Goethe. Schauen und Glauben [Reprint 2019 ed.] 9783110858471, 9783110113358


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German Pages 639 [640] Year 1988

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Table of contents :
Zur Zitierweise
Inhalt
Einführung
I . Erfinden und Entdecken
Mignons Flügel
Der geflügelte Genius. Gedanken zu Goethes Der Zauberflöte Zweiter Teil
Ein Früh-Vollendeter. Gedanken zu Euphorions Gestalt
Mephistos Zoo. Einer von Goethes sehr ernsten Scherzen
II. Schauen und Glauben
Von Gliedern und vom Ganzen
Wetterleuchten am Gartentisch. Goethes Gespräch mit Johannes Daniel Falk vom 14. (?) Juni 1809
Wintermärchen. Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften
„Fremde Fühlung”. Goethe und ,Das Leben aus dem Tode’
III. “Eins und Doppelt”
Die Theologie tanzt. Goethes Balladen Die Braut von Korinth und Der Gott und die Bajadere
Schmetterling und Kerze. Gedanken über Goethes West-östlichen Divan
Der Augenblick des Liebens. Gedanken zur Helena-Tragödie
Jenseits der Sphinx. Goethe im Zwiegespräch der Geschlechter
IV. Über Künstlertum und Kunst
,Im Gegenwärtigen Vergangnes’. Euphorions Ahnherr und der dämonische Geist von Goethes Genie
,Fiat Mihi...’. Der Faust-ScYi\u& in Mittelalterlicher Sicht
Der Dichter als Mittler. Betrachtungen über ein Goethesches Denkmodell
Über die Vorläufigkeit endgültiger Lösungen. Gedanken zu Goethes Schaffensweise
V. Oben und Unten
Von Eva zu Ave. Über die Würde des Verworfenen in Goethes Faust
„...diesem Sturm ersprießend...”. Shakespeares The Tempest in Goethes Faust
Kompromittierung und Wiedergutmachung. Ein Versuch zu Fausts Schlußmonolog
Schwere Überfahrt. Natur und Gnade in Goethes Faust
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Goethe. Schauen und Glauben [Reprint 2019 ed.]
 9783110858471, 9783110113358

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Ilse Graham Goethe Schauen und Glauben

Ilse Graham

Goethe Schauen und Glauben

w DE

G_ Walter de Gruyter • Berlin • New York 1988

Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — p H 7, neutral)

CIP- Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

G r a h a m , Ilse: Goethe, Schauen und Glauben / Ilse Graham. — Berlin ; N e w York : de Gruyter, 1988 ISBN 3-11-011335-X

©

1988 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche G e n e h m i g u n g des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Arthur Collignon G m b H , Berlin Umschlaggestaltung: Rudolf Hübler, Berlin Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin

Für Gerald, unsere Kinder und die Kleinen

Als Allerschönste bis du anerkannt, Bist Königin des Blumenreichs genannt; Unwidersprechlich allgemeines Zeugnis, Streitsucht verbannend, wundersam Ereignis! Du bist es also, bist kein bloßer Schein, In dir trifft Schaun und Glauben überein; Doch Forschung ringt und strebt, ermüdend nie, Nach dem Gesetz, dem Grund Warum und Wie.

Zur Zitierweise Soweit wie möglich, zitiere ich nach dem Text der Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Hrsg. Erich Trunz, zehnte, überarbeitete Auflage, München 1974 {HA). Dort nicht Enthaltenes zitiere ich nach dem Text der Artemis Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche in 24 Bänden, Hrsg. Ernst Beutler, Zürich 1948 — 1960 {AGA) sowie nach der Leopoldiner Ausgabe der Schriften zur Naturwissenschaft, Hrsg. Rupprecht Matthaei, Wilhelm Troll und Lothar Wolf, Weimar, Veröffentlichung fortlaufend {LA). Goethes Briefe werden zitiert nach der Weimarer Ausgabe, hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, 133 Bände (in 143), Weimar 1887-1919 (WA). Andere Titel von Standard-Werken erscheinen wie folgt abgekürzt: Goethes Gespräche. Gesamtausgabe. Neu herausgegeben von Flodoard Frhr. von Biedermann, Leipzig 1909 = Goethe über seine Dichtungen von Hans Gerhard Gräf, Frankfurt a/Main 1912 = Der Briefwechsel ^wischen Schiller und Goethe. Hrsg. E. Staiger, Frankfurt a/Main 1966 = Goethe Jahrbuch = Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft = Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts = Euphorion = German Life and Letters = Publications of the English Goethe Society =

Biedermann. Gräf Staiger GJ JDSG JFDH Euph. GLL PEGS

Die mit einem Asterisken versehenen Kursivhervorhebungen innerhalb von Zitaten Goethes und anderer Autoren stammen sämtlich von der Verfasserin. Den Folgenden sei für die Erlaubnis gedankt, ein bei ihnen erschienenes Kapitel in veränderter oder unveränderter Form hier nochmals zu veröffentlichen: German Life and Letters (Kapitel 4); Goethe Jahrbuch (Kapitel 7); Carl Winter. Universitätsverlag (Kapitel 9); Jahrbuch der deutschen Schiller-

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Zur Zitierweise

Gesellschaft (Kapitel 11); Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft in Kansai, Osaka (Kapitel 13) und Jahrbuch für Internationale Germanistik (Kapitel 14). Mein ganz persönlicher Dank gilt meinem Mann, dem ersten Leser dieser Seiten, dessen Urteil nie verletzte und stets ins Schwarze traf; dem Freunde Werner Keller, der keinen Aufwand an Zeit und Kraft scheute, wenn es mir zu helfen galt; Tony Page, der mir in mutlosen Stunden durch seine einsichtigen Bemerkungen meinen Elan zurückgab; und schließlich Anne Shotts, die in unentwegter guter Laune und Gewissenhaftigkeit meine Hieroglyphen in ein schmuckes Manuskript verwandelt hat.

Inhalt Einführung

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I. Erfinden und Entdecken Mignons Flügel. Aus der Werkstatt eines dichtenden Morphologen . Der geflügelte Genius. Gedanken zu Der Zauberflöte Zweiter Teil . . Ein Früh-Vollendeter. Gedanken zu Euphorions Gestalt Mephistos Zoo. Einer von Goethes sehr ernsten Scherzen

13 34 49 72

II. Schauen und Glauben Von Gliedern und vom Ganzen. Morphologisches und Theologisches in Faust II, 4. und 5. Akt Wetterleuchten am Gartentisch. Goethes Gespräch mit Johannes Daniel Falk vom 14(?). Juni 1809 Wintermärchen. Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften „Fremde Fühlung". Goethe und ,das Leben aus dem Tode'

107 137 167 209

III. „Eins und Doppelt" Die Theologie tanzt. Goethes Balladen Die Braut von Korinth und Der Gott und die Bajadere Schmetterling und Kerze. Gedanken über Goethes West-östlichen Divan Der Augenblick des Liebens. Gedanken zur Helena-Tragödie .... Jenseits der Sphinx. Goethe im Zwiegespräch der Geschlechter . . .

253 285 306 331

IV. Über Künstlertum und Kunst ,Im Gegenwärtigen Vergangnes'. Euphorions Ahnherr und der dämonische Geist von Goethes Genie 363 ,Fiat mihi ...'. Der /^».tf-Schluß in Mittelalterlicher Sicht 384 Der Dichter als Mittler. Betrachtungen über ein Goethesches Denkmodell 417

XII

Inhalt

Über die Vorläufigkeit endgültiger Lösungen. Gedanken zu Goethes Schaffensweise 438 Egmonts kunstlose Kunst V. Oben und Unten Von Eva zu Ave. Über die Würde des Verworfenen in Goethes Faust „... diesem Sturm ersprießend ...": Shakespeares The Tempest in Goethes Faust Kompromittierung und Wiedergutmachung. Ein Versuch zu Fausts Schlußmonolog Schwere Überfahrt. Natur und Gnade in Goethes Faust

495

Register

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522 543 587

Einführung Dieses Buch, das ich nach zehn Jahren noch immer zögernd aus den Händen gebe, ist von jeher als innere Einheit konzipiert. Nicht, daß ich vor Beginn der Arbeit einen Schlachtplan entworfen oder gar im voraus gewußt hätte, wohin mich meine Streifzüge führen würden. Ich nahm zur Hand, was mich drückte oder bedrückte, und oft, ja fast immer steckten bereits in dem gegenwärtigen Aperçu Keime von Zukünftigem, die ihrer volleren Entwicklung harrten. Diese verpflanzte ich zu günstiger Stunde und machte sie zum Mittelpunkt — oder zu Mittelpunkten — eigener Pflanzstätten. Die Spuren solcher Verzweigungen sind gleichsam kleine Nahtstellen, die gelegentlich bereits Gesagtes wiederholen, es in neue Zusammenhänge hineinstellen und dort abwandeln. Solche feinen Fäden von Kapitel zu Kapitel habe ich getrost unbeschnitten gelassen, da sie dem Leser über die Genese meiner kleinen Welt Auskunft geben und zudem die innere Kontinuität dieses meines Reisejournals unter Beweis stellen. Die stilistische Vielfalt dieser Essays, die mir selbst bei der letzten Durchsicht auffällt, verüble mir der geneigte Leser nicht. Sie erklärt sich einmal aus der Länge der Gestationsdauer dieses Buches, sodann aus methodischen Rücksichten und, last but not least, aus Gelegenheit und Laune. In meinem, neben zahlreichen, separat erschienenen Einzelstudien dritten Buch über Goethe konnte es sich in der Hauptsache nicht mehr um eine Reihe von Werkinterpretationen handeln. Freilich, einige haben sich wieder eingeschlichen, über Wilhelm Meister, Der Zauberflöte Zweiter Teil, Die Wahlverwandtschaften, über die zwei großen Balladen vom Juni 1797, über Egmont und Divan-Gedichte, über ein denkwürdiges Gespräch und immer wieder über Faust, insbesondere über das Faust-Ende. Das Enigma dieser Schlußszenen und -Zeilen wollte mich nicht loslassen. Die immer erneute Auseinandersetzung damit ist — so darf ich fast sagen —, was die Welt, meine geistige Welt in diesem Buche, „im Innersten zusammenhält". Unablässig zog es mich dahin, insbesondere vielleicht zu dem so heiß umstrittenen religiösen Gehalt dieser Worte; und der Erscheinungen, der Enthüllungen und Umartungen, die in meinen, dem Faust-Tiaàc gewidme-

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Einführung

ten Betrachtungen „Ereignis" werden, ist wahrlich kein Ende, wie sich das für die unauslotbare Multivalenz höchster Dichtung schickt. Hier ist keine Entschuldigung vonnöten. In der Hauptsache habe ich mich indes um Fragestellungen bemüht, die über das Einzelwerk und damit zeitweilig auch über die werkimmanente Methode hinausweisen und Aspekte von Goethes Sein und Tun als Ganzem zum Thema haben; was nicht besagen will, daß in solch übergreifenden Zusammenhängen Einzelwerke oder sogar Teilaspekte von Einzelwerken nicht wieder zu ihrem Recht kommen, indem sie einer sehr genauen Analyse unterzogen werden. Solche umfassenden Fragestellungen werden in den seltensten Fällen im voraus und sozusagen a priori formuliert, noch auch geben die Einzelanalysen Schritt um Schritt eine systematische Antwort auf die dergestalt angeschnittenen Probleme; vielmehr blitzen die Probleme selber immer wieder in verschiedenen Zusammenhängen leitmotivartig auf, und indem ich sie meinen Lesern in möglichst mannigfaltigen Reihen vor Augen zu führen versuche, haben diese zusammen mit dem Problem bereits eine Hälfte der Lösung in der Hand und sind in der Lage, den Rest aus eigenen Mitteln zu ergänzen. Diese meine Scheu vor dem allzu aufdringlich Formulierten mag mir als ein ernsthaftes Manko ausgelegt werden, das ich indes die Ehre habe, mit dem Dichter, um den es auf diesen Seiten geht, zu teilen. In einem Zusammenhang, der uns gleich zu Anfang dieser Studie beschäftigen wird, gesteht Goethe seinem Mentor — ich meine Schiller —, er sei durch „die sonderbarste Naturnotwendigkeit" zungengelähmt, wenn man von ihm erwarte, schriftstellerische Probleme konzeptuell anzugehen; vor allem aber fehle ihm die Fähigkeit, aus dem halb Ausgesprochenen, halb Angedeuteten rund und unumwunden die gebührende Summe zu ziehen. Immer fielen seine Rechnungen unangemessen klein aus. Und nun gar das Bedeutende mit allen Zeichen seiner Bedeutsamkeit in die Welt hinauszuschicken, das sei ihm die barste Unmöglichkeit. Wie gesagt: ähnlich ergeht es mir in meiner geringfügigeren Eigenschaft als Kritikerin, was — ich weiß es selbst — weitaus bedenklicher ist; und um das mir möglicherweise selbst zugefügte Defizit zu meinen Gunsten zu berichtigen, sei es mir erlaubt, bereits jetzt an einige Themenkreise zu rühren, denen ich auf diesen Seiten nachgegangen bin und so deutlich, wie es mir gegeben ist, zu sagen, was mich zu ihnen hintrieb, was ich mir von ihrer Behandlung versprach und was davon ich ausgerichtet zu haben meine.

Einführung

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Der Titel dieser Studie, der deren zweitem Abschnitt seinen Namen verliehen hat, will kurz kommentiert werden. Er umgreift ein Thema, das dauernd in die Diskussion hineinspielt, ja gleichsam unlöslich in die Gesamttextur dieser Studie hineingewoben ist. Indes, eine systematische Auseinandersetzung damit lag außerhalb meines Gesichtsfeldes. Hier nur ein paar ergänzende Hinweise. Mein Titel geht auf Paulus' zweiten Koriniherbnei zurück. „Wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen", heißt es da durchaus programmatisch. Dieselbe Haltung bestimmt die Begegnung Christi mit dem ungläubigen Thomas, wie sie von Johannes berichtet wird und, man darf wohl sagen, das gesamte Evangelium. Jesus tut zwar Wunder, leidet aber darunter, daß seine Anhänger nicht ohne die geistigen Krücken einer sichtbaren Bestätigung seiner Macht an ihn zu glauben fähig sind. Auf den ersten Blick will es scheinen, als sei Goethes eigene Wertsetzung eine diametral entgegengesetzte, positivistische. Zum Beispiel schreibt der Sechsunddreißigjährige an Fritz Jacobi: „Wenn du sagst man könne an Gott nur g l a u b e n . . . so sage ich dir, ich halte viel aufs s c h a u e n . . . " . „Glauben" erfordert ein präpositionales Objekt: man glaubt an etwas, der Sprecher im gegenwärtigen Fall glaubt „an Gott". Dieser Tatbestand darf bei der Betrachtung von Goethes eigenem Credo nicht außer Acht gelassen werden. Die zwei Aussagen sind logisch parallel, und das Objekt der ersten — Gott — erstreckt seine Gültigkeit noch auf das Verbum der zweiten, Goetheschen. Nicht um „schauen" per se geht es dem Schreiber dieser Worte, sondern um die Schaubarkeit von Gott und Göttlichem. Ganz ähnlich verhält es sich in der vom folgenden Jahr, also 1787, datierten Äußerung aus Rom. Dieses Dictum liest sich, wieder auf den ersten Blick, wie eine bewußte Persiflage der im vorigen zitierten Worte des heiligen Paulus: „...ich wandle nun im Anschauen", heißt es am Weihnachtstag des Jahres. Fraglos parodiert diese Aussage das programmatische Wort an die Korinther, unter bewußter Umkehrung aller dortigen Wertsetzungen. Um indes Goethes Selbstschilderung gerecht zu werden, müssen wir dem vorhergehenden Satz sein Recht erweisen. Er berichtet, Christus sei diesmal unter Donner und Blitzen geboren worden; „wir hatten gerade um Mitternacht ein starkes Wetter". Offensichtlich ist Goethe der landläufigen Form des Glaubens gewahr und distanziert sich von ihr. Aber sowohl der weitere Kontext seiner eigenen Aussagen, in dem es ja um Glauben geht, als auch sein Quasizitat des Paulus machen es sinnfällig, daß implicite, hinter der vordergründigen Aussage, starke religiöse Nuancen schwingen. „Ich wandle nun im Anschauen" ist — ich

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Einführung

wage das Paradox — eine vollgültige und durchaus charakteristische Aussage Goethes über seine Art zu glauben. Dies ist ein Betrachten, ein Schauen oder, wie er es selbst einmal ausdrückt, „ein tiefes ruhiges Anschauen". Ein solches will sogleich von dem philiströsen Schauen eines Werners abgegrenzt werden, der Wilhelm versichert: „Man sollte auch nichts glauben, als was man mit Augen sieht." Wenn ein Goethe sagt, er betrachte das Leben aus dem Tod so gern, so begreift dies angestrengte Schauen mit den Augen des Geistes einen Glaubensakt in sich. Er glaubt der verwesenden Fliege den sie umgebenden Nimbus als Lebenszeichen einer fortlaufenden Metamorphose, wie er der starren und anscheinend leblosen Chrysalide den künftigen Schmetterling glaubt. Er glaubt die verborgenen Spuren künftigen Lebens in jenen Übergängen der Natur, denen er selbst so eifrig nachforscht, die er Falk so geflissentlich ans Herz legt. Die Basis seines Glaubens ist immer das Schauen des Naturwissenschaftlers, ein ihm ganz eigenes visionäres Schauen, dessen kolossale Angestrengtheit — man denke nur an die Urpflanze — in einem Glaubensakt gipfelt, vergleichbar in der menschlichen Sphäre jenem „Ich bin bei dir" des letzten Verses von „Ich denke dein", dem ich in einem anderen Kontext eine Schritt für Schritt Analyse gewidmet habe. 1 Diese Nachbarlichkeit von Schauen und Glauben ist gleichsam programmatisch in einem streitbaren Wort an eben den Jugendfreund Fritz Jacobi ausgedrückt: „Wer die Natur als göttliches Organ leugnen will, der leugne nur gleich alle Offenbarung", schreibt ein gereizter Goethe. Dieselbe innere Verwandtschaft führt zu einer gewissen Lässigkeit des Ausdrucks in Formulierungen des späteren Goethe. Er fühlt sich nicht berufen, akademische Unterscheidungen aufrechtzuerhalten, die ihm nicht mehr allzuviel bedeuten. So lesen wir etwa: „...eine Region nach der andern des grenzenlosen Naturreiches, in welchem ich zeit meines Lebens mehr im Glauben und Ahnen, als im Schauen und Wissen mich bewege, klärt sich auf..." Schließlich plädiert er für ein allumfassendes Erkenntnismodell, das das gesamte Spektrum aller Wahrnehmungsorgane, vom Schauen bis zum Glauben, gleichermaßen in sich begreift: „Schauen, wissen, ahnen, glauben und wie die Fühlhörner alle heißen, mit denen der Mensch in's Universum tastet, müssen denn doch eigentlich zusammenwirken." Von einem kolossal ausgespannten Schauen, das in einem Glauben gipfelt, das alle Gesichtszüge visionären Entrücktseins trägt, und zurück 1

Siehe mein , „Wandrer in der Noth". Das Bild des Künstlers im Spiegel von Schuberts Goethe-Liedern'. ] F D H. 1983.

Einführung

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zu einem tiefen, ruhigen Betrachten: derlei Übergänge werden wir, nicht nur in dem Abschnitt dieses Titels, sondern diese ganze Studie hindurch mit eigenen Augen sehen. Mein erster, entomologischen Phänomenen gewidmeter Abschnitt stellt, so meine ich, eine Entdeckung dar, die in ihrem Ausmaß sowie in ihrer Bedeutsamkeit weiteren Kreisen zugänglich gemacht werden sollte. Daß für Goethe, wie für die alten Griechen, der Schmetterling ein Symbol der Seele ist, ja daß jene für beide nur ein Wort haben — Psyche —, wissen wir von Selige Sehnsucht und von kommentierten Editionen dieses Gedichtes her. Und da ist Ilmenau mit seinem auf den jungen Herzog abzielenden Schmetterlingssinnbild, da sind einige aufschlußreiche Prosastellen. Daß aber ein Großteil von Goethes dichterischen Gestalten nach diesem Modell gearbeitet ist, hat sich der kritischen Einsicht entzogen. Mein erstes Ziel in dem diesem Phänomen gewidmeten Abschnitt ist, dieses Manko wettzumachen und meinen Lesern Faust sowie Euphorion, den geflügelten Genius der fortgesetzten Zauberflöte, Mignon, Ottilie nebst Nanny und Luciane und andere mehr als von diesem geistigen Muster gestempelte Gestalten vorzustellen. Wie leicht und weitgehend sich Tasso unter diesem Aspekt erschließt, mag dem konstruktiven Leser bereits aus den nachfolgenden Kapiteln entgegentreten. Ich hoffe, dieser Gestalt in Bälde eine unabhängige Studie zu widmen. In solchen Zusammenhängen erhob sich die Frage, warum sich dem Dichter unter so vielen möglichen, gleichfalls der Natur entnommenen Symbolen wie zum Beispiel der Lilie, der Nachtigall oder der Rose gerade das Sinnbild des Schmetterlings empfahl? Meine Antwort darauf ist, kurz gesprochen, diese: in den verschiedenen Phasen seiner Entwicklung begreift der Schmetterling und nur er zwei Lebensspannen in sich, die zwar einander diametral entgegengesetzt sind, dennoch aber eine einzige Lebensorganisation bilden. Der Schmetterling ist, so könnten wir es ausdrücken, „eins und doppelt". Dieses Paradox entzückte Goethe. An Hand von diesem Modell konnte er vieles gestalten, das ihm am Herzen lag. Einmal jenen Dualismus, der in Fausts „zwei Seelen", keineswegs aber nur in ihm, zum Tragen kommt, zwischen sinnlichster Erdennähe, ja, -versklavtheit auf der einen Seite und ätherischer Stofflosigkeit auf der anderen — man denke nur an Ottilie, ferner an den die Mädchen wild jagenden, aber sein junges Leben opfermütig dahingehenden Euphorion, schließlich an den ebenso stillen wie jäh um sich greifenden Tasso —; ein Dualismus, der jedoch nie endgültig ist, sondern immer in einer höheren Einheit transzendiert wird. Und eben diese kaum verständliche, übergreifende Einheit war gleichfalls in seinem Modell vorgebildet.

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Einführung

Sind doch die Raupe, die sich selbst einsargt, und der Schmetterling, der, „kommt die Zeit", im neuen Sonnental die ungewohnten Flügel öffnet, ein einziger, untrennbarer Organismus. „Eins und doppelt." Indes, noch ein weiteres konnte die Schmetterlingssymbolik für den Dichter ausrichten. Der anscheinend totale metabolische Stillstand, der die starre Puppe in ihrer Chrysalide auszeichnet, macht sie zu dem eloquentesten Symbol des Todes im gesamten Umkreis der organischen Natur. Dennoch ist dieser scheinbar endgültige Einschnitt nur ein Durchgang zwischen jenen zwei nahezu inkommensurablen Phasen ein und derselben Lebensorganisation: dem Kriechtier- und dem Rosenstadium (ich lehne mich an die Formulierung in Ilmenau an). Was Wunder, daß, wie auf den Grabstelen der alten Griechen, der Schmetterling für Goethe zum Sinnbild von irdischem Leben, Tod und Auferstehung wurde. Von einer Erneuerung — „Umartung" ist Goethes Wort — aus alten Materialien spricht es. Hier endlich bot sich ihm ein Modell dessen dar, was ihm so dringlich am Herzen lag: um die Selbsttranszendierung der e i n e n Natur — wie er es uns in der Selbständige der Wahlverwandtschaften einprägt — in unirdische Dimensionen geht es ihm; und dieses Wunder versinnbildlicht der Raupenschmetterling wie sonst kein Wesen im Naturbereich. Diese Idee von der Selbsttranszendierung der Natur ist eins von Goethes großen und stetig wiederkehrenden Themen, und seine Vorstellungen von Heiligkeit und Wiederaufstehung — und wie die anderen ganz großen Künstler, wie Dante zum Beispiel und Shakespeare, glaubte Goethe an die Auferstehung des Leibes — haben ihre Wurzeln hier, tief im biologischen Erdreich. Es bleibt zu erkären, warum ich den Abschnitt meiner Studie, von dem die Rede ist, nicht etwa „Motte Mensch" benannt habe, wie ich es in einem früheren Stadium der Ausarbeitung beabsichtigt hatte, sondern „Erfinden und Entdecken", nach einer mit Recht berühmten Maxime Goethes, die ich in einem der hier versammelten Essays Schritt für Schritt zu kommentieren versuche. Dieser Namenwechsel erklärt sich aus der Tatsache, daß die soeben umrissenen Darlegungen einserseits zwar sich selbst zum Ziel haben, auf einer anderen Ebene aber Materialien für die Erörterung eines andersgearteten Problemkreises sind, der für uns bei dem jetzigen Stand der Diskussion um Goethe von besonders dringlichem Interesse ist. Ich meine die ungemein enge Beziehung zwischen dem Dichter und dem Wissenschaftler, die in jüngster Zeit zwar an das kritische Bewußtsein gedrungen, aber doch häufiger dogmatisch behauptet als mittels unumstößlicher Dokumentierung aufgezeigt worden ist. Hier hofft meine Studie einen handfesten Beitrag zur gängigen Diskussion zu leisten.

Einführung

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Entomologische Studien oder Experimente lassen sich oft für die genaue Zeitspanne nachweisen, während welcher die hier besprochenen dichterischen Konzeptionen — seien es nun ganze Werke oder einzelne Figuren — zur Reife oder gar zur Niederschrift gelangen. Das tägliche, ja oft stündliche In- und Miteinander von Forschen und Dichten, das hier ganz konkret belegt wird, bietet ein nahezu unglaubhaftes Schauspiel und sollte das Seine dazu tun, einer bislang noch nicht zu kritischer Reife gediehenen Position Fleisch und Bein zu verleihen. Sowohl im dritten als auch im vierten Abschnitt dieser Studie ist viel von der Beidergeschlechtlichkeit Goethes die Rede. Eine Einsicht, die erst im nachfreudianischen Alter zu uns im Westen durchgedrungen ist und hier auch jetzt noch eine zögernde Aufnahme findet, nahm er einfach und dankbar zur Kenntnis; und die Heiterkeit, die so fühlbar die Seiten des West-östlichen Divans durchweht, entspringt nicht zum mindesten dem Wissen, daß er trotz „des Tages Schlechtnis", trotz äußerer „Verneinung, Hindrung, Raubens" nie des „Anderen", des Weiblichen verlustig gehen kann, das er als „das Beste seines Innern", wie es im Faust heißt, unveräußerlich in sich selbst trägt. Daß seit der Ankunft des Christentums eine starke weibliche Komponente tatsächlich das Bild des westlichen Dichters prägt, suche ich mehrfach aufzuzeigen. Goethes souveränes Gewahrsein dieses Erbes in ihm selbst und der Gebrauch, den er davon macht, stellt ihn, was seine Modernität anbelangt, einem Rilke an die Seite. Aber auch um den Preis dieses Doppelerbes wußte er, und die Heiterkeit seines Sagens im Divan ist je und je mit dunkleren Strängen der Entsagung durchwirkt. Gewiß: „und was du nie verlierst, das must du stets beweinen", wie es im Faust heißt. Aber auch dies ist wahr und hat seine eigene Trauer: nur was man nie besessen hat, ist unverlierbar; und der Alternde hat sein Lieben — und die Geliebte — längst in sein eigenes Innerstes verlegt. Auf diesen Seiten, und zwar nicht nur in dem so betitelten Abschnitt, ist häufig von „oben" und „unten" die Rede. Damit suche ich eine durchgängige Denkform Goethes festzuhalten, derer er sich unter anderm dafür bedient, seiner höchst idiosynkratischen Vorstellung von der Mission des Dichters Ausdruck zu geben. Goethe sieht das Dasein als eine unendliche und kontinuierliche Kette verwandter Erscheinungen; eine Brüderlichkeit der Dinge, in welcher auch die Welt der Pflanzen und Tiere mit inbegriffen ist. „Meine Brüder im stillen Busch, in Luft und Wasser" apostrophiert Faust (Z. 3226 f.), die verkohlten Linden sind stumm-anklagende Zeugen seines Niedergangs, Löwen hüten stumm-freundlich den heiligen Liebeshort.

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Einführung

In dieser lückenlosen Reihe gibt es indes sehr wohl ein Oben sowie ein Unten. Von einem wertindifferenten Relativismus Goethes kann nicht die Rede sein. Faust ist kein Habebald und Helena kein Lieschen oder Bärbelchen. In der Tat, in Goethes Weltschau ist die Kluft zwischen den oberen und den unteren Bereichen so groß, daß es dem Dichter obliegt, zwischen den Extremen zu vermitteln: den hüllenlosen Glanz des Absoluten menschlichen Augen erträglich zu machen und dergestalt Schuld und Scham menschlichen Versagens zu lindern. Darin ist seine Funktion der des christlichen Mittlers eng verwandt, und eine hastige Ableugnung dieser Tatsache hält einer vorsichtigen Dokumentierung von Goethes Äußerungen zu diesem Thema nicht stand. Bei aller schroffen Gegensätzlichkeit zwischen Oberem und Unterem, Edlem und Gemeinem aber erkannte der Dichter die geheime Verbindung zwischen den beiden Regionen und deren wechselseitige Abhängigkeit in einem übergreifenden Plan der Erlösung. Wie Caliban der dunkle Aspekt von Prosperos Übermenschentum ist, gerade so sind die drei Gewaltigen ein tierischer Überrest des himmelstürmenden Faust, und die Erlösung dieser Ausnahmenaturen harrt ihrer Erkenntnis des Menschenunwürdigen, das sie in sich selbst beherbergen, und dessen voller Entsühnung. Denn umgekehrt würde ihr Schöpfer sagen, daß auch in Fausts Handlangern das Potential zu vollem Menschsein schläft. Auch sie sind erlösungsbedürftig und -würdig, auch sie Glieder der Geisterwelt, und die Harmonie jener Welt ist ohne sie ebenso unvollkommen wie ohne die Mitgliedschaft des exemplarischen Gottsuchers. Der Atem einer großen Milde weht durch diese Vision, die das Gebrechliche im Hohen und die Anwartschaft auf Menschsein selbst noch im Niedrigsten durchschaut. Wir müssen uns im klaren darüber sein, daß diese allwissende Gelindheit undenkbar wäre ohne das Modell, das Goethes Weltschau und dichterische Gestaltung auf das entscheidenste bestimmte: — das Sinnbild des Raupenschmetterlings. Hier und hier allein im organischen Bereich bot sich dem Dichter-Wissenschaftler die größtmögliche Kluft zwischen dem Niedrigsten und Erdverhaftetsten und dem Höchsten und Entstofflichtsten innerhalb von einer kontinuierlichen Lebensorganisation; ein Doppelphänomen, das sich im menschlich-seelischen Raum einerseits als kolossales Spannungsfeld und andererseits als alle Erdenschranken sprengende Steigerungsmöglichkeit darstellt. Hier auch fand er bei aller Gegensätzlichkeit zwischen den Extremen eine Kontinuität und Allmählichkeit der Aufwärtsentwicklung, die sich im geistigen Raum in einem dem katholischen Weltgefühl engverwandten

Einführung

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Gradualismus spiegeln: jene sachte Umartung des Menschlich-Allzumenschlichen in Höheres und Höchstes, Heiliges, und sein schließliches schmetterlingsartiges Entschwinden in unirdische Regionen. Goethes allbegreifende Güte speist sich aus dem Glauben an den unverwüstlichen Aufwärtstrieb alles Lebendigen, zusammen mit der durchaus realistischen Komplementäreinsicht, daß niedere Möglichkeiten auch noch im Höchsten schlummern und in ihrer zerstörerischen Dynamik erkannt werden wollen und müssen, damit sich das in dem Ganzen angelegte Erlösungswerk vollende. Diese wissende Güte hätte sich, all unserer „gewaltigen Gesellen" zutrotz, auch in der Heutzeit bewährt, und dieses Dichters ruhig forschender Blick hätte sich von dem, was er da gesehen hätte, nicht beirren lassen. Denn ...das Oben wie das Unten Bringt dem edlen Geist Gewinn. Eines solchen bedürfen wir als Leitstern in dunkel-wirren Zeiten.

I.

Erfinden und Entdecken Was ist denn das Erfinden? Es ist der Abschluß des Gesuchten. Goethe Und wie denn alles Erfinden als eine weise Antwort auf eine vernünftige Frage angesehen werden kann. Goethe

Mignons Flügel Sprünge der Natur und Kunst... Goethe Er scheint mir, mit Verlaub von Euer Gnaden, Wie eine der langbeinigen Zikaden, Die immer fliegt und fliegend springt Und gleich im Gras ihr altes Liedchen singt. Goethe

1. „Wenn je eine poetische Erzählung der Hülfe des Wunderbaren und Überraschenden entbehren konnte", schreibt Schiller an Goethe knapp sechs Wochen nach Abschluß des Meister, „so ist es Ihr Roman". 1 Mit dieser Anspielung hat Schiller vor allem Goethes nonchalante Behandlung der Turmgesellschaft im Sinn, deren Leitung von Wilhelms Schicksal ihm zu sehr in theatralisches Dunkel gehüllt und dem klaren ästhetischen Wesen des Ganzen nicht recht angemessen erscheint. Hinter der diskreten Mahnung jedoch verbirgt sich ein generelles Urteil und zwar, aus Schillers Sicht, ein uneingeschränktes Lob. Offenbar war es ihm entgangen, daß es bei der Ausarbeitung des Romans nicht auf ganz so vernünftige Weise hergegangen war, wie er sich das vorstellen mochte, sprach doch Goethe vom Meister als von einer seiner „inkalkulabelsten" Produktionen, zu der ihm fast selbst der Schlüssel fehle. 2 Ich erinnere nur an einige wenige Äußerungen Goethes, größtenteils aus dem Briefwechsel mit Schiller, die dieser bei seiner soeben zitierten Gesamteinschätzung des Meister offenbar, zumindest dem Freunde gegenüber, aus dem Bewußtsein verdrängte, weil sie ihm fremdartig, ja ärgerlich waren. Goethes Lässigkeit verdroß Schiller, so etwa, wenn er schrieb, sein Roman mache „sich nun bey der ersten Gelegenheit fertig", 3 oder gar, am 30. Juli 1796 — ein Datum, das uns noch ausgiebig beschäftigen wird — 1 2 3

Am 8. Juli 1796. In: Staiger, S. 238. Zu Eckermann, am 18. Januar 1825. AGA, 24, S. 141. An Schiller, 23. Januar 1796. WA, IV, 11, S. 12.

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Erfinden und Entdecken

er halte „einen Mittagsschlaf", von dem er „gegen Abend" „desto frischer wieder aufstehn" werde. 4 Schiller wird also Äußerungen des unmöglichen Freundes wie jene soeben erwähnten eines vermeintlichen Schlendrians mit unwilligem und wohl auch ratlosem Schulterzucken übergangen und so schnell wie möglich ad acta gelegt haben. Am 22. Juni 1796 zum Beispiel schrieb Goethe an ihn: „...wenn ich die zusammentreffenden Umstände bedenke, wodurch etwas beynahe unmögliches, auf einem ganz natürlichen Wege, noch endlich wirklich wird, so möchte man beynahe abergläubisch werden." 5 Vier Wochen danach wiederum, am 28. Juli — also rund zwei Wochen vor Abschluß des achten, und letzten, Buches, klagte Goethe, es sei alles in einer solchen Konfusion und Bewegung — er meint die Kriegswirren und die Kapitulation Frankfurts — „daß die ästhetische Stimmung, die erforderlich wäre den Roman nach unsern Wünschen zu vollenden, nur als eine Wundergabe erwartet werden kann. Indessen ist auch daran nicht ganz zu verzweifeln." 6 Etwas Unmögliches auf ganz natürlichem Wege? Abergläubisch? Wundergabe? Derlei rätselhafte Andeutungen scheinen kaum mit der angestrebten Vemünftigkeit von „unsern Wünschen" vereinbar zu sein, wie der von der Absonderlichkeit seiner eigenen Schaffensweise betroffene Dichter rührend schreibt. In solchen Äußerungen plädierte er, knapp vor Abschluß seines Werkes, die Unumgänglichkeit eben jener Einflüsterungen des Wunderbaren, die der bewußter arbeitende Schiller in seinem Urteil allzu voreilig ausgeklammert hatte. Goethes Äußerungen verwundern kaum. Fallen sie doch in den Zeitraum von Meisters Vollendung, in dem er sich vor dem Rätselhaften seines eigenen Genius' beugt und vor dem didaktisch drängelnden Schiller still zurückzieht. Denn gegen Ende dieser Arbeitsphase, am 10. August 1796, entschließt sich Goethe, scheinbar urplötzlich, den Roman direkt zum Druck zu senden, ohne dem Freund das revidierte achte Buch nochmals zu unterbreiten: „Es liegt in der Verschiedenheit unserer Naturen," schreibt er mutig, „daß es Ihre Forderungen niemals ganz befriedigen kann..." 7 Offenbar empfindet er jetzt die ganze Divergenz zwischen der eigenen Dichtungsweise und der des Kantianers; und in den zwei Wochen zwischen dem 28. Juli, als er sich noch hilfesuchend an den Freund gewandt hatte, 4 5 6 7

An An An An

Schiller, Schiller, Schiller, Schiller,

WA, WA, WA, WA,

IV, IV, IV, IV,

11, 11, 11, 11,

S. S. S. S.

143. 105. 142. 155.

