosen insbesondere hätten neben dem Ziel der Spannung und Unterhaltung eine hintergründige Bedeutung, welche „dem Apuleius vor allem am Herzen lag". Von einigen hyperkritischen Schlüssen abgesehen, scheint mir Merkelbachs Interpretation in vieler Hinsicht überzeugender als die allzu vordergründige Analyse Helms. Ohne in die Entscheidung der Grundfrage eingreifen zu wollen, hoffe ich, im folgenden auch unter anderen Gesichtspunkten nachweisen zu können, daß — wenn nicht in der Anlage, so doch in der literarischen Wirkung — der anscheinend so harmlose
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Reitzenstein: Das Märchen von Amor und Psyche bei Apuleius, Lpg. 1912; vgl. auch die bei Reinhold Merkelbach, Roman und Mysterium in der Antike, Mch.-Bln. 1962, S. XII, genannten weiteren Schriften Reitzensteins. Kerenyi: Die griechisch-orientalische Romanliteratur in religionsgeschichtlicher Beleuchtung, Tüb. 1927; mit Nachbetrachtungen Darmst. 1962. — Daneben gehört Riefstahl zu den Anhängern der religiösen Herkunft des Romanes, vgl. z. B. 9 f. Sein Kapitel „Vergleich mit dem modernen (deutschen) Entwicklungs- und Bildungsroman", 95 — 125, steht indessen auf tönernen Füßen, da die vermittelnden historischen Zwischenglieder fehlen und die Methode rein phänomenologisch ist. Es ist ein Beispiel dafür, wie man Komparatistik und NachlebenForschung nicht betreiben sollte. — Lesky 44, 46 u. ö. nimmt gegen Kerenyi Stellung; jüngst Burck 285—289 gegen „Tieflotungen" aller Art. Doch muß zwischen leeren Spekulationen (wie bei Riefstahl) und Tiefenwirkungen in die Zukunft unterschieden werden, die ihrerseits die Metamorphosen in einem weniger harmlosen Lichte erscheinen lassen. Autoren wir Tertullian und Augustinus haben sich nicht mit komischen „Pechvögeln" (so Burck 286 nach Junghanns 140, Brandt 503) abgegeben. Sie wußten, welche Abgründe der menschlichen Seele zu bekämpfen sie berufen waren. Dazu das Weitere im Text. — Vgl. auch die charmante, doch im Grunde wohl unzureichende Definition des griechischen Liebesromanes und seiner Herkunft bei Otto Weinreich im Nachwort zu Heliodor, Aithiopika — Die Abenteuer der schönen Chariklea, Zur. 1950, 343 f. — Für das gesamte Problem noch immer grundlegend Erwin Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer, hg. v. Wilhelm Schmid, Lpg. 1914; mit Vorwort von Kerenyi, HildeSh. 1960. AaO. S. VII, S. 1.
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„Abenteurerroman" des Apuleius mehr bietet als „lediglich die Belustigung" und die der Forschung stets willkommene „Sittenschilderung"5. Zweifellos spielt das weitverbreitete Mi trauen gegen Spannung und Unterhaltung keine geringe Rolle bei der Ablehnung einer Interpretation auf den beiden Ebenen des Vordergr ndig-Erz hlerischen und des Hintergr ndig-Religi sen — gerade als ob Spannung und Unterhaltung bel w ren, vor denen Mi trauen die angemessene Haltung ist. Den wenig berzeugenden Einwand, der Stil der Burleske, welcher gro e Teile des Romanes beherrscht, widerlege den hintergr ndigen Gehalt, habe ich bereits fr her zur ckgewiesen6: Es ist nicht einzusehen, weshalb in Zeiten, denen der Sinn f r klassische Haltung zugunsten des extremsten Manierismus7 abhanden gekommen ist, religi se Tatbest nde sich nicht auch in Form des Schwankes, der Posse oder der Farce aussprechen, weshalb Tiefsinn sich des Stilmittels der Burleske unbedingt enthalten sollte. Nun hat die Forschung ihre Aufmerksamkeit auch auf jenes Motiv gerichtet, das Lucius in seine unfreiwilligen Abenteuer treibt: seine unbez hmbare curiositas. Es k nnte berfl ssig erscheinen, nach den geistvollen Untersuchungen von Hans Joachim | Mette und Andre Labhardt8 nochmals auf das Thema zur ckzukommen, erg be sich nicht bei genauerer Betrachtung der Zusammenh nge, in denen das Wort auftaucht, eine merkw rdige Ambivalenz dieses Begriffes mit geistesgeschichtlich weitreichenden Folgen. Labhardt beginnt seine Untersuchung mit folgenden Feststellungen: „Socrate fut accuse de vouer un zele excessif a l'etude (περιεργάζεται ζητών) de ce qui est sous la terre et dans le ciel (Apol. 19b). Et Plutarque dira de la πολυπραγμοσύνη qu'elle est ,un desir de connaitre (φιλομάθεια} le mal qui est en autrui, defaut qui n'est ni exempt d'envie, ni de mechancele' (Curios. 515°). Dans les deux cas, un jugement negatif est porte sur le desir de savoir, parce que son objet se situe hors 5 6
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Helm 75 f.; Riefstahl 50-61. Einwand u.a. bei Brandt 511; dazu R diger 536 — 538; jetzt auch Merkelbach 82f. Richtig schon Junghanns 160. Manierismus ist wohl gemeint, wenn Riefstahl 121 schreibt, Apuleius stehe „immer in der barocken Spannung", oder wenn Lesky 71 den Roman als „barock seiner Form wie seinem Gehalte nach" bezeichnet. Vgl. dazu R diger 553 f., Anm. 1. Mette: Curiositas, in: Festschrift Bruno Snell, Mch. 1956, 227—235; Labhardt: Curiositas — Notes sur l'histoire d'un mot et tfune notion, in: Mus. Helv. XVII 4 (1960), 206 — 224. — Weitere Hinweise u. a. bei Junghanns 122, Anm. 3; 161, Anm. 68; 162 f., Anm. 73; 169, Anm. 85; 172; Riefstahl 29; Lesky 71; 72f., Anm. 2; Brandt 503-505; R diger 531—536 (die gegenw rtige Untersuchung m chte die dort ausgesprochenen Vermutungen und Zusammenh nge auf sicheren Grund stellen und erweitern); Burck 285 f., 307; Merkelbach l f., 19 f., 22, 26, 47. Die Ambivalenz des Begriffes haben bereits Junghanns, Lesky und vor allem Labhardt erkannt. Lesky spricht von „Heteronomie".
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de la sphere des interets legitimes de celui qui desire connaitre, et ne le concerne pas. Les termes de la Familie de περίεργος &t de πολνπράγμων, devenus synonymes a l'epoque hellenistique, apparaissent done affectes d'un indice pejoratif que nous retrouvons dans de latin curiosus et curiositas, qui les resument et les continuent." W hrend wir die Begriffe πολυπραγμοσύνη und πολνπράγμων hier beiseite lassen d rfen, ist es unerl lich, zun chst einmal kurz auf die περιεργία einzugehen. Dieses aufschlu reiche Wort taucht bereits in jener Bearbeitung der Metamorphosen des Lukios von Patrai (erste H lfte des 2. nachchristlichen Jahrhunderts) auf, welche mit dem Titel Λούκιος ή "Ονος wahrscheinlich zu Unrecht unter dem Namen des Lukian, eines Zeitgenossen des Apuleius, l uft. Da die Erz hlung des Lukios von Patrai verloren ist (N heres ber sie wissen wir nur durch einige Bemerkungen des byzantinischen Literarhistorikers Photios — Bibl. 129 — aus der zweiten H lfte des 9. Jahrhunderts), l t sich nichts dar ber sagen, ob auch in ihr das Motiv der περιεργία schon eine Rolle gespielt hat. Immerhin w re eine solche Vermu-|tung nicht von der Hand zu weisen, eben weil beide nach heutiger Auffassung von ihr abh ngigen Bearbeitungen, der pseudolukianische Eselsroman wie die Metamorphosen des Apuleius, das Motiv verwenden. Fa bar wird es jedenfalls zun chst im Eselsroman. Hier reflektiert der Held Lukios nach der Verwandlung in die Eselsgestalt ber sein Mi geschick und ruft aus (Kap. 15): ώ της άκαιρου ταύτης περιεργίας. Wieland bersetzt: „Unseliger Vorwitz!" Er verwendet also ein Wort, das aus Luthers Bibelsprache gel ufig ist und uns noch mehrfach besch ftigen wird. Περιεργία^ ist eine Ableitung vom Verbum περιεργάζομαι, welches sich bereits bei Herodot findet in der Bedeutung ,take more pains than enough about a thing, waste one's labour on it' u. .; dann bei Aristophanes als ,to be busy about „some new thing"', aber erst im 3./4. nachchristlichen Jahrhundert bei dem Alchimisten Zosimos als ,seek diligently'. Dementsprechend weist auch περιεργία eine Reihe von Bedeutungsschattierungen auf: ,futility, needless questioning' bei Platon; bei Plutarch, wie wir h rten, ,curiosity'; ferner ,useless learning' (Hippokrates), mehrfach ,intermeddling with other folk's affairs, officiousness' (z. B. Theophrast, Lukian, Libanios), im 6. nachchristlichen Jahrhundert auch ,jugglery'. Diese fl chtige bersicht ber den Bedeutungswandel best tigt die Beobachtung Labhardts, da beiden W rtern eine negative Wertung eigen ist. Dabei interessiert uns besonders die Variante ,sinnlose Gesch ftigkeit', ,Geschaftelhuberei', die sich vereinzelt auch im deutschen ,Vorwitz' findet; 9
Vgl. Henry George Liddell — Robert Scott, A. Greek-English LexikorP (New Ed. by Sir Henry Stuart Jones and Roderick McKenzie), Oxf. 1953.
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so nach dem Grimmschen W rterbuch: „von eigenwilliger, eitler neuerungssucht ... und unruhiger (immer neuen nichtigen dingen zugewandter) gesch ftigkeit". Dieses Verhalten steht der Unt tigkeit — als Gegensatz zur sinnvollen T tigkeit — nicht fern und kann, wie das Beispiel der Betriebsamen aller Zeiten lehrt, mit Vernachl ssigung der wesentlichen Aufgaben sehr wohl Hand in Hand gehen. Etwas berspitzt ausgedr ckt: Gesch ftiger M iggang kann zur Ursache der curiositas und des ,Vorwitzes' werden. So hat jedenfalls der Apostel Paulus das griechische Wort gebraucht. Er schreibt an die Thessalonicher (2, 3, 10 f.): Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. „Denn wir h ren, da etliche | unter euch wandeln unordentlich und arbeiten nichts, sondern treiben Vorwitz (μηδέν εργαζομένους αλλά περιεργαζομένου^)." Die Stuttgarter Jubil umsbibel erl utert: „Das war ein falsches Warten auf die baldige Wiederkunft Christi; das bel hatte seit dem ersten Briefe (vgl. 1. Thess. 4, 11. 12) noch zugenommen, daher die gro e Sch rfe. Man sp rt dem Apostel den heiligen Eifer an gegen die frommen Faulenzer." In hnlichem Sinne gebraucht Paulus auch das Adjektiv περίεργος (l. Timotheus 5, 13): Die jungen Witwen seien nicht nur faul, „sondern auch geschw tzig und vorwitzig (περίεργοι) und reden, was nicht sein soll". Gesch ftiger M iggang ist aller Neugier Anfang. Besonders aufschlu reich ist aber die Stelle aus der Apostelgeschichte, wo Lukas erz hlt (19, 13 — 19), da sieben S hne eines j dischen Hohenpriesters sich des Namens Jesu, den Paulus predigte, bedienten, um b se Geister zu bannen. Sie verwenden seinen Namen als eine Art salomonischer Beschw rungsformel, wie sie in Gestalt der Clavicula Salomons noch dem 18. Jahrhundert gel ufig war (Lessing bestellte das Buch 1767 bei seinem Bruder f r die Arbeit am Faust; Goethes Faust verwendet es zur Teufelsbeschw rung: V. 1257 .10). Der Besessene der Apostelgeschichte aber gesteht ihnen das Recht auf die Verwendung des Namens Jesu nicht zu und l t sich nicht einsch chtern, sondern berw ltigt seine Beschw rer und jagt sie von dannen. Nun packt sie die Angst: „Viele aber, die da vorwitzige Kunst getrieben hatten (των τα περίεργα πραξάντων), brachten die B cher zusammen und verbrannten sie ffentlich." Τα περίεργα πράττειν meint hier eindeutig ,Zauberk nste treiben' (Vet. Lat., cod. e: ,curiositates'; Vulg.: ,curiosa'; Liddell-Scott-Jones: ,curious arts, magic') — die gleiche anr chige Handlung also, in deren Folge Lukios und Lucius in Esel verwandelt werden. 10
Lessing: Faustdichtung, hg. v. Robert Petsch, Heid. 1911 (Germanische Bibl. II 4), 43. — Vgl. Will-Erich Peuckert, Pansophie — Ein Versuch %ur Geschichte der wei en und schwarten Magie2, Bln. 1956, 46 ff., 155 u. .
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F r die klassischen Esel ergibt sich noch mehrfach Gelegenheit, Wehklagen ber ihren gesch ftigen Vorwitz anzustimmen. Zu der Zeit, da sie bei einem G rtner in Diensten stehen, ger t dieser mit einem Landsknecht in Streit, verpr gelt ihn und meint, er habe ihn erschlagen. Aus Angst vor Strafe flieht er in die Stadt, l t sich selbst von Freunden in einer Kiste verstecken, den Esel | aber auf dem Dachboden. Als die Polizei kommt, um den T ter zu fassen, erhebt sich auf der Gasse ein Disput (45): ό αγέρωχος και πανιά περίεργος εγώ βουλωμένος μαθεΐν τίνες εϊεν οι βοώντες, διακΰπτω άνωθεν κάτω δια της θνρίδος. Wieland bersetzt den Passus sehr h bsch: „... sticht mich unbesonnenen und naseweisen Esel der Vorwitz zu wissen, wer die Schreier da unten sind, und ich stecke meine Ohren zum Fensterchen hinaus und gucke auf die Stra e herab." Infolgedessen wird der G rtner verhaftet, der Esel aber wandert in fremde H nde. Hier ist der „Vorwitz zu wissen" nichts anderes als „richtig eselhafte Neugier"11, welche wiederum zu schlimmem Ende f hrt. Und am Schlu dankt Lukios den G ttern (56), da sie ihn εξ vou περιεργίας wieder heimgef hrt haben. Weit konsequenter als der Verfasser des Lukios hat Apuleius das Motiv der curiositas zum primum movens seiner Handlung gemacht. Im Lukios tritt es nur gelegentlich auf; es wirkt komisch und dient der Unterhaltung12. Bei Apuleius steht es im Mittelpunkt und ist weit mehr als „ein ,dramaturgisches' Motiv", „ein St ck Erz hlungstechnik, ein literarischer Trick"13. (Da es dies auch ist, versteht sich am Rande.) Es kommt nicht nur an den dem Lukios entsprechenden Stellen der Handlung vor14, sondern bildet das Leitmotiv zahlreicher Abenteuer einschlie lich der Verwicklungen des Psyche-Mythos. Ja dieser Mythos wird erst durch das curiositasMotiv organisch mit dem Gesamtgef ge der Handlung verkn pft und stellt deshalb mehr dar als eine blo e „Einlage", mehr auch als „narrationes lepidae anilesque fabulae", wie Apuleius die Geschichte ironisch untertreibend nennt (IV 27, 8). Wiederholt sich doch in diesem „Ammenm rchen" in mythologischer Sph re, was sich bereits im Bereiche des Menschlichen als so verderblich erwiesen hatte: da unser Vorwitz an all unserem Unheil die eigentliche Schuld tr gt. Erst vom curiosifas-Motiv her versteht man auch die Stellung des Psyche-Mythos im Mittelpunkt des Romanes (IV 28 —VI 24)15 sowie seinen gro en Umfang, welcher die 11 12 13 14 15
Lesky 71. So richtig Junghanns 163, Anm. 73; 169, Anm. 85. Brandt 504; Burck 285. Mette 229: II 6, 1; IX 42 (nicht: 49), 2; XI 15, 1; Warnung auch XI 23, 5. Vgl. Merkelbach 2: „Den Irrfahrten des Lucius entsprechen die der Psyche: Lucius sucht seine wahre Gestalt, Psyche sucht Eros ... So spiegelt sich das Schicksal des Lucius im Schicksal der Psyche, und umgekehrt."
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Lucius-Abenteuer fast vergessen läßt. Denn die Motivierung für die Erzählung des Psyche-Mythos gerade an dieser Stelle ist recht schwach: Sie gibt der Geschichte keine andere Funktion als die eines reizenden, doch etwas flüchtig einokulierten „Zeitkürzers"16. Wohl aber gewinnt sie Sinn, ja Hintersinn, wenn man bereit ist, sie als weiteres Exemplum menschlicher Anfälligkeit zu verstehen. Bei genauerem Zusehen ergibt sich noch mehr. Neben der Erweiterung seiner Quelle durch die leitmotivartige Verwendung der curiositas hat Apuleius das Motiv auch variiert und — wohl in Anlehnung an die literarische Tradition — mit ambivalentem Sinn ausgestattet: Es erscheint teils als harmlose, „eselhafte" ,Neubegierde', an anderen Stellen aber auch als verderblicher Vorwitz. Die Genese dieser Bedeutungsmöglichkeiten hat Labhardt dargestellt. Für uns ist wichtig, daß der Begriff, soweit er die Wißbegier betrifft, seit Cicero und vor allem durch Seneca in ein moralphilosophisches System hineingestellt und mit philosophischen Wertungen beladen worden ist. Darauf ist es schließlich zurückzuführen, daß er zu einem Zentralbegriff der frühchristlichen Theologie werden konnte. Apuleius nimmt in diesem Prozeß eine Schlüsselstellung ein: Er gebraucht nicht nur das Substantiv, „ chez Ciceron", als erster Schriftsteller recht häufig, sondern „opere en un certain sens la jonction entre la philosophie traditionnelle et le christianisme"17. Diese Tatsache scheint mir wichtig genug, das curiositasin den Metamorphosen eingehender zu betrachten. Von den zahlreichen Stellen, die sich dem Leser anbieten, wählen wir einige besonders bezeichnende aus. Zunächst ist die curiositas des Lucius eine Wesenseigenschaft; in kurzem Textabstand wird sie als ,familiaris' (III 14, 1; IX 12, 2), ,ingenita' (IX 13, 3) ,genuina' (IX 15, 3) bezeichnet. Das Sinnesorgan, dessen sie sich vornehmlich bedient, ist das Auge. Actaeon hat seinem ,curiosus optutus' auf die Göttin Diana die Verwandlung in einen Hirsch zu danken | (II 4, 10); mit den ,curiosi oculi' beginnt das Unheil des Thelyphron (II 29, 1); .sacrilega curiositas' (V 6, 6) treibt Psyche, die Lampe anzuzünden und den verbotenen Anblick des „allerlieblichsten Ungeheuers" Cupido zu genießen (V 22) — ihre ,vultus curiositas' (V 19, 3) ist unbezähmbar. Abermals ist es Neugier (V 23, 1), welche Psyche veranlaßt, auch die Pfeile des Gottes zu prüfen, woraus sich ihr weiteres Verderben entspinnt. Und selbst dann hat sie noch nicht gelernt, wie der Mensch sich einem Tabu höherer Mächte gegenüber zu verhalten hat, als der redende Turm sie vor ihrem Erbübel nachdrücklich 16 17
Anders Junghanns 143 — 145, der auf das Jammer-Motiv hinweist. Labhardt 209, 224.
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warnt (VI 19, 7); denn sie öffnet, ,temeraria curiositate' (VI 20, 5), die verbotene Büchse172 dennoch und muß sich vom rettenden Cupido nun sagen lassen, wieder wäre sie infolge ihrer Neugier beinahe verloren gewesen (VI 21, 4). Eine solche Motivhäufung kann nicht unbeabsichtigt sein. In jedem der angeführten Fälle wird ein Verbot übertreten und der Zorn höherer Mächte herausgefordert; curiositas wirkt wie die säkularisierte der klassischen Zeit. Nach der Bekehrung und Erlösung von allen abenteuerlichen Umtrieben in Eselsgestalt hält der Isis-Priester dem Neophyten Lucius eine Predigt und deutet ihm sein früheres Dasein klipp und klar (XI, 15, 1): Das „sinistrum praemium" seines Schicksals habe er für seine ,curiositas inprospera* erhalten. So war auch Lucius' Erbübel, von dem er nun geheilt ist, der menschliche Vorwitz, welcher sich den natürlichen Schranken der Sitte oder dem göttlichen Verbot nicht fügen wollte. Doch Apuleius ist ein zu gewitzter, vielleicht auch zu labiler Geist, als daß er die Ambivalenz der curiositas nicht bemerkte. Er nennt sie nicht nur ,sacrilega', ,temeraria', ,inprospera'; vielmehr spricht er ihr schon zu Beginn des Romanes, als Lucius zum ersten Male das Wort ergreift (I 2, 6), einen relativen Wert zu: die Tendenz zum Wissenwollen um jeden Preis. Lucius ist zwar „sititor alioquin curiositatis"; aber er bezeichnet sich selbst als „non quidem curiosum, sed qui velim scire cuncta vel certe plurima". Neugier enthüllt sich als Erfahrungsdurst, als Streben, wenn nicht alle, so doch wenigstens sehr viele Dinge zu wissen. Wie Fausts Famulus befleißigt sich Lucius „mit Eifer ... der Studien" — welcher Art diese sind, werden wir bald hören —, wenn-|gleich der moderne Pedant, weniger bescheiden als der klassische Abenteurer, den einschränkenden Akzent gerade in umgekehrter Weise setzt (600 f.): „Zwar weiß ich viel, doch möcht' ich alles wissen." Diese Haltung gegenüber dem Unbekannten wirkt so kindisch wie überheblich, und ihr Ergebnis ist in beiden Fällen eine Monstrosität: das Eselsdasein und die Homunculus-Produktion. Noch an einer zweiten, stark emotionsgeladenen Stelle des Romanes schreibt Apuleius der curiositas einen bestimmten Wert zu. Es ist zu der Zeit, da Lucius sich als Mülleresel im tiefsten Elend befindet und von wahrhaft Brueghelschen Jammerfiguren umgeben ist (IX 11 — 13). Wiederum verführt ihn seine ,familiaris curiositas', selbst dieses Höllenbild „cum delectatione quadam" zu betrachten. „Du boni, quales illic homunculi": Abgemagert, verprügelt, in Fetzen, wie Vieh gebrandmarkt, die 171
Walter Marg, dem ich wertvolle Hinweise zu danken habe, erinnert an den PandoraMythos in Hesiods Werken und Tagen, 59—105.
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Füße angekettet, halberblindet vom Mehlstaub vollbringen die Sklaven ihr entsetzliches Tagewerk. Noch schlimmer ergeht es Lucius' tierischen Leidensgefährten. Sie sind für die menschlichen Ausbeuter nichts anderes als „Schindkracken", von Eiter und Schwären übersät, die man nur darum füttert, daß sie weiterhin am Mühlrad fronen18. Doch selbst in diesem Inferno weiß Lucius einen Trost: „nee ullum uspiam cruciabilis vitae solacium aderat, nisi quod ingenita mihi curiositate recreabar ... nee immerito priscae poeticae divinus auctor apud Graios summae prudentiae virum monstrare cupiens multarum civitatium obitu et variorum populorum cognitu summas adeptum virtutes cecinit. nam et ipse gratas gratias asino meo memini, quod me suo celatum tegmine variisque fortunis exercitatum, etsi minus prudentem, multiscium reddidit." Die curiositas entschädigt ihr Opfer also durch zweierlei Genuß: Als typischer Manierist empfindet Lucius „ein gewisses Vergnügen" ästhetischer Art bei der Betrachtung des pittoresken Elends; als geborener Abenteurer weiß er sich nach all seinen Umtrieben zwar nicht klüger, doch im Besitz eines reichen Erfahrungswissens. Solches kann aber nur der Fahrende — Odysseus wie Lucius | — erwerben, nicht der Häusliche, der sich's in seinen vier Wänden wohl sein läßt und die Gefahren scheut. Es war in der Tat ein glücklicher Gedanke19, von diesem Aspekt her die Verbindung zu ziehen zu jenen „Confessiones des metamorphosenfreudigen Hochstaplers Felix Krull, der sich durch seine ,Verwandlung' in einen Marquis die weitesten Möglichkeiten sichert, seine ,Neubegierde' im Sinne seines literarischen Erzeugers zu befriedigen". Indessen drängt sich nun auch die Beziehung zu einer anderen Gestalt der deutschen Dichtung auf, welche Thomas Mann ebenfalls zu literarischer Beschwörung bewogen hat. Die Verbindung, die zwischen der apuleischen curiositas und dem ,Fürwitz' des D. Faustus der Volkssage besteht, scheint der Aufmerksamkeit der Faust-Forscher bisher entgangen zu sein20. Dies ist um so merk-|würdiger, als Hans Joachim Mette an anderer 18
19 20
Zu den Folgen, die sich aus diesen antisozialen und antihumanitären Zuständen für die Sehnsucht nach der religiösen Erlösung ergeben, vgl. Rüdiger 545 f. Von der Interpretation dieser Stelle als Lebensangst der Kreatur, welche der Erlösungssehnsucht zugrunde liegt, möchte ich trotz Burck 287 nicht abgehen. Mette 227f., 235. Doch haben mehrere literarisch empfindliche Leser der Metamorphosen den Zusammenhang bereits geahnt, so Goffredo Coppola, I^etteratura latino, Bol. 1941, 318, der Apuleius einen Don Giovanni und D. Faustus des Zeitalters der Antonine nennt (der „fromme Antonius" in Kodes „Ankündigung", den Burck 299 übernimmt, ist ein Druckfehler für den frommen Antoninus, d. h. Antoninus Pius; bei Rüdiger 6 bereits
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Stelle21 bereits auf die antike Quelle des Ascensus- und des DescensusMotives im Volksbuch und im Doktor Faustus von Thomas Mann hingewiesen hatte. Sie ist im ursprünglich hellenistischen, dann ins Lateinische übersetzten und in mehreren nationalsprachlichen Fassungen verbreiteten mittelalterlichen Alexander-Roman zu suchen. „Hat dieser AlexanderRoman doch in Form und Inhalt auf die Entstehung des deutschen Volksbuches von D. Faustus stark eingewirkt, ist D. Faustus in vielfacher Hinsicht doch geradezu der neue, der deutsche Alexander." Die Beziehung liegt hier in der Maßlosigkeit des Wollens und Vollbringens. Bei Lucius und D. Faustus liegt sie im vorwitzigen Gebrauch der Magie. Der Nachweis dieser Verbindung braucht sich nicht allein auf die verwandte — sagen wir im Falle des Lucius und des Felix Krull: picareske — Stimmung zu stützen, sondern kann auf bestimmte, wenngleich nur in großen Zügen identifizierbare historische Zwischenglieder hinweisen.
21
verbessert); ferner Lesky 74, der vom Eingang des Lucius in den Mysterienfrieden nach dem Urteil der Menge sagt: „... einer, der sich immer strebend bemühte, wurde da erlöst". Vor allem trifft Labhardt 220, Anm. 37, genau das Richtige, wenn er Thomas Manns Doktor Faustus, Stockh. 1947, 24, zur Erläuterung von Augustinus, Conf. X 55 (s. o. im Text), heranzieht: „Übrigens will ich hinzufügen, daß ich dieses Mißtrauen einer religiös-spiritualistischen Epoche gegen die aufkommende Leidenschaft, die Geheimnisse der Natur zu erforschen, immer vollkommen verstanden habe ... Die Natur selbst ist zu voll von vexatorisch ins Zauberische spielenden Hervorbringungen ..., daß nicht die züchtig sich beschränkende Frömmigkeit eine gewagte Überschreitung darin hätte sehen sollen, sich mit ihr abzugeben." — Riefstahl 114, 117 hat Richtiges im Sinne, wenn er auf Faust verweist; aber Photis kann man nun wirklich nicht mit Gretchen „vergleichen". In meinem Nachwort 532 f. hatte ich geschrieben: „Der Held des Apuleius hat ein ähnliches inneres Verhältnis zur Magie wie jene sagenhaften Gestalten der späten Antike und des Mittelalters, in denen die geistigen Ahnen des deutschen und des englischen Faust zu suchen sind: der Erzketzer Simon Magus ...; der seltsame Heilige Cyprianus von Antiochien ... Sie alle suchen Genuß, Macht, irdische Güter oder höheres Wissen durch den Kurzschluß der Magie zu gewinnen; sie alle sind von Neugier, Wißbegier oder Habsucht besessen und von Spuk und Grauen umwittert." Dagegen Burck 286: „Wer sich jedoch unvoreingenommen und nüchtern die Gestalt unseres Lucius ansieht, wird an ihm weder Machtbegier noch übersteigerte Genußsucht feststellen können, noch ihn gar von Spuk und Grauen umwittert sehen." Nun, Machtbegier oder Genußsucht hatte ich Lucius auch gar nicht zugeschrieben, wohl aber Gestalten wie Simon Magus oder Cyprianus von Antiochien; ihre Beziehung zur Faust-Gestalt ist seit L. Radermachers Griechischen Quellen %ur Faustsage, Wien-Lpg. 1927 (Wiener Sitzungsberichte, Philos.-hist. Klasse, CCVI 4) niemandem ein Geheimnis. Und was Spuk und Grauen betrifft, so genügt dem Empfänglichen die Lektüre der drei ersten Bücher bis zur Verwandlung, um diese Stimmung zu empfinden. Im übrigen habe ich bei Burck vergebens nach den bibliographischen Angaben meines Nachwortes gesucht, auch anläßlich der Benutzung meiner Erläuterungen. Doktor Faustus und Alexander, in: DVjs XXV (1951), 27-39, bes. 29, 38.
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Lucius' (und Psyches) Neugier richtet sich nicht ausschließlich auf tröstliche ästhetische „Delegationen" noch auf „den Besuch vieler Städte und die Bekanntschaft mit mancherlei Völkern" als ergötzliche Unterhaltung; die Helden des Apuleius sind weder bloße „Landstörzer" noch gar vergnügungssüchtige Touristen. Ihre Neugier hat vielmehr die fatale Tendenz zum Verbotenen, zu allem, was dem Menschen nach unbegreiflichem Ratschluß zu wissen verwehrt ist. Insbesondere das religiöse Tabu übt auf Naturen wie Lucius einen unwiderstehlichen Reiz aus, der sich im Psyche-Mythos zur vorwitzigen Verletzung des Numinosen steigert. Der nächste Schritt, den freilich erst die Renaissance klar vollzogen hat, besteht dann in der b e w u ß t e n Schändung des Heiligen, die | während des 18. und 19. Jahrhunderts in England und Frankreich wahrhaft infernalische literarische Blüten getrieben hat22. Die Abenteuer des Lucius beginnen in Thessalien, wo man nach alter Überlieferung den verbotenen Geheimnissen näher kommen kann als andernorts. Hier bedrängt der Held die Dienstmagd Photis (III 19, 3 f.), ihm zu erfüllen, was er sich „summis votis" wünscht: ihn zuschauen zu lassen — wiederum ist das Gesicht der verführende Sinn —, wenn ihre zauberkundige Herrin die „divina disciplina" ausübt: „sum namque coram magiae noscendae ardentissimus cupitor." Die „divina disciplina" meint die Zauberei; sie ist, wie wir aus der Apostelgeschichte wissen, die „vorwitzige Kunst" schlechthin. Auch bei Apuleius ist der Zusammenhang zwischen curiositas und magia ganz deutlich ausgesprochen, wie übrigens schon II 6, l f. Er selbst war ja in dieser heiklen Kunst kein unbeschriebenes Blatt. Mag man die Beschuldigungen in dem Hexenprozeß, den neidische Verwandte ihm anhängten, für Rückständigkeiten der afrikanischen Provinz halten23 — fest steht für den unbefangenen Leser seiner glänzenden Verteidigungsschrift, daß er über recht beachtliche Kenntnisse der magischen Praktiken verfügte. Freilich, „il repose sur des bagatelles". Aber 22
23
Ich denke zunächst an Boccaccios Ninfale fiesolano mit der Schändung einer Nymphe Dianas; hinter der klassizistischen Maskerade verbirgt sich möglicherweise ein aktuelles Ereignis der Zeit: die Schändung einer Nonne. Auch einige Untaten, die dem D. Faustus des deutschen Volksbuches zugeschrieben werden — Totenbeschwörung, Teufelspakt —, liegen in dieser Richtung. Für die spätere Entwicklung vgl. Mario Praz, La came, la morte e il diavolo nella letteratura romantic, Fir. s. a. Zusammenfassung der Anklagen am Schluß von Pro se de magia liber, in: Apulee, Apologie etc. (Henri Clouard), Paris s. a., 186; dazu Introduction p. VI —VIII. — Junghanns 140 f. weist auf die Tatsache hin, daß die Magie nur am Anfang des Romanes eine wichtige Rolle spielt, später aber lediglich zur literarischen Motivation dient — was natürlich keinen magiegläubigen Leser gehindert hat, Apuleius trotzdem für einen Zauberer zu halten.
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gerade darin besteht ja die Kunst seiner Verteidigung, daß er auf die schwerwiegenden Anklagepunkte gar nicht ernstlich eingeht, sondern sie durch blendende Ironie und verwirrende Advokatenkunststücke entkräftet. Ob er im Sinne der Anklage schuldig war oder nicht, läßt sich auf Grund einer solchen Verteidigungsrede jedenfalls kaum entscheiden; sicher ist nur, daß sein Plädoyer auch im Hinblick auf die Magie eine „habilite inquietante" zeigt. So wenn er mit dem | Taschenspielertrick arbeitet (44 Clouard), er wolle „quaerere ab eruditissimis ... advocatis quid sit magus", und darauf mit der rhetorischen Frage antwortet: „nam si ... Persarum lingua magus est qui nostra sacerdos, quod tandem est crimen sacerdotem esse?" Diesen (etymologisch richtigen) Sophismus erweitert er dann durch die Identifizierung von „magus" und „philosophus" (48 ebd.) und stellt Gottesleugnern wie Anaxagoras, Leukippos, Epikuros, „qui corporum causas meras et simplices rimantur", jene Gottesverehrer gegenüber, „qui providentiam mundi curiosius vestigant et impensius deos celebrant", das heißt Gestalten wie Epimenides, Orpheus, Pythagoras, den Magier Ostanes usw. „Gratulor igitur mihi quum et ego tot ac tantis viris adnumeror." Mit anderen Worten: Magie, in Wahrheit der Versuch, den Weg zum Besitz der Naturgeheimnisse mit moralisch zweifelhaften Mitteln abzukürzen, ist für Apuleius nichts anderes als wißbegieriges Forschen nach den göttlichen Fügungen im Weltlauf, und Forschen wiederum ist Philosophie und Gottesdienst; also ist es keine Schande, sondern eine Ehre, unter die ,Magier' gezählt zu werden. Hier geht Apuleius erheblich weiter als der Held seines Romanes. Die curiositas wird zum Vehikel des philosophischen und des naturwissenschaftlichen Erkenntnisdranges, ja des menschlichen Fortschrittes überhaupt. Sie erscheint frei von jedem irgendwie bedenklichen Beigeschmack, wie auch die Gegenüberstellung der Verben ,rimari' auf der einen Seite und ,vestigare', ,celebrare' auf der anderen Seite zeigt; sie stellt sogar einen originalen Wert dar. Und wiederum hängt sie aufs innigste mit der Magie zusammen. Diese nimmt nun ebenfalls an der moralischen Aufwertung der curiositas teil — und wäre es lediglich infolge der mißlichen Lage, die den angeklagten Adepten zu sophistischer Selbstverteidigung zwang. Wir haben einem bedenklichen Vorgang beigewohnt: der Umwertung eines relativen Unwertes in einen Wert. Der Magier, der dieses Kunststück fertiggebracht hatte, wurde von der Anklage freigesprochen. Doch blieb ihm über den Tod hinaus die Nachrede, er sei ein mächtiger Zauberkünstler und Wundermann gewesen, die er mit dem berühmten und berüchtigten Apollonius von Tyana, mit Vergil oder mit dem Simon Magus der
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Apostelgeschichte (8, 9 — 24) und noch mehr mit dem Simon der PetrusAkten und Pseu-|doklementinen teilte24. Gewiß trug auch der Romanheld Lucius nicht wenig dazu bei, seines Autors schlimmen Ruf für lange Zeit zu festigen. So verzeichnet noch der Sponheimer Abt Johann Trithemius, eine jener halblegendären Gestalten, deren Wirken sich in der Faust-Sage niedergeschlagen hat, unter den Verfassern von Zauberbüchern, die zu seiner Zeit (Wende des 15. und 16. Jahrhunderts) im Umlauf waren, auch den ,Philosophen' Apuleius25. Nachdem aber der historische Apuleius mit der Aufwertung der Neugier zur Wißbegier und der Wißbegier zum philosophischen Erkenntnisdrang ein altes aristotelisches Thema in origineller Weise aufgenommen hatte, konnte nun auch dieser Drang bei religiös hellhörigen Geistern in den Verdacht geraten, er werde zum Bösen führen. Als Ausgangspunkt seiner Untersuchung über das Verhältnis des frühen Christentums zur curiositas verweist Labhardt auf ein erleuchtetes Wort Montaignes26: „Les chrestiens ont une particuliere cognoissance combien la curiosite est un mal naturel et originel en l'homme. Le soing de s'augmenter en sagesse et en science, ce fut la premiere ruine du genre humain: c'est la voye par il s'est precipite a la damnation eternelle." An die Erbsünde denkt auch Fontäne, wenn er in UAdultera (Kap. 19) eine Tochter Evas sagen läßt: „Und darin treffen es die Bibelleute, wenn sie so vieles auf unsere Neugier schieben." Es ist eben jene „sacrilega curiositas", die vom Baume der Erkenntnis essen und damit gottähnlich werden möchte27. Die zentrale Bedeutung der Erbsünde in der christlichen Lehre läßt es selbstverständlich erscheinen, daß sich die Aufmerksamkeit der Kirchenväter und -lehrer auch auf die Ursache der Erbsünde, eben die curiositas, richtete. Als erster stellte Tertullian curiositas und fides mit „antiphilosophischem Radikalismus" einander gegenüber. Ohne Zweifel kannte der | Zeitgenosse der letzten Lebensjahre des Apuleius die Schriften seines afrikanischen Landsmannes. Dies allein könnte erklären, weshalb er neben der heidnischen Philosophie und Literatur auch die Geheimwissenschaften — Astrologie, Wahrsagerei und vor allem Magie — 24
25 26
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Vgl. Domenico Comparetti, Virgtlio nel media evo IP-, Fit. 1896. Die Apokryphen jetzt leicht zugänglich in der kommentierten Übersetzung von Wilhelm Michaelis, Bremen 19582, 323-333, 338-364. Peuckert 55; über Trithemius bes. 70 ff. AaO. 216 = Essais II 12, p. 227 Villey. Vgl. auch den Hinweis Pascals auf den Zusammenhang von Neugier und eitlem Geschwätz, ebd. 215 = Pensees II 76 Brunschvieg. Auch diesen Zusammenhang hat Junghanns 161, Anm. 68, richtig gesehen und zugleich Helms Versuch einer Verbürgerlichung und Verharmlosung der Apuleius-Stelle (V 6, 6) entschieden zurückgewiesen.
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mit Eifer bekämpfte28. „Elles sont une autre forme de curiosite defendue, qui detourne les hommes de Dieu vers les astres, anges dechus chasses du ciel (Idol. 9, l sqq.), ou vers des pratiques criminelles. Chez Apulee, la curiosite avait conduit Lucius dans les filets de la magie et peut voir dans l'emploi reitere que Tertullien fait du terme curiositas pour qualifier le goüt de l'occultisme (Cult. fern, l, 2, 1: philtres, incantations, astrologie) une influence des Metamorphoses" Hinzu kommt natürlich der Einfluß durch die oben angeführte Stelle der Apostelgeschichte. Ähnlich verhält es sich bei dem anderen großen Afrikaner unter den Kirchenvätern, Augustinus, der die philosophischen Schriften des Apuleius vielleicht schon in der Schule zu Madaura gelesen und seinem Landsmann bestimmt viel für seine Platon-Kenntnisse zu danken hatte29. Neben die superbia und die concupiscentia stellt er als dritte Kapitalbegierde die curiositas. An einer eindrucksvollen Stelle der Confessiones (II 13) prangert er die „Affektation" an, mit der sich die curiositas zum Wissensdrang erhebt: „Et curiositas affectare videtur Studium scientiae, cum tu [deus] omnia summe noveris." Wenn aber wahres Wissen allein bei Gott ist, so muß menschlicher Wissensdrang folgerichtig in den Verdacht der Sündhaftigkeit geraten. Dem entspricht es, wenn curiositas „experiendi noscendique libido" genannt wird (X 55). Diese Lust möchte — wiederum echt apuleisch — zunächst mit Hilfe des Gesichtssinnes ihre Erfahrungen machen. Aber sie begnügt sich nicht mit sündiger Augenweide. „Hinc ad perscrutanda naturae, quae praeter nos est, operta proceditur, quae scire nihil prodest et nihil aliud quam scire homines cupiunt. Hinc etiam, si quid eodem perversae scientiae fine per artes magicas quaeritur. Hinc etiam in ipsa religione deus | temptatur ..." Curiositas führt zur Begier, das Naturgeheimnis zu entschleiern; sie scheut nicht das unlautere Mittel der Magie; sie endet mit der Versuchung Gottes. Die Stufen des faustischen Abfalls scheinen bei Augustinus bereits vorgezeichnet. Die Warnung vor der Gefahr, welche dem Menschen durch sein neugieriges Auge droht, erhält sich in der theologischen Literatur bis ins hohe Mittelalter. Im Tractatus de gradibus humilitatis et superbiae widmet Bernhard von Clairvaux der curiositas den weitaus umfangreichsten Abschnitt von
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Labhardt 216 ff., bes. 219, mit zahlreichen Belegen; Mette 234. Für die Hermetiker vgl. ebd. 232 f. Conf. II 5, dazu Anm. zu der zweisprachigen Ausgabe von Joseph Bernhart, Mch. I9602, 853. Vgl. ferner De civ. Dei IV 2; VIII 14ff., bes. 19 ff. über De magia liber; IX 3 u. ö. Dazu die Ausführungen über curiositas und Magie, auch nach Thomas von Aquino, bei Josef Pieper, Zucht und Maß ..., Lpg. 1939, 99-104.
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allen Stufen der Hoffart30. Er faßt seine Spekulationen so zusammen: „... quod per curiositatem a veritate ceciderit, quia prius spectavit curiose, quod affectavit illicite, speravit praesumptuose, jure igitur in gradibus superbiae primum curiositas vindicat sibi, quae etiam inventa est initium omnis peccati." Die eigentliche Gefahr liegt für Bernhard in der superbia, weil sie den Menschen dazu verleiten kann, sich für gottähnlich zu halten. Anders ausgedrückt: die Gefahr besteht im Wahn von der „scientia boni et mali" (Sp. 958 nach 1. Mos. 2, 17). Es bedarf der menschlichen Demut, um den Trug der Schlangenverheißung „Eritis sicut Deus scientes bonum et malum" (1. Mos. 3, 5 = Faust 2048) zu durchschauen. Der Schüler wird ihrer als Baccalaureus genau so wenig fähig sein — „Bin verwegen, wie nicht einer" (6699)31 —, wie es der Meister einst gewesen ist. Eben darum, christlich gesprochen: aus hoffärtiger Wißbegier hatte sich Faust ja der Magie ergeben, ob ihm „durch Geistes Kraft und Mund nicht manch Geheimnis würde kund" (378 f.). Auch dieser Weg des moralischen Kurzschlusses, freilich ohne die Beigabe der Hoffart, war im Roman des Apuleius bereits | vorgezeichnet, wenngleich Lucius auf die Magie als solche neugierig ist, während Faust das Weltgeheimnis mit Hilfe der Magie entschleiern möchte. Die Metamorphosen und die Verteidigungsrede wurden durch Boccaccio der Vergessenheit entrissen bzw. aus den Handschriftenschätzen von Monte Cassino entführt. Damit traten sie in den Gesichtskreis der Humanisten. 1469 erfolgte die Editio princeps. Um dieselbe Zeit erschloß Marsilio Ficino die Schriften Platons und das Corpus Hermeticum durch seine Übersetzung ins Lateinische für die magiefreundlichen Unterströmungen der Renaissance. Den wichtigsten Schritt vollzog Pico della Mirandola. Er unterscheidet zwischen einer „magia necessaria", mit deren Hilfe der Arzt Heilerfolge zu erzielen vermag, und einer „magia curiosa", welche die „natürlich-magischen Wirkungen nur zu unnötigen oder gar 30
31
Migne, Patr. Lat. CLXXX1I (1862), 957-963, bes. 963. Den Hinweis verdanke ich Walter Johannes Schröder; vgl. seine Ausführungen in: Der Ritter ^wischen Gott und Welt, Weimar 1952, 206 (mit Lit.angaben 204, Anm. 1), wo der Nachweis erbracht wird, daß „die bernhardischen Distinktionen überraschend gut die Stufen der inneren Erniedrigung Parzivals treffen; mit harmloser Verfehlung beginnt es, in der luziferischen Empörung endet es." Nur glaube ich nicht, daß Bernhard selbst die curiositas für harmlos gehalten hätte. Parzival unternimmt seine Weltfahrt zwar „nur" aus Neugier; doch ist die Neugier aller weiteren Verwicklung Anfang und erweist eben dadurch ihren gefährlichen Charakter. Auch Erich Trunz in Hbg. Ausg. IIP (1957), 550 f., stellt fest, der Baccalaureus merke nicht, wie sehr Mephistos „Eritis sicut Deus" gerade jetzt auf ihn zutreffe.
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schädlichen Zwecken benutzt"32. Das bedeutet nichts anderes als eine Ehrenrettung der Magie vermittels der apuleischen Unterscheidung von philosophischem Erkenntnisdrang — ,magus' = ,sacerdos' = ,philosophus' — und nichtsnutzigem Vorwitz. Pico macht die Verdächtigung der Magie durch die christliche Theologie zum Teil rückgängig, indem er an den Hermetismus, die Kabbala und die magischen Bestandteile des Neuplatonismus anknüpft und sie in den christlichen Heilsweg einbezieht. Er versucht nicht nur, die Kreuzeslehre mit der Ideenlehre, den Glauben mit der Ratio, das Göttliche mit dem Menschen zu versöhnen, sondern darüber hinaus die Magie mit der Religion und der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Kein Wunder, daß ihn der theologisch gut geschulte Verfasser des Volksbuches vom D. Faustus zu den Zauberern zählt, welche „der Teuffei lebendig hinweg in die Lufft geführet" hat33. Wie gefährlich nahe „magia | necessaria" und „magia curiosa" einander standen, wie schwer es der Zeit fiel, Arznei und Gift zu unterscheiden (und zwar nicht nur in der Theologie, auf die sich Mephistos Wort bezieht — 1986 f. —, sondern erst recht in der Medizin), das zeigt noch Goethes Szene der Begegnung Fausts mit den Bauern am Ostertage. Sie ist wohl durch Pfitzers Faust-Buch von 1674 inspiriert34; doch stand bereits im Volksbuch von 1587 zu lesen35: Faustus ward „ein Artzt, halff erstlich 32
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Peuckert 38 f. nach Erwin Panofsky-Fritz Saxl, Dürers Melancolia I, 1923, 40 ff. Zur Beurteilung dieser Phänomene durch die moderne Medizin und Seelsorge vgl. den Tagungsbericht Magie und Wunder in der Heilkunde, hg. v. Wilhelm Bitter, Stuttg. 1959, bes. 29 ff., 133 ff., 167 ff. Das Volksbuch vom Doctor Faust2, hg. v. Robert Petsch, Halle 1911 (Neudr. dt. Litt.werke 7 — 8 b), 8 f. — Eine unerschöpfliche Fundgrube für die Zusammenhänge mit der Magie bilden noch immer die Faustsplitter in der Literatur des 16. bis 18. Jh.s ..., hg. v. Alexander Tille, Weimar 1898, sowie Carl Kiesewetter, Faust in der Geschichte und Tradition I, Bln. 1921 (Geheime Wiss. XXIII), bes. die Geschichte des Glaubens an die Pakte mit dem Teufel, 112 ff. Anmerkung für unentwegte Parallelen Jäger: Neben den Grimmschen Märchen „Des Teufels rußiger Bruder" und „Der Teufel Grünrock" gibt es eine der Faust-Forschung bisher entgangene, teils amüsante, teils unappetitliche Variante in dem Bologneser Märchen „La fola di braghein del diavel", das Italo Calvino leicht verändert in der Hochsprache nacherzählt hat: Fiabe italiane, Tor. 1956, 230 — 236, dazu 993. Calvino merkt an, er habe in Italien nur zwei weitere Varianten des Märchens vom Teufelspakt gefunden, in Trient und in Sizilien. Der bemerkenswerteste Zug in dem Bologneser Märchen scheint mir die finanzielle Unterstützung, welche der König, dem die Mittel zum Kriegführen ausgegangen sind, vom Helden (und damit indirekt vom Teufel) empfängt. Freilich sind diese 50 Millionen in Gold wertbeständiger als Mephistos Assignaten. Erich Schmidt in: Goethes Sämtliche Werke, Jub.-Ausg. XIII 285. Volksbuch 13 f.
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vielen Leuten mit der Artzeney...", praktizierte aber bald darauf „etliche zauberische vocabula, figuras, characteres vnd coniurationes, damit er den Teufel vor sich möchte fordern". Man kann eben „über die Natur und ihre heil'gen Kreise in Redlichkeit" sinnen und doch zugleich ein „dunkler Ehrenmann" sein; man kann auch hier Gift als Arznei ausgeben und trotz lauterem Bemühen zum „frechen Mörder" werden (1034—1037, 1048—1055)36. In jeder Gestalt erweist die Magie ihre Ambivalenz. Das Curiositas-'M.ouv und die vorwitzig praktizierte Magie sind wahrscheinlich nicht unmittelbar aus Apuleius' Schriften, sondern über die Werke der Hermetiker, der Kirchenväter oder auch späterer mittelalterlicher Theologen in jenen fruchtbaren Boden eingedrungen, aus dem die warnenden Magierexempla der Zeit und der Vergangenheit schließlich zur Faust-Gestalt zusammenschössen. Einige von diesen Magier-Philosophen sind der Forschung seit langem bekannt. Zu ihnen gehören zunächst die Zeitgenossen des historischen Faust in seiner deutschen Heimat, vor allem | Trithemius, sein Schüler Agrippa von Nettesheim sowie Paracelsus; auch Pico della Mirandola als Verteidiger der ,Magie' wird man zu ihnen zählen dürfen. Hinzu kommen die literarischen Archetypen der Antike und des Mittelalters; neben dem Alexander der hellenistischen Sage und dem biblischen oder apokryphen Simon Magus sind es vor allem Cyprianus, Theophilus, Anthemius und einige andere37. Im Hinblick auf die Zusammenhänge von curiositas und Magie scheint mir aber kein Zweifel mehr möglich, daß nun auch Lucius und sein geistiger Vater Apuleius unter die literarischen Archetypen der Faust-Gestalt einzureihen sind. Dies nicht etwa um einiger zufälliger Ähnlichkeiten willen, auf die ich nur hingewiesen habe, um das verwandte geistige Klima zu verdeutlichen, welches die Voraussetzung bildet, damit curiositas zur Magie führen könne; vielmehr wegen jener gefährlichen Ambivalenz der curiositas, die sich in den Schriften des Apuleius, im Volksbuch, in Goethes Tragödie und noch in Thomas Manns Roman als zentrales moralisches Problem stellt. Aus dieser Doppelnatur ergibt sich eine doppelte Frage: Inwieweit ist curiositas nur harmlose ,Neubegierde' mit amüsanten picaresken Zügen, im Grunde also nicht viel mehr als die unschuldige Lust, ein bißchen Lebenserfahrung zu sammeln — so etwa, wie sich's Mephisto nach Abschluß des Paktes 36 37
Der letzte Satz wahrscheinlich nach Paracelsus: Schmidt 286. Vgl. Robert Petsch, Magussage und Faustdichtung, in: Gehalt und Form, Dortm. 1925, 225 — 259, bes. 232ff., sowie die folgenden Aufsätze; ferner Radermacher aaü.; Philip Mason Palmer — Robert Pattison More, The Sources of the ]*aust Tradition from Simon Magus to Lessing, New York 1936, 7 — 77; Vincenzo Errante, // mito di Faust I: Dal personaggio storico alia tragedia di Goethe1, Fir. 1951.
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zunächst zu denken scheint, als er Faust vorschlägt, „die kleine, dann die große Welt" durchzuschmarutzen (2052—2054)? Und wo liegt dann die Grenze, da sie umschlägt in die unheimliche Begierde, die Natur und die Reiche dieser Welt den eigenen Gelüsten Untertan zu machen, selbst unter Einsatz der verwerflichsten Mittel? Auch hier führt kein weiter Weg vom Drang, dem Geisterreich seine Geheimnisse durch Magie zu entreißen, zur luziferischen Empörung. Kaum hat Faust sich vermessen, in das Naturgeheimnis beschwörend einzudringen, da gesellt sich ihm Mephisto zu, verhöhnt mit der Trotzgebärde des gefallenen Engels die Schöpfung und provoziert Fausts eigenen Fluch auf die christlichen Tugenden Hoffnung, Glauben, Geduld (l 605 f.). |Offensichtlich waren sich die Theologen wohl bewußt, weshalb gegen jede Art von curiositas, selbst gegen die anscheinend harmloseste, das tiefste Mißtrauen am Platze sei. Der Verfasser des Volksbuches steht noch ganz in dieser theologischen Tradition. Wie der Titel sagt, ist sein Werk „allen hochtragenden, fürwitzigen vnd Gottlosen Menschen zum schrecklichen Beyspiel, abscheuwlichen Exempel, vnd treuwhertziger Warnung zusammen gezogen". Auch in der deutschen Fassung klingt Augustinus' „Begierdentriade" noch durch (superbia, curiositas, concupiscentia), nur daß die letzte Begierde jetzt durch die impietas ersetzt ist. Und ähnlich wie im Roman des Apuleius durchzieht die Warnung vor dem ,Fürwitz' leitmotivartig die deutsche Historia — nur trockener, aufdringlicher, engherziger moralisierend als im unterhaltsamen Abenteurerroman. Wir greifen nur einige bezeichnende Beispiele am Anfang und am Schluß heraus38. In der Widmung heißt es, die Geschichte sei zum Exempel dafür aufgezeichnet worden, „wohin die Sicherheit, Vermessenheit vnnd fürwitz letzlich einen Menschen treibe". Die Vorrede prangert „Zauberey vnd Schwartzkünstlerey" als „die gröste vnnd schwereste Sünde für Gott vnd für aller Welt" an und warnt wiederum vor Hoffart und Fürwitz. Die magischen Beschwörungsformeln seien absichtlich nicht mitgeteilt worden, „damit auch niemandt durch diese Historien zu Fürwitz vnd Nachfolge möcht gereitzt werden". An der berühmtesten Stelle des Buches, zu Beginn des 2. Kapitels, stehen Fürwitz und Magie in unmittelbarem Zusammenhang: „Wie obgemeldt worden, stunde D. Fausti Datum dahin, das zulieben, das nicht zu lieben war, dem trachtet er Tag vnd Nacht nach, name an sich Adlers Flügel, wolte alle Grund am Himmel vnd Erden erforschen, dann sein Fürwitz, Freyheit vnd Leichtfertigkeit stäche vnnd reitzte jhn also, daß er ... etliche zauberische vocabula ... zu probiern jm fürname." Gewiß meint 38
Volksbuch 4, 6-8, 10, 13f., 120, 122.
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dieser Satz noch keinen „Forschertitanismus" im modernen Sinne39; seine geistigen Wurzeln liegen eindeutig in der christlich-neuplatonischen Vergangenheit. Doch als Exemplum für die Folgen des Fürwitzes ist er gegen die magisch-naturphilosophische Hoffart des Erkenntnisdranges überhaupt gerichtet. Nach Fausti | Abschiedsrede vor den Studenten wundern sich diese aufs höchste über die Verwegenheit, mit der er „sich nur vmb Schelmerey, Fürwitz vnnd Zauberey willen in eine solche Gefahr an Leib vnnd Seel begeben hette". Als moralische Summe nach seinem schrecklichen Ende aber wird dem christlichen Leser nochmals dringend ans Herz gelegt, er solle daraus lernen, Gott zu fürchten, „sonderlich aber die eines hoffertigen, stoltzen, fürwitzigen vnd trotzigen Sinnes vnnd Kopffs sind". Die Faust-Historia ist ein moralisches Exemplum zur Warnung vor den Sünden der superbia und der curiositas, welche Gott und der Natur ihre Geheimnisse mit Hilfe unrechter Mittel entreißen möchten. Goethes Faust steht nur mehr bedingt in dieser Tradition. Zwar ist sein Streben „übereilt" (1858) und kommt darin dem Vorwitz nahe; doch es wird zugleich der moralischen Grobschlächtigkeit enthoben, wird differenziert und veredelt. Voraussetzung dafür ist die Erkenntnis von der Ambivalenz der curiositas und der Magie. Soweit diese Kräfte schädlich wirken, bleibt Faust am Ende nichts als der Wunsch (11404-11407)40: Könnt' ich Magie von meinem Pfad entfernen, Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen, Stund' ich, Natur, vor dir ein Mann allein, Da war's der Mühe wert, ein Mensch zu sein. Doch es gelingt Faust nicht, sich aus der Verstrickung zu lösen; bis zum letzten Augenblick benötigt er dämonische Hilfe, um seine Visionen zu verwirklichen: „Bezahle, locke, presse bei!" (11554). Soweit jene Kräfte aber zum Guten wirken, stehen sie auch dem Irrenden stets hilfreich zur Seite, sei es als strebendes Bemühen um Erkenntnis, sei es in Gestalt der ,magisch'-geheimnisvollen „Liebe von oben" (11938 f.), die in der Sprache Augustinus' oder Luthers Gnade heißt. Goethes Faust erfährt die Magie wie der Platoniker Pico della Mirandola. Auch liegt die geschichtliche Erfahrung der Humanitätsidee hinter ihm.
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40
So richtig Anton Kippenberg, Die Faustsage und ihr Übergang in die Dichtung, in: Jb. der Samml. Kippenberg VI (1926), 247. Verfehlt von Petsch 258. Wie einige Interpreten bei der Behandlung von 11 579 —11 582 die Wunschform übersehen, welche anzeigt, daß das Gewünschte noch nicht erreicht ist, so Petsch auch hier.