Mignons Flügel

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und diesem unvermittelten Entschluß müssen ihm jene Erleuchtungen gekommen sein, mittels derer sich ihm das beinahe Unmögliche „auf ganz natürlichem Wege" als „Wundergabe" schenkte. Was fehlte an dem achten Buche noch, um seine ästhetische Funktion in dem Gesamtwerk zu gewährleisten? Daß Goethe sich aus den Niederungen der Realität auf eine neue Höhenlage heben und ans Unendliche rühren müsse, war beiden Freunden gleichermaßen klar; nur daran, wie dies zu bewerkstelligen sei, schieden sich die Geister. Schiller suchte Goethe zu überreden, seinen Wilhelm auf eine neue Stufe intellektuellen und philosophischen Selbstverständnisses zu führen und den Grundgehalt des Werkes unmißverständlich in dem Lehrbrief niederzulegen. Dagegen aber verwahrte sich der Dichter. Er bestand auf eben jenen leisen Winken, die der Freund an ihm zu rügen geneigt war. Das Buch bedürfe seiner Unebenheiten und Verzahnungen, schon um auf die Möglichkeit einer Fortsetzung hinzudeuten. Freilich, was Gehalt und Summe des Ganzen anbetreffe, so sei ihm, Goethe, durch einen „realistischen Tic", ja, durch „die sonderbarste Naturnothwendigkeit", die Zunge gelähmt; eine „perverse Manier", die ihm verbiete, das Bedeutende klipp und klar beim Namen zu nennen. 8 Um die schließliche Überhöhung der Meisterschen Welt durch eine Steigerung ins Unendliche ging es Goethe; nur daß man jenen „geistigen Schein", der über dem Ganzen liegen sollte, nicht an hohe Worte und bedeutungsschwere Ereignisse geknüpft zu sehen erwarten dürfe. Wo und wie hat Goethe die Aussicht ins Unendliche bewerkstelligt? Als änderungsbedürftig stellte sich fernerhin Mignon heraus. Dies wird daran ersichtlich, daß der Dichter noch am 13. Juni keinen Gesang für das achte Buch vorsah, 9 am 22. Juni „So laßt mich scheinen" lediglich erwähnen wollte — und dieses Gedicht im übrigen Schiller für den Musenalmanach überließ —10 und erst am 26. Juni sich zögernd dazu entschloß, das Lied im achten Buch zu bringen und zwar, wie er schreibt, „des Effects wegen"! 11 Es ist leicht ersichtlich, daß die Bedeutsamkeit dieser Gestalt, die dieses Lied an dieser Stelle singt, dem Dichter selbst noch nicht voll aufgegangen war. Sollte sie, Mignon also, etwas mit jener

An Schiller, 9. Juli 1796. WA, IV, 11, S. 121 ff. Siehe Goethes Brief an Friederike Helene Unger, geb. von Rothenburg. WA, IV, 11, S. 92. 10 An Schiller, WA, IV, 11, S. 106. « An Schiller, WA, IV, 11, S. 109. 8 9

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Überhöhung des Buches ins Unendliche zu tun haben, für die ihm, dank seines „realistischen Tics", nur Fingerzeige zu Gebote standen, die bedeutenden Worte aber fehlten? 2.

Versuchen wir uns dem, was in den entscheidenden Wochen in Goethe vorgegangen sein muß, durch ein paar weitere Blicke auf die Dokumente der Entstehung sachte zu nähern. Diese in aller Länge und Breite darzulegen, ist kaum notwendig. Sie sind allbekannt und zudem oft kritisch erläutert worden. Nur einige wenige unauffällige Winke Goethes möchte ich herausgreifen, die sich der Aufmerksamkeit der Forscher entzogen haben. Diese, meine ich, werden uns am ehesten verraten, in welcher Richtung der so verhüllte Dichter sich bewegte, um das krönende Buch seines Romans „nach seiner Art" ins Unendliche auslaufen zu lassen. Am 20. Mai beschreibt Goethe in einem Brief an Heinrich Meyer voll freudiger Aufregung eine kleine Statue, die er mit Körners Hilfe soeben erworben hat. Das Standbild stellt eine geflügelte Victoria dar. In ihrem langen, gegürteten Gewand steht sie „im schönsten Gleichgewicht". Bewegt man sich ein wenig vor ihr hin und her, so entsteht „eine unglaublich anmutkige Bewegung" * in der Figur. Präzision und Stetigkeit dieser Schilderung sind, wie immer bei kunstgeschichtlichen Beobachtungen Goethes, außerordentlich. Nur bei der Beschreibung der Flügel überkommt ihn eine spürbare Erregung. Offenbar sind sie es, die ihn in ihren Bann geschlagen haben. Nicht weniger als viermal werden sie erwähnt. Sie seien gerade in die Höhe gerichtet, lesen wir zweimal; sie ließen den Hals frei und seien überhaupt „mit der größten Zierlichkeit angesetzt."; und schließlich: sie seien „in allen ihren Theilen mit großer Eleganz ausgestochen...". 12 Könnte es sein, daß von diesem Gebilde ein Funke übersprang und daß wir in dieser Victoria das Vorbild der sterbenden Mignon sehen, die in langem, gegürteten Gewände und mit ihren großen Flügeln „mit unglaublicher Anmut"* ihr Scheidelied singt?13 Wenn dem so ist, werden wir gut daran tun, die starke emotionale Betonung der Flügel im Gedächtnis zu behalten. * Hervorhebungen I. G. An J. H. Meyer. WA, IV, 11, S. 65 ff. 13 Wilhelm Meisters Lehrjahre, VIII, 2. HA, 7, S. 515. 12

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Am 14. Juni, unmittelbar nach Abschluß des siebenten und direkt vor Beginn des achten Buches, läßt Goethe durch Schiller Körner seinen Dank für dessen Bemühungen um den Ankauf der Statue sagen: „Das Kunstwerk wir mir immer werther, es ist wirklich unschätzbar", bestellt er.14 Auf Schillers Neugruppierung der Xenien reagiert Goethe am 30. Juli — also zwei Wochen vor Abschluß des revidierten achten Buches — mit offenkundiger Enttäuschung. „Überhaupt will ich Ihnen nicht leugnen", schreibt er, „daß es mir einen Augenblick recht wehe gethan hat unser schönes Carten- und Luftgebäude, mit den Augen des Leibes, so zerstört, zerrissen, zerstrichen und zerstreut zu sehen." Indes, er tröstet sich mit dem Gedanken, es möge genug sein, „daß nun so viel Stoff da ist, der zu einem andern Korper* nun wieder verarbeitet werden kann." Die wenigen neuen Xenien, welche er in der letzten Zeit hervorgebracht habe, müsse er augenblicklich liegen lassen, er werde sie aber mitbringen, wenn er komme: „...und bis dahin wird der neue Körper* des Almanachs schon so lebendig und mächtig seyn, um sie sich zu assimiliren." Über den Roman, fügt er hinzu, sei garnichts zu sagen: „er hält einen Mittagsschlaf und ich hoffe er soll gegen Abend desto frischer wieder aufstehn." 15 Zweierlei fällt an diesen Sätzen auf: einmal die pure Körperlichkeit der Vergegenwärtigung, zum andern die Rapidität der Entwicklung, die diesen ganz physisch erfahrenen geistigen Erzeugnissen zugesprochen wird. „Mit den Augen des Leibes", gleichsam am eigenen Leib, fühlt der Dichter die Zertrümmerung des Xenien-Gebüdcs — nach dem Ableben Mignons wird der Chor die Fortdauer ihrer bildenden Kraft „mit den Augen des Geistes" schauen16 —; und ganz leiblich erlebt er auch die Regeneration des so Zerstörten, Zerrissenen, Zerstrichenen und Zerstreuten: als einen neuen Körper, der sich aus der Masse verwandter stofflicher Elemente organisieren wird. Ja, bei Goethes Eintreffen in Jena, wofür er ein paar Tage veranschlägt, wird dieser neue Körper bereits mächtig genug sein, andringende Stoffe je nach Bedarf des vitalen Haushalts abzustoßen oder zu assimilieren. Auch das frischere „Aufstehn" des Romans nach dem scheinbaren Stillstand seines Mittagsschlafs spricht von der gleichermaßen unaufhaltsamen Rapidität einer als körperlich begriffenen Entwicklung. Die biologische Ausrichtung dieser literarischen Bemerkungen fallt selbst bei einem Goethe ins Auge. Was es ist, das in diesen Tagen, ja 14

A n Schiller, WA, IV, 11, S. 95.

15

WA, IV, 11, S. 142 f.

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Wilhelm Meisters Uhrjahre,

VIII, 8. HA,

7, S. 575.

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vielleicht sogar an diesem Tag — das Datum ist der 30. Juli — einen so lebhaften Eindruck hinterlassen hat, daß er ihn auf scheinbar Abgelegenstes überträgt? Diese Frage werde ich sogleich beantworten. Zuvörderst gilt es festzuhalten, daß Goethe dergleichen Transponierungen nicht selten und mit vollem Bewußtsein unternimmt. Dies wird offenkundig, wenn man den folgenden Absatz liest. Der Grundsatz der Stetigkeit, schreibt er an diesem 30. Juli, habe sich bei dem Studium organischer Naturen — er spricht von Pflanzen und Insekten — als so fruchtbar erwiesen, daß er ihn jetzt auch „an elementarischen und geistigen Naturen probiren" wolle: Bedeutsam fahrt Goethe fort: „...und er mag mir eine Zeit lang zum Hebel und zur Handhabe bey meinen schweren Unternehmungen dienen." 17 Die „schweren Unternehmungen" aber sind die Gesamtorganisation und Figuren des achten Buches von Wilhelm Meister, um die er sich ja in diesen Tagen abmüht. An dessen sinnlichen 18 und geistigen Naturen will er zur Anwendung bringen, was er den Pflanzen und Insekten abgesehen hat! Ein weiteres Indiz jener Körperlichkeit, die den Dichter beschäftigt, findet sich in dem elf Tage später verfaßten Brief an Schiller, in dem es um Wilhelm Meister geht, den er ganz unverhohlen als komplexes physisches Gebilde begreift. „Der Roman giebt auch wieder Lebenszeichen von sich", schreibt er nach einer langen, aufgeregten Erörterung der Stetigkeit bei organischen Naturen; und fährt folgendermaßen fort: „Ich habe zu Ihren Ideen Körper nach meiner Art gefunden, ob Sie jene geistigen Wesen in ihrer irdischen Gestalt wieder kennen werden, weiß ich nicht." 19 Und so unüberbrückbar erscheint ihm die Kluft zwischen den von Schiller vorgeschlagenen gedanklichen Klärungen und der irdischen Gestalt, in der er diese Abstrakta nach seiner Art inkarniert hat, daß er an diesem Punkt freimütig bekennt, er möchte das Werk zum Druck schicken, ohne es dem Freund noch einmal zu zeigen. Welcher Art sind die Körper, von denen Goethe spricht? Welcher Art ist die irdische Gestalt von Schillers geistigen Wesen? Und in welchem Kontext erfolgt dieser Rückzieher? Diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns noch einmal dem entscheidenden 30. Juli zuwenden, diesmal aber nicht zu Goethes Briefwechsel mit Schiller, in dem unter diesem Datum 17

A n Schiller, 30. Juli 1796. WA, IV, 11, S. 1 4 3 f.

18

Für „elementarisch" in der Bedeutung von „sinnlich" siehe unter „elementarisch" in P. Fischer, Goethe-WortschatLeipzig,

1929, S. 185.

« A n Schiller, 10. August 1796. WA, IV, 1 1 , S. 155.

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nur Generellstes über das Ereignis des Tages zur Sprache kommt, sondern zu des Dichters morphologischen Schriften. Das Jahr 1796 war keineswegs ausschließlich der Dichtung gewidmet. In den Annalen lesen wir: „Auch die Naturwissenschaften gingen nicht leer aus. Den Sommer über fand ich die schönste Gelegenheit Pflanzen unter farbigen Gläsern und ganz im Finstern zu erziehen, sowie die Metamorphose der Insekten in ihren Einzelnheiten zu verfolgen." 20 Diese Reminiszenz wird durch Caroline Schlegels Bericht um eine pikante Nuance bereichert. „Goethe ist jetzt wieder hier in Jena", erzählt sie, „und... gibt... sich diesmal viel mit Raupen ab, die er tot macht und wieder auferweckt." 21 Unter Goethes entomologischen Studien findet sich ein Essay folgenden Titels: „Beobachtungen, über die Entwickelung der Flügel des Schmetterlings Phalaena grossularia. Den 30ten Jul. 1796." 22 Auf diesen Seiten beschreibt Goethe das rapide Wachstum der Flügel des soeben ausgeschlüpften Insekts. In seinen ersten Augenblicken ist der Flügel des Tieres drei Linien lang. Auf ihm sieht man alle Flecken, in völlig gleicher Ordnung wie nachher, „nur alles kleiner und näher beisammen." 23 In der achtzehnten Minute fangen die Flügel zu wachsen an. Mit der dreißigsten Minute ist das Wachstum beendet. Die oberen Flügel sind nunmehr neun Linien lang „und sind also in 12 Minuten um j Zoll gewachsen." 24 „Die Veränderung", konstatiert Goethe, „geht so schnell vor, daß man sie recht gut bemerken kann..." 2 5 Anfangs waren die Flügel durch ungleichmäßig in sie hineinströmende Feuchtigkeit faltig und zerknittert; in der dreißigsten Minute glätten sie sich durch mehrfaches Zusammenschlagen. In weniger als einer Stunde ist der Schmetterling vollendet. Was diese Entdeckung für Goethe bedeutet, geht aus einer Schilderung des Gesehenen hervor, die er nach einer Woche beharrlichen Schweigens am 6. August Schiller zukommen läßt. „Ich habe in diesen Tagen das 20 21 22 23 24 25

Tag- und Jahreshefte für 1796. AGA, 11, S. 661. Ende August 1796. Biedermann I, S. 249, N° 495. LA 10, S. 168 f. Ebenda, S. 168, Z. 16 f. Ebenda, S. 169, Z. 4 f. Ebenda, S. 169, Z. 6 f.

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schönste Phänomen, das ich in der organischen Natur kenne (welches viel gesagt ist), entdeckt... Ich weiß nicht ob es bekannt ist, ist es aber; so verdienen die Naturforscher Tadel, daß sie so ein wichtig Phänomen nicht auf allen Straßen predigen, anstatt die Wißbegierigen mit so vielen matten Details zu quälen. Sagen Sie niemand nichts davon... Da die Veränderung so schnell vorgeht, und man nur wegen der Kleine des Raums die Bewegung nicht sehen kann, so ist es wie ein Märchen, wenn man den Geschöpfen zusieht. Denn es will was heißen in zwölf Minuten um \ Zoll in der Länge und proportionirlich in der Breite zu wachsen und also gleichsam im Quadrate zuzunehmen! und die vier Flügel auf einmal! Ich will sehen ob es nicht möglich ist Ihnen dieses Phänomen unter die Augen zu bringen." 26 Offenbar ist Goethe überaus erregt, „...das schönste Phänomen", „...wie ein Märchen..."; und schließlich: die Naturforscher verdienten Tadel, „daß sie so ein wichtig Phänomen nicht auf allen Straßen predigen..." — dies sind starke Worte für einen Mann, der nicht weit von den Fünfzigern, und für einen Morphologen, der mit allen Wassern gewaschen ist. Denn was wird auf allen Straßen gepredigt? Nach dem Evangelisten Markus die Auferstehung des Herrn; eine heilsgeschichtliche Assoziation, die dem Bibelfesten kaum entgangen sein wird, gewiß nicht in dem gegenwärtigen Zusammenhang. Geht es doch auch hier um die Auferstehung von scheinbarem Tode! Caroline Schlegel hatte durchaus treffend berichtet, Goethe mache jetzt Raupen tot und erwecke sie wieder. Das schönste Phänomen in der organischen Natur hatte Goethe das Wachstum der Flügel des jungen Schmetterlings genannt. Ebensogut hätte er sagen können: ein einzigartiges Phänomen. Denn, bei aller Großmut der Natur, jegliches Zeichen der Fortdauer nach dem Tode verhängt sie menschlichen Blicken. Hier aber gab sie gerade so ein Zeichen in Gestalt des märchenhaften Wachstums eines von scheinbarem Tode frisch erstandenen und dazu noch unermeßlich veredelten Organismus. In dieser Entdekkung vom 30. Juli darf man mit Fug und Recht eine Keimzelle der letzten Faust-Szene sehen. Denn überwächst der „vom Puppenstande" soeben Erlöste die Seligen Knaben nicht sichtbarlich „an mächtigen Gliedern" (Faust II, Himmel, Z. 12076 f.)? Das für Goethe Fesselndste an diesem Neuerstehen aber war wohl der Blick seiner leiblichen Augen in den Abgrund der wirkenden Natur — in das Mysterium lebendigen Wachstums. Die Möglichkeit einer gleichzei26

WA, IV, 11, S. 153.

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tigen Entfaltung in allen drei Dimensionen — „gleichsam im Quadrate" schreibt er — ist ein Naturwunder, doppelt erregend für den geistigen Schöpfer, dessen werdendes Werk denselben Wachstumsgesetzen unterstehen muß, wenn es einem organischen Produkt der Natur ähneln und den Schein einer „Lebensorganisation" 27 erwecken soll. Und das nun, was er selbst in seinem Roman zu vollbringen im Begriff war — eben jene Überhöhung und Steigerung ins Unendliche, derer das letzte Buch noch bedurfte —: hier war's getan, in der mächtigen Entfaltung der ätherischen Glieder, die die einstmalige Raupe in unendliche Räume zu tragen bestimmt waren. Mit seinen leiblichen Augen sah Goethe, was er noch zu tun hatte. Vier Tage später erbittet er sich ein wenig brüsk die Beschreibung des „Phänomens" zurück, die er dem Freunde beigelegt hatte. Wieder kommt er auf die Materie zurück und erzählt Schiller von dem Beobachtungsschema, das er sich anzulegen gedenkt, um seine Entdeckung zu erweitern und fundieren. Unmittelbar darauf folgt die Andeutung von den Körpern und der irdischen Gestalt, die er in seinem Roman für Schillers geistige Wesen gefunden habe, zusammen mit dem Wunsch, das revidierte achte Buch unverzüglich zum Druck zu schicken. „Es liegt in der Verschiedenheit unserer Naturen, daß es Ihre Forderungen niemals ganz befriedigen kann", 28 schreibt er, sich und sein Tun mit nachtwandlerischem Instinkt verhüllend. Können wir daran zweifeln, daß die Entdeckung vom 30. Juli, von der Erregung über die geflügelte Victoria sowie auch von den so seltsam physischen Formulierungen betreffs des Almanachs präludiert, sich in die Komposition des achten Buches eingeschlichen hatte? Daß „das Schmetterlingswesen" — so nennt Goethe es manchmal — ihm einen Fingerzeig gegeben hatte, wie ihm die Ausformung einer für das Buch bedeutsamen Gestalt, ja vielleicht dessen Gesamtstruktur, gelingen könnte? Die plötzliche Reserve gegenüber Schiller bezeugt doch wohl, daß es hier um Gestaltungs- und Organisationsprozesse ging, von denen Goethe wußte, daß der naturferne und intellektuelle Freund sie schwerlich nachvollziehen könne; und was könnte diesem fremdartiger gewesen sein als künstlerische Winke aus dem Reich der Insektenkunde? 27

28

Das Wort findet sich in Goethes Brief an F. H. Jacobi vom 21. August 1774, in Verbindung mit seiner Arbeit an Clavtgo. Ich setze es hier ein, weil es Goethes Gewohnheit, Produkte der schöpferischen Psyche und Naturprodukte als gleichrangig und nahezu auswechselbar zu betrachten, in ein helles Licht rückt — eine Haltung, von der er im übrigen zur Zeit nach der ersten Italienischen Reise einigen Abstand gewann. An Schiller, 10. August 1796. WA, IV, 11, S. 155.

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3. Wer aber sollte die für die Ökonomie des letzten Buches und des Werks als Ganzem hochbedeutsame Gestalt sein, um die es geht, wenn nicht Mignon? Hinter wem sollte die geflügelte, „unglaublich anmuthige" Victoria geistern, hinter wem Phalaena grossularia mit dem märchenhaften Wachstum ihrer Flügel, wenn nicht hinter dem urplötzlich so abgeklärten Wesen, das am Ende seines Lebens „mit unglaublicher Anmut" seine Apotheose singt, in langen, gegürteten Frauenkleidern und mit mächtigen Flügeln, die man ihr nicht nehmen kann, in denen sie begraben wird? Daß gerade an Mignon noch Beträchtliches nachzutragen und zu ändern war, geht aus der bereits erwähnten Tatsache hervor, wie spät Goethe darauf verfiel, das Lied „So laßt mich scheinen, bis ich werde" in den Text aufzunehmen. Erst am 26. Juni — wir erinnern uns — entschied er sich, offenbar schweren Herzens, das Lied doch noch einzufügen, „des Effects wegen". Wie nähern wir uns dieser rätselhaften Gestalt? „...eine halbentwickelte Natur" nennt der Erzähler sie (VIII, 3, S. 524); „die Heftigkeit dieser aufkeimenden Natur" mache Wilhelm oft angst und bange, sagt er bei anderer Gelegenheit (IV, 16, S. 262). Sollten wir sie also als halbwüchsiges Mädchen verstehen, das sich mühselig zu physischer und geistiger Reife durchringt? Manches spricht für eine solche Auslegung. Wie Ottilie in den Wahlverwandtschaften ist Mignon in praktisch-weltlichen Dingen rückständig. Sie schreibt ungeschickt und krumm (II, 12, S. 135), sie begreift bei großer Anstrengung mühsam und schwer (IV, 16, S. 262), sie spricht gebrochen Deutsch (ebenda), ihre Bewegungen sind oftmals hart und eckig. Ein Knabe will sie sein, kein Mädchen (IV, 1, S. 207); wie ein Knabe kleidet sie sich, wie ein Knabe springt sie und klettert verwegen auf den Dächern einher. Haben wir hier also ein Bild der Adoleszenz vor uns? Die Antwort auf diese Frage ist ein entschiedenes „Nein". Es wäre Goethe in seiner zurückhaltenden Art ungemäß, eine normale Entwicklungsstufe mit so bedeutungsschweren Worten zu bezeichnen, wie er sie immer wieder einsetzt. Man denke an die unproblematischen Epitheta, die er für Hermann verwendet. Hier verfahrt er anders. Von „...dem geheimnisvollen Zustande dieses Wesens" spricht er gleich zu Anfang (II, 4, S. 98), und Bezeichnungen wie „geheimnisvoll* und „sonderbar" stellen sich immer wieder ein. Auch stimmt es nachdenklich, daß Mignon nur hier und da „das Kind" genannt wird, ganz selten „das Mädchen". Weitaus am häufigsten titulieren

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Erzähler und Charaktere sie als „Geschöpf", „Wesen" oder auch „Kreatur", runde zwei Dutzend Mal. „Das liebe, gute Geschöpf"; „das unglückliche Geschöpf"; „die gute Kreatur" —: so wird sie uns vorgestellt und sachte aber konsequent der menschlichen Szene enthoben. Welchen Lebensreihen gehört dies Wesen an? Nehmen wir einige Aussprüche zu Hilfe. In seiner Verteidigung der Geschwisterehe und mit offenbarem Bezug auf Mignons vermeintliche Gesundheit sagt der Harfner: „das Geschöpf, das nicht sein soll, kann nicht werden, das Geschöpf, das falsch lebt, wird früh zerstört" (VIII, 9, S. 584). Der Harfner hat unrecht. Als er diese Worte sagt, ruht Mignon bereits im Saale der Vergangenheit; ihr „Werden" hat sich als ein radikal anderes entpuppt. — „Nicht allein die ersten Blüten fallen ab,..." bemerkt Natalie zu Wilhelm, „...auch Früchte, die, am Zweige hängend, uns noch lange die schönste Hoffnung geben, indes ein heimlicher Wurm ihre frühere Reife und ihre Zerstörung vorbereitet." „Ich fürchte", fährt sie fort, „er [der Oheim] hat auf das liebe Mädchen geweissagt..." (VIII, 5, S. 542). Von diesen kontrapunktischen Bildern der Zerstörung läßt sich eine Linie zu Goethes eigenen Maximen ziehen. Eine von diesen entstammt den Wanderjahren und dürfte auf Mignon gemünzt sein. Sie lautet: „Die Botaniker haben eine Pflanzenabteilung, die sie Incompletae nennen; man kann eben auch sagen, daß es inkomplette unvollständige Menschen gibt. Es sind diejenigen, deren Sehnsucht und Streben mit ihrem Tun und Leisten nicht proportioniert ist." 29 Nehmen wir noch Goethes Notiz hinzu: „Mignon: Wahnsin des Mißverhältnisses", 30 so beginnt sich Mignons geheimnisvoller Zustand zu klären. Eine radikale Störung des Gleichgewichts ihrer Kräfte, die mit ihrer Existenz unlöslich verbunden ist, scheint der Unstern dieses Wesens zu sein. Sie kann dieser Störung nicht entwachsen, denn diese verhindert ja von Anfang an das Gedeihen ihrer Reife. „Sie kann nicht werden", wie der Harfner sagt. Die Natur dieses geheimen Mißverhältnisses aber identifiziert der Erzähler, wenn er bei geringfügigem Anlaß verlauten läßt: „Auch hier schien ihr Körper dem Geiste zu widersprechen" (II, 12, S. 135). Körper und Geist dieses unglücklichen Geschöpfes also leben auf Kriegsfuß. Das Mangelhafte, Unfertige von Mignons Körper, das sich in ihrem Tun und ihren Leistungen äußert, entspricht nicht dem Höhenflug ihres Geistes, seiner Sehnsucht und seinem Streben. So widersprüchlich 29 30

Maximen und Reflexionen. HA, 12, S. 532, N° 1238. WA, I, 21, S. 332: Goethe notiert „Wahnsin des Mißverhältnisses".

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sind diese zwei Extreme ihrer Existenz, daß man Mignon ein persongewordenes Paradox nennen könnte. Sie singt sich die Seele aus dem Leib, aber sie tanzt mechanisch wie ein aufgezogenes Uhrwerk. Sie liebt Wilhelm mit hingebender Leidenschaft, aber sie beißt ihn wie eine Mänade. Von schwerelosem Flug träumend, springt und klettert sie wie ein Affe — so der Urmeister —31 auf Felsen und Gipfel, auf Treppengeländern, Schiffen und Dachrinnen. Bei all ihren anrührenden Zügen ist sie eher „trocken" als schmelzend, eher befremdend als lieblich, eher streng als anschmiegsam. „Wie ein Wurm" windet sie sich auf der Erde (VIII, 3, S. 524), in häufigen und gefährlichen Krämpfen (II, 14, S. 143, VIII, 2, S. 513 und VIII, 3, S. 524). Es ist, als ob zwei unvereinbare Existenzen in einem einzigen Lebenskomplex zusammenwohnten; die eine, erd- und körperverhaftete, kommt der andern ständig in die Quere und hindert deren Äußerungen wie ein bleierner Hemmschuh. Erst als Mignon in ihrem letzten Lied ihre Verklärung vorwegnimmt, werden die Ketten leicht, die sie bei aller Schnellkraft schwer an den Boden gefesselt haben. Nicht, daß die Polaritäten aufgehoben wären, die mit ihrer Existenz selber gesetzt sind. Gerade hat sie am Boden gelegen, wie ein Wurm sich windend, sie, die jetzt ihr Neuerstehen singt. Und die Wilhelm „wie ein abgeschiedner Geist" (VIII, 3, S. 525) erschienen war, klettert noch immer: das paradoxe Kind singt sein Lied der Reife „mit unglaublicher Anmut" von einem hohen Pulte herab, in Frauengewändern und mit großen Flügeln. Wir erinnern uns des im Tagebuch verzeichneten, entscheidenden Ereignisses vom 30. Juli 1796 — Goethes Beobachtungen der Phalaena grossularia — und fragen nochmals, ob diese Entdeckung bei der Gestaltung der Figur Mignons mitgewirkt hat. Das durchgängig Paradoxe dieser Knaben=Mädchengestalt haben wir genugsam dargetan. Während Goethes Schmetterlingsexperimenten in den vorhergehenden Wochen und insbesondere an diesem Tage drängte sich seiner exakten sinnlichen Phantasie ein „Zwitter" auf, der, gerade wie Mignon (III, 11, S. 193), zwei extrem widersprüchliche Existenzen in einer umfassenden Lebensorganisation vereint: der Raupen=Schmetterling. Kein anderes Wesen in der Natur bezeugt eine derartige, bis zum Paradoxen gesteigerte Inkongruenz wie dieses. Was hat das Kriechtier mit dem Schmetterling gemein, dessen Heimat das Licht ist, der vom Äther lebt? Nichts, als daß die zwei in einer Haut stecken und daß in einer geheimnisvollen Verwandlung, die ein Sterben ist, eines 31

Wilhelm Meisters

Theatralische

Sendung, III, 10. WA, I, 51, 252 f.

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auf das andere folgt. Solch radikaler Umartung bedarf es, die die Raupe durchmachen muß, um als Falter zu erstehen. Ja, es bedarf der Spannweite zweier separater, durch das Ereignis der Metamorphose nur prekär miteinander verbundener Existenzen, dies Wunder der Verwandlung zu vollbringen. Auf Grund eben dieser Duplizität hat Goethe in seinen anatomischen Studien dieses Geschöpf zum Modell für höhere Lebensformen, ja für den Menschen gewählt. Denn bei aller Primitivität seiner ursprünglichen Raupenphase erhebt sich dieser Zwitter zu beträchtlicher Differenzierung. Er übersteigt gleichsam seine eigene Natur. Wäre es so verwunderlich, wenn hinter Mignon, die sich „wie ein Wurm" am Boden windet, deren Leben von „einem heimlichen Wurm" aufgezehrt wird, um „in früherer Reife" zu ihrer Verklärung zu eilen, das Symbol des Schmetterlings stünde? Und nicht nur hinter dem so paradoxen Menschenkind der paradoxe Zwitter, der es Goethe seit Jahr und Tag angetan hatte, sondern das Wesen, das sich seinen ungläubigen Augen am 30. Juli 1796 — zwei Wochen vor Beendigung seines Romanes also — dargeboten hatte? Eilt Mignons seelische Gestalt nicht mit eben der atemberaubenden Geschwindigkeit ihrer Vollendung zu, mit der die Flügel von Phalaena grossularia sich in gedrängtem Wachstum entfalten, einem Wachstum aus irdischen Bezirken zu höheren Sphären? Ist es nicht dies, was ihre Flügel und ihr Abschiedslied verkünden? Und begreift sie selbst nicht ihre Todesreife als ein Signal der Transzendenz? Dies allein genügt, um das Symbol, das hinter ihrer Gestalt geistert, zu identifizieren: denn allein im gesamten Reich der organischen Natur kündet der Schmetterling von einer Steigerung über die Natur, von einem Auferstehen jenseits des Todes. Und gäbe nichts anderes den Ausschlag, besagt die erste Zeile von Mignons Lied mit ihrem so radikalen „werde" nicht, daß wir in die Bezirke von Selige Sehnsucht eingetreten sind? In diesem von Goethe so lange Zeit unterschätzten Lied erblicken wir die Vorwegnahme von Mignons Apotheose —: ein geheimnisvolles, immer noch paradoxes Wesen, das, in seine Verpuppung hineingehend, seine Verklärung vorfühlt. Ihre Flügel, sagt Mignon, stellen schönere vor, „die noch nicht entfaltet sind" (VIII, 2, S. 515). Welch instinktives Wissen um ihr Lebensgesetz, welch morphologische Präzision auf Seiten des Dichters! Sahen wir doch, daß die anfanglich zerknitterten Flügel des neuerstandenen Geschöpfes (als welches Mignon sich fühlt) sich erst mit der Vollendung glätten. In einer Zwielichtaura zwischen der Finsternis des Todes und dem Neuerstehen als ätherische Lichtgestalt stellt der Dichter seine Mignon dar. Und — seien wir uns darüber im klaren — Goethe spricht hier von

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nichts Minderem als von der Auferstehung des Leibes. Vom „verklärten Leib" spricht Mignons Lied, von der Verklärung des Leibes spricht die in der Entdeckung von Phalaena grossularia gründende Flügelmetaphorik, vorbereitet von der des Springens und Kletterns, sowie die gesamte dahinterstehende Schmetterlingssymbolik. Anscheinend aus ironischer Distanz, unter der Hülle unglaubhafter Märchenhaftigkeit läßt Goethe so manches über Mignons Mutter Sperata verlauten, das dann doch verbindlicher wird, und zwar im Rückbezug auf Mignon. Eine dieser Äußerungen des Erzählers läßt einen besonders nachhaltigen Eindruck zurück: „Sie war, was wir tot nennen", lesen wir (VIII, 9, S. 591). Unmittelbar nach Abschluß des Meisters und kurz nach Beginn der Arbeit an Hermann und Dorothea schreibt Goethe an den Freund: „Auch werden Fisch und Vögel anatomirt, und geht alles neben einander seinen alten Gang." 32 Dies ist eine Halbwahrheit, eine von denen, die Goethe Schiller so gern auftischte, um sein unbewußtes Schöpferisches — wie die Pflanzen, die er im Dunkel aufzog — vor zu viel Licht zu schützen. Die ganze Wahrheit hat sich vor unseren Augen abgespielt: Goethe, der nicht am Mittag forschte und am Abend dichtete, sondern im Dichten forschend und im Forschen dichtend verfuhr; und dies ist ein diszipliniertes Ineinander, von dem wir keinen angemessenen Begriff haben. Eine mit gebändigter Erregung gemachte Entdeckung verkörpert sich ihm unter den Händen zu einer leidenschaftlich umworbenen dichterischen Erfindung —: die endgültige Gestalt der Mignon, welche jene Steigerung ins Unendliche einleitet, die dem Werk als Ganzem und dem abschließenden Buch im besonderen den notwendigen Auftrieb gibt. Da ist keine Zweigleisigkeit, wie Goethes „neben einander" anzudeuten scheint, geschweige denn eine reinliche Trennung der Sphären. Wie ein elektrischer Funke springt es über, und die anscheinend separaten Nervenbahnen laufen zusammen. Wir werden diesem ebenso seltenen wie seltsamen Phänomen noch des öfteren begegnen und dem Grund für dessen Möglichkeit in Goethes geistiger Struktur nachspüren. 33 4. Bislang haben wir ausschließlich von der überragenden Gestalt des achten Buches des Meister gesprochen und erörtert, wie weit diese von der 32 33

Am 18. Oktober 1796. WA, IV, 11, S. 236. Siehe Kapitel 8 dieser Studie.

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Entdeckung des 30. Juli geprägt wurde. Wir schreiten fort und fragen, ob ein Niederschlag dieses Ereignisses auch in der inneren Struktur des Buches aufzufinden sei. Goethe selbst bestätigt dies. Den Grundsatz der Stetigkeit hat er als den roten Faden seiner wissenschaftlichen Studien gepriesen, 34 und er versprach, diesen jetzt auf die elementaren und geistigen Naturen seines Romans anzuwenden. In der Tat, im folgenden Absatz hatte er sich zu der leicht abenteuerlichen Behauptung verstiegen, mit diesem Grundsatz allein als Hebel und Handhabe gedenke er seine schweren Unternehmungen auszuführen. Dies schrieb er am 30. Juli, dem Tag also, an dem er Schiller seine an Phalaena grossularia gemachte Entdeckung geflissentlich verschwieg. Wiederum begegnen wir hier einem raffinierten Abschirmungsmanöver, mittels dessen Goethe dem im Grunde so andersartigen Freunde mehr vorenthält als er ihm offenbart. Denn Stetigkeit war keineswegs das Eigentliche, das Goethe bei der Beobachtung des Wachstums von Phalaena grossularia so beeindruckte. Vielmehr war es die fast unglaubhafte simultane Ausdehnung der Flügel — um das Dreifache ihrer ursprünglichen Länge in zwölf Minuten! Eine geordnete Explosion könnte man den Anblick nennen, der sich dem Dichter darbot. Warum aber überwältigte Goethe dieser Anblick so? Weil er in dem, was sich da vor seinen Augen ereignete, ein Analogon schöpferischer Bildung sah, die, von innen nach außen, von einem komplizierten Bauplan geleitet, in all ihren Teilen gleichermaßen wächst; — und zwar in Teilen, die sich bei dieser ihrer Zunahme nicht wechselseitig hemmen, sondern einander modifizieren, widerspiegeln und bekräftigen. Derart mußte eine Organisation sein, sollte sie mit der Natur wetteifern. Von Anfang an mußte auch in einer geistigen „Lebensorganisation" alles da sein, was sich später entfalten sollte, „nur alles kleiner und näher", wie Goethe es in seiner Studie über Phalaena grossularia formuliert. Kein Wunder, daß er ob eines solchen Prototyps dreidimensionalen Wachstums erregt war, angesichts der puren Masse seines Meister, die jetzt, am letzten Ende, nochmals in Bewegung zu setzen, zu lichten und zu läutern war! Uber die Bedingungen eines solchen rapiden Wachstumsprozesses und seiner Endphase haben wir eine Goethesche Maxime namens Conflicte: „Sprünge der Natur und Kunst. Eintretender Genius zur rechten Zeit. Element genugsam vorbereitet. 34

An Schiller, 30. Juli 1796. WA, IV, 11, S. 143 f., siehe auch an Schiller, 10. August 1796. WA, IV, 11, S. 153.

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Nicht roh und starr. Auch nicht schon verbraucht. Eben so mit der Organisation." „Hier springt die Natur auch nur," fahrt der Verfasser fort, „insofern alles vorbereitet ist, als ein Höheres, in die Wirklichkeit Tretendes, zur eminenten Erscheinung gelangen kann." 35 Diese Zeilen sind erst im Jahre 1814 oder danach zur Abschrift gelangt. Die eigenhändige Vorlage, auf der sie vermutlich beruhen, existiert nicht mehr. So gibt es keine äußeren Indizien für ihre Datierung. Ich mutmaße, daß Goethe sie am 30. Juli 1796 niedergeschrieben hat, am Tage seiner Beobachtung von Phalaena grossularia also, spätestens aber zwei Jahre danach, zur Zeit seiner Fortsetzung der Zauberflöte. Denn drücken sie nicht genau das aus, was Goethe an jenem denkwürdigen Tage vor sich sah? „Eine geordnete Explosion" habe ich jenes plötzliche Wachstum genannt, das Goethe mit eigenen Augen beobachtete. Das Vokabular der Maxime aufgreifend, könnte man genauso richtig von einem geregelten Sprung sprechen. Hier fand nach langer und langsamer, stetiger Entwicklung des verpuppten Insektes auf einmal ein kolossaler Schub im Wachstum statt; nur die Winzigkeit des Objektes verhinderte es, dessen Bewegung mit bloßem Auge zu beobachten. Diese schnelle Entwicklung ereignet sich sogleich nach dem Ausschlüpfen des Insektes aus der Chrysalide. In dieser ist alles vorbereitet worden; unter ihrer Hülle hat der scheintote Körper alles Rohe teils abgelegt, teils in höhere Strukturen verwandelt, und zwar mittels eines Saftes, der sich, zunehmend verfeinert, wie Goethe Schiller in dem Nachwort seiner Beschreibung des Phänomens erklärt. 36 Auch ihr Starres hat die zu neuem Leben erstandene, ganz unverbrauchte Puppe abgelegt. Und nun treten die Flügel in die eminente Erscheinung, Signatur eines Höheren, Edleren, und der ätherische Schmetterling wird zum Emblem des eintretenden Genius. Nicht nur die Verwandtschaft dieser Maxime mit dem Phänomen von Phalaena grossularia drängt sich auf: auch ihre Relevanz für Goethes Roman ist offenbar. Von vielfältiger Masse überquellend, hat dieser dennoch alles Rohe abgetan, zum Beispiel das Theaterwesen oder auch Figuren wie den merkantilen Mehna. Von Mariane und Philine, sowie von der schönen Seele, Aurelie und Therese hat er sich zu der sowohl sittlich als

35 36

WA, II, 11, S. 163. Am 6. August 1796. WA, IV, 11, S. 154.

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auch ästhetisch unvergleich höheren Stufe der schönen Amazone emporgearbeitet. Alle erst soeben geklärten Verhältnisse, jung und unverbraucht, streben einem neuen Anfang entgegen. Die gesamte Materie ist im Fluß. Noch aber fehlt eine letzte Raffung, ein entscheidender Aufschwung zu schwerelosen, lichten Regionen. Da tritt Mignon, deren Element von jeher Klettern und Springen ist, in die „eminente" Erscheinung, in dem Augenblick, da sie aus der äußeren Erscheinung zurücktritt. In ihrem unaufhaltsamen seelischen Wachstum erhebt sie sich wie die Blume aus dem Blätterwerk der übrigen Figuren. Jung ist sie und unverbraucht, doch abgeklärt und milde, in einer schon nicht mehr irdischen letzten Vollendung. Und so wie die Flügel des jungen Falters sich zur gleichen Zeit in allen Richtungen ausdehnen, so ist es auch hier, im seelischen Bereich. Auf der Höhe ihres seelischen Wachstums sieht dieses seltsame Geschöpf in einer simultanen Schau das über zwei so disparate Existenzen sich erstreckende Paradox seines Lebens: einen Tod, in dem es seine Verklärung im voraus als ein Gegenwärtiges fühlt, das das Seiende von allen Schlacken reinigt. In dieser komplexen Zusammenschau fließen Vergangenes und Zukünftiges in einer geisterhaften Gegenwart zusammen, und Mignon steht auf dem Höhengrat nicht nur einer symbolischen Sicht, sondern symbolischen Seins, „wie ein abgescniedner Geist". Schon ein anderer Charakter aus Goethes Roman hatte diesen Grat zeitweilig betreten — Lothario, als ihm gegen Ende des siebenten Buches das Bild seiner früheren Geliebten mit dem von ihrer Muhme in einer Anschauung zusammenfloß. „Es war meine Geliebte und war es nicht", sinnt er rückblickend (VII, 7, S. 466); und: „...so stand ich in der sonderbarsten Gegenwart zwischen der Vergangenheit und Zukunft, wie in einem Orangenwalde, wo in einem kleinen Bezirk Blüten und Früchte stufenweis nebeneinander leben." (VII, 7, S. 470 f.). Diese Gabe der wirklichkeitsnächsten, welthaltigsten und gegenständlichsten aller Gestalten des Romans erteilt nun der Dichter der weltund wirklichkeitsfremdesten aber auch der musischsten Figur des ganzen Werkes zu — Mignon. Beide, der hochbewußte, helle Lothario sowie das instinktgeführte, dumpfe Wesen reflektieren ihren Zustand; nur daß das Mädchen den Mann übertrifft. Denn was Lothario derart zusammenschauend reflektiert, ist peripherisch und episodisch; Mignon aber reflektiert das Rätsel ihrer Gesamtexistenz, ja, fast möchte man sagen, der menschlichen Existenz als solcher. In solcher Höhenluft klären sich die noch eben so verschlungenen Verhältnisse auf. Lothario liebt die ihm gemäße Therese, Wilhelm liebt

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Natalie. Beide Paare erlangen ihre Vollendung in der Wirklichkeit des Lebens, das erste im praktisch^,,ökonomischen", das letztere im ästhetisch» sittlichen Raum. Mignon dagegen liebt den Vater — heiße er nun Gott oder Vaterland oder Wilhelm — und erfüllt sich im Transzendenten. Wo die andern wirklich werden und sich ¿^stimmen, stimmt sie sich ein in die Unendlichkeit. Aber die Verhältnisse klären sich nicht bloß: sie verklären sich auch. Durch die Vision des abscheidenden Kindes mit seiner Lilie können sie nunmehr als Durchgang zu einer ganz anderen Reihe von Verhältnissen begriffen werden: zu jenen der „himmlischen Gestalten", denen Mignon in sprungartigem Wachstum entgegeneilt. Sind diese nicht die Vorbilder der beschwichtigten Figuren zu Beginn der Wanderjahre, und sind Joseph der Zweite und dessen Gattin Maria nicht ihrerseits die Modelle von Wilhelms und Natalies entsagungsvollem Lieben? Das Schlüsselereignis aber zu jenem Wachstum an Selbstverständnis aller Figuren ist Mignons eintretender Genius, der paradoxerweise das achte Buch sowie den Roman als Ganzes auf eine gesteigerte Stufe der Reflexion hebt, und auch hiermit Schillers Forderungen auf eine nie zu vermutende Weise Rechnung trägt. 5. Noch verbleibt uns, dem irdischen Nachleben Mignons im Gedächtnis anderer Gestalten nachzuspüren. Wir wenden uns zur Lago MaggioreEpisode im siebenten Kapitel des zweiten Buches der Wanderjahre-, und zwar gewinnen wir unseren Zugang durch eine kurze Betrachtung des Endes von Kapitel fünf, dem sich die italienische Erzählung fast unmittelbar angliedert. Den Mann von fünfzig Jahren haben wir in all der Intensität seiner novellistischen Geschlossenheit erlebt, als auf einmal die Figur Makaries aus der Rahmenerzählung in Erscheinung tritt und helfend in die Wirren eingreift. Dies — neuartige — Zusammenfließen von novellistischem Einschub und Haupterzählung verursacht eine doppelte Wirkung auf den Leser: die Mauern des für die Novelle ausgesparten Raumes sind niedergelegt, und das löst eine Ernüchterung aus, die sich in steigendem Maße über Novelle und Rahmenerzählung erstreckt. Was eine Welt für sich war, wird — wie im Kino, wenn die Lichter angehen — seiner Magie entkleidet; und die so sporadische Rahmenerzählung erst recht wird zeitweilig ihrer fiktionalen Eigenständigkeit entblößt. Andererseits aber wird solche Verwischung der Perspektiven durch die außergewöhnliche Strahlkraft der Gestalt Makaries wettgemacht.

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Dergleichen Perspektivenwechsel finden sich in ungleich stärkerem Maße im siebenten Kapitel wieder. Durch Hilarie, die feinsinnigste Figur der vorhergehenden Novelle, sowie die mittels Makaries Einwirkung gesteigerte Gestalt der schönen Witwe fließen nunmehr der Rahmenerzählung neue dichterische Energien zu, und die soeben noch entzauberte Geschichte wird jetzt zu einem machtvollen Vehikel des Poetischen. Was indes diese Überhöhung im besonderen bewirkt, ist die geistige Gegenwart der toten Mignon, auf deren Spuren die Wanderer sich bewegen. Was aber geschieht nun, wenn der selbst zwischen Realität und Fiktion schwebende junge Maler Mignons Schicksal nachforscht, als wäre sie eine Person von handfester Wirklichkeit? Was, wenn wir hören, der Marchese der — so meinen wir — längst vergangenen Lehrjahre sei von seiner Reise noch nicht zurückgekehrt? Mit einem Schlage beraubt diese dichterische Strategie die Lehrjahre ihres fiktionalen Charakters. Der feste Boden wird uns unter den Füßen fortgezogen, und wir teilen jenes Schwanken auf dem unsicheren Element, welches die Bewußtseinsform der Figuren selbst ist. Nicht ironische Illusionszerstörung, sondern ontologische Verunsicherung und Verfremdung in einer Wirklichkeit, die nunmehr selbst als geisterhaft wirklich=unwirklich empfunden wird, sind das Ergebnis solcher Einbrüche, in erster Linie für die Figuren, in zweiter für den Leser. Wiederum: was geschieht mit der Romanfigur Wilhelm, nun da Mignon eine gleichsam historische Wirklichkeit zugebilligt worden ist? Wird er nicht sozusagen in zwei Gestalten aufgespalten, in eine, die der Lehrjahre, die historisch=vergangen ist, sowie in eine andere, potenziert poetische, die in dem mit dichterischen Energien geladenen Raum der jetzigen Rahmenerzählung lebt? Von ihm könnte man das sagen, was der alte Goethe von sich selbst zu sagen beliebte: er wäre sich selbst historisch geworden. 37 Sein vergangenes Selbst hat sich, gleichsam objektiviert, von ihm gelöst, und damit wird sein gegenwärtiges Selbst in ein ungewisses und gespenstisches Zwielicht zwischen Sein und ästhetischem Schein gerückt. Hier, unter der Schutzherrschaft von Mignon, wird jenes geisterhafte Verschlungensein von Gegenwart und Vergangenheit nochmals durchgeprobt, mit dem wir bereits von Lothario und in größeren Ausmaß von dem „anmutigen Scheinknaben" her vertraut sind.

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In einem Brief an Wilhelm von Humboldt vom 1. Dezember 1831. WA, IV, 49, S. 165. Siehe auch den Brief an J. F. Hecker vom 7. Oktober 1829. WA, IV, 46, S. 96; ferner Maximen und Reflexionen. HA, 12, S. 395, N° 219.

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Die sensibelste der vier Gestalten, Hilarie, erliegt denn auch alsbald diesem atmosphärischen Zauber, „...wenn die Anmut einer herrlichen Gegend uns lindernd umgibt, wenn die Milde gefühlvoller Freunde auf uns einwirkt", schreibt der Erzähler, „so kommt etwas Eigenes über Geist und Sinn, das uns Vergangenes, Abwesendes traumartig zurückruft und das Gegenwärtige, als wäre es nur Erscheinung, geistermäßig entfernt." (II, 7, S. 233) Ja, binnen kurzem wird das gedrückte Mädchen sich zu schöpferischem Tun erheben, das diesem Gewahrsein angemessen ist. Schüchternen Naturells, fangt Hilarie schließlich zu malen an. Ihr Geschick wächst rapide — „und" — lesen wir — „so schließt sich die schönste Fähigkeit unvermutet zur Fertigkeit auf: wie eine Rosenknospe, an der wir noch abends unbeachtend vorübergingen, morgens mit Sonnenaufgang vor unsern Augen hervorbricht, so daß wir das lebende Zittern, das die herrliche Erscheinung dem Lichte entgegenregt, mit Augen zu schauen glauben" (II, 7, S. 238). Sind wir auf diesen Seiten einer analogen Erscheinung nicht schon einmal begegnet? Wiederholt sich hier das Phänomen von Phalaena grossularia nicht noch einmal in einer anderen Reihe von Lebewesen? Hier wie dort das wundersame, simultane Wachstum „vor unsern Augen" oder „im Quadrate", und hier sowie dort der schließliche „Sprung der Kunst und Natur": das unvermutete Reifen einer künstlerischen Anlage, das in die Blume Brechen der Knospe, oder, wie dort im entomologischen Raum, das Entfalten junger Flügel. In solchem Schauen, in solchem geistigen Vollzug des Mysteriums organischen Lebens aber liegt der Keim einer gespensterhaften Verfremdung. Nicht nur über dieser Geisterhaftigkeit, die sich schließlich über die ganze Szene wie ein schimmernder Nebel niedersenkt, herrscht Mignons leuchtender Schatten. Auch die gesteigerte seelische Aktivität der Charaktere ist ihr Werk. Letztlich das Italienlied, das der Maler anstimmt: es spricht von ihr, deutlicher als jedes andere Lied ihrer Erfindung dies zu tun vermocht hätte. Denn das unzeitgemäße Nebeneinander von Blüte und Frucht in der Orange — Lothario hatte das Thema präludiert — läuft ja auf das simultane Wachstum des Auseinanderliegenden hinaus —: spricht also wieder von einem jener „Sprünge der Natur", die den eintretenden Genius verkünden. Die unwirkliche Empfindung „der sonderbarsten Gegenwart zwischen der Vergangenheit und Zukunft" ( L J VII, 7, S. 470 f.) ist eine symbolische, die im dunklen Laub glühende Goldorange jedoch, in der uns diese Empfindung gleichsam von außen, als körperliche Gestalt, entgegentritt, ist das Symbol des Symbols. Mithin ist es Mignon, die Verfasserin des Liedes, die, selbst gleichsam nur

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aus Sehnsucht und Sprüngen bestehend, zeitlich und eher symbolisch als real über dem sehnsuchts- und entsagungsvollen Ausklang der Szene waltet. Sie ist es, die die gewaltige Steigerung der gesamten Gefühlsskala von dem abschließenden, achten Buch der Lehrjahre zu einem der dichterischen Glanzpunkte der Wanderjahre bewirkt. Niemand anders als ihr zurückbeschworener Genius hat dem Dichter zu dieser lyrischen Klimax die Feder geführt. Und hinter Mignon „Das schönste Phänomen, das ich in der organischen Natur kenne (welches viel gesagt ist)" —: Phalaena grossularia.

Der geflügelte Genius Gedanken zu Goethes Der Zauberflöte Zweiter Teil ...Kaum ist er erzeugt so ist er auch geboren Er springt und tanzt und ficht... Goethe

1. Kritiker haben des öfteren vermerkt, das Trio Tamino, Pamina und deren neugeborenes Kind sei eine dichterische Vorwegnahme jener späteren „köstlich drei" — Faust, Helena und Euphorion. Und damit hat es seine Richtigkeit. Die liebend sorgenden Eltern, das springende und entfliegende Kind, dessen Todessucht — auch der Genius der Zauberflöte sollte seinen Eltern wieder entschwinden, einem unbekannten Lose zu —: das sind Parallelen, die ernst genommen zu werden verdienen.1 Und in der Tat, der Übereinstimmungen sind mehr, als man bislang vermutet hat. Dies aufzuzeigen ist die Absicht meiner Betrachtungen hier sowie des folgenden Kapitels. Ich beabsichtige nicht, meinen Lesern eine erschöpfende Auslegung des Singspiels vorzulegen. Mein Anliegen ist lediglich, eine bislang unbeachtete Symbolschicht an das Licht des Tages zu fördern, mit der sich — so meine ich — eine künftige Interpretation auseinanderzusetzen haben wird. Im Kontext dieses Buches will der hiesige Blick auf Der Zauberflöte Zweiter Teil — 1798 zum letzten Male in Angriff genommen — als Mittelstufe zwischen dem 1796 endgültig zum Abschluß gebrachten Mignon-Teil der Lehrjahre und dem Beginn des Helena-K)sXe,s von Faust II um die Jahrhundertwende angesehen werden, der erst im Herbst 1826 zu voller Reife gedeihen sollte. 2.

Einer unserer namhaftesten Interpreten hat sich mit der Genese und dem Aussagegehalt von Goethes Singspiel auseinandergesetzt und die Motive 1

Siehe AGA, 6, Einführung S. 1254 und Oskar Seidlin, Von Goethe Zwölf Versuche, Göttingen 1969, S. 51.

Thomas

Mann.

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der freimaurerischen Geistergemeinschaft, des Urkampfes zwischen Finsternis und Licht, und schließlich den Triumph keimenden Lebens als die eigentliche Mitte von Goethes Libretto herausgestellt. Seiner Auslegung zufolge fällt dem Dunkel, der Nacht, eine schlechterdings lebensfeindliche Rolle zu. Oskar Seidlin — denn von ihm spreche ich — 2 zieht mehrfach das Credo Mephistos {Faust I, Z. 1349 — 1358) als Parallele zu Wort und Wirken der Königin der Nacht heran, um deren durchweg zerstörerische Rolle in Goethes dramatischer Ökonomie zu kennzeichnen; und was dieser Kritiker schreibt, ist immer wahr. Indes, ist es die ganze Wahrheit? Beginnen wir mit der Erinnerung, daß der Teufel zu dem Haushalt des Herrn gehört, ja, zur Freilegung der kreativen Kräfte des von innerer Faulheit bedrohten Menschen unerläßlich ist. In dieser Studie habe ich mehrfach auf Goethesche Gedankengänge hingewiesen, in denen dem Teufel oder auch dessen Kreaturen eine Art Ehrenrettung zugebilligt wird. 3 Könnte dies auch hier der Fall sein? Denn wie steht es bei Goethe um die Finsternis, die Nacht? Entstammt Helena nicht dem Schoß der alten Nacht? 4 Sucht Faust die Geliebte nicht bei Manto und Proserpina, und findet er sie nicht bei den Müttern? Entwindet sich alles von der hohen Sonne Beschienene nicht letztlich dem nächtlichen Chaos der Klassischen Walpurgisnacht? Ja, ist nicht auch in rein umgrenzten menschlichen Bezirken die Nacht die Schutzherrin der Liebe? Singt Philine nicht von den Freuden der Nacht, der schönsten Hälfte des Lebens? 5 Und wünscht Hermanns Mutter nicht dessen Braut herbei, „daß dir werde die Nacht zur schönen Hälfte des Lebens"? 6 Finden die Liebenden der Römischen Elegien sich nicht unter der bergenden Hülle der Nacht? Lieben Helena und Faust nicht tief im Verborgenen, in einer Welt von Höhlen? Und ist die Frucht eben dieser Verbindung nicht der apollgleiche Euphorion? In der Tat, nicht nur im erotischen Bereich entrichtet Goethe der Nacht seinen Zoll. Auch für die an Leib und Seele Siechen ist sie segensreich. Man denke an Orests Heilschlaf, in dem der vom Schicksal Geschundene wunderbar gesundet; oder an den Faust von Anmutige Gegend, dem in den „Weilen" einer gütigen Nacht neue Lebenskraft zuströmt. In seinem langen

2 3 4 5 6

O. Seidlin (Anmerkung 1), S. 47 f. Siehe Kapitel 6 und 8. Siehe Kapitel 18 dieser Studie. Wilhelm Meisters Uhrjahre V, 10, HA, 7, S. 317. Hermann und Dorothea, 4. Gesang, HA, 2, S. 466.

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Schlaf wird Epimenides die unschätzbare Gabe zuteil, das, was ist, klarstens zu durchschauen. Und gleich erschien durchsichtig diese Welt, Wie ein Krystallgefaß mit seinem Inhalt. —7 Später wiederum lernt er, in nächtigem Schlaf vor den Greueln eben dieser Gegenwart beschützt, rein zu empfinden. Indes, nicht nur den Lebenden, dem keimenden Leben selbst ist die Nacht von größtem Gewinn. Goethe empfand innige Freude an Samenkapseln, die er im Dunkeln aufzog und die des Nachts ihr Aufspringen gegen die Decke eines verschlossenen Kästchens durch prasselnden Lärm verkündeten; ein Erlebnis, das noch in dem letzten Vers des DivanGedichtes An vollen Büschel^weigen nachschwingt, wo es heißt: Die Schale platzt, und nieder Macht er sich freudig los... Am nachdrücklichsten aber hat Goethe dieser Überzeugung als Morphologe Ausdruck verliehen. „Alles Lebendige wirkt im Verborgenen", schreibt er apodiktisch, „bedeckt, verschlossen unter einer Haut"; 8 und, wiederum, in Die Absicht eingeleitet: „...ein wichtiger Grundsatz der Organisation: daß kein Leben auf einer Oberfläche wirken und daselbst seine hervorbringende Kraft äußern könne; sondern die ganze Lebenstätigkeit verlangt eine Hülle, die gegen das äußere rohe Element, es sei Wasser oder Luft oder Licht*, sie schütze, ihr zartes Wesen bewahre, damit sie das, was ihrem Innern spezifisch obliegt, vollbringe. Diese Hülle mag nun als Rinde, Haut oder Schale erscheinen, alles was zum Leben hervortreten, alles was lebendig wirken soll, muß eingehüllt sein." 9 Eingehüllt sein aber heißt im Dunkeln sein. Nicht nur die Liebe, nicht nur seelisches Siechtum, nein: „die hervorbringende Kraft" selbst, „die ganze Lebenstätigkeit" ist also nach Goethe auf die bergende Hülle nächtlicher Finsternis angewiesen. Wenn demnach Seidlin konstatiert, die Königin der Nacht werde „zum Symbol des nächtlichen Dunkels..., ^u jener grausam zerstörerischen Macht, die den Mantel der Vernichtung über alles Lebendige deckt"*,w so sind wir angesichts der begrenzDes Epimenides Erwachen, 3. Auftritt, HA, 5, S. 369, Z. 96 f. Botanik. Fragmente. AGA, 17, S. 197. * Hervorhebungen I. G. 9 Die Absicht eingeleitet, HA, 13, S. 58 f. 10 Seidlin (Anmerkung 1), S. 48. 7 8

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ten Gültigkeit dieser Aussage gedrungen, deren Wahrheitsanspruch für Goethes Singspiel mit aller Vorsicht abzuwägen. Wiederum: in Goethes Libretto muß alles, was dem Leben hold ist, wandern. Sarastro, Tamino und Pamina, ja, selbst die Löwen der feindlichen Wächter — sie alle wandern. Seidlin vermerkt dieses rätselhafte Motiv und erkennt völlig zutreffend dessen Affinität zu der Idee der Metamorphose. „Wandern", „wandeln" sowie auch „wallen" sind in Goethes Werk in der Tat nahezu auswechselbare Worte für ein und dasselbe Geschehen, das wir mit dem Ausdruck „sich wandeln" bezeichnen. Ja, Seidlin sieht in diesem Bildfeld geradezu eine Vorwegnahme der Botschaft von Selige Sehnsucht.11 Diese Einsicht sei dankbar vermerkt. Was aber geschieht, wenn der Interpret zur Erhärtung seiner These der Wandersymbolik hier „das Ethos der praktischen Tätigkeit" 12 etwa des greisen Faust zur Seite stellt, so, wie dieser es in seinen Abschiedsworten bezeugt? Wird damit der Hinweis auf das Stirb und werde der Divan-Vetse nicht so gut wie entkräftet? Denn diesem zweiten Fingerzeig nach geht es ja in dem Gebot, zu wandern, dem wir in Goethes Singspiel immer wieder begegnen, um ein Symbol spezifisch menschlich-sittlichen Tuns, während Selige Sehnsucht von zutiefst triebgebundenen Verhaltensmustern kündet, die mit moralischen Antrieben herzlich wenig zu tun haben. Meines Dafürhaltens steht das Motiv des Wandeins in Der Zauberflöte Zweiter Teil der Botschaft von Selige Sehnsucht beträchtlich näher als dem Ethos praktischer Bewährung oder, in Seidlins Worten, „tüchtigen Bewegtseins", 13 wie der Dicher es der landläufigen Meinung nach in den Wanderjahren oder im Schlußakt des zweiten Faust ausgestaltet haben soll. Und da uns die vorhergehenden Betrachtungen unversehens auf entlegene morphologische Bahnen geführt haben, so schlage ich vor, daß wir unser Glück in dieser Richtung versuchen. 3. In den wenigen Seiten von Goethes Singspiel fallen in der Tat die zart aufeinander abgestimmten Worte vom wandern, wallen und wandeln nicht weniger als zehnmal; und „wandeln" meint stets sowohl „wandern" als

» Ebenda, S. 46. 12 Ebenda, S. 47. 13 Ebenda, S. 46.

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auch „umwandeln". Die offenkundige Wichtigkeit dieser Metaphern hier spiegelt die Bedeutsamkeit dieses Zwillingsmotivs in Goethes Werk als Ganzem zurück. Einige wenige Beispiele mögen uns eine Anschauung davon vermitteln. Man denke an Orestes' Pilgerschaft zu der Schwester, die in der umwandelnden Wanderung durch das Totenreich Gipfel und Erfüllung findet. Göttergleich und ähnlich scheinen die wandelnden Gestalten (III, 2, Z. 1272 f.), sagt er, als er dort seiner Ahnen ansichtig wird; und dies, ihr „wandeln", das körperliche Bewegung und Wandlung ihres blutbefleckten Verhältnisses in einem meint, befähigt ihn selbst zu einer durchgreifenden Wandlung, die seine Irrfahrt zum Abschluß bringt. Daß der Liebende in der Metamorphose der Pflanzen der Geliebten die Gesetze der Wandlung durch den gemeinsamen Garten wandelnd darlegt, ist wahrlich kein Zufall! Auch für das lyrische Ich des Gedichtes An den Mond liegt die Affinität zwischen dem wandelnden Fluß und jenem inneren Strom von Gestaltung-Umgestaltung, der durch das Labyrinth seiner Seele „wandelt", klar zutage. Die Paria-Frau, „reiner Sitte, holden Wandels", muß ihr starres Festhalten an überkommenen Formen teuer bezahlen. Ihr aber, und nur ihr, „die der Schmerz zur Göttin wandelt", ist es dafür auch gegeben, die gänzlich Verworfenen, die sich endlich erlöst wissen, einem neuen „Werde" zuzuführen: „Alle hast du neu geboren." Dem Gatten und Sohn jedoch gilt ihre inständige, aus Wissen geborene Bitte: Wandert aus durch alle Welten, Wandelt hin durch alle Zeiten... (Z. 121 f.): Denn nur stetig wandelnd vermögen sie bei dem „Verwandlungsgeschäft" 14 mitzuhelfen, das ihr zum unselig=seligen Los geworden ist. Kehren wir zu Goethes Singspiel zurück. Nicht nur müssen sich dessen Figuren in ständiger Bewegung erhalten, um das in seinem Sarg eingeschlossene Neugeborene vor frühem Tod zu retten. Das Kind selbst regt sich in seinem Sarg, und dieser regt sich mit. Der wandelnde Chor spricht dieses Gesetz mit allem Nachdruck aus: So wandelt fort und stehet niemals stille, Das ist der weisen Männer Wille, 14

Ein Wort, das Goethe mehrfach zu dieser Zeit in eben diesen entomologischen Zusammenhängen verwendet. Siehe z. B. Punkte %ur Beobachtung der Metamorphose der Raupe. NG 152. LA, 10, S. 182.

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Vertraut auf sie, gehorchet blind; Solang ihr wandelt, lebt das Kind. 15 Und von diesem selbst heißt es wie folgt: Wenn mit betrübten Sinnen Wir wallen und wir lauschen, So hören wir da drinnen Gar wunderlich es rauschen. Wir fühlen was sich regen, Wir sehn den Sarg sich bewegen, Wir horchen und wir schweigen Auf diese guten Zeichen. Und nachts, wenn jeder Ton verhallt, So hören wir ein Kind, das lallt. 16 Tamino sekundiert — und hier verschmelzen die Zwillingsmotive des Wanderns und des inneren Sich-Regens —: Bewegt euch immer fort und fort! Bald rettet uns mit heiiger Weihe Sarastros lösend Götterwort. Lauschet auf die kleinste Regung, Meldet jegliche Bewegung Dem besorgten Vater ja. 17 „Wir fühlen was sich regen, wir sehn den Sarg sich bewegen...". Und wir fragen: was ist das für ein Sarg, und was enthält er? Särge bewegen sich gemeinhin nicht, selbst wenn das, was sie bergen, nicht im gewöhnlichen Sinne tot ist. Der Sarg Ottiliens, die noch im Tode Heilkräfte ausstrahlt, steht reglos. Dasselbe gilt von dem Katafalk Mignons, die, wie ihre Mutter Sperata, unverbrüchlich an ihr Weiterleben glaubt. Ihr marmorner Sarkophag steht fest gegründet wie ein Fels. Wenn wir also Goethe nicht der barsten Phantasterei zeihen wollen, so handelt es sich im Falle dieses besonderen Behältnisses nicht um Glas, wie bei Ottilie, noch auch um Marmor, wie bei Mignon, sondern um eine organische Textur, die zu ihrem regsamen Inhalt in der innigsten Verbindung steht. Was aber mag das rätselhafte Gebilde sein?

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AGA, 6, S. 1096. Ebenda, S. 1097.

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Ebenda, S. 1097 f.

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Wieder ist es ratsam, zur Erhellung dieser Frage einige verwandte Stellen aus Goethes Werk heranzuziehen, in denen die Metapher eminente Verwendung findet. Denn „regen", „sich regen", ist eins von Goethes Schlüsselworten. Am nachdrücklichsten hat er es in den zwei späten Gedichten Eins und Alles und Vermächtnis verwendet, deren anscheinend polar=strukturierte Aussagen, durch den identischen Satz Das Ew'ge regt sich fort in allen... miteinander verzahnt, inhaltlich verknüpft werden. Zu Anfang von Vermächtnis lesen wir: Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen! Das Ew'ge regt sich fort in allen, Am Sein erhalte dich beglückt! 18 Dies ist die im Jahre 1829 verfaßte Replik auf die sieben Jahre früher geschriebenen Endzeilen von Eins und Alles, die, scheinbar apodiktisch, in dem bekenntnishaften Vers gipfeln: Es soll sich regen, schaffend handeln, Erst sich gestalten, dann verwandeln; Nur scheinbar steht's Momente still. Das Ew'ge regt sich fort in allen, Denn alles muß in Nichts zerfallen, Wenn es im Sein beharren will. 19 Das Widersprüchliche dieser zwei Gesamtaussagen auszuglätten ist hier nicht der Ort. Zudem hat Erich Trunz es bereits erfolgreich getan. 20 Werfen wir stattdessen einen kurzen Blick auf die zwei letzten Verse von Eins und Alles, auf deren Verschränkungen und Widerspiegelungen, und beachten wir die Richtung, in der sich Goethes Argument zu bewegen scheint. Nicht nur fallt „regen" zweimal von innerhalb vier Zeilen (Z. 18 und Z. 22); das „beharren" der letzten Zeile — so gänzlich anders in seinem Ausdrucksgehalt als das entsprechende „Am Sein erhalte dich beglückt" — verweist durch Binnenreim auf das vorhergehende „Starren", so wie das „Erst sich gestalten, dann verwandeln" offenbar eine Variation des „...umzuschaffen das Geschaffne" des vorletzten Verses darstellt.

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HA, 1, S. 369. Ebenda. Ebenda, S. 733.

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Die Vermutung, daß wir uns hier auf morphologischem Urgrund befinden, scheint unabweislich. Wie definiert Goethe doch die Morphologie? Sie ist — so lesen wir — „die Lehre von der Gestalt, der Bildung und Umbildung der organischen Körper* ..."•,2X und wiederum, in Der Inhalt bevorwortet: „Als ich mir genügsame Fertigkeit erworben, das organische Wandeln und Umwandeln* der Pflanzenwelt... zu beurteilen..., fühlte ich mich gedrungen, die Metamorphose der Insekten... näher zu kennen." „Diese leugnet niemand: der Lebensverlauf solcher Geschöpfe ist ein fortwährendes Umbilden*, mit Augen sehen und mit Händen greifen.1'21 Kehren wir zu unserm Singspiel zurück, und zu dem Kind, das sich samt seinem Sarge regt. Offenbar sind für den Erfinder dieses seltsamen Motivs das „sich Regen" einerseits, und andererseits das sich Bilden und Umbilden, das Schaffen und Umschaffen sowie das Gestalten und sich Verwandeln eng verwandte Vorstellungen. Dies hat uns der kurze Blick gelehrt, den wir auf die zwei Altersgedichte Goethes sowie auf ein oder zwei seiner theoretischen Äußerungen getan haben. Und bereits jetzt können wir diese Aussage wagen: die Königin der Nacht verkörpert nicht das Böse per se. Sie ist nur insofern böse, als sie sich in ihrer Domäne versteift und als das alleinige Prinzip des Daseins gelten will. Indem sie das tut und auf ihrem Wesen, ihren absoluten Herrschaftsrechten und ihrem Besitz beharrt, „waffnet" sie sich zum Starren. Sie ist die gestaltgewordene Negation der Lebenswerte, von denen Eins und Alles spricht. Was aber sollen wir uns, konkret gesprochen, unter dem sich regenden Sarg vorstellen? Ich dächte, hinter diesem Sinnbild geistert ein anderes, und zwar das morphologische Sinnbild par excellence des Lebens im Tode: die — Chrysalide. Daß der Sarg — oder „der Kasten", wie Goethe so oft sagt — aus Gold ist, ist kein triftiger Einwand gegen meine Hypothese. Nach W. Emrich ist dieses Metall, das „sich in alles wandeln" läßt (wie Mephisto bemerkt), „das vielleicht zentralste Ursymbol Goethes überhaupt. ...In ihm sind sowohl alle vitalen, biologischen Kräfte des Lebens, wie alle höchsten, ideellen Kräfte des Geistes... noch ungeschieden verbunden." 23 Diese Definition paßt schlagend auf das Behältnis eines noch undifferenzierten Neugeborenen, das sich alsbald als geflügelter Genius entpuppen wird. Dennoch, mögen meine Leser denken, ein Sarg als Emblem für einen Schmetterlingskokon — das klingt abwegig, ja, leicht 21 22 23

In: Betrachtung über Morphologie. HA, 13, S. 124. Ebenda, S. 60. Wilhelm Emrich, Die Symbolik von Faust II. Sinn und Vorformen. Bonn 1964, S. 192.