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Zuletzt bleibt uns zu fragen, ob Apuleius selbst auf Goethe Wirkung ausgeübt habe. Als dieser seine jugendlichen Studien | der ,Magie' betrieb — hier im Sinne der Erforschung des christlichen Glaubensgeheimnisses gemeint —, könnte er leicht auf Apuleius gestoßen sein. Der Art seiner damaligen Beschäftigung — er wurde gleichzeitig „Schüler in der Nachfolge Christi und Lehrling in der Magie"41 — lagen die Metamorphosen jedoch fern. Seit 1780 kannte er den Amor und Psyche-Mythos. Dorignys Stiche von Raffaels Fresken zierten seine Zimmer; mehrere Stellen seiner Werke spielen auf die Geschichte an, die er „äußerst hochschätzte"; eine geplante Bearbeitung unterblieb42. In seiner Bibliothek befand sich außerdem des Apuleius Verteidigungsrede in Casaubonus' Ausgabe von 1594 sowie eine Sammlung von Priapeen, darunter Stücke des Apuleius43. Am 6. April 1826 entlieh er Kodes Übersetzung des Goldenen Esels in 2. Auflage, Berlin 1790, aus der Weimarer Bibliothek; um den 15. August 1831 las er mit Sicherheit in dem Roman. Die lakonische Notiz „Verschiedenes concipirt" sagt freilich nichts Entscheidendes aus. Selbstverständlich könnte er auch in der Zeit zwischen April 1826 und August 1831 im Goldenen Esel gelesen haben. Es waren die Jahre der Konzeption — Dezember 1826 „Helenas Antezedenzien" als Entwurf — und der Ausführung — Januar bis Juni 1830 — des zweiten Aktes von Faust II. Die klassische Walpurgisnacht ist im Hinblick auf Zahl und Art der versammelten Geister wie auf theatralische Wirkung der »magischste' der gesamten Tragödie. Sie spielt in Thessalien. Als Quelle für die Thessalien-Stimmung, besonders für die Hexe Erichtho, diente Goethe vornehmlich Lucans Epos De bello civi/i, das er ebenfalls seit April 1826 vor sich hatte44. In der thessalischen Ebene begegnet dem lüsternen Mephisto eine Empuse (7732 — 7759). Nach Goethes Quellen, Hederichs Gründlichem Lexicon Mythologicum und Voß' Mythologischen Briefen, ist sie ein erotischer Dämon weiblichen Geschlechts mit einem Eselsfuß; sie besitzt die Fähigkeit, sich zu verwandeln. Der überlieferte Eselsfuß mag Goethe bewegen haben, die Empuse dem pferdefüßigen Mephisto gegenüberzustellen. Ihm zu Ehren setzt sie sich überdies einen Eselskopf auf — angeblich | eine Erfindung Goethes45 —, was Mephisto veranlaßt, sich 41
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Bruno Wachsmuth, Goethe und die Magie, in: Goethe NF VIII (1943), 98 ff., 215 ff., bes. 103. Vgl. Ernst Grumach, Goethe und die Antike 7, Bln. 1949, 397 f. Vgl. Hans Ruppert, Goethes Bibliothek, Weimar 1958, Nr. 1359, 1427. Jub.-Ausg. XIV, hg. v. Erich Schmidt, 335. Ebd. 347.
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von ihr abzuwenden. Nun werden ihm selbst die hübschen Lamien verdächtig: Und hinter solcher Wänglein Rosen Furcht' ich doch auch Metamorphosen. Sollte der Eselskopf der Empuse wirklich eine Erfindung — sollte er nicht vielmehr eine Erinnerung Goethes sein? Die mögliche Lektüre des Goldenen Esels während der Inkubationszeit von Faust II; die Gleichzeitigkeit des Entleihungsdatums mit dem Beginn der Lucan-Lektüre, welche ohne Zweifel auf die Hexengestalten eingewirkt hat; der Schauplatz Thessalien und die Hexen selbst; der erotische Vamp (die verwandelnde Photis der Metamorphosen?); der Vorgang der Verwandlung; die Reime „Rosen — Metamorphosen" lassen eine Apuleius-Reminiszenz wenigstens vermuten. Natürlich wäre auch an Bottoms Eselkopf im Sommernachtstraum zu denken; doch auch diese „Verwandlung" geht wohl auf Apuleius zurück 46 . Die Apuleius-Reminiszenz wäre jedenfalls nicht die erste versteckte literarische Erinnerung, die im Faust II an den Tag gekommen ist. Indessen kannte Goethe bestimmte Züge aus den Metamorphosen sehr genau, wenn auch in mehrfacher literarischer Brechung. In einer schönen Studie %um Lebens^usammenhang Ägypten — Antike — Abendland hat Siegfried Morenz nachgewiesen47, in welch hohem Maße Schikaneders Libretto zur Zauber/löte dem Aufsatz Die Mysterien der Egyptier (1784) von Ignaz von Born, einem Haupte der Wiener Freimaurer, verpflichtet ist. Neben anderen klassischen Autoren stützt sich von Born besonders auf Apuleius, den er viermal ausführlich zitiert. Doch wären auch unmittelbare Rückgriffe Schikaneders auf die Rodesche Übersetzung denkbar. Jedenfalls sind aus Apuleius so viele Züge „in den Operntext entlehnt, daß man imstande wäre, einen fortlaufenden Kommentar danach zu schreiben". Wir nennen hier nur Gestalten | wie die Königin der Nacht (nach Met. XI 3 f.), zum Teil auch Sarastro, Szenen wie die Priesterprozession (nach XI 10) oder Situationen wie das Schweigegebot (nach XI 23 u. ö.), vielleicht aber auch Charaktermerkmale wie Papagenos Neugier (welche Morenz nicht erwähnt). Goethe liebte die Oper, die 1794, drei Jahre nach der Wiener Uraufführung, in einer Bearbeitung auch in 46
47
Siegfried Morenz, Die Zauber/löte, Münster-Köln 1952 (Münsterische Forsch. V), 24. — Quelle? Ebd. 18 f., 23 f., 45 ff., 54 f. Auch hier hat Riefstahl 47 f., Anm. 10, das Richtige geahnt. Dazu Mozart — Emanuel Schikaneder, Die Zauberflöte, hg. v. Georg Richard Kruse, Lpg. o. J. (Reclams ÜB 2620), 3 — 15, wo die antiken Quellen freilich nicht erkannt sind.
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Weimar gespielt wurde. Von 1795 bis 1800 arbeitete er an Der Zauberflöte ^weitem Teil, der dann, von bedeutenderen Unternehmungen verdrängt, Fragment blieb. Seine szenischen, motivlichen und symbolischen Übereinstimmungen mit dem Faust II sind bekannt; Otto Pniower hatte recht, wenn er das Fragment „als eine Art Studie zum Faust" ansah48. Ohne es zu wissen, war Goethe hier mit Gestalten und Situationen aus dem Roman des Apuleius in Berührung gekommen, die ihn zum „Hauptgeschäft" sachte zurückführten. — Damit hat sich der Kreis unserer Betrachtung geschlossen. Ihr Ziel bestand darin, eines der zahlreichen Rinnsale bloßzulegen, welche den Strom der klassischen Literatur mit unserer eigenen Dichtung unterirdisch verbinden.
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Jub.-Ausg. VIII 364 f.
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Weltliteratur in Goethes „Helena' Dichtend belehrendem Wort Hast du gelauscht wohl nimmer? (9163 f.)
Wiederholt, mit Nachdruck und nicht ohne die Ironie des Wissenden hat der alte Goethe seine Partner in Gespräch und Briefwechsel auf die Dunkelheiten, das Geheimnisvoll-Rätselhafte, die Inkommensurabilität seines Faust und insonderheit seiner He/ena-Oichtung hingewiesen.1 Die Vorstellung, die Philologen würden an der Helena noch zu laborieren finden,2 bereitete ihm offensichtlich ein stilles Vergnügen; aber es freute ihn auch, wenn ihn eine kluge Leserin wie Henriette von Egloffstein durch ihre feinsinnige Analyse des Stückes „für tausend alberne Dunse und Plattköpfe" entschädigte.3 Mit Bedacht warnte er seine Landsleute, die „wunderlichen" Deutschen, vor ihrer Nationalleidenschaft, sich auf Mutmaßungen über abstrakte Gedanken und Ideen in seiner Dichtung einzulassen, und riet ihnen zu der „Courage, sich den Eindrücken hinzugeben"; denn nicht aus Abstraktionen habe er als Poet geschaffen, sondern aus „Eindrücken sinnlicher, lebensvoller, lieblicher, bunter, hundertfältiger Art"y damit „andere dieselbigen Eindrücke erhielten", wenn sie sich dem Genuß seiner Dichtung überließen.4 Und wohlmeinend gab er zu bedenken,5 jeder Leser bemerke ja an sich selbst, „daß ihm von Zeit %u Zeit bei schon im allgemeinen bekannten Dingen noch im besonderen etwas Neues erfreulich aufgehe". Nach nahezu anderthalb Jahrhunderten /^«.tf-Forschung6 scheint es | freilich eine verwegene Hoffnung, es könne uns bei der Lektüre der 1
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Hans Gerhard Graf, Goethe über seine Dichtungen II 2, Frankfurt a. M. 1904, S. 413 f., 23. IX. 1827 an Iken; 451, 4. V. 1828 zu Jenny v. Pappenheim; 463, 26./2V. VIII. 1828 an Zelter; 395, 6. V. 1827, und 530 f., 1.1. 1830 zu Eckermann (zit.: Graf). Ebd. 382, 25. I. 1827 zu Eckermann. Ebd. 404, 16. VII. 1827 zu Kanzler v. Müller. Ebd. 394 f., 6. V. 1827 zu Eckermann. Ebd. 414, 23. IX. 1827 an Iken. Die ältere kritische Literatur am übersichtlichsten bei Ada M. Klett, Der Streit um ,Faust seit 1900, Jena 1939, Bibliogr. 157-216; unter den 512 Titeln findet sich natürlich viel Überholtes und Makulatur. Älteres und Neues in kritischer Auslese bei Wilhelm Emrich, Die Symbolik von Faust II, Bonn 21957, 12-29 (über den „Helena"Akt 302-361), und Erich Trunz, Bibliogr. zu Goethes Faust, Hamburg 1963, 647-655
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Weltliteratur in Goethes „Helena"
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Helena noch etwas Neues aufgehen. Wir sollten uns indessen durch die Fülle der Interpretations versuche nicht entmutigen lassen: Ist doch der Zustand, in dem sich die Faust-Auslegung befindet, mit Recht als „chaotisch" bezeichnet worden,7 was nicht so sehr eine Folge der Vielschichtigkeit von Goethes Werk als eben des Bestrebens der Ausleger ist, vornehmlich Weltanschauung zu abstrahieren, statt sich den Eindrücken der Dichtung unbefangen hinzugeben, gerüstet freilich mit der Bildung und der Sensibilität eines literarisch noch universal denkenden Zeitalters. Denn der Dichter, der den Faust bewußt als „offenbares Rätsel" verschlüsselt hat,8 war selbst ein poeta d o c t i s s i m u s , was neben der halbwahren Formel vom ,Erlebnisdichter' gern übersehen wird; er erwartet vom
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(zit.: Trunz). Nach dieser Ausgabe zitiere ich den „Helena"-Akt, das Fragment von 1800 und die Paralipomena hingegen nach Gedenkausg. V (Ernst Beutler), Zürich 1950, 531—619 (zit.: Beutler). Anregungen zum Durchdenken meines Themas verdanke ich Carlo Grünanger (vgl. Anm. 32) und Hellmuth Petriconi (vgl. Anm. 53); im Zusammenhang mit der Weltliteratur-Idee ist das Problem jedoch noch nicht gesehen worden, auch nicht von Fritz Strich, Goethe und die Weltliteratur, Bern 21957. Einen Sonderaspekt habe ich schon behandelt: „Hier ist das Wohlbehagen erblich" — Goethes Huldigung vor der Liebesdichtung im „Helena"-Akt, in: Neue Zürcher Ztg., Fernausg. Nr. 20 vom 21. 1. 1961; mit diesem Aufsatz überschneiden sich die entsprechenden Stellen der vorliegenden Untersuchung. Ergiebiges Material für mein Thema findet sich bei Erich Schmidt, Kommentar zu Goethes Sämtl. Werke XIV — Faust II (Jubiläums-Ausg.), Stuttgart-Berlin o. J. [1906], bes. 357-377 (zit.: Schmidt). In den späteren Kommentaren — Witkowski 71924 (zit.: Witkowski; 91936 war mir nicht zugänglich), Petsch 21925 (zit.: Petsch), Beutler, Buchwald 41955, Trunz — versiegen die von Schmidt nachgewiesenen Quellen der literarischen Reminiszenzen, weil der Nachweis von ,Einflüssen' überholt schien. Schmidt wird ergänzt durch Th. C. van Stockum, Deutsche Klassik und antike Tragödie — II. Goethes Versuch der Neubelebung der antiken Tragödie: der Helena-Akt im Faust II, in: Neophilologus XLIII (1959), 265 — 277, mit Bibliogr. 277 (zit.: van Stockum); hier sind in positivistischer Weise zahlreiche Quellen bzw. Parallelen zur griechischen Tragödie nachgewiesen. — Von den übrigen Arbeiten nenne ich nur diejenigen, denen ich Einsichten in die geistesgeschichtliche Situation und in die Struktur der „Helena" verdanke: Richard Alewyn, Goethe und die Antike, in: Das hum. Gymn. XLIII (1932), 114-124; Max Kommereil, Faust Zweiter Teil — Zum Verständnis der Form, in: Geist und Buchstabe der Dichtung, Frankfurt a. M. 31944, 9 — 74 (zit.: Kommerell); Oskar Seidlin, Helena: Vom Mythos zur Person, in: Von Goethe zu Thomas Mann, Göttingen 1963, 65 — 93 (zit.: Seidlin); Karl Reinhardt, Goethe and Antiquity — The Heien Episode of Goethe's Faust, in: Tradition und Geist (C. Becker), Göttingen 1960, 274—282 (zit.: Reinhardt); Wolfgang Schadewaldt, Faust und Helena, in: Goethe-Studien, Zürich, Stuttgart 1963, 165 — 205 (zit.: Schadewaldt). Weitere kritische Literatur in den folgenden Anmerkungen. Schadewaldt 165. Trunz 456,1. VI. 1831 an Zelter. Die bei Graf fehlende Äußerung bezieht sich zweifellos auf „Faust".
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Leser, daß er „sich auf Miene, Wink und leise Hindeutung \ verstehe", wie er seinen Freunden wiederholt bedeutete. Und wenn er die Mahnung jeweils in der Verheißung ausklingen ließ, der Leser werde dann sogar mehr finden, als der Dichter selbst habe geben können,9 so mag sich der Ausleger ermutigt fühlen, den zögernden Fuß in wenig betretene, wenngleich durchaus nicht fernliegende Bereiche 2u setzen. Der He/ena-Akt bildet die Mitte des Zweiten Teiles der Faust-Tragödie. Seit Goethe ihn niederzuschreiben begann, hat er ihn als „Gipfel" der Dichtung bezeichnet;10 doch ist er das stilistisch variabelste Gebilde der gesamten Tragödie geblieben. In solchen Fällen stellt sich dem Leser immer die Frage, ob die Uneinheitlichkeit nicht eine poetische Absicht, das Spiel mit den Formen nicht einen spezifischen Ausdruckswillen erkennen lasse. In der Helena ist die Uneinheitlichkeit zunächst die Folge der Entstehung und der im Laufe der Arbeit veränderten Funktion. Die königliche Hetäre des homerischen Altertums gehört bereits zur Volksüberlieferung der /*##.)·/-Sage, in die sie wohl durch die legendäre Verbindung einer anderen Helena mit dem Erzketzer Simon, einem der Archetypen der Faust-Gestalt, geraten ist; ihre Begegnung mit Faust stellt also eine von Goethes „ältesten Konzeptionen" dar.11 Zum ersten Male regte sie ihn im September 1800 zur Gestaltung an; damals, auf dem Höhepunkt der klassischen Bestrebungen und der Zusammenarbeit mit Schiller, bildete die griechische Tragödie das formale Muster. Doch wie so manches andere poetische Unternehmen blieb Helena im Mittelalter als Fragment von 269 Versen12 liegen. Wie sie etwa hätte fortgesetzt werden sollen, lassen neben dem Untertitel Satyr-Drama einige Paralipomena sowie der erste erhaltene Entwurf einer Inhaltsangabe erkennen. (Dieser ist freilich erst im Dezember 1816 entstanden und war für Dichtung und Wahrheit bestimmt, wurde dann aber nicht in die Autobiographie aufgenommen.13) Die Helena sollte wie eine griechische Tragödie beginnen und in nordischem Zauberspuk enden; anders schien die Verbindung zwischen der klassischen Hetäre und dem mittelalterlichen Ritter nicht möglich. So 9
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Im Abstand von anderthalb Monaten: Graf 586, 20. VII. 1831 an H. Meyer; 591, 8. IX. 1831 an S. Boisseree. Graf 98 f., 23. IX. 1800 an Schiller; dessen Antwort vom gleichen Tage. Ebd. 348, 22. X. 1826 an W. v. Humboldt; 350, 22. X. 1826 an S. Boisseree. Trunz 579: 265 Verse. Der Unterschied erklärt sich daraus, daß die V. 186-189, nach Witkowski II 378 von Goethe gestrichen und deshalb im Textband I 505 eingeklammert und ungezählt geblieben, bei Beutler 536 ohne einschränkende Kennzeichnung wiedergegeben sind. Beutler 559 f., 581-587.
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wäre das mittelalterlich-nordische Stilelement dem Satyrspiel nach der griechischen Tragödie vergleichbar gewesen: Es hätte entschieden gegensätzlich und wahrscheinlich komisch, jedenfalls aber als barbarische Ver-| zerrung des Mustergültigen und Schönen gewirkt. Diese Aussicht auf einen schwer verträglichen Stilbruch verleidete Goethe in seiner klassischen Epoche die Weiterarbeit am Fragment: „Nun %iebt mich ... das Schöne in der Lage meiner Heldin so sehr an", schrieb er an Schiller,14 „daß es mich betrübt, wenn ich es zunächst [= demnächst] in eine Fratze verwandeln soll." Zwar schien sich wenige Tage später ein besserer Weg zur „Verbindung des Reinen und Abenteuerlichen" zu eröffnen, so daß „ein nicht gan% verwerfliches poetisches Ungeheuer" zu erhoffen war;15 doch die Hoffnung trog: Das „gewaltige griechische Trauerspiel", von dem Friedrich Schlegel schon schwärmte, bevor er auch nur den Stoff kannte,16 mußte trotz Schillers freundschaftlichen Ermunterungen Fragment bleiben. Im Jahre 1800 hatte Goethe die stilistischen Mittel noch nicht in die Gewalt bekommen, welche nötig waren, um das Reine mit dem Abenteuerlichen, das Schöne mit dem Barbarischen, das Klassische mit dem Mittelalterlichen, um die Heroine Helena mit dem Ritter Faust im Kern zu amalgamieren.17 Als Goethe im Frühjahr 1825 die Helena wieder vornahm,18 hatte er ein anderes Verhältnis zur Literatur und zur poetischen Tradition gewonnen. Bereits 1805 war er in den Anmerkungen zu seiner Übersetzung von Diderots Dialog L·e neveu de Rameau zu dem Schluß gekommen,19 man könne die Nordländer nicht ausschließlich auf die klassischen Muster festlegen: „Wir haben uns andrer Voreltern %u rühmen und haben manch anderes Vorbild im Auge." Er dachte an Shakespeare und Calderon, in deren Dramen er, das klassische Maß auch jetzt als verbindlich voraussetzend, zwar noch immer eine Synthese des „Ungeheuren mit dem Abgeschmackten" sah; zugleich aber erklärte er es für unsere Pflicht, „uns auf der Höhe dieser barbarischen Avantagen, da wir die antiken Vorteile wohl niemals erreichen werden, mit Mut %u erhalten". Daraus spricht Resignation vor dem klassischen Muster, doch auch Aufgeschlossenheit gegenüber den literarischen Entdeckungen der Romantiker, die sich im Laufe der Jahre verstärkte. Denn bald schmauste er nicht nur „an der nibelungischen Tafel"r,20 sondern erschloß 14 15 16 17 18 19
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Graf 95, 12. IX. 1800. Ebd. 97, 16. IX. 1800 an Schiller. Ebd. 102, spätestens 15. XI. 1800 an August Wilhelm Schlegel. Der alchemistisch-chemische Terminus ebd. 98, 16. IX. 1800 an Schiller. Ebd. 308, Tagebuch 14. III.; dazu die weiteren Belege bis Januar 1827. Ebd. 97, Anm. 2. Trunz 579, 9. XI. 1814 an Knebel. Vgl. jedoch das Urteil über das Nibelungenlied und die Griechen: bei Ernst Grumach, Goethe und die Antike, Berlin 1949, 113, 11. XI. 1827 an S. Boisseree (zit.: Grumach).
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sich selbst und der deutschen Dichtung im Divan eine wunderlich märchenhafte Geistesprovinz, welche dem Spürsinn der Romantiker entgangen war. Der Divan, seit 1814 bis zu einer Nachblüte im Jahre 1820 entstanden, bildet die wichtigste Zäsur | im literarischen Bewußtsein des alten Goethe: Er half seinen Klassizismus relativieren, öffnete ihm neue Welten der Phantasie und legte in ihm den eigentlichen Keim zur Idee einer eben jetzt und unter seinen eigenen Augen sich entfaltenden Epoche der Weltliteratur. Unter solchem Aspekt mußte ihm das „Teufels- und Hexenwesen" noch schaler erscheinen als während seiner klassischen Periode, da er sich, der nordischen Kost überdrüssig, „%u den Tischen der Griechen" gewandt hatte. „Hätte ich aber so deutlich wie jet^t gewußt", sagte der weltliterarisch erfahrene Greis mit Bezug auf den Faust in einer Stunde des Unmuts zu Eckermann,21 „wieviel Vortreffliches seit Jahrhunderten und Jahrtausenden da ist, ich hätte keine Zeile geschrieben, sondern etwas anderes getan." Nun aber, da ihm das „Hauptgeschäft" keine Ruhe mehr ließ und zum Abschluß drängte, lag es nahe, die Überlieferung der Faust-Sage, mit der es ohnehin „nicht weit her" war, zurückzustellen und das „Vortreffliche", was sich dem empfänglichen Gemüt aus der Tradition der Weltliteratur anbot, in weiterem Umfang aufzunehmen. Diese Idee bewegte ihn während der Inkubationszeit der Helena; im Gespräch mit seinen Vertrauten kam er mehrfach auf sie zurück, 22 und es ist wohl kein Zufall, daß die Unterhaltung jeweils von Byrons angeblichen Plagiaten ausging. „Daß Byron bei dem gefangenen von Chilion' Ugolino %um Vorbild genommen, ist durchaus nicht %u tadeln, die gan^e Natur gehört dem Dichter an; nun aber wird jede geniale Kunstschöpfung auch ein Teil der Natur, und mithin kann der spätere Dichter sie so gut benutzen wie jede andere Naturerscheinung." Und wie er selbst auf das Buch Hiob und ein Shakespeare-Lied hinwies, das er sich für Mephisto „angeeignet" hatte, so hätte er auch das Märchen vom Machandelboom oder Kalidasas Sakuntala oder die Karnevalslieder der Florentiner Renaissance erwähnen können, die er mit souveränem Adaptionsvermögen für andere Stellen des Faust benutzte: nicht weil sich ihm in tiefster Erschütterung die Erfindungskraft versagt hätte wie am Schluß der Italienischen Reise, als er statt eigener Verse Ovids Abschied aus Rom zitiert hatte, sondern weil er in den übernommenen Stellen genau das ausgedrückt fand, was er selbst sagen wollte, weil er diese Stellen poetisch geglückt — weil er sie schön fand. Diese Haltung hat nichts mit dem klassizistischen Formprinzip der Imitatio zu tun, und sie ist das Gegenteil 21 22
Graf 324, 10. I. 1826. Ebd. 300, Anm. 2, 17. XI. 1824 zu Kanzler v. Müller; ähnlich 300, 17. XII. 1824 zu demselben; 304 f., 18. I. 1825 zu Eckermann.
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jugendlich unerfahrener Originalitätsschwärmerei. Vielmehr setzt sie das an literarischen Erfahrungen gereifte Bewußtsein voraus, welches die Weltliteratur als unendlichen Traditionszusammenhang erkennt, sowie den Willen, das eigene Werk möge sich diesem Zusammenhang würdig eingliedern. | Im He/ena-Akt wandte Goethe die seit den Divan-Jahren bereitliegenden Erfahrungen an. Bald nach dem Abschluß der Arbeit im Januar 1827 erschien die Helena als isoliertes Zwischenspiel zum Faust im Druck; ohne Kenntnis der Vorfabel und des weiteren Handlungsverlaufes mußte das Stück den Zeitgenossen höchst wunderlich, wenn nicht abstrus erscheinen. Denn die „Anfeindenden", welche das Auftreten Helenas in Fausts mittelalterlicher Welt erklären, sind ja ebenso wie der vierte Akt nachträglich entstanden und erst nach Goethes Tod zum Druck befördert worden. Die isolierte Veröffentlichung und die Bezeichnung als Zwischenspiel, von der Goethe erst spät abging,23 lassen vermuten, daß er die Helena noch immer so verstanden wissen wollte, wie er das Fragment einst überschrieben hatte: als Episode %u Faust. Freilich war der Helena in der Zwischenzeit eine andere Funktion zuteil geworden: Was früher ein Satyr-Drama hatte werden sollen, hieß nun eine Klassisch-romantische Phantasmagoric. Während der Bühnenterminus „Phantasmagoric" die merkwürdige Halb- und Zwischenwirklichkeit meint, in der Helena auftritt, deutet die Bezeichnung „klassisch-romantisch" auf ein allgemeines stilistisches und aktuelles literarhistorisches Element. Der frühere Untertitel Satyr-Drama war davon ausgegangen, daß das Klassische als Maß und das Nachklassische als fratzenhafte Verzerrung des Maßes zu gelten habe, welches sich nur wie ein Satyrspiel neben der hohen Form der Tragödie hätte ausnehmen können; die neue Bezeichnung postuliert die Synthese der beiden so lange entgegengesetzten Tendenzen. Darin sah Goethe sogar den „Hauptsinn" seiner Helena; denn es sei Zeit, „daß der leidenschaftliche Zwiespalt ^wischen Klassikern und Romantikern sich endlich versöhne".2* Wie dies geschehen könne, sollte an Hand der dichterischen Praxis im He/ena-Akt demon23
Beutler 562, 564, 573 in den Entwürfen und der endgültigen Fassung der Ankündigung für das Publikum, 1826/27. Vgl. Graf 562, 4.1. 1831 an Zelter. Anders Rickert nach Ada M. Klett (Anm. 6) 45, 199; Witkowski 334. 2 4 Graf 412, 23. IX. 1827 an Iken. Vgl. Robert Mühlher, Goethes „Helena" und die klassisch-romantische Synthese, in: Chronik des Wiener Goethe-Vereins LXI (1957), 21—30, bes. 22, wo der Verf. auf den Zusammenhang der „Helena" mit den gräzisierenden Dramen der Romantiker und auf deren Formkult hinweist. Ferner Rudolf Pannwitz, Die Vereinigung des Klassischen und Romantischen in Goethes „Helena", in: Der Nihilismus und die werdende Welt, Nürnberg 1951, 217 — 237.
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striert werden, und zwar bildlich-sinnbildlich durch die Verbindung der griechischen Heroine mit dem deutschen Ritter und formal durch die Synthese der klassischen Tragödie und anderer genialer Kunstschöpfungen", welche nach Goethes Auffassung in die Natur eingegangen waren und von späteren Dichtern „wie jede andere Naturerscheinung' adaptiert werden durften. Goethes Helena ist also einerseits — und trotz ihres ursprünglichen Zwischenspiel-}Charakters — ein integrierender Bestandteil der FaustHandlung, anderseits aber ein poetologisches Dokument. Als solches verdient sie genauere Analyse. Bereits der erste Vers verdankt seine Entstehung der neuen Konzeption. Das Fragment hatte mit den Worten angehoben, welche an die Erfahrungen des seeungewohnten Goethe auf seiner Sizilien-Reise erinnern: Vom Strande komm ich, wo wir erst gelandet sind, Noch immer trunken von der Woge schaukelndem Bewegen ... In der Neufassung stellt Goethe einen Vers voran, in dem die Heldin ihren Namen nennt: Bewundert viel und viel gescholten, Helena, ... Dies entspricht der Prologsituation in vielen Dramen des Euripides,25 enthält aber zugleich einen verhüllten Hinweis auf die literarische Legende. Denn weder die Griechen noch die Troer sind als Schmäher oder Bewunderer Helenas in erster Linie gemeint, sondern „die leidigen Dichter", über deren „Lob und Tadel" sich schon Erichtho zu Beginn der Klassischen Walpurgisnacht beklagt hatte (7007 —7009).26 In der eigentümlich ,literarischen' Atmosphäre des neugeformten He/ena-Aktes sind es also die Dichter, an die Goethe vornehmlich denkt: Homer als erster, dann aber auch Stesichoros, der mit Blindheit geschlagen wurde, „weil er sie [= Helena] unwürdig dargestellt", und natürlich Euripides, welcher ,&ewiß den Dank 25 26
Schmidt 358, van Stockum 269. Trunz 586, wenn auch weniger entschieden. Interessant Seidlin 68, 234 f., Anm. 8, über Helenas „Selbstfremdheit". Nicht zustimmen kann ich jedoch der Annahme, sie gebe sich „durch ihre Namensnennung ... eher als ein episches Objekt denn ein dramatisches Subjekt ... xu erkennen": Dem widerspricht der unbestreitbar dramatische Brauch des Euripides, dessen Situationen Goethe auch 1826 noch im Auge hatte, wie zahlreiche Stellen aus der Fortsetzung des Fragmentes — vgl. van Stockum passim — sowie die dauernde Beschäftigung mit den euripideischen Dramen, gerade um diese Zeit, beweisen. — Vgl. auch Kommereil 57: „Wenn Helena nur nicht gleich auf ihren Ruf bei den Dichtern hinwiese!"
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aller Griechen" verdiente, „wenn er sie als gerechtfertigt, ja sogar als völlig unschuldig darstellte und so die unerläßliche Forderung des gebildeten Menschen, Schönheit und Sittlichkeit im Einklänge %u sehen, befriedigte". Diese Sätze hatte Goethe schon 1804 in dem für die Deutung seiner Helena-Gestalt so wichtigen Aufsatz über Polygnots Gemälde in der Lesche %u Delphi niedergeschrieben;27 nun dichtete er nicht nur selbst die großartigste Palinodie, die Helena in der | Weltliteratur zuteil geworden ist, sondern ließ seine Heldin sogleich das Janusgesicht der literarischen Legende,28 den Spiegel der ebenso beseligenden wie verderblichen Wirkung ihrer Schönheit, vor dem Zuhörer evozieren. Der geheimere Sinn" des ganzen Aktes aber offenbart sich dem Wissenden nur dann, wenn er bereit ist, sich Goethes poetischer Methode rückhaltlos anzuvertrauen, indem er die „einander gegenübergestellten und sich gleichsam ineinander abspiegelnden Gebilde" zu dechiffrieren sucht.29 Denn zu den „Eindrücken sinnlicher, lebensvoller, lieblicher, bunter, hundertfältiger Art", aus denen Goethe seine Dichtungen schuf, zählen neben den unmittelbaren „Lebenserfahrungen" im höheren Alter auch die literarischen Erfahrungen, welche er in seine Dichtung einschmolz. Wir versuchen, uns das in der deutschen Literatur einmalige Phänomen weiter zu verdeutlichen. Bis zum Auftreten Fausts (9192) hat Goethe die Helena gleichsam als ,euripideisches' Drama fortgesetzt. Der Sprechvers ist der Trimeter oder — weniger häufig — der trochäische Tetrameter (8909 bis 8929, 8957-8960, 9067-9070); die Chöre sind nach klassischem Vorbild in Strophen, Antistrophen und Epoden, hin und wieder auch Prooden (8882-8886, 9078-9087) gegliedert, wobei das Vorbild keineswegs sklavisch, aber doch dem visuellen Eindruck nach, gleichsam druckbildlich, übernommen wird; vom klassischen Kunstmittel der ein-, zweioder dreizeiligen Stichomythien (8810-8825, 8850-8881) und der Spaltverse (besonders 8925) ist maßvoll Gebrauch gemacht. Literarische Reminiszenzen lassen sich auf jeder Seite nachweisen.30 Sie betreffen in erster Linie das griechische Drama und die homerischen Epen, daneben Vergils Amis (8515 = IV 175), Ovids Heroiden (8755 = XVI 288), das Neue Testament (8794 = 1. Kor. 4, 2). Manche sprachliche Neuprägung nimmt sich griechische Wortbildungen zum Muster (9138: ,Wohlempfang"}. Hätte
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Grumach 641. Vgl. Schadewaldt 167 f. Vgl. Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur, Stuttgart 1962, 256 ff., mit Bibliogr. 260. Graf 413 f., 23. IX. 1827 an Iken; dazu der Aufsatz „Wiederholte Spiegelungen" von 1823. Am reichhaltigsten verzeichnet bei Schmidt und van Stockum.
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sich die Forschung der letzten Jahrzehnte vom Schreckbild der ,Einflüsse' weniger beirren lassen, so hätte sie zweifellos noch weitere Reminiszenzen aufdecken können.31 Doch auch uns kommt es nicht auf solche mehr | 31
Auf eine mögliche und eine wahrscheinliche Reminiszenz, beide bisher unbemerkt, möchte ich hinweisen. Die erste steht im Zusammenhang mit den S. 183 f. behandelten Beziehungen zu Heinrich von Morungen. Bei dem Schwanenlied als Todesbotschaft (9099 — 9102) erinnert Schmidt 365 neben einem eigenen Vers Goethes an Voß' „Mythologische Briefe" II 105. Abgesehen davon, daß es sich um ein anonymes Wandermotiv handelt, könnte man ebensogut an einen Vers Morungens denken, welcher in der Goethe wahrscheinlich bekannten Übersetzung Tiecks lautet (vgl. Anm. 35, dort S. 263): „Ich thu' wie der Schwan, der singet, wenne er stirbet." — Die zweite Reminiszenz ist deutlicher. Wie bekannt ist (Schmidt 307 ff. mit bibliographischem Hinweis), benutzte Goethe für die Mummenschanz-Szene im ersten Akt von „Faust" II ein italienisches Sammelwerk, Antonio Francesco Grazzinis „Tutti i trionfi carri mascherate o canti carnascialeschi andati per Firenze dal tempo del Magnifico Lorenzo de' Medici flno all'anno 1559" in der 2. Aufl., Cosmopoli 1750, LX und 596 S. Doch auch für den Schluß der „Helena", wo er seine Unsterblichkeitsidee gestaltet, hat er offenbar die gleiche Vorlage gebraucht. Die unpersönlichen Choretiden gehen in die Elemente ein; der letzte Teil von ihnen verwandelt sich in die Geister der Rebe und begleitet seine Auflösung mit bacchantisch wirbelnden Tetrametern (10017 f., 10033): B a c c h u s kümmert sich, der Weichling, wenig um den treuen Diener, Ruht in Lauben, lehnt in Höhlen, faselnd mit dem jüngsten Faun ... Und dazwischen schreit unbändig grell S i l e n u s ' ö h r i g Tier. Ferner ist von Tanz (10027), gellender Musik (10030), „taumlich" wirbelnden Sinnen, von T r u n k n e n (10035 f.), „Ziegenfüßlern" und „Ziegenfüßlerinnen" (10032) die Rede. Es liegt nahe, an das Satyrspiel nach der griechischen Tragödie zu denken, das den „Helena"-Akt gleichsam zu seinen Anfängen zurückführt. Der Darstellung dionysischer Mysterienszenen in Creuzers „Symbolik und Mythologie der alten Völker" hat Goethe in der Tat einige Anregungen entnommen (Schmidt 377). Zur Vergegenwärtigung des poetischen Geistes der Szene bediente er sich hingegen des schönsten Karnevalsliedes der Renaissance, des „Trionfo di Bacco e Arianna" von Lorenzo de' Medici, der in der genannten Sammlung an erster Stelle (S. 1—3) abgedruckt ist. Nun ist zwar erst für den 11. VIII. 1827 - also nach Abschluß der „Helena" - bezeugt, daß Goethe das „herrlichste Denkmal der florentinischen Epoche und Lorenz Medicis" „nach langer Zeit" wieder vornahm (Graf 407, Tagebuch); doch eben daraus geht hervor, daß er die „Trionfi" seit langem kannte und liebte. Hier fand er jedenfalls, was er brauchte. 1. Musik und Tanz beherrschen die Szene: ballon, salton ... (18), ciascun s u o n i , balli, e canti (55), Trunkenheit die Köpfe und Leiber: (Sileno) e b b r o e lieto ..., / se non puo s t a r ritto, almeno / ride (31—33). Bacchus führt den Zug an, „faselnd" mit Ariadne (5 f.). Auch die Faune sind da und lauern in Höhlen und Hainen (per c a v e r n e , e per b o s c h e t t i , 15), während Weiber und Männer fröhlich sind (lieti ognun feramme, e maschi, 48) und Silen auf dem Esel einherreitet (sopra l'asino, e Sileno, 30). 2. Liest man zwei von Lorenzos Oktonaren zusammen, so ergeben sich ,Tetrameter': „Quanto e bella giovinezza / ehe si fugge tuttavia." 3. Das Titelkupfer von Grazzinis Sammlung zeigt u. a. Satyrn, Ziegenböcke (der Ausdruck Z i e g e n f ü ß l e r , 10032, wohl nach Horaz, Carm. II 19,4: c a p r i p e d u m Satyrorum), nackte Manns- und
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oder minder deutlichen und mehr oder minder sicheren Reminiszenzen an, sondern auf die Tatsache der poetischen Allgegenwart weltliterarisch | bedeutender Sinnbilder und Motive. Sie äußert sich am eindringlichsten in Phorkyas' Todesdrohung gegen Helena und den Chor (8927 — 8930): Sie stirbt einen edlen Tod; Doch am hohen Balken drinnen, der des Daches Giebel trägt, Wie im Vogelfang die Drosseln, zappelt ihr der Reihe nach. Die entsprechenden' Verse lauten in Voß' Übersetzung von Homers Odyssee (XXII 462-473): „Wahrlich den reinen Tod des Schwertes sollen die Weiber Mir nicht s t e r b e n ..." Sprach's; da band er ein Seil ... An den ragenden Pfeiler ..., Und wie die fliegenden Vögel, die Drosseln ..., In die Schlingen geraten ..., Also hingen sie dort ..., Zappelten noch mit den Füßen ein wenig, aber nicht lange. Mit Fausts Auftreten endet Goethes ,euripideische' Tragödie. Allein der Umstand, daß ein vierter Schauspieler die bisher gewahrte klassische Dreizahl Helena — Chorführerin Panthalis — Phorkyas überschreitet, ist Zeichen für den Eintritt in eine neue Welt. Das Neue verstärkt sich durch die ,shakespearischen' Blankverse, in denen Faust zu sprechen beginnt und deren unklassischen Rhythmus Helena sogleich aufnimmt (9192 bis 9217). Es bestätigt sich vollends, wenn der Turmwärter Lynkeus sein Entzücken an Helenas Gestalt und die Tributleistung an seine neue Herrin durch zwei strophisch gebaute Lieder in Reimversen ausdrückt (9218 bis 9245, 9273-9332). Das erste beginnt:
Frauenspersonen unter Weinstöcken und Silen auf dem Esel. 4. Lorenzos Lied ist ganz auf das Carpe diem-Motiv gestimmt: „Chi vuol esser lieto sia, / di doman non ci e certezza." Hinter der unbändigen Lust am Leben lauert die Melancholie der Vergänglichkeit; sie überschattet die trunkne Stunde und reizt zugleich zu schrankenlosem Genuß. Auch Goethes Choretiden geben sich noch einmal dem Taumel am Feste der Traubenlese hin, bevor sie aus der irdischen Existenz ins Element aufgehen. — Das Vorbild kann nicht zweifelhaft sein. Doch handelt es sich hier nicht um eine b e w u ß t e Evokation eines weltliterarischen Momentes wie in den anderen Fällen, die im Text behandelt sind.
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Laß mich knieen, laß mich schauen, Laß mich sterben, laß mich leben, Denn schon bin ich hingegeben Dieser gottgegebnen Frauen. Harrend auf des Morgens W o n n e , Östlich spähend ihren Lauf, Ging auf einmal mir die Sonne Wunderbar im Süden auf. Zog den Blick nach jener Seite, Statt der Schluchten, statt der Höhn, Statt der Erd- und Himmelsweite Sie, die Einzige, zu späh n ... Diese Verse versetzen den deutschen Leser in eine Welt, die ihn durch Klang und Bild eigentümlich vertraut anmutet. Zwar trägt Lynkeus einen Sprechenden' Namen griechischer Herkunft, der auf sein luchsscharfes | Gesicht hindeutet; aber er verkörpert und versinnbildlicht, deutlicher als der in ritterlicher Hoftracht einherschreitende Herrscher Faust, die mittelalterlich-deutsche Welt im idealen poetischen Moment des reifen Minnesangs. Denn darin besteht die literarische Erfahrungsgrundlage dieser Szene: Um die freiwillige Unterwerfung der Gewalt unter die Schönheit szenisch darzustellen, bediente sich Goethe wiederum einer vorgeprägten dichterischen Form, welche ihm geeignet schien, den Gehalt der Szene im Sinnbild zu fassen. Wir verdanken dem italienischen Germanisten Carlo Grünanger eine eigenwillige Analyse dieses SachVerhaltes; da sie der deutschen Forschung nahezu unbekannt geblieben zu sein scheint,32 geben wir den Gedankengang gedrängt wieder. Grünanger stellt dem a d s c e n s u s zur höchsten menschlichen Vollkommenheit in Wolframs Par^ival und in der Minnelyrik den d e s c e n s u s Kriemhilds im zweiten Teile des Nibe/angen-Epos gegenüber, in dem sich die mit allen höfischen Tugenden ausgestattete f r o u w e in eine rachsüchtige v a l a n d i n n e verwandelt. Er erkennt darin jene Spannung zwischen dem Germanentum einerseits und dem Christentum sowie den lateinischen Tugenden der p i e t a s und h u m a n i t a s anderseits, der dem gesamten deutschen Mittelalter sein Gepräge verleihe. Diese geistige Situation habe Goethe in den Lynkeus-Szenen aufgegriffen und dargestellt. Beherrscht vom Hunger nach Gold und vom Blendwerk 32
Heinrich von Morungen e il problema del Minnesang, Milano 1948, 162 — 167, 242 — 245, Anm. 10. Beutlers Andeutung 805 geht auf meine Anzeige des Buches zurück: Neue Zürcher Ztg. Nr. 1272 vom 17. VI. 1950.
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des ,Hortes' als Sinnbild der Gewalt und der Weltherrschaft, habe Lynkeus mit seiner plündernden Soldateska friedliche Länder überfallen und zunächst nach dem Faustrecht gehandelt (9291 f.): Und wo ich herrisch heut befahl, Ein andrer morgen raubt' und stahl. Angesichts der klassischen Schönheit vollziehe sich jedoch in dem barbarischen Räuber eine seelenverwandelnde Katharsis (9277): Was war ich erst? was bin ich nun? „Indem Lynkeus Helena seine Schätze darbringt, ist jene Wandlung symbolisch ausgedrückt, die sich ... in der germanischen Seele vollzogen hat; sie mußte Goethe als ,ästhetische Erziehung der Barbarenvölker erscheinen, welche auf den Kult des ,Hortes' den Kult der Schönheit folgen läßt."^ Grünanger verweist abschließend auf Goethes Novelle, die fast gleichzeitig mit der Helena entstand und vollendet wurde. Den Sinn die-|ser Erzählung hat Goethe selbst derart gedeutet, daß sich die Erinnerung an die Lynkeus-Episode aufdrängt, wenn man die Begriffe „Liebe und Frömmigkeit" durch ,Schönheit' ersetzt:34 „Zu Beigen, wie das Unbändige, Unüberwindliche oft besser durch Liebe und Frömmigkeit als durch Gewalt bezwungen werde, war die Aufgabe dieser Novelle ..." Wir lassen es dahingestellt, ob die /^«.^-Interpretation mit der geschichtsphilosophischen Deutung der Lynkeus-Episode etwas gewonnen habe; wir halten es sogar für zweifelhaft. Fruchtbar scheint uns hingegen Grünangers Hinweis auf den Minnesang und besonders auf die Lieder Heinrichs von Morungen als Quelle von Goethes Inspiration, vor allem in Lynkeus' erstem Liede. Hier verwandelt sich ein literarisch tradiertes Element in große Dichtung. Goethe kannte Tiecks Sammlung von Minneliedern aus dem Schwäbischen Zeitalter, die „wörtlich nach dem Originale" übersetzt waren. Sie enthalten 19 von Morungens 33 Liedern, deren Reime und Reimwörter mehrfach mit den beiden Lynkeus-Liedern übereinstimmen.35 Lynkeus' Vergleich des Erscheinens der Herrin mit der 33 34 35
Ebd. 164. .Ästhetische Erziehung', doch mit Bezug auf Faust, schon Witkowski 340. 18. I. 1827 zu Eckermann. Sämmtliche Werke XX, Wien 1820 (1. Aufl. 1803), 248-266: s c h a u e n - F r a u e n (9218, 9221) = S. 253, 262; l e b e n - . . . g e b e n (9219 f.) = S. 265; W o n n e - S o n n e (9222, 9224) = S. 262; s p ä h n (9229), . . . s p ä h n - g e s e h n (9297f.) = S. 249; Zorn (9245) = S. 257; . . . a n - g e t a n (9281 f.) = S. 260. Auch der Gebrauch des schwachen Gen. sing. F r a u e n (9221; später noch 9588, 9599, während 9921 wohl Gen. plur. ist) könnte an die mittelhochdeutsche Form erinnern: S. 253. — Vgl. ferner 9704: „Ich bin dein, und du bist mein", was Mühlher (Anm. 24) 28 geradezu als „mittelhochdeutsches
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aufgehenden Sonne ist bei Morungen ebenfalls vorgebildet.36 Und wie die Schönheit der aufgehenden Sonne den Türmer „blendet" (9240), so war auch der Minnesänger von der Schönheit seiner Herrin benommen gewesen.37 Morungens Lieder dürften den Augenmenschen Goethe vor allem darum ange/ogen haben, weil er in ihnen wiederholt dem Motiv des sehnenden „Spähens" begegnete, das für Lynkeus so charakteristisch ist (9223, 9229, 9297). Denn „Lynkeus bedeutet: gan^ Auge sein" .^ Wenn aber der Augenmensch im fünften Akt der Faust-\Tragödie nochmals auftritt und sein Nachtlied singt: „Zum Sehen geboren ..." (11288), so erinnert auch dieser Vers noch an eine Zeile Morungens: „Denn ich %um Singen bin ... gebohrn. Zum Singen und nicht zum Sehen: Denn während Lynkeus im fünften Akt nun wirklich nur mehr berichtender Späher ist, huldigt er im Helena-Akt der höchsten Schönheit eben in seiner Eigenschaft als Sänger, so wie auch Morungen seiner Herrin als dem Inbegriff der Schönheit poetische Huldigung dargebracht hatte.40 Er tut es kniend, schauend, „hingegeben" der Schönheit der klassischen Gestalt und des ritterlichen Verses. Hier ist dichterisch mehr geschehen als die Übernahme einiger Reime und die Anverwandlung von ein paar Motiven. In der poetologischen Ökonomie des Helena-Aktes versinnbildlicht Lynkeus, den historischen Heinrich von Morungen und seine Lieder widerspiegelnd, eine zweite, jüngere, die „barbarischen Avantagen" in die moderne Dichtung herüberrettende Epoche der Weltliteratur. In seinem Liede „Laß mich knieen, laß mich schauen" preist er, gleichsam in Stellvertretung Fausts, die klassisch-humanisierende Schönheit Helenas und in Stellvertretung des Dichters die Schönheit der mittelalterlichen Minnelyrik. Nach
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Zitat" bezeichnet, also nach dem namenlosen Lied in: Des Minnesangs Frühling (C. v. Kraus), Leipzig 1940, 1: „Du bist min, ich bin din." Ebd. 253: „Sie leuchtet wie die Sonne thut gegen den lichten Morgen, / Erst war sie verborgen ..."; 261: „Ich muß sorgen wenn die lange Nacht zergeh / Gegen dem Morgen daß ich sie einmahl anseh / Meine viel liebe Sonne die mir so wonniglichen taget" u. ö. E,bd. 259: „Also bin ich sehr geschwachet / Denne ihre Schönheit mir nimmt so ganz meinen Sinn." Trunz 612. — Tieck-Morungen a.a.O. 249: „Ich muß immer dem geleiche spähen / Wie der Monde thut, der seinen Schein von der Sonnen Schein empfaht." (Das SonneMond-Gleichnis, wenn auch in anderem Sinne, schon im „Divan", Buch Suleika: „Die Sonne kommt! Ein Prachterscheinen! / Der Sichelmond umklammert sie ... Du nennst mich, Liebchen, deine Sonne, / Komm, süßer Mond, umklammre mich!") Ferner 261: „Denn zu schauen schuf man sie [die Frau] dem Mann" u. ö. Ebd. 257. Die Frage, ob Lynkeus im fünften Akt die »gleiche' Gestalt sei wie im dritten, ist in unserem Zusammenhang belanglos; vgl. Witkowski 340, Petsch 689. Ebd. 258: „Vor allen Frauen die ich noch hab gesehen / Schöne und schöne, die Schöne Allerschönest / Ist sie, meine Fraue ..."
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Goethes Wort ist Helena begabt mit der magischen Kraft „^u binden oder ^u lösen" .^ Auf der vordergründigen Ebene der Tragödienhandlung übt sie ihr Herrscherrecht durch Begnadigung des pflichtvergessenen, unschuldig schuldig gewordenen Türmers; zugleich aber löst sie dem Wächter wie dem Dichter die Stimme zum Preise des höchsten Lebendigen in ihrer Gestalt. Wie Schönheit die bewegende Macht der griechisch-deutschen Tragödie gewesen war, so wirkt sie nun als inspirierende Kraft des mittelalterlichen Huldigungsliedes. Mit genialem Griff hat Goethe ein weiteres poetologisches Element zum Motor der He/ena-Handlung gemacht. Die „hohe Frau", wie Helena nun ganz im Geiste der Minnelyrik heißt (9360), wünscht Unterricht über Lynkeus' Redeweise in Reimstrophen, welche ihr als Griechin fremd klingen. Betörend vermischt sich ihr die poetische mit der erotischen Sphäre, wenn sie den ungewohnten Reim charakterisiert (9369 — 9371): Ein Ton scheint sich dem ändern zu bequemen, Und hat ein Wort zum Ohre sich gesellt, Ein andres kommt, dem ersten liebzukosen. | Faust, nunmehr in der Rolle des Poetik-Lehrers, ist sogleich bereit, die Wechselrede mit ihr zu „üben" (9375), und Helena erweist sich als gelehrige Schülerin in Dichtung und Liebe; durch sinnvolle Reime ergänzt sie Fausts werbende Halbverse (9381-9384): Faust: Helena: Faust: Helena:
Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück, Die Gegenwart allein — ist unser Glück. Schatz ist sie, Hochgewinn, Besitz und Pfand; Bestätigung, wer gibt sie? Meine Hand.
Der offenbare Sinn des poetischen Spieles ist die durch klangliche Übereinstimmung versinnlichte Harmonie der Liebenden, das durch Handschlag besiegelte Verlöbnis.42 | 41 42
Grumach 640, „Polygnots Gemälde". Vgl. Schadewaldt 168. Die Kommentare sprechen hier von ..Vereinigung', wenngleich nicht ohne moralische Bedenken gegen den Vorgang „im Freien", der durch „antikes Muster" nur dürftige Entschuldigung finden kann: so Schmidt 367. Ihm folgt Petsch 690, indem er „die bloß sinnlich-erotische Interpretation" des Vorganges durch den Chor damit einzuschränken sucht, daß er im nächsten Satz „eine mehr andeutende Behandlung auch des Geschlechtlichen" feststellt — als hätte Goethe nie die „Römischen Elegien" und die „Venetianischen Epigramme" geschrieben. Heinrich Rickert, Goethes Faust, Tübingen 1932,
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Wiederum gibt Goethe aber auch geheimen Sinn %u kosten". Schon vorher läßt er die Stimmung der historisch-poetischen Welt anklingen, in der sich die Reimerfindung angeblich vollzogen hat. In seinem 2weiten Lied hatte Lynkeus als Schatzsucher der Herrin Helena kostbare Edelsteine zu Füßen gelegt (9307-9310): Nun der Smaragd allein verdient, Daß er an deinem Herzen grünt. Nun schwanke zwischen Ohr und Mund Das Tropfenei aus Meeresgrund ... Die Edelstein-Symbolik erinnert den Leser des Divans an den Smaragd, der als „augerquicklich", und an die Perle, die als „Regentropfen Allahs" gepriesen werden.43 Doch wiederum handelt es sich nicht so sehr um eine
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374, zeigt sich dagegen sogar über die Einzelheiten der physiologischen Vorgänge unterrichtet: Euphorion „wurde von der Griechin empfangen, als sie von Faust die Kunst des Reimens erlernte"! Auch Trunz 591 spricht von „Hochzeit"; erst Beutler 805 findet die elegantere Lösung „einer geistigen Hochzeit, einer seelischen Einswerdung", nennt aber das folgende Chorlied ebenfalls einen ,Hymenaios'. Dieses Lied sollte jedoch ursprünglich an anderer Stelle eingerückt werden, wie Paralipomenon 99 (Beutler 586) zeigt, wahrscheinlich nach 9573. Darauf deutet die Bemerkung „Zelt statt des Throns", die in 9572 — „Zur Laube wandeln sich die Thronen" — und der folgenden szenischen Bemerkung ihre annähernde Entsprechung findet. Wenn man sich also überhaupt auf eine realzeitliche Fixierung der Bereinigung' von Faust und Helena einlassen will — was jedoch in diesem zeitverwirrenden Spiel wenig sinnvoll ist —, so am besten nach 9573, womit übrigens die antik-unverhüllte Darstellung des Liebesspieles auf offener Bühne (9401—9410) unbedenklicher wird und puritanische Skrupel sich beruhigen können. Richtig Rudolf Pannwitz (Anm. 24) 231: „Hier [in Arkadien] ... erfolgt die Vermählung." Helenas Handschlag versinnbildlicht jedenfalls erst das V e r l ö b n i s mit Faust. — Verfehlt scheint mir Kommerells Deutung (a.a.O. 62) der Reimerfindung als eines „Gesellschaftsspieles mit bouts rimes". Die Bemerkung stammt wohl aus der 1. Aufl. von Genevieve Bianquis, Faust a travers quatre siecles, Paris 1935; in der 2. Aufl., Paris 1955, 143: „... dans une scene de marivaudage un peu pedantesque, ils se renvoient gaiement la balle sonore des bouts-rimes." Die sonst so geistvolle Analyse Kommerells ist hier ein Opfer der ,barocken' Vorstellungsweise von einem „verweltlichten Mysterium" (31) geworden. Eher könnte man sich an Mozarts Vertonung des Duettes Don Giovanni-Zerlina erinnert fühlen, in dem die anfangs getrennten Melodien schließlich zusammentreffen, womit ebenfalls der Einklang der Seelen und Sinne symbolisiert wird. Auch hier handelt es sich um eine Art .Verlöbnis', dessen Entwicklung in ähnlicher Weise gestört wird wie Fausts und Helenas ersehnte Verbindung durch Phorkyas (9419 ff.). Daß die Parallele nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigt Goethes eigener Wunsch, Mozart hätte den „Faust" „im Charakter des ,Don Juan' ... komponieren müssen" (Graf 481, 12. II. 1829 zu Eckermann). Vgl. S. 196. Buch der Liebe: „Bedenklich"; Buch Suleika: „Hier nun dagegen ..."; „Hochbild"; Buch der Parabeln: „Vom Himmel sank ..."; „Die Perle ...". Vgl. „Wahlverwandtschaften" I 6, wo der Smaragd ebenfalls als wohltätig und heilkräftig fürs Auge gilt, überdies aber
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literarische Reminiszenz — hier fast schon in Gestalt eines Selbstzitates —, sondern eben um eine „leise Hindeutung' auf das alsbald folgende poetologische Motiv der Reimerfindung. Aus Hammer-Purgstalls Geschichte der schonen Rede-Künste Persiens, 1818, sowie aus anderen Quellen hatte Goethe erfahren, daß die persische Poetik einem Liebesgespräch zwischen dem Sassaniden-Herrscher Behramgur und seiner Geliebten Dilaram die Erfindung des Reimes zuschrieb. So war am 3. Mai 1818, ein knappes Jahrzehnt vor der ffe/ena-Szene, das Divan-Geaichi entstanden: B e h r a m g u r , sagt man, hat den Reim erfunden, Er sprach entzückt aus seiner Seele Drang; D i l a r a m schnell, die Freundin seiner Stunden, Erwiderte mit gleichem Wort und Klang ... Indem Goethe persische Dichtungslehre in die Helena aufnimmt, mehr noch: indem er dieses Motiv einen entscheidenden Fortschritt der Handlung bewirken läßt, huldigt er — wie zuvor durch Lynkeus' Mund der mittelalterlichen deutschen Lyrik — nun auch der persischen Dichtung durch das holde Reimspiel der Liebenden. Auf der poetologischen Ebene des Helena-Aktes evoziert die Reimerfindung beim wissenden Leser eine dritte Sternenstunde der Weltliteratur. | Auch das vierte poetologische Element, dessen sich Goethe alsbald bedienen wird, ist durch „leise Hindeutung" vorbereitet. Der Chor von Helenas Dienerinnen begleitet das „Schulter an Schulter, Knie an Knie, / Hand in Hand" (9403 f.) der Liebenden mit einem Liede, dessen Antistrophe lautet (9393-9400): Fraun, gewöhnt an Männerliebe, Wählerinnen sind sie nicht, Aber Kennerinnen. Und wie goldlockigen Hirten Vielleicht schwarzborstigen Faunen, Wie es bringt die Gelegenheit, Über die schwellenden Glieder Vollerteilen sie gleiches Recht. Die „goldlockigen Hirten" erinnern an den troischen Königssohn Paris. Nach der einen Sage hatte der „all^uschone Gast" (8861) Helena in Abwesenheit ihres Gatten Menelas betört und geraubt, nach dem homerischen zur menschlichen Schönheit in Beziehung gesetzt wird. Dies rechtfertigt seine Nennung an erster Stelle durch Lynkeus und ist mithin ebenfalls als geheime Huldigung vor Helena zu verstehen, während die Perle durch das beiden gemeinsame Element des Meeres mit Helena in Beziehung steht. — Zum folgenden vgl. auch Buch Hafis: „Nachbildung".
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und euripideischen Mythos sie als Hirt von Aphrodite für sein schmeichelhaftes Urteil zum Lohne erhalten.44 Den Hirten und ihrer Herde sind die Faune als erotische Flurdämonen „^ugestaltet" (9558); sie gehören in dieselbe poetische Welt, welche hier zum ersten Male in der Helena aufklingt: in das Reich der Bukolik. Doch bevor sich das pastorale Element auswirken kann, wird das Liebesduett zwischen Faust und Helena durch Menelas' Einmarsch mit Heeresmacht jäh unterbrochen. Als dämonisch rascher Sieger belehnt König Faust seine germanischen Herzöge mit den eroberten Ländern der Peloponnes, während Helena selbst das Land inmitten der „Nichtinsel" (9512) zum Geschenk erhält: jenes Land Arkadien, dessen Zauber alsbald zurückführt aus der heroischkriegerischen Episode zum hochzeitlichen Liebesidyll und zum seligen Frieden im Sehnsuchtstraume der Menschheit, dem Goldenen Zeitalter. Die reale Landschaft Arkadien ist kein „irdisches Elysium"', kein „ideales Schlaraffenland" und auch nicht die „schönste Landschaft" der Peloponnes; noch weniger war sie jemals „das landschaftliche Ideal der Antike", wie die /W-tf-Kommentare verlauten lassen.45 Der lebendige Anblick, die Landkarte und der Goethe bekannte griechische Geschichts-|schreiber Polybios,46 welcher selbst Arkader war und seine Heimat überaus liebte, bezeugen das Gegenteil. Nirgendwo grenzt die Landschaft ans Meer; sie konnte also am gewinnverheißenden Seehandel nicht teilnehmen. Auch lagen im armen Hirtenlande weder Großstädte noch bedeutende Siedlungen. Für griechische Verhältnisse ist das Klima rauh; karstige Gebirge, zum Teil hochalpinen Charakters, durchziehen Arkadien. Dies wußte Goethe aus seinen Handbüchern, Dodwell-Sicklers Klassischer und topographischer Reise durch Griechenland, 1821, und Gells Narrative of a journey in the Morea, 1823, die er exzerpiert hatte:47 „... auf seiner Berge Rücken / Das Zackenhaupt ... / Die Ziege nimmt genäschig kargen Teil" (9526 — 9529). Die Lokalgottheit hatte bukolische Züge und Funktionen: Pan, der Sohn des Herdengottes Apollon und einer Nymphe, war am Mainalos-Gebirge beheimatet und schützte die Herden vor Unwetter und Wolf. Und er spielte das kunstlose Instrument der Hirten, die Syrinx. Die musikalischen 44
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Goethe verfährt hier so wenig ,logisch' wie im ganzen „Faust II"; er kontaminiert die Sagen, wie das poetische Gesetz es gerade erfordert. Für Phorkyas' .Registerarie' (8860 f., 8868 f.) stützt er sich auf Hederichs „Gründliches mythologisches Lexikon" (Schmidt 362); jetzt ist ihm Paris in bukolischer Gestalt dienlich, und er bezieht sich auf Homers „Ilias" XXIV 28 — 30, besonders aber auf Euripides' „Andromache" 274 ff. und „Troerinnen" 924 ff. Schmidt 369, Trunz 591, Beutler 806. Dazu Petriconi (Anm. 53) 191, besonders Anm. 28. Grumach 845, Tagebücher 7. III. 1806. Schmidt 368 f.