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phantastisch. Es ist indes möglich, meine Hypothese durch ein gewichtiges Beispiel aus Goethes Werk zu unterbauen. Dies entstammt Torquato Tasso. Von dem Herzog ermahnt, an die Pflichten des Menschseins nicht zu vergessen, bekennt sich Tasso, ein pures Genie, wenn es je eins gab, zu seinem menschenfernen Los; und dies ist es, was der Getriebene zu seinem Selbstverständnis vorbringt: Verbiete du dem Seidenwurm zu spinnen, Wenn er sich schon dem Tode näher spinnt. Das köstliche Geweb entwickelt er Aus seinem Innersten und läßt nicht ab, Bis er in seinen Sarg sich eingeschlossen (Z. 3083 — 7). Diese Worte und die darauf folgenden machen offenkundig, daß sich der lebensträchtige und todessüchtige Dichter als jener „beneidenswerte Wurm" erfahrt: will sagen, als Schmetterling, der im Begriff ist, in seine Verpuppung hineinzugehen, und auf die Zukunft hofft. Der Sarg, von dem er in diesem morphologisch präzisen und dichterisch voll kontrollierten Bilde spricht — es ist meines Erachtens die zentrale Metapher des Dramas! —, ist also in der Tat eine sich regende Chrysalide, gerade so wie die, die der Dichter nach J. D. Falks Bericht Jahrzehnte später in der eigenen Hand halten sollte, von der er freudig ausrief: „Ich bitt' euch,... wie das klopft, wie das hüpft und ins Leben hinaus will!" 24 Nehmen wir also an, auch der sich regende Sarg des Kindes sei ein Schmetterlingskokon, so wäre das Kind selbst ein in dem Stadium der Verpuppung festgehaltener, zum Ausschlüpfen bereiter Falter. Auch dies ist nicht so abwegig, wie es klingen mag. „Lebt noch mein verscbloßnes* Glück?" fragt Tamino, der Verzweiflung nah. Wir antworten: Ja, es lebt, nicht trotzdem, sondern weil es verschlossen ist. Denn: „Alles Lebendige wirkt im Verborgenen, bedeckt, verschlossen* unter einer Haut." 25 Als „den starren* Liebling" tituliert Monostatos sein königliches Opfer. Helenas Chor aber vergleicht den neugeborenen Sohn der Maja — und somit Euphorion, dem die Rede gilt — ...dem fertigen Schmetterling, Der aus starrem* Puppenzwang Flügel entfaltend behendig schlüpft, Sonnedurchstrahlten Äther kühn Und mutwillig durchflatternd (Faust //, Z. 9657 — 61). 24 25

Goethe zu J. D. Falk, (14. Juni) 1809. AGA, 22, S. 556. Siehe Kapitel 6. Siehe Anmerkung 8.

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Monostatos ist nicht nur bösartig, er ist auch dumm. Denn dieses sichtbar sich regende Wesen hier ist ja gerade nicht starr, sondern in steter Bewegung. Noch auch waffnet es sich zum Starren (um mit Eins und Alles zu sprechen). Seine elastische Hülle „weissagt" 26 — so Goethe — die bildende Kraft in seinem Innern, jenes Ewige, das sich in allen regt. „Nur scheinbar steht's Momente still." Dieser Schein aber täuscht. Ja, in seinen Schmetterlingsexperimenten beschreibt Goethe gerade die Raupe, die sich in ihren Sarg nicht einzuspinnen vermag, als „starr". 27 Ohne die nächtig schützende Hülle ist ihr der Tod gewiß. Es hat also allen Anschein, daß wir uns in Goethes Singspiel auf morphologischem Boden bewegen. Aber auch auf einem spezifisch entomologischen? Die biologische Basis der Dichtung ist fraglos sehr solide. Da sind die vielen Tiere — Hasen, Vögel, Löwen —, und da ist der kreatürliche Papageno samt seiner Frau, die von ihren goldenen Eiern besessen sind. Die geflügelten Kinder, die daraus hervorbrechen, weisen auf den ersten Blick in die Richtung von Vögeln; und Papageno und Papagena werden „das gefiederte Paar" genannt. Indes, auch das Leben der Insekten beginnt im Ei, auch Schmetterlinge sind gefiedert. Zudem verwendet Goethe des öfteren Vögel und Schmetterlinge als auswechselbare Bilder; 28 dazu kommt, daß zu Goethes Zeiten Schmetterlinge als „Sommervögel" tituliert wurden, 29 wie ein Blick auf die Gartenszene im ersten Faust bezeugt. Eine weitere Erwägung drängt sich in diesem Zusammenhang auf. Wollen feindliche Mächte den Sarg des Kindes anheben, so wird er schwer wie Blei; in hilfreichen Händen wird er „federleicht". Wie legen wir uns das zurecht? Könnte es sein, daß das Wesen, das darin steckt, dem Zustrom lebender und liebender Kräfte offen, gleichsam zu sich selbst kommt und seine schwerelose Natur kundtut? Wiederum: der Ausdruck, den der Dichter für den Sarg des Kindes verwendet, deutet auf morphologische, ja, auf spezifisch entomologische Hintergründe seines Werkes hin. „Kasten" oder „Kästchen" nennt er das Behältnis mit auffälliger Häufigkeit, zehn Mal im ganzen. „Sarg" und „Sarkophag" finden sich faktisch nur in der Exposition. Das Wort „Ka-

26 27 28 29

In: Verstäubung, Verdunstung, Vertropfung, LA, I, 9, S. 220. In: Über Metamorphose der Schmetterlinge am Betspiel der Wolfsmilchraupe. LA, I, 10, S. 173. Z. B. in Wilhelm Meisters Uhrjahre, II, 11, S. 128. Siehe auch LA, 10, S. 172. Nach Fischer, Goethe-WortschatS. 580. Siehe auch Goethe zu J. D. Falk (Anmerkung 24), S. 556 f., und Meine Göttin.

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sten" aber, und der von diesem bezeichnete Gegenstand, taucht immer wieder in morphologischen Zusammenhängen auf, eine Tatsache, die Emrich entgangen zu sein scheint. Man denkt an das bereits erwähnte verschlossene Kästchen, gegen dessen Decke die Samen von acanthus mollis so freudig lärmend aufsprangen; weiter an Goethes Experimente mit Raupen, die sich einzuspinnen im Begriff sind — Experimente, die gerade in die Zeitspanne seiner Arbeit an unserem Singspiel fallen. Tagelang hält der Dichter seine Raupen in ihrem „Kästchen" und sieht ihren Spinnversuchen unter mannigfachen Bedingungen zu. Dabei bemerkt er, daß im Gegensatz zu der von ihm beobachteten Gattung — es ist die Wolfsmilchraupe — der Instinkt des echten Seidenwurms, sich zu verpuppen, absolut und unverbrüchlich ist. 30 Auch die befremdliche Tatsache, daß der eingesargte Säugling seit seiner gewaltsamen Gefangennahme ohne jegliche Nahrung am Leben geblieben ist — Goethe lenkt mehrfach unsere Aufmerksamkeit darauf hin, daß das Kind dürstet — hat ihre Entsprechung im entomologischen Bereich. „Langes Leben ausgekrochner Raupen ohne Futter", 31 vermerkt Goethe am letzten Ende seiner letzten Schmetterlingsstudie, über den Sphinx Ligustri, genau eine Woche nach Abschluß seines Singspiels. 4. Ich habe etliche Materialien zusammengetragen, um zu zeigen, daß sich das Bild- und Symbolgeflecht von Goethes Libretto aus tiefen Einblicken des Morphologen speist. Wir stehen vor einer Metamorphosendichtung nicht minder als im Falle der beiden, um dieselbe Zeit geschriebenen, Metamorphosengedichte. Wieder ist die exakte sinnliche Phantasie dieses Dichters am Werk, jene „Naturnothwendigkeit", 32 die seinem Künstlertum einen so einzigartigen und unverkennbaren Stempel aufdrückt. Die Authentizität dieser mit so leichter Hand hingeworfenen Bühnenbilder — die verwandelnde Macht elterlicher Treue und Liebe, die noch mit den

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31 32

In: Über Metamorphose der Schmetterlinge am Beispiel der Wolfsmilchraupe. (Anmerkung 27), S. 173. LA, 10, S. 193. An Schiller, 9. Juli 1796, WA, IV, 11, S. 123. Goethe bezichtigt sich, „durch die sonderbarste Naturnothwendigkeit gebunden", als unfähig, das Bedeutende in bedeutenden Worten auszusprechen. Diese Unfähigkeit aber gründet in der Geringfügigkeit der Quellen, aus denen er seine dichterischen Visionen schöpft. In diesem, tieferen, Sinne gebrauche ich das Wort hier und in dieser Studie überhaupt.

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Elementen in herrscherlichem Bunde steht (ein typisch Goethesches Motiv) — schreibt sich von der Aktion her, die tief unter der Oberfläche und gänzlich unsichtbar vonstatten geht: von der wortlosen Ausbildung und Umartung des in seiner Chrysalide nur noch zu Unrecht eingeschlossenen Kindes. Gegen den nisus formativus lebendiger Bildung und Umbildung gibt es kein Mittel. Nicht Monostatos und die König der Nacht, ebensowenig wie Mephisto ein Mittel gegen den dunklen Drang des guten Menschen ist. Auch nicht die Nacht selbst. Ist sie doch „zur rechten Zeit" — Mignons Wort! — die Schutzhülle des still sich Bildenden gegen den verfrühten Ansturm der Elemente, und sei es selbst des Lichts! Die Symbolik, in der die Werkaussage wurzelt, hat der Dichter streng geheimgehalten, fast so wie das unsichtbare Leben in seinem Sarg. Immer tut er das, wenn er sich dieser besonderen Kurzschrift bedient, bis auf einige, wenige Ausnahmen im lyrischen Beiirk: vor allem Selige Sehnsucht. Denn Goethe hielt dieses, von ihm mit Augen geschaute und mit Händen gegriffene Wunder der Natur werter als jedes andere. Von Pflanzen sprach er, über den Schmetterling schwieg er. Und wie sollte auch ein Sinnbild, das das Tier zum Emblem des Menschen macht, im dramatischen und epischen Bereich Eingang finden, außer in verhüllten metaphorischen Winken, wie dies denn auch in Tasse, Iphigenie, Die Natürliche Tochter und natürlich auch im Faust geschieht? 5. Meine Leser mögen sich der Maxime Conflicte erinnern, die ich im vorigen Kapitel zur Diskussion herangezogen habe. Sie sei nochmals zitiert: Sprünge der Natur und der Kunst. Eintretender Genius zur rechten Zeit. Element genugsam vorbereitet, Nicht roh und starr. Auch nicht schon verbraucht. Eben so mit der Organisation. „Hier springt die Natur auch nur, insofern alles vorbereitet ist, als ein Höheres, in die Wirklichkeit Tretendes, zur eminenten Erscheinung gelangen kann." 33

33

Siehe Kapitel 1, Text und Anmerkung.

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Auch hier begibt sich mit dem Aufspringen des Kästchendeckels und dem Entfliegen des durchleuchteten Genius ein eklatanter „Sprung" der Natur und der Kunst. Der Natur: dies ist der Sprung, der die ungeheure Kluft zwischen Tier und triebhafter Kreatürlichkeit zu dem ganz Ätherischen sachte aber kühn überbrückt. Von den Hasen, Vögeln und den menschenfreundlichen Löwen über den von seinen Eiern besessenen, aber auch trostreich flötenden Papageno über das treu liebende und zu Tod und Verwandlung bereite Königspaar führt eine stete Stufenleiter zu der schwerelosen Lichtgestalt des Endes. Nicht roh und nicht starr sind Tamino und Pamina, die sich Wasser und Feuer anzuvertrauen bereit sind, und auch nicht schon verbraucht. Dasselbe gilt in noch ungleich höherem Maße für ihren neugeborenen Sohn. Ein Knabe wie Euphorion und ein abgeschiedener Geist wie Mignon, hat er in seiner bergenden Hülle alles Materielle abgetan. Sein Haupt und Leib leuchten wie von innen und illuminieren die obere, geistige Hälfte der anderen Figuren; und lichtdurchglänzt wie jene „Ausgeburten des Lichtes und der Luft" — so nennt Goethe den Schmetterling — , 34 entfliegt der Verklärte, unberührt von den Spießen der Wächter, in den ihm verwandten Äther. Wie bereits zwei Jahre früher, bei der Darstellung der scheidenden Mignon, führt auch hier die Anschauung von der Simultanität lebendigen Wachstums dem Dichter die Feder, jene Anschauung, die ihn bei der Beobachtung der Phalaena grossularia so gänzlich aus dem Gleichgewicht geworfen hatte. Wie sich die Flügel des Falters binnen einer halben Stunde „im Quadrate" entfalten, wie sie nach jeder Richtung in allen Dimensionen wachsen, so ist es auch hier, mit diesem von Anbeginn „fertigen" 35 Königssohn. Kaum ist er da, so ist er schon ganz da, „in der völligen Ordnung wie nachher, nur alles kleiner und näher beisammen" 36 . Mit seinem Eintreten begibt sich jener Sprung der Kunst, den Goethes Maxime artikuliert. Der Neugeborene lallt nicht: er spricht. Und was er spricht, geht über alles bislang in Goethes Singspiel Gesagte hinaus. Es ist die innere Essenz des Ganzen, aus eines Säuglings Munde. Dem organischen Steigerungs- und Veredlungsprozeß, der sich da stillschweigend in nächtlichen Grüften vollzogen hat, entspricht vollauf die künstlerische Potenzierung, die durch das Eintreten des kindlichen Genius ausgelöst 34 35 36

In: Zur Farbenlehre, § 650, HA, 13, S. 468. Siehe Kapitel 3, Abschnitt 2. Beobachtungen, über die Entwickelung der Flügel des Schmetterlings 10, S. 168.

Phalaena grossularia.

LA, I,

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wird. Das bis jetzt nur bänglich und voll Ungewißheit gewärtigte Gesetz der Dichtung — der Triumph opferbereiten Lebens über den Tod —: der ganz Durchleuchtete und Geflügelte spricht es aus und erhebt es auf eine neue — und reflektierte — Höhenlage. Er, der Neugeborene, liest Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft wie ein aufgeschlagenes Buch; und diese Überhöhung des Bewußtseins teilt sich den Umstehenden mit, deren obere Hälfte hell aufzuglänzen beginnt. Er, der ganz Erhellte, Geflügelte, feiert das Leben so, wie es hier gefeiert werden will: von Tod und Gefahr umrungen, dennoch voll Vertrauen in dessen unverwüstlichen Kern. Hören wir ihn: In Nächten geboren, Im herrlichen Haus, Und wieder verloren In Nächten und Graus. Es drohen die Speere, Die grimmigen Rachen — Und drohten mir Heere Und drohten mir Drachen, Sie haben doch alle Dem Knaben nichts an. 37 Dies strahlende Dur aus nächtlichen Tiefen gemahnt an das triumphale Finale von Beethovens fünfter Symphonie. Und in der Tat, so spricht auch Goethes Egmont, so spricht Faust, der im Erstarren nicht sein Heil sucht, und dessen Sohn Euphorion, so Eugenie und der schwarzgelockte Knabe der Novelle. So spricht die gesamte Klassische Walpurgisnacht, und so spricht dann schließlich Fausts Vermächtnis an sein Volk. Es ist die Sprache von Selige Sehnsucht, von höchster Lebens- und Opferlust beseelt. Der Sicherheit elterlichen Gewahrsams „kühn und mutwillig" entflatternd — ich zitiere Helenas Chor über den schmetterlingsgleichen Sohn der Maja —, sollte der geflügelte Genius wieder gefangengenommen, vielleicht auch getötet werden. Auch dagegen ist dieser Begeisterte gefeit. „Das Ew'ge regt sich fort in allen." Immer ist die Losung: „Gönnt mir den Flug", und sei es auch ein Flug ins Dunkel. Denn ist das Dasein nicht ein ewiger Ring von Stirb und werde? Genau eine Woche nach Goethes von naturwissenschaftlichen Experimenten umrahmter letzter Arbeit an seinem Singspiel, am 17. Mai 1798, 37

AGA, I, 6, S. 1118.

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erfolgte die Niederschrift seiner abschließenden Schmetterlingsstudie, über den Sphinx Ligustri. Sie behandelt die Fortpflanzungsorgane und die tausendfachen Eier des Insekts, wendet sich aber gegen Ende dessen Flügelbewegung und deren „ungeheuern Energie" zu. 38 Goethe „entdeckte" mit Augen und griff mit Händen, was er kraft seiner exakten sinnlichen Phantasie „erfunden" hatte.

38

LA, I, 10, S. 192 f.

Ein Früh^ Vollendeter Gedanken zu Euphorions Gestalt Nicht der Masse qualvoll abgerungen, Schlank und leicht, wie aus dem Nichts entsprungen, Steht das Bild vor dem entzückten Blick. Schiller

1. Daß Euphorions meteorischer Lebenslauf von Anfang bis Ende weder logischen noch pschologischen noch auch — so wenigstens will es scheinen — dramatischen Kategorien untersteht, ist eine Binsenweisheit. Seine Empfängnis, sein zeitloses Auftauchen als akrobatisches Wunderbaby, sein Verschwinden in Klüften, aus denen er geschmückt wiederkehrt, als wäre da drinnen ein Kleidergeschäft, sein haltloses Klettern und Springen, seine aller Zartheit ermangelnde wilde Jünglingsjagd nach einem derben Mädchen, seine flehentliche Bitte, ihm doch seine Hände zu lassen, sein plötzlich entfachter kriegerischer Mut, seine Opferlust, sein irrer Flug in die Sonne und sein tödlicher Sturz —: wie sollen wir uns diese abstrusen Züge zurechtlegen? Zu erklären, er sei eine allegorische Figur, wie Goethe selbst es tat, 1 verhüllt mehr als es offenbart. Wir vermögen keine Brücke zu schlagen von der begrifflichen Fixierbarkeit der Allegorie, so wie Goethe sie verstand, 2 zu der Fülle sinnhaltiger, aber gänzlich freischwebender Bilder, mit denen uns der Dichter in dieser wundersamen Gestalt konfrontiert hat. Auch der Hinweis, Euphorion verkörpere die moderne Poesie in Gestalt von Lord Byron, 3 hilft nicht recht voran. Sein Ende mag so verständlich werden; denn ist nicht Lord Byrons Zügellosigkeit und Todessehnsucht ein Archetyp modernen Wesens — wiederum wie Goethe es verstand? Aber selbst wenn man eine derartige Durchschichtung konzediert: zuviele, offenbar mit nachtwandlerischer Sicherheit konzipierte Züge bleiben unerklärt, und die Figur als solche bleibt rätselhaft. Hat

1 2 3

Im Gespräch mit Eckermann, 20. Dezember 1829. AGA, Siehe Maximen und Reflexionen, HA, 12, S. 471, N° 750. Zu Eckermann, 5. Juli 1827. AGA, 24, S. 256.

24, S. 380.

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Goethe uns in dieser beschwingten Gestalt zu Abschluß einer machtvollen tragischen Aussage eine hochkünstlerische Arabeske vorgelegt? Oder sind da symbolhafte Züge am Werk, die uns bislang entgangen sind? Es ist konstatiert worden, daß sich von Fausts und Helenas Sohn thematische Fäden zu Selige Sehnsucht hin- und herspinnen.4 Diese Einsicht ist unumgänglich; denn höchste Lebenslust gepaart mit Opferdrang —: dies ist in der Tat ein Motiv, das den lyrischen Abschluß der HelenaTragödie mit dem lyrischen Gebilde des West-östlichen Divan eng verknüpft. Auch ich habe in einem anderen Kapitel dieser Studien den Bogen zwischen Lied und Drama geschlagen.5 Nun aber frage ich weiter, ob diese Stimmigkeit nicht tiefer reichen mag, als die Kritiker bislang vermutet haben; ob die tragende Symbolik des Divan-Gedichtes möglicherweise nicht auch für die so völlig unerklärte Authentizität der Euphorion-Gestalt verantwortlich sei? Man sieht, ich bin auf meiner alten Spur. Dafür muß ich mich bei meinen Lesern entschuldigen. Aber was ist, ist. Mein erstes Ziel ist also, aufzuzeigen, daß Goethes vielgeliebte und viel verheimlichte Schmetterlingssymbolik auch in der Figur des Euphorion am Werke ist und dieser eine Einheitlichkeit und Konsequenz verleiht, die ansonsten unfaßlich bliebe, so fühlbar sie auch ist. Meine zweite Aufgabe ist es, die strukturelle Funktion dieses Tatbestandes herauszustellen, sollte sich meine Hypothese als tragfahig erweisen; die dritte, die gemeinsame Thematik von Schattiger Hain und Selige Sehnsucht, und insbesondere die beiden Werken zugehörige Symbolik des Selbstopfers, in ein helleres Licht zu rücken. 2.

Wie wir wissen, entpuppt sich der tote Faust in Himmel als schmetterlingsgleiche Gestalt. Ich selber habe in einem anderen Kapitel diesem Sachverhalt nachgespürt und die bei Goethe eigentlich zu erwartende Entdeckung gemacht, daß diese Verwandlung keineswegs als deus ex machina-Lösung am Ende des Dramas beschworen wird, sondern wohl vorbereitet in die endliche Erscheinung tritt. 6 So wäre es also nicht allzu verwunderlich, trüge der Sohn, den die schöne Griechin Faust geboren hat, verwandte 4

5 6

Siehe z. B. Ewald Rösch , „Selige Sehnsucht" — eine tragische Bewegung'. In: Interpretationen %um West-Östlichen Divan Goethes, Hrsg. E. Löhner, Darmstadt 1973, S. 247. Siehe Kapitel 10 dieser Studie. Siehe Kapitel 4 dieser Studie.

Ein Früh=Vollendeter

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Züge. Zudem sind alle „Söhne" Fausts — und darunter verstehe ich in diesem Zusammenhang die jünglingshaften Gestalten dieses Dramas, die etwas von seinem Geist mitbekommen haben — durchweg mit der Faust selber zugeordneten Symbolik assoziiert. Da ist einmal Knabe Lenker, jene — wie Goethe Eckermann mitteilt — mit Euphorion identische Gestalt, 7 die Plutus-Faust tatsächlich als „mein lieber Sohn" {Faust II, Z. 5629) tituliert; ein Schelm, der die Menge narrt, indem er die Kostbarkeiten, die er in die Luft wirft, in den gierigen Händen der Zugreifenden in „frevle Schmetterlinge" (Z. 5603) verwandelt. Seine Gaben sind so extravagant und kurzlebig wie er selbst. Ferner ist da Baccalaureus, die offenkundige Karikatur des jungen Faust; ihn vergleicht Mephistopheles, der ihn ja bereits früher gekannt hat, mit einem solchen Luftgebilde: Die Raupe schon, die Chrysalide deutet Den künftigen bunten Schmetterling (Faust II, Z. 6729 f.), reminisziert der Teufel gutgelaunt, wenn auch ironisch. Und schließlich ist da Homunculus, der in seiner durchsichtigen Phiole einherschwebt, die offenbar auch eine Art Chrysalide ist, des Augenblickes harrend, da ihn die Liebe aus seinem gläsernen Gefängnis erlösen wird. Auch er, wie Baccalaureus, kein leiblicher Sohn Fausts, diesem aber, und somit auch Euphorion, eng verwandt. Denn sein Erzeuger Wagner ist, wie ich in einem Essay über den Urfaust aufgezeigt habe, 8 gleichsam eine partielle Abspaltung von Fausts Psyche. Wagner ist die Verkörperung von Fausts Intellekt: ein Teil aus einem organischen Ganzen — und somit auch ein Zerrbild. So ist auch „das chemische Männlein", wie Goethe jenen in seinen luftigen Kokon eingesperrten Geist nennt, 9 mit Faust und Euphorion indirekt aber eng durch die Symbolik verbunden, an der sie beide teilhaben, um die es mir hier geht. Wenden wir uns nach dieser Vorbesinnung der Schlußszene der HelenaTragödie zu, und zwar dem Mythos des Hermes, der auf Phorkyas' Schilderung von Euphorions Geburt und erster Knabenzeit folgt. Unwillig

7 8

A m 20. Dezember 1829. Siehe Anm. 1. , „Geeinte Zwienatur"? O n the Structure of Goethes Urfaust 1. In: Tradition and Creation, Essays in honour of E. M. Wilkinson ed. C. P. Magill, B. Rowley, C. J. Smith, Leeds, 1978.

9

Siehe WA,

I 15 2 , S. 201 ff. Für eine volle Diskussion dieser Gestalt siehe Kapitel 21

dieser Studie.

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schieben die Choretiden Phorkyas' sonderbaren Bericht beiseite. Das sei noch gar nichts, meinen sie, im Vergleich mit dem, ...was liebliche Lüge, Glaubhaftiger als Wahrheit, Von dem Sohne sang der Maja (Faust II, Z. 9642 ff.). Bei all ihrer Seltsamkeit war Phorkyas' Erzählung der wie auch immer bizarren „Wirklichkeit" verpflichtet und gleichsam historisch gewesen. Jetzt aber setzt eine Steigerung ein. Das dichterische Symbol tritt in Kraft. Wir befinden uns im Bereich der höheren Wahrheit. Um den „kaum geborenen Säugling" bemüht sich „klatschender Wärterinnen Schar". Sie wickeln ihn in mehrere Schichten erst flaumweicher Windeln, sodann schön verzierter Obertücher; eine verständige Handlung, in diesem Falle aber eine Ausgeburt „unvernünftigen Wähnens"; denn jener zierliche, dabei aber kräftige Säugling entzieht sich aller wohlmeinenden Sorgfalt und entwindet sich der drückenden Last seiner Schale: Gleich dem fertigen Schmetterling, Der aus starrem Puppenzwang Flügel entfaltend behendig schlüpft, Sonnedurchstrahlten Äther kühn Und mutwillig durchflatternd (Faust II, Z. 9657 — 61). Diese Worte, sowie der ganze zugehörige, hier nicht zitierte Passus, beziehen sich über Hermes hinweg auf Euphorion, auf den das Gleichnis von Geburt und Wachstum des Göttersohnes ja gemünzt ist. Daran müssen wir bei allem Kommenden festhalten. Als eine zentrale Aussage über die Hauptfigur Euphorion gilt es, diese dichterisch machtvollen und zuhöchst kondensierten Zeilen über Hermes auszuwerten und in den weiteren Zusammenhang der Szene einzuordnen. Für wenige Augenblicke erlaube man mir, die beiden Parallelberichte über Geburt und Wachstum zweier außergewöhnlicher Gestalten in einigen Details bis in den Wortlaut hinein zu vergleichen. Dabei wird es rätlich sein, frühere Lesarten und Paralipomena zur Diskussion heranzuziehen. Ein solches Verfahren sollte sowohl Aufschlüsse geben über die dichterische Strategie, die hier am Werke ist, als auch den Aussagegehalt der zwei Parallel-Schilderungen klären. Zweimal in dem soeben zitierten Mittelteil der Erzählung schildert der Chor den neugeborenen Hermes als „zierlich und kräftig" (Z. 9645 und Z. 9651). Dies muß also ein dem Dichter wichtiges Motiv sein. „Zierlich" meint etwa „kleingebaut und von vollendetem Ebenmaß der Proportio-

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nen". 10 Dem „zierlich und kräftig" hier entspricht Phorkyas' Beschreibung Euphorions als „faunenartig ohne Tierheit" (Z. 9603), was man als „anmutig=kraftvoll, ohne Beimischung von Grobheit" übersetzen könnte, wobei Goethe vielleicht an die Statue in Pompeii gedacht haben mag; und Phorkyas' spätere Worte von dem Künftigen Meister alles Schönen, dem die ewigen Melodien Durch die Glieder sich bewegen (Z. 9626 f.) bringen das Bild eines wohlgebildeten und graziösen Knaben zur Rundung. Das Wort „zierlich" paßt also gleichermaßen auf beide Kinder; und Goethe hat es in der Tat in einer Skizze auch für Euphorion versucht. Anstatt der jetzigen Schlüsselzeile Nackt, ein Genius ohne Flügel, faunenartig ohne Tierheit hatte Zeile 9603 ursprünglich Nackt wie Amor, nett und zierlich gelautet. Dieses „nett und zierlich" hat der Dichter wieder ausgemerzt und durch die spätere Erfindung „faunenartig ohne Tierheit" ersetzt; und es ist kein Zweifel, welche Halbzeile die stärkere ist. Aber war das der einzige Grund? Ebenso tilgte Goethe Phorkyas' folgenden Vers: „Etwas bläßlich doch behende" — so war der ursprüngliche Wortlaut von Zeile 9604. Warum ließ Goethe sie nicht stehen? Weil sie ihm als eine schwächliche Vorwegnahme der folgenden Chorprägung „zierlich und kräftig" erschien? Weil ein neugeborener Säugling eher kupferrot als blaß ist? Wir verschieben die Antwort auf diese Frage. Hier ist erwähnenswert, daß der Dichter gegen das Wort „behende" in dem gegenwärtigen Zusammenhang keinerlei prinzipiellen Einwand hatte: im folgenden Chorgesang über Hermes setzte er es innerhalb von vier Verszeilen zweimal ein (Z. 9659 und Z. 9662), einmal als nachträglichen Zusatz. Übrigens ist „behende" ein Epitheton, das der Dichter gerne und mehrfach in Verbindung mit dem Schmetterling verwendet. 11 Der kaum geborene Hermes wird also in reinster Windeln Flaum gefaltet. Das „faltet" (Z. 9647) ersetzt indes ein früheres „Hüllet"; dies

10 11

Fischers Goethe-Wortschat% hat keine Eintragung. Siehe Kapitel 20 dieser Studie.

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wiederum ist, wie ich anderswo nachgewiesen habe, 12 ein morphologisches Schlüsselwort Goethes. Ganz im Sinne des „zierlich und kräftig" hören wir nun von den geschmeidigen, doch elastischen Gliedern des göttlichen Schalks (Z. 9652 f.). Auch „elastisch" — in einer früheren Skizze hatte es „Dehnsam" geheißen — ist ein Wort, das in Goethes entomologischen Studien häufig auftaucht. Von der Elastizität der Haut des Raupenschmetterlings, deren Ausdehnung und schließlichem Wachstumsstillstand spricht er zum Beispiel in dem Schema zur Systematisierung seiner Beobachtungen, das er sich im Jahre 1796 anlegte, also dreißig Jahre vor der Niederschrift von Schattiger Hain.n Dieses Epitheton hat also seinen Weg durchaus ungezwungen in die Beschreibung des schmetterlingsgleichen Göttersohns gefunden. Ebensogut hätte die Vokabel in den Kontext von Phorkyas' vorangehender Schilderung gepaßt, wie der kleine Euphorion sich emporschnellend mit den Füßen vom Boden abstößt; und tatsächlich finden wir in einer Lesart anstatt von ...doch der Boden gegenwirkend (Z. 9604) ...doch der Boden wie elastisch. Warum hat Goethe die unmittelbar einleuchtendere Version getilgt? Mit diesen geschmeidigen, doch elastischen Gliedern also „schlüpft' er zur Schaale"... „listig heraus"; so hatte der Dichter den Vorgang von Hermes' Entpuppung ursprünglich geschildert. Auch mit dem Wort „schlüpfen" — einem Terminus, der sowohl in der Umgangssprache als auch bei Goethe stets für das Auskriechen des neuen Schmetterlings gebraucht wird — experimentierte der Dichter. In dem Hermes-Passus ersetzte er es einmal durch „zieht", um es für später aufzuheben, während er dasselbe, ursprünglich geplante Wort in Phorkyas' Schilderung von Euphorions plötzlichem Verschwinden strich (Z. 9614). Was nun aber bedeutet die „Schale", aus welcher der junge Schelm ausschlüpft? „Schale" ist ein Synonym für „Hülle", und wie diese spielt sie in Goethes morphologischen Schriften eine zentrale Rolle. Hier ist es ein double-entendre, das sowohl auf die Chrysalide zurückweist, der der „kaum geborene Säugling" soeben erst entwichen ist, als auch auf die Windeln und Wickeln, die ihm anstatt dessen von „klatschender Wärterinnen Schar" aufgezwungen worden sind, in genauer, leicht ironischer 12

Siehe Kapitel 4 dieser Studie.

13

LA, I, 10, S. 179, §97.

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Entsprechung zu Euphorions Beengung durch die Vorsicht elterlicher Liebe. Hier ist es interessant zu vermerken, daß Helenas Mahnung an den jungen Springinsfeld ursprünglich anders lautete: ...Springe wiederholt und nach Belieben, Aber hüte dich, zu fliegen, freier Flug ist dir versagt (Z. 9607 f.), warnt die Mutter den Sohn. Diese Verse sind ein später Zusatz, nur die letzte Halbzeile von Vers 9608 lautete: „fliegen ist dir versagt". Das Freie, Ungehinderte der Bewegung also, das in dem entsprechenden Chorgesang durch die Schilderung von Hermes' Entkommen aus der ängstlich drückenden Purpurschale zum vollen Zuge kommen sollte, hat in dem Bericht über Euphorion seine eigene, wenn auch leise Entsprechung gefunden. Auch dieser sträubt sich gegen den zweiten und lästigen Kokon, in den ihn elterliche Liebe sperrt. Sicherlich nicht nur, weil „starr" das von Goethe regelmäßig verwandte Epitheton für den in seiner Chrysalide versteiften künftigen Schmetterling ist, sondern um das Motiv äußerster Beeinträchtigung aller Bewegungsfreiheit zu untermauern, hat der Dichter es wenige Zeilen später im Hermes-Passus nachträglich eingefügt (Z. 9658). Warum aber begehren Hermes sowie Euphorion gegen die beengende Sorgfalt ihrer Hüter auf? Die Antwort auf diese Frage ist in einem spät konzipierten Wort enthalten. 14 Dies ist „fertig". Euphorion und Hermes sind Gleich dem fertigen Schmetterling (Z. 9657). Diese Aussage ist außerordentlich bedeutsam; indes, bevor ich darauf eingehe, möchte ich die Ergebnisse und Implikationen unserer zwischen zwei Wortfeldern vergleichend hin- und herpendelnden Analyse in knappen Worten zusammenfassen. Summierend darf man wohl sagen, der Dichter habe das ohnehin schon entomologisch geladene Wortfeld des Hermes-Mythos noch zusätzlich miniert und uns eine ebenso künstlerisch kühne wie morphologisch präzise Schilderung von der Phase der Schmetterlings-„Ent-Wicklung" gegeben, um die es ihm hier geht. Hier, wenn irgendwo, ist seine exakte dichterische Phantasie am Werk. Allerdings, wo immer möglich, hat Goethe sein Wissen versteckt und neutralen Vokabeln — wie „faltet" statt „hüllt" oder „zieht" anstatt von „schlüpft" — vor verräterischen den Vorzug gegeben. In Phorkyas' vorangehendem Bericht hingegen hat der Dichter, wo es anging, bei aller Parallelität der zwei Geschichten in ihren Grundzügen 14

„fertiger" fehlt noch in Hh.

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den Anschein einer Entsprechung zu dem Chorgesang vermieden und zu diesem Zwecke Worte, die in dem letzteren erscheinen, ausgemerzt und durch andere, in dieser Hinsicht weniger resonante, ersetzt. Er hat also mit voller künstlerischer Absicht die enge Zusammengehörigkeit der zwei Berichte bagatellisiert und zwar in der Hauptsache dadurch, daß er den zentralen Belang des Hermes-Mythos und insbesondere des Schmetterlingsgleichnisses stark gedämpft hat: alles Markante der Wortwahl hat er vermieden und den Mythos — durch seine Unauffalligkeit — ins Nebensächliche verrückt. Goethe hat sich wieder einmal nach Kräften verrätselt und es den Auslegern schwer gemacht. Warum tat er das? Wir fragen weiter. Warum sträuben sich Hermes und Euphorion gegen den ihnen auferlegten Zwang? Die Antwort auf diese Frage habe ich bereits gegeben. Sie sind „fertig". „Fertig" meint das, was in Goethes entomologischem Wortgebrauch „vollendet" bedeutet —: also ein Imago mit voll gesteiften und entfalteten Flügeln. In Parenthese sei gefragt, warum der Dichter das klanglich und rhythmisch reizvolle „vollendeten [Schmetterling]" nicht beibehalten, sondern durch das glanzlose „fertigen [Schmetterling]" ersetzt hat. Verbessern wollte er hier sicherlich nicht, sondern eher Versteck spielen, selbst in diesem Schlüsselvers! Dem Schmetterling gleich, dessen Flügelwachstum sich in dreißig Minuten vollendet und der in weniger als einer Stunde voll ausgewachsen ist, steht also der Göttersohn — und selbstredend Euphorion mit ihm — jener „kaum geborene Säugling", fix und fertig vor unseren ungläubigen Augen, der eine startbereit für seine Abenteuer, in denen er schlau und listig den höchsten Gottheiten ihr Handwerkszeug entwendet (wie jeder Künstler, in fremde Rollen hineinschlüpfend, fremde Fertigkeiten übernimmt), um als Gott der Reisenden und Geleitsmann der Seelen in den Hades seinen eigentlichen Beruf zu finden; der andere, Euphorion, startbereit für Kampf und Gefahr, für Liebe, Flug und Tod. Man stelle es sich vor: soeben haben die Frauen Helenas ihr Mittagsschläfchen gehalten, vielleicht — wer will es sagen? — eine Stunde lang oder ein wenig mehr. In dieser Zeit wird Euphorion gezeugt, ausgetragen und geboren, und schon erscheint er als zierlicher aber kräftiger Knabe, schon macht er sich, unbändig springend und in alle Lüfte hinaufdringend, von den liebenden Eltern los, gerade so, wie Hermes sich seiner ersten Windeln entledigt hat, Sonnedurchstrahlten Äther kühn Und mutwillig durchflatternd (Z. 9660 f.).

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Es ist nötig, diese Parallele in ihrer ganzen Bedeutsamkeit zu würdigen, und geht nicht an, das Erlebnis zu verkennen, aus dem sich Goethes absonderliche Vorstellung speist. Spukt hier nicht immer noch der Geist von Phalaena grossularia, jenes Schmetterlings also, dessen Flügelwachstum den mit der Uhr in der Hand beobachtenden Dichter vor einem Menschenalter so tief erregt hatte? Wir sind den Spuren dieser Entdeckung schon etliche Male in Goethes Dichtungen begegnet. 15 Rufen wir uns Goethes wissenschaftlichen Bericht in seinen Hauptzügen noch einmal ins Gedächtnis zurück und vergleichen wir dessen Phasen mit der Linienführung der Euphorion-Hermes-Gestalt. Die Flügel des soeben ausgekrochenen Imagos wachsen um das Dreifache in zwölf Minuten, und zwar simultan, in allen drei Dimensionen; in einer kleinen Stunde steht das vollendete Insekt vor unserem Blick. Wie aber geht diese unglaubhafte „Ent-Wicklung" vor sich? Nach Goethe begibt sich der soeben ausgeschlüpfte Schmetterling an einen abgelegenen Ort in der Dämmerung, wo sich das Wunder seines Wachstums vollzieht; und was Goethe hier von der einen Art berichtet, hat seinem Ermessen nach für alle anderen Geltung. Hat es mit Euphorions mysteriösem Verschwinden in einer Felsenkluft nicht eine streng analoge Bewandtnis? Aus ihr taucht der bis dahin flügellose und nackte Genius voll bekleidet wieder auf: ...Doch nun wieder welch Erscheinen! Liegen Schätze dort verborgen? Blumenstreifige Gewände Hat er würdig angetan. Quasten schwanken von den Armen, Binden flattern um den Busen, In der Hand die goldne Leier, völlig wie ein kleiner Phöbus (Z. 9616-9620). Erkennen wir nicht in den „blumenstreifigen Gewanden" und in den flatternden Binden den oft exotisch anmutenden Flügelschmuck mancher Schmetterlings- und Mottenarten? Wie dem auch sei: in der Dämmerung der Schlucht wächst beiden, dem jungen Imago und dem jungen Euphorion, ihr voller Schmuck zu; dem Falter seine Flügel und dem faunenartigen Knaben seine ,,blumenstreifige[n] Gewände". Dabei können wir es belassen.

15

Siehe Kapitel 1 und 2 dieser Studie.

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Die wichtigsten Worte des ganzen Passus haben wir uns indes noch aufgespart. Es ist die Halbzeile ...völlig wie ein kleiner Phöbus (Z. 9620). Dieses Gleichnis gemahnt an das Gleich dem fertigen Schmetterling des Hermes-Mythos: beide Formulierungen, insbesondere die erste, rufen das Wunder von Phalaena grossularia ins Gedächtnis zurück, zumal jene Stelle über die Flügel des jungen Imagos: „...man sieht alle Flecken darauf, in der völligen Ordnung wie nachher, nur alles kleiner und näher beisammen." 16 Eine frühere Version des Verses 9620 hatte gelautet: „Phöbus ähnlich nur im Kleinen." Die Affinität dieser Lesart zu der wissenschaftlichen Beschreibung ist fast noch schlagender —: ein schön vollendetes junges Lebewesen, in seinem vollem Schmuck, ganz als stünde es im Zenit seines Daseins, nur alles gedrängter, kleiner. In einer kurzen Stunde werden Körper und Flügel dieses Geschöpfes voll ausgewachsen sein — etwa so lange, wie die Szene noch andauern wird. Es gibt ein Paralipomenon zu Schattiger Hain, das just der mysteriösen Geschwindigkeit von Euphorions simultanem Wachstum gilt, von dem hier die Rede ist. Es ist zu lang, als daß hier mehr als die zentrale Stelle zitiert werden könnte. Diese lautet wie folgt: Genug, ihr seht ihn, ob es gleich viel schlimmer ist Als auf der brittischen Bühne wo ein kleines Kind Sich nach und nach heraus zum Helden wächst. Hier ists noch toller kaum ist er gezeugt so ist er auch geboren Er springt, und tanzt und ficht schon tadeln viele das So denken andere dies sey nicht so grad Und gröblich zu verstehen, dahinter stecke was... 17 Wie weidlich sich auch der Dichter an der Unlösbarkeit seines Rätsels freut, wie frohlockend er auch seinen Auslegern ein Schnippchen schlägt — dahinter steckt wirklich was! Und des Rätsels Lösung ist engstens mit der hier vorgetragenen Erklärung der Geschwindigkeit von Euphorions Wachstum verknüpft. Nichtsdestotrotz — sind wir auf der rechten Spur? 16

17

In: Beobachtungen,

über die Entwicklung der Flügel des Schmetterlings

I, 10, S. 168. WA, I, 152, s. 234.

Phalaena grossularia,

LA,

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Ergänzen wir Goethes eigene Beobachtungen durch einen kurzen Blick auf den Ablauf eines Schmetterlingslebens und sehen wir, ob weitere, Goethe bekannte Fakten unsere Hypothese bekräftigen. Etwa fünfzig Prozent seiner Existenz verbringt der Schmetterling als Raupe, weitere fünfundzwanzig Prozent in der Verpuppung. Es bleiben bloße fünfundzwanzig Prozent für sein Dasein als Imago. Unmittelbar nach seinem Ausschlüpfen ist er ein bläßliches Tier; seine schöne Färbung stellt sich erst gegen Abend seines ersten Lebenstages ein. Unentwegt steuert er spiralförmig nach dem Mond und verwechselt diesen mit näheren Lichtquellen wie zum Beispiel einer leuchtenden Kerze. — Schmetterlinge sind gesellige Tiere, aber, ungleich den Bienen oder Ameisen, nicht gesellschaftlich=hierarchisch organisiert. Ihr einziges Lebensziel nach ihrer Vollendung ist die Begattung und Fortpflanzung. 18 Dabei geht es ausgesprochen roh und rücksichtslos zu. Sie werben nicht wie andere Tiere, sondern stürzen sich auf die Weibchen, sobald diese ihrem Kokon entschlüpfen, und entschuppen und zerzausen deren Flügel im Kopulationsakt. Bald nach der Kopulation sterben sie. Mit solchen Fakten bewaffnet, kehren wir zu Euphorion und seiner Lebenslinie zurück. In einer bereits erwähnten Skizze zu den Zeilen 9603 — 9605 wird der nackte „Amor" — aus dem später „Genius" werden sollte — als Etwas bläßlich doch behende geschildert. Diesen Vers hat Goethe gestrichen: das „behende", wie wir bereits sahen, weil der Dichter den Parallelismus zwischen dem Passus der Phorkyas und dem Hermes-Mythos, in dem „behende" zweimal fungiert, entkräften wollte; das „bläßlich" hingegen, weil es, wie wir soeben sahen, den entomologischen Nagel allzu verräterisch auf den Kopf trifft. Euphorion ist zwar ein liebevoller, aber auch ein rücksichtsloser und anarchischer Sohn. Von einer Einordnung in Familie oder soziale Gemeinschaft kann keine Rede sein. Nur um seiner Eltern willen hält er an sich und umschwebt „leichter" „muntres Geschlecht" (Z. 9745 f.); und selbst darüber kommentiert der sorgenvolle und von seines Sprößlings Gebaren befremdete Vater: Mich kann die Gaukelei Gar nicht erfreun (Z. 9753 f.). 18

Der Entomologe Dr. Brian Turner vom King's College, Universität London, mit dem ich die anstehenden Fragen besprochen habe, versicherte, daß in einer Frage wie dieser auch der heutige Wissenschaftler Goethes teleologische Terminologie beibehielte. Ich benutze die Gelegenheit, Herrn Dr. Turner für seine Hilfe sehr herzlich zu danken.

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Diese Worte sind uns aus einem anderen Zusammenhang her wohl vertraut. In Iphigenie auf Tauris vergleicht Orestes — er selbst nennt sich eine Larve — den „immer munteren" Pylades einem „leichten, bunten Schmetterling", der, um ihn mit neuem Leben „gaukelnd", Schuld und Not aus seinem Bewußtsein vertreibt (II, 1). Durch des Vaters unwirsche Worte von aller Rücksichtnahme befreit, umschwebt Euphorion den Chor der Mädchen noch ein Weilchen mit graziösen Bewegungen der Arme (Z. 9745 f.), für spielerische Zwecke nur allzu „behende" (Z. 9774) — einer früheren Lesart nach erging an ihn die Aufforderung „nun sey behende". Dann aber macht er sich unvermittelt an die wildeste Kleine von allen heran; und was folgt, ist kein Liebesspiel —: es ist ein brutaler Kampf der Geschlechter. Schlepp' ich her die derbe Kleine Zu erzwungenem Genüsse; Mir zur Wonne, mir zur Lust Drück' ich widerspenstige Brust, Küss' ich widerwärtigen Mund, Tue Kraft und Willen kund (Z. 9794-9799). Kaum hat ihn ihre auflodernde Glut wie eine leuchtende Kerze versengt, so steuert er, immer höher steigend und springend, unbändig den sausenden und brausenden Elementen zu, bekennt sich zu den Fährnissen seines Geburtslandes sowie zu seinem eigenen, verwandten Geschick — Und der Tod Ist Gebot, Das versteht sich nun einmal (Z. 9888—90) —; und, wie irre rufend: Doch! — und ein Flügelpaar Faltet sich los! Dorthin! Ich muß! ich muß! Gönnt mir den Flug! (Z. 9897-9900), wirft er sich in die Lüfte, als wüte der Krieg da oben, wo seine Gewände ihn einen Augenblick lang tragen. Dann stürzt er tot zu seiner Erzeuger Füßen nieder. „Ikarus! Ikarus!" (Z. 9901), ruft der Chor dem in der Luft Strahlenden nach.

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Können wir ernstlich 2weifeln, was diese Ausrufe, dieser aller menschlichen Zartheit bare Trieb zur Fortpflanzung, diese Gewände, jenes rätselhafte frühere Ich will nicht länger Am Boden stocken; Laßt meine Hände, Laßt meine Locken, Laßt meine Kleider! Sie sind ja mein (Z. 9723-28), meinen, ja, was Euphorions so kurzer Lebenslauf als Ganzes besagt? Vor dem innern Auge des Dichters, meine ich, stand die Gestalt seines Lieblingssymbols, des Schmetterlings, als er diese, seine Lieblingsfigur erschuf. Während der Dichter diesen Frühvollendeten schuf, ruhte sein Finger auf einem fremden Puls, und er fühlte sich in einen andersartigen Lebensrhythmus ein. Hinter der Gestalt Euphorions steht in der Tat das alte Märchen von Phalaena grossularia. 3. Wir erinnern uns der Maxime namens Conflicte, die wir bereits zweimal zur Diskussion herangezogen haben, 19 und befragen sie über ihren Aussagegehalt in unserem augenblicklichen Zusammenhang. Daß das Element, in welches der „nackte Genius" — Euphorion also — eintritt, genugsam vorbereitet ist, dürfte keinem Zweifel unterliegen. Sowohl der verjüngte Faust als auch Helena stehen im Zenit ihres Daseins. Sie sind weder „roh" noch „starr" noch auch „verbraucht". Wie ein Traum ist ihr Leben vor ihrer Verbindung von ihnen abgefallen, und sie sind zum ersten Male „da", in einer gereinigten, schönen Gegenwart. Diese Gegenwart bezeichnet den prägnanten Moment 20 der HelenaAktion, ja des zweiten Teils der Tragödie als Ganzem. Wie von einem Höhengrat herab schauen wir in die Niederungen von Vergangenheit und Zukunft. Hinter uns liegt die Klassische Walpurgisnacht, aus deren urtümlichem Gebrodel sich nach und nach die rein-menschliche Schönheit der Galatee abgelöst hatte. Vor uns — was wissen wir über die Zukunft? Nur dies eine: daß die gestaltaufbauende Liebe, die Helena dem schwanken 19 20

Siehe Kapitel 1 und 2 dieser Studie. Für eine Kärung dieses Begriffes bei Goethe siehe I. Graham, Schiller's and Integrity, London 1974, Kapitel 11.

Drama,

Talent

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Element entrissen hat, zu ihrer Dauerhaftigkeit der Distanz bedarf, und daß diese bei der stetigen physischen Annäherung der Liebenden gefährdet ist. So sieht es aus, als würde sich der schöne — eben der prägnante — Moment als unhaltbar entpuppen. Dieser Verbindung — auf des Messers Schneide zwischen Idealität und Wirklichkeit — entspringt Euphorion. Mit seinem Erscheinen machen Natur und Kunst einen jener gelegentlichen Sprünge, von denen Confítete handelt. Sprünge der Natur: im Handumdrehen wird aus dem faunenartigen Knaben der Genius der Poesie. Sichtbar wächst er, während die Handlung über die Bühne geht. Allen Gesetzen der Perspektive zuwider scheint er größer zu werden, je weiter er sich entfernt. Der Chor konstatiert es voll Staunen: Seht hinauf, wie hoch gestiegen! Und er scheint uns doch nicht klein: Wie im Harnisch, wie zum Siegen, Wie von Erz und Stahl der Schein (Z. 9851 ff.). Wie um uns an die meteorische Geschwindigkeit zu erinnern, mit der Euphorion seine Lebensbahn durchrast, überblicken wir mit ihm, an seiner Seite, in der ringsum von Wellen umspülten „Nichtinsel" (Z. 9512), jenem letzten „Bergast" (Z. 9513) Europas, dem „Erde- wie seeverwandten" Peloponnes (Z. 9826), gleichsam den Längsschnitt einer geologischen Evolution von Millionen Jahren —: vom Flüssigen zum Festen und vom Solideszierten zurück zum Flüssigen. In Euphorions „Weiß ich nun, wo ich bin!" (Z. 9823) entfaltet sich gleichsam das gesamte naturhistorische Panorama der Mittelakte des zweiten Faust. Und welchen stupenden Sprung macht die Kunst in dem Springenden, ja geradezu sein eigenes Leben Überspringenden! Er ist der künftige Meister alles Schönen, die glückhafte Synthese von Fausts Unendlichkeitsstreben und dem stillen Leuchten der Griechenkönigin, so daß man sagen könnte: Faust rennt, Helena ruht, der Sohn beider tanzt. Schon durch seine fließende körperliche Grazie signalisiert der schöne Jüngling, ...dem die ewigen Melodien Durch die Glieder sich bewegen... (Z. 9626f.), den Übergang von den Trimetern seiner mütterlichen Heimat zu den melodiös-drängenden Versen der Moderne. Schon ahnen wir, daß das Faustische, Innerliche überwiegen wird. Gemahnt der chorische Preis der Musik, der Euphorions ersten Worten — über die Musik! — vorausgeht,

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jener Rückzug auf die eigenen seelischen Ressourcen (Z. 9691 — 94) nicht bereits jetzt an die tragische Störung des Gleichgewichts zwischen Selbst und Welt, welcher der Tyrann — erblindet — verfällt? Euphorions Eintritt markiert den Zeitpunkt des prägnanten Momentes der Helena-Tragödie in seinem strengsten Sinn. Sein Über-die-Szene-Rasen enthüllt den prekären Zustand des Bundes, in dem er mit inbegriffen ist. In ihm bringt uns der Dichter ein überlebensgroßes und mit dämonischer Schnelle vorübereilendes Bild vor Augen, das endgültig das Illusionäre dauerhafter organischer Konfigurationen kommentiert und unsern Sinnen die tragische Kurzlebigkeit schwankender Gestalten einprägt. So schnell, besagt dies, sein Aufleuchten und Erlöschen, so schnell geht die glänzende Konstellation, der er entsprungen ist, vorbei... Andererseits sind Geschwindigkeit und Leuchtkraft dieser wunderbaren Figur derart, daß ein Nachbild unser inneres Auge erfüllt; und dieses Bild ist so blendend, daß wir erst allmählich den Abgrund von Misere erblicken, der sich mit seinem Ableben geöffnet hat. Erst wenn wir des märchenhaften simultanen Wachstums dieser schmetterlingsgleichen Gestalt gewahr werden, sind wir in der Lage, Goethes wiederholter Behauptung, er habe über einen Zeitraum von dreitausend Jahren an den Einheiten festgehalten, 21 einen einleuchtenden Sinn zu unterlegen. Denn Euphorions Auftritt erhellt nicht nur blitzartig die Kurzfristigkeit von Fausts und Helenas Glück; wie ein rapide zunehmender Regenbogen eine ungeheure Talkluft im Nu überbrückt, so überspannt der an Körper und Seele alles Menschenmaß Überwachsende den Abgrund von Jahrtausenden, der zwischen seiner Herkunft und seinem Erlöschen liegt. Vor seinem Vogelblick und dem „hoch reflektierenden" 22 Kommentar des Chors liegt das Buch europäischer Geschichte geöffnet da. Bereits im Falle Mignons und des geflügelten Genius der Zauberflöte beobachteten wir die unverkennbare Steigerung der Werkschlüsse, die jenes rapide Wachstum der Hauptfigur und die damit verbundene Gabe, Gegenwärtiges und Vergangenes in Einem zu sehen, mit sich brachten. Hier ist es nicht anders. Euphorions schwindelndes Wachstum und die ihm verliehene Überschau verrücken, so dürfen wir wohl sagen, mit einem Male die gesamte Zeitstruktur der Helena-Tragödie. Das steile Gefalle des Ablaufs von Schattiger Hain pointiert zwar rückblickend die majestätische 21

22

An C. Wilhelm von Humboldt, 22. Oktober 1826. WA, XV, 41, S. 202 f. Auch an Sulpiz Boisseree, 22. Oktober 1826. WA, IV, 41, S. 209. Im Gespräch mit Eckermann, 5. Juli 1827, AGA, 24, S. 256.

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Breite der vorausgehenden Szenen, verleiht indes dieser Geruhsamkeit einen Anflug des Scheinhaften, ja des Gespenstischen; und im Lichte der Uberschau Euphorions und des Chors befestigt sich der Eindruck von der Unhaltbarkeit des exponierten Augenblicks der vor unseren Augen verrinnenden Gegenwart. 4.

Im Zusammenhang mit Lessings und Goethes Terminus vom prägnanten Moment mag es rätlich sein, eine von Goethes besonders erhellenden Formulierungen heranzuziehen. „Nur äußerst kurze Zeit", so lesen wir in Diderots Versuch über die Malerei, „kann der menschliche Körper schön genannt werden... Der Augenblick der Pubertät ist für beide Geschlechter der Augenblick, in welchem die Gestalt der höchsten Schönheit fähig ist; aber man darf wohl sagen: es ist nur ein Augenblick! Die Begattung und Fortpflanzung kostet dem Schmetterlinge das Leben, dem Menschen die Schönheit."23 Nehmen wir an, die Begegnung Euphorions mit der derben Kleinen sei Goethes symbolische Kurzschrift für Begattung und Fortpflanzung, so fällt auf, wie wenig der Dichter an der Frage der Schönheit oder Unschönheit von Euphorions Verhalten interessiert ist, die sich dem Leser aufdrängt. Dies ist keineswegs immer so. Man denke an die schwangere Philine, man denke an die leise Prophezeiung über den Gang der Zeit in Hermann und Dorothea, als der Pfarrer dem Vater nur mit Mühe den Trauring „vom rundlichen Gliede" des Fingers zu ziehen vermag, um das junge Paar zu verloben;24 so, sagt der Dichter mit verhaltenem Lächeln, wird eines Tages der schlanke Träumer von heute sein. Hier aber, in Schattiger Hain, wird diese spezifisch ästhetische Konsequenz geschlechtlicher Reife im menschlichen Bereich so gänzlich in den Schatten gedrängt durch eine andere, existentielle — den Verlust des Lebens selber —, daß man Gefahr läuft zu vermuten, der Dichter spreche unter menschlicher Nomenklatur von einem Schmetterling! Was ja wohl auch der Fall ist. Dieser kurze und tragische Ablauf geht in drei Phasen vor sich. Auf den unbedingten Trieb, zu dem Fernen in unmittelbare Nähe zu gelangen, folgt der zur Gefahr, und schließlich der Drang zum endgültigen Selbstopfer. „Selbstopfer" aber sollte eine Zeitlang das Divan-Gedicht Selige 23 24

AGA, 13, S. 216. 9. Gesang: Aussicht. HA, 2, S. 512.

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Sehnsucht genannt werden. Unschwer ist in dem eben Gesagten die stufenweise Thematik des lyrischen Gebildes wiederzuerkennen. Die folgenden Seiten werden, sich ungezwungen zwischen Lied und Drama bewegend, einige Betrachtungen über die Gemeinsamkeiten der beiden vorlegen. Davon erhoffe ich mir einen doppelten Gewinn. Einmal, etwas über die so umstrittene Symbolik des Selbstopfers, zumal in Schattiger Hain, auszusagen; zum anderen, durch den Aufweis der nahen Verwandtschaft zwischen dem Schmetterlingsgedicht und der Gestalt Euphorions meine ursprüngliche These über dessen Wesen endgültig zu untermauern. Man darf wohl Euphorions Selbstverschwendung als den einzigen ihm gemäßen Weg zu seinem Selbstverständnis, ja, zu seiner eigentlichen Identität bezeichnen. Erst im Akt der Aufgabe seines Selbst kommt er zu sich selbst. Diesem uralten Paradox — es ist ein biblisches — hatte Goethe bislang am dringlichsten zehn Jahre vor der Niederschrift der EuphorionSzene in Selige Sehnsucht nachgespürt. Hier war ihm eine wundervoll ökonomische, allein aus der Satzordnung entspringende Formulierung gelungen. Der Angesprochene wird erst in dem Augenblick genannt, und das heißt, zur Wesenheit, da er in den freiwilligen Flammentod geht: Bist du, Schmetterling, verbrannt. Demselben logischen Muster folgen einige analoge Formulierungen Euphorions und aus seinem Umkreis. Ich denke einmal an die Selbstdarstellung Knabe Lenkers: Bin die Verschwendung, bin die Poesie; Bin der Poet, der sich vollendet, Wenn er sein eigenst* Gut verschwendet (Z. 5573ff.); ferner an Euphorions dunkle Worte: Welche dies Land gebar Aus Gefahr in Gefahr, Frei, unbegrenzten Muts, Verschwendrisch eignen* Bluts, Den nicht zu dämpfenden Heiligen Sinn — Alle den Kämpfenden Bring' es Gewinn! (Z. 9 8 4 3 - 5 0 ) * Hervorhebungen I. G.

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Schließlich, in dritter Linie und gleichsam peripherisch, sei an Euphorions „eigensten* Gesang" erinnert (Z. 9922). Was in Selige Sehnsucht die Namensgebung „Schmetterling" bewirkt, vollbringt das „eigenst" oder „eigen" in den auf Euphorion beziehungsweise Knabe Lenker bezüglichen Stellen. So schroff polarisiert dies „eigen" auch der Aussage der Selbstverschwendung gegenüberzustehen scheint, faktisch bezieht es seine Substanz erst aus dieser Selbstaufgabe. Erst im Akte des Sich-Verschwendens vollendet sich — man möchte fast sagen: konstituiert sich der schöpferische Mensch, sei er nun Held oder Dichter: erst in der Selbstverschwendung wird er zu dem, der sinnvoll von einem ihm eigenst Zugehörigen sprechen kann. Euphorion muß sich verschwenden, indem er wie der Schmettrling in Selige Sehnsucht Gefahr und Tod sucht. Nicht aus einem Hang zur Selbstverneinung, sondern ganz im Gegenteil, weil er „überlebendige, heftige Triebe" (Z. 9739 f.) nicht dämpfen kann und will. Weiß er doch als Künstler, daß der Tod Gebot ist, daß jedes Lebendige — und je lebendiger, desto rascher — am Flammentod von innen stirbt. Der Organismus verbrennt sich zusammen mit den Stoffen, die ihm zugeführt werden, ihn zu ernähren und erhalten. Und nicht nur der Körper. Eine Krankheit zum Tode hatte bereits der hellsichtige Blick Werthers das Enigma des an sich selbst sterbenden Lebens genannt. Wie die Kerze am „eigenen" Leuchten vergeht, so auch der gepriesene Halbgott, der Mensch. Kannte Goethe den Vers aus Measure for Measure, der dies Gesetz in Worte faßt? Our natures do pursue — Like rats that ravin down their proper bane — A thirsty evil, and when we drink we die (I, 2). „A thirsty evil". Gierig schlürft die Fliege die Süße, die sie nährt und lähmt — Goethe hat hierüber ein Gedicht geschrieben, auf das ich in einem späteren Kapitel zurückkommen werde; 25 der Künstler trinkt sich im Schöpferrausch den raschen Tod. Sein Vergänglichkeitsgespür schürt die Flamme seines Ewigkeitsgelüstes um so heißer und heller; und so ist er gleich einer schnell dahinschwindenden Fackel, nicht aus einem Zuwenig von Leben heraus, sondern aus einem Übermaß an purer Vitalität. Vom Schaffens- oder Schöpferrausch künden sowohl Schattiger Hain wie Selige Sehnsucht, zwei Dichtungen, in denen es um letzte Dinge geht. Denn 25

Siehe Kapitel 8, S. 249 f.

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im Gegensatz zu den anderen Werken Goethes, in die die Schmetterlingssymbolik hineinspielt, handelt es sich in diesen beiden Dichtungen nicht um den kleinen Tod der Verpuppung, sondern um den scheinbar endgültigen, großen. Bezahlt der Schmetterling, bezahlt Enphorion mit radikaler Vernichtung? Für Selige Sehnsucht habe ich die Antwort in einem anderen Kapitel dieser Studie erbracht. Hier stellt sich die analoge Frage nach dem Stirb oder Werde des lichtbegierigen und opferlüsternen Sohnes Fausts und Helenas. Fortdauer oder Vernichtung? Der Chor läßt sich über Euphorions Geschick nicht eindeutig aus. Er beklagt sein unglückseliges Los, aber er hat auch Worte des Trostes, jene verschlüsselten Verse nämlich, in denen das pronominale „sie" anscheinend beziehungslos im Räume schwebt: Doch erfrischet neue Lieder, Steht nicht länger tief gebeugt: Denn der Boden zeugt sie wieder, Wie von je er sie gezeugt (Z. 9935 — 8). Sprechen diese Worte, wie die verwandten in Selige Sehnsucht — In der Liebesnächte Kühlung, Die dich zeugte, wo du zeugtest — von der Wiederkehr des Gleichartigen im Rhythmus der Geschlechter? Wie in der „Seligen Sehnsucht" von biologischer Zeugerkraft, so hier, in Schattiger Hain, von einer geistigen Produktivität, so, wie diese Vorstellung in Goethes Gespräch mit Eckermann zum Ausdruck kommt? „...was ist Genie anders", fragt der 78jährige, „als jene produktive Kraft, wodurch Taten entstehen, die vor Gott und der Natur sich zeigen können und die eben deswegen Folge haben und von Dauer sind. Alle Werke Mozarts sind dieser Art", fahrt er fort; „es liegt in ihnen eine zeugende Kraft, die von Geschlecht zu Geschlecht fortwirket und sobald nicht erschöpft und verzehrt sein dürfte." 26 Sicher ist dies so im Falle von Schattiger Hain. Euphorion-Byrons Lieder werden jüngere Genies befeuern und auf solche Weise fortdauern. Indes, nicht nur von geistiger Affinität kündet Euphorions Untergang. Noch bleibt es, Goethes Wort von der zeugenden Kraft des Genies zu präzisieren; und da ist noch eine andere Spur, die ich verfolgen möchte. Sie ist schmal und führt uns über wenig betretene Pfade. Von jenem

26

Zu Eckermann, 11. März 1828. AGA, 24, S. 673.

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„Eigen"-Sein in der Selbstverschwendung führt sie zuerst zu einem Vers, den sich Goethe etwa 12 Jahre vor der Niederschrift der EuphorionSzene für Selige Sehnsucht notiert hatte, von da zurück zu jenem Vers des Trauergesangs, den ich soeben zitiert habe. Vorerst die Zeilen für das Divan- Gedicht: Lange hab ich mich gesträubt Endlich gab ich nach! Wenn der alte Mensch zerstäubt, Wird der neue wach! 27 Diese Zeilen sind mit dem Gedicht, wie es uns heute vorliegt, durch die Symbolik der Asche verbunden, wie etwa in dem Hatem-Vers: Findet sie ein Häufchen Asche, Sagt sie: „Der verbrannte mir." 28 Flammentod und Asche im Divan sind reinliche Vorgänge, wie ja auch das Bild des Staubes eine durchaus positive Bedeutung hat, indem er von der Turbulenz der Sehnsucht spricht. In solche Zusammenhänge müssen wir also das „zerstäubt" der dritten Zeile von Goethes Lesart hineinrücken. Indes, auch der Morphologe Goethe verwendet das Wort „Zer-" oder vielmehr „Verstäubung" in weitaus weniger appetitlichen Zusammenhängen, und zwar als einen terminus technicus für Verwesungserscheinungen wie Schimmel. So zum Beispiel in dem hochinteressanten, im Jahre 1820 verfaßten Essay Verstäubung, Verdunstung, Vertropfung, in dem Goethe der „von Leben zu Leben, ja durch Vernichtung zum Leben hineilenden Organisation" nachspürt. 29 Dort lesen wir folgenden Passus zum Thema der damals lebhaften Debatte, ob die Fortpflanzung im botanischen Reich aufgrund eines Sexualsystems oder aus einer stetigen Metamorphose zu erklären sei. Goethe selbst bekennt sich zu dieser zuletzt genannten Theorie; er paraphrasiert die Gedankengänge ihres Hauptverfechters, F. J. Schelver, wie folgt: „Schelver geht aus von dem eigentlichsten Begriff der gesunden und geregelten Metamorphose, welcher enthält, daß das Pflanzenleben, in den Boden gewurzelt, gegen Luft und Licht strebend, sich immer aus sich selbst erhöhe und, in stufenweiser Entwicklung, den letzten 27 28 29

Zitiert in WA, I, 6, S. 373. Buch Suleika, Hatem, HA, 2, S. 75. LA, 9, S. 210.

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abgesonderten Samen aus eigner Macht und Gewalt* umher streue; das Sexual-System dagegen verlangt zu diesem endlichen Hauptabschluß ein Äußeres, welches... als dem Innersten entgegengesetzt, wahrgenommen und einwirkend gedacht wird." 30 Goethe, ein lebenslänglicher Verfechter der Sexualtheorie der Fortpflanzung, macht sich, obschon mit anfänglichem Zaudern, Schelvers Grundposition einer Fortpflanzung durch Parthenogenese zu eigen; da diese mit den innigsten Überzeugungen des jetzt Siebzigjährigen übereinstimmt, verkehrt er stillschweigend die daraus entstehende Frage in eine positive Aussage, wie wir gleich sehen werden. „Schelver", schreibt er, „verfolgt den ruhigen Gang der Metamorphose, welche dergestalt sich veredlend vorschreitet, daß alles Stoffartige, Geringere, Gemeinere nach und nach zurückbleibt und in größerer Freiheit das Höhere, Geistige, Bessere zur Erscheinung kommen läßt. Warum soll denn nicht also diese letztere Verstäubung auch nur eine Befreiung sein vom lästigen Stoff, damit die Fülle des eigentlichst Innern* endlich, aus lebendiger Grundkraft,* zu einer unendlichen Fortpflanzung sich hervortue." 31 Der Leser sieht: unsere Fährte hat uns zu jenem „aus eigner Macht und Gewalt" und zu jener kühnen — und doppelten — superlativistischen Prägung von dem „eigentlichst Innern" hingeführt, die das „eigen" und „eigenst" Euphorions um sechs Jahre vorwegnehmen. Daß Goethe hier nicht nur Botanik betreibt, sondern „Eigenstes" einfließen läßt, wird dem Leser schwerlich entgehen. Und wiederum, wie bereits in Selige Sehnsucht, ist es auch hier die letzte Selbstverschwendung — „Verstäubung", würde der Botaniker sagen —, die den Organismus „endlich" zu „einer unendlichen Fortpflanzung" befreit. Auch Schattiger Hain — sowohl Phorkyas' ironischen Kommentar als auch die tröstlichen Worte des Chors — bin ich geneigt, mit Hilfe dieses Passus' auszulegen. Der fertige Schmetterling hat seine letzte irdische Hülle abgelegt — das, was Goethe unter „gemeinerem" und „lästigem Stoff versteht —, und nunmehr hält der Teufel die Exuvien, will sagen: die abgestreifte Haut, in die Höhe und prophezeit minderwertige Folgen aus geistentblößten Ingredienzen. Der Chor aber weiß es besser, wenn er

30 31

Ebenda, S. 212. Ebenda.