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Wettkämpfe der Hirten waren es, die Polybios an seiner Heimat vor allem gepriesen und mit denen er Vergils Aufmerksamkeit auf Arkadien gelenkt hatte. Doch das reale Land hat Goethe natürlich gar nicht gemeint, als er sein Preislied auf Arkadien dichtete. Dieser Gipfel seiner Alterslyrik — neben der Marienbader Elegie — und das großartigste Zeugnis der Sublimierung der Weltliteratur-Idee zum Lyrischen und Symbolischen dankt seine wesentlichen Züge der gemeineuropäischen Verklärung Arkadiens zu einer geistigen Landschaft" .*% Der folgenreiche Vorgang hebt mit Vergils Jugenddichtung an. Einige seiner Eclogen sind in Arkadien lokalisiert, nicht mehr in Sizilien wie die Idyllen Theokrits, welche Vergil die Anregung zu seiner eigenen bukolischen Dichtung gegeben hatten. Seit Vergil gilt ,Arkadien' als Heimat der Hirten, der Liebe und der Dichtung schlechthin: ein Reich der Phantasie, nicht mehr in der Peloponnes gelegen, sondern im Lande Utopia, aber gerade darum von unübersehbarer Wirkung auf die Vorstellungskraft künftiger Dichter und Maler. Und in der vierten, der ,Messias-Ecloge', die vom gesamten Mittelalter als Weissagung auf die Geburt des Heilands verstanden wurde, hatte Vergil Arkadien mit dem Goldenen Zeitalter unlösbar verknüpft. Der Dichter wünscht sich (53 — 59), die Zeit des Heiles noch selbst erleben zu können; dann werde auch er, wenn Pan mit ihm einen Sängerwettstreit austrage und Arkadien sein sachkundiges Urteil spreche, den göttlichen Meister des Hirtengesanges besiegen, mit anderen Worten: dann — in der Erfüllung aller Zeiten — werde das irdische Lied dem himmlischen ebenbürtig sein. | Mit dem Humanismus tritt das ,poetische Ideogramm' Arkadien erneut ins Bewußtsein der Dichter; auf den Spuren der Klassiker und Dantes, Petrarcas, Boccaccios hat Sannazaro durch die Arcadia den Anstoß gegeben und Nachfolge in allen europäischen Zungen gefunden: von Frankreich und Spanien bis nach England und Deutschland. Das Rokoko und zum Teil noch unsere Klassik stehen im Zeichen dieser Tradition.49 Wie Goethes Schäferspiele beweisen, war auch ihm die arkadische Vorstellungswelt von Jugend auf vertraut. In diesem Sinne kann man noch die Arkadien-Szene in der Helena als „vergeistigtes Rokoko" bezeichnen.50 Schon 48
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Vgl. Bruno Snell, Arkadien — Die Entdeckung einer geistigen Landschaft, in: Die Entdeckung des Geistes, Hamburg 31955, 371-400. Vgl. Horst Rüdiger, Schiller und das Pastorale, in: Euphorien LIII (1959), 229-251. Reinhardt 278: „... a new spiritualized rococo ... The rococo worked within him as principle of form ... Last but not least it supplied him with music." Diese Charakterisierung scheint mir treffender als Kommerells „verweltlichtes Mysterium" (a.a.O. 31). Vgl. auch Schadewaldt 476, Anm. 91, wo mit Hinweis auf Reinhardts Analyse der Klassischen Walpurgisnacht gerade umgekehrt festgestellt wird, „das Geisterfest im
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über die Erstausgabe der Italienischen Reise hatte er — selbst Mitglied des zur Karikatur arkadischer Gesellschaftsideale erstarrten römischen Poetenkonventikels Arcadia — das Motto geschrieben: „Auch ich in Arkadien!" Es faßt die sehnsüchtige Erinnerung an die glücklichen Jahre im Süden in einer berühmten Chiffre zusammen — die Erinnerung an jenes Hochgefühl der Gegenwart und des Daseins, des seligen Wohlbehagens und der Gesundheit, das nun noch einmal im Bund von Faust und Helena aufleuchtet. Doch von rückschauender Erinnerung, von Sehnsucht und Resignation ist hier nicht mehr die Rede — im Gegenteil: „Vergangenheit sei hinter uns getan!" (9563). Wie schon das Liebesgespräch zwischen Faust und Helena, so ist auch der Arkadien-Hymnos ganz auf Dasein gestimmt — „Dasein ist Pflicht" (9418) —, auf Gegenwart, Geschichts- und Zeitlosigkeit, auf Genuß und Mitgenuß „in der Fülle der Zeiten".^ Faust fühlt sich hier und jetzt in Arkadien: „Hier ist das Wohlbehagen erblich" (9550) — „Das Land..., \ Nun meiner Königin gewonnen" (9514 bis 9516), und er beschwört das Bild dieses Landes und seiner Götter vor Helenas entzücktem Auge. Im Hochgenuß erfüllter Liebe lädt der spielende Lehrer der Poetik die Meister der europäischen Bukolik gleichsam zu Zeugen seines Glückes und spricht nun selbst als begnadeter Dichter. Er singt der neuen Heimat der vollkommenen menschlichen Gestalt, dem Lande der Hirten, der Liebe und der Dichtung, das heiterste Lied, das auf Arkadien jemals angestimmt worden ist. Wie Perlen sind die bukolischen Vorstellungen in diesem Hymnos ge-| reiht, verbunden durch sprachliche Fügungen seltenster Eigenart und Prägnanz, welche sich das »normale' grammatische Gefüge mit souveräner Kraft Untertan machen.52 Als einziger Forscher hat Hellmuth Petriconi das innere Gesetz des Preisliedes erkannt, ohne bei seiner anders gerichteten Fragestellung darauf einzugehen, daß Goethe nicht nur an dieser Stelle der Helena so verfährt: 53 „Der Dichter beruft sich ... auf andere Dichter, er bezieht deren Werke gewissermaßen in sein eigenes Werk ein und verleiht auf diese Weise dem Gesagten einen aus aller Vergangenheit vernehmbaren Widerhall. Freilich, um diese Anspielungen und damit die Dichtung selbst %u verstehen, mußte der Leser nicht nur die Namen Pan und Arkadien kennen, sondern da^u seinen
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Stile des Barock" verwandle sich mit dem Fortschreiten der Handlung „ins kultische Spiel, ins Mysterium". Graf 348, 350, 22. X. 1826 an W. v. Humboldt und S. Boisseree, nach Galater 4, 4 u. ö. Vgl. Werner Vordtriede, Zu Goethes Morphologie, in: Trivium VI 3 (1949), 222. Die verlorenen Paradiese, in: Romanistisches Jahrbuch X (1959), 189. Bei den folgenden Nachweisen halte ich mich eng an Petriconis Ergebnisse 190 f., erweitere sie jedoch um einige Merkmale.
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Vergil und T ässo im Kopf haben, und das durfte man noch im 18. Jahrhundert voraussetzen." Die Helena — wir wiederholen unsre These — ist von einem poeta d o c t u s für den Verstand des wissenden Lesers geschrieben, oder um eine oft wiederholte Äußerung Goethes aufzunehmen:54 Der Verstand hat sein Recht an dieser Hervorbringung der poetischen Vernunft und soll „etwas au/zuraten finden". Der Gegenstand des Wissens aber ist hier vornehmlich jener Komplex, dem der alte Goethe um die gleiche Zeit den Namen Weltliteratur" gegeben hat. Und das Wissen bezieht sich auch auf die dem Kenner der Pastoraldichtung vertraute Tatsache, daß die „leise Hindeutung' in Gestalt des mehr oder minder versteckten Zitates seit Vergil zu den konstituierenden Merkmalen der bukolischen Dichtung und Poetik gehört. Denn aller Pastoraldichtung ist jener typisch ,literarische' Gestus eigen, den der gelehrte Kallimachos, ein Zeitgenosse des ersten Bukolikers Theokrit, in die Maxime faßte, er wolle „nichts Unbe^eugtes singen" (Fr. 612 Pf.). Wir dürfen also annehmen, es sei auch die Absicht des ,Bukolikers' Goethe gewesen, seinen Hymnos auf Arkadien in den weltliterarischen Strom einzubetten, der seit Theokrit die poetischen Gefilde Europas durchzieht. Die bukolischen Evokationen sind in den folgenden Strophen konzentriert (9526-9542, 9546-9549, 9554-9573): Und duldet auch auf seiner Berge R ü c k e n Das Zackenhaupt der Sonne kalten Pfeil, Läßt nun der Fels sich angegrünt erblicken, Die Ziege nimmt genäschig kargen Teil. | Die Quelle springt, vereinigt stürzen Bäche, Und schon sind Schluchten, Hänge, M a t t e n grün. Auf hundert Hügeln unterbrochner Fläche Siehst W o l l e n h e r d e n ausgebreitet ziehn. Verteilt, vorsichtig abgemessen schreitet Gehörntes Rind hinan zum jähen Rand; Doch Obdach ist den sämtlichen bereitet, Zu hundert H ö h l e n wölbt sich Felsen wand. Pan schützt sie dort, und Lebensnymphen wohnen In b u s c h i g e r K l ü f t e feucht erfrischtem Raum, Und sehnsuchtsvoll nach höhern Regionen Erhebt sich zweighaft B a u m gedrängt an Baum. 54
Graf 391, 18. IV. 1827 zu August v. Goethe (bei Eckermann); 563, 4. I. 1831 an Zelter; 586, 20. VII. 1831 an H. Meyer; 591, 8. IX. 1831 an S. Boisseree; 598, 1. XII. 1831 an W. v. Humboldt; 600, um die gleiche Zeit zu Riemer.
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Alt-Wälder sind's! Die Eiche starret mächtig ... Und mütterlich im stillen Schattenkreise Quillt laue Milch b e r e i t für Kind und Lamm; Obst ist nicht weit, der Ebnen reife Speise, Und H o n i g t r i e f t vom ausgehöhlten Stamm... Und so e n t w i c k e l t sich am reinen Tage Zu V a t e r k r a f t das holde Kind. Wir staunen drob; noch immer bleibt die Frage: Ob's Götter, ob es Menschen sind? So war Apoll den H i r t e n zugestaltet, Daß ihm der schönsten einer glich: Denn wo Natur im reinen Kreise waltet, Ergreifen alle Welten sich. So ist es mir, so ist es dir gelungen; Vergangenheit sei hinter uns getan! O fühle dich vom h ö c h s t e n Gott e n t s p r u n g e n , Der ersten Welt gehörst du einzig an. N i c h t feste Burg soll dich umschreiben! Noch zirkt in ewiger Jugendkraft Für uns, zu wonnevollem Bleiben, A r k a d i e n in Spartas Nachbarschaft. Gelockt, auf sel'gem Grund zu wohnen, Du flüchtetest ins heiterste Geschick! Zur Laube wandeln sich die Thronen, A r k a d i s c h frei sei unser Glück! Bergrücken, Felsen, Quellen, Matten, Bäume, grünende Pflanzen und Höhlen als Obdach für die Tiere; Herden von Ziegen und Schafen; Arkadien, Pan, die Nymphen und Apollon — das alles sind gemeinbukolische | Vorstellungen, aber sie sind ausnahmslos in Vergils zehnter Ecloge versammelt.55 Und wenn die Nymphen in „buschigen Klüften" wohnen, so klingt diese Frage Vergils an die Najaden durch (Ed. X 9 f.): Quae nemora aut qui vos saltus habuere, puellae Naides? 55
9, 1t, 56: s a l t u s , iuga; 14, 57: r u p e s ; 41: Fontes ... p r a t a ; 8f., 42, 51, 53, 57, 62 u. ö.: s i l v a e , n e m o r a , a r b o r i b u s , l u c o s ; 73: v i r i d i s (... alnus); 51: spelaea f e r a r u m ; 7, 29, 76: capellae; 17, 67: ovis; 25: Pan d e u s A r c a d i a e ; 54: n y m p h i s ; 20: Apollo.
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In der Strophe über die Nahrung der Hirten sind Verse aus Vergils vierter Ecloge mit Ovids Schilderung des Goldenen Zeitalters kontaminiert. Die für das Kind bereite Milch erinnert sowohl an Vergils mit Milch genährten p u e r (18, 21 f.)56 wie an Ovids schlaraffenhafte Milchströme (Met. 1111), während das Obst für Vergils u v a (29) steht. Und eine regelrechte bukolische Zitatenfolge über die Jahrhunderte hinweg hat Petriconi in dem Bilde vom Honig erkannt, der aus den Bäumen fließt: Et durae quercus sudabant roscida mella (Vergil, Eel. IV 30); flavaque de viridi stillabant ilice mella (Ovid, Met. I 112); ... e stillo mele il bosco (Tasso, Aminta, Chor am Schluß des I. Aktes); Und Honig trieft vom ausgehöhlten Stamm (Goethe).57 Das zu Vaterkraft heranreifende „holde Kind" ist wiederum Vergils puer, den der Dichter anredet (37): „ubi iam firmata virum te fecerit aetas"', während das Staunen über das rasche Wachstum „am reinen Tage" auf Euphorions wunderbares Heranwachsen vordeutet. Die Frage aber, ob es Götter oder Menschen seien, die sich in Arkadien so heiter bewegen, ist aus Vergils Geiste gestellt: Ist doch Vergil der erste Dichter, der „Menschen der Gegenwart sich ernsthaft ^wischen göttlichen Wesen bewegen läßt" .^ Die geistesgeschichtlich sinnreichsten „Hindeutungen'1 finden sich in den drei letzten Strophen des Preisliedes. Bei der „ersten Welt", der Helena angehört, ist natürlich an Ovids Goldenes Zeitalter, die p r i m a ... aetas (Met. I 89), zu denken, die ihrerseits Hesiods „ "' (Erga 109) aufnimmt, 59 zumal der berühmten Formel sogleich ein weiteres abgewandeltes Bild nach Ovids Schilderung des Goldenen | Zeitalters folgt (9566 = Met. I 97). Wenn aber alsbald der Name Arkadien in Verbindung mit der Freiheit des Liebesgenusses fällt, so sind wiederum zwei poetische Vorstellungsbereiche miteinander verschmolzen: Das metaphorische Ideogramm irdischer Glückseligkeit geht auf Vergil, der Wunsch nach Liebesfreiheit auf den Schlußchor im ersten Akt von Tassos Hirtenspiel Aminta zurück. 60 Bei Sannazaro hatte der junge Tasso die 56
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Es ist also nicht richtig, daß die Milch „bei Vergil nicht genannt" werde: Petriconi 190. Vgl. Wilhelm Tischbeins Idyllen, in: Gedenkausg. XIII (Chr. Beutler), Zürich 1954, 894: „Milch und Obst nach ewger Weise / Bleibt der Alt- und Jungen Speise." Auf den Zusammenhang des Arkadien-Hymnos mit der 1821 entstandenen Beschreibung von Tischbeins Pastoralbild (Nr. VI) weist Trunz im Nachwort zu seiner Ausgabe hin: Wilhelm Tischbeins Idyllen, Hamburg o. J. [1949], 50, 52 f. Das Bild ebd. 17. Vergils Eichen kehren an einer anderen Stelle von Goethes Hymnos wieder: 9542. Snell (Anm. 48) 374. Petriconi (Anm. 53) 173. Ebd. 181 f.; für das folgende 179 f., 188.
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Idee aufgegriffen; nach dem Aminta hatte Goethe in seinem Tö-wo-Drama die Rede von der „goldnen Zeit" paraphrasiert und den entscheidenden Vers „S'ei piace, ei lice" wörtlich übernommen (II 1): „Erlaubt ist, was gefällt." Und nun verknüpfte er Tassos libertinistischen Wunschtraum mit Vergils Arkadien in seiner leise andeutenden, der Helena-Situation gemäßen Weise: „Arkadisch frei sei unser Glück!" Damit huldigte der Greis noch einmal dem Dichter, in dessen Leiden er als Mann seinen eigenen Seelenzwiespalt gespiegelt gesehen hatte. Doch während Tasso im Aminta wie in Goethes Drama ein v e r l o r e n e s Paradies beklagt, sind Fausts Energien ganz auf gegenwärtige E r f ü l l u n g seiner Liebe zu Helena gerichtet: Der in die graue Vorzeit verbannte Wunschtraum hat sich in „heiterstes Geschick" verwandelt, das Glück der Liebenden ist an die Stelle von Tassos Leiden getreten. Und vielleicht dürfen wir noch einen Schritt weiter gehen. Der zentrale Gedanke, die „erste Welt" mit dem Hirtenreich der Liebesfreiheit in Verbindung zu bringen, findet sich auch in Schillers Gedicht Die vier Weltalter. Dieses gesellige Lied, 1803 für Goethes Mittwochskränzchen gedichtet, übernimmt ebenfalls einige Bilder aus Ovids Schilderung des Goldenen Zeitalters fast wörtlich;61 aber wie Goethes Preislied unterscheidet es sich von Ovids Konzeption dort, wo es von den Hirten singt: „Sie liebten und taten weiter nichts mehr." Das sind — mit einer burschikosen Wendung, wie sie dem Gesellschaftslied angemessen ist — Tassos liebende Hirten aus dem Aminta.*32 So hat Goethe hier wohl auch eine Wendung Schillers spielerisch aufgegriffen, dem er für die kritische Teilnahme am Entstehen der He/ena-Szenen. so viel zu danken hatte. Die eigentümliche Form des beschwörenden ,Zitierens', dem Dichter seit der Arbeit am Divan geläufig, ist im Preislied auf Arkadien mit un-|erreichter Meisterschaft angewandt. Sie bedeutet keinesfalls einfache Übernahme oder gar ,Nachahmung' vorgeformter Themen, Bilder und Stilmittel. Vielmehr mußte die literarische Zwangsvorstellung des Klassizismus, die Imitation, erst überwunden sein, bevor auf höherer Stufe die schöpferische Rezeption beginnen konnte: jene innige Durchdringung 61
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Str. 6: „Erst regierte Saturnus schlicht und gerecht" = 113: „postquam Saturno (... in Tartara misso ...)"> und 90: „fidem rectumque colebat"; besonders: „Die Erde gab alles freiwillig her" — 102: „per se dabat omnia tellus". Nach Vergil (Eel. IV 6: redeunt Saturnia regna), Ovid und Schiller wäre denn wohl unter dem „höchsten Gott", dem sich Helena entsprungen fühlen soll (9564), nicht mehr ihr leiblicher Vater Zeus zu verstehen (denn dies ausdrücklich zu sagen, wäre wenig sinnvoll), vielmehr Saturn-Kronos, der Herrscher des Goldenen Zeitalters. Die „ersten Götter", also Kronos und Rhea-Ops, werden auch sonst in der „Helena" berufen: 9998, 8969 f., ferner in der Klassischen Walpurgisnacht: 7988 f.
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von Angeeignetem und Ureigenem, welche große Dichtung über den bloßen originellen Einfall erhebt. In diesem Sinne ist Goethes Faust und insonderheit der Arkadien-Hymnos nach Ernst Robert Curtius' schönem Wort63 in der Tat eine „Wiederbringung aller Dinge" (Apostelgeschichte 3, 21) im Weltprozeß der Literatur. Darin vor allem — und nicht nur in der symbolischen Vermählung von deutschem und griechischem Geist oder in der virtuosen Adaption der säkularen Formen des europäischen Theaters — besteht die „literarische Bedeutung", genauer: die poetische Sendung des Helena-Aktes:64 daß die Dichtung selbst zum dichterischen Ausdrucksmittel wird, daß sie, in ihren sublimsten historischen Erscheinungsweisen gleichsam mitdichtend, Subjekt und Objekt des poetischen Vorgangs zu gleicher Zeit ist, dem Verstand ein gefälliges Rätsel und der Vernunft ein tiefes Geheimnis. In der Gestalt des Euphorion, des Sohnes aus dem klassisch-romantischen Bunde von Faust und Helena, löst sich das Rätsel, das Geheimnis wird vom Dichter selbst enthüllt. „Der Euphorion ... ist kein menschliches, sondern nur ein allegorisches Wesen. Es ist in ihm die Poesie personifiziert, die an keine Zeit, an keinen Ort und an keine Person gebunden ist."65 Demselben Geist, der sich als Knabe Lenker im ersten Akt vorgestellt hatte (5573 — 5575): Bin die Verschwendung, bin die Poesie; Bin der Poet, der sich vollendet, Wenn er sein eigenst Gut verschwendet — diesem Geist „beliebt es" nun, „Euphorion %u sein ..., und er ist darin den Gespenstern ähnlich, die überall gegenwärtig sein und ^u jeder Stunde hervortreten können". In der Tat ist Goethe an keiner Stelle der Helena, ja des gesamten Faust so souverän mit den niederen Realitäten, mit den Mitteln der Bühne und der Illusionsfähigkeit seiner Zuschauer verfahren wie hier. Zwar hielt er fast eigensinnig an der Fiktion fest, er habe in der | Helena „die Einheit des Orts und der Handlung ... auch im gewöhnlichen Sinne aufs genaueste beobachtet", während der Leser die Zeiteinheit „im höbern Sinne" verstehen sollte;66 doch wir dürfen dieses Rückzugsgefecht des Klassizismus nicht 63 64
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Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, 196. Vgl. dagegen Bianquis (Anm. 42) 149. Richtig Benno v. Wiese, Die Utopie des Arkadischen bei Schiller, in: Zwischen Utopie und Wirklichkeit, Düsseldorf 1963, 84: „... Goethe gestaltet dabei im Vorgang des Dichtens zugleich das Geheimnis des Dichtens und der Dichtung selbst ..." Graf 524, 20. XII. 1829 zu Eckermann. Graf 348, 350, 22. X. 1826 an W. v. Humboldt und an S. Boisseree; dazu das Briefkonzept von 1826 bei Trunz 436.
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allzu ernst nehmen. In der Helena läuft die Zeit „phantasmagoriscb" ab; sie repräsentiert keine chronometrische, sondern eine illusionäre, durchaus poetische Wirklichkeit. Diese steht dem ,FestspieP, dem ,Mysterium', dem ,Märchenspier, der ,Zauberoper', dem ,Gesamtkunstwerk' oder welche Namen man sonst versucht hat, um das mit den üblichen literarischen Termini unbenennbare Spiel zu fassen, weit näher als der klassischen Tragödie. Mit Karl Reinhardt kann man das Verfahren Goethes als ,Ironie' bezeichnen und den Philologen empfehlen, nicht allzu viel von ihrem eigenen Ernst in die Helena hineinzulesen.67 Wichtig ist uns die Feststellung, daß sich die Ironie im überlegen spielenden Gebrauch konventioneller Formen äußert, also wiederum nicht frei schafft, sondern sich bewußt in die literarische Tradition eingliedert. Dies gilt zwar nicht allein für die Euphorion-Szenen, sondern für die ganze Helena: „Greek tragedy too is a convention, is something ,as if (,als ob'). And what a convention is grand opera!" Dennoch erscheint das ,ironische' Element in den Euphorion-Szenen in höchster Steigerung, so als wollte Goethe hier, wo die Poesie selbst Gestalt wird, durch die Distanzierung von aller niederen Realität und die souveräne Behandlung der literarischen Konventionen ihr Wesen ganz augenfällig werden lassen. Da ist zunächst das Spiel mit der Form des Melodramas.68 Die Reimerfindung und die Arkadien-Szene bilden den Übergang von der klassischen Tragödie. Dann greift Goethe auf das ,dramma per musica' der Florentiner Cammarata dei Bardi, auf Rinuccinis folgenreiche Erfindung der Oper zurück. Als eigentliches Vorbild ist ihm jedoch die MozartOper gegenwärtig; wie bei Mozart herrscht das vokale Element vor, begleitet von „einem reifenden, reinmelodischen Saitenspiel" (nach 9678); Ballett und Pantomime treten ergänzend hinzu. Welchen Wert Goethe auf die musikalische Szene der Helena legte, erhellt aus seinem merkwürdigen, im Sinne der Bühnenpraxis wie der Poetik gleich ,unrealistischen£ Vorschlag,69 die Rollen des Aktes, insbesondere die Heldin selbst, sollten im ersten Teil von Tragöden, im Melodrama von Sängern dargestellt wer-| den. Als Komponisten dachte er zunächst an Meyerbeer, weil dieser lange in Italien gelebt habe, „so daß er seine deutsche Natur mit der italienischen 67 68
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A.a.O. 280 f.; vgl. auch Kommerell 61 ff. 9679 — 9938. Vgl. Hermann Fähnrich, Goethes Musikanschauung in seiner Faust-Tragödie — die Erfüllung und Vollendung seiner Opernreform, in: Goethe N. F. XXV (1963), 250-263, besonders 259 ff.: Die Oper Helena. Graf 383, 25. I. 1827 zu Eckermann; ferner 481, 12. II. 1829, und 569, 21. II. 1831 zu demselben. Mühlher (Anm. 24) 25 bezieht den Vorschlag Goethes auf die klassischromantische Synthese.
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Art und Weise verbände", später hielt er gerade diesen Umstand für nachteilig und meinte, Mozart hätte den Faust „im Charakter des ,Don Juan' ... komponieren müssen", während Eckermann, ohne die Zustimmung des Meisters zu finden, Rossini als Komponisten vorschlug. Aus solchen Erwägungen wird deutlich, daß Goethe bei den melodramatischen Partien der Helena die traditionellen Formen der Oper stets gegenwärtig hatte und das Euphorion-Drama in eine große künstlerische Konvention eingegliedert wissen wollte. Es ist möglich, daß Goethe in der Gestalt Euphorions ursprünglich Mozart hatte huldigen wollen,70 wahrscheinlich, daß das Vorspiel auf dem Theater ursprünglich nicht für den Faust, sondern für den eigenen Versuch einer Fortsetzung der Zauberflöte bestimmt war, und mit Sicherheit weisen bestimmte Züge dieses Fragmentes auf den He/ena-Akt: „In der Gestalt des Genius, in den fabulösen Konstellationen, in die er verstrickt wird, liegen erste Keime %u dem Bilde des Euphorien.,"71 Doch so eng die Berührungen zwischen Euphorion und Mozart, zwischen der Helena und der Zauberflöte sein mögen — eines Tages, so erzählte Goethe Eckermann,72 „brachte mir die Zeit dieses mit Lord Byron und Missolunghi, und ich ließ gern alles Übrige fahren". Und als Eckermann sagte, | er habe recht daran getan, Lord Byron „in der ,Helena' das unsterbliche Denkmal der Liebe %u setzen" erläuterte 70
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Joseph Müller-Blattau, Der Zauberflöte Zweiter Teil — Ein Beitrag zum Thema Goethe und Mozart, in: Goethe N. F. XVIII (1956), 158-179, besonders 174. Der Verf. stützt sich vor allem auf Phorkyas' Worte 9625-9628. Oskar Seidlin, Goethes Zauberflöte, a.a.O. 51; ferner ebd. 56 — 64: Ist das „Vorspiel auf dem Theater" ein Vorspiel zum „Faust"? Graf 400 f., 5. VII. 1827. — Es ist nicht uninteressant, daß die öffentliche Meinung im Ausland, besonders in Italien, Byron bald an Goethes Seite stellte. So schrieb Mazzini in seinem Aufsatz „Byron et Goethe", 1839, in: Scritti, Ed. naz. XXI 232 (hier nach Vittorio Santoli, Riflessi italiani della cultura letteraria settentrionale, in: Fra Germania e Italia, Firenze 1962, 100; dazu Anm. 5): „Je ne sais pas si Goethe n'obtiendra pas, comme artiste, une plus grande part dans notre admiration; mais je sais, et je n'hesite pas a le dire, que Byron en obtiendra, comme homme et poete, une plus grande dans notre amour." Das Urteil erklärt sich natürlich aus Mazzinis politischem Engagement. Giovita Scalvini hielt Byrons „Kain" und „Manfred" sowie Goethes „Faust" für „le tre migliori produzioni della moderna poesia", während Guerrazzi Goethe zusammen mit Schiller, Shakespeare und Byron „Größe" zuerkannte. Aus all diesen Urteilen spricht die italienische Romantik, die selbst bei Carducci noch nachwirkt (Santoli a.a.O. 123 nach L. Tiberi und Enrico Thovez): „H forte poeta tedesco cercava e sentiva essenzialmente l'arte, non la passione. II Byron invece portava se stesso e la sua passione in tutto e qualche volta soverchiamente ..." Auch in Frankreich stellte man Byron neben Goethe (und Mickiewicz), so George Sand, worüber dann Herwegh in dem Aufsatz „Faust bei drei Nationen", 1839, berichtete (Nachdruck in: Meisterwerke deutscher Literaturkritik [H. Mayer], Berlin 1956, II l, 232-238, II 2, 87-91).
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Goethe, wie er es gemeint hatte: „Ich konnte als Repräsentanten der neuesten poetischen Zeit ... niemanden gebrauchen als ihn, der ohne Frage als das größte Talent des Jahrhunderts anzusehen ist. Und dann, Byron ist nicht antik und ist nicht romantisch, sondern er ist wie der gegenwärtige Tag selbst. Einen solchen mußte ich haben. Auch paßte er übrigens gan^ wegen seines unbefriedigten Naturells und seiner kriegerischen Tendenzen, woran er in Missolunghi ^ugrunde ging." Wenige Äußerungen Goethes lassen die Erhebung einer historischen Gestalt ins Allegorische so deutlich erkennen wie diese: Ein Besonderes tritt an die Stelle eines allgemeinen Begriffes, ein einzelner Dichter an die Stelle der Dichtung überhaupt, und dieses Allgemeine verwandelt sich in ein vieldeutiges Bild. Worauf es uns vor allem ankommt, ist dies: daß wiederum — und diesmal ganz ausdrücklich — eine kometenhaft aufleuchtende Erscheinung der Weltliteratur zum Gegenstand dichterischer Aussage wird und darüber hinaus die moderne Dichtung exemplarisch vertritt. Doch nicht das Werk Byrons wird hier zitierend beschworen, sondern sein durchaus ans Personale gebundener Genius. Gerade dieses personale Moment erscheint Goethe so wesentlich, daß er mehrmals bis an die Grenze des dramaturgisch Möglichen, bis zur Desillusionierung des Zuschauers zu gehen bereit ist. Nach Euphorions Ikarus-Sturz ,&laubt man in dem Toten eine bekannte Gestalt %u erblicken; doch das Körperliche verschwindet sogleich" (nach 9902). Und von dem folgenden Trauergesang (9907 — 9938) sagt Goethe selbst,73 der Chor falle „gan^ aus der Rolle; er ist früher und durchgehends antik gehalten oder verleugnet doch nie seine Mädchennatur, hier aber wird er mit einemmal ernst und hoch reflektierend und spricht Dinge aus, woran er nie gedacht hat und auch nie hat denken können". Goethe meint vornehmlich die beiden mittleren Strophen mit den verhüllten biographischen Hindeutungen auf Byrons Herkunft, Charakter und Schicksal. Damit hat der Dichter von den klassischen Formen ironischen Abstand gewonnen, aber auch von den ,barocken' und den ,romantischen', so wie sein literarischer Kronzeuge selbst „nicht antik und nicht romantisch" war, sondern „wie der gegenwärtige Tag selbst". Im poetologischen Geflecht des Helena-Akte.?, bedeutet dieses Wort, daß die große Dichtung aller Zeiten allgegenwärtig ist und sich jederzeit in lebendige Schönheit verwandeln kann — daß sich Wasser ballen wird, wenn des Dichters reine Hand es schöpft. | In Goethes Helena kristallisieren sich sechs weltliterarische Momente: die griechische Tragödie, der deutsche Minnesang, die persische Liebesdichtung, die europäische Pastorale, die italienisch-deutsche Oper, die 73
Graf 401.
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moderne englische Poesie. Durch die He/ena-Vetse. erklingen dem Wissenden die Verse des Euripides und Homers, Heinrichs von Morungen, Hafis', Tassos, Ovids, Vergils und Byrons wie gegenwärtig und neugeschaffen und unlöslich eingeschmolzen im Kernstück der Faust-Tragödie. Durch die poetische Gegenwart dieser Dichter steht die Helena nicht nur im deutsch-griechischen Spannungsfeld. Die sechs Elemente sind vielmehr Spiegelbilder der Idee, welche in Goethe seit der Begegnung mit der Dichtung des Ostens bereit lag und der er gleichzeitig mit dem Abschluß der Helena den Namen gab: Weltliteratur". Sie stehen in innerer Beziehung zueinander und begleiten das Drama von der Eroberung und vom Verlust der Schönheit kontrapunktisch als Drama der Kunst, in dem sich alle Welten geheimnisvoll ergreifen: die kreatürlich-elementare und die geistige, die heroische und die erotisch-idyllische, die hellenische und die germanische, die gegenwärtige, geschichtliche, vorgeschichtlich-arkadische und mythische, die göttliche, menschliche und dämonische, und nicht zuletzt die Weltliteratur und die Strahlungsbereiche der großen Liebesdichtung von Theokrit bis zu Goethe selbst.
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Die Metapher vom Herzen in der Literatur Das deutsche Wort „Herz", urverwandt mit einigen indogermanischen Wörtern gleicher Bedeutung, darunter dem griechischen , dem lateinischen „cor(d-em)" und seinen Ableitungen in den romanischen Sprachen — französisch „coeur", italienisch ,,c(u)or(e)", spanisch „corazon" —, zeichnet sich durch eine eigenwillige Deklination aus. Es hat seit althochdeutscher Zeit die Neigung, von der schwachen in die starke Klasse überzuwechseln (woraus sich die neuhochdeutsche Form „Herz" erklärt, die eigentlich „Herze" lauten müßte); im Genetiv des Singulars geht es in der Regel ein Kompromiß ein, indem es schwache und starke Bestandteile vermischt — „des Herzens" —, während der Dativ und alle Pluralformen heute nur mehr die schwachen Formen zeigen. Diese Eigenart ginge allein den Linguisten an, zeigte sich nicht bei zahlreichen Zusammensetzungen mit dem Bestimmungswort „Herz" ein Unterschied in der Bedeutung, welcher den metaphorischen und damit den poetischen Gebrauch des Wortes deutlich werden läßt. In Komposita wird das Körperorgan oft anders behandelt als der Sitz von Mut, Gefühlen, Empfindungen und des Lebens überhaupt. Wir sprechen vom „Herzbeutel", vom „Herzklopfen", von „Herzspezialisten" und „Herzverpflanzungen", anderseits aber von „Herzensbildung", „Herzensgüte", „Herzenswünschen"; wir gebrauchen nebeneinander „herzkrank" und „herzenskrank" und meinen das eine Mal eine physische Verfallserscheinung, das andere Mal jemanden, der psychisch „krank am Herzen" ist (und dazu vielleicht „arm am Beutel" wie Goethes „Schatzgräber"). Dabei ist bemerkenswert, daß die Zusammensetzungen mit der gemischten Form verhältnismäßig spät, nämlich im 15. Jahrhundert, auftreten, im 16. Jahrhundert an Raum gewinnen und vom 17. bis zum 19. Jahrhundert flutartig anschwellen: Ohne vollständig zu sein, zählt das Grimmsche Wörterbuch rund 180 solcher Zusammensetzungen auf. Offensichtlich haben im Bereich der deutschen Literatur zwei Bewegungen von höchster geistesgeschichtlicher Tragweite zusammengewirkt, um dieses Phänomen zu befördern: der Pietismus und die Empfindsamkeit. Wörter wie „Herzenszerknirschung", von Klinger gebraucht, „Herzensreinigkeit", wie es in Schillers „Jungfrau" heißt (V 7, v. 3277), „Herzensergießungen" im Titel von Wackenroders Buch über | den „kunstlieben-
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den Klosterbruder" können die Herkunft aus der religiösen oder empfindsamen Gefühlswelt nicht verleugnen. Die Vorliebe für diese Art von Zusammensetzungen überschritt manchmal sogar die sprachgesetzlichen Grenzen, so daß nun auch anatomische Erscheinungen durch Komposita mit „Herzens-" bezeichnet werden konnten: Brockes spricht von der „Herzenskammer" und meint den Ventriculus. Umgekehrt hat aber die Inflation an Herzensergüssen zum Überdruß geführt, besonders infolge der zahlreichen Kosewörter, die auf diese Weise gebildet wurden. Goethes „Herzchen! liebes Herzensherzchen / Was begehrst du, Herzensherzchen?" empfinden wir als sentimental, Goeckingks kochendes „Blut in allen Herzensröhren / Beim Feuer deiner Küsse" als unfreiwillig komisch, einen „Herzensdieb" als Roue aus Urgroßvaters Zeiten. Das moderne Deutsch hat die Herzensangelegenheiten schüchterner Internatstöchter zugunsten der Herzinsuffizienzen anscheinend robuster Manager zurückgedrängt und den Herztod an Stelle des Hinwelkens an Herzenskummer eintreten lassen. Auch den Poeten ist es nicht mehr fremd, daß das Herz „derjenige fleischige Theil in den thierischen Körpern" ist, „welcher einer umgekehrten Pyramide gleicht, zwischen den zwey Abtheilungen der Lunge fast mitten in der Brust lieget, und durch seine wechselweise Ausdehnung und Zusammenziehung, das Blut aus den Blutadern von allen Theilen des Leibes in seine Höhlen aufnimmt, und durch die Pulsadern wiederum ausstößet. Dadurch wird es zugleich das Werkzeug der natürlichen Wärme in den Menschen und Thieren, der Flüssigkeit des Geblütes und des Lebens." So definierte der tüchtige Sprachforscher Johann Christoph Adelung jenen Muskel, dessen vitale und psychische Funktionen das ältere Deutsch bei Zusammensetzungen weislich zu unterscheiden pflegte. Man wird kaum fehlgehen, wenn man in der modernen Dichtung aller Völker ähnliche Hemmungen gegen den metaphorisch-sentimentalen Gebrauch des Wortes „Herz" feststellt wie in der deutschen Sprache. Zum Mißtrauen haben nicht zuletzt die Schlager beigetragen. Seit man mit Robert Burns (und in Deutschland mit Freiligraths Übersetzung, 1835) sang „My heart's in the Highlands, / My heart is not here"; seit man (um 1820) trällerte „Du, du liegst mir im Herzen" oder „Mein Herz ist wie ein Bienenhaus" (Simrock, 1863); seit man sein „Herz in Heidelberg verloren" hatte und erst recht, seit es — gleichsam als Pharmakon gegen die Rührseligkeit — ein „Herz auf Taille" gibt (so lautete der Titel von Erich Kästners e/ster Gedichtsammlung, 1928), ist es schwierig geworden, der alten Metapher neuen poetischen Glanz zu | verleihen. Kein Publikum — und am wenigsten die Jugend, für die es bestimmt gewesen war — kann sich mehr für Edmondo De Amicis' Erfolgsbuch „Cuore"
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(1886) erwärmen, eine Sammlung von schulmeisterlich-sentimental-patriotischen Geschichten, die den Lesern „zu Herzen gehen" sollten und es unbegreiflicherweise auch taten. Ich gehe durch die Gärten der Gefühle, die tot sind, und bepflanze sie mit Witzen, dichtete hingegen Erich Kästner in den Jahren, als „Herz auf Taille" entstanden war. Hinter solchen Versen mag sich viel Gefühlswärme verbergen, welche, um überhaupt bestehen zu können, die Maske von Gleichgültigkeit, Kälte oder Zynismus aufsetzt; aber schwerlich kann ein Dichter heute noch „Herz" auf „Schmerz" „cceur" auf „douleur", „cuore" auf „dolore" reimen, ohne den poetischen Anstand zu verletzen — es sei denn, er möchte parodistische Wirkungen erzielen. Die Metapher vom Herzen als dem Sitz der Liebe gehört in der Regel zum abgesunkenen Gut unserer Literatur. Trotzdem hat sie eine glanzvolle Vergangenheit, und die großen Dichter aller europäischen Zungen sind nach Henry Thomas Buckle auch „the most accurate investigators of the Human mind" gewesen, „particularly Homer and Shakespeare". Indessen sind die Ursprünge jener Gefühlsmetapher weit älter als Homer, wenn auch für die europäische Dichtung nicht unmittelbar wirksam geworden. Die Ägypter kannten das Herz auf der Waage des Totenrichters und daher wohl auch die Sitte, dem Toten ein steinernes Herz, gleichsam als Ersatz für das „fleischerne", von deren Tausch auch der Prophet Hesekiel spricht (36, 26; vgl. auch 2. Kor. 3,3), in Gestalt eines Skarabäus mitzugeben: als Mahnung, vor dem Richter der Unterwelt hart zu bleiben, um nicht verdammt zu werden. Das Herz war für die Ägypter der Mittelpunkt aller geistigen Regungen, die Wohnung der Gottheit, der Sitz des Verstandes, aber auch des Willens und der Gefühle (Hellmut Brunner). Eine Haltung ist es vor allen anderen, welche die Phantasie der Nachwelt fasziniert hat: die Hartherzigkeit des Pharaos, der das altägyptische „Ideal des wie Stein gefestigten Menschenherzens" (Alfred Hermann) aufrechterhalten wollte. Er sah keinen Anlaß, den Gott der semitischen Fremdarbeiter in seinem Reich anzuerkennen und diese in ihr gelobtes Land ziehen zu lassen. Wie die Israeliten die Haltung des Herrschers verstanden, ist aus dem „Exodus" bekannt (ab 7, 3): Mehr als ein dutzendmal wird der war-|nende Satz variiert, Jahwe habe das Herz des Pharao „verstockt" oder „verhärtet", weil er sich Moses' Drohungen und die gottgesandten Plagen „nicht zu Herzen nahm" (7, 23); verblendet lief er in sein Unglück, bis seine Heeresmacht mit Mann und Roß und Wagen vernichtet war (um 1250). So lieferte Ägypten den Israeliten und durch deren Literatur den Christen das „Modell für
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die sprachliche Kennzeichnung menschlicher Starre ...: einer dem Stein entsprechenden Gefühllosigkeit vornehmlich gegenüber dem Heil, das Jahwe anbot". Es gehört zur Tragik des jüdischen Volkes, daß der Brief an die Hebräer seinerseits auf den 95. Psalm (v. 8) Bezug nimmt und die „heiligen Brüder" mehrfach ermahnt (3, 8: 15): „So verstocket eure Herzen nicht, wie in der Verbitterung geschah." Jesus selbst wirft den Pharisäern vor (Matthäus 19, 8; Markus 10, 5) — „ewers Hertzen hartigkeit", wie Luther übersetzt —: dieselbe Sünde also, welche die Zeitgenossen des Moses an ihrem Peiniger zu erkennen gemeint hatten — dieselbe auch, die wiederum den nachchristlichen Juden von den Christen als Verstocktheit vorgehalten wurde, wenn sie Jahwe treu blieben. So wird die Kritik an der angeblichen Taubheit gegenüber dem Ruf des einzigen und „richtigen" Gottes, die selbst zur Metapher von der „Herzensverhärtung" erstarrte, mit der jedem Bekehrungsdrang eigenen Unduldsamkeit auf die Nachkommen des Volkes angewandt, welches als erstes unter verstockter Gottesferne gelitten hatte. Aus diesen Umständen mag es sich erklären, daß die Herzmetaphern des Alten Testamentes auf die Weltliteratur weniger eingewirkt haben als die des Neuen Bundes. Selbstverständlich sind auch jene nicht ohne Anteil an der Prägung unserer Vorstellungswelt vom Seelenleben geblieben, so etwa der Anfang von Hannas Gebet (1. Samuel 2, 1; vgl. Joh. 16, 22; Ap. gesch. 2, 26): „Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn", dessen Spuren sich im Kirchenlied und in der weltlichen Literatur des 18. Jahrhunderts leicht verfolgen ließen. Doch war es vor allem das geistige und sprachliche Vermögen der Autoren des Neuen Testamentes, welche hebräische Formeln in die griechische Gemeinsprache übersetzten und mit der Sprache auch die rhetorisch überhöhte Ausdruckskunst der Griechen rezipierten, sie ihren Zielen anverwandelten und der Nachwelt in dieser Gestalt einprägten. Ein Passus aus Jesaja, wiederum über die Verhärtung der Herzen (6, 9 f.), erhält erst durch die Schüler der Rhetorik seine formelhafte Kraft (Matthäus 13, 14 f. = Ap. gesch. 28, 26 f.; vgl. die einfachere Formulierung bei Joh. 12, 40): „Mit den Ohren werdet ihr hören und werdet es nicht verstehen, und mit sehenden | Augen werdet ihr sehen und werdet es nicht vernehmen. Denn dieses Volkes Herz ist verstockt, und ihre Ohren hören übel, und ihre Augen schlummern, auf daß sie nicht dermaleinst mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren, daß ich ihnen hülfe." Hier sind Ohren, Augen und Herz in einen inneren Zusammenhang gestellt, der keinen Zweifel daran läßt, daß die Sinnesorgane zwar die Voraussetzung zum Verständnis bilden, daß aber das eigentliche Verstehen ( vcu) eine Leistung des Herzens ist. Wir werden sehen, auf welche Weise
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Shakespeare die hier vorgeformte Verbindung von Her2 und Auge seiner erotischen Lyrik dienstbar macht. — Ein weiterer berühmter Passus möge die rhetorische Kraft der Evangelisten belegen. Das Gebot der Gottesliebe lautet bei Moses (5, 6, 5f.): „... du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allem Vermögen. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen ..." Bei den Evangelisten fehlt der Nachsatz, der das Herz nochmals als Sitz der Erinnerung aufruft; dafür ist das Gemüt einbezogen, und vor allem: die Gottesliebe ist mit dem christlichen Gebot der Nächstenliebe, die jeden Menschen, auch den Feind des eigenen Volkes, einbezieht, in unmittelbare Verbindung gesetzt, am eindrucksvollsten bei Lukas (10, 27; vgl. Matthäus 22, 37; 39; Markus 12, 30 f.; 33): „Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte und deinen Nächsten als dich selbst." Auch die Seligpreisung der Bergpredigt (Matthäus 5, 8) übernimmt zunächst die Psalmenformel vom „reinen Herzen" (24, 4; 51, 12; 73, 1): „Selig sind, die reinen Herzens sind", gibt ihr aber durch den Nachsatz: „denn sie werden Gott schauen" jenen Ton der Verheißung, der Gläubige wie Ungläubige aufhorchen läßt. Zahlreiche weitere Herzmetaphern, heute oft zu Redensarten oder Sprichwörtern erstarrt, verdanken wir der bildfrohen Phantasie der Autoren des Neuen Testamentes und seinen Übersetzern ins Lateinische und in die Nationalsprachen. „Wes das Herz voll ist, des gehet der Mund über" (Matthäus 12, 34 = Lukas 6, 45); „Maria ... behielt ... diese Worte [der Hirten] und bewegte sie in ihrem Herzen" (Lukas 2, 19; ähnlich 2, 51); „Gott kennt eure Herzen" (Lukas 16, 15), denn er ist ein $, ein „aller hertzen Kündiger" (= Kundiger; Ap. gesch. l, 24; 15, 8). Die Wendung vom brennenden Herzen (Lukas 24, 32), in der religiösen Emblematik sehr beliebt, wird Goethe in säkularisierter Gestalt aufgreifen. Besonders reich an berühmten Herzmeta-|phern ist die Apostelgeschichte: „... sie ... lobten Gott mit Freuden und einfältigem Herzen" (2, 46; vgl. Epheser 6, 5); „... ein Herz und eine Seele" (4, 32); der Purpurhändlerin Lydia „tat der Herr das Herz auf (16, 14); „Was macht ihr, daß ihr weinet und brechet mir mein Herz?" (21, 13), u. a. Auch der Römerbrief ist eine Fundgrube für Herzmetaphern, besonders der Anfang des 10. Kapitels (1; 6; 8 — 10). Die wiederholte Aufforderung des Paulus an die Epheser (5, 19) und an die Kolosser (3, 16) hat den Christen die Pflicht eingeprägt, den Herrn „im Herzen" durch Lobgesänge zu feiern; eben darum sind unsere geistlichen Lieder so reich an Herzmetaphern: „Wach auf, mein Herz, und singe / Dem Schöpfer aller Dinge ..." (Paul Gerhardt). Eines der großartigsten Worte des Paulus, der Segen im Brief an die Philipper (4, 7), den Goethe in der Marienbader „Elegie" in
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fast blasphemischem Aufbegehren zitiert (v. 73 f.), ist ebenfalls an die Vorstellung vom Herzen gebunden, welches, zugleich mit den Sinnen, durch den Glauben vor dem Unheil der Welt geschützt bleibt: „Und der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christo Jesu." Wie weit sich die Vorstellungsweise im Neuen Testament vom Herzen als Körperorgan entfernen und das Abstraktionsvermögen des Hörers in Anspruch nehmen kann, zeigen einige Wendungen, die das Herz gleichsam als selbständiges Organ, ja — ähnlich wie die Ägypter — geradezu als eigenes Wesen auffassen. Während die Offenbarung (2, 23) das Bild des Psalmisten (7, 10) und des Jeremias (17, 10) aufnimmt, Gott prüfe „Herzen und Nieren" wie ein guter Arzt, taucht im Römerbrief (2, 29) das kühne Bild von der „Beschneidung des Herzens" auf, die „im Geist und nicht im Buchstaben" geschehe. Gerade damit ist zwar angedeutet, daß es sich um eine metaphorische Sprechweise handelt; doch der rationale Nachvollzug der Vorstellungskette ist schwierig, weil zwei anschauliche Glieder (Beschneidung — Buchstabe) zwei abstrakt gemeinten (Herz — Geist) zugeordnet sind und wir jedes einzelne gleichsam in den rationalen Zusammenhang übersetzen müssen, um den religiösen Sinn zu verstehen. Weniger schockierend, wenngleich nicht weniger kühn wirkt die Mahnung des Petrus (2, l, 19), die Gläubigen möchten auf das verheißende Wort achten „als auf ein Licht, das da scheinet in einem dunkeln Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen". Auf die Nachwelt aber hat das eindringliche Bild aus dem apokryphen Gebet des sogenannten Königs Manasse am stärksten gewirkt, dessen Verfasser wahrscheinlich ein hellenistischer Jude war: „Et nunc flecto genu cordis mei, precans a te bonitatem" (Und nun | beuge ich das Knie meines Herzens und erflehe dein Wohlwollen). Das Bild ist in die Schriften der Kirchenväter, in die Liturgie und in die mittelalterliche lateinische Dichtung eingegangen. Petrarca übernimmt es in seinen „Canzoniere" (336, v. 63), wenn er die Jungfrau Maria um Geleit und Richtung seines Weges bittet „con le ginocchia de la mente inchine"; in dieser Gestalt wurde es den Petrarkisten geläufig. Noch Winckelmann zitiert den Vers in einem italienisch geschriebenen Brief (Nr. 391 Rehm), um einer Bitte Nachdruck zu verleihen; Kleist übersendet Goethe das Fragment der „Penthesilea" „auf den ,Knieen meines Herzens'" (24. Januar 1808), und er verwendet das Bild nochmals in der Schlußszene des Trauerspieles selbst (v. 2799 ff.), als die Amazonenfürstin ihrer verstörten Königin begegnet: O du, Vor der mein Herz auf Knieen niederfällt, Wie rührst du mich!