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in Worten Trost spendet, die so insistent an diejenigen gemahnen, die Goethe Schelver auf die Lippen legt: Doch erfrischet neue Lieder, Steht nicht länger tief gebeugt: Denn der Boden zeugt sie wieder, Wie von je er sie gezeugt. Sollten das, was der „in den Boden gewurzelte" Organismus ohne die Einwirkung eines andersartigen Äußeren da „aus eigner Macht und Gewalt" umherstreut, nicht auch die „letzten, abgesonderten" Samen neuer Lieder sein, die das Genie in einer letzten schöpferischen Verausgabung zu unendlicher Fortpflanzung verströmt? Hat Goethe den Prozeß physischer Begattung Euphorions so brutal gehandhabt, wie er es tut, nur weil dies den Fakten einer Schmetterlingsexistenz entspricht? Oder möglicherweise auch, um durch den Kontrapunkt dieser handfesten biologischen Grobheit, komplett mit kleinem Flammentod, leise auf das Mysterium „höherer Begattung" hinzuweisen, die sich hier vollendet, indem der ganz auf sich gestellte Held und Dichter sich völlig ausgibt? In dem Trauer- und Trostgesang des Chors, wie bereits in Selige Sehnsucht, spricht Goethe von einer Parthenogenese — er, der sein Lebtag an bisexueller Fortpflanzung im Biologischen sowie im Geistigen festgehalten hatte — , 32 von dem Enigma einer ganz von allem Äußeren unabhängigen, allein auf „eine lebendige Grundkraft" gestellten, unendlichen Fortpflanzung in einer unendlichen Stufenreihe von Metamorphosen. Ja, er kündet von einem — dem menschlichen Verstand nicht mehr nachvollziehbaren — Stirb und Werde des „Von Leben zu Leben, ja durch Vernichtung zum Leben hineilenden Organismus". Und bei dieser Feststellung, daß allem Dunkel zum Trotz, „die Fülle des eigentlichst Innersten" gänzlich unverwüstbar ist, und daß auch dem abgeschiedenen Euphorion ein neues „Werde" erblühen wird, müssen wir es belassen. Dergestalt wäre meine Auslegung des Endes dieser im organischen Reich verwurzelten Gestalt. Euphorion-Byron ist tot. Aber die „Flamme übermächtiger Geisteskraft" (Z. 9624) leuchtet fort — und nicht nur für die Jüngeren, und nicht nur in seinen Liedern. Auch für den greisen

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Für eine detaillierte Diskussion von Goethes jugendlicher Position siehe I. Graham, Goethe and Lessing. The Wellsprings of Creation, London 1973, Kapitel 5. In dieser Studie, siehe Kapitel 10.

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Goethe sollte Euphorion-Byron noch seine zeugende Kraft bewähren, indem er ihm in dunklen Tagen sein eigenes, altes Wort zurückgab: „Sei ein Mann und folge mir nicht nach." Denn Goethes größtes, und lebenslängliches, Opfer war ja doch wohl dies: kein Früh-Vollendeter zu sein, sich den Ikarusflug in die Sonne zu versagen, sich zu bewahren, eh' auch ihm die schwere Stunde schlug.

Mephistos Zoo Einer von Goethes sehr ernsten Scherzen Und Gott schuf große Walfische und allerlei Getier, das da lebt und webt, davon das Wasser sich erregte, ein jegliches nach seiner Art, und allerlei gefiedertes Gevögel, ein jegliches nach seiner Art. Und Gott sah, daß es gut war. Genesis 1, 21

1. Jeder Schuljunge weiß, daß Mephisto ein Mitglied von zwei Haushaltungen ist, der des Herrn und der von Herrn Urian. Er selber ist ein Unterteufel, „Ein Teil von jener Kraft" (Z. 1335 f.), ja sogar „ein Teil des Teils" (Z. 1349 f.). Ferner ist er der Herr seines eigenen Haushaltes, oder glaubt es wenigstens zu sein. Dies ist das Tierreich. Im Großen und Ganzen scheint er sich auf die kleineren Gattungen zu spezialisieren; und die Mehrzahl von diesen sind schmarotzende Ungeziefer: Ungeziefer, die im Haus oder um das Haus herumnisten, von der Sorte, die die Hausfrau und der Landwirt verabscheuen. Eins von diesen hat er die Unverfrorenheit, in des Herren Haushalt einzuführen. Das ist die Zikade, die er dem Menschen vergleicht. Die Zikade ist ein Insekt der Homoptera Familie. Die Männer zirpen auf das Anheimelndste. Die Weiblein sind ungleich weniger vertrauenserweckend. Sie sind mit zwei eminent schädlichen Körperteilen ausgerüstet: einem langen, trichterförmigen Rüssel, mit welchen sie grünen Pflanzen Saft und Kraft aussaugen — man nennt ihn eine Proboscis. Weiterhin hängt von ihrem Bauch ein kräftiges und schlankes Werkzeug herab, der sogenannte Ovipositor, durch welchen sie ihre Eier legen, wiederum in Pflanzen, nachdem sie tiefe Schlitze in deren Rinde gebohrt haben, sozusagen als Wiege für ihre Jungen. Abscheulich. Übrigens nennen sich die jungen Grillen, die so zerstörerisch am Werke sind, ungemein idyllisch „Nymphen"; und dabei erinnern wir uns, daß die Choretiden Helenas am Schlüsse des dritten Aktes auch zu Nymphen werden. Welch ein merkwürdiges Zusammentreffen. Entscheidend aber ist dies: diese Insekten machen eine

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inkomplette Metamorphose durch. Innerhalb von zwei bis sechs Wochen kriecht die Nymphe aus dem Ei, frißt vom ersten Moment an alles um sich herum auf, und entwickelt sich langsam — es kann bis zu siebzehn Jahren dauern — zu dem erwachsenen Insekt, das ihr in jeder Hinsicht ähnelt, außer daß das reife Insekt Flügel hat. Mephisto legt großes Gewicht auf die Unverbesserlichkeit der Biester: sie springen in die Luft, um desto tiefer zu fallen. Die Literaturkritiker erläutern, sie seien der „Steigerung" unfähig. Dies stimmt, ist aber weit weniger drastisch als die Art und Weise, in welcher der Teufel — er ist übrigens ein kompetenter Morphologe — denselben Sachverhalt formuliert: Und lag' er nur noch immer in dem Grase! In jeden Quark begräbt er seine Nase (Z. 291 f.). Der Herr schweigt sich aus. Für den Augenblick läßt er diese vernichtende Charakterisierung ohne weiteren Kommentar durchgehen. Wie sollte der Teufel wissen, welches von seinen Geschöpfen er nach seinem Bilde schuf? Noch auf einen andern seiner Schützlinge kommt Mephisto im Himmel zu sprechen. Freilich wissen wir nicht, ob der Teufel in seinem Zoo ein Exemplar der Schlange hat. Dies jedoch ist gewiß: die Schlange ist seine nahe Verwandte. Zweimal nennt er sie „meine Muhme" (Z. 335 und 2049); ja, Faust geht soweit, zu denken, daß sein Kompagnon faktisch eine Schlange ist. Die Schlange ist ihr Leben lang das, was die Zikade während ihrer Kindheit ist: sie ist ein Wurm. Ein Wurm ist ein eintöniges Geschöpf. Er besteht eigentlich nur aus Mund und Darm. Abgesehen von ihrer flackernden, quicklebendigen Zunge und ihren intelligenten Augen ist die Schlange — wie jeder Wurm — über drei Viertel ihrer totalen Länge eben das, als was sie erscheint: sie ist total gleichförmig. Sie besteht aus hohlen, muskulösen Abteilungen, die durch regelmäßige Zusammenziehungen die in ihnen befindliche Speise langsam vom Munde bis zum Rektum hindurchquetschen. Goethe fühlte sich von der „Unartikuliertheit" der Bestie abgestoßen: „gleichgültig" nennt er sie, wegwerfend. 1 Aus diesem physiologischen Blickwinkel leuchtet es denn auch ein, daß Mephisto das Leben als so maßlos langweilig empfindet. Dies bleibt niemandem erspart, der so einförmig gestaltet und beschäftigt ist. Und dazu kommt noch dieses: die Schlange erreicht ein hohes Alter, indem sie immer dasselbe Spiel wiederholt. Sie ißt, sie scheidet aus, was sie gegessen hat, um wieder zu 1

In: Fragmente

\ur vergleichenden

Anatomie. AGA, 17, S. 431 f. und 434.

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fressen; und dies ohne die geringste Hoffnung auf eine durchgreifende Veränderung. Denn auch die Schlange geht durch eine unvollkommene Metamorphose hindurch. Von Zeit zu Zeit häutet sie sich und beginnt mit neuer Geschmeidigkeit ihre alte Routine. Dazu ringelt sie sich unaufhörlich um sich selbst, vermutlich, um durch diese kreisförmige Bewegung die exquisite Sinnlosigkeit ihres Daseins zum Ausdruck zu bringen. Hier aber sollte man eines möglicherweise mildernden Umstands gedenken: ringelt sich nicht eine Schlange um den Stab des Aesculapius? Und ist nicht Manto, zu der der wild kreisende Chiron den liebeskranken Faust bringt, damit sie ihn auskuriere, der Sage nach die Tochter des Arztes? Könnte es also sein, daß Schlangen schließlich doch eine nutzbringende Funktion haben, wenn auch nur beiläufig, sozusagen hinter ihrem eigenen Rücken? In Bälde wird sich der Teufel in einer neuen Maske präsentieren. Wir können nicht gewiß sein, ob er Hunde in seiner Menagerie hält. Wahrscheinlich nicht, denn sie sind ja die „Gesellen" des Menschen. Dies ist vermutlich der Grund, warum der Teufel in Gestalt eines Pudels auftritt. Offenbar will er durch diese Maskerade Faust Vertrauen einflößen. In jedem Fall beruhigt seine List den harmlosen Wagner, der meint, das kreisende Ungetüm — der Pudel zieht immer engere Schlingen um die beiden Spaziergänger — hege nichts anderes im Sinne, als „auf seine Weise... auf der Spur des Herrn" (Z. 1150f.) zu bleiben. Sei dem, wie es wolle. Der Hund ist der Genosse des Menschen, sein treuster Freund. Wir nehmen die Tatsache zur Notiz und denken an den Stab des Aesculapius. Von diesem frühen Zeitpunkt an geht es mit der Klasse der Insassen von Mephistos Zoo rapide bergab. Die Falle ist hinter dem Pudel zugeschlagen und der Teufel braucht einen Rattenzahn, um ihn aus dieser Patsche herauszubeißen.' Das Biest ist sogleich beschafft, denn Mephisto 1 ist — er selbst bekennt es stolz —: Der Herr der Ratten und der Mäuse, Der Fliegen, Frösche, Wanzen, Läuse (Z. 1516 f.). Etwas darüber wissen wir bereits. Bei ihrem ersten Treffen hatte Faust den Teufel geringschätzig „Fliegengott" (Z. 1334) genannt. „Fliegengott" ist die buchstäbliche Übersetzung des hebräischen ,Beelzebub'. Faust ist fraglos, wie sein Schöpfer, bibelfest. Hier nun enthüllt Mephistopheles, wer eigentlich seinen Hofstaat bildet. Seine Intimissimi sind größtenteils Ungeziefer. Sie leben von Abfallen und Exkrementen, ja, von Tod und Verwesung, und sie lassen Ansteckung und Fäulnis, gleichsam als Gastgeschenke, zurück. Was Wunder, daß sie dem Teufel sympathisch sind!

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Bekennt er nicht selbst, daß sein wahres Element die Zerstörung sei, eine Definition übrigens, die er etwas unbedenklich mit „Sünde" und dem „Bösen" gleichsetzt? Und fügt Faust nicht zu seiner ursprünglichen Schmähung „Fliegengott" sogleich das Wort „Verderber" (Z. 1334) hinzu? Wie gesagt, der Teufel ist ein beschlagener Morphologe. All die Geschöpfe, die er in der zweiten Zeile seines Anrufes aufzählt, bilden in der Tat eine Gruppe, und diese kraft eines einzigen, absolut entscheidenden Merkmals: sie alle machen eine unvollkommene Metamorphose durch. In diesem Stück sind sie wie die Zikade, die der Teufel bei einer solch denkwürdigen Gelegenheit erwähnt hätte, und darin auch sind sie wie seine „Muhme", die berühmte Schlange. Aus diesem einen, entscheidenden, Blickwinkel heraus gehört auch der Frosch zur gleichen Sippe. Mephisto wird Faust eine Kröte nennen, was ja so ziemlich auf das Gleiche herauskommt. Der Frosch ist ein kaltblütiger Amphibe und dazu ein Zyniker, im Kleinen. Schließlich sieht er die Welt von unten, aus der Froschperspektive, wie wir so treffend sagen. Dem entspricht auch seine Einschätzung der Elternschaft. Er kümmert sich nicht um seinen Laich, sondern überläßt ihn seinem Schicksal, er mag nun gedeihen oder von Fischen gefressen werden, welches letzteres Geschick ja voraussichtlich auch Gretchens ertränktem Kind widerfahrt. Ist es demnach mit seiner Fortpflanzung heikel bestellt, so entschädigt er sich dafür, indem er seinerseits seine Verwandten — die Fliegen oder Blattläuse — auffrißt. Die Kehrseite davon aber ist wiederum, daß er selbst von anderen, größeren Gourmets — von solchen Kennern wie Forellen oder Hähern — als besonderer Leckerbissen geschätzt wird. So steht er also halbwegs zwischen Verschlingen und Verschlungenwerden; eine prekäre Lage, die er mit jedem Wesen teilt, das der Herr „nach seiner Art s c h u f ; und dazu gehört auch der Mensch, und dessen kostbarste Besitztümer. Die Lemuren wissen es, wie Hamlet es vor ihnen wußte: Es war auf kurze Zeit geborgt; Der Gläubiger sind so viele (Z. 11610 f.), sagen sie. Freuen wir uns des Humors eines Dichters, der seine zusammengeflickten Existenzen — die Lemuren sind am Punkte biologischen Bankrotts — von Shakespeare eine literarische Anleihe machen läßt, die das ganze Leben als einen einzigen Prozeß des Borgens und Wiedererstattens erfaßt. Wir blicken in einen schwindelnden Abgrund. Raub des Geraubten, ein fragwürdiges Los, dem kleinen Frosch und dem großen Faust gleichermaßen beschieden. Dennoch müssen wir uns wohl zufrieden geben: denn sagte nicht der Herr selbst, daß es „gut" war?

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Die Mäuse und die Ratten sind ein ganz anderes Kapitel. Denn diese sind Land- und Säugetiere. Überdies machen sie keinerlei Metamorphose durch. Goethe haßte die Biester. Da ist jene abscheuliche Episode in Walpurgisnacht, wo einer nackten Frau eine rote Maus aus dem Mund herausspringt, und dies inmitten von Fausts Liebkosungen. Und da ist Mephistos besonderer Liebling, die Ratte, ein Tier, das Goethe verabscheute und ihn überdies, wie alle Nagetiere, beunruhigte. 2 Genaueres über das Rattendasein erfahren wir in Auerbachs Keller, in Branders Lied, das sich vorzüglich um das Liebesleben des Tieres dreht. Zu Beginn war es um seine Rattenfrau gar nicht so schlecht bestellt. Sie lebte respektabel stibitzend von Fett und Butter und setzte ein Bäuchlein an, wie der Herr Dr. Luther. Dann kam die Köchin und streute Gift. Und jetzt wird die Bestie schier verrückt, sie wälzt sich in Pfützen, die sie verseucht, indem sie davon trinkt, und tanzt im Kreis herum, als ob sie den Veitstanz hätte. Schließlich sinkt sie in Krämpfen darnieder und krepiert: und all dies „Als hätt' sie Lieb im Leibe"! Und was der Sache die Krone aufsetzt: von diesem Unglückstier mit seinem aufgetriebenen Bauch wird behauptet, es sei das „ganz natürlich Ebenbild" (Z. 2157) von einem der Trinkkumpanen, einem frustrierten und korpulenten Glatzkopf. Wir sind verwirrt. Wessen Ebenbild ist der Mensch? Gottes oder eines Nagetiers? Auch Faust ist sich nicht sicher. „Das Ebenbild der Gottheit" nennt er sich, ja, selbst „Gott", und dann immer wieder — Wurm. Welch ein Paradox! Und wo steckt der Mensch? Das Ineinander von Geschlecht und Tod in Branders Rattenlied ist diabolisch. Und schließlich sind ja auch Geschlechtlichkeit und Tod die spezielle Provinz dessen, der, nach dem Worte der Jünger in der Osternacht, über „der Verwesung Schoß" (Z. 798) — das heißt über die Sterblichkeit — regiert. Der Bock, der die erste Walpurgisnacht durchstampft — Mephistos erste Worte sind, er wünschte, er hätte „den allerderbsten Bock" (Z. 3836) —, ist die Gestalt gewordene gemeinste Geschlechtlichkeit: Es f — t die Hexe, es stinkt der Bock (Z. 3961). Und dasselbe gilt für das „Mutterschwein", auf dem die alte Baubo herbeigeritten kommt. Baubo ist schwanger, und der Hexenchor prognostiziert: Die Gabel sticht, der Besen kratzt, Das Kind erstickt, die Mutter platzt (Z. 3976 f.). 2

Siehe Die Skelette der Nagetiere, abgebildet und verglichen von D'Alton. HA, 13, S. 212 ff.

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Und noch immer ist der Teufel bei seinen obszönen Späßchen, wenn er an des Kaisers Hofe wieder erscheint, diesmal in der Maske von ZoiloThersites. Als der Herold ihn mit seinem Stab berührt, verwandelt er sich in einen „eklen Klumpen": — Doch Wunder! — Klumpen wird zum Ei, Das bläht sich auf und platzt entzwei. Nun fallt ein Zwillingspaar heraus, Die Otter und die Fledermaus; Die eine fort im Staube kriecht, Die andre schwarz zur Decke fliegt. Diesen Bericht glossiert der Herold folgendermaßen: Sie eilen draußen zum Verein; Da möcht' ich nicht der dritte sein (Z. 5475 — 83). Wir stimmen bei und würden uns eilendst besseren Dingen zuwenden, hielte uns nicht eine störende Erwägung zurück: all dieser Unflat — Obszönität und Korruption, Tod bergend und Tod bringend — reicht in menschliche Bereiche hinein, will sagen, in einen liebenswerteren und edleren Bereich, außerhalb der Umzäunung von Mephistos Zoo. Da ist zum Beispiel Lieschen: sie sagt von dem armen vertrauensvollen Gretchen, die das Kind des geliebten Mannes unter dem Herzen trägt: Es stinkt! Sie füttert zwei, wenn sie nun ißt und trinkt (Z. 3548 f.). Weiterhin ist da Gretchens eigener Bruder Valentin. Der prophezeit, Daß alle brave Bürgersleut', Wie von einer angesteckten Leichen, Von dir, du Metze! seitab weichen (Z. 3751 ff.). Das ist genau derselbe Sprachschmutz wie der, der Tanz wird in Mephistos verpesteter Ratte, die, selbst krepierend, die Umwelt verseucht, „Als hätt' sie Lieb' im Leibe". Nur schlimmer. Denn Gretchen ist ein liebliches Geschöpf, das uns anrührt, das in dumpfem Unverstand dem Lauf der Dinge nachsinnt und sagt: ...alles, was dazu mich trieb, Gott! war so gut! ach war so lieb! (Z. 3585 f.) Wie kommt Gott nur in diesen Abgrund von Elend hinein, fragen wir uns.

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Und da ist noch Helena, jene „Gestalt aller Gestalten, welche die Sonne jemals beschien" (Z. 8907 f.). Diese ist doch aber gewiß außerhalb der Grenzen von Mephistos Naturschutzpark, denken wir; doch auch sie ist vor seinem Gift nicht sicher. Der Teufel hat sich die Maske der Phorkyas ausgeliehen; und in dieser Gestalt, gleichsam von einer Frau zur andern, nennt er sie und ihre schwanhalsigen Gefährtinnen nun einen „Zikadenschwarm", der sich über die grünen Weiden ergießt und sie mit Stumpf und Stiel abgrast. Phorkyas schärft die Spitze ihres Pfeils; sie ist es, die die menschlichen Zikaden an ihre Freß- und Fortpflanzungswerkzeuge erinnert — ich erwähnte sie eingangs, als wir Mephistos Zoo betraten — indem sie den Chorfrauen entgegenwirft, sie seien Verzehrerinnen fremden Fleißes! Naschende Vernichterinnen aufgekeimten Wohlstands...! (Z. 8781 f.), nachdem sie sie zuvor als Nymphomaninnen bezeichnet hatte, Entnervend beide, Kriegers auch und Bürgers Kraft! (Z. 8778). Offensichtlich hat Phorkyas Mephistos Erfahrung nicht vergessen, eine Erfahrung, die der Teufel am eigenen Leibe gemacht hatte: denn die Lamien, mit denen er in der Klassischen Walpurgisnacht geliebäugelt hatte, hatten sich ja in der unerquicklichsten aller Metamorphosen als hübsch bemalte Vampirinnen entpuppt. Jede von Phorkyas' teuflischen Anfälligkeiten läuft auf das Gleiche hinaus. Wie die Zikade mit ihrer saugenden Proboscis und ihrem stechenden Ovipositor werden die schönen Griechinnen als sexuelle Blutsauger angeschwärzt, die die menschliche Ernte, auf der sie sich niederlassen, enervieren und verheeren. Dieser Stachel sitzt; viel später in der Unterhaltung fragt sich Helena, ob sie denn wirklich die Verkörperung aller jener Abscheulichkeiten sei, die Phorkyas ihr an den Kopf geworfen hat. In den Augen ihres „Widerdämons" jedenfalls sind sie und ihre Gefahrtinnen all dies, und noch Schlimmeres. Eine Scylla werden sie und die ihren in einem wütenden stichomythischen Wortwechsel genannt; will sagen, ein sechsköpfiges, weibliches Ungeheuer, das Männer verzehrt; sodann Harpien, und das bedeutet, Dämonen, die von Schmutz leben und das, was sie nicht verzehren können, besudeln; sodann werden sie als Blutsauger bezeichnet, ferner als Leichen, die sich von menschlichem Aas nähren. Schließlich — das setzt dem Ding die Krone auf — tituliert Phorkyas sie als Vampire: und das heißt als wiederbelebte Leichen, die sich an arglosen Schläfern vergehen und sie töten. Die Frage erhebt sich, ob die „schwanengleiche" Helena und ihre Jungfrauen wirklich das sind, was ihnen Phorkyas da ins Gesicht wirft.

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Anderswo habe ich zu zeigen versucht, daß sie tatsächlich unter anderm auch dieses sind. 3 Alles, was ich hier bemerken möchte, ist die Allgegenwart dieser verbalen Exkremente und die enorme Präzision und Konsequenz, mit der Mephisto — und sein Schöpfer! — sie in diesem Drama überallhin verstreut haben; und weiterhin noch dies, wie tief sich dieses zerstörerische Bildgeflecht in die Gesamtstruktur, ja, in die Gesamtsubstanz dieser Tragödie hat einfressen dürfen. Von Mephistos Ratte, die, selbst krepierend, um sich herum Ansteckung und Tod verbreitet, ist es nur ein Schritt zu dem Zikadenschwarm; von dort noch einer zu den enervierenden Nymphomaninnen, noch ein weiterer zu der „angesteckten Leichen", wie Gretchen genannt wird; und von dort ein letzter Schritt zu den Vampirinnen. Genau gesprochen verläuft dieses Bildgeflecht nicht eigentlich linear, wie meine Worte eben angedeutet haben mögen: es schließt sich kreisförmig zusammen. Denn mit dem Komplex der Nekrophosie und des Vampirismus sind wir faktisch an unseren Ausgangspunkt zurückgelangt — zu der totgeweihten, sexverrückten Ratte. 2.

Hat sich also die Führung durch Mephistos Zoo als eine einmalig unerquickliche Rundtour herausgestellt? Urteilen wir noch nicht und schauen wir uns statt dessen die Verschläge an, in welchen jene gemeinsten aller organischen Formen zur Schau gestellt werden — ich meine die Würmer. Würmer gibt es in den verschiedensten Ausführungen. Zum ersten den Regenwurm, der sich immer wieder häutet und dabei der Gleiche bleibt, vom Beginn seiner Karriere bis zu deren Ende. Wir haben seine unaufregende Bekanntschaft gemacht. Ferner sind da die Bandwürmer und die wurmartigen Larven jener Schmarotzer, die ebenfalls durch eine inkomplette Metamorphose hindurchgehen; als da sind Läuse, Wanzen, Lokuste, Zikaden usw. Von ihnen allen gilt Goethes abschätziges Wort: „gleichgültig". Und zum Schluß gibt es die Raupen: vielfräßige Pesten wie ihre Vettern und ohne jeden Zweifel Darmexistenzen. Raupen jedoch sind die embryonale Phase von etwas grundlegend Anderem: sie markieren das, was Goethe einmal „eine große bedeutende Stufe der Natur" 4 nannte. Warum? Ihre Larven mögen ganz wie die anderen Insekten sein; aber „Spur ist nicht Ziel", 5 wie Goethe einmal bemerkte. Kraft einer radikalen 3 4 5

Eine detaillierte Analyse dieser Szene findet sich in Kapitel 18 dieser Studie. In: Fragmente ytr Botanik. AGA, 17, S. 196. In: Wilhelm Meisters Wanderjahre, II, 1, HA, 8, S. 157.

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Metamorphose verwandeln sich diese besonderen Würmer in das, was Goethe „vollkommene Insekten" zu nennen pflegte: sie verwandeln sich in Schmetterlinge und Motten. Schmetterlinge und ihre Vorläufer, die Raupen, faszinierten Goethe sein Leben lang. Er nannte die Verwandlung der einen in den anderen „das schönste Phänomen, das ich in der organischen Natur kenne", wohinter er in Klammern schreibt „(welches viel gesagt ist)"; 6 und er verwandte viel Zeit und Mühe darauf, ihre Gewohnheiten und Entwicklung zu beobachten. Ja, in seinen verschiedenen Anläufen, einen allgemeinen Typus aufzustellen, der als Ausgangspunkt für eine vergleichende Anatomie tauglich sein würde, wählte er keineswegs den menschlichen Organismus, das non plus ultra aller natürlichen Evolution, sondern — den RaupenSchmetterling, und zwar aus folgendem Grund: kraft der enormen Spannweite seiner Entwicklung von der Raupe zum vollendeten Insekt schien ihm dieser wundersame Zwitter einerseits weit genug von den höheren Organismen entfernt, um deren Genese von den primitivsten Anfangen an zu erhellen, andrerseits dem Menschen nahe genug, um als Modell aller späteren und differenzierteren Organisationen gelten zu können. 7 Nahe genug aufgrund von was? fragen wir. Goethe hätte geantwortet: nahe genug kraft jener radikalen Metamorphose, die zwischen seiner unvollkommenen und seiner vollendeten Phase statthat. Diese radikale Metamorphose vollzieht sich — Goethe würde gesagt haben: konnte sich überhaupt nur mittels eines fast kompletten metabolischen Stillstandes vollziehen —, der denkbar nahe an das grenzt, was wir Menschen als den Tod erfahren. Während dieser Phase — der Phase der Verpuppung — begibt sich jene unglaubhafte „Umartung", in welcher das kümmerliche Kriechtier, das nichts als Mund und Darm und After ist, sich in das Imago verwandelt, diese „wahrhaften Ausgeburten des Lichtes und der Luft", 8 wie Goethe 6

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An Schiller, 6. August 1796. Ist es möglich, daß die dem Knaben Goethe verhaßte Pflicht, seines Vaters heißhungrige, stinkende und verwesende Seidenwürmer zu betreuen, im Leben des Dichter-Wissenschaftlers „eine große und bedeutende Stufe" markierte? Sein Gewahrwerden der „grossen und wundersamen Veränderung", durch die sich die widerwärtigen „Würmer" (Goethes Wort!) verwandelten, mag ihm die Möglichkeit einer letzlichen, und rettenden, Verträglichkeit zwischen Schauen und Glauben eingeimpft haben. (Dichtung und Wahrheit, I, 4, HA, 9, S. 120 f.). In: Vorträge über die drei ersten Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie. AGA, 17, S. 233 ff. und S. 272. In: Zur Farbenlehre, § 650. HA, 13, S. 468. In diesem Zusammenhang spricht Goethe emphatisch von der Farbenpracht der Raupe, im Gegensatz zu Regenwürmern und inneren Würmen (ebenda).

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einmal schrieb: in ein schön gefärbtes, scharfäugiges, beflügeltes Geschöpf von höchster Grazie, das sich von Nektar nährt und seiner wahren Bestimmung, der Begattung und Fortpflanzung, zueilt, wonach es stirbt. „Selige Sehnsucht" in der Prosa der Natur. Und so unscheinbar und unedel, verglichen mit dem vollendeten Insekt, die Raupe auch sein mag, so war doch Goethe ihrer eigenen Schönheit gewahr. Von Anfang an unterscheidet sie sich nämlich von den gemeinen Würmern — den wahrhaft „gleichgültigen" — durch ihre lebhafte und oft geradezu dramatische Färbung. Nun, Motten und Schmetterlinge sind in Mephistos Zoo nicht vertreten, außer einer Art und dies ist, erwartungsgemäß, die gemeinste: ich meine die Kleidermotten, die aus Faustens altem Pelz herausflattern, den er zu Beginn des Dramas in seiner „Mottenwelt" (Z. 659) getragen hatte. Der Teufel schlüpft in die „Rauchwarme Hülle", während er auf das Erwachen seines Klienten von dem Fiasko dessen ersten Versuches wartet, sich zu einem höheren, reicheren Leben aufzuschwingen. Da liegt er nun, in einer tiefen Ohnmacht, in demselben Hochgewölbten, engen gotischen Zimmer, in welchem er seine Karriere begonnen hatte. Die Klassische Walpurgisnacht mit ihrem brodelnden Leben ist unfern, Homunculus ist im Begriff, „gemacht" zu werden und dann aus eigner Befugnis den Akt seiner Empfängnis nachzuvollziehen, Baccalaureus — ein von seinem Schöpfer leicht ironisch gehaltenes Ebenbild des jungen Faust — steht bereits hinter dem Vorhang und wartet auf das Zeichen, in dessen Studierzimmer hineinzustürmen und dieses mit einem welterschütternd leeren und dennoch nicht ganz unliebenswerten Wortschwall zu erfüllen: und, gerade bevor diese allseitige Verjüngung stattfindet — sie wird in der eklatantesten aller Regressionen am Ende des Helena* Aktes enden — was geschieht? Aus Fausts zerfledertem Pelzmantel fliegen all diese kleinen Ungeziefer: Zikaden, Wanzen, Käfer, Läuse und unter ihnen — Kleidermotten. Ein doppeldeutiges Symbol, gelinde gesagt; denn trotzdem sie zu der Gattung gehören, welcher Goethe in dem Gedicht Selige Sehnsucht Unsterblichkeit verleihen sollte, gedeiht diese Sorte aufs Beste in dem „Wust und Moderleben" (Z. 6614) hier, letzt ihren Gaumen an allem, was verfault und hinterläßt — Löcher. Mehr „stirb" als „werde", augenscheinlich, und ein sarkastischer Kommentar seitens des Dichters über das junge Leben, das da allerorten sich zu regen beginnt. Wir dürfen also annehmen, daß Mephisto einen Vogelkäfig in seinem Zoo hat, der von einer etwas absonderlichen Mischung von dem, was da fleucht, bewohnt wird: von Schwänen und Gänsen, von Fledermäusen und Eulen, wie auch von Schwärmen antiker Vettern, als da sind Greife, Kraniche und andere mit unaussprechbaren Namen, die die Klassische

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Walpurgisnacht ergötzlich machen; und, in einem kleinen, vorsorglich mit eßbaren Textilien ausgelegten Nebengebäude, Kleidermotten. Was Mephisto nicht hat, sind Schmetterlinge. Ja, als erklärter Atheist würde er wahrscheinlich ihre Existenz ableugnen, und wie Thaies nach dem Aufplatzen des Meteors seinen leichtgläubigen Zuschauern versichern: Sei ruhig! Es war nur gedacht (Z. 7946). Denn der Schmetterling mit seinem Quasitod und seiner Auferstehung ist ein „Signal der Transzendenz" oder „ein Gerücht von Engeln", 9 um die liebenswerte Prägung eines modernen Soziologen zu entleihen. Und davon will der Teufel nichts wissen. Im übrigen hätte er sich keine grauen Haare zu wachsen lassen brauchen aus Furcht, seinem Empfangsapparat könne durch die Einwirkung eines ideologischen blinden Fleckes etwas so morphologisch Epochemachendes wie ein Insekt entgangen sein, das einer radikalen Metamorphose fähig ist. In diesem Stück gibt es allen Ernstes keine Schmetterlinge, außer sozusagen in einem Phantasiebezirk, in Verbindung mit Fausts „Söhnen": zuerst als jener Bohemien, Knabe Lenker, Gold in die Luft wirft und anstatt dessen „frevle Schmetterlinge" herabregnen (Z. 5603); sodann als der poetische Euphorion, diese „wahrhafte Ausgeburt des Lichtes und der Luft", kurz nach seinem besorgniserregenden Verschwinden in einer Felsenkluft ätherisch gewandet wieder auftaucht und zwar als was? Die Antwort daraufhabe ich in dem vorigen Kapitel gegeben und will sie nicht totreden. 10 Was aber völlig unspekulativ und gewiß ist, ist dies: der Chor nimmt Euphorions wunderbare Wiedererscheinung dadurch zur Kenntnis, daß er uns über den göttlichen Hermes berichtet, wie er, unmittelbar nach seiner Geburt, aus seinen Windeln geschlüpft sei, Gleich dem fertigen Schmetterling, Der aus starrem Puppenzwang Flügel entfaltend behendig schlüpft, Sonnedurchstrahlten Äther kühn Und mutwillig durchflatternd (Z. 9657 — 61). Zwei kleine, leicht überhörbare Signale. Aber ganz ernsthaft, es gibt keinen Schmetterling, über den sich Mephisto aufregen könnte, jedenfalls nicht diesseits von Grablegung. Und wenn dann die seligen Knaben in Himmel Fausts Unsterbliches „im Puppenstand" empfangen, die Flocken, ?

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Peter Berger, A Rumour of Angels. Modern Society and the Rediscovery Harmondsworth 1970. Siehe Kapitel 3 dieser Studie.

of the

Supernatural,

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die ihn umgeben — also seinen Kokon — auflösen und er sie so schnell überwächst wie Euphorion seinen Eltern entwachsen und Hermes „Klatschender Wärterinnen Schar" (Z. 9649) entwischt war, hat Mephisto bereits die Bühne verlassen; überdies findet all dies in einem, von seinem Gesichtspunkt aus, unglaubhaften Habitat statt, wo niemand mit der Wimper zucken würde, flatterte ein toter Mann in Gestalt einer Motte davon. Die Kommentatoren haben diese Zeilen pflichtgemäß vermerkt, und uns dahingehend informiert, der Dichter habe hier wieder einmal sein west-östliches Lieblingssymbol eingesetzt. Was sie uns aber nicht gesagt haben, und sich selbst nicht gefragt haben, ist dies: wie der Dichter so urplötzlich auf diesen Einfall gekommen sei? Ein Schmetterling setzt eine Raupe voraus. Wäre es möglich, daß der Morphologe Goethe dies vergessen hätte? Wäre es möglich, daß eben dieser Morphologe eine Raupe in sein Stück geschmuggelt und uns alle genarrt hätte, und zwar Faust und den Teufel ebenso sehr wie uns, seine Leser? Ein solcher Trick könnte einem leicht entgehen. Mephisto wäre ihm nicht auf die Spur gekommen, hätte es auch gar nicht gewollt. Er ist eine unpoetische Seele; er denkt sowieso, daß er alles weiß und läßt sich nicht leicht überraschen, am wenigsten von Freude. Im übrigen trägt er ideologische Scheuklappen, mit denen er sich unwillkommene Neuigkeiten vom Leibe hält. Und Faust? Wer kann der Raupe, die am Zweige kriecht, Von ihrem künft'gen Futter sprechen? Und wer der Puppe, die am Boden liegt, Die zarte Schale helfen durchzubrechen? Es kommt die Zeit, sie drängt sich selber los Und eilt auf Fittichen der Rose in den Schoß. Das lyrische Ich dieses Gedichtes — es ist Ilmenau — hat den Kunstgriff angewandt, sich zur gleichen Zeit in zwei verschiedenen Zeitdimensionen zu bewegen. Zur Zeit der Niederschrift ist der Herzog so alt, wie Goethe war, als er acht Jahre zuvor dessen Mentor wurde. Er — das lyrische Ich — ist aus seiner Chrysalide ausgeschlüpft, und auf diese Weise fähig, seine eigene Vergangenheit mit der Gegenwart des jüngeren Mannes zu vergleichen, der noch tief in der undurchdringlichen Hülle seines Kokons steckt. So ist er in der Lage, die komplexe Identität seines Schützlinges zu durchschauen. Wer aber könnte Faust einen ähnlichen Dienst erweisen? Weder er selbst noch die, die mit ihm im gleichen Flusse schwimmen. Und am wenigsten Mephisto, trotzdem er so alt wie Methusalem und so klug wie die Sphinxe ist. Das vollendete Insekt im Wurm zu erblicken bedarf es der schöpferi-

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sehen Phantasie und des Glaubens; und nur der Herr hat beide. Als der Morphologe, der auch er ist, sieht er in dem Schößling, der seine ersten Knospen dem Licht des Tages entgegenstreckt, im voraus den obstbeladenen Baum. Für die meisten von uns jedoch ist glauben schauen; und so mußte denn der Dichter unsern Glauben auf sich beruhen lassen, wenigstens bis zu der Enthüllung am Ende des Dramas. Und wer von uns, der eine Raupe schaut, vermag es, in ihr den Schmetterling zu glauben? Angesichts eines weltumspannenden Dramas auch nur anzudeuten, daß der Hauptspieler eine vermummte menschliche Raupe ist, erfordert ebenso viel Mut wie Kunst. Denn eine Raupe ist ein denkbar minderwertiges Wesen, und eine Raupe in Menschengestalt ein so versponnenes Paradox, daß man es gar nicht merkt. In der Tat verwandte Goethe ein ganzes Arsenal von dichterischen Mitteln, in der Absicht, uns Fausts irdische Raupenexistenz leise zu bedeuten. Er benutzte haute tragédie, beißende Satire, rabelaisischen Humor, ja, selbst jene merkwürdige Mischung von Primitivität und Surrealismus, wie wir mit den Schwänken Charlie Chaplins oder in jüngerer Zeit Monty Pythons verbinden; und überdies natürlich immer seine fein gesponnene Sprache, von ungesehenem Leben vibrierend, wo „Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt" (Z. 1927). Indes, wenn er nicht ins Lachhafte absacken wollte, konnte er nur andeuten; und seine Winke sind uns entgangen. Da er es liebte, sich zu verrätsein, gereichte es ihm vermutlich zu heiterster Befriedigung, daß wir den einen oder anderen Faden seines Gewebes gar nicht einmal wahrnahmen. „Offenbar Geheimnis" war seine Devise. Dieses eine jedoch dürfen wir mit Gewißheit annehmen: wenn ein Goethe „Schmetterling" sagte, dann begriff er damit „Raupe" in seiner Aussage. Und da er nun einmal der Dichter-Wissenschaftler war, den es modisch ist, mit tausend Zungen zu preisen, können wir wetten, daß es wenig gab, was er über dieses Insekt nicht wußte, bis in jene zartkräftigen Fingerspitzen hinein, die ihm so gut zu Dienste standen, wenn er die Biester sezierte. 3. Faust als Raupe in Menschengestalt: der Kritiker, der den Balanceakt vollziehen will, den der Dichter von ihm in diesem, seinem Drama fordert, bedarf dessen, was Goethe bei einer denkwürdigen Gelegenheit „die Augen des Geistes" genannt hat. 11 Wie mit Röntgenaugen muß er die " Bei Mignons Exequien. Wilhelm Meisters Lehrjahre,

VIII, 8. HA, 7, S. 575 f.