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Doch die Geste innigster Devotion vermag den Lauf des Schicksals nicht zu ändern. Auch für die Tragödie der Penthesilea gilt das Wort des Propheten Jeremia (17, 9): „Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding — wer kann es ergründen?" So viel die griechische Rhetorik auch beigetragen haben mag, den kühnen und teilweise manieristisch überspitzten Herzmetaphern des Neuen Testamentes jene Gestalt zu geben, welche sich den vom Christentum überformten Kulturen unvergeßlich eingeprägt hat, so wenig scheinen die Herzmetaphern der griechisch-römischen Dichtung die modernen Literaturen befruchtet zu haben. Wohl stehen Herz und Knie auch bei Homer in enger Verbindung, wenn sich einem Helden aus Angst „Knie und liebes Herz lösen" (Ilias XXI 114), und vielleicht ist der Ausdruck im Gebet des Manasse sogar durch die Erinnerung an solche Wendungen bestimmt, wie sie ja auch Horaz kennt, wenn seine Chloe beim Rascheln der Eidechse im Laub „et corde et genibus tremit" (an Herz und Knien zittert; Carm. I 23, 8). Doch dem Bild liegt nicht der Gebetsgestus zugrunde, sondern die physische Erfahrung der Angst, die sich auch im deutschen Sprichwort äußert: „Das Herz lag mir inn Knien" (Sebastian Franck, 1541). Denn für Homer ist das Herz zunächst der Sitz der Tapferkeit bzw. der Angst (zum Beispiel Ilias X 93 f., 244; XII 247; XVI 266; XXI 547); wenn es versagt, „werden die Knie weich". Aber es wird auch als leidendes und tätiges Organ verstanden, mit dem sich der Mensch | im genauen Sinne „auseinander-setzen" muß, wenn es seine eigenen Wege gehen und dem Willen nicht mehr gehorchen möchte. An einer berühmten Stelle, dem „am weitesten entwickelten Selbstgespräch bei Homer" (Bruno Snell; Odyssee XX 13 — 24), ist Odysseus als Bettler unerkannt heimgekehrt, hat sich in der Vorhalle seines Hauses das Nachtlager bereitet und muß nun untätig zuschauen, wie sich Freier und Mägde miteinander vergnügen: „Da bellte ihm das Herz im Innern. So wie eine Hündin, ihre hiflosen Jungen umkreisend, einen Mann anbellt, den sie nicht kennt, und ihn anfallen möchte, so bellte es in seinem Innern, empört über die Schandtaten. Da schlug er an die Brust und schalt das Herz mit den Worten: ,Dulde, Herz! Hündischeres hast du einst schon erduldet, an jenem Tage, als mir der Kyklop, unbändig vor Wut, auffraß die trefflichen Gefährten. Du aber harrtest aus, bis kluge Überlegung dich führte aus der Höhle, als du schon glaubtest, du müßtest sterben.' So sprach er und fuhr sein liebes Herz in der Brust an, und das Herz blieb ihm ganz gehorsam und duldete standhaft. Aber er selbst wälzte sich hin und her." Das Gespräch und die Situation, in die es gestellt ist, lassen das Herz wiederum als Organ der Kraft zum tapferen Ausharren, aber auch der zornigen Leidenschaft erkennen, und zwar durchaus im
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physischen Sinne — etwa so, wie die Füße das „Organ" des Laufens sind. Das hängt damit zusammen, daß bei Homer „der substantielle Körper des Menschen nicht als Einheit, sondern als Vielheit begriffen wird", als „Addition einzelner Teile", wie sie sich auch an den summierenden Menschendarstellungen der frühgriechischen Kunst zeigt (Bruno Snell). Trotzdem steht dem Herzen eine übergeordnete organisierende Kraft, ein „Selbst" ( ) gegenüber, und insofern kann man nur bedingt von einem „Monolog" sprechen; es manifestiert sich als Befehlszentrale, und das aufbegehrende Herz gehorcht ihm. Die Leidenschaft, die mit dem „Selbst" durchzugehen bereit war, wird von der „Zentrale" gesteuert. Dies geschieht durch mahnende Erinnerung an eine frühere ähnliche Situation, welche mit Hilfe von „kluger Überlegung" ( ) gemeistert wurde. Das Organ steht in einem Abhängigkeitsverhältnis von der „Person" (wenn es erlaubt ist, diesen Begriff der modernen Psychologie mit allem Vorbehalt hier anzuwenden): Es hat zwar den Trieb zum autonomen Handeln und könnte damit die vorausschauenden Pläne der „Person" durchkreuzen; indem es aber einem planvollen Vorgehen untergeordnet wird, bleibt der überlegene „Wille" Herr der Situation. — Winckelmann, einer der unbeirrbarsten Verfolger seiner Ziele, war | durch diese HomerStelle fasziniert. Schon als armer Schulmeister hatte er sich den Vers „Dulde, Herz ..." ausgeschrieben; bis zum Ende blieb er eines seiner Leit- und Losungsworte, und er zitierte ihn wiederholt in seinen Briefen (Nr. 532, 673 Rehm). Es war eines jener „Gleichnisse", die er „aus dem Homerus betete", wenn das Leben ihm übel mitspielte und seine leidenschaftliche Freiheitsliebe ihn — wie er sich lutherisch ausdrückt — zum „Murren" wider das Schicksal veranlassen wollte. Die Bändigung des „bellenden" Herzens gehört zu den großen Metaphern der griechischen Dichtung. Den Funktionen, die wir dem Herzen zuzuschreiben pflegen, entspricht bei den Griechen der Thymos, eine unkörperlich gedachte und daher nicht fest lokalisierbare „Regung" oder „Erregung" im Herzmuskel oder im Zwerchfell. Von der eben angeführten Homer-Stelle angeregt, führt Archilochos (um 700—650) mit seinem Thymos ein Gespräch (67 a Diehl): Er sucht ihm Mut einzuflößen, der — anders als bei Homer — nicht aus der Erinnerung an eine einmalige frühere Situation hervorgehen soll, sondern aus der Erkenntnis des „Rhythmos", des Auf und Nieder im Menschenleben: Wen heute Unheil trifft, der darf annehmen, daß das Schicksal ihm ein andermal gewogen sein wird. In ihrem Gebet an Aphrodite um die Zuneigung eines Mädchens nennt Sappho (um 600) dreimal den Thymos: Zu Beginn bittet die Dichterin, die Göttin möge ihr Herz nicht durch Kummer bedrücken; die Göttin fragt lächelnd, was
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sich das verwirrte Herz der Betenden denn wünsche, und am Ende spricht diese den Wunsch aus, Aphrodite möge gewähren, was ihr Herz begehre (ähnlich 25, 3 f. Diehl). Wo Sappho hingegen das Wort , Herz als Körperorgan, gebraucht wie in der 2. Ode, meint sie den Sitz eifersüchtigen Erschreckens — so wie Archilochos den Sitz der Tapferkeit meint, wenn er einen im Kampf standfesten Soldaten einen Mann „voll Herz" nennt (60 Diehl). Wenig ergiebig im Hinblick auf die Herzmetapher ist die klassische lateinische Dichtung. „Gefühl", „Gemüt", „Humor" — Eigenschaften oder Stimmungen, die das Bürgertum des 19. und 20. Jahrhunderts mit einem „goldenen Herzen" zu verbinden pflegt —, sind der lateinischen Dichtung fremd. Zwar kennt schon Plautus das Kosewort „cor meum"; aber das Herz ist in der Regel das Körperorgan, ohne das kein Lebewesen existieren kann (Cicero), sodann der Sitz des Verstandes und der heftigen Seelenregungen. Doch um diese zu bezeichnen, stehen dem Römer auch andere Wörter zur Verfügung: „pectus", „animus", daneben „mens", „sensus" und später „anima". Immerhin konnte man | Leidenschaften und Gefühle auch im Herzen lokalisieren, und daraus ergab sich die Möglichkeit, die biblischen Herzmetaphern in der Vulgata genau wiederzugeben: „Beati mundo corde quoniam ipsi Deum videbunt" (Matthäus 5, 8). Das Herz als das intellektuelle und seelische Zentralorgan der Israeliten und der Apostel gewinnt also einerseits durch die lateinischen Bibelübersetzungen, anderseits durch die von der Bibel ausgehende theologische Spekulation des Mittelalters eine Bedeutung, welche ihm durch die Rezeption von Dichtung oder Prosa in klassischem Latein nie hätte zufallen können. Den eigentlichen Umschlagplatz für die „Philosophie des Herzens" bilden die Schriften des Augustinus; bei ihm ist das Herz die Kraft, aus der Gedanken entstehen, das Organ, welches die Gnade Gottes empfängt, das geheime, dem Auge und Ohr des Mitmenschen verschlossene (Conf. X 3, 4), Gott allein zugängliche Zentrum der religiösen Persönlichkeit, in dem sich das Drama des Christen vom Sündenfall über die Begnadung bis zur Erlösung abspielt. Von Augustinus vor allem gehen die weiteren theologischen Spekulationen über die Glaubensfunktion des Herzens aus und schließlich in die volkssprachlichen Literaturen über. Es ist bezeichnend, daß die Herzmetapher in den vorchristlichen Zeugnissen in altnordischer, altenglischer und althochdeutscher Sprache noch keine Rolle spielt, während sie sich nach der Christianisierung rasch verbreitet (Xenja von Ertzdorff). In der geistlichen Literatur des vorhöfischen Mittelalters wird sie freilich sparsam verwendet. Doch gleich in der Vorrede zur ersten bedeutenden christlichen Dichtung in lateinischer Sprache, der „Psychomachia"
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des Spaniers Prudentius Clemens (um 400), die den Kampf der Seele gegen die Laster episch besingt, ist vom Opfer der liebsten Dinge die Rede, welche der Opfernde „freudigen Herzens" darbringen soll (v. 6 — 8), während „ein streitbarer Geist die zahlreichen Ungeheuer besiegen soll, denen das Herz dient" (v. 13 f.). Im Verlauf der Dichtung kämpfen Concordia, die personifizierte „Einherzigkeh", und Discordia, die „Zwieherzigkeit" mit dem Dolch der Verstellung im Gewände (v. 689), bis zur Vernichtung des Lasters. — Vor allem aber wird das Herz in einigen der schönsten Hymnen des frühen und hohen Mittelalters an hervorragender Stelle genannt. Der Mainzer Erzbischof Hrabanus Maurus (f 856), mit dem Ehrentitel „praeceptor Germaniae" bedacht, singt in dem ihm wohl mit Recht zugeschriebenen Pfingsthymnus „Veni Creator Spiritus": Accende lumen sensibus, infunde amorem cordibus ... | Neben anderen Dichtern haben Luther und Angelus Silesius den Hymnus übersetzt; Goethe gibt die Verse frei wieder: Den Sinnen zünde Lichter an, Dem Herzen frohe Mutigkeit ... In der Totensequenz des Franziskaners Thomas von Celano aus den Abruzzen (f 1253), „Dies irae, dies illa ...", die Mozart in seinem „Requiem" vertont hat und Goethe in der Domszene des „Faust" anklingen läßt, betet der Gläubige aus Furcht vor dem Jüngsten Gericht: Oro supplex et acclinis, cor contritum quasi cinis: Gere curam mei finis Kniefällig und zerknirscht bete ich, das Herz zerrieben wie Asche: Trage Sorge für mein Ende Und in seinem Abendmahlshymnus singt ein anderer Italiener, der Dominikaner Thomas von Aquino (f 1274): Recedant vetera nova sint omnia, corda, voces et opera Vergehen soll das Alte, erneuern sollen sich alle Dinge: die Herzen, die Stimmen und die Werke Das Herz als Gefäß der göttlichen Liebe, das vor Todesangst „zerriebene" und das im Glauben erneute Herz — drei Aspekte der theologischen Spekulation, die in Augustinus ihren eigentlichen Vater hat und in der
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erotischen Dichtung der volkssprachlichen Literaturen mit neuem Gehalt erfüllt wird. Die entscheidende Wendung vollzieht sich um die Mitte des 12. Jahrhunderts. Während in der religiösen Literatur deutscher und französischer Zunge von der „Ergriffenheit des Herzens durch die göttliche Gnade und Liebe" gesprochen wird, ist zur gleichen Zeit in der jungen höfischen Lyrik und im höfischen Roman erstmals von der „Ergriffenheit des Herzens durch die Liebe zu einer Frau und von der Anwesenheit des Herzens bei ihr" die Rede (Xenja von Ertzdorff). Das Herz wird also einerseits in Besitz genommen durch eine von außen andringende Kraft, anderseits stellt es sich als beweglich dar und kann von einer anderen Person Besitz ergreifen. Ovid, der im Mittelalter als Liebesdichter par excellence gilt, hilft den neuen, sehnsüchtig-leidenschaftlichen Ton dieser Vorstellung stimmen. Doch das Herz als Wohnung der Geliebten und das Herz, das bei der Geliebten weilt, ist ohne seine zentrale Stel-|lung in der israelitisch-christlich-patristischen Tradition nicht denkbar. Man könnte von einem frühen Säkularisationsvorgang sprechen, wie er sich mit gleicher Intensität erst im 18. Jahrhundert wiederholt. Bei Jaufre Rudel, dem provenzalischen Troubadour (kurz vor der Mitte des 12. Jahrhunderts), finden sich die frühesten lyrischen Belege, im französischen „Eneas"-Roman (wenig später) die ältesten Zeugnisse der epischen Gattung. Die deutschen und die italienischen Minnesänger und Epiker übernahmen das Bild, es wurde zum Topos und sank zum Klischee ab — kaum eine andere Metapher der Weltliteratur hat sich so rasch, so dauerhaft, man kann auch sagen: in so penetranter Weise durchgesetzt wie die vom Herzen als Sitz der Liebe. Darum ist es unmöglich, den wuchernden Gebrauch der Metapher durch die europäischen Literaturen zu verfolgen; auch würde der Aufwand die Mühe kaum lohnen, weil immer nur wenige Dichter dem Zwang der Konventionen zu entgehen und die Kraft originaler Gestaltung zu entfalten vermögen. Eine Auswahl repräsentativer Zeugnisse muß für die fehlenden mitsprechen und die Wendungen erkennen lassen, die der Strom in seinem weiteren Verlaufe nimmt. Schon die namenlos überlieferten Verse aus der beginnenden Liebeslyrik in deutscher Sprache lassen das Eindringen des Bildes vom liebenden Herzen erkennen. Eine Nonne aus Tegernsee schreibt dem Freunde am Schluß eines lateinischen Liebesbriefes (MF 3, 1—6; 12. Jahrhundert): Du bist min, ich bin din: des solt du gewis sin. du bist beslozzen
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in minem herzen: verlorn ist daz slüzzelin: du muost immer drinne sin. Die Einfalt der Verse darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Bild vom Herzensschlüssel ein beliebter Topos der Minnelyrik ist. — Mit Herzmetaphern läßt auch der vorhöfische Kürenberger zwei seiner Frauenstrophen einsetzen (MF 8, 25; 9, 13): „Ez hat mir an dem herzen vil dicke we getan" (... sehr weh getan); „Ez gat mir vonme herzen daz ich geweine" (Ich muß von Herzen weinen). Bei Friedrich von Hausen, dem Gefolgsmann zweier staufischer Kaiser (f 1190 auf einem Kreuzzug,) dringen mit provenzalischer Formkunst auch provenzalische Themen in die deutsche Lyrik ein. Bezeichnend | ist das nach einem Motiv von Conon de Bethune gedichtete Lied „Min herze und min lip diu wellent scheiden" (Mein Herz und mein Leib wollen sich trennen; MF 47, 9 — 32). Der Leib will auf der Kreuzfahrt gegen die Heiden kämpfen, während das Herz einer Frau erwählt hat. Das edle Motiv der Fahrt hätte ihn eigentlich von allem Leid befreien sollen, meint der Dichter; aber die Treue zur Geliebten verbietet dem Herzen, ihn zu begleiten. Da er es nicht umstimmen kann, betet er um guten Empfang des Herzens. Doch das Lied endet mit der bangen Frage, wie es dem „armen" Herzen allein wohl ergehen werde, da ihm niemand beistehen könne. Es gehört zu den Merkmalen dieser Lyrik, daß der Dichter seinen inneren Zwiespalt dramatisch vergegenwärtigt, indem er die Pflichten, zwischen denen er wählen muß, auf zwei allegorische Wesen mit entgegengesetzten Interessen verteilt. Aus einem künstlerischen Erfordernis entsteht also die Vorstellung des von seinem Leib getrennten Herzens. Dabei kann der Dichter nicht verhindern, daß das, was er zunächst als sehnlichen Wunsch des Leibes darstellt („der lip wil gerne vehten ..." = fechten), im Laufe des Gedichtes in den Hintergrund gedrängt, ja geradezu verdrängt wird und die Gedanken allein um die Herzensneigung kreisen. Die Trennung, ja Spaltung des Ich wird unvermeidlich; der Ausgang kann nur tragisch sein: nicht weil der Leib von Gefahr und Tod bedroht wäre, sondern weil der Mensch ohne Herz kein „lebendic man" sein wird. Die Kasuistik der Liebe hat eine Konfliktsituation erfunden, die zur Aporie führt, indem sie den Menschen als Totalität in Frage stellt. Überhaupt ist neben der Freude auch die Trauer des Herzens eine Haltung, die den Minnesang charakterisiert. Heinrich von Veldekes Herz ist traurig, weil der Winter naht (MF 59, 15 ff.). Albrecht von Johannsdorf weiß zwar, daß durch Liebe „dem herzen herzeliep [= Herzensfreude] geschiht", aber er weiß nicht, zu
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welchem Ende die Liebe führen wird, und überläßt es der Herrin, ob sie ihn erfreuen oder sein „herze leides vol" machen will (MF 91, 25; 21). Heinrich von Morungen klagt, daß ihm Blicke, die Leid bereiten, und schwerer Kummer „das herze und den lip nach verlorn" haben (Herz und Leib fast zugrunde gerichtet; MF 133, 13 f.); die Ferne der Geliebten wirkt auf sein Herz wie Wasser auf heiße Glut (MF 126, 26 f.). Bitter klingt die Klage dort, wo der Dichter seine eigene Person, die körperliche Erscheinung der Geliebten und die Leidenschaft, die ihn an sie bindet, als Ursachen seiner Trauer zusammenwirken läßt (MF 134, 6 — 8): | Min herze ir schone und diu Minne haben gesworn zuo ein ander, des ich wene, üf miner fröuden tot. zwiu haben diu driu mich einen dar zuo üz erkorn? Walther von der Vogelweide, der seine Geliebte mit „herzeliebez frouwelin" (von Herzen geliebte kleine Herrin; 62 Maurer) anredet, findet dann eine pathetische Formel der Klage, die trotz der anaphorisch überhöhten Darbietung die Sympathien des Hörers weckt, weil der Dichter ein literarisches Versteck- und Rätselspiel treibt (88 Maurer): Mines herzen tiefiu wunde diu muoz iemer offen sten, si enküsse mich mit friundes munde. Mines herzen tiefiu wunde diu muoz iemer offen sten, si enheiles üf und üz von gründe. Mines herzen tiefiu wunde diu muoz iemer offen sten, sin werde heil von Hiltegunde Die Burgundenprinzessin Hiltgunt ist im lateinischen Epos die Verlobte eines anderen Walther, aus dessen Namen der Hörer auf den Namen des Dichters zurückschließen soll. Graziöser läßt sich das Leiden an unerfüllter Liebe nicht aussprechen, deutlicher aber auch nicht zeigen, wie die Herzenswunde zum literarischen Gestus wird, dessen künstlerische Darbietung mindestens so viel gilt wie das Leiden, welches die Wunde geschlagen hat. Der große Dialektiker von „herzeliep" (Herzensfreude) und „herzeleit" ist Gottfried von Straßburg. Allein in den 244 Versen des „Tristan"Prologes wird das Herz fast dreißigmal genannt, mehrmals in unmittelbar aufeinanderfolgenden Versen (v. 47-49; 87f.; 109f.; 116-118; 185f.; 194, 196 f., 200; 213 f., 216; 232 f. Ranke). Auf diese Weise entsteht eine Art Schürzung im Gewebe der Herzmetaphern, welche die antithetisch
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zugespitzten Formeln des Prologes leitmotivartig begleiten. Viermal beruft der Dichter die „edelen herzen" (v. 47, 170, 216, 233), deren „brot" das „senemsere" (Liebesroman) von Tristan und Isolde ist: Menschen, die fähig sind, die Spannung der Liebe zwischen Lust und Leid, Süße und Bitternis, sehnendem Begehren im irdischen Leben und mystischer Vereinigung im Tode so nachzuvollziehen, wie | sie der Dichter am Schicksal seines liebenden Paares darstellt. Der „Tristan" ist das erste Werk der nachantiken Literatur, das den Eros als absoluten Wert und den Menschen als seinen gefügigen Diener versteht. Das „Herz" ist zu einer Macht geworden wie in keiner früheren Dichtung der Weltliteratur, zumal der Dichter bestrebt ist, die Auffassung der Liebe bei seinen Vorgängern zu verklären und zu vergeistigen. „Herz" meint bei Gottfried nicht allein und nicht zuerst den Sitz einer Leidenschaft, die keine Hemmungen kennt und sich keiner sozialen Sittenordnung fügt, sondern das Zentrum derjenigen Kraft, welche die Welt in Bewegung gesetzt hat und in Bewegung hält. So hat Konrad von Würzburg, Gottfrieds bedeutendster Nachfolger, das Epos verstanden. Ein halbes Jahrhundert nach dem „Tristan" (um 1260), als die „edelen herzen" rar zu werden und zu verrohen begannen, beschwor er in seiner kleinen Verserzählung „Herzmaere" nochmals den Zauber der hohen Minne. Die Geschichte vom Herzen ist die Umdichtung eines ursprünglich indischen Wandermotivs, das bereits französische Dichter bearbeitet hatten. Sie erzählt das Schicksal eines Ritters, der eine Pilgerfahrt ins Heilige Land unternimmt, um die Eifersucht des Gatten seiner Dame zu beschwichtigen. Dort stirbt er an gebrochenem Herzen. Vor seinem Tode hat er dem Knappen aufgetragen, sein Herz einzubalsamieren und der Geliebten als Zeichen der Treue zu überbringen. Der Gatte entdeckt das Kästchen und läßt der Dame das Herz als Speise zubereiten. Als sie den Betrug erfahren hat, stirbt sie ebenfalls den Herzenstod. — Wie im „Tristan" sind ein Ritter und seine Geliebte die Märtyrer der Minne; wie im „Tristan" versinnbildlicht ein Außenstehender — hier der Gatte — die den Liebenden feindliche Gewalt, wenngleich der schuldlos-schuldige Betrug des Paares an Marke hier durch die Grausamkeit des rechtmäßigen „Besitzers" der Dame gemildert erscheint. Das Herz, bei Gottfried geistvoll umspieltes und in vielfachen Spiegelungen — zum Dichter, zur Dichtung, zum Leser, zu den Liebenden, zur Liebe — schillerndes Symbol, gewinnt bei Konrad den Charakter eines sakralen Gegenstandes, dessen Genuß die künftige Aufnahme aller irdischen Speise verbietet: Es ist zum Sinnbild jener Liebe geworden, die nur im Tode Erfüllung finden kann.
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Der Zug zum Exaltierten, der in Gottfrieds Epos unter dem musikalischen Wohllaut faszinierender Verse verdeckt bleibt, bricht in Konrads „Herzmaere" durch. Er läßt die Reaktion auf die Überspanntheiten der höfischen Minnespekulation verständlich erscheinen. Der Tannhäuser (Mitte des 13. Jahrhunderts) war sich dessen offenbar bewußt, wenn er unter | den zahlreichen Fremdwörtern der höfischen Modesprache parodistisch auch das Wort „cor" gebraucht, daneben aber vom Herzen redet, dem seine Dame Wunden geschlagen habe. Oswald von Wolkenstein (f 1445), der hier stellvertretend für den verspäteten Ausklang des Minnesangs und für das dämmernde Bewußtsein eines neuen Zeitalters stehen mag, kommt in den originellen wie in den konventionellen Liebesliedern ohne die Herzmetaphern nicht mehr aus. Die Herrin ist sein „herzlieb" (10; 33; 35 Schatz); er reimt unbefangen „herzen" auf „smerzen" (12; 35 Schatz), er kennt auch den Dreireim „herz — smerz — scherz" (73 Schatz). In seinem Lied von den Sklaven der Minne, zu denen er neben Heiligen, armen Sündern und dem großen Aristoteles nicht ohne Eitelkeit sich selbst zählt, philosophiert er mit der Galle des Betrogenen: Ain schön, pös weib ist ain gezierter strick, ain spiess des herzen, ain valscher freund, der äugen want, ain lust truglicher smerzen — die literarische Rache eines Mannes, dem die Heimtücke seiner früheren Geliebten bis zur Folter mitgespielt hatte, dessen erotisches Temperament ihm jedoch verbot, die Konsequenzen des kompromißlosen Misogynen zu ziehen. Den „edelen herzen" Gottfrieds entspricht das „cor gentil" der italienischen Sänger des Dolce stil novo. Dante, der dem neuen Stil den Namen gegeben hat und sein unbestrittener Meister ist, bringt das Wesen dieser Kunst auf eine knappe Formel (Purg. XXIV 57, 52-54): Wenn Liebe ihn inspiriere, gebe er genau acht und schicke sich an, das Vernommene so niederzuschreiben, wie sie es ihm im Innern („dentro") vorspreche. In der „Vita nova" sagt er (XXIV 4), er habe den Eindruck gewonnen, als hätte Liebe im Herzen („nel cuore") zu ihm gesprochen. Dante erhebt also den Anspruch, er habe im Gegensatz zu seinen Vorgängern die innigste Übereinstimmung von Empfindung und künstlerischem Ausdruck erreicht, wobei Amor als Lehrmeister ihm das rechte Wort selbst in die Feder diktiert habe. Das Katheder des inspirierenden Genius aber ist das Herz, dessen der Bologneser Richter Guido Guinizelli (f um 1276), von Dante mit dem Ehrentitel eines „Vaters" der neuen Dichtung in
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der Volkssprache ausgezeichnet (Purg. XXVI 97 f.), in der berühmten Kanzone gedenkt, die bis heute als Mustertext des Dolce Stil novo gilt: | AI cor gentil rempaira sempre amore come l'ausello in selva a la verdura; ne fe' amor antiche gentil core, ne gentil core anti ch'amor, natura ... Ins edle Herz zieht immer Liebe sich zurück wie in den Wald ein Vogel unters Grün: Weder hat Natur Liebe vor dem edlen Herzen erschaffen noch das edle Herz vor der Liebe ... Noch fünfmal wird das „cor gentil" in der Kanzone berufen: als Heimat der Liebe, die dem Herzen in Wahlverwandtschaft verbunden ist „wie Diamant dem Erz"; als Gefäß, in das die Herrin die Empfindung der Liebe gießt; als Sitz des natürlichen Adels im Gegensatz zum „gemeinen" Blutsadel der Herkunft. Die Herrin aber übernimmt für das edle Herz die Funktion der Mittlerin zum Seelenheil; darum kann der Liebende nach seinem Tode auf Gottes vorwurfsvolle Frage, wie er ihn zum Gleichnis seiner Herrin habe wählen können, die kühne Antwort erteilen: „Sie hatte die Züge eines Engels aus deinem Reich; es war keine Sünde, sie zu lieben." Die „donna angelicata", die Frau als engelhaftes Wesen ist das Sinnbild der Verschmelzung irdischer und himmlischer Liebe, die sich nur im edlen Herzen vollziehen kann: Adel des Herzens, nicht der Geburt (darin besteht der neue gesellschaftliche Ansatz dieser vom Bürgertum getragenen Dichtung) ist die Voraussetzung für die rechte Liebe zur Herrin und mithin für den Weg zum Himmel. Die Metapher vom edlen Herzen ist den italienischen Dichtern unauslöschlich eingeprägt geblieben. Petrarca gibt ihr jene Wendung zum Schwermütig-Verzweifelten, zum Untröstlich-Mitleidheischenden, die den europäischen Petrarkismus kennzeichnen wird. Das Eingangssonett zum „Canzoniere", im Grunde eine Palinodie der Leidenschaften, die in den folgenden Versen besungen sind, schlägt die Stimmung an, von der sich die italienische Lyrik lange Zeit nicht hat lösen können (Rime 1): Voi ch'ascoltate in rime sparse il suono di quei sospiri ond'io nudriva core in sul mio primo giovenile errore, quand'era in parte altr'uom da quel ch'i' sono, del vario Stile in ch'io piango e ragiono fra le vane speranze e'l van dolore, ove sia chi per prova intenda amore, spero trovar pietä, non ehe perdono ...
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Ihr, die ihr in verstreuten Versen den Ton jener Seufzer vernehmt, mit denen ich das Herz nährte in meinem frühen jugendlichen Wahn, da ich ein andrer war, als ich jetzt bin —, in mannigfachem Stil zwischen eitlem Hoffen und eitlem Schmerz weinend und räsonierend: wenn jemand lebt, der Liebe aus Erfahrung kennt, so hoffe ich, Mitleid zu finden, nicht nur Nachsicht ... Wie eherne Klammern schließen „core" und „amore" die Zustände ein, welche der Dichter rückblickend als bedenkliche Folgen der Lei-|denschaft erkennt: „errore" und „dolore". Als Liebender, so heißt es weiter, sei er zum Gespött der Welt geworden; er empfinde Scham und Reue und müsse nun erkennen, „ehe quanto piace al mondo e breve sogno" (daß, was der Welt gefällt, ein kurzer Traum ist). Auch Dante hatte in einem seiner Sonette den Seufzer seines Herzens „über die Sphären hinaus"dringen lassen; doch von dort brachte er dem „leidenden Herzen" die Gewißheit der transzendenten Gegenwart Beatrices ins irdische Leben zurück. Petrarca empfindet die Eitelkeit der Welt drückender, und wenn die Geliebte „der Tiefe des Herzens, dessen Schlüssel sie mit sich in den Himmel nahm, schwere Seufzer entlockte" (Rime 310), so bleibt das Herz selbst dieser Welt verhaftet und ein gebrechlich Ding: Es weckt im Dichter schwermütige Sehnsucht nach jenem Reich, wo irdische und himmlische Liebe eins geworden sind; doch ohne das Geleit der Geliebten vermag es den erahnten Weg nicht zu beschreiten. Bei aller Verschiedenheit der Temperamente und äußeren Umstände setzt auch die große Liebesdichtung der Renaissance, selbst die aus Frauenmund — Vittoria Colonna, Gaspara Stampa —, diesen Weg fort: „Herz" ist die stereotype Metapher für den geläuterten Trieb. Die späteren italienischen Lyriker haben dem „cor gentil" nichts Gleichwertiges an die Seite zu stellen. In barocker Lust am Widerspruch zur adligen Gesinnung der mittelalterlichen Dichter machen sie es zum Sitz der Perfidie oder lassen es die Gluten und die Lüsternheit der Sinne schmecken. Für Guarini gehört der Mann der vergänglichen Welt an, während die Frau paradoxerweise die Reiche der Ewigkeit, jedoch im Kosmos der Erotik repräsentiert: „II volto e Paradiso, e cor l'Inferno" (Ihr Antlitz ist das Paradies, ihr Herz die Hölle). Bei Marino hält die Geliebte Amor, den neckischen Sohn der Venus, im Arme — „a te le mamme ed a me sugge il core" (dir saugt er an den Brüsten und mir am Herzen). Metastasio aber, der bedeutendste unter den Dichtern der Arcadia, trifft in seinen Kanzonetten und Melodramen jenen schmachtenden
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Ton, der die Gesellschaft des Rokoko und ihn selbst zu Tränen hinriß. Die Eingangs- und die Schlußstrophe seiner Frühlingskanzonette (1719) enden mit der Metapher vom ruhelosen und vom Trost suchenden Herzen, das sich in unheilbarem Zwiespalt mit der erwachenden Natur sieht: Tornan le frondi agli alberi, l'erbette al prato tornano: Sol non ritorna a me La pace del mio cor ... Es sprießt das Laub wieder an den Bäumen, die Gräslein auf der Wiese sprießen wieder — nur mir kehrt der Friede nicht ins Herze ein ... | S'e tuo piacer, gradiscimi; Se cosi vuoi, disprezzami: O pietosa, o crudel, Sei l'alma del mio cor Gefällt es dir, so nimm mit mir vorlieb; ist es dein Wille, so verachte mich: O Mitleidvolle, o Grausame, du bist die Seele meines Herzens Was in Metastasios Versen schon den geschäftigen Routinier verrät, sinkt in den Melodramen des 19. Jahrhunderts zur jederzeit griffbereiten Floskel ab: Das schmachtende und das gebrochene Herz gehört zum eisernen Klischeebestand jener Librettisten, deren Einfallslosigkeit nur durch ihre Trivialität übertroffen wird. Verdis Libretti sind Fundgruben solcher Banalitäten; ein durch den musikalischen Ausdruck berühmter Passus mag für Dutzende stehen (Antonio Ghislanzoni: „Aida" I l, Schlußarie der Titelheldin): Ah! non fu in terra mai Da piu crudeli angosce un core affranto ... Amor fatal — tremendo amor, Spezzami il cor — fammi morir! Ach, auf Erden ward nie ein Herz von grausameren Schmerzen zerrissen ... Unselige Liebe — furchtbare Liebe, zerbrich mir das Herz — laß mich sterben! Seit der Frührenaissance war das Interesse am menschlichen Körper und an den Funktionen seiner Organe erwacht. Der Bologneser Arzt Mondino
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de' Luzzi zergliederte zu Anfang des 14. Jahrhunderts öffentlich zwei Leichen und schrieb das erste Lehrbuch der Anatomie. In seiner „Anatomie of the Bodie of Man" (1548 und 1577) leitet Thomas Vicary den Ursprung alles Lebens vom Herzen ab, „Lord and King of al members"; ihm haben die Glieder dienstbar zu sein wie die Untertanen dem König, der sie am Leben erhält. Weit ausführlicher und im Hinblick auf die monarchische Regierungsform auch kritischer äußert sich John Davies of Hereford in seinem „Microcosmos — The Discovery of the Little World, with the Government thereof (1603) über die Funktionen des Herzens. „Mit unvergleichlicher Kunst" habe Gott das Herz inmitten der Brust aufgehängt wie die Erde im Zentrum des Alls. Daraus leitet der Dichter die Pflicht des Herzens ab, niemals vom mittleren Pfad der Tugend abzuweichen und die Stürme der Affekte und des Willens aufrecht zu bestehen. Vor allem aber bietet ihm die Herzallegorese Gelegenheit zu moralischen Belehrungen für die Herrschenden. Trotz der vitalen Bedeutung, die dem Herzen im Haushalt des Körpers zukommt, ist es nämlich keineswegs unabhängig von den anderen Organen, was die Könige veranlassen sollte, kein Tyrannenregiment zu führen, „but, like good Hartes, life's-pow'r | to exercise" (sondern wie gute Herzen die Macht im Interesse des Lebens auszuüben). Besonders vor den Affekten haben sich die Herrscher zu hüten, weil Gefahr besteht, daß die Leidenschaften über die Kunst des Regierens den Sieg davontragen könnten. Solche Worte lassen im Zeitalter des Absolutismus aufhorchen, und sie wurden wohl nur geduldet, weil die politische Meinungsäußerung aus anatomisch-physiologischen Lehrsätzen abgeleitet war und auf diese Weise gesichert schien. Eine Generation später, unter dem vom Gottesgnadentum des Herrschers fest überzeugten Karl L, tritt die politische Allegorese zugunsten allgemein moralischer Lehren zurück, die aus dem anatomisch-physiologischen Befund gezogen werden. In Phineas Fletchers Epos „The Purple Island" (1633), das den menschlichen Körper meint, sind dem Herzen 13 Strophen gewidmet (IV 14—26). „Kerdia" liegt als Regierungszentrum in der Mitte des Inselreiches; von der Person des Herrschers ist nicht die Rede. Die Stadt ist von Mauern und Wassergräben umringt; der konstanten Bewegung des Himmels vergleichbar, wird sie von sanften Wogen getragen: Hence most here plant the seat of sure and active loving Daher lokalisiert man hier meist die zuverlässige und tätige Liebe.
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Wie Mauern und Wasser offenbar das Pericardium und den Liquor pericardii meinen, so geben die folgenden Strophen eine sehr detaillierte Anatomie und Physiologie des Herzens in allegorischem Gewände, wobei auch mythologische Gestalten zur Verdeutlichung herangezogen werden; Fletcher vergleicht etwa die Taschenklappen mit drei schönen Nymphen aus dem Gefolge der Diana, welche den für die ganze „Insel" bestimmten Blutstrom regeln. In nüchternen Marginalien wird der poetische Text auf seinen wissenschaftlichen Gehalt reduziert: Der Leser soll unterhalten und zugleich belehrt werden. Obwohl Fletcher über erstaunlich exakte anatomische Kenntnisse verfügt, ist das Herz für ihn nicht nur die Quelle des Lebens und der Körperwärme, sondern auch ihrer „attendants, passions untam'd" (Begleiter, der zügellosen Leidenschaften), deren rebellische Regungen durch „kühle Lüfte" gedämpft werden, damit nicht die ganze Insel in Flammen aufgehe. Darum schließt Fletcher seine poetische Anatomie mit einer Warnung vor der Sünde des stolzen Herzens ab: | Heav'n blasts high towers, stoops to a low-rooft cell; First heav'n must dwell in man, then man in heav'n shall dwell Der Himmel bringt hohe Türme zu Fall, läßt sich herab zu einer Zelle mit niedrigem Dach; erst muß der Himmel im Menschen wohnen, dann wird der Mensch im Himmel wohnen Frei von der moralisierenden Haltung des Lehrgedichtes halten sich die graziösen Herzmetaphern in Sir Philip Sidneys Schäferroman „Arcadia" (1590). Charita hat mit ihrem Geliebten das Herz getauscht, weil ihr Anblick ihn verwundet hatte und seine Wunde in ihr brannte (III 45 ff.): There never was a better bargaine driv'ne. His hart in me, keepes me and him in one, My hart in him, his thoughtes and senses guides; He loves my hart, for once it was his owne, I cherish his, because in me it bides ... Both equall hurt, in this change sought our blisse: My true love hath my hart and I have his Kein beßrer Handel wurde je abgeschlossen. Sein Herz in mir verbindet mich mit ihm zu einem Wesen, mein Herz in ihm leitet sein Denken und seine Sinne;
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er liebt mein Herz, denn einst war es sein eigen; ich sorge für das seine, weil es in mir weilt ... Beide gleichermaßen verwundet, suchten wir in diesem Tausch unsre Seligkeit: Mein treuer Geliebter hat mein Herz, und ich habe das seine In immer neuen Wendungen, die auch den kommerziellen und den physiologischen Aspekt anklingen lassen, variiert der Dichter das Bild vom Herzenstausch und erzielt auf diese Weise den Eindruck der unauflöslichen Zweieinigkeit der Liebenden. Die Tatsache, daß das Herz bei den Dichtern der elisabethanischen Epoche vor allem als Sitz der Leidenschaften gilt, begünstigt die Verwendung der Herzmetaphern bei Shakespeare, dem Meister der Gestaltung menschlicher Leidenschaften. Im „König Lear" (V 3, 196—199) berichtet Edgar, wie er sich, selbst in Lumpen gehüllt und den Wahnsinnigen spielend, dem vertriebenen Vater zu erkennen gegeben hat: ... but his flaw'd heart — Alack, too weak the conflict to support — 'Twixt two extremes of passion, joy and grief, Burst smilingly. Doch sein zerspaltenes Herz — ach, schon zu schwach, Den Kampf noch auszuhalten zwischen Schmerz und Freud' — im Übermaß der Leidenschaft Brach lächelnd. Deutsch von Scblegel-Tieck
Dem im Streit der Empfindungen zerrissenen Herzen des alten Gloster | schließen sich zahlreiche weitere Herzmetaphern aus Shakespeares Dramen an; zu den eindrucksvollsten gehören diejenigen, in denen der Dichter die Möglichkeit eines Klangspieles benutzt, das die englische Sprache nahelegt. Königin Elisabeth wirft Richard sein „stone-hard heart" vor, an dem er das Messer gewetzt habe, um ihre Kinder abzuschlachten („König Richard III." IV 4, 228 f.); Richard Plantagenets Sohn ruft dem Sieger über seinen Vater vor der Schlacht zu („König Heinrich VI.", 3. Teil, II l, 201-203): Then, Clifford, were thy heart as hard as steel, As thou hast shown it flinty by thy deeds, I come to pierce it, or to give thee mine. Nun, Clifford, war' dein Herz so hart als Stahl, Wie deine Taten steinern es gezeigt, Ich will's durchbohren oder meins dir geben.
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Das traditionelle stein- oder stahlharte Herz übertrumpft York — vielleicht in Erinnerung an König Richard I. (j· 1199), dessen Tapferkeit seine Landsleute durch den Beinamen „Löwenherz" ehrten — in seiner großen Schmährede gegen die Königin Margaretha (ebd. I 4, 137): O, tiger's heart wrapped in a woman's hide! O Tigerherz, in Weiberhaut gesteckt! Es war wohl dieser Vers, der Schiller das Bild der zu Hyänen gewordenen Weiber der Französischen Revolution inspirierte („Das Lied von der Glocke", v. 369 f.): Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen, Zerreißen sie des Feindes Herz. — Am tiefsinnigsten sind die Herzmetaphern in Shakespeares Sonetten ausgebildet. Wenn man der Anordnung dieser Gedichte zu einem innerlich sinnvollen Zyklus folgt, wie Sir Denis Bray sie wahrscheinlich gemacht hat, so ergeben sich bestimmte Schürzungen der Herzsonette zu Gruppen, wie wir sie bei einzelnen Versen von Gottfrieds „Tristan"-Prolog in anderer Weise beobachten konnten. Die erste Gruppe bilden die Sonette 28 — 30 (Q 24, 46, 47 nach traditioneller Zählung der Quarto-Ausgabe). Der Dichter stellt sich als Künstler dar, der auf seines Herzens Tafel die geliebten Züge des lichten Jünglings eingraviert hat; der Leib bildet den Rahmen. Die Augen des Künstlers haben die Formen des Freundes gezeichnet; dessen Augen wiederum dienen dem Künstler als Fenster in der Brust, um die schöne Gestalt zu bewundern. | Yet eyes this cunning want to grace their art: They draw but what they see, know not the heart. Doch fehlt dem Auge höchster Kunst Gewinn: Es malt nur Schein, kennt nicht des Herzens Sinn. Deutsch von Rolf-Dietrich Keil
Daß das Auge das Bild des geliebten Wesens dem Herzen übermittelt, ist eine Vorstellung, die sich unter anderem in Sidneys „Arcadia" findet, wo das Herz des Mannes vom Anblick des Mädchens verwundet wird; sie geht wohl zuletzt auf die Stellen im Matthäus-Evangelium (13, 14 f.) oder in der Apostelgeschichte (28, 26 f.) zurück, an denen Auge und Ohr dem Herzen zum rechten Glauben verhelfen. Die manieristische Vorstellung von den Augenfenstern in der Brust stammt aus dem Umkreis der religiösen Emblematik, welche sehende Herzen gern darstellt. Der originale Ansatz Shakespeares besteht jedoch nicht in der Säkularisierung eines ursprünglich religiösen Bildes, sondern in der Zuspitzung des Gedankens
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von der ursprünglichen Harmonie der Augenpaare im wechselseitigen Dienst — Now see what good turns eyes for eyes have done Nun schau, wie Augen Augen dienlich sei'n — zur leisen Entfremdung von Auge und Herz im Künstler selbst; sie schließt zugleich das Geständnis ein, daß es dem Künstler versagt blieb, durch sein Auge und seine Tätigkeit die Distanz vom Herzen des Freundes zu überwinden. Den Konflikt stellt das folgende Sonett in Form eines Rechtsstreites dar. Es geht um die Frage, ob das Herz als Kläger oder das Auge als Beklagter mehr Anrecht auf den Freund haben: My heart doth plead that thou in him dost lie, A closet never pierc'd with crystal eyes; But the defendant doth that plea deny, And says in him thy fair appearance lies. Mein Herz bezeugt, du lägst in seinem Haus, dort dringe nie kristallnes Auge ein; Doch der Beklagte schlägt dies Zeugnis aus Und sagt, in ihm nur lag dein schöner Schein. Das Herz vertritt also den Anspruch auf ungeteilten Besitz des geliebten Wesens, das Auge auf die schöne Erscheinung (dies meint „appearance" hier), die die Regungen des Herzens geweckt hat und am Leben hält. Den Spruch fällen die Gedanken, die alle zur „Herzpartei" gehören, aber weder Platoniker noch Petrarkisten sind, welche in der Erscheinung nur Schein, Täuschung, Schatten von Ideen erkennen. Darum können die Richter nur ein Urteil sprechen, das keine der beiden gleichberechtigten Parteien verletzt: | As thus: mine eye's due is thine outward part, And my heart's right thine inward love of heart. Und zwar: daß meinem Äug dein Äußeres blieb', Dem Herzen deines Herzens innre Lieb'. Der Schiedsspruch bereitet die Versöhnung von Herz und Auge, das Thema des nächsten Sonetts, vor. Beide haben nun ein Bündnis geschlossen und stehen einander bei: When that mine eye is famish'd for a look, Or heart in love with sighs himself doth smother. Ob nun mein Äug nach einem Blicke schmacht', Ob Herz in Liebe sich mit Seufzern bändigt.
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Das Herz nimmt an den Sinnenfreuden des Auges, dieses am Gedenken der Liebe teil. So allein ist der Freund dem Freunde allgegenwärtig, Liebe nur dadurch lebendig, daß sie auf platonisierende Vergeistigung verzichtet und den ganzen Menschen in Anspruch nimmt. Im Dreischritt von These, Antithese und Synthese bleibt freilich die Frage des ersten Sonettes dieser Gruppe offen, ob es nicht möglich sei, die Entfernung, die uns auch von der geliebtesten Person trennt, durch Liebe zu überwinden. So wenig die Sinne den Wunsch nach dauernder Vereinigung erfüllen können — auch der Sehnsucht des Herzens sind unüberwindliche Schranken gesetzt. Das quälende Bewußtsein der Zweiheit der Liebenden ist eine jener geheimen Triebfedern, welche Shakespeare zu seinen Sonetten inspiriert haben. Wiederholt umspielen auch die folgenden Sonette die Antithese von Herz und Auge (zum Beispiel 123 = Q 119, 143 f. = Q 139 f., 145 = Q 132). Im Schlußgedicht der ersten Gruppe von Sonetten an die dunkle Dame (134 = Q 133), das mit einer Verwünschung des Herzens anhebt, welches den Dichter und seinen „süßesten Freund in Sklaverei versklavt" hat, entspricht dem „cruel eye" der vampirhaften Dame ihr „steel bosom". Der Dichter richtet eine Bitte an sie, von deren Erfüllung er Linderung für seine und des Freundes Qualen erhofft: Prison my heart in thy steel bosom's ward, But then my friend's heart let my poor heart bail; Whoe'er keeps me, let my heart be his guard; Thou canst not then use rigour in my gaol. Schließ ein mein Herz in deiner Stahlbrust Schacht, Mein armes Herz lös das des Freunds dann aus; Nehm' mich wer will, mein Herz sei seine Wacht, Du kannst dann streng nicht sein in meinem Haus. Drei Herzen stehen in spannungsreicher Beziehung zueinander: Der Dichter bietet sein eigenes Herz als Lösegelt für das des Freundes, indem er das seine der Dame ausliefert. Als ihr Gefangener wird er aber zu-|gleich des Freundes Wächter und Beschützer, und als solcher darf er auf ihre Milde hoffen. Doch das bohrende Nachdenken über die Verstrickung der Liebenden läßt den Dichter den Schluß ziehen, daß seine Hoffnung trügt, weil er als ihr Gefangener mit allem, was in ihm ist, also auch mit dem Herzen des Freundes, ihr Herzbewohner — ihr ausgeliefert bleibt: And yet thou wilt; for I, being pent in thee, Perforce am thine, and all that is in me. Und wirst es doch, denn eingesperrt in dir Bin ich ja dein mit allem, was in mir.
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In diesem Sonett wird kein Tausch der Herzen vorgeschlagen, sondern ein Herz-im-Herzen-Wohnen, wobei dem Dichter das beste und zugleich das schlimmste Los zufällt: In der Mitte zwischen beiden Herzen steht er beiden gleich nahe; aber er bleibt der Gefangene eines stählernen Herzens, aus dessen unerbittlicher Umklammerung er sich zu seiner Qual nicht lösen kann. Das 148. (Q 141.) Sonett setzt neben dem Gesicht die anderen Sinne als kritische Richter über die Qualitäten der Dame ein. Kein Sinn erklärt sich befriedigt, am wenigsten das wiederum an erster Stelle genannte Augen, das „tausend Fehler" an der Geliebten erkennt: But my five wits nor my five senses can Dissuade one foolish heart from serving thee, Who leaves, unsway'd the likeness of a man, Thy proud heart's slave and vassal wretch to be. Und doch, fünffacher Witz, fünffacher Sinn Lenkt nicht ein närrisch Herz aus deiner Fron, Das haltlos alle Männlichkeit gab hin Für deines stolzen Herzens Sklavenlohn. Ein „stolzes Herz" erniedrigt ein „närrisches" zum Sklaven; der aber ist dem geliebten Wesen solcherart verfallen, daß die Einwände der Sinne und der Vernunft nichts mehr zählen. Trotzdem scheint ihm die Entwürdigung einen Gewinn zu versprechen: That she that makes me sin awards my pain. Die mich zur Sünde bringt, läßt mich auch büßen. Der Trost ist schwach; nicht das Herz hat ihn diktiert, sondern das Hirn erdacht, um die Vernunft zu beruhigen. Die einzige Antwort, die überzeugen kann, ist die Einsicht in den Irrtum dieser Liebe. Das 149. (Q149.) Sonett schließt mit dem Selbstgeständnis ab, die Dame liebe nur die Sehenden, der Dichter aber sei blind. Liebe, der blinde Narr, so fährt das nächste Sonett fort (150 = Q 137), läßt das Auge zwar blicken, aber das Gesehene nicht wahrnehmen. | If eyes, corrupt by over-partial looks, Be anchor'd in the bay where all men ride, Why of eyes' falsehood has thou forged hooks, Whereto the judgement of my heart is tied? Why should my heart think that a several plot Which my heart knows the wide world's common place? Or mine eyes, seeing this, say this is not, To put fair truth upon so foul a face?
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Wenn Augen, durch parteiisch Blicken dumm, Im Hafen ankern, zu dem jeder drängt, Was schufst du Augentrug zum Köder um, Daran, das Urteil meines Herzens hängt? Dächt sonst mein Herz, ihm dien' der Ort allein, Den es doch kennt als Tummelplatz der Welt? Sah dies mein Äug und sprach, es kann nicht sein, Lieh Wahrheitsglanz dem Haupt, das so entstellt? Das Herz hat sich vom Auge täuschen lassen, schlimmer noch: das Auge hat „the bay where all men ride", „the wide world's common place" nicht wahrnehmen und nicht wahrhaben wollen. So bleibt am Ende nur die grausame Einsicht: In things right true my heart and eyes have err'd Im Wahrsten hat mein Äug und Herz versagt ... Nur im Schlaf ist der Liebende König — „nichts davon im Wachen" (126 = Q 87); was vorher Glück schien, enthüllt sich als „ein Traum" (152 = Q 129). Dem Glauben der Dichter des Dolce stil novo an das „cor gentil", unter dessen Schutz sich die Liebe begibt und das im Geleit einer engelgleichen Herrin den Weg zu Gott findet, steht Shakespeares bittere Erkenntnis entgegen, daß Auge und Herz sich täuschen können, und wird durch keinen schönen Wahn verklärt. Im ersten Sonett Petrarcas und in einem der letzten Shakespeares findet sich in unmittelbarer Beziehung zum Herzen das Wort „Irrtum": Liebesdichtung von weltliterarischem Rang ist so wenig heiter wie große Kunst überhaupt. „Un homme sage ny ne se laisse gouverner, ny ne cherche a gouverner les autres: il veut ehe la raison gouverne seule, et toüjours" (Ein kluger Mensch läßt sich weder beherrschen noch sucht er andere zu beherrschen; er will, daß einzig und allein die Vernunft herrsche). „L'amour et l'amitie s'excluent Tun l'autre" (Liebe und Freundschaft schließen einander aus). Die Denkweise, die diesen Maximen zugrundeliegt, ist der Haltung Shakespeares diametral entgegengesetzt. Sie ist schon bei Montaigne angelegt, in dieser Ausschließlichkeit aber die Leistung des folgenden Jahrhunderts. La Bruyere veröffentlichte die Sentenzen knapp hundert Jahre nach Shakespeares Sonetten in den „Caracteres" (zuerst 1688), in denen er die „Sitten", genauer: die Unsitten seiner Zeit kritisch betrachtet. Unter der Voraussetzung des unbedingten Vertrauens auf die Vernunft kommt dem Herzen in der Regel eine bescheidenere Rolle zu | als im Sturme der Leidenschaften; auch schränkte die im Verhältnis zu Deutschland und Italien schwächer ausgeprägte spiritualistische Tradition
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des französischen Geistes den fast mystischen Aufschwung zum „edlen Herzen" ein. Trotzdem kommen auch die französischen Moralisten, gründliche Analytiker des Menschen und der Gesellschaft, gelegentlich auf das zu sprechen, was die Zeit als „coeur" bezeichnet. La Rochefoucauld stellt Herz und Verstand wiederholt einander gegenüber, wobei er die Regungen des Herzens mit Zurückhaltung registriert. Seine Überlegungen zu diesem Thema gehören freilich nicht zu den tiefsinnigen der „Reflexions"; am hintergründigsten wirkt die Bemerkung, der Verstand würde die Rolle des Herzens niemals lange spielen können. Vauvenargues hingegen läßt große Gedanken und echten Geist im Herzen entstehen, so wie auch für Joubert das Herz dem Geiste vorangeht und urteilt, wenn man liebt. Für den Pessimisten Chamfort ist die schlimmste Mesalliance eine solche des Herzens. Nur La Bruyere hat das 4. Kapitel seines Buches, das dem Kapitel „Des femmes" folgt, ausdrücklich „Du cceur" überschrieben und über die Rolle des Herzens im Verhalten des einzelnen und der Gesellschaft schärfer nachgedacht. „L'on est plus sociable et d'un meilleur commerce par le coeur que par l'esprit" (Durch das Herz ist man geselliger und angenehmer im Umgang als durch den Geist), lautet eine seiner Grundmaximen, die das Herz bezeichnenderweise als den geeigneten Vermittler sozialer Beziehungen versteht. Dazu befähigt es eine Eigenschaft, die es dem Geist ebenfalls überlegen macht: „On trouve un livre de devotion, et il touche; on en ouvre un autre qui est galand, et il fait son impression. Oseray-je dire que le coeur seul concilie des choses contraires, et admet les incompatibles?" (Man nimmt ein Andachtsbuch und fühlt sich von ihm angerührt; man schlägt ein anderes Buch auf, ein erotisches, und ist beeindruckt. Darf ich es auszusprechen wagen, daß nur das Herz die Gegensätze versöhnt und Unvereinbares nebeneinander bestehen läßt?) Der Verzicht auf das Durchsetzen von Prinzipien, die Konzilianz, die auch andere Art und Meinung gelten läßt, macht das Herz zu einem für den geselligen Verkehr prädestinierten Wesen. Seine Soziabilität aber steht der Anpassungsfähigkeit des weiblichen Herzens nahe: „La plupart des femmes n'ont gueres de principes; elles se conduisent par le coeur, et dependent pour les mceurs de ceux qu'elles aiment" (Die meisten Frauen haben nicht viel Grundsätze; sie lassen sich vom Herzen leiten, und ihr Verhalten hängt von denen ab, die sie lieben). Es gehört zu den Lieblingsvorstellungen aller Raisongläubigen, daß es möglich sei, „de regier le | coeur", insbesondere das Herz der Frauen; La Bruyere gibt ausführliche Anweisung, wie man die Frauen beherrschen kann, wenn man sich nur „ein wenig Geist und viel Zeit" zu solcher Veranstaltung nimmt. Dazu bedarf es bestimmter psychologischer Kenntnisse, die aller-
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dings mehr der Theorie als der Erfahrung oder dem Experiment verpflichtet scheinen. La Bruyere unterscheidet zunächst die gespielte von der einfachen und natürlichen Größe der Frauen, welche ihre Quelle wiederum im Herzen hat. Bei den negativ zu wertenden Typen macht er einen Unterschied zwischen der „femme galante" und der „coquette". Er beschreibt ihre Verhaltensweisen und kommt zu dem Schluß: „La galanterie est un foible du coeur ou peut-etre un vice de la complexion; la coquetterie est un dereglement de l'esprit ..." (Galanterie ist eine Schwäche des Herzens oder vielleicht ein Mangel im Naturell; Koketterie ist eine Unordnung des Geistes ...). Das schwache Herz aber führt einen Kampf wider die Vernunft, der aussichtslos ist oder erst sehr späten Erfolg verspricht. Die hoch entwickelte Kunst der Moralisten, das Wesen des Menschen in knappen Porträts oder in funkelnden Aphorismen einzufangen, welche auf Zwischenglieder des Gedankens verzichten und den Leser zum Mitdenken zwingen, begünstigt die antithetische Form der Darstellung. Antithesen gehören auch zu Shakespeares bevorzugten Stilmitteln; aber sie bewegen sich vornehmlich im Bereiche der Bilder, deren Farbigkeit den Gedanken verhüllt und den Eindruck der Dunkelheit erweckt. Die Maximen der Moralisten scheinen durchsichtig, weil sie vornehmlich mit Begriffen arbeiten. Doch gerade das Beispiel der Antithese Herz — Verstand oder Herz — Vernunft zeigt, wie umfassend und schillernd solche Generalbegriffe sein können. Hinzu kommt die zentrale Bedeutung des Sozialen, das jeden Begriff — auch einen dem Ursprung nach so persönlichen und intimen wie „Herz" — sogleich auf seine gesellschaftliche Tragfähigkeit überprüft. Daher nimmt der Begriff „Herz" bei den Moralisten einen viel weiteren Umfang an als zuvor und repräsentiert eine der Grundkräfte der Gesellschaft und des Individuums, vor allem der Frau. Gracian hat recht, wenn er zu Beginn des „Oraculo manual" (zuerst 1647) für sein Jahrhundert feststellt, Herz und Kopf seien „die beiden Pole der Sonne unsrer Fähigkeiten", eines ohne das andre nur „halbes Glück". Für die deutschen Dichter des 17. Jahrhunderts ist das Herz ein unentbehrliches Requisit zum Ausdruck religiöser und profaner Empfindungen, Stimmungen, Gefühle. Unter den Hunderten von Belegen, die sich anbieten, seien nur wenige Beispiele zweier Zeitgenossen des schlesischen | Spätbarock angeführt. Angelus Silesius, genährt aus den Strömen der Scholastik, der mittelalterlichen und modernen Mystik und der Emblematik, hat ein ganzes System kühner Herzmetaphern errichtet. Für ihn ist das Herz des Gläubigen das Allerheiligste im Tempel Gottes; der Mensch kann sein Herz mit Gott tauschen, er kann es sogar als Speise zubereiten
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und Gott zum Mahle anbieten — die paradoxe, nur aus dem Geiste der Mystik verständliche Umkehrung des Altarsakramentes. Dabei ist wesentlich, daß das Herz „zubereitet" und auf diese Weise in den Stand der Heiligkeit versetzt wird, um Gott recht genießen zu können („Daß allerseeligste Hertze"): Ein reines Hertz schaut Gott / ein heiiges schmäket Ihn: In ein Verliebetes wil er zu Wohnen ziehn. Wie seelig ist der Mensch der sich befleist und übt / Daß ihm sein Hertze wird rein Heilig und verliebt! In den „Hirten-Liedern der in ihren Jesum verliebten Psyche" finden sich in einem Gedicht nebeneinander geradezu widersprüchliche Bilder, um das mittels der Sprache unsagbare Mysterium der Vereinigung der Seele mit Jesus sinnfällig zu machen. Die Seele bittet den „Bräutigam" („Sie begehret verwundet zu seyn ...": Ergreiff die Waffen / und in Eil Durchstich mein Hertz mit deinem Pfeil / Verwunde mich ... Wirff deine Flammen in den Schrein Meins halbgefrohrnen Hertzens ein / Entzünde mich ... Blaß an das Feuer ohn Verdruß / Daß dir mein Hertz mit schnellem Fluß Vereinigt sey ... Die erotischen Dichter haben die Exaltation der geistlichen Mystiker übernommen, um den Genuß der Weltlust durch den Hinweis auf die irdische Hinfälligkeit zu steigern. In Hofmannswaldaus galanten Gedichten finden sich die gleichen Epitheta wie in der religiösen Lyrik der Zeit: Das Herz ist entzündet, verwundet, geschmolzen, versteinert, erfroren: es seufzt und empfindet Pein und Brunst, ein Ätna glüht oder quillt in ihm (noch Goethe | verwendet das gleiche Bild im „Divan"), Gott bläst es an, Angst nagt am Herzen. Hinzu kommen die spezifisch erotischen Metaphern: „Manches Hertz zerfleußt" vor dem Brand schwarzer Augen, in denen die Schlüssel „zu tausend Männer Hertzen" hängen („Streit der schwartzen Augen ..."); die Augen sind „Liebes-Flammen, / Dadurch sich Hertz und Hertz verknüpffen lässt zusammen" („Der aus dem Himmel verbannte Cupido"). Eine Corona von Herzmetaphern findet sich in dem fingierten Brief „An Flavien", die freilich nur die konventionelle Vorstellung vom Her-
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zensraub durch die Geliebte zerreden und zur Situation des Briefschreibers in Beziehung zu setzen. Andere Bilder klingen weniger verbraucht und sind zum Teil wohl Erfindungen Hofmannswaldaus, wenn auch oft an der Grenze oder jenseits des guten Geschmacks („Ich singe tauben Ohren ..."): Vor Göttin hab ich dich erkennt Mein Hertz als Weyrauch dir gebrennt ..., oder in dem Gedicht „Die Wollust", das die Philosophen in zwei Schulen einteilt, wobei sich der Dichter der bequemeren des Hedonismus anschließt: Der meisten Lehrer Wahn erreget Zanck und Schmertzen, Was Epicur gelehrt, das kützelt noch die Hertzen. Die originellste Herzmetapher hat sich Hofmannswaldau in einem fingierten Grabepigramm auf den ihm in mancher Hinsicht geistesverwandten Pietro Aretino einfallen lassen: Hier liegt ein geiler Mann, so der verkehrten Welt Den Griff der Schlüpffrigkeit hat künstlich vorgestellt; Die Venus, daß ihr Sohn den Bogen besser dehne, Nahm sein verbuhltes Hertz, und gab es ihm zur Sehne. Die Frivolität, die Hofmannswaldau dem Lästermaul der Renaissance vorhält, hatte er selbst in die bis zu seinem Auftreten recht ehrbare deutsche Literatur eingeführt; sie wirkt als Unterströmung bis zum Ausklang des Rokoko fort, so wenn Goethe im Liederbuch „Annette" zu den Mädchen spricht („Ziblis"): | Zittert stets für eure Herzen. Hat man einmal diese Herzen: Ha! Das andre hat man bald. Einen neuen Ton findet Klopstock, und zwar schon in der zu seiner Zeit berühmten Jugendelegie „An die künftige Geliebte" (1748). Trotz der klassischen Distichenform, trotz der kritischen Bemerkung, Petrarcas „Canzoniere" sei „zwar dem Bewunderer schön, aber dem Liebenden nicht", hat neben der Empfindsamkeit gerade Petrarca den Ton der Elegie stimmen helfen. Dafür zeugt nicht nur der „seufzende Mund", der „Seufzer Laut", die „unsterbliche Sehnsucht, das „biegsame", „liebende", das „gleich empfindende Herz"; dafür zeugt vor allem die Wendung, daß die Natur „kein edleres Herz" geschaffen habe als das der besungenen Frau und daß von dieser Frau, die auch für die Laura der bald danach entstandenen Petrarca-Ode Modell stand, gesagt wird: „... ihre Bewegun-
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gen / Sprachen alle die Göttlichkeit / Ihres Herzens ..." Was Klopstock der weltlichen Dichtung gegeben hat, nennt er in der Ode „Der Abschied" „des Herzens Sprache": eine von ihm selbst zwar überanstrengte Ausdrucksweise (wie auch die Fülle seiner schwermütig-pathetischen Herzmetaphern bezeugt), doch in einer Stil-Lage, deren zuvor in Deutschland allein die religiöse Dichtung fähig gewesen war. Die Monotonie des Erhabenen durch bewegliche Anmut zu beseelen, blieb Goethe vorbehalten. Neben den biblischen prägen sich seine Herzmetaphern dem Gedächtnis am tiefsen ein, weil sie den natürlichsten, der Sprache wie der Situation am besten angemessenen Klang haben. Sie begleiten seine Verse von den Rokoko-Liedern bis zur Marienbader „Elegie"; sie führen von schäferlicher Tändelei zur Vergeistigung des Eros; sie zeigen das Herz in all seiner Anfälligkeit von der höchsten Lust bis zur abgründigen Verzweiflung. „Fühle, was dies Herz empfindet", klingt es aus der Neufassung des Straßburger Liedchens „Mit einem gemalten Band"; am Schluß von Kellers Novellensammlung „Das Sinngedicht" wird es ein Handwerker aus seinem löschpapierenen Liederbüchlein „nach einer sehr gefühlvollen altväterlichen Melodie ... einem in verdorbenen Dialekte" sich und dem Liebespaar zur Freude singen: „Fihle, was dies Herz empfindet — ja pfindet", ein Zeichen für die Volkstümlichkeit des Liedes. „Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!", „Herz, mein Herz, was soll das geben?", „Was zieht mir das Herz so?" heben die Jugendlieder Goethes an, und in „Willkommen und Abschied" | begleitet die Metapher aller Strophen des nächtlichen Liebesdramas: In meinem Herzen, welche Glut! ... Ganz war mein Herz an deiner Seite ... Doch ach, schon mit der Morgensonne Verengt der Abschied mir das Herz. In den Hymnen der Frankfurter Zeit empört sich der Stolz der starken Seele gegen das Regiment der Götter: Hast du nicht alles selbst vollendet, Heilig glühend Herz? begehrt Prometheus auf, weil ihm Ein Herz wie meins, Sich des Bedrängten zu erbarmen, versagt geblieben ist. Doch der Titanismus ist eine Episode in Goethes Leben, die den Überschwang der Hingabe und den Glauben an die Kraft der liebenden Empfindung nur vorübergehend unterbricht.