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relativ einfache physiologische Gegebenheit hinter der komplexen und häufig aufgeblasenen menschlichen Aussage sehen und dabei durchweg gewahr sein, daß das Wesen, das er da belauscht, eine menschliche Raupe ist. Er muß die animalische Wahrheit in das Idiom der verquälten Selbstbewußtheit zurückübersetzen, in welchem jenes Zwitterwesen, der Mensch — und nun schon gar dieser besondere Mensch — sich selbst als Darmexistenz begreift. Ich habe es bereits angedeutet; die Raupe ist, wie der gemeine Wurm, reiner Darm, mit einem Mund an dem einen und einem After an dem anderen Ende. Dreiviertel dieses Tieres wird von dessen Magendarmsystem eingenommen. Es frißt, um zu verdauen, um zu fressen. Seine Augen sind primitive Strukturen — Zoologen nennen sie „einfach"; dagegen sind seine Kiefer hoch entwickelt und überaus kräftig. Es ist ein aggressiver Nimmersatt, der alles Grün in seiner Reichweite abgrast. Diese Gefräßigkeit hat zwei Ursachen: einmal, weil es ja wirklich kaum mehr als Verdauungskanal ist, der, von anhaltenden peristaltischen Wellen aktiviert, die in ihm befindliche Materie dem Ausgang zuschiebt und somit ein Vakuum zurückläßt, welches gefüllt werden muß. In einer Schlange können wir unschwer den Verdauungsprozeß in Gestalt einer sich abwärts bewegenden Schwellung verfolgen. Der zweite Grund für die Gefräßigkeit dieses Geschöpfes ist etwas weniger unerquicklich. Die Raupe — und besonders das alternde Tier — baut eifrigst Reserven für die Zukunft auf, für die Zeit also, wenn sie aufhören wird, Nahrung zu sich zu nehmen und nach einer letzten Entleerung sich in die Verpuppung begibt. Sobald dieses Endziel erreicht ist, scheint der Wurm total passiv; faktisch aber zersetzt er nicht nur das, was er angesammelt hat, sondern auch jene primitiven Strukturen, mittels derer er sich Umwelt angerafft hat; und aus diesen Stoffen entwickeln sich jene unvergleichlich differenzierteren Strukturen, an welchen wir das vollendete Insekt erkennen — die komplexen und scharfen Augen, die Flügel, und vor allen Dingen die geschlechtliche Reife.12

12

In seinen zoologischen Betrachtungen wird Goethe von den Resultaten heutiger Wissenschaftler bekräftigt. Unsere Morphologen würden sich sogar Goethes teleologischer Tendenz anschließen, hier, und wenn er von der Organisation des Schmetterlings „zum Zweck" seiner Begattung und Fortpflanzung spricht. Ich möchte diese Gelegenheit wahrnehmen, dem Londoner Natural Science Museum und ganz besonders Herrn Dr. Brian Turner (King's College, London) für ihre Hilfe zu danken, die mich in Stand setzte, Goethes morphologische Entdeckungen aus moderner Sicht zu würdigen.

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Wie paßt nun Faust in dieses unergötzliche Bild? Hören wir das Horoskop, das Mephisto seinem Partner nach abgeschlossener Wette stellt: Er soll mir zappeln, starren, kleben, Und seiner Unersättlichkeit Soll Speis' und Trank vor gier'gen Lippen schweben; Er wird Erquickung sich umsonst erflehn, Und hätt' er sich auch nicht dem Teufel übergeben, Er müßte doch zugrunde gehn! (Z. 1862 — 67) Mephisto ist ein Wurm. Mephisto sollte also darüber Bescheid wissen, wie es sich anfühlt, ein Wurm zu sein. Und auf seine eigene Art tut er das auch. Jedes Wort hier „sitzt" in einem unvergleichlich listigen Spiel von double-entendres. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß er ein „gleichgültiger" Wurm ist, der keine radikale Metamorphose durchmacht. Und so nagelt der Teufel seinen schwerverständlichen Kunden auf eben das verächtliche Ende fest, welches seinesgleichen beschert ist, anstatt jener märchenhaften Verwandlung Rechnung zu tragen, welche die Natur in ihrer Largesse der Raupe vorbestimmt hat. „Umartung" wird Goethe diese Verwandlung nennen, wenn sich Gnade zur Natur gesellt. Mittlerweile ist Faust während seiner Larvenphase, die fast sein gesamtes irdisches Leben umfaßt, in der Tat unersättlich; und da er ein mit vollkommenem Selbstbewußtsein ausgerüsteteter Mensch ist, 13 beängstigt ihn das rastlose Dahinschwinden dessen, was er in großen Happen verschluckt, um seinen nimmersatten Darm zu befriedigen, so wie ihn die Einsicht ängstigt, daß er der Sklave seines Sklaven ist. Auf drei Weisen attackiert ihn die Angst: einmal, weil er das verschlingt, was er liebt und schätzt; zum zweiten, weil er weiß, daß nichts seinen Hunger stillen wird, so viel er auch verschlingt; und drittens, und hauptsächlich, weil das als Darmexistenz erlebte menschliche Leben — und in seiner „windenden Todesnot" (Trüber Tag: Feld. Z. 26 f.) kann er es ja gar nicht anders sehen — einen jeden anekelt, der es als ebenso banal wie bestialisch empfindet. Die morphologische „Gleichgültigkeit" einer Existenz, die nur zu einer einzigen Funktion tauglich ist, versinnbildlicht ja nur die metaphysische „Gleichgültigkeit" — Goethe hat das Wort „Nichtigkeits Gefühl" — eines Menschen, der bei all seinen Aufschwüngen dauernd in Gefahr steht, das Leben — sein eigenes Leben und das Leben im allgemei13

Goethe ist in diesem Punkt emphatisch. Siehe Dichtung und Wahrheit, II, 9, HA, 9, S. 352, Z. 33 f.

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nen — als eine Fünffingerübung in Nichtigkeit zu begreifen; ein Leben, in welchem die Augenblicke so schnell und spurlos entschwinden wie die Nahrung, die sogleich wieder ausgeschieden wird, dessen einziger Zeitmesser das Pulsieren seines Darmes ist. Für einen nach Gottes Bilde geschaffenen Menschen — und das heißt, für einen, der mit einem unausrottbaren Verlangen nach Ewigkeit ausgestattet ist — bedeutet dies eine einzige, anhaltende Qual. Daß Faust das Leben verschlingt, ist leicht ersichtlich. Er verschlingt Wissen, bis es ihn anekelt, er verschlingt immer gewaltigere Happen von Welt, er verschlingt Gretchen — Und soll sie sehn? sie haben? (Z. 2667), fragt er gierig, sobald ihr erster Anblick seinen Appetit geweckt hat — ; 14 barbarisch legt „Fauste, Fauste" Hand an Helenas Schemen, er verschlingt Länder und er verschlingt das alte Paar und das kleine Gütchen, welches er begehrt, nur weil es das Einzigste in seinem Gesichtskreis ist, das seiner Gier versagt bleibt. In seiner Gefräßigkeit ist er eine Pest. Und wieder einmal hat Goethe an die Wahrheit gerührt und zugleich seine Spuren verschüttet — in Mephistos listiger Erwähnung, ad Spectatores, von Naboths Weinberg, für die wir auf Regum I, 21 (Z. 11287) verwiesen werden. Die Kommentare erklären uns, daß König Ahab, der ebenso reich wie gierig war, dieses Stück Land begehrte. Was sie uns nicht mitteilen, ist der Grund, aus dem König Ahab sein Augenmerk darauf gerichtet hat; und dieser Grund ist alles andere als ästhetisch. Einen Kohlgarten will er aus dem Weinberg machen, wie Luther uns belehrt. Kohl aber ist die Lieblingsspeise einiger Schmetterlingsarten, ganz besonders die der Larve des Kohlweißlings, von welchem wir wissen, daß er während Goethes eigener Lebens- und Amtszeit wiederholte und schwere Verheerungen in ganz Westeuropa anrichtete. Was Wunder, daß Goethes hundertjähriger Held jedes Hindernis, das der Erfüllung seines Wunsches im Wege steht, als unerträglich empfindet und sich seiner eigenen Gier bitter schämt! Die erschreckende Rapidität, mit der das, was Faust herunterschlingt, ihm restlos entgleitet, ist unschwer aufzuzeigen. Ein Beispiel möge genügen. Die Forderungen, die Faust unmittelbar vor Abschluß der Wette dem Teufel entgegenschleudert, haben die Kritiker in Verlegenheit versetzt, und

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Gretchen ist dieser Unersättlichkeit intuitiv gewahr, und ihr Wahnsinn gibt ihr die Hemmungslosigkeit, was sie fühlt, zu formulieren. Dies tut sie, wenn sie singt: „Mein Vater, der Schelm, Der mich gessen hat", womit sie selbstredend ihren Geliebten meint.

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mit Recht. Sie sind der barste Unsinn, und sie werden immer verrückter, je mehr Faust in Schwung kommt. Mephisto, so sagt er, kann eines Menschen hohes Streben nicht erfassen; und darin ist er korrekt. Was aber ein kluger Wurm einem andern geben kann — und dazu bedarf es kaum schwarzer Magie! — ist das Destillat einer solchen Wurmexistenz; das unaufhaltsame Entgleiten dessen, was als Darmmaterie erfahren wird, gleichsam durch die Abflußdränröhre, nichts hinterlassend als Exkrement und ein nagendes Gefühl der Leere. Das ist die Bedeutung jener verquälten Phantasien von „Speise, die nicht sättigt" (Z. 1678), von der „die Frucht, die fault, eh' man sie bricht" (Z. 1686), sowohl als von jenen anderen, dazwischen vorgebrachten, wahnwitzigen Forderungen, in die er sich in einem krampfhaften Ausbruch von verzweifeltem Ekel hineinsteigert. Auch sein idiotischer Wunsch nach „Bäumen, die sich täglich neu begrünen" bedeutet nicht etwa ein Abspringen vom Punkte oder gar einen Rückzieher. Im Gegenteil. Derlei Wünsche sprechen von der Schrumpfung der Zeit, die der Gier auf dem Fuße folgt. Vor ihrem Anhauch welkt still-blühendes Sein dahin, sei dies nun am eigenen Herzschlag oder an der Beständigkeit eines Gegenübers erfahren. Lynkeus spricht von dem tödlichen Anhauch der Gier, wenn die Flammen die uralten Linden in einem Feuermeer verschlingen: Was sich sonst dem Blick empfohlen, Mit Jahrhunderten ist hin. (Z. 11336 f.) Der Teufel glaubt, er habe es mit einem „trüben Gast" zu tun. Mit glattem Hohn versichert er, die Zeit werde kommen, Wo wir was Guts in Ruhe schmausen mögen. (Z. 1691) Diese Zeit wird nie kommen. Darm ist Darm und Mensch ist Mensch. Wird aber die Zeit kommen, wo Faust seine Erfahrung von Sein und Zeit als Funktion eines rastlosen Darmes transzendieren wird? Die Zeit, da ein eminent „gleichgültiger" Organismus fähig sein wird, das Leben als etwas Anderes und Wesentlicheres als die Flucht „gleichgültiger" Zeitabschnitte zu erleben, und willens sein wird, sie so, anders, zu erleben? Das ist die Frage. Die Frage ist, ob es überhaupt etwas jenseits des Spektrums jener „Langeweile" gibt — sie ist es, die hinter des Teufels blasierter Attitüde von déjà vu steckt — die Faust bei dem bloßen Gedanken, irgendwo verweilen zu wollen, im voraus mit Abscheu erfüllt; die Frage ist, ob sich ihm das Leben als Qualität offenbaren wird, das heißt als die einzige Modalität, die dem Augenblick

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Ewigkeit einimpft und Dauer verleiht. Das ist es, was in dieser Wette auf dem Spiel steht; und die menschliche Raupe zittert ebenso heftig vor der Möglichkeit, sie zu verlieren, wie der Schmetterling darauf hofft. Daß diese Zeit im ersten Teil der Tragödie nicht kommt, ist gewiß. Faust peitscht Erfahrung gleichsam mit gewaltigen Dosen von Abführmitteln vor sich her. Er ist Begierde, die inmitten von Begierde nach Begierde begehrt. Er selbst sagt es in Wald und Höhle: So tauml' ich von Begierde zu Genuß, Und im Genuß verschmacht' ich nach Begierde.*

(Z. 3249 f.)

Man darf annehmen, daß der Wiedergeborene seine Raupenperspektive in Anmutige Gegend transzendiert, 15 und dann wieder in seiner Begegnung mit der Klassik. Eine radikale Metamorphose jedoch wird Faust zeit seines Lebens nicht zuteil. Kann es auch gar nicht, per definitionem. Ja, zeitweilig verfällt er in die kolossalste „Unvollkommenheit", und zwar in den Momenten, in denen er den kolossalsten Raubbau treibt. Dies ist wie es sein muß. Hunger ist eine Funktion der Entbehrung, sei diese nun physisch oder psychisch, gefürchtet oder aktuell. Fausts Machthunger und das Bedürfnis, das, was er erobert hat, abzusichern, ist ein urtümlicher Schutzmechanismus, der ihm das Spektrum jener Leere verdeckt, das ihn um so erbarmungsloser attackiert, je mehr er an sich rafft. Er selber weiß es und errötet darüber, wenn er sagt: So sind am härtsten wir gequält, Im Reichtum fühlend, was uns fehlt. (Z. 11251 f.) Die Sorge wird der menschlichen Raupe noch unverblümter mitteilen, woran sie krankt: Er verhungert in der Fülle (Z. 11462), sagt sie; und sie spricht die Wahrheit. Fausts Besitztümer werden weggespült werden, sobald er sie aufs Trockene gebracht hat. Die Kirche hat sein Lehen mit Beschlag gelegt, noch bevor er es dem Wasser abgerungen hat. (Z. 11035 f.) Und das Kolonialreich, welches er auf dem wiedergewon-

* Hervorhebungen I. G. Siehe Z 4 6 6 0 f. „Schale" ist ein morphologisches Wort, hier ein Synonym für „Hülle", d. h. K o k o n .

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nenen Neuland gegründet hat, wird sich verflüssigen, wie Mephisto wohl weiß, wenn er in einem gehässigen Beiseite prophezeit: Du bist doch nur für uns bemüht Mit deinen Dämmen, deinen Buhnen; Denn du bereitest schon Neptunen, Dem Wasserteufel, großen Schmaus. (Z. 11544 ff.) Es ist die alte Geschichte von dem Frosch, der verschlingt und verschlungen wird. Immer gibt es größere Bestien, die die kleineren auffressen; 16 und es stimmt nachdenklich, daß die Kirche, die des Kaisers neu erlangten „Beuteschatz" (Z. 11028) verschlingt, uns in eben demselben Bilde vor Augen geführt wird, das dieses Drama in immer neuen Abwandlungen durchzieht. Sie bleibt der mit einem „gesunden Magen" ausgestattete Riesenwurm, als welcher sie bereits dem blutjungen Dichter erschienen war, fähig, alles zu verdauen, von Gretchens Schmuck bis zu des Kaisers Ländern. Und in eben demselben Bild wird uns auch das Meer vorgestellt, das in der Tat Fausts Raubgut verschlingt; 17 und wiederum in demselben die Hölle, deren obszöne Mächte mit den himmlischen Heerscharen wetteifern, Faust mit Leib und Seele in ihren dantesken Rachen zu verschlucken. Die Lemuren behalten das letzte Wort: Es war auf kurze Zeit geborgt; Der Gläubiger sind so viele. (Z. 11610 f.) Aus solchem Blickwinkel gesehen, ist Mephistos Fazit über des toten Mannes Raupenexistenz nicht ganz irrig: Es ist so gut, als wär' es nicht gewesen, Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre. Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere. (Z. 11601 ff.) Dies ist eine Darmwahrheit — im englischen haben wir das Wort „guttruth" —, es ist die Darmwahrheit; und sie beschreibt aufs Bündigste den 16

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In diesem Zusammenhang siehe Goethes Gespräch mit J. D. Falk vom 25. Januar 1813. AGA 22, S. 672 ff.; ebenfalls seinen Versuch einer allgemeinen Vergleicbungslehre {AGA, 17, S. 226 ff.), in dem er sich zu der modernen Konzeption vortastet, daß das, was auf einer niederen Evolutionsstufe das milieu exterieur ist, auf einer höheren zum milieu interieur wird. Siehe auch Max Kommerells ausgezeichnete Beobachtungen in Geist und Buchstabe der Dichtung (5. Auflage, Frankfurt am Main 1962, S. 75 ff.) und Kapitel 5 und 20 dieser Studie. Die Vorstellung von dem Meer als einem Riesenwurm ist in den Paralipomena zu dem endgültigen Text noch stärker ausgeprägt. Siehe besonders N° 188 (WA, 1,15 2 , S. 240f.). In diesem Zusammenhang siehe auch Kapitel 21 dieser Studie.

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Leerlauf zwanghaften Anraffens und Ausscheidens, auf den das Dasein hinausläuft, solange wir es als Stoff erfahren, sei dieser Stoff nun physisch, emotionell oder psychisch. Es kommt auf das Gleiche hinaus. Aber ist es die ganze Wahrheit? 4. Bevor wir Mephistos Etablissement den Rücken kehren — und um die soeben aufgeworfene Frage zu beantworten, werden wir dies alsbald tun müssen —, werfen wir noch einen Seitenblick auf seine anthropologisch interessantesten Insassen, „die drei Gewaltigen" und deren Genossin Eilebeute. Sie sind Tiere in Menschengestalt; und durch ihre Promotion im letzten Akt zu dem Status der „drei gewaltigen Gesellen" bedeutet uns der Dichter, daß er solche „Urmenschenkraft" als sichtbare Verkörperung von Fausts gierigem Umsichgreifen verstanden wissen will. 18 Freilich, auf den ersten Blick denkt man bei diesen Namen an Fausts Hände, die brutal zupackenden Hände eines Menschen, dessen eigener Name bei mehr als einer Gelegenheit bedeutungsschwer verwandt wird, zum Beispiel als „Fauste! Fauste!" an Helena Hand anlegt (Z. 6560). Und diese Assoziation ist durchaus nicht abwegig. Aber sie ist dennoch nur die Oberfläche, unter welcher dieser stille und weise Dichter eine beträchtliche Portion von Ökologie versteckt hat. In diesen von Goethes Protagonisten abgespaltenen Figuren, die dennoch ein Teil von ihm sind, gestattet sich die unvergleichlich exakte sinnliche Phantasie dieses morphologisch ausgewiesenen Dichters einen heiter-ernsten Gesamtüberblick über das „Raupenwesen" in den verschiedenen Phasen seiner Existenz: er betrachtet die Aggressivität der Raupe, ihre Vielfräßigkeit und ihren Instinkt zu hamstern. Wie wir aus Goethes morphologischen Schriften erfahren, ist das junge Tier — es zeigt eine prächtige Färbung —19 schonungslos in seiner Attacke; es besteht sozusagen nur aus Mandibeln. Das ist Raufebold; jung, bunt gekleidet, und auf seine Muskeln pochend (Z. 10331). Am beredtsten ist die brutale Mißachtung des edelsten menschlichen Körperteils: des Hauptes, des Gesichtes und ganz besonders der Augen auf seiten eines Geschöpfes, welches ein „einfaches" Auge hat, über ein grotesk großes Beiß- und Kauwerkzeug verfügt und seine wohlgezielten Schläge auf eben 18 19

Das Wort „Gesellen" (vor Z. 11189) wurde später hinzugefügt (WA, I, 152, p. 150). Siehe Anmerkung 8 sowie Goethes Essay Über Metamorphose der Schmetterlinge am Beispiel der Wolfsmilchraupe. AGA, 17, S. 222ff. Goethe konstatiert hier, daß gegen Ende der Larvenexistenz des Tieres „die schöne bunte Haut... mißfärbig [wird]" (S. 224).

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diese Hauptwaffe seines Gegners richtet 20 . Zweimal werden wir Zeugen seiner Bestialität, und Goethe hat uns deren Bedeutsamkeit durch einen ungeheuerlichen Vergewaltigungsakt der Sprache eingeschärft, auf welchen gebildete Leser oder Hörer vermutlich ratlos reagierten, bis die Nazis uns einbläuten, daß Sprachzertrümmerung Mord ist. So präsentiert er seine Visitenkarte: Wenn einer mir ins Auge sieht, Werd' ich ihm mit der Faust (sie!) gleich in die Fresse (sie!) fahren, (Z. 10331 f.); und dann, später: Wer das Gesicht mir zeigt, der kehrt's nicht ab Als mit zerschlagnen Unter- und Oberbacken; (Z. 10511 f.). War Goethe zum Spaßen aufgelegt? Nein. War er verzweifelt? Nein. Hier spricht eine junge Raupe, ein Geschöpf, das er ehrfürchtig betrachtete und, darüber hinaus, ein Teil von Faust, der, „es kommt die Zeit", „auf Fittichen der Rose in den Schoß" eilen wird. Goethe verstand sich aufs Glauben und er baute auf sicheren Grundfesten. Selbst wenn er in unser Jahrhundert geboren worden wäre, er hätte geglaubt. Und das könnte einigen von uns Mut einflößen. Dann ist da „Habe-bald". Er ist die hastige Gier der ausgewachsenen Raupe in Menschengestalt. Haben, bald haben, jetzt haben, darum geht es ihm: „Nach allem andern frag' hernach" (Z. 10338). Und da ist „EileBeute", seine „Buhle", — ein groteskes Echo von Gretchens König in Thüle und von Fausts und Helenas noblem Näherrücken im dritten Akt: „sich an ihn anschmiegend" heißt es in der Bühnenanweisung. „Grimmig" packt und plündert sie (Z. 10534 f.). Der Raubzug des Paars in des Gegenkaisers Zelt ist genial in der Treffsicherheit seines Irrsinns. Damit Habebald ihr das Raubgut aufladen kann, duckt Eilebeute sich nieder. So kriecht sie entlang, bis ihr das Kreuz unter seiner Last zu brechen droht; worauf sie, kauernd, das Heruntergefallene in ihre Schürze liest und drängt: Geschwinde nur zum Schoß hinein! Noch immer wird's zur Gnüge sein. (Z. 10811 f.)

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Siehe Fragmente %ur Vergleichenden Anatomie. AGA, 17, S. 422 und 434, Wilhelm Meisters Wanderjahre, III, 3, HA, 8, S. 328, Z. 34 ff. und Aus Makariens Archiv, ebenda, S. 480, N° 128; ebenfalls WA, II, 5, 2, S. 12.

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Bedauerlicherweise aber hält diese Schürze nicht: O weh, die Schürze hat ein Loch! Wohin du gehst und wo du stehst, Verschwenderisch die Schätze säst (Z. 10814 ff.), ruft der erboste Habebald. Ist Durchfall je mit weniger Federzügen beschrieben worden? Günther Grass hätte ein Tintenfaß ausgeleert, um einen ähnlichen Fang aufs Trockene zu bringen. Goethe war an die achtzig, als ihm dieses rein visuelle Destillat der Zotigkeit gelang. In Eilebeutes Eingangsworten aber übertraf er sich selbst. Da steht sie, verschlingt den aufgehäuften Plunder mit den Augen und ruft aus: Wo fang' ich an? Wo hör' ich auf? (Z. 10786). Für einen Wurm aber ist dies fast eine unbeantwortbare Frage. Gab es da jemanden, mit dem zusammen er über seine sehr ernsten Scherze hätte lachen können? Vermutlich nicht. Er verstand sich aufs Schweigen. Überdies war Christiane seit Jahrzehnten tot, auch der Herzog war nicht mehr da, und für derartige Späße dürfte Eckermann kaum die richtige Adresse gewesen sein. Bevor sich die alternde Raupe verpuppt, häutet sie sich zum letzten Mal und durchstöbert ihr Habitat ängstlich nach Baustoffen für ihren Kokon 21 . Erst wenn sie gefunden hat, was sie braucht, kann sie tun, was sie tun muß. Dies ist „Halte-fest"; wie es in der Bühnenanmerkung heißt: „Bejahrt, stark bewaffnet, ohne Gewand" (vor Z. 10339). Die analen Obertöne, in welchen „Halte-fest" beschreibt, wie die Güter des Lebens „im Lebensstrom hinabrauschen" und weggespült werden, sind unüberhörbar. Sein Motto entspricht seiner Lebensphase: Zwar nehmen ist recht gut, doch besser ist's, behalten (Z. 10342). Haltefest ist das verkörperte Trachten der alternden Monade, das einmal Angeraffte vor der entstaltenden Macht der Elemente abzudichten. Und eben dies ist Fausts eigene Antwort darauf, daß der Sand der Stunden verrinnt. „Behalten", „festhalten" — darauf geht sein Trachten, wenn er sein Küstenreich „Mit seinen Dämmen, seinen Buhnen" zu befestigen sucht. In jenem letzten Kampf darum, das einzudämmen, was er den Elementen entrissen hat, war Haltefest eine wichtige Rolle zugedacht — 21

Goethe experimentierte mit Raupen, indem er umschichtig Papier oder Erde in die Schachtel tat oder auch dem sich verpuppenden Tier alle Hilfsmittel entzog. Er beobachtete die Resultate seiner Strategie viele Tage lang.

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er sollte noch beträchtlich älter sein als der hundertjährige Faust. Wer die Paralipomena nachliest, die der Dichter für diese Szene skizzierte, 22 und Goethes zoologische Arbeiten zur Hand hat, wird unschwer sehen, daß seine „exakte sinnliche Phantasie" 23 auch in diesem Stück den Kampf der Raupe um ihr Darmwesen vor seinem inneren Auge hatte. Diesmal aber ist es der Kampf um ihr Recht zu — sterben. Dieses seltsame Insekt — so belehren uns Goethes einschlägige Arbeiten — benutzt alles in Reichweite, um sich eine undurchdringliche Chrysalide zu bauen; selbst ihre letzte Entleerung. Denn an dem zarten Faden dieses „stirb" hängt jede Möglichkeit eines zukünftigen „werde". Goethe glaubte zu sehen, daß selbst dieses Tier von seiner bevorstehenden Feuerprobe wisse und davor bange, so wie eine Frau erschrickt, wenn sie ahnt, daß sie empfangen hat. 24 Dieser Gedanke erfüllte ihn mit Ehrfurcht, so wie es jedes tief gefühlte physische Erlebnis tat. Und wenn er sich schließlich dazu entschloß, diese fäkalen Produkte einer überreichen Phantasie zu verwerfen, so nicht etwa, weil er sie als frivol oder gar obszön erachtete, sondern weil sie ihm künstlerisch noch nicht recht verdaut schienen. 5. Wir haben Struktur und Verhaltensmuster eines Tieres beobachtet, das sich weitgehend wie der Wurm gebärdet, mit dem der Teufel selbst assoziiert ist, das sich aber als bloße Vorform oder Larve von etwas ganz Andersartigem herausgestellt hat. Während wir das taten, haben wir fast unmerklich Mephistos Zoo verlassen. Aber da gibt es noch ein anderes Geschöpf, welches erwähnenswert ist. Denn von der Tätigkeit dieses Geschöpfes hängt Fausts — sagen wir vorläufig — „Entwicklung" zu dem, als was er intendiert ist, ab. Es ist oft vermerkt worden, daß das Wort „erlösen" in den Schlüsselversen W e r i m m e r s t r e b e n d sich b e m ü h t , Den k ö n n e n w i r e r l ö s e n (Z. 11936f.)

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Das vielsagendste ist Paralipomenon 189 (WA, I, 15 2 , S. 241): der Schlüsselvers lautet: „Ich glaub man hemmte seinen Lauf/ Mit einer Reihe Maulwurfshaufen." Eine Kennzeichnung seiner eigenen Geistesform in Ernst Stiedenroth, Psychologie \ur Erklärung der Seelenerscheinungen. HA, 13, S. 42. Siehe auch Das Sehen in subjektiver Hinsicht. AGA, 16, S. 893 ff. Über Metamorphose der Schmetterlinge am Beispiel der Wolfsmilchraupe. AGA, 17, S. 224.

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mit den Worten der Seligen Knaben zusammengelesen werden muß, wenn sie Fausts unsterblichen Teil „im Puppenstand" empfangen: Löset die Flocken los, Die ihn umgeben! (Z. 11985 f.), 25 singen sie. Und in der Tat, diese Formulierung ist von beträchtlichem Interesse: das durchaus konkret verwendete Wort „loslösen" sagt etwas darüber aus, wie der Dichter das scheinbar abstrakte „erlösen" verstanden wissen will: und die Richtung, in die er hindeutet, verweist uns auf die Spur eben des Schmetterlingssymbols, dessen Genese in diesem Drama wir verfolgen. Anfangs lauteten die Zeilen, die auf die entscheidenden, soeben zitierten folgen, anders. In einem Paralipomenon lesen wir: Und hat an ihm die Liebe gar Von oben teilgenommen, Er wandelt mit der Seeligen Schaar Und bildet sich vollkommen.*26 Die Streichung der letzten beiden Zeilen, zu der sich der Dichter schließlich entschloß, überrascht; denn in dieser früheren Version können wir das schnelle Reifen des neu ausgeschlüpften „vollkommenen Insekts" gleichsam mit Händen greifen. Dem Verlust nachzutrauern ist müßig; fragen wir uns anstatt dessen, was Goethe mit seiner Änderung gewann. Er gewann das Bild des „Begegnens" (dem er schon in früheren Entwürfen nachgespürt hatte). Worauf er hinaus wollte, ist also ein Treffen auf halbem Wege, welches denn auch das vorhergehende „teilgenommen" bekräftigt. Treffen des „vollkommenen Insektes" mit wem? Mit der „Seeligen Schaar"? „Teilnahme" von wem? Von „der Liebe von oben"? Ja, natürlich. Aber ich glaube, wir müssen weiter fahnden. In seiner Autobiographie umreißt der Dichter die Hauptzüge des Credos, das er in seiner Jugend ausgebrütet hatte. Rückblickend kommentiert er, daß sein Argument, unabhängig von unserem offenbarten Wissen, die innere Notwendigkeit des Begriffes der Erlösung stipuliere; und daß eine solche Erlösung tatsächlich im göttlichen Rat beschlossen war. Und er fahrt fort: „Nichts ist in diesem Sinne natürlicher, als daß die Gottheit selbst die Gestalt des Menschen annimmt, die sie sich zu einer Hülle schon

25 26

Von Erich Trunz, Hrsg. HA, 3, Anmerkungen zu Z. 11934ff. und 11981 ff., S. 632ff. WA, 1,152, S. 165.

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vorbereitet hatte, und daß sie die Schicksale desselben auf kurze Zeit teilt, um durch diese Verähnlichung das Erfreuliche zu erhöhen und das Schmerzliche zu mildern." 27 Meines Erachtens ist dies eine der Schlüsselaussagen, die uns Goethe in einem langen Leben vermacht hat. Man könnte viel darüber sagen oder schreiben — ein ganzes Buch. Hier möchte ich nur drei Worte unter die Lupe nehmen, und dazu noch das Wort „Gestalt" im Auge behalten. Und zwar sind dies „teilen", „Verähnlichung" und „Hülle". Der Sinn des „Teilens" der autobiographischen Stelle ist leicht ersichtlich. Er ist derselbe wie der des „teilgenommen" in Bergschluchten, jenes Bild, welches Goethe — wir erinnern uns daran — sich durch das neu eingeführte „begegnet" zu untermauern entschlossen hatte: hier wie dort haben wir es mit einem Treffen auf halbem Wege zwischen „oben" und, implicite, „unten" zu tun. Schließlich nimmt jede Gestalt in Bergschluchten und Himmel teil an der Entwicklung und dem Schicksal einer jeden anderen. Dieses allseitige Füreinander ist es ja in der Hauptsache, was die Endszenen unseres Dramas von allem Vorhergehenden unterscheidet. 28 Noch aber haben wir die Rollenträger in diesen gravierenden Zeilen nicht identifiziert. Wer nimmt Teil an wem? Auch das Wort „Annäherung" verdeutlicht den Sinn von Bergschluchten und Himmel. Denn in diesen Szenen vollzieht sich ein stetiger Prozeß der Annäherung zwischen „oben" und „unten", der in den letzten Worten der Tragödie „zieht... hinan" gipfelt. Und wiederum müssen wir fragen: wer nähert sich wem an? Hier mag ein anderes Paralipomenon weiterhelfen. Am Ende von Innerer Burghof, in Fausts Vision von Arkadien, hatte dieser seine eigene Frage „Ob's Götter, ob es Menschen sind", durch ein Gleichnis beantwortet: So war Apoll den Hirten zugestaltet, Daß ihm der schönsten einer glich (Z. 9558 f.), hat er gesagt. In einem früheren Entwurf lautet die erste Zeile so: Wie oberstes dem untern zugestalltet; 29 während die letzte Zeile dieses Vierzeilers so aussah: Unmittelbar berühren beyde sich. 30 27 28 29 30

Dichtung und Wahrheit, II, 9. HA, 9, S. 353. Siehe Kapitel 5, Abschnitt 4 dieser Studie. WA I, 152, S. 118. Ebenda.