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Drei Stellen aus den Jugenddramen scheinen besonders geeignet, die Bedeutung zu umreißen, die der Dichter dem Herzen beimißt. In der „Geschichte Gottfriedens von Berlichingen" und unverändert im „Götz" (I. Akt, Schlußszene in Jaxthausen) schwärmt Weislingens Diener Franz von Adelheids Charme; sein Herr unterbricht ihn spöttisch, er sei darüber wohl gar „zum Dichter geworden". Doch Franz erwidert unbeirrt: „So fühl ich denn in dem Augenblick, was den Dichter macht, ein volles, ganz von einer Empfindung volles Herz." Auf die recht aus dem Geiste angelernter Rhetorik gestellte Frage seines Famulus, wie man die Welt durch Überredung leiten könne, entgegnet Faust in der Urfassung und fast in gleichem Wortlaut in der Tragödie: Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen, Wenn es nicht aus der Seele dringt Und mit urkräftigem Behagen Die Herzen aller Hörer zwingt ... Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen schaffen, Wenn es euch nicht von Herzen geht. | Das ist nicht nur die Antwort des Sturm und Drang und „des faustischen Menschentypus auf die Theorie des nüchternen Rationalisten" (Erich Trunz); denn noch der alte Goethe vertritt die gleiche Meinung und zitiert sich selbst kurz nacheinander zweimal im „Helena"-Akt (v. 9378, 9685 f.). Helena, an klassische Trimeter gewohnt, hat Lynkeus in Reimversen sprechen hören und bittet Faust um Belehrung, wie sie auch „so schön" sprechen lernen könne. Er weiß Rat: Das ist gar leicht, es muß von Herzen gehn. Und selbst Phorkyas-Mephistopheles bekennt beim Klang der Musik, welche die Euphorion-Szene begleitet: Denn es muß von Herzen gehen, Was auf Herzen wirken soll. Die dritte Stelle findet sich im Gespräch zwischen Faust und Gretchen über die Religion. Am Spinnrad hatte sie des fernen Geliebten in Sehnsucht gedacht (v. 3374 f., 3386 f., 3402 f.) Meine Ruh' ist hin, Mein Herz ist schwer —; nun will sie von dem „herzlich guten Mann" (v. 3416) wissen, ob er an Gott glaube. Er sucht ihr seine pantheistische Auffassung verständlich zu machen und bittet sie (v. 3451—56):
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Erfüll davon dein Herz, so groß es ist, Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist, Nenn es dann, wie du willst, Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott! Ich habe keinen Namen Dafür! Gefühl ist alles ... So ist das empfindende Herz nicht nur die Urkraft des Dichters und das Organ, durch dessen Magie der Redner den Hörer, der Reimvers die lernbegierige Schülerin, die Musik den Lauschenden bewegt, sondern auch die zentrale Energie der religiösen Erhebung, die sich begrifflich so wenig fassen läßt wie die Liebe und selbst mit Gott identisch sein kann. | Das Gesetz der Mäßigung drängt das rebellische Herz zurück; in Goethes Liebesgedichten spricht das freudige und das leidende, das ruhelose und das gequälte Herz. Das du so beweglich kennst, Dieses Herz im Brand, wie es in Anlehnung an das Lukas-Evangelium (24, 32) in der ersten Fassung des Liedes „An den Mond" heißt, stellt in dem schönsten Gedicht an Charlotte von Stein, „Warum gabst du uns die tiefen Blicke", mit leisem Vorwurf die Frage an das Schicksal, warum es den Liebenden die Gefühle gegeben habe, „uns einander in das Herz zu sehn", da doch die Mitmenschen, „dumpf sich treibend, kaum ihr eigen Herz" kennen. Immer wieder sind es Fragen, die Goethe das „Ungewisse" Herz erheben läßt, doch solche, die keine tröstliche Antwort erwarten lassen. Und es ist wohl kein Zufall, wenn auch bei Goethe — genau wie bei Petrarca und Shakespeare — der Irrtum der Begleiter des Herzens ist („Vier Jahreszeiten — Herbst", Nr. 51): Fremde Kinder lieben wir nie so sehr als die eignen; Irrtum, das eigene Kind, ist uns dem Herzen so nah. Auch die Liebe des Alternden und Gealterten zu jungen Frauen war ein „Irrtum" seines Herzens, wie er wiederholt erfahren mußte. In den „Epigrammen" aus Venedig (Nr. 77) hatte er noch über die „zärtlichen Herzen" gespottet, die auch „ein Pfuscher" zu rühren vermöge; fast zwanzig Jahre später quälte ihn selbst „im Herzen heißes Liebestoben", ohne daß er von der Geliebten mehr als freundliche Aufmerksamkeit hätte erwarten dürfen. Die Leidenschaft des 58jährigen galt der um vierzig Jahre jüngeren Minna Herzlieb. Goethe verstand den Namen als lieblich sinnreiche Hindeutung (so wie Grimmeishausen dem Gesellen seines Simplicissimus den sinnbildlichen Namen Ulrich Herzbruder gegeben
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hat). Im Wettstreit mit Zacharias Werner schrieb er siebzehn Sonette, deren letztes unter dem Titel „Scharade" den Leser auffordert, den Namen zu erraten, den der Dichter gerade in diesem Sonett nicht andeutet, wohl aber in dem fingierten Brief des Mädchens (Nr. 10), das sich vorstellt, wie es sein Billet doux öffnet und die Anrede liest: Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Wesen! | Das Schlüsselsonett des Zyklus ist „Epoche" überschrieben. Goethe erinnert an das „Herzensweh" von Petrarcas Karfreitagserlebnis, stellt ihm den „Advent von Achtzehnhundertsieben" als das eigene Glücksdatum gegenüber und faßt die Epochen der Begegnung mit Minna Herzlieb, die er schon als Kind gekannt hatte, in die Strophe zusammen: Ich fing nicht an, ich fuhr nur fort zu lieben Sie, die ich früh im Herzen schon getragen, Dann wieder weislich aus dem Sinn geschlagen, Der ich nun wieder bin ans Herz getrieben. „Sonettenwut und Raserei der Liebe" (Nr. 11), gesungen in den „liebevollen, traurig heitern Tönen" (Nr. 3) des Dolce stil novo für ein Mädchen, „so musterhaft wie jene lieben Frauen / Der Dichterwelt" (Nr. 2), Beatrice und Laura, haben ihm kein „neues Leben" eröffnet, wie der Schluß des ersten Sonettes mit durchsichtiger Anspielung auf Dantes „Vita nova" erwarten läßt. Zwar singt Goethe-Hatem, der besseren Einsicht zum Trotz, acht Jahre später nach der letzten Begegnung mit Marianne-Suleika („Locken, haltet mich gefangen"): Nur dies Herz, es ist von Dauer, Schwillt in jugendlichstem Flor; Unter Schnee und Nebelschauer Rast ein Ätna mir hervor, und Marianne hatte in den Versen, die sie auf der Fahrt zu diesem Zusammentreffen niederschrieb („Was bedeutet die Bewegung?"), von seinem Mund und Atem „wahre Herzenskunde" erwartet. Doch Hatem antwortet ihr und sich selbst mit einer der bildkräftigsten Herzmetaphern, die es in deutscher Sprache gibt („Nachklang"), man möge sich durch prächtig klingende Vergleiche des Dichters mit Sonne und Kaiser nicht täuschen lassen: Vermagert bleich sind meine Wangen Und meine Herzenstränen grau.
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Solche Stimmungen, in Goethes Alterslyrik nicht selten, sind der Vorklang zu jenem „wüsten Raum beklommner Herzensleere" (v. 70), den der Dichter nach dem Abschied von Ulrike von Levetzow in der | Marienbader „Elegie" zu bewältigen, dem er durch künstlerische Gestaltung jenen Sinn abzugewinnen bemüht ist, welchen das Leben selbst ihm versagt hatte. ... verschlossen in sich selbst, als hätte Dies Herz sich nie geöffnet (v. 25 f.), versucht es, sich die Stunde des Empfangs und der Beglückung ins Gedächtnis zu rufen — und es gelingt ihm (v. 53 — 60): So klar beweglich bleibt das Bild der Lieben Mit Flammenschrift ins treue Herz geschrieben. Ins Herz, das fest, wie zinnenhohe Mauer, Sich ihr bewahrt und sie in sich bewahret, Für sie sich freut an seiner eignen Dauer, Nur weiß von sich, wenn sie sich offenbaret, Sich freier fühlt in so geliebten Schranken Und nur noch schlägt, für alles ihr zu danken. Doch was übrigbleibt, ist nicht nur „Herzensleere", die in der (zuvor geschriebenen) „Aussöhnung" mühsam verdeckt scheint ! ... das Herz erleichtert merkt behende, Daß es noch lebt und schlägt und möchte schlagen —; es ist die Gewißheit, sich selbst verloren zu haben, das Gefühl der völligen Vernichtung, der Gottverlassenheit im genauesten Sinne. Auch Goethes Liebesdichtung endet in Irrtum, Verzicht und Trauer. Kein anderer deutscher Dichter der Epoche hat die geschmeidige Kraft von Goethes Herzmetaphern übertroffen, weder Schiller mit dem Reiterherzen, das im Feld „noch gewogen" wird, oder Hölderlin mit dem patriotischen Anruf „O heilig Herz der Völker, o Vaterland!" noch Brentano im „Wiegenlied eines jammernden Herzens", einem seiner besten Gedichte. Die Beklemmung, die mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts über Europa hereinbricht, läßt auch das Herz im Zwielicht erscheinen. Noch Bürger hatte „An das Herz" die Frage gerichtet, was es so lange „in Kraft und Fülle" erhalte, daß es „liebend wie die Nachtigall" schlage, und ihm mit koketter Wendung gewünscht, es möge doch lieber alt werden. Leopardi, nach Byrons Tode der Bannerträger des liter a-Irischen Pessimismus, scheint in dem Madrigal „A se stesso" (An sich selbst) frei von jeder Koketterie:
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Or poserai per sempre, Stance mio cor. Peri l'inganno estremo, Ch'eterno io mi credei. Peri. Ben sento, In noi di cari inganni, Non ehe la speme, il desiderio e spento. Posa per sempre. Assai Palpitasti. Non val cosa nessuna I moti tuoi, ne di sospiri e degna La terra. Amaro e noia La vita, altro mai nulla; e fango e il mondo. T'acqueta omai. Dispera L'ultima volta. AI gener nostro il fato Non dono ehe il morire. Omai disprezza Te, la natura, il brutto Poter ehe, ascoso, a commun danno impera, E l'infinita vanita del tutto. Nun wirst du ruhn für immer, mein müdes Herz. Es schwand der letzte Wahn: Unsterblichkeit. Er schwand. Ich fühl es tief: Die Hoffnung nicht allein auf holde Täuschung, auch der Wunsch entschlief. So ruh auf ewig! Lange genug hast du geklopft. Nichts hier verdient dein heftig Zucken, keines Seufzers ist die Erde wert. Nur Schmerz und Langweil bietet das Leben, andres nicht. Die Welt ist Kot. Ergib dich denn! Verzweifle zum letzten Mal! Uns Menschen hat das Schicksal nur Eins geschenkt: den Tod. Verachte denn dich, die Natur, die schnöde Macht, die verborgen herrscht zu unsrer Qual, und dieses Alls unendlich nicht'ge Öde! Deutsch von Paul Heyse
Leopardis Verse gehören zu den Grundtexten der „noia", des Ennui, des Lebensekels. Nicht so sehr die Weltverachtung erschüttert den Leser als die Selbstverachtung, zu der das Herz aufgerufen wird; nicht die Erschöpfung, unter der es leidet, weil es den Glauben an die Unsterblichkeit als Täuschung, ja als „Betrug" durchschaut hat, sondern das tief
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unmenschliche Erlöschen seiner geheimen Wünsche nach jenem Wahn, der Maya der indischen Philosophen, die zwar die Erkenntnis der Identität mit dem beseelten All verhindert, aber das Leben überhaupt erst möglich und erträglich macht. Was den Leser an diesen Versen erschreckt, ja zum Mitleid mit dem unglücklichen Dichter auffordert, das ist — mit dem sterbenden Talbot zu sprechen („Die Jungfrau von Orleans" III 6) — die Einsicht in das Nichts Und herzliche Verachtung alles dessen, Was uns erhaben schien und wünschenswert (wobei „herzlich" nicht im verblaßten modernen Sinne zu verstehen ist, sondern als Verachtung „aus ganzem Herzen"). Diese Haltung macht | Leopardis Selbstgespräch so unerquicklich: Es weckt das tiefe Mißtrauen gegen die Sicherheit des Herzens in seinen Empfindungen und in seinem Lebenswillen. In der deutschen Literatur haben die Epigonen der Romantik das Mißtrauen genährt, indem sie das Herz als poetische Metapher durch Mißbrauch unmöglich gemacht haben. Die interessantesten Belege bietet Heine, weil er — eben nicht nur Epigone — Ansätze zu ironisch distanzierter Verwendung der Herzmetapher gefunden hat. Echter oder posierter Weltschmerz kann auf das Herz nicht verzichten: Bei Heine gibt es kranke, wunde und geheilte, arme und alte, klagende, dunkle, traurige, zusammengepreßte, brechende, verwundete, blutende, zerrissene, zerschnittene, zerstochene, schwellende, schweigende, stolze und elende Herzen — kaum einmal ein frohes und glückliches, selten ein schönes wie in dem Sonett „An meine Mutter B. Heine": Quält mich Erinnerung, daß ich verübet So manche Tat, die dir das Herz betrübet? Das schöne Herz, das mich so sehr geliebet? Natürlich hat ein Könner vom Range Heines die Effekte genau berechnet und im zyklischen Aufbau seiner Sammlung raffiniert angeordnet: Das Publikum soll die falschen Töne hören, hinter denen die echten sich verbergen wie die Zeichen der erotischen „Grammatik" in „der Herzallerliebsten Gesicht" („Lyrisches Intermezzo", Nr. 8). Es soll aus dem Geklingel billiger Reime, aus der Staffage von veilchenblauen Äugelein, rosenroten Wängelein, lilienweißen Händchen klein und verdorrten Herzen (ebd. Nr. 30) aufgeschreckt werden, wenn es inmitten von Orgien der Abgeschmacktheit plötzlich andere Töne vernimmt — ironisch-stimmungzerstörende oder klagende:
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Vergiftet sind meine Lieder; — Wie könnt es anders sein? Ich trage im Herzen viel Schlangen, Und dich, Geliebte mein. Das Herz als Schlangengrube — dieses Bild weckt andere Assoziationen als minnesängerndes „Liederblut aus Herzensgrund" („Die Minnesänger"). Hier tut sich eine Welt auf, die auf die verzweifelten Klagen des „Romanzero" vorausdeutet. Zwar will Heine auch dann noch nicht | auf die konventionellen Metaphern vom gebrochnen Herzen und vom „Faustschlag, der mich just ins Herz getroffen", Verzicht leisten; aber sie sind vor dem Ernst des Sterbens nicht nur seltener geworden, sondern können auch, mit blasphemischem Akzent, in die Nähe kaschierter Obszönität rücken. So in dem Gedicht „Der Ungläubige": Du wirst in meinen Armen ruhn! Von Wonnen sonder Schranken Erbebt und schwillt mein ganzes Herz Bei diesem Zaubergedanken ... Oh, heil'ger Thomas! ich glaub es kaum! Ich zweifle bis zur Stunde, Wo ich den Finger legen kann In meines Glückes Wunde. Blasphemie, die Lust an der Herausforderung des Heiligen, gehört seit Don Juans Zeiten zu den geheimen, aber zentralen Themen vor allem der romanischen Literaturen. Vorbereitet durch den „göttlichen" Marquis de Sade und seine Anhänger, findet sie ihren ersten Höhepunkt in jener Gedichtsammlung, der die moderne Lyrik ihren Ursprung verdankt und in der byronesk gespielter Weltschmerz sich zum „Spleen" und zum „Ennui" verdüstert hat: in Baudelaires „Fleurs du Mal", sechs Jahre nach Heines „Romanzero" erschienen (1857) als Ärgernis für alle, welche sich von den zur schlechten Gewöhnung gewordenen romantischen Narkotika nicht trennen wollen. Es ist kein Zufall, daß eines der schönsten Gedichte dieser Sammlung „Don Juan aux Enfers" gewidmet ist; kein Zufall auch, daß eines von Baudelaires geheimen Tagebüchern den Titel trägt „Mon Coeur mis a nu" (Mein entblößtes Herz) und daß der Dichter, dem Selbstentblößung Gesetz war wie vor ihm nur Rousseau, sich selbst als Gottesmörder darstellt („A une Madone"): Je veux batir pour toi, Madone, ma maitresse, Un autel souterrain au fond de ma detresse, Et creuser dans le coin le plus noir de mon coeur, Loin du desir mondain et du regard moqueur,
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Une niche, d'azur et d'or emaillee, Ou tu te dresseras, Statue emerveillee ... Enfin, pour completer ton role de Marie, Et pour meler l'amour avec la barbaric, Volupte noir! des sept Peches capitaux, Bourreau plein de remords, je ferai sept Couteaux Bien affiles, et, comme un jongleur insensible, Prenant le plus profond de ton amour pour cible, Je les planterai tous dans ton Coeur pantelant, Dans ton Coeur sanglotant, dans ton Coeur ruisselant! Ich will dir, Madonna, meine geliebte Gebieterin, auf meiner Bedrängnis Grund einen heimlichen Altar errichten und im schwärzesten Winkel meines Herzens, fern von weltlicher Begier und Spötterblicken, eine Nische höhlen, ganz mit Azur und Gold verkleidet, wo du, erstauntes Standbild, stehen sollst ... Auf daß an deiner Marienrolle endlich nichts mehr fehle | und Liebe mit Grausamkeit sich paare, will ich, ein Schinder voll Gewissensbissen, mit schwarzer Wollust aus den sieben Todsünden sieben scharfe Messer schleifen, wie ein unfühlender Jongleur auf deiner Liebe tiefste Tiefe zielen und die Messer alle in dein zuckendes Herz stoßen, in dein schluchzendes Herz, dein blutendes Herz! Das Gedicht besingt ein Votivbild in spanischen Geschmack, den die Zeit Baudelaires noch als exotisch empfand. Inmitten der barocken Pracht von Azur und Gold wirken die beiden Metaphern vom Herzen am Eingang und am Schluß der Verse, wenngleich im Reim exponiert, fast anspruchslos. Doch es ist gar nicht das Herz, in dem die Nische der Verehrung wie auf einem Herz-Jesu-Bild ausgehöhlt wird, sondern sein schwärzester Winkel, und das Verbrechen zielt wiederum nicht einfach aufs Herz, sondern auf das Zentrum der Liebe, das mit der Wollust des Schinders ausgelöscht werden soll. Erst die Mischung von Liebe und Grausamkeit — Sadismus im genauesten Sinne — nimmt den Metaphern vom zuckenden, schluchzenden, blutenden Herzen ihren konventionellen Klang und gibt ihnen den düsteren Glanz der Unverbrauchtheit. Aus den Epitheta des religiösen Martyriums hört man den verzückten Unterton der Leidenslust; aber man empfindet auch die neue Bewußtseinsstufe, welche
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in diesen Versen erreicht ist: den hohen Grad von Verdüsterung, die sich von nun an über diejenigen Erzeugnisse der Dichtung legen wird, welche Anspruch auf exemplarische Geltung erheben können. Die Metapher vom Herzen, noch in Heines frühen Versen mit der Unbekümmertheit des Volkslied-Imitators angewandt, hat ihre ursprüngliche Kraft verloren; erst die Distanz der Ironie, der Blasphemie, der Grausamkeit, vorgeahnte Merkzeichen unseres Jahrhunderts, vermag ihr bestürzende Aktualität zu geben. Baudelaire, der Entdecker Edgar Allan Poes für Europa und für Amerika, kannte dessen Kurzgeschichte „The Tell Tale Heart" (Das schwatzende Herz). Obwohl sie eine der unheimlichsten ist, gehört sie nicht zu den berühmtesten. Vergleicht man sie mit einer nicht lange vorher erschienenen deutschen Erzählung, Wilhelm Hauffs Märchen „Das kalte Herz", das im Rahmen des „Wirtshauses im Spessart" als Zeitkürzer dient, so ermißt man den Abstand zwischen biederer schwäbischer Nachromantik, deren Publikationsorgan ein Almanach „für Söhne und Töchter gebil-jdeter Stände" war, und einer Kunst, die ihre romantischen Ursprünge zwar nicht verleugnet, sich aber in Zeitschriften aufstrebender Weltstädte — Baltimore, New York, Philadelphia — bewähren mußte. Hauffs Kohlenbrenner aus dem Schwarzwald will rasch zu Reichtum gelangen. Nachdem ihm ein hilfreicher Geist die Erfüllung törichter Wünsche gewährt hat, die zu seinem Unheil ausgeschlagen sind, versucht er sein Glück bei einem dämonischen Holländer. Der setzt ihm — umgekehrt wie der Herr beim Propheten Hesekiel (36, 26) — statt seines fleischernen ein steinernes Herz ein: das nicht gerade originelle Sinnbild für Hartherzigkeit gegen die Armen und Herzlosigkeit gegen die eigene Frau, die er im Zorn über ihre Milde erschlägt. Doch der gute Geist bleibt ihm gewogen, rät ihm, wie er vom Bösen sein eigenes Herz mit List zurückgewinnen könne, und läßt am Ende gar die Tote zum Leben erwachen. Schlußmoral: „Es ist doch besser, zufrieden zu sein mit wenigem, als Gold und Güter haben und ein kaltes Herz." Hauffs Märchen ist ein Muster von Hausbackenheit. Auch weist es einen erzähltechnisch schlecht verdeckten inneren Bruch auf, und zwar dort, wo motiviert werden soll, weshalb der Kohlenbrenner das Jüngste Gericht trotz seinem steinernen Herzen fürchtet und, ohne Reue über die Untat zu empfinden, seine Frau vermißt. Hier allerdings geht es Hauff wie anderen Autoren seines Ranges: Es unterläuft ihm ein leichthin niedergeschriebener Satz, der unfreiwillig tiefere Schichten der Seele in der Epoche ihrer Verdüsterung enthüllt: „Nun ja, will sehen, ob ich mir ein wärmeres [Herz] schaffen kann, denn der gleichgültige Stein in meiner Brust macht mir das Leben nur langweilig und öde."
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Langeweile und öde, „ennui" und „vanita", sind die Merkmale einer Zeit, die den traditionellen Herzmetaphern keine überzeugende Kraft mehr abzugewinnen vermag; sie muß sie im Unerhörten, im Bizarren, im Grausigen suchen. Poe erzählt die Geschichte eines Mordes und seiner Entdeckung. Ein alter Mann, der dem Ich-Erzähler nichts zuleide getan hat, erschreckt ihn durch sein Geierauge, „ein blasses blaues Auge mit einem Häutchen darüber". Nacht für Nacht steckt er den Kopf ins Zimmer des Alten und läßt den feinen Strahl der Laterne auf das geschlossene Auge des Schlafenden fallen. In der achten Nacht wacht dieser, stöhnend vor Entsetzen, auf; der Strahl fällt auf sein offenes Auge, und des Mörders Ohr nimmt den tickenden Herzschlag wahr, der von Minute zu Minute lauter wird. Von Angst getrieben, stürzt er sich mit Geheul auf sein schreiendes Opfer, erstickt es und begräbt es unter den Zimmerdielen. Der Schrei hat drei Polizisten herbeigerufen, die er von seiner Unschuld | zu überzeugen vermag. Doch „ein Geräusch wie das Ticken einer Uhr, die man mit einem Tuch umwickelt hat", lauter und lauter ,bringt ihn um seine Sicherheit. Er meint Ohrensausen zu haben und wird nervös; er mißtraut den Polizisten, die ihn gar nicht verdächtigen — er kreischt ihnen sein Geständnis zu: „Reißt die Dielen auf! — Hier, hier! — Es ist das Schlagen dieses fürchterlichen Herzens." Dieses Herz, das die Untat ausplaudert, ist das seine. Aber es ist an das des Opfers in geheimnisvoller Weise gefesselt, so wie Lichtstrahl und Auge, Schrei und Geheul, Angst und Entsetzen die beiden verbinden. Das Herz als Sitz der Angst — die Vorstellung ist uralt; aber es wird nicht als Organ erfahren, sondern als Mechanismus: Sein Schlag ist dem Ticken der Uhr vergleichbar. Alles Mechanische, auf Organisches angewandt, wirkt roboterhaft; es weckt das Gefühl des Unheimlichen, dem wir ausgesetzt sind. Unheimlicher sind die Handelnden dieser Geschichte: „... es war nicht der alte Mann, der mich ärgerte, sondern sein Scheelauge"; der Alte fühlte, „daß mein Kopf im Zimmer war"; „ich legte meine Hand aufs Herz ... Sein Auge würde mich nicht mehr belästigen"; es wurde ihm klar, „daß das Geräusch nicht in den Ohren selbst war": Nie ist es der ganze Leib, der die entscheidenden Handlungen ausführt oder erleidet, immer nur ein Teil, der automatisch zu handeln scheint; nichts gehorcht dem persönlichen Willen, alles dem Trieb der Angst. Und nicht der Mörder zerstückelt den Leichnam, sondern der IchErzähler sich selbst und sein Opfer. Der unheimlichste Zug aber enthüllt sich dem Leser, wenn er die literarische Tradition bedenkt, in der auch Poes Geschichte steht. Wiederum sind Auge und Herz eine Verbindung eingegangen; doch das Auge ist nicht der Vermittler der schönen Erscheinung, welche das Herz zur Liebe bewegt: es ist das zum Automaton
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gewordene Sinnbild der hellwach registrierenden Angst, die Haß und wiederum Angst weckt und zum Mord treibt. Auge und Herz sind in dämonischer Weise aneinander gefesselt; ihr Verhältnis ist zum Bösen pervertiert. Das mechanisch reagierende Herz ist ein Werkzeug, dem die Freiheit abhanden gekommen ist, das Böse zu unterlassen: „Je suis de mon coeur le vampire", sagt Baudelaire („L'Heautontimoroumenos"). Der Vers könnte das Motto von Poes Geschichte sein. Wenn der Dichter sich als Vampir seines Herzens erkennt, kann er vom Herzen nicht mehr singen wie Gottfried, Petrarca, Shakespeare, Goethe. Der alten Metapher Klang abgewinnen, den wir nicht als banal oder mißtönend empfinden, kann nur noch der ganz naive Mensch. Ein sol-| eher war Eise Lasker-Schüler, der deutschen Sprache so großartig mächtig und in der Ohnmacht vor ihr noch so groß, wie nur jemand sein kann, dem diese Sprache nicht Bildungsinstrument ist, sondern Naturlaut. Das Uralt-Zeitlose ihrer Verse ist ihr selbst bewußt gewesen. Sie will ihre Gedichte nicht deklamiert hören; denn so verstimmen sie „die Klaviatur meines Herzens ... Ich sitze noch heute sitzengeblieben auf der untersten Bank der Schulklasse, wie einst", schreibt sie 1943 aus Jerusalem („Mein blaues Klavier", Schlußwort), wohin sie geflüchtet war: „Doch mit spätem versunkenen Herzen: tausend- und zweijährig, dem Märchen über den Kopf gewachsen." Darum durfte sie es wagen, vom Herzen zu reden wie der Dichter des Hohenliedes, als dessen späte Enkelin sie sich fühlte: so unbefangen, als wäre die Metapher nicht schon durch tausend Federn geflossen, nicht zerschlissen wie ein abgelegtes Kleid. Und wirklich fielen ihr neue Bilder aus dem Geiste der althebräischen Poesie ein („Ich bin traurig"): Um deinen süßesten Brunnen Gaukelte mein Herz. Nun will ich es schminken, Wie die Freudenmädchen Die welke Rose ihrer Lenden röten. — Wir können nicht wissen, ob es den Dichtern gelingen wird, der Metapher vom Herzen in Zukunft solche Kraft abzugewinnen, wie es der LaskerSchüler und wenigen anderen Zeitgenossen hin und wieder vergönnt war. Einstweilen scheint es, als ob die Dichter das Bild sparsam verwendeten wie ein zu oft genossenes Narkotikum, das die Kräfte verzehrt hat. Noch weniger wissen wir, ob und in welcher Weise die Literatur das Ereignis der Herztransplantation bewältigen wird, welches das Publikum bewegt hat wie wenig andere Leistungen der Medizin in unserer Zeit — gewiß nicht zuletzt darum, weil dasjenige Organ betroffen ist, in dem
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die Phantasie die Gemütskräfte zu lokalisieren gewohnt ist. Dies beweist ein nachdenkliches Limerick von Eugen Roth: Er stellt das Herz als austauschbares „Pumpwerk" der Unsicherheit Gottes gegenüber, der sich nach der Transplantation fragen muß, auf wessen Herz er nun eigentlich schaue. Doch die literarische Gestaltung und Bewältigung der Herzchirurgie in Gestalt eines Romanes oder Dramas von Format steht noch aus, und sie wird wohl auf sich warten lassen. Denn eine jahrtausendealte, in der Religion, der Kunst, der Dichtung verwurzelte, | durch Konventionen träge gewordene Vorstellung zu ändern oder aufzugeben erfordert mehr Anstrengung als das intellektuelle Begreifen der anatomischen und physiologischen Bedingungen, unter denen die Verpflanzung eines Organes vor sich geht. Und selbst wenn wir wissen, aufweiche Weise der Austausch von Organen möglich ist, werden wir noch lange glauben und uns so ausdrücken, daß es „das Herz" sei, welches die Empfindungen beherbergt und die Persönlichkeit formt. Solche Zweigleisigkeit von Meinen und Wissen, durch den Gegensatz von ursprünglich religiöser Deutung und rationaler Erkenntnis hervorgerufen, gehört zu den Merkmalen einer Epoche, der es bisher nicht gelungen ist, die Kluft zwischen „Herz" und Intellekt zu überbrücken und beide in ein harmonisches Verhältnis zu setzen. Wir sind — dies beweist die Geschichte der Herzmetapher — durch unsere Sprache Gefangene der bildlichen Phantasie unserer Vorfahren.
Literatur Johann Christoph Adelung · Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Wien 1808 Ernst Robert Curtius · Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern, 1948 Deutsches Wörterbuch, begonnen von den Brüdern Grimm Xenja von Ertzdorff: Das „Herz" in der lateinisch-theologischen und frühen volkssprachigen religiösen Literatur, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache 84, 1962 Hermann Fränkel · Wege und Formen frühgriechischen Denkens München, 1955 Alfred Hermann · Das steinharte Herz — Zur Geschichte einer Metapher, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 4, 1961 Wilhelm Kosch · Deutsches Literatur-Lexikon, Bern, 1949 — 58 Konrad Kraus · Winckelmann und Homer, Berlin, 1935 Franz Freiherr von Lipperheide · Spruchwörterbuch, Leipzig, 1935 Alexander Schmidt · Shakespeare-Lexicon I —II, Berlin, 1902 Alfred Schmoller · Handkonkordanz zum griechischen Neuen Testament, Stuttgart, o. J. Bruno Snell · Die Entdeckung des europäischen Geistes, Hamburg, 1955 Trübners Deutsches Wörterbuch III, Berlin, 1939 Für Hinweise auf Stellen aus der englischen Literatur bin ich Hern Heinrich Plett zu Dank verpflichtet.
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Die Kritik der Romantiker und Goethes an den Tragödien Alfieris Alßeri: „E la Fama?" — Go%%i: „E la Farne?"
Die lakonische Vorrede Büchners zu Leonce und Lena ist ein rechtes Kuriosum in dem zarten Gewebe von Ennui, Melancholie und Ironie des Lustspiels. Dem Leser wird ein Zitat vorgespiegelt; doch es ist eine Erfindung des Autors. Daß sich Büchner durch die surrealistische Phantasie der Fiabe des venezianischen Grafen angesprochen fühlte, versteht man leicht; schwerer hingegen, weshalb gerade dieser stockkonservative Aristokrat zu der Ehre kam, den ,Materialismus' zu repräsentieren. Oder kannte Büchner Gozzis Memorie inutili mit der Schilderung des familiären „Poetenhospitals" und der verkommenen Palazzo-Herrlichkeit? Doch Hunger scheint Gozzi selbst in der Einsamkeit des Alters so wenig gelitten zu haben wie sein fiktives Gegenüber, der Graf Alfieri aus Piemont. Ihm steht der ,Idealismus' des Ruhmsüchtigen durchaus zu Gesicht. Büchner geht es freilich gar nicht so sehr um die Charakteristik eines ,idealistischen' Tragikers und eines ,materialistischen' Märchenspielautors, sondern um ein verblüffendes Bonmot, und was sich darin spiegelt, ist weniger die biographische Zuverlässigkeit als die literarische Legende. Seit Schiller und den Romantikern bis zu Richard Wagner und Hans Werner Henze hat Gozzi das Wohlwollen der deutschen Autoren und Komponisten genossen. Das beruht wohl auf Wahlverwandtschaft im Geiste des Märchen-Romantizismus und auf der Faszination, den ein unbeschwerter Surrealismus auf die Theaterdichter ausübte. Schon der Schweizer Historiker Sismondi schrieb,1 Gozzis Fiabe entsprächen nicht dem italienischen Geist, und man könne meinen, sie stammten von einem Deutschen. Anders Alfieri, der in deutschen Landen nie das Verständnis gefunden hat, das seine Landsleute ihm entgegenbrachten, auch wenn sie Kritik an ihm übten. In drei Dramen hat er die gleichen Stoffe bzw. Motive behandelt wie Schiller, und die einst so beliebten ,Vergleiche' 1
Nach Francesco Flora: Storia della lett. ital., Milano, ed. economica 21967, IV 99 s.; zit.: Flora.
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Die Kritik der Romantiker und Goethes an den Tragödien Alfieris
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drängen sich geradezu auf: Filippo und Don Carlos, La Congiura d und Die Verschwörung des Fiesco %u Genua, Maria Stuarda und Maria Stuart — Tyrannenhaß und -bewunderung gegen Tyrannenhaß und Versöhnung mit der Macht. Solche Vergleiche sind in der Tat oft gezogen worden; 2 die Ergebnisse der Bemühungen | ermutigen freilich nicht, auf diesem Wege fortzufahren. Aufschlußreicher scheint mir die kritische Haltung, welche die Romantiker und Goethe zu Alfieri einnahmen: nicht wegen der ebenfalls vorhandenen , Parallelen' — die Gestalt des Orestes im Oreste und in der Iphigenie^ die Vita und Dichtung und Wahrheit — , sondern wegen der literaturkritischen Überlegungen, die sich aus der Lektüre Alfieris für die deutschen Leser ergaben und das Urteil über sein Schaffen in Spruch und Widerspruch bis zur modernen italienischen Literaturkritik mitbestimmten. Mit einer Ausnahme 3 scheint das Thema noch nicht behandelt worden zu sein, vielleicht weil die Zeugnisse verhältnismäßig spärlich sind und Alfieri „als Bildner Goethes nicht in Betracht kommt". 4 Daran besteht freilich kein Zweifel. Doch gibt es einen anderen Gesichtspunkt, unter dem sich die Behandlung des Themas nach komparatistischen Methoden rechtfertigt: das grundverschiedene Urteil über einen Autor, der im Zusammenhang einer Nationalliteratur ein anderes spezifisches Gewicht hat als im Rahmen der Weltliteratur. Alfieris Dramen haben nun einmal nicht das gleiche weltliterarische Karat wie Manzonis Promessi sposi. Das früheste Echo, das Afieris Werke in Deutschland hervorgerufen haben, dürfte die Rezension des ersten Bandes seiner Tragedie, Siena 1783, 2
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Tima Fiaschi: La „Maria Stuarda" dt Vittorio Alfieri e quella di Federico Schiller, Grosseto 1903; Filippo Visconti: // „Filippo" di V. Alfieri e U „Don Carlos" di F. Schiller, Avellino 1906; Ezio Levi: Storia poetica di Don Carlos, Pavia 1914; Elisabetta Mensi: // „Filippo" dell'Alfieri e il „Don Carlos" dello Schiller, Firenze 1924; Carlo Cattaneo: // „Don Carlos" di Schiller e il „Filippo" ä°Alfieri, in: Scritti lett., artistici, linguistici e vari, a cura di A. Bertani, Firenze 1948, I 11-59, u. a. Lavinia Mazzucchetti: Goethe e Alfieri non si incontrarono mai, in: La Fiera lett., 4. 9. 1949; zit.: Mazzucchetti: Goethe. Für die Abschrift des Aufsatzes danke ich Franca Baleotti. — Das „neue Quellenmaterial", das Heinz Kindermann (Das Goethebild des XX. Jh.s, Wien/Stuttgart 1952, 690) im Aufsatz der Mazzucchetti gesehen haben will, habe ich vergeblich gesucht. Die knappe Darstellung ist lediglich wegen der einleitenden Sätze („... la tensione attuale e poco propizia alia disinteressata disamina o contemplazione estetica") und der folgenden Bemerkungen über den deutschen Antisemitismus und Goethes angebliche „psychoanalytische" Alfieri-Interpretation (s. u. S. 277 und Anm. 65) zeitgeschichtlich interessant. Im übrigen stützt sich die Vf. in auf bekannte Quellen; viele sind ihr freilich entgangen. Fritz Strich: Goethe und die Weltlit., Bern 21957, 134 f.; zit: Strich. Vgl. auch Alfred Zastrau, in: Goethe-Handbuch, hg. v. dems., Stuttgart 21961, 134.
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in Christian Joseph Jagemanns Magazin der Italienischen Litteratur und Künste gewesen sein.5 Nach dem Urteil des Dichters selbst6 waren seine frühen Tragödien — Filippo, Polinice, Antigone und Virginia — barbaramente verseggiate. Der gleichen Meinung über den Stil war der deutsche Rezensent, einst selbst Literat und Abate in Florenz, seit 1775 Bibliothekar und Italienischlehrer der Herzogin Anna Amalia in Weimar. Jagemann schreibt: | Diese Trauerspiele wurden mit großem Ruhm angekündigt [...]. Da sie im Druck erschienen, ärgerte es sowohl die Gelehrten als Ungelehrten, sie in einem Stil geschrieben %u sehen, der die Schönheit derselben gan^ verstellte. [Der Verfasser] scheint sich alle Mühe gegeben %u haben, mit veralteten und florentinischen Wörtern und Redensarten seine Gedanken auszudrücken, eben als habe er sie nur für den florentinischen Pöbel geschrieben. Allen Artikeln hat er Feindschaft geschworen, und sich eine eigene Grammatik gebildet. Ohne diesen leicht zß vermeidenden Fehler würden diese Trauerspiele die besten unter allen seyn, die seit langer Zeit in Italien erschienen sind. Ihr Gang ist einfach, ohne die unnützen episodischen Liebeshändel, welche die besten Trauerspiele der französischen Bühne entehren. Der Dialog ist männlich und stark, der Sache und jedem Charakter angemessen, voll hoher und edelmüthiger, und zärtlicher Gedanken. Die Charaktere sind wohl ausgesucht, zweckmäßig und stark ausgezeichnet. Die Entwickelung wohl ausgeführt, und am Ende schrecklich. Entzückende Wahrheiten, die so lakonisch und kraftvoll vorgetragen werden, finden sich nur in den besten Trauerspielen der Griechen. Schade, daß so kostbare Edelsteine in B ley eingefaßt sind [...]. Demohngeachtet ist es sehr wahrscheinlich, daß diese Trauerspiele auf der Bühne Beyfall finden werden. Die Härte und Dunkelheit der Verse läßt sich durch die lebhafte Action geschickter Schauspieler ersetzen [...]. Jagemann dürfte durch die scharfe Kritik aztpedantifiorentini beeinflußt sein, die Alfieri vorgeworfen hatten, er habe solecizzato, barbariz^ato, o smetriz^ato (Vita IV 11). Er war jedoch selbst ein sachkundiger Rezensent.7 In seinen Studien über die italienische Sprache legte er hohen 5
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Achter und letzter Band, Halle 1785, 308 — 310; die geplante Fortsetzung als Neues Magazin ... ist unterblieben. Vgl. Maria Teresa Dal Monte: Christian Joseph Jagemann — Un italianista del settecento in Germania, Imola 1970, passim; zit.: Dal Monte; dazu die Rezension des Buches von Frithjof Stock in arcadia 6 (1971), 332—336. Vittorio Alfieri: Vita scritta da esso, a cura di M. Sansone, Citta di Castello 1943, Epoca IV, cap. 10. Zum Zwecke der leichteren Verifizierung in anderen Ausgaben zitiere ich auch im Text die Epoche mit römischen und das Kapitel mit arabischen Ziffern. Vgl. die — gekürzte — deutsche Übersetzung von H. Hinderberger: Mein lieben, hg. v. G. Zoppi, Zürich 1949; zit.: Zoppi. Vgl. das Kapitel „II linguista" bei Dal Monte (Anm. 5) 99 —111: In Wielands Teutschem Merkur hatte Jagemann einen Versuch über den Ursprung der ital. Sprache veröffentlicht (August 1778); später verfaßte er auf der Grundlage des Vocabulario della Crusca ein deutsch-italienisches Wörterbuch, Weißenfels/Leipzig 790, eine Ital. Sprachlehre ...,
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Wert auf die acht toskanische Mundart. Wenn er Alfieri also wegen seiner Solözismen tadelte, so nicht ohne Grund: war es doch dem Piemontesen in seiner ersten Tragödie noch keineswegs gelungen, di spiemontizzarmi, sich zu „italianisieren" (Vita IV 6, 3). Jagemann scheint das Krampfhafte der Bemühungen gespürt zu haben, wenn er von veralteten und pöbelhaften Wendungen spricht. Daneben tadelt er Alfieris stilistischen Hauptgrundsatz, die immer wieder beschworene feroce brevitä, die ihn nicht zuletzt vor den gefürchteten chiacchere des Alters schützen sollte (Vita, Proemio; IV 11 u. ö.),8 sowie die — natürlich beabsichtigte — Härte und Dunkelheit der Verse. Nach den treffenden sprachlich-stilistischen Beobachtungen wirken Jagemanns literarische Urteile konventionell. Die Geringschätzung der französischen Tragödie war in Deutschland 1785 ein ästhetischer, der Vergleich mit den Wahrheiten der griechischen Tragödie seit langem ein moralischer Gemein-|platz. Interesse verdient allenfalls der Hinweis auf die Aufführbarkeit von Alfieris Trauerspielen, weil er ihre weitere Rezeption im Weimarer Kreis befördert haben könnte. — Durch einen äußeren Anlaß wurde Schiller mit Alfieri bekannt. Am 26. Januar 1803 schrieb er Goethe,9 er habe sich auf Wunsch des Herzogs mit den neuesten französischen Theatralia beschäftigt und Alfieri in französischer Übersetzung zu lesen angefangen, worüber ich aber jetzt noch nichts sagen mag. Aufmerksamkeit verdient übrigens diese Erscheinung, und ich freue mich, wenn ich mich durch die einundzwanzig Stücke hindurchgelesen habe, diese Angelegenheit mit Ihnen zj* verhandeln. Ein Verdienst muß ich ihm auf jeden Fall zugestehen, welches aber freilich zugleich einen Tadel enthält. Er weiß einem den Gegenstand £« einem poetischen Gebrauch zuzubringen, und erweckt die Lust, ihn z,u bearbeiten, ein Beweis z^arf daß er selbst nicht befriedigt, aber doch ein Zeichen, daß er ihn aus der Prosa und Geschichte glücklich herausgewunden hat. Man wüßte gern, welche Stücke Schiller gelesen hat. Waren es die themengleichen, wie eine verständliche Neugier es erwarten ließe, oder war er auf der Suche nach einem Stoff, den er hätte bearbeiten mögen wie nicht lange zuvor Gozzis Turandofi Was hätte ihn aus Alfieris Repertoire anziehen können? Wahrscheinlich nicht die klassischen und — 1803 — noch weniger die ,shakespearischen' Themen; vielleicht die biblischen,
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Leipzig 1792, und Anfangsgründe von dem Bau und der Bildung der ital. Sprache ..., Leipzig 1800. Vgl. Horst Rüdiger: Pura et illustris brevitas — Über Kur^e als Stilideal, in: Konkrete Vernunft - FS für Erich Rothacker, Bonn 1958, 345-372; hier 356 über Alfieri, wobei ich ebenfalls auf den fehlenden Artikel in einem politischen Epigramm hingewiesen habe. Goethe: Briefwechsel mit Schiller, Gedenkausg. XX, hg. v. K. Schmid, Zürich 1950, 922.
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der Saul und das mit der eigenwilligen Vokabel Tramelogedia bezeichnete Mysterium Abele von der ersten Kollision der Menschen, die Schillers Phantasie immer erregt hatte.10 Viel Vergnügen scheint ihm die Lektüre nicht bereitet zu haben: hindurchgelesen klingt wie ,hindurchgequält', und herausgewunden läßt die Mühe ahnen, die Alfleri in der Tat aufgewandt hatte, um seine Stoffe zu poetisieren. Gerade das für die ästhetische Beurteilung entscheidende Kriterium des Poetischen hat Schiller jedoch positiv gewertet; was ihn — wie so viele Kritiker Alfieris — verstimmt, ist der sichtbar gebliebene Kraftakt bei der Verwandlung des Stofflichen ins Poetische. Lob und Tadel halten einander die Waage.11 | Der Ausgangspunkt für die Kritik der Romantiker ist Mme de Staels kulturhistorisch-sentimentaler Roman Corinne ou l'Italie (1807).12 Im zweiten Kapitel des siebenten Buches wird das italienische Drama gesprächsweise abgehandelt. Graf d'Erfeuil, fest überzeugt von der Unübertrefflichkeit der französischen Klassiker, spricht den Italienern jedes Talent für dramatische Gestaltung ab, macht sich über die Launen der Sänger auf der Bühne und den schlechten Geschmack des Publikums im Parterre, über Ballette und Horrordramen lustig und läßt den Italienern allein den — nach seiner Meinung höchst zweifelhaften — Ruhm der Commedia dell'arte. Mit einem Wort (138): // n'y a pas plus en Italie de comedie que de tragedie; et, dans cette carriere encore, c'est nous qui sommes /es premiers. In ihrer klugen Erwiderung geht Corinne zunächst auf die Komödie ein. Sie unterscheidet zwischen der Charakterkomödie, die es auf Grund des italienischen Temperamentes nicht geben könne, und der comedie ideale [...], celle qui tient ä imagination [ · · · ] , c'est en Italie qu'elle a ete inventee (139). Da Phantasie die bewegende Kraft der italienischen Komödie sei, 10
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Vgl. Etwas über die erste Menschengesellschaft ..., in: SW, hg. v. G. Fricke und H. G. Göpfert ..., München 1958, IV 776. Georg Lukäcs (Faust und Faustus ..., Reinbek 1967 [= rde 285-287], 68) schreibt: Die Kritik Schillers an Alfieri „zeigt, daß für sie beide das bloß abstrakte Herausarbeiten der wesentlichen Momente des Stoffes, selbst wenn dies den Gesetzen des betreffenden Genres entspricht, keineswegs ausreicht, daß sie dieses Herausarbeiten der wesentlichen Bestimmungen im griechischen und nicht im klassizistischen Sinne, also im Sinne eines großen Realismus und nicht im Sinne einer abstrakten Stilisierung, aufgefaßt haben". Diese Interpretation' ist spekulativ und durch den Text nicht gerechtfertigt. Sie scheint im Hinblick auf das „Abstrakte", was immer damit gemeint sein mag, auch der treffenderen Bemerkung (ebd. 85) zu widersprechen, durch Alfieris resoluten Verzicht auf „die Gestaltung des Besonderen und des Privaten" seien „großzügige, aber lebensleere abstrakte Umrisse von möglichen Tragödien entstanden". Nouvelle ed. ... par Mme Necker de Saussure et M. Sainte-Beuve, Paris s.a.; hier 136-148.
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nicht aber moquerie, kann Corinne für die Commedia dell'arte und für Gozzi eine Lanze brechen, und nicht ohne Bosheit gibt sie dem französischen Freunde zu verstehen (140): C'est l'Arioste, et non pas Moliere, qui peut amuser l'Italie. Über die Tatsache, daß der italienischen Literatur die Tragödie fehlt, 13 sind sich die Gesprächspartner einig. Immerhin sind Ansätze vorhanden. Ihre Charakterisierung bleibt zunächst Lord Oswald überlassen. Metastasio wirft er Eintönigkeit und Oberflächlichkeit vor, ohne die lyrischen Schönheiten seiner Melodramen zu verkennen. Höchste Achtung bringt er der Person und dem Ethos Alfieris entgegen. Mais U me semble que quelques-unes de ses tragedies ont autant de Monotonie dans la force, que Metastase en a dans la douceur (142). Die Charaktere findet er ins Extreme überzeichnet, so daß es unmöglich sei, d'j reconnoitre le veritable caractere des hommes. Auch im szenischen Aufbau vermißt er /es gradations de la verite, und die Ottavia scheint ihm das frappanteste Beispiel für den defaut de vraisemblance. Es sind die etwas simplen Kriterien der Realistischen' Shakespeare-Auffassung, das ,Wahre' und das Wahrscheinliche, nach denen die Stael den Engländer urteilen läßt, und es ist bezeichnend, daß Oswalds Kritik mit dem Entwurf einer fiktiven Nero-Tragödie im Stile Shakespeares endet (143), in der der Dichter par le silence meme de la rhetorique et la verite des tableaux Wirkung auf die Zuschauer ausüben würde. Corinne stimmt Oswald im wesentlichen zu, korrigiert seine Interpretation aber durch zeitgemäßere, d. h. spezifisch romantische Kriterien. Sie verwahrt sich gegen das Vorurteil, die Empfindungen der Italiener seien unecht; vielmehr verhalte es sich so, daß die Poeten un langage convenu geschaffen hätten; et ce n'est pas ce qu'on a eprouve, mais ce qu'on a lu qui sert d'inspiration aux poetes — \ modern ausgedrückt: Imitation wird der Originalität vorgezogen; der poeta doctus, nicht der Erlebnisdichter beherrscht die italienische Literatur. Nur Boccaccios Fiammetta bilde eine Ausnahme; hier sei die Liebe avec des couleurs vraiment nationales geschildert (144). Bei allen anderen Dichtern vermisse man le veritable caractere de la nature italienne [...]. En generale, notre litterature exprime peu noire caractere et nos maurs. Diese These wird nun auf Person und Werk Alfieris angewandt. Es folgen Sätze von einer kritischen Hellsicht, wie sie bei der Beurteilung Alfieris nur selten wieder erreicht worden ist: Alßeri [...] etait [...] transplante de fantiquite dans /es temps modernes; il etait ne pour agir, et U n'a pu qu'ecrire: son style et ses tragedies se ressentent de cette contrainte. U a voulu marcher par la litterature ä un but politique: ce but etait le plus noble de 13
Über die angeblichen Gründe dieses Mangels vgl. Lilo Ebel: Die ital. Kultur und der Geist der Tragödie, Freiburg/Br. 1948, eine im wesentlichen verfehlte Analyse.
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tons sans doute; mais n'Importe, rien ne denature /es outrages d'imagination comme d'en avoir un. Diese Worte — es empfiehlt sich, daran zu erinnern — stammen von einer Frau, der man manches vorwerfen kann, aber nicht Gleichgültigkeit in politischen Dingen. Doch sie wußte die Grenzen zwischen Politik und Kunst klar zu ziehen, ohne die eine ihrer Leidenschaften durch die andere beeinträchtigen zu lassen. Ihr kritisches Genie war unbestechlich. Der Verzicht Alfieris auf die Figur des Vertrauten und auf billige Theatereffekte, fährt Corinne fort, sei als Heilmittel gegen die Gewöhnung der Italiener an Märchen, Novellen und Madrigale zu verstehen. Trotzdem sei es ihm nicht geglückt, das zu schaffen, qu'on pourrait appeler un theatre Italien, c'est-ä-dire des tragedies dans lesquelles on trouvat un merite particulier a l'Italie. Et meme il n'a pas caracterise les mceurs des pays et des siecles qu'il a peints. Nur unter diesem negativen Gesichtspunkt sei er mit den Franzosen zu vergleichen. Auf einen Einwand d'Erfeuils entgegnet Corinne (145): U'im'agination, le caractere, les habitudes d'une nation doivent former son theatre, im Falle der Italiener also die Liebe zu den schönen Künsten, zur Musik, Malerei und Pantomime. Der Saul dient ihr als Beispiel dafür, in welchem Maße auch Alfieri der lyrischen Sprache mächtig gewesen sei (sie meint die Gesänge Davids vor dem verdüsterten König [III 4]). Gegen Alfieris rigorose Beschränkung auf das zum Skelett abgemagerte Wort schlägt sie vor, Wort und Musik auf der Bühne miteinander zu verbinden (146), non enfaisant chanter les beros, ce qui detruit toute dignite dramatique, mais en introduisant ou des chceurs [...] ou des effets de musique qui se lient a la situation par des combinaisons naturelles, comme cela arrive souvent dans la vie. Bedenkt man, wie skeptisch sich Mme de Stael bald darauf über die Chöre in Schillers Braut von Messina äußern wird (De l'Allemagne II 19), so ist man geneigt, Corinnes Anregung als unrealistische Verlegenheitslösung zu werten. Dieser Eindruck verstärkt sich bei der Lektüre der modernen, im Gefolge des literarischen Neorealismus ernüchterten italienischen Literaturkritik: Sie geht mit dem „idillismo canzonettistico arcadico", dem „librettismo melodrammatico piu scadente", dessen Spuren sich gerade in Alfieris David-Liedern klar nach-|weisen lassen, scharf ins Gericht.14 Dennoch hat die Stael die innere Verwandtschaft zwischen Alfieri und dem wegen seiner genuflessioncella di uso vor Maria Theresia (und wegen seiner Melodramen) von ihm herzlich verachteten Metastasio (Vita III 8) richtig geahnt; nur ist die Ähnlichkeit der beiden Autoren 14
So Walter Binni: Saggi alfieriani, Firenze 1969, 105. Weniger entschieden Mario Fubini: Vittorio A-lßeri (Hpensiero — La tragedia), Firenze 21953, 296s.
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neben der Monotonie ihrer farblos-atypischen Szenen auch in der rezitativ- oder arienhaften Stereotypie zu erkennen, mit der sie die Leidenschaften zeichnen. Das gilt nicht allein für die David-Lieder; der Saul bietet genügend weitere Beispiele:15 David:
Gionata: David:
Oh sposa! Oh dolce nome! ov'e Micol miaßda? M'ama ella ancor, mal grado il padre crudo? ... Oh! s'ella t'ama? ... E in campo anch'essa ... Oh cielo! Vedrolla? oh gioja! [...]
Besonders die Gestalt der Micol ist mit sprachlichen Versatzstücken aus der melodramatischen Konvention reich ausgestattet (I 4): David: Micol:
David: Micol:
Teco e il tuo sposo. Oh voce! ...Oh vista! Oh gioja! ... Parlar ... non ... posso. — Oh maraviglia! ... E fia ... ver, ch'io t'abbraccio? ... sposa! ...Oh dura assen^a! ... [...] Oh David mio! ... Tu capo, termine tu d'ogni mia speme; ah! lieto il tuo venir mi sia! [...]
Hier ist Sprachlosigkeit (Parlar ... non ... posso) nicht die letzte, absurde Konsequenz des Lakonismus; sie ist das durch den melodramatischen Gattungszwang bedingte Versagen der künstlerischen Ausdrucksfähigkeit, zugleich aber die Reduzierung der Sprache auf jene stereotypen Lautklischees, welche Liebe, Freude, Schmerz signalisieren und erst durch eine Melodie lebendigen Ausdruck gewinnen. Wo bei Alfieri der Lyrismus vorherrscht, steht er Metastasio nahe — das hat die Stael richtig gesehen. Sie hat aber nicht den — heute naheliegenden — Schluß gezogen, daß die italienische Tragödie in erster Linie gar nicht im Wortdrama zu suchen ist, vielmehr — in Ansätzen — tatsächlich im Melodrama der Metastasio, Zeno, Calzabigi, Da Ponte. Die Vollendung brachte freilich erst das | Musikdrama Giuseppe Verdis, das nicht zufällig mit dem nationalen Aufschwung des Risorgimento zeitlich zusammenfällt. Unter dem Eindruck der französischen Klassiker hat Alfieri die italienische Tragödie zunächst auf das tote Gleis des Klassizismus geführt. Es ist ihm damit nicht gelungen, das theatre tragique national zu schaffen, von dem Lord 15
Vittorio Alfieri: Tutte le tragedie, Introduzione e note die A. Ruschioni, s. 1. 1966; Saul 625-670; hier I 2.
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Oswald am Ende nochmals schwärmt (147). Und Oswald hat recht, wenn er dem Publikum beinahe die gleiche Rolle zuspricht wie den Dichtern: Le genie dramatique se compose de l'esprit publique, de l'histoire, du gouvernement, des maurs, enfin de tout ce qui s'introduit chaquejour dans la pensee et forme l'etre moral, comme I'air que I'on respire alimente la vie physique. Es ist nicht der Mangel an Genie, an dem der Dramatiker Alfieri gescheitert ist, es sind les circonstances (138). Diese Umstände waren es, die erst zwei Menschenalter später die italienische Tragödie in Gestalt von Verdis Musikdrama entstehen ließen. Das literaturkritische Symposion, das die Italienerin Corinne mit dem französischen Grafen und dem englischen Lord veranstaltet, geht von den bekannten theoretischen Überlegungen der Stael aus: Die Literatur wirkt auf die Gesellschaft ein, so wie diese umgekehrt durch die Literatur geprägt wird; der ,Volkscharakter' bestimmt die Gestalt einer Nationalliteratur; Phantasie ist die poetische Zentralkraft; das ,Charakteristische', Nationelle, nicht das klassizistisch Typische macht den Wert des modernen Kunstwerkes aus. Daraus ergibt sich die Kritik der spezifischen Merkmale der italienischen Literatur des Settecento: ihrer Abhängigkeit von der Konvention, die als später Nachklang eines depravierten Petrarkismus zur verspielten Sterilität der Arkadier erstarrt ist,16 und der musikalischkünstlerischen Begabung des Volkes bei gleichzeitiger Unfähigkeit zur Tragödie. Sie erscheint den Zeitgenossen, welche die Entwicklung des Melodramas zum musikanischen Drama noch nicht erlebt hatten, als der stärkste Mangel, weil sie die italienische Literatur an der französischen, der englischen, der spanischen und bald darauf der deutschen maßen. An Maffeis Merope hatten nicht nur Voltaire und Lessing Kritik geübt, indem sie Maßstäbe anlegten, die diesem Stück nicht gerecht werden konnten — auch Alfieri selbst hatte bei der Lektüre die miseria e cecitä teatrale Italiens beklagt (Vita IV 9), und schon er hatte diese Misere zwar weit einseitiger als die Stael, aber ebenfalls mit einem deutlichen politischen Akzent auf die Unfreiheit seines Vaterlandes zurückgeführt. Im Haß gegen die Tyrannen weiß sich die Stael mit ihm einig, was sie aber nicht blind macht gegen die Schwächen seiner Dramen: Sie erkennt den autonomen Charakter der Dichtung gegenüber politischen Zielsetzungen vorbehaltlos an. Anderseits läßt Corinne die an Shakespeares Maß geschulte Kritik des englischen Freundes nicht gelten; sie fordert eine Tragödie, die dem italienischen Nationalcharakter angemessen sei, und um das musikalische 16
Vgl. Goethes belustigte Schilderung der werten Schäfer bei seiner Aufnahme in den Poetenorden (Die ital. Reise III, Gedenkausg. XI, hg. v. E. Beutler, Zürich 1950, 528-532 [Rom, Januar 1788]).
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Talent der Italiener | für das Drama zu retten, verfallt sie ihrerseits auf eine klassizistische Lösung, den Chor. Wie alle Charakteristiken der Stael, die mit Enthusiasmus für den Autor und Kenntnis seiner Werke geschrieben sind, zeichnet sich auch das Bild Alfieris durch Einfühlungsgabe und treffende Beobachtung einzelner Züge aus; wie die meisten anderen ist auch diese Charakteristik nicht frei von ideologischem Ballast und von Widersprüchen. Die Bemerkungen über die dramatische Kunst in Corinne gehen zweifellos auf die Unterhaltungen mit August Wilhelm Schlegel in Coppet zurück. 17 Dennoch finden sich Unterschiede in der Substanz und in den Akzenten. Schlegel, einer von Germaines langjährigen Cavalieri serventi in litteris, veröffentlichte sogleich nach Erscheinen der Corinne eine wohlwollende Rezension,18 in der er auch auf die Bemerkungen über das italienische Theater eingeht. Die Liebhaberaufführungen, bei denen Corinne als vielbewunderte Schauspielerin mitwirkt, faßt er als Anregung auf, wie die dramatische Kunst in Italien auf einer freieren Bahn gedeihen könnte. Statt der verfehlten, leblosen Nachahmungen der alten oder gar der französischen Tragödie [...] sollte nach dem Beispiele der Engländer und Spanier dem ernsten Schauspiel romantischer Wechsel und Umfang verstattet werden. Er schlägt eine Mittelgattung aus Opera seria und Opera buffa vor, worin das ästige neben dem Wunderbaren, ja Abenteuerlichen Plat^ fände und wovon deutsche Komponisten einige vortreffliche Beispiele gegeben. Wirkt schon der Vorschlag der Stael, Alfieris Tragödie mit Chören auszustatten, einigermaßen unrealistisch, so ist Schlegels Anregung reine Utopie, die überdies in sich selbst Widersprüche aufweist: Die eine Art der Nachahmung soll durch eine andere, überdies durch einen Tragelaphen romantischer Art, ersetzt werden. Daß Alfieri die Tragödie als nationalpolitische Aufgabe verstand, ist Schlegel schon hier entgangen. Im Frühjahr 1808 hielt er dann in Wien seine Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (Erstdruck 1809).19 Nach einem flüchtigen Überblick über die dramatischen Hervorbringungen des Cinque-, Sei- und Sette17
18
19
Vgl. Pauline Gräfin de Fange: August Wilhelm Schlegel und Frau de Stael ... Nach unveröffentlichten Briefen ... Dt. Ausg. von W. Grabert, Hamburg 1940, 138; zit.: de Fange. Ähnlich Lavinia Mazzucchetti: A. W. Schlegel und die ital. Lit., Zürich 1917, 109; zit.: Mazzucchetti: Schlegel. 1807 in der Jenaischen Allgemeinen Litt.-Ztg.; abgedruckt in: Krit. Sehr., ausgew. ... von E. Staiger, Zürich/Stuttgart 1962, 326-341; hier 333; zit.: Schlegel: Krit. Sehr. (Staiger). Vgl. Mazzucchetti: Schlegel (Anm. 17) 109 f. Krit. Ausg. ... von G. V. Amoretti, Bonn/Leipzig 1923. Über Alfieri I 196f., 201-204, 208f.; dazu Amoretti S. XXXf., XXXIII, XLIV. Zit.: Schlegel: Vorlesungen, bzw. Amoretti.
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cento vergleicht er ebenfalls Metastasio mit Alfieri. Ihre Gemeinsamkeit sieht er im Einfluß [...] des französischen Theaters (196), besonders deutlich ausgeprägt bei Alfieri: Ich finde sie in der gänzlichen Abwesenheit des romantischen Geistes, in einer gewissen fantasielosen Nüchternheit der Composition, in der nicht recht mythologischen Behandlung der mythologischen, und der nicht recht historischen Behandlung der historischen Stoffe, endlich in der bezweckten tragischen Reinheit, \ welche in Einförmigkeit ausartet. Die Einheiten des Ortes und der Zeit hat Alfieri durchgängig beobachtet [...]. Alfieri [...] läßt die Augen meistens gan^ leer ausgehen. Die harmonische Idealität der Alten sei ihm fremd geblieben (197). Bereits diese einleitenden Bemerkungen setzen in der Form des Vergleichs wie in der Tendenz die Comparaison de la Phedre de Racine et celle d'Euripide (erschienen 1807) voraus. In der Schärfe der Kritik am französischen Klassizismus steht diese Schrift Lessings Angriffen gegen Racine nicht nach; doch die Entrüstung im napoleonischen Frankreich war größer, weil Schlegel in Racines Sprache geschrieben hatte und das französische Literaturideal überhaupt zu treffen schien.20 Nun überträgt er sein Verdikt auf die italienischen ,Nachahmer', ja er behauptet (196), sie hätten versichert, die französischen Muster geflissentlich [...] nicht gelesen zu haben, um ihrer eigenen Originalität nicht %u schaden. Das trifft jedoch in dieser allgemeinen Form für Alfieri nicht zu: Gerade die Phedre, die er seit seinem achtzehnten Lebensjahr kannte, hatte ihn neben Voltaires Al^ire und Mahomet am meisten angesprochen (Vita III 4). Doch die Vita, 1804 erschienen, scheint Schlegels Spürsinn entgangen zu sein. Überdies war er damals von der klassizistisch-romantischen These der Mustergültigkeit der griechischen Tragödie überzeugt — romantisch insofern, als sie im Banne des neuhumanistischen Natur- und Ursprünglichkeitsideales vom Griechentum steht, welches Dichtern wie Theoretikern der Epoche gleich erstrebenswert schien. Was Schlegel bei Alfieri nicht erkennt, wußte die Stael und wußte auch Sismondi: daß jedes Volk eine nationale Tragödie hat, die — aller angeblichen Nachahmung zum Trotz — ihren eigenen Gesetzen gehorcht und eigene Formen hervorbringt, daß sie also gar nicht aus ,Nachahmung' hervorgegangen ist, sondern aus der umgestaltenden Anverwandlung exemplarischer Stoffe, Motive, Situationen, Charaktere. Sie zu ihrem Nachteil an einem zeitbe20
Krit. Sehr, und Briefe l - Sprache und Poetik, hg. v. E. Lohner, Stuttgart 1962; 11; zit.: Schlegel: Krit. Sehr. (Lohner). Dazu de Fange (Anm. 17) 140—143; Chetana Nagavajara: August Wilhelm Schlegel in Frankreich — Sein Anteil an der francos. Lit.kritik, Tübingen 1966, bes. 21—44; ferner 74—127 über das Verhältnis Schlegels zu Mme. de Stael und Sismondi, 128 — 199 über Aufnahme und Verbreitung der Vorlesungen in Frankreich.
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dingten Ideal zu messen, heißt den spezifischen Charakter eines anders gearteten Kunstwerkes verkennen. Auch bei der eigentlichen Behandlung Alfieris kommt Schlegel von seinen drei Bezugspunkten, der griechischen, der französischen Tragödie und Metastasio, nicht los. Wie die Stael zollt er der Person des Autors Respekt, schränkt aber sogleich ein (201): Seine Begeisterung war weit mehr politisch und moralisch als poetisch, und man muß seine Trauerspiele mehr wie Handlungen des Mannes als wie Werke des Dichters loben. Zu dieser Stelle notierte sich Manzoni, der die Vorlesungen in der französischen Übersetzung aufmerksam gelesen hatte:21 Je regrette fort que l'auteur n'eüt pas explique cette distinction, car je sup^onne \ qu'elle ne soii que dans les mots et qu'elle s'evanouit a l'analyse. Für Manzoni waren Ethos und Kunst untrennbar verbunden — einer der Gründe, weswegen der alte Goethe ihn so hoch schätzte; für Schlegel ist die Kunst autonom und hat mithin Eigenwert. Geistreich nennt er Alfieri einen umgekehrten Metastasio und den Cato des Theaters; aber anders als die Stael stellt er fest: Er ist nicht nur nicht musikalisch, sondern gerade %u antimusikalisch [...]. Schlegel vermißt characteristische Tiefe und Feinheit und die einschmeichelnden Grazien (202); Alfieris Muse sei eine mannweibliche Amazone mit spartanischer Erziehung (201). Und immer wieder verfährt er aristotelisch-schillerisch und nomothetisch: Die Tragödie die soll rühren und erschüttern; sie soll durch eine erhebende Gesinnung unser Gemüth gewissermaßen von der sinnlichen Gewalt des Lebens entfesseln; sie darf dies nicht und muß jenes22 — ausgestattet jedoch mit jenem Rei%, den hervorzubringen Alfieri nicht fähig sei: Wenn man Alfieri's Trauerspiele liest, so kommt einem die Welt überhaupt düster und widerwärtig vor. Von der griechischen Tragödie sei Alfieri durch eine ungeheure Kluft getrennt (202), die französische habe er nicht verbessern können. Zwar habe er die Vertrauten-Figuren abgeschafft, was ihm hoch angerechnet worden sei; aber auch für diese Vereinfachung hat Schlegel nur den Spott des Redners vor einem höfischen Publikum übrig: [...] er konnte die Kammerherren und Hofdamen eben so wenig in der Dichtung als in der Wirklichkeit leidend An 21
22 23
Nach Mazzucchetti: Schlegel (Anm. 17) 97, Anm. 3. — Bezeichnenderweise hat auch Benedetto Croce (Alfieri, in: Poesia e non poesia ..., Bari 51960, 3f.; zit.: Croce) gerade auf diese und die folgende Stelle Schlegels zurückgegriffen: „[...] l'AIfieri, prima ehe poeta o al tempo stesso ehe poeta, era uomo di passione [...] ardente [...]." Sperrungen von H. R. An dieser Stelle nahm Alfieris Geliebte, die Gräfin Albany (vgl. Anm. 70), Anstoß, weil sie — fälschlich — eine Anspielung auf sich persönlich vermutete. Sie schrieb an Sismondi (nach Carlo Pellegrini: La Coniessa d'Albany e U salotto del Lungarno, Napoli 1951, 192 f.; zit.: Pellegrini): Je ne chercberaipas äjustifier le C.fomte] Alfieri qui est bien connu pour n'avoir jamais fait le courtisan, und nannte Schlegel einen pedant Allemand.
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gefälliger und glänzender Beredsamkeit, Kunst der Verknüpfung, der Abstufungen, Vorbereitungen und Uebergänge seien seine Tragödien ihren französischen Vorbildern unterlegen, wie der Vergleich der Ottavia mit dem Britannicus beweise. Als Beispiel wählt Schlegel wie die Stael die Gestalt des Nerone; wie sie findet er ihn völlig verzeichnet. Hier ist die Übereinstimmung der Kritik evident: Die Stael hatte festgestellt (143): Ce n'est pas la [= la tyrannic] peindre sous ses redoutables couleurs, c'est en faire seulement un but pour l'escrime de la parole; Schlegel formuliert (203): Mit solchen Farben werden die Tyrannen in den Redeübungen der Schulen gemahlt. Dem Vorwurf der verfehlten Rhetorik folgt der schwerer wiegende ästhetische Tadel: Alfieri habe weder Tacitus, die Quelle seiner Ottavia^ noch Machiavelli, der ihm den Stoff zur Congiura de'Pa^i lieferte, ergründend in eine dichterische Darstellung übersetzt. In den Dramen aus der neueren Geschichte, Filippo und Don Garcia, habe er den Geist und Ton der neueren Zeiten ja seines eignen Volkes durchaus nicht %u treffen gewußt; seine Begriffe vom tragischen Styl widersetzten sich allem örtlich bestimmten Costum. Es ist der Vorwurf vom Mangel des ,Charakteristischen', das ein Hauptkriterium des ästhetischen | Urteils der Romantiker war. Am besten habe Alfieri das öffentliche Leben der römischen Republik gefaßt., was die Stael ebenfalls bereits festgestellt hatte (144). Und bei der Beurteilung des Saul klingt nochmals die Kritik der Stael an, wenn von der ,Entvölkerung' der Szene um der angestrebten Einfachheit willen die Rede ist: Diese Einsamkeit der Bühne ist sehr auffallend im „Saul", hinter dem Rücken ^weyer Heere und im Augenblick einer entscheidenden Schlacht, da sich sonst dieses Stück durch einen etwas morgenländischen Anstrich und lyrischen Schwung in der Geistesverwirrung Sauls vortheilhaft auszeichnet. Ergebnis (208f.): [...] die Grundsätze der tragischen Kunst, welche Alfieri befolgte, sind durchaus falsch; seine tragische Poesie stellt sich mit der tödtendsten Einförmigkeit dar. — Wir machen von Schlegels eigenem Verfahren Gebrauch und vergleichen seine Kritik mit der seiner Vorgängerin. Die romanhafte Fiktion der Corinne verlangte, daß die Heldin Italienerin war, ja die Lieblingstochter Italiens (Schlegel). So war es auch natürlich, daß sie die Literatur ihres Volkes gegen die Angriffe von französischer und die unangemessene Kritik von englischer Seite in Schutz nahm. Hinter der Fiktion ist aber als Realität die Liebe der Stael zu Italien zu spüren: eine zwar nicht unkritische, doch kluge Liebe, welche die Mängel des geliebten Gegenstandes im mildernden Lichte des Wohlwollens sieht.24 Schlegel hingegen urteilt aus der kühlen Distanz des
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Sismondi war mit ihr zwar einer Meinung über den pedant presompteux, klärte sie aber auf, daß Schlegel a l'avantage du comte Alfieri habe sprechen wollen. Schlegel: Krit. Sehr. (Staiger) (Anm. 18) 327, 334.
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Kunstrichters, der sich im Besit2 der aktuell gültigen und zugleich der ,ewigen' künstlerischen Gesetze weiß.25 Sein Engagement ist ästhetisch; die Stael verfolgt ein ästhetisches und ein kulturpolitisches Ziel. Sie sympathisiert mit dem Tyrannenhasser Alfieri und erwähnt Napoleon mit keinem Wort, während Schlegel zwar die Aufstellung männlicher Seelenstärke, stoischer Grundsätze und frejer Gesinnungen bei Alfieri rühmt (201), doch gerade in dieser Haltung den Anlaß für sein künstlerisches Versagen sieht. Es ist freilich unbillig, ihm vorzuwerfen,26 er habe nicht erkannt, daß mit Alfieri „eine neue Welt geboren wird". Abgesehen davon, daß es 1808 auch einem politisch scharfsichtigeren Kritiker als Schlegel — daß es Alfieri selbst nicht möglich war, das Risorgimento vorauszusehen, wurde nicht eine neue Welt, sondern das neue I t a l i e n geboren. Dessen erste Stimme war die antimusikalische, bildlose, gewollt ungraziöse des barbaro Allobrogo, wie er sich selbst mit grimmigem Humor nannte (Vita III 1), und sie wurde auch in seiner Heimat nicht sogleich geschätzt und in ihrer nationalen Tragweite begriffen. Hier liegt der Kern der kritischen Haltung oder — wenn man will — des Mißverständnisses durch Schlegel: Wie die Stael bemühte er sich, von einem | ü b e r n a t i o n a l e n Standpunkt aus zu urteilen; aber ebenso wie die Stael gehörte er einer Nation an, war mit ihrer Geschichte verbunden, in ihren Urteilen und Vorurteilen verwurzelt. Die Literaturkritik hatte in Deutschland — nicht zuletzt durch ihn und Friedrich Schlegel — ein Niveau erreicht wie zuvor nur bei Lessing; die deutsche Dichtung hatte, zum ersten Male in ihrer Geschichte, weltliterarisches Format; Kritik wie Dichtung wurden trotz der politischen Ohnmacht der Deutschen außerhalb der nationalen Grenzen vernommen. Im vollen Bewußtsein dieser einmaligen Konstellation, aber auch in der Überzeugung, die griechische (und shakespearische) Tragödie sei für alle Zeiten und Völker mustergültig, war es Schlegel noch gar nicht möglich, die Leistung Alfieris für die i t a l i e n i s c h e Literaturgeschichte gerecht zu beurteilen.27 Abgesehen vom zeitlichen Abstand fehlte seiner richterlichen Attitüde und seinem Selbstbewußtsein auch die milde Nachsicht, welche die lie25
26 27
Vgl. die Formulierungen von Mazzucchetti: Schlegel (Anm. 17) 93, 102, 105: „kalte Überlegenheit", „kalte Abneigung", „kalte Verachtung". Ebd. 93 über den .romantischen' Systemzwang; 96 sowie Amoretti (Anm. 19) S. LXXXV, Anm. 66, über die Unzulänglichkeit von Schlegels Hauptquellen, Calzabigi und die Schrift des Spaniers Stefano Arteaga: La revolutions del teatro musicale iiaJ., Bologna 1785. Amoretti (Anm. 19) s. XXXI. Mazzucchetti: Schlegel (Anm. 17) 99 f., bemerkt richtig, man könne „einem Ausländer keine Vorwürfe machen, wenn er für eine damals k a u m k e i m e n d e neue Richtung keine Aufmerksamkeit hatte" (Sperrung von H. R.).
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bende Frau Italien entgegenbrachte. Wo aber Schlegel den nötigen Abstand gewonnen hatte, wo er sein romantisches Programm erfüllt sah, war er durchaus fähig und bereit, die Größe der italienischen Dichtung anzuerkennen. Das zeigte sein Dante-Essay von 1791, in dem sich — unter dem Eindruck der Französischen Revolution — Sätze finden, die dem Ethos und Pathos Alfieris nahestehen:28 Freiheit schrie das Volk, und Anarchie trug es im Sinne. Mächtige raubten, Tyrannen würgten, Priester trieben Verrat, und der heilige Vater %u Rom war meistens Erzengel der Zwietracht. Aber nicht allein, daß Priesterverrat und Tyrannenwillkür zentrale Motive im Saul sind; auch Dantes Sprache wird ähnlich wie die Alfieris charakterisiert: Selbst den Italienern wird seine Dunkelheit [...] immer undurchdringlicher, seine Sprache fremder, der männliche Klang seiner Verse rauher und barbarischer. Freilich — Alfieri war ein Zeitgenosse und hatte nicht die geistige Statur Dantes, und der Schlegel von 1791 war ein anderer als der von 1808. Die Vorlesungen erschienen bald in französischer, englischer, italienischer, ein Teil auch in niederländischer Übersetzung.29 Neben Bewunderung trugen sie Schlegel in Italien herbe Kritik ein, die herbste und empfindsamste von seinem konservativen Übersetzer Giovanni Gherardini: Tu solo fra tanti milioni d'uomini, tu solo, o Schlegel, leggi U Metastasio, e dorme intanto il tuo cuore, e inaridiscono i tuoi occhi! Ma se non piangi, di ehe pianger suoli? Nun, auch in Italien dürften 1817 nur noch einige Greise über Metastasio Tränen vergossen haben; bezeichnend ist jedoch die Empfindlichkeit und der patriotische Eifer, mit dem die italienischen Kritiker reagierten. Schlegel antwortete erst 1828 in der Vorrede | zur Ausgabe seiner Kritischen Schriften^ ebenfalls mit jener bezeichnenden Mischung von Empfindlichkeit und Selbstbewußtsein, welche ihm bald den Spott Heines eintrug: Die National-Eitelkeit der Italiener ist beinahe noch reizbarer als die der Franzosen; die Alpen sind für sie meistens die Grenze der literarischen Welt: wenn einmal ^ufällig ein transalpinisches Urteil nach Italien gelangt, so erregt es eben deswegen die Aufmerksamkeit um so stärker. Da nun das Theater die schwache Seite der italienischen Literatur ist, so mußte ich dort lebhaften Widerspruch finden 28
29
30
Schlegel: Krit. Sehr. (Lohner) (Anm. 20) 70, 68. Vgl. Horst Rüdiger: Dante als Erwecker geistiger Kräfte in der dt. Lit., in: FS für Richard Alenyn, hg. v. H. Singer und B. v. Wiese, Köln/Graz 1967, 17-45; hier 29-32. Amoretti (Anm. 19) S. XCII, Anm. 99. Zum Folgenden ebd. S. LXXXVI, Anm. 68. Das Zitat aus Gherardini nach Mazzucchetti: Schlegel (Anm. 17) 96; vgl. auch 99, Anm. 5. Krit. Sehr. (Staiger) (Anm. 18) 11-19; hier 13.
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[...]. Die Zeit dürfte wohl kommen, wo meine Bildnisse von Metastasio und Alfieri in Italien nicht mehr so unverzeihlich scheinen werden als jet^t.
Er hatte nicht zur Kenntnis genommen, daß Parini denfero Allobrogo in der Ode // dono schon 1791 als/ra gl'itali spirit unico gepriesen und A Vittorio Alfieri il tragico ein Huldigungssonett übersandt hatte; daß Foscolo in den Sepolcri (l 809) den Tyrannenhasser neben Dante, Petrarca und Machiavelli unter die Unsterblichen der italienischen Literatur versetzt hatte; daß ihm Leopardi in der Canzone Ad Angelo Mai (1820) gefolgt war. Sie meinten freilich alle den Allobrogo feroce, der, irato a'patrii Numi, die Schaubühne zur politischen Anstalt gemacht hatte. Eben dies war einer der Gründe, weswegen ihm die Stael und Schlegel das poetische Gelingen bestritten hatten. Zu denen, die über Schlegels Vernichtungsgeist bei anderer Gelegenheit ungehalten waren, gehört Goethe.31 Wir wissen nicht, seit wann er sich mit Alfieri beschäftigt hat; der eigentliche Anstoß scheint erst durch die Romantiker erfolgt zu sein. Die flüchtige Bemerkung in einem Brief an Jacobi vom 1. Februar 1793, er werde für einen Bekannten ein paar Bände von Alfieri beilegen,32 sagt nichts über seine eigene Kenntnis aus. Schillers Brief (s. o. S. 261) läßt zwar vermuten, daß Goethe die Tragödien Alfieris schon Anfang 1803 kannte, doch scheinen sie ihn damals nicht sonderlich interessiert zu haben. Anfang Mai 1809 las er Alfieris Vita in einer französischen Übersetzung, die damals in Weimar zirkulierte, und gab sie Frau von Stein mit der Bemerkung weiter:33 Sie ist höchst interessant. \ Hier 31
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33
Vgl. den Bericht von Heinrich Voß d. J. vom 26. 1. 1804, in: Goethe: Gespräche I, Gedenkausg. XXII, hg. v. M. Pfeiffer-Belli, Zürich 1949, 324. WA IV, X (1892) 49. - Das Oratorium hinter dem Gitter in der Chiesa dei Mendicanti zu Venedig, von dem Goethe am 3. 10. 1786 berichtet, ein Alt habe den König Saul gesungen, war nicht Alfieris Saul, wie Annette Schüer angibt (Register zu den Tagebüchern, Ergänzungsbd. II zur Gedenkausg., hg. v. P, Boerner, Zürich/Stuttgart 1964, 670 zu 164). Die Tragödie Alfieris ist zwar 1782 entworfen und in Verse gesetzt worden (Vita IV 9), aber erst 1787 — 90 bei Didot in Paris in der ersten Gesamtausgabe der 19 Tragödien erschienen (Vita IV 17, 18). Vielleicht hat Goethe Handels Saul nach N. Hamilton (1738) gehört, der ja in der Tat ein Oratorium ist. Goethes Briefe an Charlotte von Stein, hg. v. J. Fränkel, Berlin 1960, II 437 (9. 5. 1809); 1962, III 244. Vgl. Aus Karl Ludwig von Knebels Briefwechsel mit seiner Schwester Henriette (1774- 1813) ..., hg. v. H. Düntzer, Jena 1858, 368, 378f. (Henriette an Knebel, 10. 5. 1809, 1. 7. 1809); zit.: Knebel: Briefwechsel. — Schon in der Rezension von Friedrich Buchholtz' Bekenntnissen einer schönen Seele .,., Berlin 1806, erwähnt Goethe (Sehr. %ur Lit., Gedenkausg. XIV, hg. v. F. Strich, Zürich 1950, 237) flüchtig Alfieris bekannten Charakter, den man recht gerne auch in dieser Gesellschaft [der Romanfiguren] noch einmal leben und wirken sehen möchte.
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Die Kritik der Romantiker und Goethes an den Tragödien Alfieris
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ist sogleich eine persönlichere Teilnahme zu spüren als bei Schlegel, sei es wegen der Gattung Autobiographie oder wegen der Tragödie Saul, die Carl Ludwig von Knebel in den nächsten Monaten übersetzte.34 Die Wahl des Stückes geht wahrscheinlich auf Goethe zurück, der ein geeignetes Repertoire für das Weimarer Theater zusammenzustellen versuchte. Sie ist dadurch gerechtfertigt, daß Alfieri selbst den Saul für sein Meisterwerk hielt und den israelitischen König oder den David wiederholt auf Liebhaberbühnen spielte. Es war die Gestalt, die er am meisten liebte, per ehe in esso vi e di tutto, di tutto assolutamente (Vita IV 23). Die moderne Kritik hat sich Alfieris Urteil vorbehaltlos angeschlossen. Auch der Stael hatte das Stück am besten gefallen.343 Goethe nahm an Knebels Arbeit lebhaften Anteil und schätzte sie hoch.35 Sie gehört in der Tat zu den besten Leistungen der Übersetzerkunst der Epoche, obwohl sie nie recht gewürdigt worden, ja nahezu vergessen ist. Durch die Verdeutschung der Elegien des Properz war Knebel auf seine Arbeit vorbereitet; sie diente ihm wiederum als Übung für das schwierigere Lehrgedicht des Lukrez, das er später übersetzte. Formal löste er die Aufgabe, indem er Alfieris Endecasillabi in der Regel durch Blankverse, die David-Gesänge reimlos und polyrhythmisch wiedergab. Um dem Original nahe zu bleiben, half er sich hier gelegentlich durch den Wechsel daktylischer und trochaiischer Maße (III 4):36 34
Knebel: Briefwechsel (Anm. 33) 377: Henriette berichtet (21. 6. 1809), Goethe habe ihr den Anfang des Saul übersandt; Knebel möge sich bei der Arbeit nicht [...] stören lassen und sie nach Deiner Art behandeln. Ferner Briefwechsel ^wischen Goethe und Knebel (1774—1832), hg. v. Guhrauer, Leipzig 1851; zit.: Briefwechsel Goethe—Knebel; hier l 348: Knebel berichtet Goethe (14. 7. 1809), er arbeite an den Gesängen Davids im III. Akt und übersende eine Probe. Knebel: Briefwechsel 387: Henriette wünscht Glück zur Beendigung des Saul (23. 9. 1809). 34a Vgl. ihren Brief an Vincenzo Monti vom 5. 2. 1805, der neben der Bemerkung, der Saul gefalle ihr am besten von Alfieris Stücken, bereits die These vertritt, das Theater könne ohne eine Nation mit zivilen und politischen Institutionen nicht bestehen (Mme de Stael: Kein Her^, das mehr geliebt hat — Eine Biogr. in Briefen, hg. v. G. Solovieff, übers, v. R. Wittkopf, Frankfurt/M. 1971, 228). 35 Knebel: Briefwechsel (Anm. 33) 377 (21. 6. 1809), 388 (10. 10 1809). 36 Das Titelblatt des schwer zugänglichen Privatdrucks lautet vollständig: SAUL / Trauerspie/ in fünf Acten. / Nach / Vittorio Graf von Alfieri / von / Carl Ludwig von Knebel. / [Verlegermonogramm] BFV / Zum j erstenmale aufgeführt auf dem Hoftheater %u Weimar. / Ilmenau, / gedruckt und verlegt bei Bernhard Friedrich Voigt. / 1829. — Nach der Einleitung zu K. L. von Knebel's lit. Nachlaß und Briefwechsel, hg. v. K. A. Varnhagen von Ense und Th. Mundt, Leipzig 1840, I; zit.: Knebefs Nachlaß, hier S. LII1, schenkte Knebel das Manuskript seiner Frau zum Geburtstag, die es drucken ließ, „obwohl es damit nur in sehr wenigen Exemplaren ins Publikum gelangte". — Die folgenden Stellen: 52, 14, 48.
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Oh bella la pace! Oh grato U soggiorno, la dove hai dintorno amor st verace, si Candida fei \ Ma U sol giä celasi; tace ogni %effiro; e in sonno placido sopito e il re. 0 herrlicher Friede! 0 seliges Wohnen! Wo Liebe, die herzlich, Wo Treue, die redlich, Uns ringsum umgibt. Doch die Sonne sinket, Alle Winde schweigen, Und ein süßer Schlummer Hüllt den König ein. Auf die Wiedergabe der Sdruccioli hat Knebel mit gutem Grund verzichtet: Sie wären im Deutschen als ,Daktylen' am Versende erschienen und hätten den Charakter des Verses durchaus verändert. Knebel war sich der Schwierigkeiten bewußt: Er las die Gesänge Davids oft laut, um die Empfindung des Ohres zu schärfen,37 und fand ihre Wiedergabe mühsamer als die Umdichtung der Dialogverse. Zur Probe sandte er Goethe einen der Gesänge und wünschte, daß ihm die Anapästen nicht mislungen seyn möchten.38 Auch bei den melodramatischen Stellen hat er sich genau ans Original gehalten, wie seine Übersetzung des oben (S. 00) zitierten Passus aus I 4 zeigt: David: Michal:
David: Michal:
37 38
Bei dir ist dein Gemal. O Stimme! ... welch Ein Anblick! O du Freude! ... Reden kann ich nicht. — O Wunder! — ... Ist's denn wahr, daß ich dich hier umarme?... Gemalin! ... Harte Trennung! ... [...] O mein David! ... Du, Anfang und Ende aller meiner Hoffnung! Laß mir dein Kommen fröhlich seyn! [...]
Knebel: Briefwechsel (Anm. 33) 432. Briefwechsel Goethe - Knebel (Anm. 34) I 348.
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Um die Crux der meisten Übersetzungen, die Dehnung des Originales, zu umgehen, hat Knebel von der Freiheit Gebrauch gemacht, den Blankvers durch eingestreute jambische Sechsheber aufzulockern (oben die beiden ersten Verse Michals). Trotzdem benötigt er eine größere Zahl von Versen als das Original. So sind aus den 21 Versen des Monologes der Micol (V 2) bei ihm 24 geworden, ein | Verhältnis, das der Erweiterung des Gesamtumfanges der Übersetzung etwa entsprechen dürfte. Die eigentliche Schwierigkeit bestand in der adäquaten Wiedergabe der knappen und rauhen Fügungen Alfieris. Auf dessen manieristische Wortstellung ließ sich Knebel nicht ein, sondern wählte einen gehobenen Ton, aber die natürliche Wortfolge. Selbst die sentenzenhafte Prägnanz hat er auf eine entsprechende Stilebene zu transponieren vermocht. Als Beispiel die prophetischen letzten Worte des Priesters Achimelech nach dem Mordbefehl Sauls (IV 4): A me U morir da giusto niun re pud torre: onde U morir mi fia dolce non men, ehe glorioso. II vostro, giä da gran tempo, irrevocabilmente Dio l'ha fermato: Abner, e tu, di spada, ambo vilmente; e non di ostile spada, non in battaglia. — Or vadasi. — D'Iddio parlate all'empio ho l'ultime parole, e sordo ei fu: compiuto egli e U mio incarco: ben ho spesa la vita. Kein König kann Den Tod mir des Gerechten rauben. Und so ist Der Tod nicht minder süß, als glorreich mir. Unwiederrufbar ist der Eure schon Von Gott beschlossen. Du, und Abner, beide Sollt fallen ihr, als Feige, durch das Schwert: Nicht durch des Feindes Schwert, noch in der Schlacht. — Wohlan, wir wollen gehn; — verkündet nun Hab' ich dem Frevler Gottes letzte Worte; Doch er war taub. Erfüllt ist meine Pflicht. Und wohl verwendet dieses Leben.
Das ist Alfieris männlicher Stil, zwar ohne die intellektuelle Brillanz Machiavellis, aber ebenfalls an lateinischen Mustern, vor allem an Tacitus und Sallust, geschult. Niemand war berufener, ihn in ein friderizianisch karges, aber durch die Weimarer Klassik geschmeidigtes Deutsch zu übertragen als Knebel: ist er doch einer der wenigen deutschen Autoren
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der Zeit, die auch schwierige lateinische Verse zu meistern verstanden. Knebels Saul ist eine identifizierende' Übersetzung im Sinne Goethes,39 d. h. eine solche, in der die Übersetzung nicht anstatt \ des Originals, sondern an der Stelle des Originals gelten solle. Und als vollkommene Repräsentantin dieser Art, durch die wir an den Grundtext hinangeführt, ja getrieben werden, fand sie seinen Beifall. Saul wurde nach Goethes Notizen unter seiner Direktion 1811 in Weimar aufgeführt.40 Zwar hatte er das Manuskript schon im Oktober 1809 erhalten;41 doch am 10. Januar 1810 vertröstete er den Übersetzer auf eine spätere Premiere:42 Wenn ich Deinen Saul noch liegen lasse, so verleihst Du mir. Unsere Theaterfreunde haben da%u kein Vertrauen fassen wollen, so daß ich das Stück auf den Geburtstag [der Herzogin] nicht wagen konnte. Bei genauer Ueberlegung tritt noch der Umstand ein, daß die Forderung fast unerläßlich ist, die Gesänge Davids, wenigstens nach Art der Melodramen, mit Musik %u begleiten und eine solche Composition ist eine sehr schwere, nicht leicht %u lösende Aufgabe; doch habe ich noch nicht alle Hoffnung aufgegeben und denke es vielleicht nach Bianca della Porta und Zaire an die Reihe %u bringen. Bianca della Porta von Heinrich Joseph von Collin, Berlin 1808, wurde zum Geburtstag der Herzogin gespielt; das Stück war nach dem Urteil 39
40
41
42
Vgl. das Kap. Übersetzungen in den Noten und Abhandlungen zum Divan, in: Gedenkausg. Ill, hg. v. H. Maltzahn, Zürich 1948, 554-557. Tag- und Jahreshefte, in: Gedenkausg. XI (Anm. 16) 847: Der standhafte Prin% ward mit allgemeinem Beifalle aufgeführt [...]. Von Knebels übersetzter Saal Alfieris, die Tochter Jephta [von Ludwig Robert] wurden wiederholt [...]. Diese Formulierung läßt an eine Reprise denken. In der Tat schreibt Goethe schon unter 1809 (ebd. 837): Die neusten Erzeugnisse: Antigone von [Johann Friedrich] Rochlit^, Knebels Übersetzung von Saul des Alfieri, die Tochter Jephta von Robert, wurden der Reihe nach gut aufgenommen. Doch meint Goethe entweder mit gut aufgenommen nicht die Aufführung selbst, sondern die Lektüre, oder es liegt eine Gedächtnistäuschung vor. Wie aus den weiteren Zeugnissen hervorgeht, wurde die Premiere, die wohl zunächst für den Geburtstag der Herzogin im Januar 1810 vorgesehen war, auf den April 1811 verschoben. Der Irrtum mag durch die Wiederholung des Robertschen Stückes entstanden sein. Vgl. C[arl] A[ugust] Hfugo] Burkhardt: Das Repertoire des Weimarischen Theaters unter Goethes Leitung 1791—1817, Hamburg/Leipzig 1891 (— Theatergesch. Forschungen 1), 78, 83, 143; danach wurde der Saul am 6. 4. 1811 und am 8. 4. 1812 aufgeführt. S. Anm. 34 am Ende sowie Knebel's Nachlaß (Anm. 36) 475: Franz Passow an Knebel (18. 10. 1809). Interessant sind Passows Bemerkungen über den schlechten Weimarer Spielplan; der gan^f Zeitgeist und unser Theater insbesondre bedürften einer Nervenstärkung, wie der Saul sie darstelle. Briefwechsel Goethe-Knebel (Anm. 34) I 365; dazu Knebel: Briefwechsel (Anm. 33) 408, 411 (Knebel an Henriette, 30. 1. 1810, Henriette an Knebel, 7.2. 1810), mit Hinweis auf einen Grund der Verzögerung: Goethe fürchtete, die Schauspieler möchten dem Stück nicht gewachsen sein.
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Henriette von Knebels, die wohl auch die Meinung des Hofes wiedergibt, gan^ abscheulich^ und ließ den Wunsch nach Alfieris interessantem Stück nur desto stärker werden. Knebel zeigte jedoch Verständnis für Goethes Schwierigkeiten:44 Ich [...] fürchte, wenn auch die Musik gelingen sollte, [daß] doch nur die Poesie durch diese verständlich werden könnte. Das sind gewiß keine guten Auspizien für eine Tragödie. In der Tat kam Goethe erst ein Jahr später auf den Plan einer Saul-Aufführung zurück:45 Seit dem standhaften Prinzen pausirt unser Theater einigermaßen [...]. Die Rollen Deines Saul werden ausgeschrieben und wegen des dritten Akts ist mit dem Kapellmeister Abrede genommen. Er wird die lyrischen Stellen, indem sie [Pius Alexander] Wolff recitirt, hinter der Coulisse mit dem Pianoforte begleiten; dieß scheint uns in jedem Sinne das Beste. Knebel war freudig überrascht, daß seine Übersetzung nun doch noch gespielt werden sollte; freilich befürchtete er, der Saul werde im Schatten des Standhaften Prinzen verblassen:46 Gegen den Glan^ und die Schönheit dieses kann es wohl Saul keineswegs auf dem Theater aufnehmen. Die Aufführung fand dann tatsächlich am 6. April 1811 statt. Knebel hatte sich keinen Hoffnungen auf Erfolg hingegeben, wurde aber wiederum angenehm enttäuscht:47 Nicht nur die Herzogin Luise, die überhaupt starkes Interesse an Saul zeigte, applaudierte fast beständig, sondern Knebel selbst gefiel das Stück als Bühnen werk: Das Gan%e nimmt sich ungemein wohl aus, hat das rechte Maß und ein großes Pathos. C'est un ouvrage raisonne. Nach der Kritik der schauspielerischen Leistungen fährt er fort: Manches wäre freilich noch %u desideriren, das Goethe selbst fühlt. Er will es gegen den Winter wieder geben lassen, aber alsdann das gan^e Stück von Musik akkompagnirt, weil es in der That viel Opernmäßiges hat, und unsre etwas prosaischen Akteurs sich noch nicht gan^ in den vornehmen Ton schicken können. Der Saul ist dann am 8. April 1812 nochmals aufgeführt worden48 — leider wissen wir nicht, ob mit durchgehender musikalischer Begleitung, das heißt als regelrechtes Melodrama, oder wieder nur mit der poweren Klavierbegleitung der David-Gesänge hinter der Coulisse. Aufschlußreich ist auf jeden Fall die Bemerkung über das Opernmäßige des Saul: Offenbar 43
Knebel: Briefwechsel (Anm. 33) 411 (7. 2. 1810). Briefwechsel Goethe-Knebel (Anm. 34) I 367 (12. 1. 1810). 45 Ebd. II 32 (27.2. 1811). Die Premiere von Calderons Geschichtsdrama El principe constante hatte am 30. 1. 1811 stattgefunden. « Ebd. II 34(1.3. 1811). 47 Knebel: Briefwechsel (Anm. 33) 529-531 (8.4. 1811). 48 Ebd. 594 (Knebel an Henriette, 6. 3. 1812). — Es ist also nicht richtig, daß das Stück „bei einmaliger Aufführung" gescheitert ist, wie Hellmuth Petriconi und Walter Pabst mitteilen (Einwirkungen der ital. auf die dt. Lit., in: Dt. Philol. im Aufriß III, hg. v. W. Stammler, Berlin 21962, 133). 44
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empfand man in Weimar den melodramatischen Charakter des Stückes stärker als in Italien, wo man Alfieri immer als Widerpart Metastasios verstanden hat. Die Hinweise der Stael (s. o. S. 263) mögen diese Auffassung verstärkt haben; doch ist sie im Stück selbst angelegt, und zwar eben nicht allein in den Gesängen Davids. Was immer unter Goethes Bemerkung zu verstehen sein mag, der Saul sei in Weimar zunächst gut aufgenommen worden (vgl. Anm. 40) — er wurde gewiß kein ,Erfolgsstück'. Die Hauptursachen für den Mißerfolg dürften neben den Schwächen der Tragödie auch in der Unzulänglichkeit der Darsteller wie der Inszenierung zu suchen sein. In einem Brief an Zelter, reichlich einen Monat nach der zweiten Aufführung geschrieben, erwähnt Goethe noch ein anderes Bedenken gegen das Stück:49 Die alttestamentlichen Gegenstände thun bey uns einen gan^ wunderlichen Effect; ich konnte bey Roberts Je ph t a und bey Alfieri's Saul hierüber Betrachtungen anstellen. Es ist kein Widerwille, der erregt wird, aber es ist gar kein Wille, keine Abneigung, aber eine Unneigung. Jene Mythen, wahrhaft groß, stehen in einer ernsten Ferne respectabel da und unsere Jugendandacht bleibt daran geknüpft. Wie aber jene Heroen in die Gegenwart treten, so fällt uns ein daß es Juden sind und wir fühlen einen Contrast ^wischen den Ahnherren und den Enkeln, der uns irre macht und verstimmt. So lege ich mir's in der Geschwindigkeit aus, indem ich der Wirkung jener beyden Stücke genau aufgepaßt habe. Dieses letzte Bedenken würde beseitigt wenn man die Fabel %u anderen Völkern versetzen wollte. Da entstehen aber wieder neue Schwierigkeiten. Ich denke weiter darüber. Der Gedanke, die biblische Fabel %u anderen Völkern %u versetzen, dürfte ein Versuch des Theaterdirektors sein, die in eine verfehlte Inszenierung investierte Arbeit zu retten; er ist schon darum undurchführbar, weil der Saul die monotheistische Gottesvorstellung in althebräischer Prägung unabdingbar voraussetzt. Ob die geschilderte Wirkung beim Weimarer Publikum — falls sie richtig beobachtet ist — den Schluß auf einen „antisemitismo germanico latente e subcosciente visto da un osservatore imparzialissimo" zuläßt,50 muß dahingestellt bleiben; geht doch aus dem Passus keineswegs klar hervor, wie Goethe selbst sich zu der ,Verstimmung' verhielt. Immerhin konnten ihm Gessners oder Klopstocks Patriarchaden als warnende Beispiele für mißglückte Versuche dienen, alttestamentarische Stoffe romanhaft nachzuerzählen oder gar auf die Bühne zu bringen. Im übrigen besteht ein Kontrast zwischen mythischen Heldengestalten und Individuen der zeitgenössischen Gesellschaft nicht nur im Falle der hebräischen Frühgeschichte und der modernen Juden; bei kei49 50
WA IV, XXIII (1900) 25 (19. 5. 1812). So Mazzucchetti: Goethe (Anm. 3).
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nem Zeitgenossen Goethes nimmt man ihn peinlicher wahr als in einigen Dramen Heinrich von Kleists. Der Mißerfolg des Saul hat Goethe in der Tat weiterhin beschäftigt, und vieles spricht dafür, daß eine Erinnerung aus späterer Zeit das Echo beim Weimarer Publikum genauer wiedergibt:51 Wir dürfen auch über Alfieri reden, denn wir haben uns genugsam an ihm herumgequält; unsere Freunde haben ihn treu übersetzt, wir taten das Möglichste, ihn auf unser Theater %u bringen; aber der Widerspruch eines großen Charakters bei mächtigem Streben, eine gewisse Trockenheit der Einbildungskraft bei tiefem leidenschaftlichen Sinn, der Lakonismus in Anlage sowohl als Ausführung, das alles läßt den Zuschauer nicht froh werden. Knebel selbst hielt dagegen an seiner hohen Meinung über die poetischen Qualitäten des Saul fest. Soweit wir sehen, ist er der einzige deutsche Kritiker der Epoche, der dem Verdikt Schlegels entschieden widerspricht und der Auffassung der italienischen Kritik nahesteht. Es ist bedauerlich, daß er seine Meinung nur | in einigen brieflichen Äußerungen knapp formuliert und nicht öffentlich vertreten hat. Die meisten finden sich in der Zeit der Premiere des Saul. Knebel schreibt an Charlotte von Schiller:52 Schlegels Vorlesungen habe ich auch kürzlich gelesen. Es ist gar viel Treffliches, Genaues und Wohlbedachtes darin. Bei allem dem hat er den für den Kritiker wahren Fehler, bald %u viel und bald %u wenig an seinem Gegenstande %u sehen. Die Art, wie er Shakespeare, Calderon lobpreist, ist offenbar mitunter übertrieben; dafür set^t er Einige %u hämisch herunter. Er hat Favoriten, und diese sollte ein Richter so wenig als ein Fürst haben. Uebrigens ist viel schöner und trefflicher Unterricht in dem Werke. Es besteht kein Zweifel, daß mit den hämisch Herabgesetzten auch Alfieri gemeint ist. Gewiß versteht Knebel die Aufgabe des Kritikers noch ganz im Sinne der Aufklärung als die eines Kunst r ich t er s, und auch der Widerstand gegen die übertriebene Schätzung Shakespeares und Calderons zeigt seine antiromantischen Vorbehalte; doch gerade diese Haltung ermöglichte es ihm, Alfieri besser zu verstehen als Schlegel. Bald darauf schrieb er nochmals an Charlotte:53 Was den Saul betrifft, so wirkt er mehr auf Verstand und Charakter und gehört gewissermaßen unter die eigentlichen moralischen Stücke. In dieser Rücksicht verdiente er öfters aufgeführt %u werden. 51
52
53
Über Kunst und Altertum III l (1821), in: Gedenkausg. XIV 809. Vgl. auch Rochlitz an Goethe (23. 10. 1820), in: Briefe an Goethe II, ges. ... v. K. R. Mandelkow, Hamburg 1969, 289; zit.: Briefe an Goethe. Charlotte von Schiller und ihre Freunde III, hg. v. L. Urlichs, Stuttgart 1865, 323 (2. 4. 1811); zit.: Charlotte von Schiller. Ebd. (18.4. 1811).
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Einige Jahre danach meinte er,54 im Saul habe der Dichter die Sprache des Herzens [ . . . ] gewiß off und energisch [...} gesprochen. Der Saul als moralisches Stück — dieses Urteil bestätigt zwar das Nonpoesia-Verdikt Schlegels; aber es setzt ihm einen dezidiert p o s i t i v e n Wert entgegen. Er bezieht sich nicht allein auf die In-tyrannos-Rhetorik: Das charakterbildende Element und die Sprache des Herzens meinen den Menschen in seiner Gesamtheit, das moralische Wesen im Sinne Schillers, das den Staatsbürger und Tyrannengegner einschließt. Hier hat sich ein Kritiker nicht bei dem billigen Vergleich themenähnlicher Stoffe aufgehalten, sondern die i n n e r e Verwandtschaft Alfieris und Schillers erkannt, ohne diesen ausdrücklich zu nennen. Die Adressatin der Briefe, Schillers Witwe, läßt keinen Zweifel an der Hindeutung. Wenige Tage nach der Uraufführung des Saul schrieb Knebel auch an Goethe:55 Habe doch die Güte mir gelegentlich das Manuskript von meinem Saul wieder ^uschicken %u lassen. Ich habe seitdem [d. h. seit der Premiere am 6. April] die Athalie von Racine gelesen, um doch einen Vergleich anzustellen. Aber wie weit ist Alfieri über Racine erhaben, in jedem Betrachte. Welche seichte Materie hat dieser, welche Ceremoniensprache! was von tieferer Forschung darin ist, ist meist alles aus den Alten. Nach diesem Stücke %u urtheilen thut man Alfieri großes Unrecht, ihn mit den Franzosen %u vergleichen. Man sieht vielmehr daß er gegen sie gestrebt hat. \ Goethe dürfte mit diesem Urteil keineswegs einverstanden gewesen sein: hatte er doch schon 1789 einige Chöre aus Racines Athalie; die er ausgezeichnet fand, in ein an Luthers Psalter geschultes gehöriges Deutsch übersetzt.56 Doch Knebels Vergleich liegt nahe: In beiden Fällen handelt es sich um eine alttestamentarische Tragödie, deren Held ein scheiternder Machtmensch ist; in beiden Stücken triumphiert Gott; der Zug zum Opernhaften ist in der Athalie so unverkennbar wie im Saul. Trotz den ebenfalls auf der Hand liegenden Unterschieden der beiden Tragödien trifft Knebel mit dem, was er die Ceremoniensprache Racines nennt, den entscheidenden Punkt, an dem Alfieri Anstoß genommen hatte, indem er sie durch jenen Lakonismus in Anlage sowohl als Ausführung ersetzte, der Schlegels und Goethes Kritik hervorrief. Knebel erkennt auch den für die nationalliterarische Bedeutung Alfieris wesentlichen Gesichtspunkt, wenn er dessen Bestrebungen als gegen die Franzosen gerichtet charakterisiert. Will man einmal die I n t e n t i o n e n eines Autors als Kriterium für 54 55 56
Ebd. 380 (28. 8. 1817). Briefwechsel Goethe-Knebel (Anm. 34) II 37 (12. 4. 1811). Gedenkausg. XV, hg. v. F. Ernst, Zürich 1953, 164 f., 1106.
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die Qualität seiner Werke gelten lassen, so hätte Schlegel in der Tat Unrecht getan, Alfieri als ,Nachahmer' der französischen Dramatiker zu verstehen (s. o. S. 266 f.). In der Kunst kommt es freilich nicht auf das bemühte Wollen, sondern auf das glückliche Gelingen an. Mit seinem Urteil, Alfieri stehe weit über Racine, ist Knebel trotz der Abneigung vieler deutscher Kritiker gegen die ,haute tragedie' allein geblieben. Und seine meisterhafte Übersetzung des Saul hat weder das Weimarer Publikum angesprochen noch andere deutsche Bühnen erobern können. Ein Versuch, den Saul dem Generalintendanten der Königlichen Schauspiele zu Berlin, Grafen von Brühl, zur Aufführung anzubieten, verlief ohne Ergebnis.57 Auch ein anderes Unternehmen, Alfieri in Deutschland bekannt zu machen, war wenige Jahre zuvor gescheitert. Der Frankfurter Bankier Johann Jakob Willemer, seit langem mit Goethe bekannt, aber wohl nicht durch ihn, sondern durch eine Italien-Reise vom Oktober 1810 bis Februar 1811 veranlaßt, bot Cottas Morgenblatt für gebildete Stände am 27. Juni 1811 eine Bearbeitung des ersten Bandes von Alfieris Vita an:58 Es ist keine Übersetzung, auch kein Aufsat^. Es ist der Graf Alfieri in philosoph. Hinsicht, wie ich ihn %u Floren^ kennen gelernt. Da kein Anlaß besteht, an der Begegnung Willemers mit Alfieri zu zweifeln, ist die Ablehnung des Angebotes durch die Redaktion um so bedauerlicher, als Willemer einer der wenigen deutschen Autoren gewesen wäre, der die Schranke des mangelnden Interesses, ja der Abneigung der meisten italienischen Schriftsteller des XVIII. Jahrhunderts, unter ihnen Alfieris, gegen alles Deutsche | durchbrochen hätte.59 Es ist ja bezeichnend, daß Alfieri sich nie über Goethe geäußert hat, obwohl anzunehmen ist, daß ihm wenigstens der Werther und die Dramen vom Hörensagen bekannt waren.60 Goethe kam hingegen noch mehrmals auf Alfieri zurück. Er hatte Zelter den zweiten Teil von Dichtung und Wahrheit gesandt und Alfieris Vita zur Lektüre empfohlen. Um den Schmerz zu betäuben, den ihm der
57 58
59 60
Vgl. Charlotte von Schiller (Anm. 52) 380 (Knebel an Charlotte, 28. 8. 1817). Marianne and J. J. Willemer: Briefwechsel mit Goethe, hg. v. H.-J. Weit2, Frankfurt/M. 1965, 491; vgl. den vorzüglichen Kommentar 549 sowie den Hinweis 839 auf eine (verlorene) „Federzeichnung, auf welcher Willemer als stattlicher junger Mann dargestellt ist, der durch die Campagna schreitet". Das würde eine frühere Italien-Reise Willemers vor Alfieris Tod (8. 10. 1803), von der nach freundlicher Mitteilung von Hans-J. Weitz sonst nichts bekannt ist, immerhin wahrscheinlich machen; bei dieser Gelegenheit könnte Willemer Alfieri begegnet sein. Vgl. Dal Monte (Anm. 5) 35. Vgl. Mazzucchetti: Goethe (Anm. 3).
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Freitod seines Stiefsohnes bereitet hatte, vertiefte sich Zelter in die beiden Autobiographien und wog sie gegeneinander ab:61 Die Art, wie die Entwickelung Ihres poetischen Berufs aufgeführt wird, hat mir ausnehmend wohl gefallen [...]. Um vieles kleiner erscheint dagegen Alfieris Bestreben, keine Dichter ^u lesen, um die Keuschheit seiner Originalität nicht in Versuchung %u führen. Wie mir denn auch seine so hoch gestellte Abneigung gegen alle Tyrannei eifersüchtig, eigensüchtig, ja tyrannisch erscheint. Endlich scheint ihm für die moderne Dichtung das Religiöse und für die antike das Heidnische rein abzugehen, weshalb er sich den Franzosen, die er %u hassen glaubt, näher befindet als sich selber und dem Altertume, das er %u verehren sich gedrungen fühlt. Belehren Sie mich, wenn ich irre, denn ich habe sein Leben mit vielem Anteile gelesen.
Zelter urteilt mit dem gesunden Menschenverstand des literarischen Laien. Mit Goethe teilt er das Interesse für einen Autor, der sonst mehr kühle Bewunderung und Tadel als Teilnahme geweckt hat; wie Schlegel nimmt er Anstoß an dem krampfhaften Bemühen um Originalität. Doch er versucht Alfieri psychologisch zu verstehen. Der zügellose Tyrannenhaß legt ihm die Frage nahe, die man sich im Falle antiautoritärer Rhetorik jederzeit zu stellen hat: ob sie nicht selbst ein Ausdruck verhehlter Tyrannengelüste sei. In einer glänzenden Charakteristik hat De Sanctis — durchaus im Sinne Zelters, aber natürlich unabhängig von ihm — Alfieri einen dichtenden Robespierre genannt,62 und Croce hat den Gedanken bis zum Paradoxon überspitzt:63 „L'Alfieri finisce con l'ammirare e simpatizzare coi suoi tiranni, ehe gli rimanevano incomprensibili nell'accesso dell'odio e diventano comprensibili, per lui e per noi, in questa nuova simpatia. Ne stupisce e ammira solo i tiranni di ampia mente [...], ma i piu maliziosi, i piu atroci, i piu cupi." — Ähnlich ambivalent sieht Zelter Alfieris Franzosenhaß,64 den er aus seiner religiösen Indifferenz zu erklären sucht. Nur wenigen literarischen Urteilen hat Goethe so vorbehaltlos zugestimmt wie dem Zelters:65 | Auf Alfieri haben Sie einen Kernschuß getan. Er ist merkwürdiger als genießbar. Seine Stücke erklären sich durch sein Leben. Er peinigt Leser und 61 62
63 64 65
Briefe an Goethe (Anm. 51) II 124-128, hier 127 (14. 11. 1812). Gesch. der ital. Lit., hg. v. Dt.-Ital. Kulturinstitut Petrarca-Haus, übers, v. Lili Sertorius, Stuttgart 1943, II 494; zit.: De Sanctis. Croce (Anm. 21) 6. Vgl. Vita IV 27 u. ö. sowie den Misogallo. Briefe der Jahre 1786-1814, Gedenkausg. XIX, hg. v. H. Ostertag, Zürich 1949, 684 (3. 12. 1812). WA IV, XXIII 189 gibt den gleichen Text. Der Brief stammt von Johns Hand; nach Er haßte die Tyrannen, weil er scheint „in" zu fehlen. — Mazzucchetti: Goethe (Anm. 3) will aus Goethes Worten einen „antiveggente tentativo di psicanalizzare il grande tirannicida" herauslesen.
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Hörer, wie er sich als Autor peinigte. Seine Natur war vollkommen gräflich, das heißt stockaristokratisch. Er haßte die Tyrannen, weil er sich selbst eine Tyrannenader fühlte, und das Schicksal hatte ihm eine recht gebührende Tribulation zugedacht, als es ihn durch die Hände der Sansculotten noch leidlich genug bestrafte. Eben diese seine innere Adels- und Hofnatur tritt %um Schlüsse recht lustig hervor, da er sich selbst für seine Verdienste nicht besser %u belohnen weiß, als daß er sich einen Orden verfertigen läßt. Konnte er deutlicher Beigen, wie eingefleischt ihm jene Formen waren? Anders als Schlegel und seine ,werkimmanent' interpretierenden Nachfolger war Goethe in diesem Falle nicht bereit, von den biographischen Fakten abzusehen. Alfieri selbst hatte ihm den Anlaß gegeben. Gleich zu Beginn seiner Vita ( I I ) erzählt er von seiner Herkunft aus vornehmem, wohlhabendem und ehrbarem Hause: // nascere della classe dei nobili, mi giovd appunto moltissimo per poter poi, sen^a la taccia d'invidioso e dt vile, dispregiare la nobilta per se sola, svelarne le ridicole^e, gli abusi, ed i vi%i; ma nel tempo stesso mi giovd non poco la utile e sana influenza di essa, per non contaminare poi mai in nulla la nobilta dell'arte ch'io professava. Aus den Satire und dem Traktat Della tirannide (111) geht hervor, daß Alfieri aus seiner ambivalenten Haltung gegen den Adel auch sonst kein Hehl gemacht hat. Bei den Vorzügen der Herkunft, die er erwähnt, liegt der Nachdruck vor allem auf der U t i l i t ä t , die ihm ein sorgloses, ja verschwenderisches Dasein ermöglichte. Und wie er im 29. Sonett des Misogallo betont, hielt er es für einen Vorteil, nicht als Plebejer geboren zu sein. So erklärt sich die Invektive gegen Voltaire nach der Lektüre von dessen Brutus (Vita IV 16): Che Bruti, ehe Bruti di un Voltaire? io nefaro dei Bruti, e lifaro tutt'e due:^ il tempo dimostrerä poi, se tali soggetti di tragedia si addicessero meglio a me, o ad un francese nato plebeo, e sottoscrittosi nelle sue firme per lo spa^io di settanta e piü anni: Voltaire gentiluomo ordinario del re. In solchen Äußerungen zeigt sich die singuläre Verbindung von stockaristokratischem und misotyrannischem Temperament nicht ohne Peinlichkeit, und man versteht den Spott Goethes über die gebührende Tribulation durch die Sansculotten. Hatte sich Alfieri doch zunächst als gräflicher Jakobiner gezeigt, als er den 14. Juli mit einer Ode über Parigi sbastigliato [sie] feierte; dann aber sah er la sacra e sublime causa della libertä verraten und zog es vor, unter Beschimpfungen des fetente spedale, ehe riunisce gli incurabili e i pa%%i, Frankreich bei Nacht und Nebel zu verlassen.67 Den Schlußschnörkel der 66
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Bezieht sich auf Voltaires spätere Tragödie La Mort de Cesar und Alfieris Bruto primo und Bruto secondo. Vita IV 18, 19, 22, 27. Schon beim ersten Aufenthalt, 1767, scheint ihm Paris eine fetente cloaca (III 5).
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Vita, über den Goethe sich lustig macht, | hat Alfieri freilich mit einer Mischung von ungetrübtem Selbstbewußtsein und dem Versuch zur Ironie — ridi, o lettore — erzählt (IV 31). In der Überzeugung, dt essere un vero personaggio nella posterita, verlieh er sich selbst einen Orden in Gestalt einer Kette mit 23 Dichternamen, an der eine Kamee mit einem Homer-Bildnis hing, und ließ sie in Gold und Edelsteinen ausführen. (Man kann sie heute im Musee Fabre in Montpellier bewundern.) Neben griechischen, lateinischen und italienischen Dichtern wurden Moliere, Racine, Voltaire, Corneille, Milton, Shakespeare und Camöes der Ehre teilhaftig, in Alfieris Pantheon aufgenommen zu werden. Man muß Goethes Haltung zur Vita Alfieris vor dem Hintergrund seiner eigenen Autobiographie sehen. Beide sind als Kunstwerke konzipiert wie die Vita Cellinis, welche beiden Autoren Anregung gab, Alfieri freilich in höherem Maße als Goethe. Auch sonst sind einige Gemeinsamkeiten vorhanden; sie liegen bei den gleichaltrigen Dichtern jedoch mehr in der Zeitstimmung und in Zufällen als in der Übereinstimmung der Charaktere und Temperamente.68 Man mag eine gewisse innere Verwandtschaft in dem eigentümlich kühlen Verhältnis zur politischen Geschichte und in jenem melancholisch getönten Ennui erkennen, einer zwar „typisch italienischen Krankheit", 69 welche die Grundstimmung von Alfieris Vita ist, in Gestalt von ,Launen' und ,Grillen' aber auch den jungen Goethe heimgesucht hatte. Und von den Standesunterschieden abgesehen, mag man vor allem eine ähnliche Konstellation zum anderen Geschlecht feststellen, die Goethes Interesse geweckt haben dürfte: Sowohl das Verhältnis zur verheirateten Frau von Stein wie die verzögerte Eheschließung mit Christiane Vulpius erinnern in der Tat an Alfieris Beziehungen zur Gräfin von Albany, die er auch nach dem Tode ihres Gatten nicht
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Croce (Anm. 21 ) l f. charakterisierte Alfieri als „strettamente affine ai contemporanei Stürmer und Dränger di Germania" und als „protoromantico". Leonello Vincenti konkretisierte und differenzierte diesen Einfall, indem er auch die unübersehbaren Unterschiede zwischen Alfieri und seinen deutschen Zeitgenossen klar herausarbeitete (Alfieri e lo „Sturm und Drang' e altri saggi ..., Firenze 1966, 21 — 56, bes. 27ff.). Die „posizione intermedia [...] tra Stürmer e classici", in die Vincenti Alfieri stellen möchte, scheint mir allerdings ebenfalls problematisch: Ich kann nicht einsehen, was durch die Zuweisung eines Individuums von ausgeprägtester Eigenart zum Schemen einer Epoche an kritischen Einsichten gewonnen werden könnte. Als Typus des aristokratischen Exzentrikers, der sich in die Rolle des Outcast hineinmanövriert oder unabsichtlich in sie gerät, steht Alfieri einem Typus wie Lord Byron näher als allen Stürmern und Drängern zusammen. De Sanctis (Anm. 62) 480.
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geheiratet hat.70 Doch damit sind die Gemeinsamkeiten | erschöpft. Was er bei Alfieri las, konnte dem sechzigjährigen Goethe, dem „Repräsentanten des bürgerlichen Zeitalters", dem für die Natur, die Welt und die Weltliteratur aufgeschlossenen Geist, in mancher Hinsicht als höchst interessant erscheinen, mußte ihn aber anderseits verwundern und befremden: so etwa die Demütigungen des Knaben Alfieri und die pugnalate nel cuore von selten der Mutter (I 4); die vita di ^ingaro des Jünglings, die ihn, von sa^ieta, noia und dolore treu begleitet (III 12; 2), bis Stockholm und Petersburg, Madrid und Lissabon und wiederholt nach Holland und England trieb, nicht ohne daß er gleichzeitig alle moscoviteria, tedescheria 70
Die Gräfin Louise von Albany war die Tochter des Fürsten Gustav Adolf zu StolbergGedern. Sie wurde 1752 zu Mons im Hennegau geboren und starb 1824 in Florenz. Mit der Hocharistokratie und einigen Herrscherhäusern Europas verwandt und verschwägert, wurde sie die Gattin des englischen Kronprätendenten, Charles Edward Stuart, mit dem sie in unglücklicher Ehe lebte. In Florenz unterhielt sie um die gleiche Zeit wie die Stael in Coppet einen Salon; hier wie dort gingen die bedeutendsten Schriftsteller der Zeit ein und aus (vgl.Helene Tuzet: Alfieri et Chateaubriand, in: RLC 27 [1953], 274—286). Ihr eheähnliches Verhältnis mit Alfieri, das bereits vor dem Tode Stuarts begonnen hatte, erregte u. a. den Anstoß des Papstes. Näheres über diese Frau und ihre Umgebung bei Alfred von Reumont: Die Gräfin von Albany I —II, Berlin 1860; Pellegrini (Anm. 23). Zoppi (Anm. 6) 376 meint, Alfieri habe sich auch „durch den Titel der ,Königin', für welchen der Verächter der Könige nicht unempfindlich war", von der Albany beeindrucken lassen, „um so mehr, als es darum ging, eine solche Blume aus den Händen eines verabscheuungswürdigen Tyrannen zu befreien". Auch darin zeigt sich der von Zelter und Goethe bemerkte Widerspruch in Alfieris Charakter. Daß man sich in Weimar über die Liaison der .Königin' mit Alfieri unterhalten hat, beweist ein Brief Knebels (Charlotte von Schiller [Anm. 52] III 317 [15. 1. 1811]): Alfieri ist ein besonderer Heiliger — das ist wahr! — und seine Prinzessin! — Sie muß doch eine hohe Frau gewesen sein — aber auf besondere Art. Ich kann keine Hoheit im äußeren Glan% finden. — Wie der Klatsch über die Albany nachwirkte und sich mit patriotischen Ressentiments paarte, zeigt ein Aphorismus von Giovanni Papini (// sacco dellOrco, Firenze 1933, 87): Ironie della storia e della letteratura. II conte Vittorio Alfieri, ch'e reputato, giustamente, uno dei restauratori dell'idea italiana e maschio risvegliator delf Italia, fini coll'accompagnarsi ad una Tedesca vedova di un Inglese ehe poi lo tradi con un Francese. An dem Bonmot ist nicht viel richtig: Weder war die Albany Deutsche, noch ist es glaubwürdig, daß sie Alfieri zu dessen Lebzeiten mit dem französischen Maler Francois Xavier Fabre, einem Freund des Hauses, betrogen habe, wie auch Zoppi (Anm. 6) 376 zu berichten weiß. Allerdings setzte sie ihn später zum Universalerben ein; daher befindet sich Alfieris Nachlaß zum Teil in Fabres Heimatstadt Montpellier. Über eine frühere Liebesaffaire mit Lady Penelope Ligonier berichtet Alfieri selbst (Vita III 10, 11). Sie endete mit einem Duell, nachdem ein Jockey, dessen Geliebte die Lady zuvor gewesen war, Alfieri bei ihrem Mann denunziert hatte. Auch diese romantische Geschichte ging in die Skandalchronik der Epoche ein, wie man aus einem Brief Reinhards an Goethe vom 15. 7. 1830 erfährt (Goethe und Reinhard: Briefwechsel in den Jahren 1807-1832 ..., Wiesbaden 1957, 408).
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und überhaupt jede oltramontaneria tief verachtet hätte (III 9; IV 6); der Haß gegen Friedrich II. und seine universal caserma prussiana (III 8); die Ausbrüche von Schwermut, Schroffheit und Jähzorn; die Unfähigkeit, die Welt mit dem Auge zu erfassen und zu genießen, verbunden mit der leidigen Neigung, die eigene Verdüsterung in ihr gespiegelt zu sehen; die Lust, eine Generalbeichte abzulegen (IV 19) und sich rousseauisch auch dort zu entblößen, wo für Goethes Empfinden Schweigen das weisere Verhalten gewesen wäre (das Abenteuer in Cadiz: IV 12) — dies alles stand Goethes Auffassung von Leben, Welt und Menschen denkbar fern. Dennoch hat ihn die scheinbar so rücksichtslose Erzählung eines bizarren Lebens zwischen Tragödien, Reitpferden und verheirateten Frauen nachhaltig gefesselt. Noch 1825 erkundigte er sich bei Alessandro Poerio, einem jungen italienischen Schriftsteller, der ihm einen Besuch abstattete, über Alfieri und die Gefährtin seiner späteren Jahre.70a Den eigentlichen Quellpunkt der Teilnahme Goethes am Leben Alfieris aber hat dieser selbst im Vorwort zu seiner Vita sehr genau bezeichnet: Es ist das studio dell'uomo in genere, das beider gemeinsames Interesse war. Auch über den Dramatiker Alfieri äußerte sich Goethe noch mehrmals, ja sein kritisches Urteil über dessen Trockenheit spiegelt sich sogar in einer Stelle der | Wanaerjahre. Hersilie wirft Wilhelm die mangelnde Bereitschaft vor, auf ihre Briefe einzugehen:71 Mein Zustand kommt mir vor wie ein Trauerspiel des Alfieri; da die Vertrauten völlig ermangeln, so muß %ulet%t alles in Monologen verhandelt werden, und fürwahr eine Korrespondenz^ mit Ihnen ist einem Monolog vollkommen gleich; denn Ihre Antworten nehmen eigentlich wie ein Echo unsre Silben nur oberflächlich auf, um sie verhallen %u lassen.
Der Ton der Ironie, der in Bitterkeit ausklingt, ist nicht zu überhören; vom Mangel an Vertrauten und damit an Vertrauen zum Mitmenschen hielt Goethe nichts. Kritisch bedeutender ist die Auseinandersetzung mit einer Jahresan^eige über die Neuerscheinungen der italienischen Literatur, die ihm der Mailänder Klassizist Gaetano Cattaneo, ein bedingter Anhänger Manzonis, übersandt hatte.72 Dieser war der Meinung, durch das Wirken Goldonis und ^Goethes Gespräche II, Gedenkausg. XXIII, hg. v. W. Pfeiffer-Belli, Zürich 1950, 405. 71 III 2; Gedenkausg. VIII, hg. v. G. Küntzel, Zürich 1949, 343 f. 72 Indica^ione di cio ehe nel 1819 si e fat to intorno alle /eitere, seiende ed alle arti, erschienen in Über Kunst und Altertum III l (1821), in: Gedenkausg. XIV 807-811. - Cattaneo (1771 bis 1841) aus Soncino war Schriftsteller, Maler, Kupferstecher und Begründer des Münzkabinetts der Mailänder Brera. (Freundliche Auskunft von Frau Emmy Rosenfeld.)
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Alfieris sei auf dem italienischen Theater ein neues Leben erschienen, während er Manzonis Tragödie // Conte di Carmagnola, die Goethe soeben mit hohem Lob bedacht hatte, nur in zwei Anmerkungen erwähnte, deren kritischer Tenor nicht eindeutig ist. Leider habe aber Alfieri nur schwache Nachfolger gefunden, von denen allein Manzoni eine Ausnahme bilde. Es verstimmte Goethe, daß sein Liebling, Herr Manzoni, so ungeschickt in die Anmerkungen verbannt worden und daß der Rezensent einem klaren Urteil ausgewichen war. Wohl noch mehr nahm er daran Anstoß, daß der weniger geschätzte Alfieri hier als der eigentliche Neuerer galt. Denn im Gegensatz zu dem Berichterstatter war er der Meinung, daß Alfieri %u seinem eignen großen Schaden [...] dem alten Wesen [...] ^ugetan blieb. Es folgen dann die oben (S. 277) zitierten Sätze über den geringen Anklang, den die Aufführung des Saul in Weimar gefunden hatte, und ein abschließendes Urteil über den Dramatiker Alfieri: Keineswegs denken wir hierdurch seine unsterblichen Verdienste %u schmälern; aber verwandelt er nicht %um Beispiel mehrere seiner Stücke dadurch in vollkommene Wüsteneien, daß er sie auf so wenig Personen ^urückführt? Die Alten hatten den Chor %ur Seite, da sie öffentlich lebten, die Neuern ließen sich im Innern Vertraute gefallen; und wer lebt denn so allein, daß ein geistreicher Dichter, aus notwendiger und wahrscheinlicher Umgebung, nicht einen Mitredenden hervorbilden sollte, um die Helden sowohl als die Zuhörer von den schrecklichen Monologen %u entbinden. — Hierin ist Manzoni gewiß musterhaft [...]. Goethes Aufsatz ist nicht frei von einer durch Höflichkeitsfloskeln verdeckten Animosität gegen den Berichterstatter, von dem er wohl vermutete, er habe | Manzoni absichtlich herabsetzen wollen. So erklären sich die bei ihm befremdenden Bemerkungen über die Art kritischer Behandlung, die uns Deutschen fremd sein möge, und über Manzonis Vorgänger Francesco Ruffa, von dessen Stücken er, falls sie ihm zu Gesicht kommen sollten, nach unserer deutschen Weise mit Billigkeit [...] sprechen werde. Denn wir müßten sehr irren, wenn nicht manches darin %u finden sein möchte, was man bei Alfieri vergebens sucht, und was uns Deutschen gar wohl ^usagen dürfte. Goethe meinte wohl das kalabresische Lokalkolorit und den Wirklichkeitssinn, den er aus einer autobiographischen Skizze Ruffas herauslesen zu dürfen glaubte.73 Sachlich widersprechen Goethes Ausführungen dem italienischen Urteil über Alfieri in zwei wesentlichen Punkten. Die Reduktion der dramatischen Personen auf die eigentlich Handelnden unter Verzicht auf Neben73
Nach JA XXXVII 320 handelt es sich um einen Passus (wohl aus dem Vorwort) in Ruffas Tragedie, Livorno 1819, S. IV ff. Über den Autor habe ich nichts feststellen können; die Encyclopedia Ital. verzeichnet ihn nicht.
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handlangen, auf Komplikationen der Gefühle, auf die Vertrauten-Figuren gehört zu den Neuerungen, mit denen Alfieri seine Tragödien dem griechischen Vorbild anzunähern versuchte.74 Sie entspricht dem mehrfach betonten Überdruß an lungaggine e fiacchesga di stile (Vita IV 2), die ihm der Tragödie unwürdig erschien.75 Nun hatte sich Goethe in der Iphigenie und im Tasso zwar ebenfalls auf fünf Personen beschränkt und vom Monolog wiederholt Gebrauch gemacht; trotzdem war kein Kahlschlag der Szene, kein Verlust an innerer Bewegtheit eingetreten. Was Alfieris Klassizismus entbehrt, ist jene Beseeltheit des Gedankens und der Rede, die Goethe dem Pietismus und der Empfindsamkeit verdankt; auch die angeborene humane Haltung, die ihm das Wort eingab: Alle menschlichen Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit. Wir sind uns durchaus bewußt, daß solche Verse ohne Gefahr der Unredlichkeit oder der Trivialität nur in einer rasch vergangenen und rascher vergessenen Sternstunde der deutschen Literatur entstehen konnten; doch die Fülle des Herzens und des Geistes macht den Weimarer Klassizismus der Formen auch im qualitativen Sinne klassisch. Unter solchen Voraussetzungen wird es verständlich, daß Goethe sich auch weigerte, Alfieri als den Neuerer anzuerkennen, der er für die italienische Literaturgeschichte war und geblieben ist. Für ihn begann das Neue mit Manzoni, der sich von dem alten Wesen [...] völlig losgemacht hatte. Im Conte di Carmagnola erkannte er jene humane Aufgeschlossenheit und die Verschmelzung von ethisch untadeliger Gesinnung und künstlerischem Vermögen, die er bei Alfieri vermißte:76 Seinem schönen Talent ist eine natürlich freie, bequeme Ansicht der sittlichen Welt gegeben, die sich dem Leser und Zuschauer sogleich mitteilt. So ist auch \ seine Sprache frei, edel, voll und reich, nicht sententiös, aber durch große, edle, aus dem Zustand herfließende Gedanken erhebend und erfreuend; das Gan^e hinterläßt einen wahrhaft weltgeschichtlichen Eindruck. Darum war er bereit, den Conte di Carmagnola durch das Prädikat klassisch auszuzeichnen.77 Hier spricht der alte Goethe, der sich von den eigenen klassizistischen Formen befreit hatte. Ihm galt die moderne Weltliteratur mehr als ihre nationalen Ausprägungen.
^ Vgl. Vita III 4 sowie Alfieris Erwiderung auf die Kritik Calzabigis (6. 9. 1783), in: Opere, Ed. del Centenario, II 29 ss. 75 Flora (Anm. 1) IV 196 setzt die Leere der Szene /ur Einsamkeit Alfieris in Beziehung. 76 Teilnahme Goethes an Mandant — // Conte di Carmagnola, in: Gedenkausg. XIV 814 — 826; hier 822, 826. 77 Vgl. dazu Strich (Anm. 4) 258 f.
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Durch Parini, Foscolo und Leopardi (s. o. S. 271), später durch Carduccis Jugendsonett Vittorio Alfieri und De Sanctis' meisterhafte Darstellung ist Alfieri ins Pantheon der italienischen Nationalliteratur eingegangen. Die deutschen Kritiker, die sich zuerst mit seiner Person und seinem Werk beschäftigten, vor allem August Wilhelm Schlegel und Goethe, suchten von übernationalen Gesichtspunkten her zu urteilen; „Vergegenwärtigung und Verstehen der gesamten europäischen Tradition" war ihr Ziel.78 Unter diesem Aspekt erschien ihnen der Vorläufer des Risorgimento als Epigone des französischen Klassizismus. Zwar dachte noch Grillparzer daran, sich durch die Congiura de'Pa%%i zu einem Verschwörerdrama anregen zu lassen; aber er gab den Plan bald auf.79 Tieck kamen die Tragödien Aifieris immer sehr langweilig vor; Heine, Gutzkow und Mundt erwähnten ihn flüchtig, Laube nahm offenbar keine Kenntnis von ihm. Gerade bei den Jungdeutschen würde man ein politisch aufgeschlosseneres Urteil erwarten — oder empfanden sie Alfieri als ebenso stockaristokratisch wie Goethe? Nur bei Platen und Waiblinger findet sich zögernde Anerkennung — bezeichnenderweise aber erst seit der Zeit, da sie sich mit der italienischen Literatur besser vertraut gemacht hatten als die meisten ihrer Zeitgenossen. Doch weder des einen noch des anderen Urteil hat in der Geschichte der deutschen Literaturkritik Gewicht. Umgekehrt ließen sich einige italienische Kritiker, die Croce verächtlich als „romanticheggianti" bezeichnete, von der deutschen Kritik beeinflussen, indem sie Schiller über Alfieri stellten. In patriotischem Unmut hielt ihnen Croce entgegen,80 in seinen bewunderten Dramen, dem Wallenstein^ der Maria Stuart und dem Teil, sei Schiller nichts anderes als „un Alfieri raffreddato, composto, temperate, colto, riflessivo, non piu poeta". Das erstaunliche Urteil wurde von ein-|geschworenen Crocianern noch jüngst wiederholt.81 Doch mit solchen Dergleichen', denen man die Herkunft 78
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Ernst Robert Curtius: Goethe als Kritiker, in: Krit. Essays %ur europ. Lit., Bern 1950, 28-58; hier 29; zit.: Curtius. Dazu und zum Folgenden vgl. Rudolf Majut: St. um Büchner — Untersuchungen %ur Gesch. der problematischen Natur, Berlin 1932 (= German. St. 121), 25-28; 27 f. auch Vermutungen über die Entstehung der Vorrede zu Leonce und Lena (s. o. S. 121). Croce (Anm. 21) 14. Der Aufsatz ist zuerst im Kriegsjahr 1917 erschienen; Croce hat sein Urteil später nicht geändert. Vgl. Johannes Vandenrath: Benedetto Croces Beurteilung Schillers und Kleists, in: Ist. Lombardo — Accad. di Science e Lettere — Rendüonti, Classe di Letters 105 (1971), 463-478. Vittorio Santoli: Dt. Dichtung im Spiegel ital. Geistes, in: Philol. und Kritik ..., Bern/ München 1971, 37, Anm. 40. So schon früher in Rißessi ital. della cultura lett. settentrionale, in: Fra Germania e Italia ..., Firenze 1962, 104, n. 4. Vgl. ebd., n. 3, das groteske Urteil Vittorio Imbrianis: „Lo Schiller, come poeta lirico, e poco al disopra del nostro Parzanese; e, come poeta drammatico, rimane inferiore al Niccolini." Über Parzanese
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aus Zeitstimmungen anhört, ist kritisch gar nichts gewonnen. Der literarischen und besonders der komparatistischen Kritik stellen sich würdigere Aufgaben, als Alfieri gegen Schiller oder Schiller gegen Alfieri auszuspielen. Wenn Kritik „die Form der Literatur" sein möchte, „deren Gegenstand die Literatur ist",82 kann sie die Leidenschaft nicht entbehren: die Leidenschaft zur Sache, zur Literatur — nicht die Wallungen der Nationen. Ihre Aufgaben bestehen unter anderem darin, die Entstehung und Wirkung von Urteilen rational zu analysieren, welche den Mythen der Nationen nicht entsprechen, und einen archimedischen Punkt außerhalb der nationalen und sozialen Ideologien zu finden, der es eines Tages vielleicht ermöglichen wird, emotional ungetrübte ästhetische Urteile zu formulieren. Solche Überlegenheit setzt die Kultivierung des weltliterarischen Bewußtseins voraus. Es zu entwickeln, versuchten die Stae'l, August Wilhelm Schlegel, Knebel und Goethe mit unterschiedlichem Erfolg. Der Fall Alfieri, in mancher Hinsicht exemplarisch, zeigt, daß sie ungelöste Aufgaben hinterlassen haben.
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vgl. Claudia Liver: Pietro Paolo Par^aneses Artikel über die dt. Lit., in: Ann. dell'Ist. Universitario Orientale, Seyone Germ., XII (Napoli 1969) 5-45, XIII (1970) 235-256. Curtius (Anm. 78) 30.
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Teilnahme Goethes an Manzoni* I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it.
Nach S. G. Tallentyre (= Beatrice Hall): The Friends of Voltaire, London 1906, 199: Voltaire zugeschrieben.
1816 und 1817, dreißig Jahre nach Goethes erstem Aufenthalt in Italien, erschienen zwei Bände der Italienischen Reise; der dritte Band folgte erst 1829, drei Jahre vor Goethes Tod. Er hatte zeitlichen und inneren Abstand für die Redaktion gebraucht, um sich nicht noch einmal vom Südweh überwältigen zu lassen, das ihn wie eine schwere Krankheit heimgesucht hatte, bevor er römischen Boden betrat. Diese Distanz spürt man bereits in den Epigrammen, die er 1790 bei seinem zweiten Aufenthalt in Venedig geschrieben hatte; sie verstärkte sich in den folgenden Jahren, auch wenn ihm die Erinnerung an den heiteren Daseinsgenuß im Süden das melancholische Wort eingab, seit seinem Abschied aus Rom sei er eigentlich ... nie wieder froh geworden. Dennoch ist ihm Italien stets gegenwärtig geblieben, wie Hunderte von Äußerungen in seinen Werken, Briefen und Gesprächen bezeugen. Zwar fesselten ihn im Alter nicht Land und Leute, Natur und bildende Kunst in gleicher Weise wie früher; aber Italien trat neben Frankreich, England und Deutschland als wichtige Provinz eines idealen Reiches vor sein inneres Gesicht. Diesem Reich gab er 1827 den Namen ,Weltliteratur'; doch die Idee selbst lag mindestens schon während der Beschäftigung mit der persischen Dichtung und seit den eigenen Z?mz»-Gedichten in ihm bereit. Seit 1816 gab er dann in unregelmäßigen Abständen die weitgehend von ihm allein bestrittene Zeitschrift Über Kunst und Altertum heraus. Sie diente ihm unter anderem dazu, die Idee der ,Weltliteratur', oder genauer: der sich anbahnenden europäischen Literatur zu verbreiten, * Diesem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, den ich anläßlich des Manzoni-Kongresses am 12. Marx 1973 vor der Accademia Nazionale dei Lincei zu Rom in italienischer Sprache und am 22. Mai, Manzonis hundertstem Todestag, vor der Deutsch-Italienischen Gesellschaft in Bonn-Bad Godesberg auf deutsch gehalten habe. Die italienische Fassung erscheint in den Kongreßakten der Lincei.
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und in den sechs Bänden nehmen die italienischen Autoren und vor allem Alessandro Manzoni in gewisser Weise eine Schlüsselstellung ein. Die Idee der .Weltliteratur' stellt Goethes theoretischen Beitrag zur europäischen | Romantik dar, wie sie die Brüder Schlegel und Madame de Stael vertreten hatten; anderseits nährt sie sich aus dem Kosmopolitismus der Aufklärung und führt Anregungen Vicos, Voltaires und Herders weiter. Hatten früher die großen literarischen Denkmäler der europäischen Vergangenheit im Mittelpunkt seiner Interessen gestanden, so traten jetzt vor allem zeitgenössische Autoren des Auslandes in seinen Gesichtskreis. Daneben nahmen einige kritische Zeitschriften seine Aufmerksamkeit in Anspruch: neben anderen der Pariser Globe, die Edinburgh Review sowie die Mailänder Periodica LEco und // Conciliatore. Dem Herausgeber der Eco schrieb er am 31. Mai 18281: Die ersten siebenundvier^ig Blätter Ihrer Zeitschrift ... haben mich auf das angenehmste überrascht; sie wird gewiß durch ihren Gehalt und durch die freundliche Form, die Sie ihr ^u geben wissen, %ur allgemeinen Weltliteratur, die sich immer lebhafter verbreitet, auf das freundlichste mitwirken, und ich darf Sie meines Anteils gar wohl aufrichtig versichern. Das also ist zunächst festzuhalten: Unter ,Weltliteratur' versteht Goethe nicht die qualitativ bedeutende Literatur der Vergangenheit; sie ist kein Kanon der ,Klassiker' aller Zeiten und Völker. Vielmehr denkt er an einen künftigen sozialen Zustand, der sich in seinem Alter gerade anbahnte und nicht zuletzt durch erleichterte Kommunikation und die sich immer vermehrende Schnelligkeit des Verkehrs befördert wurde 2 . Er hat das Ziel vor Augen, daß die lebendigen und strebenden Literaturen einander kennenlernen und durch Neigung und Gemeinsinn sich veranlaßt finden, gesellschaftlich %u wirken^. Dieses Ziel aber schließt ein höheres ein4: Die verschiedenen Nationen sollen einander gewahr werden, sich begreifen, und wenn sie sich wechselseitig nicht lieben, sich einander wenigstens dulden lernen. Einer solchen allgemeinen Brüderlichkeit der europäischen Intelligenz und der europäischen Nationen wollte Goethe mit seiner eigenen Zeitschrift ebenso dienen wie die Herausgeber der ausländischen Zeitschriften mit den ihren; 1
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Hier nach Fritz Strich: Goethe und die Weltlit., Bern 21957, 370, Nr. 10 (zit.: Strich). Vgl. auch die Hinweise auf LEco in Ueher Kunst und Alterthum, Nachdr. Bern 1970, VI 2 (1828), 398-400 (zit.: KuA) = Cedenkausg. XIV, Sehr, ytr Lit., hg. v. F. Strich, Zürich 1950, 958 (zit.: Gedenkausg. XIV), sowie die schematischen [Historischen St. zur Weltlit.], ebd. 904 (1828). Bezüge nach außen: KuA VI 2 (1828), 267 = Gedenkausg. XIV 895. - Strich (Anm. 1) 371, Nr. 18. [Die Zusammenkunft der Naturforscher in Berlin]: Strich (Anm. 1) 370 f., Nr. 12 (1828) = Gedenkausg. XIV 909. [Rngl.-schott. Zs.J: KuA VI 2 (1828) 396 = Gedenkausg. XIV 956.
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und er bediente sich seinerseits ausländischer Vermittler und Berichterstatter in der gleichen Weise, wie er selbst seinem Publikum bedeutende Neuerscheinungen vermittelte und kritisch über sie berichtete. Unter diesem Aspekt der anmaschierenden Weltliteratur — so drückt er sich einmal militärisch aus 5 — ist seine Teilnahme an Manzoni in erster Linie zu verstehen: als väterlich-brüderliches Wohlwollen einem Autor gegenüber, den er neben Byron zu den hellsten Sternen am literarischen Himmel des neuen Jahrhunderts zählte; als Förderung eines Talentes, das nicht nur Gutes ver-|sprach wie so viele junge Autoren in einer Zeit, da es mit der poetischen Gabe keine so seltene Sache mehr war6, welches ihm vielmehr sogleich als vollkommene künstlerische Potenz entgegentrat und ihm Ausdrücke der höchsten Bewunderung entlockte: ein geborner Poet1 mit wahrem poetischen Talent*, unser FreuncP, ja — mit einem fast zärtlichen Unterton — unser Liebling^. Der Conte di Carmagnola, schreibt er11, hinterlasse einen wahrhaft weltgeschichtlichen Eindruck (eine Wendung, die man wohl dem Begriff ,Weltliteratur' an die Seite stellen darf); die Promessi sposi hätten bei ihm wirklich Epoche gemacht12 und überflügelten alles ..., was wir in dieser Art kennen, höher könne man die Kunst nicht treiben13; niemand werde Manzoni seine Werke nachmachen^ — mit einem Wort, man dürfe ihn klassisch nennen15. So begeistert und warmherzig hat sich der alte Goethe über keinen anderen Zeitgenossen geäußert — auch nicht über Byron, dem er sich in den mephistophelisch-satirischen Regionen gewiß verwandter fühlte als dem gläubigen Christen Manzoni. Doch gerade an dessen Christentum nahm der als ,Heide' Verschriene keinen Anstoß: Victor Cousin gegenüber, dem philosophischen Schriftsteller und späteren Unterrichtsminister Frankreichs, nannte er Manzoni un catholique 5
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4. März '29 an Zelter: Strich (Anm. 1) 371, Nr. 14 = Gedenkausg. XXI, Briefe der Jahre 1814- 1832, hg. v. Chr. Beutler, Zürich 21965, 842 (zit.: Gedenkausg. XXI). 31. Jan. '27: Gedenkausg. XXIV, Eckermann: Gespräche mit Goethe ..., hg. v. E. Beutler, Zürich 1948, 229 (zit.: Gedenkausg. XXIV). 28. März '20 an Gaetano Cattaneo: Gedenkausg. XXI (Anm. 5) 383, und 23. Juli '27 zu Eckermann: Gedenkausg. XXIV (Anm. 6) 267. Klassiker und Romantiker in Italien ...: KuA II 2 (1820), 115 = Gedenkausg. XIV 806. Indication di ciö ehe nel 1819 st e fatto in Italia ...: KuA III l (1821), 62 = Gedenkausg. XIV 808, und Graf Carmagnola noch einmal: KuA III 2 (1821), 60 = Gedenkausg. XIV 826. Indication di ciö ...: KuA III l (1821), 66 = Gedenkausg. XIV 810. ernte di Carmagnola ...: KuA II 3 (1820), 53 = Gedenkausg. XIV 822. 11. Nov. '27 an Sulpiz Boisseree: Gedenkausg. XXI (Anm. 5) 772. 18. Juli '27 zu Eckermann: Gedenkausg. XXIV (Anm. 6) 263. Adelchi ..., in: Teilnahme Goethes an Manzoni: Gedenkausg. XIV 838. Ilconte di Carmagnola ...: KuA II 3 (1820), 61 = Gedenkausg. XIV 826.
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naif et vertueux^, und für einen solchen hatte er durchaus Sinn, seit ihn die Geschichte des humoristischen Heiligen Filippo Neri beschäftigte. So erschien ihm sogar der Dichter der Inni sacri als Christ ohne Schwärmerei, als römisch-katholisch ohne Bigotterie, als Eiferer ohne Härte}1, und ganz im gleichen Sinne sagte er über den Verfasser der Promessi sposils: Er hat Sentiment, aber er ist ohne alle Sentimentalität. Bei diesen antithetisch zugespitzten Formulierungen sind es vor allem die Negationen, die uns dem Verständnis der innigen Teilnahme Goethes an Manzoni näherbringen. Schwärmerei, Bigotterie, seelische Verhärtung, Sentimentalität gehören zu den Zentralbegriffen, die Goethes Unbehagen an exaltierten Zeiterscheinungen umschreiben. Ihnen stehen die positiven Werte gegenüber, die er in Manzonis Persönlichkeit und Schaffen verwirklicht sieht. Er preist seine natürliche Schlichtheit in den Inni sacri und empfindet sie dennoch als | originell ..., neu und überraschend; hier sei alles lieblich, kräftig und ^terlich gefügt19. Im Adelchi sei keine Zeile ... leer, kein Zug unbestimmt, kein Schritt ^ufällig oder durch irgendeine sekundäre Notwendigkeit bestimmt^. An den dramatischen Chören wie an den Promessi sposi rühmt er eine Klarheit, Faßlichkeit, Deutlichkeit., die ihm den ungetrübten italienischen Himmel selber ins Gedächtnis rufen21. Das sind vornehmlich ä s t h e t i s c h e Urteile, die sich allesamt dem gemeinsamen Nenner des künstlerisch Notwendigen, des Wohlgefügten und plastisch Festumrissenen zuordnen lassen; es sind Merkmale, welche Goethe auf Winckelmanns Spuren an der antiken Kunst und an Raffael bewundert, die er im Nausikaa-Ftagmcnt oder in den Römischen Elegien selbst verwirklicht hatte. Nun sah er sie bei einem der jüngeren Autoren des modernen Italien zu seinem Erstaunen in schönster Blüte. Es ist das Klassische, hier nicht im Sinne der höchsten Qualität, sondern bestimmter, historisch bedingter Stilmerkmale gemeint, welche den Exaltationen des pseudoprimitiven oder barocken oder romantischen Stiles strikt entgegengesetzt waren. Hier spürte Goethe in der Tat einen wahlverwandten künstlerischen Ausdruck, der ihn umso mehr anzog, als er sich aufs deutlichste vom klassizistischen Starrsinn und von der Pedanterie der spätarkadischen Traditionalisten unterschied22: Hatte er doch sogleich erkannt, daß mit 16
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28. April '25: Gedenkausg. XXIII, Gespräche II, hg. v. W. Pfeiffer-Belli, Zürich 21966, 384 (-/lt.: Gedenkausg. XXIII). Klassiker und Romantiker ...: KuA II 2 (1820), 116 = Gedenkausg. XIV 806. 18. Juli '27 zu Eckermann: Gedenkausg. XXIV (Anm. 6) 263. Graf Carmagnola noch einmal: KuA III 2 (1821), 72 = Gedenkausg. XIV 832. Adelchi .... in: Teilnahme ...: ebd. 838. 18. und 21. Juli '27 zu Eckermann: Gedenkausg. XXIV (Anm. 6) 263, 265. Klassiker und Romantiker ...: KuA II 2 (1820), 103 = Gedenkausg. XIV 801.
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Manzoni ein neuer Ton in der italienischen Literatur vernehmbar wurde, der die Aufmerksamkeit Europas verdiente. Doch mit ästhetischen Urteilen war nach Meinung des alten Goethe bei weitem nicht genug getan. Schon am Carmagnola war ihm aufgefallen23, daß diese Tragödie von einem wahrhaften, klar auffassenden) innig durchdringenden, menschlich fühlenden, gemütlichen Dichter geschrieben worden war, und bereits hier stellte er in Manzonis schönem Talent ... eine natürlich freie, bequeme Ansicht der sittlichen Welt fest24. Der Eindruck verstärkte sich bei der Lektüre des Adelchi. Wiederum gebraucht er die Formel von Manzonis schönem, wahrhaft poetischem Talent, das auf reinem humanem Sinn und Gefühl beruhe25. Das Wort ,schön' bezeichnet hier zweifellos nicht nur eine ästhetische, sondern zugleich eine ethische Qualität; es entspricht in gewisser Weise der griechischen Kalokagathie. Gemeint ist in diesem Falle Manzonis Wahrheitsliebe, die ihn veranlaßte, seine Tragödie so anzulegen, daß das historische Element, in welchem er dichterisch wirkt und handelt, ... untadelhaft Wahres, durch Dokumente Bestätigtes, Unwidersprechliches enthalte. Seine Bemühung muß also dahin gehen, das sittlich-ästhetisch Geforderte mit dem wirklich-unausweichlich Gegebenen völlig in Einklang %u bringen26. Mit anderen Worten, Manzoni gelingt, was vor ihm nur Schiller geglückt war: die Harmoni-|sierung der geschichtlichen Faktizität und Notwendigkeit mit den Postulaten der Sittenlehre und der ästhetischen Gesetze. Goethe hatte also allen Grund, in Manzonis Tragödie den seltenen Fall zu sehen, wo sittliche und ästhetische Bildung vereint in gleichem Grade gefordert wird2'1'. Bei den Promessi sposi spricht er von innerer Bildung^, welche die ethischen und die ästhetischen Forderungen ebenfalls in sich vereint. Auch hier meint er die menschlich und künstlerisch richtigen Verhältnisse. Zweifellos fühlte sich Goethe bei der Lektüre des Adelchi an seine Iphigenie erinnert29. Wenn er es Manzoni hoch anrechnet30, daß er Personen aus einer halbbarbarischen Zeit mit solchen garten Gesinnungen ausgestattet habe, welche nur die höhere religiöse und sittliche Bildung unserer Zeit hervorzubringen 23
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Tag- und Jahreshefte 1821: Gedenkausg. XI, Ital. Reise — Annalen, hg. v. E. Beutler, Zürich 21962, 938 (zit.: Gedenkausg. XI). // conte di Carmagnola ...: KuA II 3 (1820), 52 = Gedenkausg. XIV 822; Sperrung von H. R. Adelchi ..., in: Teilnahme ...: Gedenkausg. XIV 837. Ebd. Ebd. 842. 18. Juli '27 zu Eckermann: Gedenkausg. XXIV (Anm. 6) 263. Vgl. Strich (Anm. 1) 257. Adelchi ..., in: Teilnahme ...: Gedenkausg. XIV 837.
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fähig ist, so durfte er sich in seinen eigenen Zielen durch den Dichter einer anderen Nation bestätigt finden, der noch nicht einmal das Licht der Welt erblickt hatte, als die erste Fassung der Iphigenie bereits vollendet war. Die Gestaltung der Humanitätsidee in der Iphigenie wie im Adelchi erklärt aber auch die kritischen Einwände, die Goethe gegen die Tragödien des gleichaltrigen Alfieri vorzubringen hatte31. Es waren nicht nur die vollkommenen Wüsteneien, in die der Piemontese seine Stücke nach Goethes Urteil32 durch die Einschränkung des dramatischen Personals auf die eigentlich Handelnden und unter Verzicht auf Nebenhandlungen, Komplikationen der Gefühle, auf die Vertrauten-Figuren usw. verwandelt hatte, um sie der griechischen Tragödie anzunähern — es war wiederum nicht nur ein ästhetisches Moment, das dieses Urteil bestimmte. Hatte sich Goethe in der Iphigenie wie im Tasso doch ebenfalls auf fünf Personen beschränkt und von den schrecklichen Monologen Gebrauch gemacht, die er jetzt an Alfieris Dramen tadelte. Trotzdem war in seinen klassisch stilisierten Dramen kein Kahlschlag der Szene, kein Verlust an innerer Bewegtheit eingetreten. Was Alfieris Klassizismus vor allem entbehrt, ist jene Beseeltheit des Gedanken und der Rede, die Goethe der Empfindsamkeit und dem Pietismus verdankt, Manzoni seinem ,naiven' Katholizismus und der Romantik. Es ist zwar richtig33, daß Manzonis Heilige in den Promessi sposi „keine Schwärmer" sind, daß „ihr Christentum der Tat keine pietistische Innerlichkeit' kennt"; trotzdem beruht die höhere religiöse und sittliche Bildung bei Manzoni wie bei Goethe auf religiösen Urerlebnissen in jeweils verschiedener konfessioneller, nationaler und sozialer Brechung. Doch eben weil der eine wie der andere ein geborner Poet war, gelang es beiden, das Dogmatische, was den religiösen Formen anhaftet, ins Poetische einzuschmelzen und | derart zu verwandeln, daß es in der anderen konfessionalen, nationalen und sozialen Welt keinen Anstoß erregte. Wenn also Goethe Manzonis Katholizismus geradezu als vorteilhaft für sein Schaffen empfand 34 , weil aus ihm viele Verhältnisse poetischer Art hervorgehen, so zeigt dieses Urteil, was mit höherer religiöser und sittlicher Bildung gemeint ist: Eine solche Bildung schließt nicht nur das ästhetisch-sinnliche Element des Katholizismus ein, welches die deutschen Romantiker ohnehin mehr 31
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Vgl. Horst Rüdiger: Die Kritik der Romantiker und Goethes an den Tragödien Alfieris, in: Euphorion 66 (1972), 258-287, hier: 271-286, bes. 285. Einige Wendungen sind dieser Abhandlung entnommen. Jndicayone dt ciö ...: KuA III l (1821), 64 = Gedenkausg. XIV 809. Mazzino Montinari: Goethe und Manzoni — Zur Problematik ihrer geistigen Begegnung, in: studigermania (n. s.) IX 3 (ott. 1971), 394-418, hier: 416 (zit.: Montinari). 21. Juli '27 zu Eckermann: Gedenkausg. XXIV (Anm. 6) 265.
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faszinierte als Goethe, der gegen die zeitübliche Vermischung von Kunst und Religion ein gesundes Mißtrauen hegte; sie meint zugleich und vor allem die undogmatischen, überkonfessionellen, übernationalen Züge, die ins Humane integriert sind und ihrerseits humanisierend wirken. Sie bilden für Goethe, für Manzoni und — so scheint mir — auch noch für uns die Voraussetzung einer künftigen Weltliteratur. Bei Alfieri waren sie allenfalls keimhaft, bei Manzoni sind sie in voller Blüte sichtbar. Wie jeder Literaturkritiker von Format begnügt sich Goethe nicht mit der Rekapitulation von Manzonis ästhetischen Ideen und schon gar nicht mit der Diskussion über die Einheiten des Ortes und der Zeit, die für das deutsche Drama längst keine Probleme mehr waren35. Für Manzoni hingegen waren diese Einheiten höchst problematisch; aber nicht — wie ein halbes Jahrhundert zuvor für die Stürmer und Dränger — auf Grund ästhetischer Überlegungen oder aus Widerwillen gegen Regeln, die er als Einengung seiner künstlerischen Freiheit empfunden hätte, sondern aus ethischen Motiven: Die Einheiten widersprachen der historischen ,Wahrheit' und mithin der Forderung nach Redlichkeit, die Manzoni an den Dramatiker und vor allem an sich selbst stellte. Nicht an diesem Punkt also setzt Goethes Kritik an, eben weil der Dichter des Göt% und des Egmont hier gar kein Problem sah. Vielmehr entwickelt er Manzonis Positionen weiter zu einer Ästhetik, die an die Zentralfragen nach dem Sinn und der Möglichkeit der Dichtung überhaupt rührt. Manzoni hilft uns %tt guten Gedanken, sagte er zu Eckermann36, als er ihm die Verwandtschaft und die Unterschiede von Manzoni und Schiller auseinandergesetzt hatte. Beide seien geborene Poeten; doch unsere Zeit ist so schlecht, daß dem Dichter im umgebenden menschlichen Leben keine brauchbare Natur mehr begegnet. Um sich nun auf^uerbauen, griff Schiller %u %wei großen Dingen: %u Philosophie und Geschichte; Manzoni %ur Geschichte allein. Diese gewaltigen Hülfen aber hätten bei Schiller dem reinen poetischen Suk^eß im Wege gestanden, so wie Manzoni durch ein Übergewicht der Geschichte leidet. Das Urteil betrifft zunächst die beiden Dramatiker; es gilt aber noch mehr für den Romancier Manzoni37. Gewiß kommt es diesem zustatten, daß er ein ausgezeichneter Historiker ist, wodurch denn seine Dichtung die große Würde und Tüchtigkeit bekommen hat, die sie über alles dasjenige weit hinaushebt, was man gewöhnlich sich unter Roman vorstellt. Aber im dritten Bande der Promessi sposi findet Goethe, daß der Historiker dem Poeten einen bösen Streich spielt, indem Herr Manzoni \ mit einemmal den Rock des Poeten ausgeht und eine gan^e Weile als 35 36 31
Vgl. // conte di Carmagnola ...: KuA II 3 (1820), 37 = Gedenkausg. XIV 815. 23. Juli '27: Gedenkausg. XXIV (Anm. 6) 267. Das Folgende 21. und 23. Juli '27 zu Eckermann: ebd. 265 f.
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nackter Historiker dasteht. Die ausführliche Beschreibung von Krieg, Hungersnot und Pestilent^, welche Dinge schon an sich widerwärtiger Art sind, werden nun durch das umständliche Detail einer trockenen chronikenhaften Schilderung geradezu unerträglich. Kurz, Manzoni hatte als Historiker %u großen Respekt vor der Realität. Diese Sätze finden sich in den Gesprächen mit Eckermann; es sind vertrauliche Äußerungen, die Eckermann vielleicht allzu pointiert wiedergegeben hat. Aber die zuerst in Kunst und Altertum einzeln gedruckten, dann unter dem Titel Teilnahme Goethes an Manzoni gesammelten Aufsätze (sie erschienen nun als Vorwort zu der von Goethe veranlaßten italienischen Ausgabe der Opere poetiche Manzonis, Jena 1827) — auch diese Äußerungen über Manzonis Dramen enthielten bereits Kritik an der Überwältigung des Poeten durch den Historiker, wenn auch in diskreteren Formulierungen. Goethe meint38, Manzoni habe gewiß nicht aus eignem Gefühl und Überzeugung ... seine Personen in historische und ideelle geteilt, wie es im Carmagnola der Fall ist, und er entschuldigt den Kunstfehler durch Rücksichtnahme auf ein krittlendes Publikum: zweifellos mehr eine Floskel der Höflichkeit als ein Ausdruck seiner Überzeugung. Doch Manzonis Wahrheitsliebe bewährt sich auch vor der liebenswürdigen Bereitschaft Goethes, die Schuld für gewisse Schwächen seiner Produktion nicht bei ihm selbst zu suchen. In dem einzigen Brief, den Manzoni am 23. Januar 1821 an den dankbar verehrten Meister schrieb und den dieser in deutscher Übersetzung alsbald in Kunst und Altertum abdruckte, stimmt er der Kritik nicht nur vorbehaltlos zu, sondern nimmt die Schuld an dem „Fehler" auf sich39: Deggio ... confessarle ehe la distinstone dei personaggi in istorici e in ideali e unfallo tutto mio, e ehe nefu cagione un attaccamento troppo scrupoloso all'esatte^a storica, ehe mi porto a separare gli uomini della realta da quellt ehe io aveva immaginati per rappresentare una classe, una opinione, un interesse. In un altro lavoro recentemente incominciato io aveva giä ommessa questa distin^ione, e mi compiaccio di aver cost anticipatamente obbedito al suo avviso. Die Tragödie, die Manzoni in Arbeit hatte, war der Adelchi. Er sandte Goethe 1822 ein Exemplar mit einer Widmung in deutscher Sprache, die 3
" // conte di Carmagnola ...: KuA II 3 (1820), 53 = Gedenkausg. XIV 822. KuA IV l (1823), 98-101 = Gedenkausg. XIV 833-836 (mit dem in Teilnahme ... abgedruckten Original) = Alessandro Manzoni: Tutte le opere VII, Letfere I, a cura di C. Arieti, Milano 1970 (= I Classici Mondadori), 222 f., 816 bis 818 (zit.: Letten I). Emmy Rosenfeld: Goethe und Manzoni ..., in: Lit.-wiss. Jb. Görres-Ges. NF l (1960), 91 — 116, hier: 97 — 99 (zit.: Rosenfeld), reproduziert das Konzept zu Manzonis Brief, vermutet Riemer als Übersetzer und gibt eine eigene modernisierte Übersetzung.
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er dem Egmont (V 4) entnommen hatte40: Du bist mir nicht fremd. Dein Name war's, der mir in meiner ersten Jugend gleich einem Stern des Himmels ent-\gegenleuchtete. Wie oft hab' ich nach dir gehorcht, gefragt! Goethe revanchierte sich fünf Jahre später, indem er Manzoni die Jenaer Ausgabe der Opere poetiche mit der Widmung zukommen ließ41: Herrn Mandant als Zeugniß unwandelbarer Hochachtung und Mitwirckung. Es ist an der Zeit, einen kurzen Blick auf das eigenartige persönliche Verhältnis der beiden Dichter zu werfen, dessen äußerer und innerer Ablauf bereits mehrfach ausführlich dargestellt worden ist42. In Paris hatte Manzoni Madame de Stael kennengelernt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Goethe bei ihrem Besuch in Weimar im Jahre 1803 Manzonis Namen zuerst von ihr gehört hat; es ist aber nicht sehr wahrscheinlich43, schon weil Manzoni bis dahin keines seiner bedeutenden Werke geschrieben hatte. Dieser kannte seinerseits vor 1820 den Egmont und Hermann und Dorothea^. Ob er sie in französischer Übersetzung oder deutsch gelesen 40
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Autograph bei Friedrich Schurr: Die roman. Lit.en des 19. und 20. Jh.s, Potsdam 1935, I 310. — Vgl. auch den Brief Manzonis vom Oktober 1822, mit dem er Cattaneo um ein Exemplar des Egmont bittet: Letters I (Anm. 39) 291 f. Lionello Senigaglia: v. Goethes Beziehungen %u Manzoni und anderen Italienern — Briefwechsel ^wischen Manzoni und Kanzler von Müller, in: Goethe-Jb. 9 (1888), 135 — 147 (zit. Senigaglia), hier: 141; Autograph bei Rosenfeld (Anm. 39) vor S. 97; vgl. ebd. 109. Senigaglia (Anm. 41); Strich (Anm. 1) 251-262; Rosenfeld (Anm. 39); Montinari (Anm. 33); Otto Speyer: Manzoni und Goethe, in: Die Gren^boten 48 (1889), 71 — 81, 117 — 126; ders.: Manzonis Graf von Carmagnola und seine Kritiker, in: Archiv St. der neueren Sprachen und Litt., XLIII. Jg., 83. Bd. (1889), 419-438; E. Sacchi: Mandant e Goethe, in: Nuova Antologia, vol. CCII (luglio-ag. 1919), 442—445; Heidi Lohner: Deutschlands Anteil an der ital. Romantik, Bern/Leipzig 1936 (— Sprache und Dichtung, H. 62), 103 — 145 (zit.: Lohner); Piero Fossi: La Lucia del Manzoni ed altre note critiche, Firenze 1937 (mir unzugänglich; enthält u. a. die italienische Übersetzung von Goethes Äußerungen über Manzoni; vgl. Karl Georg Lauber: Goethe und die Man^oni-Forschung, in: Hochland, 36. Jg., Bd. l [Okt. 1938-März 1939], 78-81); Jean F. Beaumont: Manzoni and Goethe, in: Italian Studies II (Aug. 1938-May 1939), 129-140 (zit.: Beaumont); John Hennig: Goethe and an Eng/. Critic of Mandant, in: Monatshefte, vol. XXXIX l (Jan. 1947), 9—16; Carlo Curto: La poesia del Mandant nelpensiero del Goethe, in: Nuova Antologia, vol. CDXLVII (sett.-dic. 1949), 25 — 34, u. a. Neues Material bzw. neue Gesichtspunkte bei Senigaglia, Lohner, Beaumont, Strich, Rosenfeld, Montinari. — Erst nach Abschluß der Korrektur wurde mir der Aufsatz von Larry H. Peer zugänglich: Schlegel, Christianity, and History: Manzoni's Theory of the Novel, in: Comp. Lit. St. X 3 (Sept. 1972), 266-282. Senigaglia (Anm. 41) 135f. dagegen: „höchst wahrscheinlich". Vgl. den Brief vom Februar 1811 an Fauriel: Lettere I (Anm. 39) 112f.: Manzoni gab seinen Freunden Baggesens Idyll La Parthineide, offenbar in Fauriels französischer Übersetzung, zu lesen und war über die Reaktion enttäuscht. Baggesen n'en [von dem
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hat, wozu er vielleicht in der Lage war, wissen wir nicht. Seine Vermittler waren Claude Fauriel und Ermes Visconti. Irgendwelche ,Einflüsse' auf Manzonis Werk lassen sich mit Sicherheit nicht feststellen, am ehesten vielleicht von Hermann und Dorothea auf die ursprüngliche Konzeption | von Fermo e Lucia, der Vorform der Promessi sposi45. Sie scheinen mir bei einem so originalen Erzähler wie Manzoni ohnehin unwesentlich. Goethe lernte Manzonis Werke durch eine Art literarischer Agentur kennen, welche die Weimaraner in Mailand unterhielten. Als Vermittler wirkten neben dem Großherzog Karl August, der die lombardische Metropole im Sommer 1817 aus politisch-militärischen Gründen besuchte, der dort ansässige deutsche Bankier Heinrich Mylius mit seiner Gattin46 und vor allem der Konservator des Münzkabinetts der Brera, Gaetano Cattaneo. Durch einen Bericht, den Cattaneo 1818 an Karl August sandte47, erfuhr Goethe zuerst von dem Mailänder Literaturstreit und nahm zwei Jahre darauf in dem Aufsatz Klassiker und Romantiker in Italien, sich heftig bekämpfend^, taktvoll dazu Stellung. Der Geist der Zeitschrift // Conciliatore^, den Cattaneo als „virtuoso spirito di pace" umschrieben hatte, mag ihn zu seiner vermittelnden Haltung angeregt haben. Von Manzoni war bei Cattaneo zunächst nur mit ein paar Worten die Rede gewesen; doch im November 1818 übermittelte er die vier damals erschienenen Inni sacri, deren hohe Kunst Goethe in seinem Aufsatz alsbald würdigte. Auf die ausführliche Rezension des Carmagnola entschloß sich Manzoni dann zu seinem Dankbrief: hatte er doch nicht nur wertvolle Schützenhilfe gegen das Unverständnis der Mailänder Traditionalisten, sondern aufrichtige Teilnahme an der formula primitiva dei miei concetti
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Mißerfolg] saura rien, mais voilä ce qui le consolerait bien s'il en etait informe; c'est qu'on dit qu'au mains Partheneide est plus passable que Hermann et Dorothee. ... ce n'e st pas contre son Poeme, mais contre le genre qu'on est prevenu. Diffatti on a plaint beaucoup son beau talent de s'etre exerce sur des niaiseries. J'ai fait lire entr'autres Hermann et Dor. ä M.r Visconti ... H le ravale au point de me dire que si je ne avais pas prevenu en faveur de ce Poeme, si je ne lui avais pas dit qu'il a beaucoup de reputation en Allemagne, U l'aurait pris pour un de ces Romans sentimentaux dont on est inonde a cette heure ... Zur Frage von Manzonis Deutschkenntnissen und der ,Rinflüsse' Goethes auf seine Dichtungen vgl. Beaumont (Anm. 42) 129-133; danach Rosenfeld (Anm. 39) 92, 97 f., 100 f., 112 f. Vgl. Josefine Rumpf-Fleck: Heinrich Mylius — Ein Mittler ^wischen Weimar und Italien, in: Goethe-Kalender 35 (1942), 192-243. Erstdruck bei Montinari (Anm. 33) 396 f., Anm. 1. KuA II 2 (1820), 101-117 = Gedenkausg. XIV 800-807; Analyse bei Montinari (Anm. 33) 398-400. Vgl. Lohner (Anm. 42) 81-102.
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gefunden, das heißt an der Ablehnung der Lehre von den klassizistischen Einheiten50. In der Tat hat Goethe Manzoni zum Durchbruch als Autor und in gewisser Weise zu Weltruhm verhelfen. Genau das war es, was er mit seiner Zeitschrift beabsichtigte: kraft seiner Autorität große Dichtung außerhalb der nationalen Grenzen bekannt zu machen. Und er fuhr in gleicher Weise fort mit der Rezension der Tragödie Adelchi, deren Verdeutschung er dem Dante-Übersetzer Karl Streckfuß anvertraute, mit der Ausgabe der Werke Manzonis, der Rezension der Promessi sposi, die er wiederum Streckfuß schreiben ließ, mit der Übersetzung des Romans, für die Streckfuß den jungen Autor Alexander Leßmann gewann. Wäre ich jünger, sagte Goethe zum Kanzler von Müller51, so hätte ich sogleich die ,Sposi promessi' a la Cellini bearbeitet. Anstelle des Romans übersetzte er selbst ein paar Verse aus den Dramen und vor allem die Ode // cinque maggio auf den Tod Napoleons. Es ist diejenige Übersetzung | Goethes, in der er sich am engsten an den originalen Wortlaut hielt (obwohl ihm einige Irrtümer unterliefen; doch ist keineswegs sicher, ob sie ihm in jedem Falle selbst zuzuschreiben sind)52; hier verwirklichte er zum ersten und einzigen Male das Prinzip, das er die höchste, die sich mit dem Original identifizierende' Übersetzung nannte. Überblickt man die Beziehungen der beiden Männer, die mehr als ein Jahrzehnt andauerten und nach Goethes Tod in Manzoni noch fortwirkten, so fällt zunächst der wahrhaft urbane, ja ritterliche Ton ihres Verkehrs auf. Sie begegneten einander als Leute von Welt, wenn auch verschiedener Konfession und Nation, höflich, Goethe zuweilen mit einem Unterton des Kanzleihaften, und stets mit der gemessenen Distanz, die dem Jüngeren gegenüber dem Älteren, dem Mailänder Patrizier gegenüber dem Weimarer Minister ebenso gut anstand wie umgekehrt. Zwar sind die Widmungen des Adelchi bzw. der Opere und der Brief Manzonis die einzigen direkten Berührungen geblieben53; doch zeichnen sich Goethes publizisti50
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lottere I (Anm. 39) 223 = KuA IV l (1823), 100 (den ursprünglichen Sinn meiner Vorsätze) = Gedenkausg. XIV 834. 20. Sept. '27: Gedenkausg. XXIII (Anm. 16) 514. Goethe schreibt Sposi promessi, weil ihm die erste Fassung des Romans vorlag, die diesen Titel hatte. Auch wo es sich um diese Fassung handelt, habe ich stets den geläufigeren Titel der späteren Bearbeitung gewählt. Vgl. Horst Rüdiger: Ein Versuch im Dienste der Weltlit.-Idee: Goethes Übers, von Manzonis Ode „U cinque maggio", in: St. in onore di Lorenzo Bianchi, Bologna 1960, 1—24, hier 16—20, bes. 17 f., Anm. 1. Über das Übersetzungsprinzip ebd. 6 — 8, 23 f. F,in empfehlendes Billett Goethes für seinen Sohn und Eckermann vom April 1830 scheint Manzoni nicht erreicht zu haben: Gedenkausg. XXI (Anm. 5) 901; vgl. auch Senigaglia (Anm. 41) 143 f.; Rosenfeld (Anm. 39) 114.
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sehe Äußerungen durch eine Herzlichkeit und Wärme aus, die er im Alter nur selten spüren ließ. Manzoni, eher zurückhaltend mit Lob, spricht seinerseits aufrichtig, wenn er aus Goethes wohlwollender Kritik la voce del Maestro vernimmt 54 ; Verehrung ist der Grundzug seiner Haltung geblieben. Am nächsten sind sie sich in der Vornehmheit der Gesinnung und im Adel des Herzens gekommen: in jener humanen Haltung, die Manzoni stets, Goethe dann wahrte, wenn er von voltairischer Spottlust und mephistophelischen Grillen nicht geplagt war. Unter diesem Aspekt ist die Ode auf Napoleons Tod das reinste Zeugnis ihrer inneren Übereinstimmung vor dem Schauspiel geschichtlicher Größe und menschlichen Scheiterns. Doch es gibt eine tiefere, von der Kritik meist unbeachtete Schicht ihrer Beziehungen, in der Interessen, Meinungsverschiedenheiten und handfeste Mißverständnisse laut werden. Als erstes ist zu bedenken, daß nicht nur Goethe ein Verbündeter Manzonis war, sondern Manzoni — wahrscheinlich ohne es zu wissen — auch ein Verbündeter Goethes im Kampf gegen Überspanntheit und Dilettantismus. Oft schließt das Lob Manzonis und der italienischen ,Romantiker' eine unausgesprochene, doch unüberhörbare Kritik an den deutschen Romantikern ein, so wenn die Inni sacri und Manzonis ,naiver' Katholizismus demonstrativ gepriesen werden. Goethes Verstimmung über das Treiben der deutschen Romantiker ist nicht frei von Enttäuschung und Bitterkeit. Im Hinblick auf seine Empfehlung des Adelchi schreibt er an den vertrauten Freund Knebel55: ... ach! warum kann man denn nicht einem deutschen Zeitgenossen den gleichen Liebesdienst erweisen. Daß er ihn einem Ausländer erwies, ver-|barg eine Spitze gegen seine Landsleute. Noch weniger aber konnte Manzoni ahnen, daß er nach Schillers Tod einer der wenigen idealen Gesprächspartner Goethes geworden war56. Vielleicht ist es daher kein bloßer Zufall, daß Goethe seinen Dankbrief zwar mit weiteren Publikationen, nicht aber durch ein persönliches Schreiben beantwortet hat; vielleicht scheute er in der Tat die Transponierung eines hohen Geistergespräches auf die Ebene einer allzu aktuellen Korrespondenz, überdies ohne die Hoffnung auf eine klärende persönliche Aussprache. Die innere Verwandtschaft des 54
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Wie Anm. 50. 14. De2. '22: Gedenkausg. XXI (Anm. 5) 523. Vgl. auch Lohner (Anm. 42) 108, 111, 130 f., 135. Vgl. Rosenfeld (Anm. 39) 101-103. Schon Lohner (Anm. 42) 113, 122f., 139 hat freilich die Ablehnung Schillers durch Manzoni mit Recht hervorgehoben. Manzoni kannte gewiß Constants Wallstein-Bearbeitung (ebd. 104—106), die Braut von Messina und den Teil.
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Teilnahme Goethes an Manzoni
verstorbenen und des in der Ferne lebenden Freundes und Bundesgenossen stand für Goethe fest, wie die (auf S. 126 zitierten) Äußerungen gegenüber Eckermann zeigen. Hätte er aber das Gespräch mit Manzoni in gleicher Weise fortführen können wie mit Schiller? Er verstand Schillers und Manzonis Wendung zur Geschichte als Flucht vor miserablen Zeiterscheinungen, und es waren neben den volkstümlichheroischen die weltflüchtig-idyllischen Züge der Promessi sposi, die ihn am meisten anzogen. Für Manzoni aber war Geschichte mehr als ,Erbauung'; ihr eigentlicher Gehalt war der Gang Gottes durch die Welt, ihr Sinn die Offenbarung göttlicher Vorsehung, und dem Dichter fiel die exegetische Aufgabe des Priesters zu, das Walten Gottes an Hand der Geschichte zu deuten. Anderseits umfaßte seine Aufgabe zugleich ein nationalpolitisches Engagement, das für den italienischen Leser der Dramen auf der Hand lag. Niemand konnte diesen Ton im Chor des Carmagnola überhören57: D'una terra son tutti: un linguaggio par/an tutti: frate Hi li dice lo stränier o: il comune lignaggio a ognun d'essi dal v ölto traspar;
niemandem konnte es entgehen, daß die Schilderung des Bruderkampfes den geheimen Aufruf zur nationalen Einigung gegen den fünfmal mit Abscheu genannten straniero enthielt; kein gebildeter Italiener konnte die Anspielung auf Petrarcas patriotische Canzone58 und auf die aktuelle politische Lage mißverstehen, wenn er weiterlas: Questa terra f u a tutti nudrice, questa terra di sangue ora intrisa, ehe natura dall'altre ha divisa, e ricinta con I'alpe e col mar —. \
Goethe überhörte die Aktualität — er wollte sie wahrscheinlich überhören. Er berief sich auf den Anfang von Manzonis Vorrede zum Carmagnola, die in ihrer bescheidenen Zurückhaltung ein weniger spektakuläres Gegenstück zur Vorrede von Victor Hugos Cromwell bildet. Hier heißt es mit liebenswürdiger Selbstironie59: 57
58
59
Opere, a cura di R. Bacchelli, Milano/Napoli 1953 (— La lett. ital. — Storia e testi, vol. 53), 133 (zit.: Opere). Italia mia ...: Can%. CXXVIII, v. 33 — 35: Ben provide Natura al nostro stato / quando de I'Alpi schermo / pose fra noi e la tedesca rabbia ... Opere (Anm. 57) 83.
[133]
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... ogni componimento presenta a chi voglia esaminarlo gli elementi necessari a regolarne un giudi^io; e a mio avviso sono quest i: quäle sia l'in ten to dell'autore; se questo inten to sia ragionevole; se l'autore l'abbia conseguito. Prescindere da un tale esame, e volere a tutta for^a giudicare ogni lavoro secondo regele, delle quali e controversa appunto l'universalita e la certe^a, e lo stesso ehe esporsi a giudicare st or tamen te un lavoro: il ehe per altro e uno de' piü piccoli mali ehe possano accader e in questo mondo. Goethe ergänzt Manzonis Gedanken, indem er bemerkt60, ein echtes Kunstwerk, solle, so wie ein gesundes Naturprodukt, aus sich selbst beurteilt werden. Damit meint er natürlich keine ,werkimmanente Interpretation' im modernen Sinne; er verwahrt sich aber gegen werkfremde ästhetische Maßstäbe, genauer: gegen die Beurteilung des Carmagnola nach den Regeln der klassizistischen Einheiten. Doch wenn er dann ausdrücklich betont, er habe sich solchen Forderungen gemäß ... den deutlichsten Begriff von Herrn Manzonis Absichten %u verschaffen gesucht, so läßt die Formulierung erkennen, daß er die nationalpolitische Absicht in den Chören nicht wahrhaben wollte, weil er auch sie als Fremdkörper empfand. An dem sonst so hoch geschätzten Globe tadelte er61: Die Herren Globisten schreiben keine Zeile, die nicht politisch wäre, das heißt, die nicht auf den heutigen Tag einzuwirken trachtete. Sie sind eine gute, aber eine gefährliche Gesellschaft ... Sie können und wollen ihre Absicht nicht verleugnen: den absoluten Liberalismus allgemein %u verbreiten ... Nun, diese Absicht hätte er Manzoni gewiß nicht vorwerfen können; doch auch Manzoni trachtete mit seinem Chor auf die Gegenwart und auf sein Vaterland einzuwirken. Goethe aber vermerkt lediglich eine herrliche Beschreibung des Gefechtes, während sich der Chor %ulet%t in Klagen und traurige Betrachtungen über das Kriegsunheil, besonders im Innern der Nation, ergießt62. Das heißt, die Verse neigen zum Elegischen, in Goethes Verständnis dem Kennzeichen der modernen Lyrik63. Die revolutionären Reibungen, unter denen Manzoni und seine Freunde gelitten hatten, kannte Goethe sehr wohl, wie aus einer Anspielung bei Gelegenheit der Promessi sposi hervorgeht; er erwähnt sie jedoch nur flüchtig im privaten Gespräch64. Nicht anders verhält er sich bei der Analyse jenes Chores im Adelchi, der nach Auffassung der italienischen Kritik „un invidiabile titolo di gloria | patriottica non meno ehe poetica" darstellt65 und von Manzonis 60
61 62 63 64 65
II tonte di Carmagnola ...: KuA II 3 (1820), 35 f.; vgl. 60 = Gedenkausg. XIV 814f.; vgl. 825. [Die Zs. U Globe}: ebd. 868. Ilconte di Carmagnola ...: KuA II 3 (1820), 47 = Gedenkausg. XIV 820. Adelchi ..., in: Teilnahme Goethes an Manzoni: ebd. 839. 21. Juli '27 zu Eckermann: Gedenkausg. XXIV (Anm. 6) 265. Ezio Chiörboli in: A. Manzoni: Le poesie, Bologna 1948, 534.
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Teilnahme Goethes an Mandant
Landsleuten und Zeitgenossen zweifellos so empfunden worden ist. Wie wären sonst die Beanstandungen durch die österreichische Zensur zu erklären? ... un volgo disperso repente si desta; intende l'orecchio, solleva la testa percosso da novo crescente romor66. Auch hier nimmt Goethe die aktuellen Bezüge nicht wahr; er beschränkt sich auf die Feststellung der genauen historischen Vergegenwärtigung und des grenzenlosen Details. Freilich konzediert er, die höchste Lyrik sei immer historisch, und ruft Pindars mythologisch-geschichtliche Elemente als Kronzeugen auf67. Doch kurz zuvor hatte er geschrieben68, daß alle Poesie eigentlich in Anachronismen verkehre, daß, was uns von wahrer Poesie übriggeblieben ist, ... nur in Anachronismen lebe und atme. Und er hatte Manzoni auf das unveräußerliche Recht des Dichters hingewiesen, die Mythologie nach Belieben umzubilden, die Geschichte in Mythologie zj4 verwandeln. Und nochmals zu Eckermann69: Manzoni fehlt weiter nichts, als daß er selbst nicht weiß, welch ein guter Poet er ist und welche Rechte ihm als solchem zustehen. Doch gerade diese Rechte wollte und konnte Manzoni gar nicht in der Weise wahrnehmen, wie Goethe es in seinen eigenen Dramen getan hatte und nun dem Freunde empfahl. Denn für Manzoni bedeutete Geschichte Offenbarung der Wahrheit, ja mehr als dies: religiöse Offenbarung, und kein Dichter hatte das Recht, sie in Mythologie z,u verwandeln. Goethe verstand sie durchaus anders. Mit Bezug auf den Adelchi sagte er zu Cousin70: Nous ne pouvons nous interesser qu'a ce qui nous ressemble un peu, et non aux Lombards ou Longobards et a la cour de Charlemagne, und er lobte den Charakter des Helden, weil er eine invention de Manzoni sei. Will man aber die Meinungsverschiedenheit zwischen Goethe und Manzoni über das Wesen des Geschichtlichen recht verstehen, so muß man einige der zahlreichen weiteren Äußerungen Goethes zu Rate ziehen: Die Geschichte ist ein Märchen im Anfang, auf ihm schwimmt ein Faktum, wie auf dem Wasser, bis das Wasser verschwindet1^; oder anläßlich einer Schrift Plutarchs72: 66 67 68
69 70 71
72
Opere (Anm. 57) 281. Adelchi ..., in: Teilnahme Goethes an Manzoni: Gedenkausg. XIV 839. Ebd. 838. 31. Jan. '27: Gedenkausg. XXIV (Anm. 6) 229. 28. April '25: Gedenkausg. XX111 (Anm. 16) 383 f. Juni '11 zu Riemer: Gedenkausg. XXII, Gespräche I, hg. v. W. Pfeiffer-Belli, Zürich 2 1964, 637. Der Sinn ist: ... so daß das Faktum als caput mortuum liegen bleibt; vgl. das zu Anm. 74 gehörige Zitat. Goethes Gespräche ..., in Auswahl hg. v. F. Freiherrn von Biedermann, Leipzig o. J. (1929), 735, hier nach: I^exikon der Goethe-Zitate, hg. v. R. Dobel, Zürich/Stuttgart 1968, Sp. 267.
[134]
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... daß der größte Teil der Geschichte nichts weiter als ein Klatsch sei; sie enthalte nur eine Masse von Torheiten und Schlechtigkeiten1^. Die Geschichte, selbst die beste, hat immer etwas L·e^chen-\haftes, den Geruch der Totengruft. Ja man kann sagen, sie wird immer verdrießlicher %u lesen, je länger die Welt steht: denn jeder Nachfolgende ist genötigt, ein schärferes, ein feineres Resultat aus den Weltbegebenheiten heraus^usublimieren, da denn zuletzt, was nicht als caput mortum liegen bleibt, im Rauch aufgeht1*. Und endlich75: Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt. Keiner dieser Äußerungen, vielleicht mit Ausnahme der letzten, hätten Manzoni oder Schiller zustimmen können. Geschichte — politische Geschichte als Kampf von Machtgruppen — ist für Goethe ins Naturgeschehen eingebettet, ist ein Naturereignis unter anderen, so wie ihm Napoleon ein Naturereignis gewesen war. Sie hat vulkanischen Charakter und ist Ausdruck vulkanistischer Gelüste niederer Geschöpfe und machtbesessener Krieger: Gierige Pygmäen knechten die Daktylen und morden mit der von ihren Sklaven produzierten Rüstung die schönen Reiher, um sich an ihrem Schmuck zu bereichern; Kraniche fordern der Pygmäen frevles Blut, um ihre gefiederten Brüder zu rächen; Cäsar besiegt Pompe) us, dem Erichtho prophezeit hatte: Wie oft schon wiederholt' sich's! wird sich immerfort l Ins Ewige wiederholen ...: sinnlose Wiederkehr des Gleichen, wie sich Gewalt Gewaltigerem entgegenstellt. Der kontemplative Geist aber, der geduldige Beobachter des Naturgeschehens hält es mit der stoischen Ironie der Sphinxe75a: Sitten vor den Pyramiden Zu der Völker Hochgericht; Überschwemmung, Krieg und Frieden — Und verliehen kein Gesicht. Diese Ataraxie lag Schiller wie Manzoni fern, weil sie nicht in mythischen Bildern dachten und dichteten, sondern das Schicksal in historischen Gestalten zu fassen und in seinem Walten das Sittengesetz zu erkennen suchten. Auch einer anderen Äußerung, die ins Zentrum von Goethes Existenz führt, hätten sie nicht zustimmen können76: ... meine reim, tiefe, angeborne und geübte Anschauungsweise, die mich Gott in der Natur, die Natur 73
17. Dez. '24 zum Kanzler von Müller: Gedenkausg. XXIII (Anm. 16) 370. Entwurf eines Vorwortes zum 3. Teil von Dichtung und Wahrheit, in: SW — JubiläumsAusg. XXIV, Dichtung und Wahrheit III, hg. v. R. M. Meyer, Stuttgart/Berlin, 269. 75 Maximen und Reflexionen aus den Wanderjahren: Gedenkausg. IX, Die Wahlverwandtschaften ..., hg. v. P. Stöcklein, Zürich 21962, 563, Nr. 495. 752 Vgl. Faust II, v. 7606-75, 7884-99; 7012 f., 7019; 7245-48. 76 Tag- und Jahreshefte 1811: Gedenkausg. XI (Anm. 23) 853. 74
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Teilnahme Goethes an Mandant
in Gott %u sehen unverbrüchlich gelehrt hatte, so daß diese Vorstellungsart den Grund meiner ganzen Existen^ machte ... Es genügt, einen einzigen Satz aus der Vorrede zum Carmagnola entgegenzuhalten, den natürlich auch Goethe kannte: die dramatische Dichtung müsse angelegt werden nach einem sistema conducente alle scopo morale, ben lungi dall'essergli contrario11. \ Die weitaus intransigenteren Äußerungen des späten Manzoni zum Thema ,Dichtung und Wahrheit' sind Goethe unbekannt geblieben — zum Glück, darf man sagen, denn sie hätten zum Bruch führen müssen. Die Kritik darf sich bei diesem Komplex mit den konventionellen Antithesen Romantik (oder Frührealismus) — Klassik, Nationalismus — Kosmopolitismus, Katholizismus — Pantheismus, Freiheit — Notwendigkeit und dergleichen nicht begnügen. Auf dem Spiele steht die in der jüngsten theoretischen Diskussion unter ganz anderen, aber ebenso radikalen Vorzeichen wiederaufgetauchte Kernfrage nach der Möglichkeit und Verantwortbarkeit der Kunst vor dem Grauen der Geschichte, des schönen ästhetischen Scheines vor dem moralischen Engagement und der ,Wahrheit'. Schiller hatte sie durch seine Typologie vom ,naiven' und vom ,sentimentalischen' Dichter zu lösen und sich mit ihrer Hilfe gegen Goethe zu behaupten versucht. Manzoni versuchte das Problem zunächst mit dem historischen Roman zu lösen, der ihm ,ehrlicher' erschien als das Drama. Aber er ging weiter. Zwar blieb seine fast kindliche Verehrung Goethes unverändert; doch schon 1823 hatte er Cesare Taparelli d'Azeglio den programmatischen Brief geschrieben, mit dem er seine unüberwindliche Abneigung gegen die Klassik nicht nur ästhetisch, sondern durch sein radikales Christentum begründet. Er hält nicht nur den Gebrauch der Mythologie für schädlich, weil sie für ihn Idolatrie ist78, das heißt weil er im Gegensatz zur Renaissance, zum Barock, zur Arcadia den literarischen Paganismus religiös ernst nimmt; vielmehr brandmarkt er die Moral des Klassizismus entschieden als Unmoral79: La parte morale dei classici e essen^ialmente falsa: false idee di vi^io e di virtü, idee false, incerte, esagerate, contraddittorie, difettive dei beni e dei mali, della vita e della morte, di doveri e di speran^e, di gloria e di sapien^a; falsi giudi^ii dei fatti, falsi consigli; e cio ehe non e falso in tutto, manca perö di quella prima ed ultima ragione ehe e stata una grande sciagura U non aver conosciuta, ma dalla quäle e stolte^a U prescindere scientemente e volontariamente. Ora la parte morale, come e la piü importante nelle cose letterarie, cost vi tiene maggior luogo, v'e piü 77
78 79
Opere (Anm. 57) 89. Selbst Shakespeare ist für Manzoni zunächst Moralist und überragt d e s h a l b die anderen Dramatiker; vgl. Lohner (Anm. 42) 115. Vgl. ebd. 112; Montinari (Anm. 33) 405 f. Letters I (Anm. 39) 326 f., 856 ff.
[136] diffusa
Teilnahme Goethes an Mandant
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ehe non appaia al primo sguardo. Per la ragione sopraddetta, io non potrei
mai ... chiamar miei maestri quellt ehe si sono ingannati, ehe m'inganerebbero in una tale e in una tanta parte del loro insegnamento ...
Von dieser Haltung ist es nur ein kurzer Schritt zu der wahrhaft erschreckenden Äußerung Manzonis in dem Brief vom 16. Februar 1829 an Francesco Guicciardini, der ihm seine Ernennung zum Socio corrispondente der Societa Filodrammatica in Florenz mitgeteilt hatte. Im Hinblick auf seine Dramen und seine literaturtheoretischen Schriften antwortete Manzoni80: ... debbo confessarle schiettamente ehe, da quelle pubblica^ioni in poi, le mie idee sono andate oltre assai nella buona o cattiva strada in cui io era entrato; e ehe, se quella pote parer licen^a, le mie opinioni atfuali, in questo \ particolare, tendono affatto
all'anarchia, per non dire alia distru^ione dell'arte medesima.
Questo io Le doveva dire a scarico di coscien^a ...
Mit erstaunlicher Übereinstimmung haben die meisten neueren Literaturkritiker Goethe — wenn auch gegen seine Absicht — für den Verzicht Manzonis auf weiteres künstlerisches Schaffen verantwortlich halten wollen81. Diese Hypothese scheint mir verfehlt. Sie überschätzt den Einfluß 80 81
Ebd. 536 f., 949 f. Beaumont (Anm. 42) 140: „... we are surely justified in holding Goethe to have been very largely responsible for his [Manzoni's] anarchia in purely aesthetic matters. We are thus led to the almost paradoxical conclusion that Goethe ... may perhaps have succeeded ..., by his influence as a critic, in playing the part of Mephistopheles; greatly contributing, however unintentionally, to Manzoni's renunciation of any further creative work." Danach Rosenfeld (Anm. 39) 92, 116; vorsichtiger Montinari (Anm. 33) 416. Feiner differenziert schon bei Lohner (Anm. 42) 140—143. Das Urteil über Goethes Verantwortlichkeit stützt sich vornehmlich auf den von Senigaglia ausgegrabenen Bericht vom Sommer 1829: Der Kanzler Friedrich v. Müller bei Manzoni, mitgeteilt von C. A. H. Burkhardt, in: Magazin für die Lit. des Auslandes, Bd. 79/80 (1871), 640; zit. von Beaumont 137, Anm. 25; zusammengefaßt bei Rosenfeld 113 f.; einige Passus auch bei Montinari 417. Die entscheidenden Sätze lauten (nach Beaumont): „Goethes fortdauerndes Wohlwollen gegen mich beweist nur, daß seine Nachsicht gleich groß ist wie sein Genie, aber mich ihrer zu erfreuen ist mir süß, und nicht die Scheu vor seinem Urteil ist es, die mich abhält, meine längst begonnene Epistel über die Grundsätze des historischen Romans zu beendigen, vielmehr meine Kränklichkeit ... Ich weiß, er wird mich verstehen und, wo ich irre, belehren, und das ist genug ... Es ist lediglich sein Werk, wenn man mir Beifall zollt ..., und ich selbst bin erst durch ihn über mich ins Klare gekommen ... Wenn ich das Glück hätte, Goethe persönlich zu sprechen, so würde ich schwerlich verlegen sein, ich würde das Gefühl eines Kindes haben, das seinen Vater findet. Mein Herz würde sich ihm aufschließen ohne Rückhalt ..." Die Sätze sind ein schönes Zeugnis für Manzonis Verehrung; aber wir wissen leider nicht, inwieweit sie stilisiert sind. Manzoni sagt ja auch nur, er sei durch Goethes Bemerkungen über sich „ins Klare gekommen". Wichtiger war zweifellos die Wirkung der Ideen Rosminis auf sein Denken.
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Teilnahme Goethes an Mandant
Goethes auf das Denken Manzonis; sie unterschätzt dessen Selbständigkeit und moralische Energie; sie nimmt seine grundaufrichtige Religiosität nicht ernst genug, welche keines Anstoßes von außen bedurft hätte, um den Antagonismus von moralisch-religiöser ,Wahrheit' und poetischer ,Lüge' zu erkennen. Allenfalls war Manzoni durch Goethes Kritik über seine eigene Haltung „ins Klare gekommen"; aber die Wurzeln der Tat eines „padre Saturno ehe non esiterebbe a divorare le sue creature"82, sind schon in der religiösen Krise von 1809 sichtbar, die in einer Konversion endete. In Manzonis Religiosität mögen Ideen Pascals und des Jansenismus, auch solche Platons, der Kirchenväter und des Urchristentums nachwirken; wichtiger scheint mir, daß sie Denkweisen und Entscheidungen Kierkegaards, vor allem aber Tolstojs83 und eines gewissen sozialutopischen Messianismus der Gegenwart vorwegnimmt, wenn auch ohne jeden Anschein von Pharisäertum, der Erbkrankheit aller Moralisten. Dem Mißtrauen Goethes gegen die Geschichte um ihrer selbst willen entspricht das konsequentere Mißtrauen Manzonis gegen die ,invenzione', die ,Dichtung', das ,Fiktionale' — gegen die Kunst überhaupt. Man hat ihn einen „Dichter mit schlechtem Gewissen" genannt84; da aber ein Mann von der Auf-|richtigkeit Manzonis auf die Dauer nicht gegen sein Gewissen handeln kann, verzichtete er entschlossen auf die Kunst. Hätte er seine Abhandlung Del roman^p storico, die ursprünglich als Sendschreiben an Goethe geplant war, diesem noch bei Lebzeiten zugesandt, so wäre die Meinungsverschiedenheit unüberbrückbar geworden. Manzoni scheint es geahnt zu haben; denn als ihn der Kanzler von Müller im Sommer 1829 besuchte, entschuldigte er den zögernden Fortschritt seiner Arbeit durch „Kränklichkeit": Feinfühlig empfand er wohl, daß er Goethes „Nachsicht" mit der Abhandlung auf eine harte Probe gestellt und statt der erwünschten ,Belehrung' Abweisung erfahren hätte. Manzonis Takt mag zu der verzögerten Publikation des Traktates im Jahre 1851 — fast zwanzig Jahre nach Goethes Tod85 — beigetragen haben. Hätte doch Goethe seine eigene Existenz verleugnen müssen, um jener rigorosen These Manzonis zustimmen zu können, welche der Dante-Forscher Karl Witte nach einem Besuch in Brusuglio im Jahre 1831 überliefert86: 82 83 84
85 86
So Francesco Flora: Storia della lett. ital., ed economica, Milano 21967, IV 460. Den treffenden Hinweis auf Tolstoj gibt Montinari (Anm. 33) 418. Ebd. 407. Opere (Anm. 57) 1055-1114; beendet 1851, Erstdruck in Opere varie, Milano 1845-55. Ein Besuch bei Alessandro Mandant im Jahre 1831, in: Dt. Rundschau 132 (1907), hier nach Beaumont (Anm. 42) 139 f., Anm. 31; danach Rosenfeld (Anm. 39) 115 f., Montinari (Anm. 33) 417 f.
[137]
Teilnahme Goethes an Manzoni
213
„... jede Erzählung könne nur entweder Wahrheit oder Lüge sein, und alle Lüge sei und bleibe unmoralisch. Vergebens versuchte ich, den seine eigenen Werke verdammenden Dichter daran zu erinnern, daß jeder Geschichtsschreiber, insofern er nicht reiner Chronist, sondern produktiv sein wollte, nicht die nackten Tatsachen, sondern seine Ansicht von denselben gebe, also, wenn auch in beschränkterem Sinne, einen historischen Roman schreibe. Er mißbilligte alle Geschichtsschreibung solcher Art und verlangte statt ihrer eine bloße Zusammenstellung von Daten ..." Damit wäre freilich nicht nur das Ende der Historiographie, sondern auch der Kunst erreicht. Es ist, so will mir scheinen, dem gebornen Poeten Manzoni im Sinne einer streng christlichen Moral als Verdienst anzurechnen, daß er für das eigene Schaffen diese äußerste Konsequenz gezogen hat. Es ist ihm aber als höheres Verdienst anzurechnen, daß er, wie Goethe scharfsichtig erkannte, ein Eiferer ohne Härte war, indem er darauf verzichtete, Proselyten seines Mißtrauens gegen die Kunst zu machen. Hier unterscheidet er sich wesentlich von jenen Zeloten unserer Tage, die ihre ikonoklastischen Gelüste infolge angeborener Unfähigkeit, die Kunst zu genießen, zum allgemeinen Gesetz erheben möchten. Es war seine humane Liberalität, welche Manzoni daran hinderte, in die privatesten Überzeugungen seiner Mitmenschen frevelnd einzudringen.
[97]
Zur Komposition von Goethes Zweitem römischen Aufenthalt Das melodramatische Finale und die Novelle von der „schönen Mailänderin"
Die beiden ersten Teile von Goethes Italienischer Reise, 1816 und 1817 erschienen, unterscheiden sich in ihrer Komposition wesentlich vom Dritten 7V//, der dem Zweiten römischen Aufenthalt vom Juni 1787 bis April 1788 gewidmet ist.1 Er erschien erst Ende 1829, mehr als vierzig Jahre nach dem Abschluß der Reise. Komposition und Redaktion durch den nahezu achtzigjährigen Autor zeigen Spuren und Merkmale des Alters. Schon 1817 hatte er dem Adlatus und Freunde Johann Heinrich Meyer gegenüber Erinnerungsschwächen beklagt und ihn gebeten,2 die Lücken, die sich für den zweiten Aufenthalt in Neapel ergeben hatten, ausfüllen zu helfen; nun war er nicht nur auf den Beistand der Mitarbeiter angewiesen, sondern entschloß sich zu jener lässig-souveränen, dem Leser oft willkürlich erscheinenden, ja ihn irritierenden Komposition, die er zuerst in dem Sammelband Winckelmann und sein Jahrhundert und dann in den Propyläen angewandt hatte. In gewisser Weise nahm er mit ihr das moderne Teamwork-Verfahren vorweg. Am 10. April 1829, nachdem er mit Unterbrechungen schon mehr als ein Jahr an der Redaktion des Zweiten römischen Aufenthaltes gearbeitet hatte,3 sagte er zu Eckermann: 1
2
3
Vgl. Herbert von Einem: „Die ital. Reise", in: Goethe-Studien, München 1972 (= Collectanea artis historiae, Bd. I), 68 (zit.: von Einem); Ndr. aus: Goethe: Werke, HA XI, '1950, 71967. 8. 7. '17, hier nach: Rene Michea: Le „Voyage en Halte" de Goethe, Aubier 1945, 189 (211.: Michea). Ebd. 184—189; vgl. ferner Ernst Beutler in: „Einführung" zu Goethe: Gedenkausg. XI - Die ital. Reise [...], Zürich 1950, 1000-1002 (nach dieser Ausg. wird die Ital. Reise im Text mit bloßer Seitenzahl zitiert, die anderen Werke Goethes nach derselben Ausg. mit Bandtitel, röm. Band- und arab. Seitenzahl); Christoph Michel in: „Nachwort" zu Goethe: Ital. Reise [...] I—II, hg. v. Christoph Michel, Frankfurt/M. 1976 (= it 175), 749-752 (zit.: Michel), Eckermann: Gespräche [...], XXIV, 358; das folg. Zitat ebd. 358 f.
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Zur Komposition von Goethes Zweitem römischen Aufenthalt
215
Meine gedruckte Italienische Reise [Erster und Zweiter Teil] habe ich [...] ganz aus Briefen redigiert. Die Briefe aber, die ich während meines zweiten Aufenthaltes in Rom geschrieben, sind nicht derart, um davon vorzüglichen Gebrauch machen zu können; sie enthalten zu viele Bezüge nach Haus [...] und zeigen zu wenig von meinem italienischen Leben. Aber es finden sich darin manche Äußerungen, die meinen damaligen inneren Zustand ausdrücken. Nun habe ich den Plan, solche Stellen auszuziehen und einzeln über einander zu setzen und sie so meiner Erzählung einzuschalten, auf welche dadurch eine Art von Ton und Stimmung übergehen wird. So geschah es, und dadurch mag beim Leser der Eindruck entstehen, es sei allzu oft und allzu nachdrücklich von Glück und Wohlbefinden, von „neuem Leben" und der Wiedergeburt, von Licht und Klarheit, Reinigung und Genesung, von Stille, Zurückgezogenheit, ja Scheu vor | der Gesellschaft die Rede.4 Und noch mehr: Unbedenklich schob Goethe einen Nachtrag über Päpstliche Teppiche ein (397—401), nicht ohne die Gelegenheit zu einer (im Zusammenhang des Jahres 1787!) anachronistisch wirkenden Polemik gegen deutsche Künstler zu benutzen, mit denen jedoch nicht seine römischen Freunde von einst, sondern talentlose Romantiker gemeint sind. Auch schaltete er einen Abschnitt Störende Naturbetrachtungen zwischen (414—416), den man mit einiger Verwunderung liest, weil hier für die Störung nicht (wie gewöhnlich) gesellschaftliche Zerstreuung verantwortlich gemacht wird, sondern eben die botanische Forschung, welche neben „Poesie, Kunst und Altertum" (414), den gegenwärtigen Hauptgeschäften, von Padua bis Sizilien doch ebenfalls im Mittelpunkt seiner Interessen gestanden hatte. Oder er ließ Tischbein mit Briefen aus Neapel (391—397), Meyer mit einer Stelle über Vorteile der Fackelbeleuchtung bei nächtlichem Museumsbesuch (484—486), Moritz mit einem Teilabdruck seiner (seit 1788 bekannten!) Reflexionen Über die bildende Nachahmung des Schönen (588—596) und einen unbekannten Franzosen als Verehrer seiner Schriften (488 f.) zu Worte kommen. Er selbst schrieb über Morit^ als Etymologen (507 — 509), Philipp Neri, den humoristischen Heiligen (509 — 523), und über seine eigene Aufnahme in die 4
Hier nur einige Stellen aus dem Zweiten röm. Aufenthalt: 433 = 3. 9. '87 (auch schon 137 = 1. 11. '86 oder 159 = 2. 12. '86); 423 = 11. 8. '87, 425 = 23. 8. '87: „[...] ich bin wirklich umgeboren und erneuert [...]"; 387 = 20. 6. '87: „[...] mein Geist reinigt und bestimmt sich", 435 = 6. 9. '87: „[...] fast kann ich hoffen radikaliter kuriert zu werden"; 424 f. — 18. 8. '87: /.u .Licht' vgl. von Rinem (s. Anm. I) 13, Anm. 14. — Vgl. jetzt auch H. G. Haile: Artist in Chrysalis — A Biogr. Study of Goethe in Italy, Urbana/Chicago/London 1973, passim.
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Zur Komposition von Goethes Zweitem römischen Aufenthalt
[99]
Gesellschaft der Arkadier (528—532). Die Studie über Das römische Karneval, schon 1789 in einer illustrierten Ausgabe als bibliophile Kostbarkeit erschienen, nahm er nochmals in den Text auf (533 — 567), ja er trug keine Bedenken, in einem Bericht „einige Stellen aus dem vorigen [zweiten] Bande" der Italienischen Reise wieder abdrucken zu lassen (412 f. = 291, 413 f. = 353) — Bemerkungen über seine „alte Grille", die Urpflanze (412), zur Vorbereitung des Lesers auf Störende Naturbetrachtungen. Wenn Goethe einmal sagt (445), Rom sei „als ein Quodlibet anzusehen, aber als ein einziges in seiner Art", so könnte diese Charakterisierung auch für die bunte Thematik in der Korrespondenz und in den Berichten des Zweiten römischen Aufenthaltes gelten. Er selbst gab sich über die Einheitlichkeit des Werkes keinen Illusionen hin. Im Anschluß an eine Bemerkung über den „Versuch, so disparate Elemente" wie in den Wanderjahren in Einklang zu bringen, schrieb er Sulpiz Boisseree,5 auch im Zweiten römischen Aufenthalt erhalte „das Ganze [...] vielleicht nur dadurch eine Einheit daß es aus einer Individualität, obgleich in sehr verschiedenen Jahren, lange gehegt, auch wohl jahrelang beseitigt, endlich hervorgetreten". In ähnlichem Sinne dankte er Wilhelm von Humboldt für seine verständnisvolle Rezension,6 mit der er das, was an dem Buch „zufällig, ermangelnd eines Zusammenhangs, einer | Folge scheinen möchte, auf eine geistige Notwendigkeit, auf individuelle charakteristische Verknüpfungen, aufmerksam und liebevoll", habe „zurückführen" wollen. Dennoch ist es nur zu verständlich, wenn einer der ersten Leser des Buches den „Anschein von Fragmentarischem" empfand7 oder die Literaturkritik den Eindruck des Typisierens gewann8 und die Einlagen aus anderen Autoren als „Füllsel"9 oder wohl gar als Fremdkörper betrachtete. Die in jahrelangen ,Beseitigungen' — die Psychoanalyse würde von ,Verdrängungen' sprechen — und immer neuen Ansätzen sich ausdrückende Unlust an der Fertigstellung der Arbeit beeinträchtigt den unbefangenen Genuß der Lektüre. Indessen sind die meisten literarisch wertvollen Reiseberichte, darunter auch solche, die den „inneren Zustand" ihrer Verfasser darzustellen versuchen, nach dem Stilprinzip der unterhaltenden Variation komponiert. 5 6 7
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Briefe der Jahre 1814-1832, XXI 865 = 2. 9. '29. Ebd. 939 = 19. 10. '30; vgl. auch 861, 871, 941 an Zelter. Friedrich Rochlitz, in: Briefe an Goethe II, ges. f...] v. Karl Robert Mandelkow, Hamburg 1969, 535. Vgl. Beutler (s. Anm. 3) 1008, 1013 f., 1017. Für Beutler ist ,das Typische' ein bißchen das Sesam, öffne dich! der Ital, Reise. Michea (s. Anm. 2) 190: „remplissage". Vgl. auch 191: „[...] les emprunts, les demarcages, les rafistolages, les souvenirs plus ou moins ,romances' [...]".
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Zur Komposition von Goethes Zweitem römischen Aufenthalt
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Im Falle des Zweiten römischen Aufenthaltes wird das Prinzip durch die Anordnung des Stoffes in monatlichen Folgen und den schematischen Wechsel von echter Korrespondenz und nachträglich zusammenfassenden Berichten zwar etwas verdeckt, doch kann die Absicht des Autors keinem Zweifel unterliegen, die Monotonie subjektiver Gefühlsäußerungen im Geschmack von Sternes Sentimental Journey™ nicht überhandnehmen zu lassen. Befreiung von wertherischer Empfindsamkeit und Fähigkeit zur Objektivierung der Gefühle, sei es in dramatischer Gestalt wie im T ässo oder in elegischer Form wie in den Erotica Romana, gehören zum bleibenden poetischen Gewinn der römischen Palingenese. Anläßlich der Schilderung des Karnevals hat Goethe die Abwendung von Sternes Subjektivismus übrigens selbst betont:11 Im Unterschied zu dem bewunderten Vorgänger habe er das Ziel verfolgt, sich selbst „so viel als möglich zu verleugnen und das Objekt so rein als nur zu tun wäre" in sich aufzunehmen. Anderseits wußte der Autor des Werther natürlich sehr wohl, daß die Darstellung ,sentimentaler' Begebenheiten — das Wort sowohl im Sinne von ,leidenschaftlich' wie von ,gefühlsbetont' verstanden — auf das Interesse der Leser und die Gunst der Leserinnen zählen durfte. Und so scheute er sich nicht, den Zweiten römischen Aufenthalt gegen Schluß doch wieder empfindsam zu stilisieren, auch wenn er Selbstbespiegelung vermied und die Gefühlswerte in die Personen und Gegenstände verlegte. Zwei Momente, nah aufeinander bezogen, sprechen das Gefühl vor allem an: der Roman mit der „schönen Mailänderin" und der Abschied von Rom. Dieser ist trotz dem deutlichen Bruch mit konventionellen Szenen des Themas ,Abschied von Rom' die unpersönlichere Komposi-|tion. Goethe hat sie von Anfang an genau bedacht. Der früheste Entwurf der Szene ist vom 31. August 1817 datiert,12 ihre erste Ausführung vom gleichen Tag (971 f.) — ein Beweis dafür, daß Goethe ursprünglich beabsichtigte, den Dritten Teil der Italienischen Reise den beiden ersten unmittelbar, also bald nach 1816/17, folgen zu lassen. Im Entwurf heißt es: „Schmerzen eigner Art / Rom ohne Hoffnung / der Ruckkehr [sie] zu / verlassen." „Ovids Elegie", d. h. Tristium I 3, v. 1—4 und 27 — 32, wird schon damals zur Aufnahme erwogen und in die erste Fassung
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Ebd. 93-99 ist Sternes .Einfluß' wohl überschätzt. Tag- und Jahreshefte - 1789, XI 623. Hier nach: Auch ich in Arcadien — Kunstreisen nach Italien 1600—1900, {...] hg. v. Bernhard Zeller, f...] Katalog von Dorothea Kühn [...], o. O. 1966 (= Sonderausstellung des Schiller-Nationalmuseums, Katalog Nr. 16), S. 104, Nr. 126.
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gleich zu Beginn der Szene eingerückt.12a In der endgültigen Fassung steht sie, um die beiden letzten Verse gekürzt, am Schluß der gesamten Italienischen Reise; Riemers Übersetzung geht ihr voran (613). — Auch das Versagen der poetischen Kraft vor dem Thema ,Abschied von Rom' ist schon im Entwurf ausgedrückt, wenngleich noch halb als psychologische, halb als ästhetische Entscheidung motiviert: „Meinen Leiden / angebildet / Furcht sie [die Elegie] zu schreiben / Damit der zarte / Duft der Schmerzen / nicht verschwinde." In der ersten Fassung heißt es dann entsprechend: Angebildet wurden jene [Ovids] Leiden den meinigen und auf der Reise beschäftigte mich dieses innere Tun manchen Tag und Nacht. Doch scheute ich mich auch nur eine Zeile zu schreiben, aus Furcht, der zarte Duft inniger Schmerzen möchte verschwinden. Ich mochte beinah nichts ansehen um mich in dieser süßen Qual nicht stören zu lassen. Die endgültige Fassung ist lakonischer und erzielt auch darum stärkere Wirkung, weil sie das Versagen unumwunden eingesteht (612): [...] ich wiederholte das Gedicht [Ovids], das mir teilweise genau im Gedächtnis hervorstieg, aber mich wirklich an eigner Produktion irre werden ließ und hinderte; die auch, später unternommen, niemals zustande kommen konnte. Da Goethe während der letzten römischen Wochen am Tasso arbeitete, lag es nahe, daß er sein eigenes Schicksal auch im Leiden seines Helden gespiegelt sah. Im Entwurf stehen nur zwei knappe Bemerkungen: „Tasso angeknüpft" [sie], wobei sich die Anknüpfung auf die Überlegung bezieht, „wie herrlich die Ansicht der Welt" trotz allen Abschiedsqualen sei (972), sowie „Tassos Verbannung". Aus der Korrespondenz vom 14. April 1788, also wenige Tage vor der Abreise aus Rom, wissen wir (598), daß Tasso dem Dichter „ein willkommener Gefährte zur bevorstehenden Reise" war, und aus einem Notizheft,13 daß Goethe während der Heimfahrt am erneuerten II. und am V. Akt des Dramas gearbeitet und welche Verse er aus den Notizen übernommen hat. In Mailand hatte er Tassos Aminta gekauft und wohl auch gleich | gelesen. Auf die aus dem Schlußchor des I. Aktes abgeleitete Wunschvorstellung vom Goldenen Zeitalter 12a
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P. Ovidii Nasonis Tristia Epistulas ex Ponto [...] ed. [...] Georgius Luck — Briefe aus der Verbannung [ . . . ] , übertr. v. Wilhelm Willige [...], Zürich/Stuttgart 1963 (= Die Bibl. der Alten Welt, Rom. Reihe), 22, 24. Lieselotte Blumenthal: Ein Noti^heft Goethes von 1788, Weimar 1965 (= Sehr, der Goethe-Ges., 58. Bd.), S. XXVIII, 113-116 (zit.: Blumenthal).
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als Epoche schrankenloser Freiheit, ja der Libertinage schlechthin (v. 681: „S'ei piace ei lice" = v. 994: „Erlaubt ist, was gefällt"14), gibt die Prinzessin zu bedenken (II l, v. 995-1006): Mein Freund, die goldne Zeit ist wohl vorbei; Allein die Guten bringen sie zurück. Und soll ich dir gesteben, wie ich denke:
Die goldne Zeit, womit der Dichter uns Zu schmeicheln pflegt, die schöne Zeit, sie war, So scheint es mir, so wenig, als sie ist; Und war sie je, so war sie nur gewiß, Wie sie uns immer wieder werden kann. Noch treffen sich verwandte Herzen an Und teilen den Genuß der schönen Welt; Nur in dem Wahlspruch ändert sich, mein Freund, Ein einzig Wort: Erlaubt ist, was sich ziemt. Mit Sicherheit sind nur die Verse 997 bis 1002 in ähnlicher Gestalt aus dem Notizheft übernommen (die wörtlichen Übereinstimmungen hier kursiv), während die sittliche Maxime aus Guarinis Pastor fido stammt. Doch ebenso sicher scheint mir, daß der Dichter die „goldne Zeit", die nun „vorbei" ist, auf die pastorale Ungebundenheit seiner italienischen und vor allem römischen Tage beziehen konnte und wohl tatsächlich auch bezogen hat. Die andere Stelle, die den Reisenotizen entspricht, ist der Anfang des V. Aktes. Hier sagt Antonio zum Herzog (v. 2830—35): Auf deinen Wink ging ich das zweitemal Zu Tasso hin, ich komme von ihm her. Ich hab ihm zugeredet, ja gedrungen; Allein er geht von seinem Sinn nicht ab Und bittet sehnlich, daß du ihn nach Rom Auf eine kurze Zeit entlassen mögest. Die Verse geben den Entwurf im Notizbuch fast unverändert wieder. Auch sie beziehen sich einerseits auf eine klar umrissene dramatische Situation, spiegeln aber anderseits einen „sehnlichen" Wunsch des Dichters, der sich nun nicht mehr erfüllen läßt: „Rom ohne Hoffnung der Ruckkehr". Oder wie es Lieselotte Blumenthal nach einem berühmten 14
Torquato Tasso: Aminta — Ital.jDt., [...] übertr. v. Otto von Taube, Frankfurt/M.— Hamburg 1962 (= Exempla class. 57), 56 f.
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Tkrjö-Vers ausdrückt:15 „[...] durch Tasso konnte er sagen, wie er litt". Es verhielt sich eben so, wie er in der ersten Fassung des Abschieds von Rom geschrieben hatte (972): „[...] der Gedanke an Tasso | ward angeknüpft und ich bearbeitete die Stellen mit vorzüglicher Neigung, die mir in diesem Augenblick zunächst lagen". Was ihm aber am nächsten lag, sagt er wenige Zeilen später: Wie mit Ovid dem Lokal nach [gemeint ist das Kapitol], so konnte ich mich mit Tasso dem Schicksale nach vergleichen. Der schmerzliche Zug einer leidenschaftlichen Seele, die unwiderstehlich zu einer unwiderruflichen Verbannung hingezogen wird, geht durch das ganze Stück. Als Verbannung empfindet der „eingebürgerte Italiener" (481) die Trennung von Rom, so wie Tasso und Ovid das Schicksal der Verbannung erfahren hatten. An seiner Wahlverwandtschaft mit ihnen läßt er keinen Zweifel. Einen Monat vor der Abreise, am 22. März, bewegt ihn Tassos Gemütskrankheit bis zur Angst (585):16 „In jeder großen Trennung liegt ein Keim von Wahnsinn, man muß sich hüten, ihn nachdenklich auszubrüten und zu pflegen." Bei der Betrachtung der Kunstschätze, die seine Wohnung zieren, fühlt er sich „wie einer, der sein Testament überdenkt" (602), und der Rat Reiffenstein nennt sich bald nach Goethes Abreise scherzend seinen „Executor testamentarius",17 wahrscheinlich der Reflex einer ernster gemeinten Bemerkung Goethes. Seine Tasso-Gestalt ist wirklich, wie er zu Eckermann sagte,18 „Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch", und es waren gewiß nicht nur die Weimarer „Hof-, Lebens- und Liebesverhältnisse", auf die er hier anspielt, sondern das Tasso-Schicksal der Verbannung aus einer zur Heimat gewordenen Welt. Um so merkwürdiger mutet es daher an, daß in der endgültigen Fassung des Abschieds von Rom der Name Tassos fehlt. Getilgt ist auch die Erinnerung an Florenz, wo Goethe am Drama arbeitete, sowie der 15
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Blumenthal (s. Anm. 13) 115, nach Torquato Tasso, v. 3433, in: Die Weimarer Dramen, VI 313 (von Goethe, leicht verändert, als Motto der Marienbader Elegie wiederholt: v. 3432 f.); die vorangehenden Stellen ebd. 242, 295. Vgl. Gespräche, XXII 166, Caroline Herder am 7. 8. '88 an Herder, u. a. habe Goethe ihr gesagt, „daß er vierzehn Tage vor der Abreise aus Rom täglich wie ein Kind geweint habe". Vgl. ferner Goethes Briefe an Meyer vom 19. 9. '88 und 27. 4. '89, in: Goethes Briefwechsel mit Heinrich Meyer I, hg. v. Max Hecker, Weimar 1917 (— Sehr, der Goethe-Ges., 32. Bd.), 10, 36. 10. 5. '88 an Goethe, in: Zur Nachgesch. der ital. Reise [...], hg. v. Otto Harnack, Weimar 1890 (= Sehr, der Goethe-Ges., 5. Bd.), 14. 6. 5. '27, in: Gespräche, XXIV 635.
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harmonisierende Schluß mit dem Hinweis auf das Weimarer Belvedere, der sanft in die nachitalienische Zeit hinüberführt. Der endgültige Schluß klingt härter: Die trostlosen Verse Ovids rufen dem Leser unwillkürlich das unwirtliche Tomi am Schwarzen Meer ins Gedächtnis, das ihm — zu Unrecht oder nicht — Weimar als Ort der ,Verbannung' suggeriert. Das allzu subjektive Bekenntnis zum Gleichklang mit Tassos Schicksal aus der ersten Fassung wird in der endgültigen Fassung durch zwei andere Stimmungsmomente ersetzt: ein erhabenes und ein unheimliches. Diese Tatsache spricht gegen die Vermutung von Rene Michea,19 Goethe sei hier einem Gattungszwang unterlegen. Auffällig ist zwar in der Tat, daß beispielsweise auch der Abschied aus Rom von Germaine de Staels Corinne ou l'Italie (XV 4; erschienen 1807) teilweise am Kolosseum und zwischen mondbeglänzten Ruinen stattfm-|det. Indessen unterscheiden sich die beiden Darstellungen wesentlich. Abgesehen von Corinnes Seufzern nach Oswald, abgesehen auch von der musizierenden Gesellschaft, welche der Dichterin durch das nächtliche Rom das Geleit gibt, weckt „die Unform der Ruinen" (445) in Goethe keineswegs melancholische Gefühle, wie das präromantische Verhalten es fordert; durch die Betrachtung des Zerstörten fühlt er sich vielmehr zur Freude am Erhaltenen oder Restaurierten und zu „edler Tätigkeit" ,aufgeregt' (503 f.). Noch eindringlicher bezeugt die Schilderung des Mondlichtes den Abstand Goethes vom Schimmer des romantischen Gestirns, dessen trüben Zauber er sehr wohl kannte.20 Bei seinem Abschied aus Rom hat drei Tage zuvor der Vollmond geschienen; Himmel und Lichtmassen präsentieren sich dem Wanderer in äußerster Klarheit, die Schatten heben sich scharf ab, und alles setzt den Betrachter „in einen Zustand wie von einer ändern einfachem größern Welt" (611). Es wiederholt sich zum letzten Mal eine Naturerscheinung, die er so oft mit Entzücken genossen und in Zeichnungen und Aquarellen festzuhalten versucht hatte.21 Die sentimentale Stimmung des literarischen Themas .Abschied von Rom' hat sich unmerklich in eine erhabene verwandelt, die ,romantische' in eine „einfachere größere", welche man ,klassisch' nennen mag; sie bedeutet auf jeden Fall den Bruch mit einem Klischee und verwirklicht eine neue Bewußtseinsstufe. 19 20
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(S. Anm. 2), 54 — 58, bes. 58: „autre genre, autres sentiments". Z. B. An den Mond, v. 2: „Nebelglanz", in: Sämtl. Gedichte, I 70 f.; Faust I, v. 468 f., 3851—54, in: Die Faust-Dichtungen, V 158, 263; dagegen die südlichen Szenen, Faust II, v. 7031 f., oder Bühnenanweisung zu „Felsbuchten".· „Mond, im Zenit verharrend", ebd. 364, 395. Vgl. die Abbildungen bei Michel (s. Anm. 3) nach S. 408, 412, 684. Neben den in Anm. 20 nachgewiesenen südlichen Szenen vgl. auch Rom. Elegien VII, v. 9 f., in: Sämtl. Gedichte, I 169: „[...] Und mir leuchtet der Mond heller als nordischer Tag".
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Autobiographische Zuverlässigkeit darf man jedenfalls nicht erwarten, wo die prästabilierte Stilisierung durch Tasso und Ovid oder — in der zweiten Fassung — durch Ovid allein so offen zutage liegt. Die Abschiedsszene ist eine bewußte Komposition, aber nicht nach dem Schema bereitliegender Konventionen, sondern gleichsam gegen die Tradition. Das zeigt sich noch deutlicher an der Art, wie Goethe das musikalische Element einführt. Corinne folgt einer anonymen Sängerschar; vom Gesang an die irdische Vergänglichkeit gemahnt, gibt sie sich der Melancholie mit Wollust hin. Goethe fühlt sich hingegen durch das Reiterstandbild des Mark Aurel auf dem Kapitol an die Reiterstatue des Commendatore im Don Giovanni erinnert — bezeichnenderweise also durch ein plastisches Werk an eine der im musikalischen Ausdruck dramatischsten Szenen der Weltliteratur. Dabei gibt ihm das Bildwerk zunächst nur „zu verstehen, daß er etwas Ungewöhnliches unternehme" (611). Trotz dieser leisen Warnung wandert er über das Forum zum Kolosseum und erlebt nun — zum zweiten Male nach dem Karneval (572 f.) — die Schauer des Unheimlichen in der geliebten Stadt. Die Architektur erscheint ihm „fremdartig und geisterhaft", beim Anblick | des Kolosseums überläuft es ihn (611). Was hat ihn angerührt? Gewiß keine literarische Ruinensentimentalität, vielmehr die Erinnerung an die Grabesstimme des erschlagenen Commendatore im geisterhaften Mondlicht, an die Todesschauer, die sein gespenstischer Auftritt vorwegnimmt. Der vertraute Anblick von Kapitol und Kolosseum wird durch die Erinnerung an das ungeheure Finale des Musikdramas unheimlich verfremdet, die das Gemüt reinigende und befreiende Wirkung, bisher mit immer neuem Entzücken gepriesen, durch eine plötzlich hereinbrechende neue Ansicht der Dinge ganz und gar verdrängt. Und wie das übermütige „Dramma giocoso" im schrecklichsten Höllensturz endet, so mündet das Übermaß des Wohlbefindens, welches Goethes römischen Aufenthalt begleitet, in die trostlose Gewißheit, daß diese Trennung von Rom so endgültig ist wie die Ovids — so unwiderruflich wie der Tod. Die Italienische Reise, ein Buch des Glückes und Genusses, endet in der resignierten Gewißheit, daß dem Glück und Genuß des Menschen enge Schranken gezogen sind. Das andere Element, das den Eindruck der uneinheitlichen und zufälligen Komposition und der Typisierung von Menschen und Ereignissen mildern soll, ist das die letzten Monate begleitende und über mehrere Berichte verstreute Abenteuer mit der „schönen Mailänderin" Maddalena Riggi.22 22
Ihr Portrait von Angelika Kauffmann im Frankfurter Goethe-Museum; Abb. in: Goethe: Ital. Reise [...], München o. J., 417.
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Ein flüchtiger Hinweis auf die Begegnung mit ihr findet sich in einem frühen Schema der gesamten Italienischen Reise (also einschließlich der beiden ersten Bände; 976): „Villegiatur. [sie] Artige Mayländerin." Mehr war offenbar nicht nötig, um die schöpferische Phantasie in Bewegung zu setzen — allenfalls noch die Erinnerung an die merkwürdige Duplizität der Begegnungen: Fast ein halbes Jahrhundert zuvor hatte Johann Caspar Goethe mit einer Mailänderin namens Maria Merati einen imaginären Briefwechsel geführt.23 Die erste, vielleicht noch unbeabsichtigte Vordeutung auf das Abenteuer findet sich im Juli-Bericht der endgültigen Fassung. Goethe erzählt (416 f.), wie er mit seinen Künstlergesellen für Angelika Kauffmann, den britischen Kunsthändler Jenkins und andere Freunde ein Konzert veranstaltet hat und dadurch bei der Nachbarschaft am Corso in den Ruf eines „reichen Mylordo" geraten ist. Dies hat zur Folge gehabt, daß „eine gar hübsche römische Nachbarin [...] mit ihrer Mutter" seine Grüße „freundlicher als sonst" erwiderte (465), ohne daß es zu einer Annäherung gekommen wäre. Auch als er während der Villeggiatur, die er im Oktober bei Jenkins in Castel Gandolfo verlebt, den bei-|den Frauen von neuem begegnet, gestalten sich die Beziehungen infolge des „wahrhaften Matronenernstes" der Mutter eher kühl (466). Doch der Leser gewinnt ohnehin bald den Eindruck, als wäre die junge Römerin nur mit der Absicht eingeführt, den Auftritt ihrer mailändischen Freundin vorzubereiten. Aus der abwägenden Schilderung der beiden Mädchen läßt sich erkennen (466), daß Goethe dem „offnen, nicht sowohl ansprechenden als gleichsam anfragenden Wesen" Maddalenas den Vorzug geben wird. Die Vermutung, daß es „ein Wunder wäre", wenn sich aus der Muße und den sonstigen günstigen Umständen einer Villeggiatur „nicht die entschiedensten Wahlverwandtschaften zunächst [= demnächst] hervortun sollten", erweist sich als zutreffend (464); sie gehört ebenso wie der Hinweis auf Maddalenas „anfragendes Wesen" zu den listigen erzähltechnischen Vordeutungen auf die Hauptperson. Diese aus ihrer natürlichen weiblichen Reserve zu locken, ergibt sich alsbald die Gelegenheit. Sie beklagt die puritanische Erziehung der jungen Italienerinnen (467); man habe sie zwar lesen gelehrt, damit sie das Gebetbuch studieren könnten, aber nicht schreiben, „weil man fürchtet, wir würden die Feder zu Liebesbriefen benutzen". Und mit dem Fremdsprachenunterricht, zumal dem englischen, liege es gar im argen. Der „blitzschnell und 23
Vgl. zuletzt Goethes Vater reist in Italien — „Reise durch Italien" von J. Caspar Goethe, hg. v. Erwin Koppen, Mainz/Berlin 1972, 23, 126 f.
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eindringlich genug" Verliebte (466) erfaßt die Gunst des Augenblicks, findet in einer griffbereiten englischen Zeitung eine empfindsame Reportage, übersetzt der „Schülerin" zuerst die Substantiva und „examiniert" sie alsdann, „ob sie auch ihre Bedeutung wohl behalten". Nachdem die Zwischenprüfung zu seiner Zufriedenheit verlaufen ist, wendet er sich den anderen Satzteilen zu und „katechisiert" die Lernwillige, bis sie schließlich in der Lage ist, die Geschichte ins Italienische zu übersetzen. An ihrem „allerliebsten Dank" und seiner wachsenden Zuneigung kann es nun nicht mehr fehlen (467 f.). Ich bin nicht sicher, ob eine solche Methode des Fremdsprachenunterrichts sich in jedem Falle so bewähren würde wie in diesem; aber ich zweifle nicht daran, daß sich hier eine pädagogisch-erotische Ursituation in poetischer Sublimierung spiegelt. Zwar verläuft die Szene hier nicht wie beim sogenannten Religionsgespräch im Faust, wo der „Herr Doktor" von Gretchen „katechisiert" wird,24 sondern mit umgekehrter Rollenverteilung; doch das Lehrer-Schüler-Verhältnis wiederholt sich mehrmals im Leben und im Werk des Dichters. Goethe hatte Frau von Stein EnglischUnterricht erteilt und schickte ihr, als er selbst verhindert war, Lenz als Vertreter. Der aber schrieb ihm im September 1776:25 „Mit dem Englischen gehts vortrefflich. Die Frau von Stein findt meine | Methode besser als die deinige." Ins Poetische übertragen, wenngleich nicht mit dem prosaischen Lehrgegenstand Englisch, findet sich die Situation zuerst in dem späten Divan-Gedichi (1818) „Behramgur, sagt man, hat den Reim erfunden".26 Neben der Legende von der Entstehung des Reimes gibt es zugleich seine Deutung: Wie der Herrscherpoet Dilaram, „die Freundin seiner Stunden", anregte, seine Lieder „mit gleichem Wort und Klang" zu erwidern, so wurde Suleika-Marianne dem Dichter Hatem-Goethe „beschieden, / Des Reims zu finden holden Lustgebrauch"; dem Gleichklang der Silben aber entspricht der Gleichklang der Seelen. — Das schönste Zeugnis der pädagogisch-erotischen Situation ist die Art, wie Helena von Faust das Reimen lernt (v. 9367 — 84). Die soeben angelandete Heroine wünscht von dem deutschen Ritter „Unterricht", warum die Rede des Lynkeus ihr so „seltsam klang, seltsam und freundlich". Da 24
v. 3523, in: Die Faust-Dichtungen, V 253. Goethes Briefe an Charlotte von Stein III, hg. v. Jonas Fränkel, Berlin 1962, 30, zu Nr. 100, l, vom 10. 9. '76, in: I (1960) 49; vgl. auch Nr. 102 vom 16. 9. '76, ebd. 51, sowie Nr. 1618 vom 20. 12. '86, in: II (1960) 322 f., mit dem Traum vom „englischen Parnaß", dazu die Anm. zu 207f. in: Goethe: Tagebuch der ital. Reise [...], hg. [...] v. Christoph Michel, Frankfurt/M. 1976 (= it 176), 346 f. (zit.: Tagebuch). 26 Epen _ West-östl. Divan [...], III 360f. 25
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übernimmt Faust die Rolle des Poetiklehrers, erklärt Helena, daß es der ungewohnte Reim gewesen sei, der ihrem Ohr geschmeichelt habe, und schlägt ihr vor, das Reimen gleich einmal zu üben. Als gelehrige Schülerin ergänzt sie nun die Halbverse, die Faust ihr vorspricht, durch untadelige Reime, und schließt mit der Versicherung, ihre Hand besiegle das gemeinsame Glück. Abgesehen von ihrem Abschied, der sie in die Unterwelt zurückführt, spricht Helena von nun an nicht mehr in klassischen Trimetern oder in Blankversen, sondern in deutschen Reimversen, zum Zeichen dafür, daß sie sich Faust und seiner mittelalterlichen Welt zugehörig fühle. Die Kunst des Dramatikers hat in achtzehn knappen Versen poetologische und pädagogisch-erotische Motive dem Fortschreiten der Handlung dienstbar gemacht: dem Verlöbnis von Faust und Helena.27 Die gängigen /^^/-Kommentare verweisen zu dieser Stelle auf die Divan-Verse und umgekehrt, ziehen aber das zuletzt entstandene Zeugnis, eben die Maddalena-Episode, zum Vergleich nicht heran. Zu Unrecht, wie mir scheint. Zwar ist ein Poetik-Seminar etwas anderes als eine Englisch-Lektion auf Klippschulniveau, und ein Z>/W»-Gedicht oder eine Faust-Szene hat eine andere literarische Qualität als ein Stück Autobiographie. Doch in allen Fällen dient der Unterricht der Vertiefung einer Liebesbeziehung; überdies aber fragt es sich, ob man das Abenteuer mit der Mailänderin überhaupt noch als Bestandteil einer Autobiographie verstehen darf, ob es sich nicht vielmehr um fiktionale Prosa, genauer: um eine regelrechte Novelle handelt. Ihr dürfte zwar ein autobiographisches Substrat zugrundeliegen, welches jedoch unlösbar in die literarische Form eingeschmolzen ist. Während man j beim Abschied von Rom nur metaphorisch von einer „feerie", einem „splendide finale d'opera" sprechen sollte,28 trifft für die Begegnung mit der Mailänderin die Bezeichnung ,novellistisch' auch im literarhistorischen Sinne zu.29 27
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Die /^«//-Kommentare sprechen von .Hochzeit', so z. B. Goethes Faust II, hg. v. Georg Witkowski, Leiden 91936, 366 (zit.: Witkowski II); Goethe: Faust und Urfausi, erläutert von Ernst Beutler, Leipzig 1939 (= Sammlung Dieterich, Bd. 25), 613, und nochmals in Die Faust-Dichtungen, V 805; Goethes Faust [...] — Kommentiert von Erich Trunz, Hamburg 1963, 591. Daß es sich nicht um die Hochzeit Fausts und Helenas handelt, sondern um das Verlöbnis, habe ich nachgewiesen in: „Weltlit. in Goethes .Helena'", in: Jb. der Dt. Schiller-Ges. 8 (1964), 185, Anm. 42, wo noch weitere Amönitäten der .F