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Die Version, für die sich Goethe schließlich entschied, fügt sich fraglos besser in den Rahmen der klassischen Mythologie, die diese Mittelakte beherrscht. Aber indem er seine Aussage in ein historisches Kostüm kleidete, wurde sie auch weniger verbindlich. Wer gestaltet sich wem zu, in der Richtung nach unten, die in der gestrichenen Version so klar zum Tragen kommt, und mit all der liebevollen Einfühlungskraft, die in diesem „zugestalltet" schwingt? Wir vermerken die Kongruenz zwischen dieser Stelle und Dr. Marianus' Aufruf an „Alle reuig Zarten", Euch zu seligem Geschick Dankend umzuarten (Z. 12098 f.). Beide Stellen sprechen von einer Metamorphose. Während aber Dr. Marianus eine Metamorphose nach oben im Sinn hat — und dies entspricht durchaus der Tendenz der letzten Szene als Ganzem — deutet die gestrichene Zeile aus Arkadien eine Gegenbewegung an, die von oben nach unten verläuft. Warum dämpfte Goethe die ungehinderte Resonanz seiner ursprünglichen Version? Drittens, „Hülle". „Hülle" ist ein morphologischer Terminus, den Goethe frei verwandte, wenn es darum ging, die geheime Entwicklung höherer organischer Strukturen innerhalb einer Schutzhülle zu beschreiben, sagen wir zum Beispiel, die Bildung der ersten Blätteransätze innerhalb der Samenhülse, oder, in der Tat, des vollkommenen Insektes innerhalb seines Kokons. In den 12111 Zeilen von Faust benutzt er dieses Wort ganze vier Male als Simplex, und zwar, — man könnte es unschwer zeigen — jedes Mal in seiner zugrundeliegenden morphologischen Bedeutung, dazu siebzehn Male in zusammengesetzten, in der Hauptsache verbalen Formen. Bedenkt man, ein wie urtümliches und bedeutungsschwangeres Wort „Hülle" ist, so ist dies erstaunlich. Es nimmt einen weniger wunder, sobald man sich darauf besinnt, wie ängstlich dieser Dichter seine Geheimnisse hütete. Zweimal (Z. 5427 und 9450) verwandte er es neutral, achtmal in ironischer Absicht, um gleichsam umgekehrte Mysterien anzudeuten, entweder unerquickliche (Z. 61, 4047, 6716, 8676, 10031 und 10852) oder solche, die den Keim der Zerstörung in sich tragen (Z. 3512 und 6603), sowie sieben weitere Male, um eine allgemeine Atmosphäre des Mysteriösen, oder auch die Gegenwart geheimnisvoll webender Gewalten zu vermitteln (Z. 188, 438, 476, 1752, 4636, 5029 und 8242). Es bleiben die vier Fälle, in denen er das Simplex einsetzte; und dies tat er haargenau, wo und wie man es erwarten würde: an jenen Angelpunk-

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ten der inneren Handlung, wo sich das Mysterium eines „Stirb und werde" vollzieht. Dies ist so am Anfang des zweiten Aktes, wo der von dem allgemeinen Zeugungs- und Verjüngungstaumel leicht beschwipste Teufel in Fausts mottenzerfressenen aber noch warmen Pelz schlüpft. „Rauchwarme Hülle" nennt er ihn; und hier haben wir es fraglos mit einem Chrysalidensymbol zu tun, wie ja denn auch Mephisto den hereinstürmenden Baccalaureus alsbald unter demselben Bilde des eben ausgeschlüpften Schmetterlings ansprechen wird. Fraglos bahnt sich etwas Denkwürdiges an, wenn Faust in der Klassischen Walpurgisnacht durch eine schützende „Hülle" von Blätterwerk die Empfängnis der Frau erspäht, die ihm ein neues „Werde" schenken wird (Z. 7292); nicht weniger bedeutungsträchtig ist es in Schattiger Hain eingesetzt, in einer Episode, die klarstens Euphorions „Flammentod" präfiguriert (Z. 9880). Und wir haben keinen Zweifel über die Bedeutsamkeit — und die Bedeutung — des Wortes auf Gretchens Lippen, wenn diese ihren Geliebten sieht, wie er sich seinen irdischen Banden entrafft, um als das „vollkommene Insekt" zu erstehen, als welches er von Anfang intendiert war: Sieh, wie er jedem Erdenbande Der alten Hülle sich entrafft Und aus ätherischem Gewände Hervortritt erste Jugendkraft (Z. 12088-91). Das Gewohnte mißachten wir; es ist das Seltene, das uns aufhorchen läßt. Blättern wir durch die Paralipomena, so stellen wir fest, daß Goethe das Wort in mindestens drei entscheidenden Zusammenhängen erwogen hat. Erstens in den Skizzen, die er für die „Losbittungsszene" machte, die er dann nicht ausgeführt hat. Dort lesen wir: „Geheimer Gang Manto und Faust... Medusenhaupt... Proserpina verhüllt*. Manto trägt vor... Unterhaltung von der verhüllten* Seite... Faust wünscht sie entschlejert* zu sehen." 31 Diese Aufzeichnung — und Goethe hat sie mehr als einmal formuliert — hat unschätzbaren Wert für die Genese von Faust II und für die Bedeutung des Textes, wie wir ihn kennen. Hier genüge es, zu sagen, daß der auf der Suche nach dem Mysterium des Lebens befindliche Faust sich mit dem Mysterium des Todes konfrontiert sieht; ein dunkler Tunnel, der in ein neues „Werde" einmünden mag oder auch nicht: und an diesem Knoten-

31

Paralipomenon 157, WA, I, 152, S. 224 (18. Juni 1830). Siehe auch das Schema vom 6. Februar 1830, ebenda, S. 216.

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punkte gebraucht Goethe wiederholt das Schlüsselwort und unterstreicht dessen Bedeutsamkeit durch sein Gegenstück „entschleyert". Ein zweites Mal strich er das Wort, in diesem Fall gegen Ende der //¿/¿»«-Handlung. Der Chor erläutert die wunderbare Geburt und das rapide Wachstum des Euphorion an Hand der „glaubhaftigeren" Sage von der Geburt des Gottes Hermes. Ursprünglich sollte dieser Säugling — er wird einem Schmetterling verglichen, dessen Wachstum, sobald er seiner Hülle entschlüpft ist, in etwa dreißig Minuten vor sich geht — 32 in „reinster Windeln" 33 Flaum „gehüllt" werden. Goethe aber strich das „Hüllet" und ersetzte es durch „Faltet" (Z. 9647): ein durchaus angemessenes Wort, im Hinblick darauf, daß die Flügel des gerade ausgeschlüpften Insektes tatsächlich zerknittert sind, bis die Lungen Luft in sie pumpen. Halten wir aber diese Änderung mit zwei andern in derselben Szene zusammen — eine in Verbindung mit Euphorion und die andere mit Hermes — (Z. 9614 und 9652), wo Goethe den morphologisch exakten Terminus „schlüpfen" strich und anstatt dessen fraglos farblosere Worte einsetzte, so müssen wir vermuten, daß er wieder einmal eifrig bemüht war, die Hülsen oder Hüllen aufzukehren, um den barsten Gedanken an einen Kern zu entkräften. „Offenbar Geheimnis" war dieses Dichters Devise. Daß wir mit solchen Überlegungen Goethes Strategie auf der Spur sind, bekräftigt die dritte und letzte Veränderung, die er, das Wort „Hülle" betreffend, vornahm. Magna Peccatrix erfleht Mater Gloriosas Gnade Bei der Liebe, die den Füßen Deines gottverklärten Sohnes Tränen ließ zum Balsam fließen... (Z. 12037 — 9). Das Epithetum der mittleren Zeile aber hatte ursprünglich anders geheißen. Anstatt des „gottverklärten" Sohnes lesen wir in den Paralipomena „Menschverhüllten" 34 Sohnes. Dieses Wort an dieser Stelle verschlägt einem förmlich den Atem. Der Dichter hatte also ursprünglich eine Verwandlung nach unten — „menschverhüllt" — ins Auge gefaßt, diese aber schließlich zugunsten einer Verwandlung nach oben zurückgestellt, die sich in dem „Gottverklärten" ausspricht. Gedenken wir der Schlaglichter 32

33 34

Beobachtungen über die Entwicklung der Flügel des Schmetterlings Phalaena grossularia. AGA, 17, S. 221. Moderne Untersuchungen bestätigen Goethes Position. Siehe Kapitel 3 dieser Studie. WA, I, 152, S. 122. WA, 1,15 2 , S. 167.

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oder Dämpfer, die Goethe Worten wie „teilnehmen", „begegnen", „zugestalten" und „verhüllen" aufsetzte; erinnern wir uns ferner jener bedeutungsschweren Aussage in Dichtung und Wahrheit, „daß die Gottheit selbst die Gestalt des Menschen annimmt, die sie sich zu einer Hülle schon vorbereitet hatte", und diese besondere Streichung schlägt wie eine Bombe ein. Im Nu wird es offenbar, welches „vollkommene Insekt" in Mephistos Zoo fehlt, vermutlich, weil es in einer göttlich-gnädigen List in eine sehr bescheidene Hülle hineinschlüpfte, in welcher es wenig oder keinerlei Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Einen blitzerhellten Augenblick lang erscheint der „Menschverhüllte Sohn", zart umrissen jedoch unverkennbar, unter dem Bild jener organischen Form, die den Dichter zeit seines Lebens in ihren Bann geschlagen hatte, derselben Form, die ihm — in diesem Drama wie in andern Dichtungen — zum Symbol für das „Ebenbild Gottes", dem Menschen, diente. Wie der Mensch nach oben metamorphosiert, „der alten Hülle sich entrafft" und „ätherische Gewände" anzieht, gerade so metamorphosiert die Gottheit nach unten, begibt sich in den Kokon der Vergänglichkeit und stirbt in ihr, „Menschverhüllt" und gänzlich jenem Geschöpfe „zugestaltet", dessen Schicksale sie auf kurze Zeit teilt. „So hat sich eins dem andern zugestaltet" lautet eine andere, vielsagende Aufzeichnung aus diesem Umkreis. Ein göttliches „Stirb" und ein menschliches „Werde" sind sich auf halbem Wege begegnet; und aus dem Opfertod des Einen erwächst dem Andern seine Kraft. Diese Erlösung, so meint Goethe in dem autobiographischen Passus, den ich zitiert habe, ist kein einmaliges Geschehen, sondern ein zeit der Schöpfung fortdauernder Prozeß. Dieser Prozeß wird „Ereignis" hier, am Ende des Das Stück beginnt mit der ungelösten Dichotomie von Faust-Dtzrazs. „Gott" und „Wurm". In seinen letzten Szenen vollzieht sich eine gegenseitige Annäherung — „Zugestalltung" — dieser beiden Pole. Es gipfelt in einem geheimnisvollen „Austausch" zwischen dem menschlichen Schmetterling und dem göttlichen Imago. 6.

Wir dürfen wohl sagen, Goethe habe einen langen und tiefen Blick in die Karten der Natur getan — er selbst bediente sich einst dieses Bildes. 35 Was er da sah, prägte ihn als Morphologen, als Menschen und als Dichter. Mit Staunen gewahrte er das, was er selbst eine „bedeutende große 35

Im Gespräch mit J. D. Falk, o. D. AGA,

23, S. 814.

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Stufe der Natur" nannte — jene mächtig-gelinde Operation der radikalen Metamorphose, mittels derer die Natur, in einem totenähnlichen Stillstand unvergleichlich differenziertere Strukturen ausbildend, innerhalb eines Lebensverbandes eine qualitative Umartung zuwege bringt. Diese seine Mitwisserschaft um das Geheimnis der Metamorphose befähigte ihn dazu, noch ein anderes, ein geistiges Mysterium nachzuvollziehen: das der Menschwerdung eines Gottes, der sich nach unten verwandelt, um dem sich nach oben verwandelnden Menschen zu begegnen. Erst das Verständnis dieses Mysteriums gab ihm die eigentliche Vollmacht, das, was er fühlte und verstand, in Fleisch und Bein von Worten zu inkarnieren. Denn die überschwengliche „Substitution" oder „Auswechslung", die sich da zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen begibt, ist ja nur die exemplarische Form jenes Austausches von geistigen und materiellen Elementen, der im dichterischen Akt statthat. Der Eintritt des göttlichen Logos in das Vergängliche und so gänzlich Unzulängliche ist nicht nur der Urquell der christlichen Sakramente: er ist die ontologische Matrize jenes bislang noch ungefeierten Sakramentes, des dichterischen Symbols. Die Unlöslichkeit jener zwei Inkarnierungen, der großen und der geringeren — dies ist das komplexe „Ereignis", von dem der Chorus Mysticus spricht, in traumverlorenen Worten, so aller Schwere bar, daß sie kaum die Luft erschüttern. 7.

Und doch hat uns dieser unverbesserliche Augenmensch gleichsam ein Daguerreotyp des Bildes gegeben, welches er selbst als „unbeschreiblich" erkannte; und zwar genau da, wo wir es vermuten würden: in Grablegung. „Grablegung" ist ein resonantes Wort. Für westliche Ohren — und Augen — bedeutet es vor allem die Grablegung Christi. Von dieser hatte bereits der Chor der Weiber in der Osternacht gesungen. Sie hatten „der Verwesung Schoß" verlassen gefunden. Aus den spezereienduftenden Tüchern und Binden, aus den verderblichen Mängeln, die ihn „auf kurze Zeit" umwanden, war der Herr so still erstanden, wie — ja, wie der schmetterlingsgleiche Hermes „köstlicher Wickeln Schmuck" entschlüpft war. In einem so assoziationsreichen Grab — einer Felsenkluft, übrigens, wie der, aus welcher Euphorion verwandelt und flugbereit zurückgekehrt war — legte der Dichter seinen toten Faust zur Ruhe. Über der Stätte wogt die Rosenschlacht. Die Rose ist ein alter Topos für Christus. Diese Rosen nun — „Flatternde, schwebende,/Heimlich belebende,/Zweigleinbe-

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flügelte,/Knospenentsiegelte" — kämpfen den von „erblichen Mängeln" umwundenen Schläfer ins Freie. Konnte der Dichter mehr sagen? Wenn überhaupt ein Abdruck der mysteriösen Erneuerung des Einen durch die lebenspendende Liebe des Anderen denkbar war, so hier, in Grablegung, so in Bildern wie diesen. „Selige Sehnsucht" der verpuppten Raupe und des göttlichen Imago, auf halbem Wege sich begegnend und einander „zugestalltend". „Unmittelbar berühren beyde sich." Dieser heimliche Austausch hier, in Grablegung, ist die Vorbedingung für jenen beglückenden „Allverein" später, in Bergschluchten und Himmel. Wie sagt doch Paulus? „So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, auf daß, gleichwie Christus ist auferweckt von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, also sollen auch wir in einem neuen Leben wandeln." 36 Mittlerweile sitzt Mephisto wie auf Kohlen aus Furcht, sein „Beuteschatz" könne ihm entgehen. Er instruiert seine dickwanstigen Teufel, auf das Entwischen von Fausts Seele aus den „niederen Regionen", vermutlich aus der Nabelgegend, achtzuhaben. Hier unten lauert, ob's wie Phosphor gleißt: Das ist das Seelchen, Psyche mit den Flügeln, Die rupft ihr aus, so ist's ein garstiger Wurm (Z. 11659 —61).37 Offenbar ist der Teufel Humanist genug, zu wissen, daß die Griechen für „Seele" und „Schmetterling" nur ein Wort haben: Psyche. Daß ihm aber der neuerstandene Schmetterling himmelwärts entfliegt, ist er nicht gewitzt genug zu merken; und selbst hätte er es getan, mit einem derartigen Signal hätte er nichts anfangen können. Denn, bei aller Hochachtung für seine morphologische Schulung, und der Tatsache eingedenk, daß die Natur sich ohne den „gleichgültigen" Wurm nie hätte zu der Raupe aufschwingen können, bleibt es doch wahr, daß ein Wurm nur mit seinen eigenen Augen sehen kann —: intelligent vielleicht, aber doch letztlich — einfach. Der Teufel kann nicht verstehen, daß eine Raupe, sei es nun eine wirkliche oder eine Raupe in Menschengestalt, sich nie wieder in einen „garstigen 36 37

Epistel an die Römer, 6, 4. Die Bedeutsamkeit dieser Verse wird erst dann sichtbar, wenn man der Tatsache gewahr ist, daß die Griechen für „Seele" und „Schmetterling" nur das eine Wort haben — „psyche". Auf vielen griechischen Grabstelen entfliegt die Seele dem toten Körper in Gestalt eines Schmetterlings. Goethe kannte und liebte griechische Stelen. Dieses Wortspiel ist wiederum ein Zeugnis für die Tendenz dieses Dichters, seine Aussagen zu verhüllen. Wir werden dem Hang dazu, sich zu verschlüsseln, in den nachfolgenden Kapiteln immer wieder begegnen.

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Wurm" zurückbilden kann. Einem solchen sittlichen Unfall wirken die vereinten Energien evolutionären Prozesses und jener erlösenden Mächte entgegen, deren Manifestierung im Bereich der Natur das Gesetz der Steigerung ist. Haben wir sie einmal erklommen, so bewahrt uns eine gnädige Hand vor einem unwiderruflichen Rückfall von der „bedeutenden großen Stufe", jener Schwelle, die durch die Pforte des Todes zu einem neuen „Werde" führt. Die ganze Schöpfung ist in Goethes Drama von einem Sicherheitsnetz umschlossen, das vibriert von Werdelust Schaffender Freude nah (Z. 789 f.). Von dieser Herrlichkeit konnte die Schlange nicht wissen. Ihr war es bestimmt, im Staub zu kriechen, auf einem Bauch voll Verderbnis. Ja, sollte der Schall der letzten Posaune ihr Ohr erreichen, sie würde sich im Kreis ringeln und mit unverbesserlicher Gleichgültigkeit fragen: Wo hör' ich auf? Wo fang' ich an?

II. Schauen und Glauben Weiß doch der Gärtner, wenn das Bäumchen grünt, Daß Blüt' und Frucht die künft'gen Jahre zieren. Goethe Ihr Gläubigen! rühmt nur nicht euren Glauben Als einzigen, wir glauben auch wie ihr; Der Forscher läßt sich keineswegs berauben Des Erbteils, aller Welt gegönnt — und mir. Goethe

Von Gliedern und vom Ganzen Lasset uns aber rechtschaffen sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Christus. Von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied an dem andern hanget durch alle Gelenke, dadurch eins dem andern Handreichung tut, nach seinem Maße, und macht, daß der Leib wächst zu seiner selbst Besserung; und das alles in der Liebe. Paulus 1.

Über seinen in letzter Stunde und einiger Hast verfaßten vierten Akt äußert sich der greise Goethe wie folgt: Dieser Akt bekommt wieder einen ganz eigenen Charakter, so daß er, wie eine für sich bestehende kleine Welt, das übrige nicht berührt und nur durch einen leisen Bezug zu dem Vorhergehenden und Folgenden sich dem Ganzen anschließt. 1 Die Bescheidenheit dieses Urteils mag dazu beigetragen haben, daß dem Akt so oft eine summarische, ja eine wegwerfende Behandlung 2 zuteil geworden ist. Er ist in der Tat „das große Schmerzenskind" der Forschung geblieben. 3 Die nachfolgenden Betrachtungen machen es sich zur Aufgabe, Sinn und Funktion dieses Aktes, jedenfalls in bezug auf den letzten, weiter zu erhellen, als bisher geschehen ist. Seinen „leisen Bezug" zu dem Helena - Akt herauszustellen, wäre ebenso wichtig, ja eigentlich zu seiner Klärung und der des Gesamtwerks unerläßlich. Dies zu tun verbietet sich hier, wird jedoch in einem späteren Kapitel nachgeholt werden. 4 1 2

3

4

Zu Eckermann, 13. Februar 1831, AGA, 24, S. 445. Siehe besonders Emil Staigers abfälliges Urteil in Goethe, (Zürich und Freiburg i. Br., 1959, 3. Band, S. 4 0 9 - 4 1 9 ) . Wilhelm Emrich, Die Symbolik von Faust II. Sinn und Vorformen. (Frankfurt am Main, Bonn, 1964, S. 363). Siehe Kapitel 11 dieser Studie.

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In dem großen Eingangsmonolog des vierten Aktes nimmt der vereinsamte Faust von „dem Besten meines Innern", das heißt von der Liebe, Abschied, und es folgt die „Umwendung zum Besitz".5 Was dies bedeutet, wird binnen kurzem aus Mephistos Beschreibung von Fausts Landungsplatz ersichtlich. Er steht auf dem „Hochgebirge. Dennoch spricht der Teufel von einem Abstieg „in solcher Greuel Mitten" (Z. 10069): „Denn eigentlich war das der Grund der Hölle." (Z. 10072) Die folgende, grotesk-vulkanistische Schilderung des teuflischen Gewaltaktes, der „Das Unterste ins Oberste" (Z. 10090) verkehrt hat, gibt Aufschluß über das, was sich anzuspinnen hier beginnt. „Ein offenbar Geheimnis" nennt Mephisto diese Verkehrung; und nicht nur verweist uns das folgende Bibelzitat auf die Tatsache, daß Faust es in dem, was da kommt, mit den „listigen Anläufen des Teufels" zu tun haben wird, „mit den Herren der Welt", die „in der Finsternis" herrschen 6, sondern das Wort von dem „offenbar Geheimnis" enthält eine Botschaft, deren „leiser Hindeutung" 7 der aufmerksame Leser sich nicht verschließen darf. Für den greisen Dichter bedeutet es mindestens zweierlei: einmal das „Heilig öffentlich Geheimnis", dessen Schleier Goethe in dem Gedicht Epirrhema lüftet: Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: Denn was innen, das ist außen. und: Kein Lebendiges ist ein Eins, Immer ist's ein Vieles...: ein Doppelgeheimnis also. Darüber hinaus aber gemahnt dies bedeutungsschwere Wort an das Gedicht des West-östlichen Divans, dem es zum Titel dient, und an das darauf folgende, Wink,8 In diesen beiden Gedichten — und sie gehören zusammen — spricht Goethe von dem „Wert des Worts"; und zwar nicht nur mit Bezug auf Hafis, dem das Wort zum Vehikel des im Endlichen geschauten Göttlichen wurde, sondern generell von dem Wert des Wortes als Symbol, als welches es gleichermaßen verhüllt und enthüllt. Symbol meint Fächer, Wink, verständlich dem — und damit sind wir wieder bei Faust —, „der sich auf Miene, Wink und leise Hindeutung

5 6 7 8

Paralipomenon 179, WA, I, 152, S. 238. Epheser, 6, 12. Siehe den Brief an Sulpiz Boisseree, 8. September 1831, WA, IV, 49, S. 64. Buch Hafis, HA, 2, S. 24 f.

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versteht", 9 auf das von dem Dichter „seit langem" gewählte „Mittel..., durch einander gegenüber gestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren" .*10 Wäre es denkbar, daß der Dichter dem Teufel eine für den „aufmerkenden" Leser gemeinte Regieanweisung in den Mund gelegt hat? Daß dieser im Folgenden der symbolischen Aussagekraft eines Geschehens gewahr sein soll, in welchem durchweg „das Unterste ins Oberste" verkehrt wird, ein jedes dem Schein nach Äußeres ein Inneres meint und überdies jedes Einzelne als eine Vielheit angesehen werden will? Diese vierfaltige Frage liegt den folgenden Ausführungen als Arbeitshypothese zugrunde. Ob sie tragfähig ist, wird sich erweisen. 2.

In seiner Darstellung der geschichtlichen Hintergründe des vierten Aktes — der Angelpunkt der Handlung ist die Restauration des kaiserlichen Reiches — stützte sich Goethe bekanntlich auf die Goldene Bulle Karls IV., die ihm von Kind auf bekannt war, und zwar durch J. D. von Olenschlager. Dieser, Verfasser von Neue Erläuterung der Goldenen Bulle Kaiser Carls IV. (1776), hatte seine Freude an dem aufgeweckten Knaben, der um ihn war, als er sein magnum opus schrieb, und setzte diesem „den Wert und die Würde dieses Dokuments sehr deutlich" auseinander. 11 Besonders ergötzlich fand er die Schrulle des Knaben, die Anfinge der Bücher, die ihn beeindruckt hatten, aus dem Gedächtnis zu zitieren. Unter diesen war, wie Goethe in Dichtung und Wahrheit berichtet, 12 die Goldene Bulle. Diese aber beginnt mit den Worten Jesu in Matthäus 12,25: „Omne regnum in se divisum desolabitur"; in Luthers Übersetzung: „Ein jegliches Reich, so es mit sich selbst uneins wird, das wird wüst"; mit dem Jesajas I, 23 entnommenen Nachsatz: „nam principes ejus facti sunt socii furum"; zu deutsch: „denn seine Fürsten sind zu Genossen von Dieben geworden." Es wird allgemein angenommen, daß das Wort Christi, wennschon nicht ausdrücklich zitiert, Goethes Gesamtkonzeption des vierten Aktes

An Heinrich Meyer, 20. Juli 1831, (Concept) WA, IV, 49, S. 292, und an Sulpiz Boisseree, 8. September 1831. WA, IV, 49, S. 64. * Hervorhebungen I. G. 10 An K . J. L. Iken, 27. September 1827. WA, IV, 43, S. 83. » Erster Teil, Viertes Buch, HA, 9, S. 158. 12 Ebenda. 9

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zugrundeliegt. 13 Und mit Recht. Uneinigkeit ist die Losung in diesem Reiche vor dem Sieg des rechtmäßigen Kaisers; sie ist es nicht weniger danach. Seine Fürsten, der Kirchenfürst an der Spitze, rauben gemeinschaftlich das soeben Erbeutete. Sie sind „zu Genossen der Diebe geworden". Sollte sich Goethe des Wortes Christi im hohen Alter wirklich nicht erinnert haben? Er selbst bezeichnete sich als bibelfest. Und hätte er es auch vergessen, Olenschlagers Buch, das er sich am 14. Juli 1831 aus der Weimarer Bibliothek entlieh — also gerade in den Wochen, in denen er den vierten Akt zu Papier brachte — wird es ihm ins Gedächtnis zurückgerufen haben. So fraglos aber das Gleichnis Christi auf die politische Anarchie des kaiserlichen Reiches wie zugeschnitten ist: Jesus selbst bedient sich seiner, um etwas über den Einzelnen und die Bedingungen von dessen Wirksamkeit auszusagen — in diesem Falle über sich selbst und seine Macht über den vom Bösen Besessenen, den er soeben geheilt hat. Nur ein in sich einiges, harmonisches, vom Prinzip des Göttlichen, der Liebe, beherrschtes Wesen „kann bestehen" und der Macht des in sich uneinigen Bösen, das mit sich selbst hadert, mit größerer Macht begegnen. Nur was so in sich selbst „besteht", ist ein Ganzes, und als solches unverwüstlich. Das in sich Geteilte hat keinen Bestand; es „wird wüst": die Stadt, das Haus, das Reich, 14 Bilder, die jedoch — so sehr das Letztere auf das kaiserliche Reich des vierten Aktes Bezug hat — von Jesus selbst nur als erläuternde Gleichnisse angeführt werden. Hier gilt es fünferlei festzuhalten. Einmal die Richtung der Aussage: sie zielt auf den Einzelnen, nicht letztlich auf 13 14

Siehe die ausgezeichneten Bemerkungen E. Beutlers in AGA, 5, S. 818. Wie sehr das Gleichnis Jesu Goethes dichterische Phantasie beherrscht, wird aus dem nächstfolgenden, wieder Mephisto in den Mund gelegten Bibelzitat ersichtlich. Er spielt auf „Die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten" an (Z. 10131), also auf Matthäus, 4. Dort aber versucht der Teufel Jesus in der Wüste, indem er dessen Einigkeit mit dem Göttlichen durch Verlockungen zu Zeichen, die seine irdische Macht beweisen würden, zu untergraben trachtet. Die Verlockungen, mit denen Mephisto Faust versucht, entsprechen aber den von Jesus in Matthäus 12, 25 gleichnisweise herangezogenen Kollektivverbänden: der Stadt (Z. 10135 ff.), dem „Haus" (Z. 10160 ff.), und schließlich dem Reich, nämlich dem Kaiserreich, dessen Wiederherstellung Vorbedingung für das Leben und damit für die Erfüllung von Fausts Traum ist, dem Meer sein Kolonialreich abzugewinnen. Dieses letztere verfängt. Faust läßt sich zu aktiver Teilnahme an dem Kampf um das kaiserliche Reich herbei. Und von nun an beherrscht „das Reich" die Szene. Es ist praktisch das letzte Wort des vierten Aktes; es ist praktisch das Eingangswort des fünften. Und das eine Reich sowie das andere ist „Versuchung", d. h. fußt auf Blendwerk und Gewalt, worüber im folgenden mehr zu sagen sein wird.

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ein überindividuelles Gefüge wie das Reich, das hier lediglich den Stellenwert eines Vergleiches hat. Freilich, dieser Vergleich lenkt unser Augenmerk darauf, daß auch der Einzelne „ein Vieles", d. h. ein Kollektivverband ist. Zweitens: was bedeutet „wüst-sein"? Es bedeutet, nicht von dem „oberen Leitenden", der Liebe, beherrscht sein, welche eint; und somit geteilt sein, dem Verfall des Selbsthasses preisgegeben sein. Umgekehrt bedeutet von einender Liebe beherrscht sein unverwüstlich sein. „Unverwüstlich" aber ist das Wort, welches Goethe stetig im Zusammenhang mit seiner Monadenlehre verwendet. Diese Verknüpfung gilt es im Auge zu behalten. 15 Drittens ist zu vermerken, daß der in sich selbst Uneinige, der das in sich Widerstreitende, den Haß, zum leitenden Prinzip erhoben hat, Mephistos Wort entsprechend „das Unterste ins Oberste" verkehrt hat; und daß weiterhin in dem Gleichnis, welches dem vierten Akte zugrundeliegt, ein Äußeres für ein Inneres einsteht, nämlich ein gesellschaftlicher Verband für einen Einzelnen. Faust aber ist es, der, fünftens, die Hauptgestalt dieses, wie auch schon des zweiten Aktes, ist, so wenig er auch in beiden in Erscheinung tritt. Hat also — so müssen wir fragen — das Gleichnis, welches dem Akt zugrundeliegt, hat die äußere Handlung, welche sich in diesem abwickelt, einen geheimen Bezug auf Faust? Deuten Gleichnis und Handlungsgefüge auf ein Inneres, nämlich auf Fausts seelische Verfassung hin? Die eigentliche Handlung des Aktes hebt mit einer Kriegserkläung an, mit dem Unterfangen, Herrschaft und Besitz eines im Verfall begriffenen Staatsverbandes mit Gewalt zu befestigen. Tut der Faust, der „das Beste seines Innern", die Liebe, verabschiedet hat, nicht genau das Gleiche? Und zwar im Inneren sowie im Äußern? Kämpft er nicht, genau wie der überalterte Staat, um „Herrschaft" und „Eigentum" (Z. 10187), hier, am Anfang des vierten, und später, im fünften Akt, bis hart an die Grenze des Todes? Steht sein herrscherliches Wesen nicht im Zeichen der Gewalt? Und zwar der Gewalt einer in sich veruneinten, alternden Monade, die gegen ihre Verwüstlichkeit ankämpft und sich mit allen Mitteln zu befestigen strebt? Dies sind die Möglichkeiten, deren wir gewahr bleiben müssen. Sie sind alle in dem Vergleich Christi zwischen dem veruneinigten, „wüsten" Einzelnen, der nicht „bestehen kann", und

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Siehe z. B. Maximen und Reflexionen, HA, 12, N° 228, S. 396 f., Dichtung und Wahrheit, III, 12, HA, 9, S. 509 f. Wenn auch das Wort selbst nicht fällt, so weisen die Ausführungen in Wilhelm Meisters Wanderjahre über die Israeliten in genau die gleiche Richtung (II, 2, HA, 8, S. 159f.). Siehe auch Goethe zu Eckermann, 3. März 1830, AGA, 24, S. 399.

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dem brüchigen gesellschaftlichen Verbände — sei es nun ein Haus, eine Stadt oder ein Reich — angelegt. Hier erhebt sich die Frage, welcher Art das Ganze ist, das die Bibelstelle, und der Akt des Faust-Dramas, der auf ihr fußt, im Auge haben. Offensichtlich geht es bei Matthäus um zwei Arten des Ganzseins. Der „wüste" Einzelne, sowie das „wüste" Reich, ist uneins: d. h., beide bestehen aus Teilen, die sich untereinander bekriegen. Der in sich Einige dagegen — sei es nun der Einzelne oder das Reich — ist zwar auch ein Kollektivwesen, aber ein Kollektivwesen anderen Schlages. Er „besteht" nicht aus Teilen: und eben darum vermag er zu „bestehen". Was für eine Art Ganzes stellt ein solches, in sich einiges Wesen, dar? Einigen Aufschluß gibt uns das Bibelwort. Der Einzelne, der hier spricht, ist Jesus selbst. Dieser steht unter der Herrschaft der göttlichen Liebe, die er soeben heilend bewährt hat. Im eigentlichen Sinn ist er also kein Einzelner: denn er ist wesensmäßig auf einen weiteren Verband ausgerichtet: auf den Liebesverband mit Gott und, kraft dessen, auf den mit seinen Mitmenschen, denen er dient. Das Ganze, das in ihm verkörpert ist, weist also von vorneherein über sich selbst hinaus. Wie aber können wir ein solches Ganzes benennen? Hier führt uns Goethe weiter. Bis jetzt hat er mit dem Modell des „wüsten" Ganzen und — möglicherweise — des „wüsten" Einzelnen operiert: und aus dem bereits Gesagten ist die Anwendung auf den anarchischen Staat und vielleicht auch auf den liebeleeren, auf Gewaltherrschaft fußenden Faust leicht ersichtlich. Nun aber schmuggelt der Dichter in das Panorama des in seinen Fugen krachenden Staates ein anderes Modell ein, und zwar durch seinen Faust. Es ist das Modell des Organismus. Wiederum ist es der Bibel entnommen, wenngleich diese seine Herkunft im Zusammenhang des vierten Aktes noch nicht klar zutage tritt. Faust rät dem Kaiser davon ab, sich mit seinem Nebenbuhler im Zweikampf zu messen. Er sei das „Haupt", das symbolische Haupt, eines Körpers, dessen „Glieder" — sei es nun der Arm oder der Fuß — ohne ihr Lebenszentrum hilflos verloren seien. Dies sind Fausts Worte: Wie es auch sei, das Große zu vollenden, Du tust nicht wohl, dein Haupt so zu verpfänden. Was, ohne Haupt, was förderten die Glieder? Denn schläfert jenes, alle sinken nieder; Wird es verletzt, gleich alle sind verwundet, Erstehen frisch, wenn jenes rasch gesundet.

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Schnell weiß der Arm sein starkes Recht zu nützen; Er hebt den Schild, den Schädel zu beschützen; Das Schwert gewahret seiner Pflicht sogleich, Lenkt kräftig ab und wiederholt den Streich; Der tüchtige Fuß nimmt teil an ihrem Glück, Setzt dem Erschlagnen frisch sich ins Genick. (Z. 10473-86) Diese synekdotische Metapher — ihre Brutalität bleibe vorerst unkommentiert — wird im Folgenden von dem Erzkanzler wieder aufgenommen. Dieser versichert dem Kaiser: Solang das treue Blut die vollen Adern regt, Sind wir der Körper, den dein Wille leicht bewegt. (Z. 10963 f.) Hier also wird der Kollektivverband des Staates als Analogon des physischen Einzelorganismus ausgelegt, ein Leitbegriff des Naturwissenschaftlers — und sittlichen Denkers — Goethe, über welchen sich bereits hier, ohne Bergschluchten und Himmel hinzuzuziehen, Wesentliches aussagen läßt. Drei Hauptmerkmale bezeichnen den physischen Organismus: Dieser ist nicht Eins, sondern „ein Vieles" — eine Bestimmung, an der Goethe auch in den Heften Zur Morphologie festhält, wo er „Jedes Lebendige" als „eine Versammlung von lebendigen selbständigen Wesen"16 definiert. Dennoch stehen die Teile eines natürlichen Organismus nicht in dem „gleichgültigen" Bezug eines bloßen „Nebeneinander", sondern umfassen „sich alle in einer wechselseitigen unaufhörlichen Wirkung", 17 dergestalt, daß „alle Teile auf einen Teil hinwirken und jeder auf alle wieder seinen Einfluß ausübe."18 Obwohl in einem vollkommneren Geschöpf diese Teile einander, und dem Ganzen, stetig unähnlicher werden und das Prinzip der 16

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Zur Morphologie. Die Absicht eingeleitet (HA, 13, S. 56). Auch in nichtmorphologischen Zusammenhängen bekannte sich Goethe stetig zu der Auffassung des Individuums als Kollektivwesen und zögerte nicht, sich selbst und seine Leistung in solchem Lichte sehr realistisch einzuschätzen. Siehe zu Eckermann, 12. Mai 1825, AGA, 24, S. 158 f. und 17. Feb. 1832, ebd., S. 767. Man bedenke den lapidaren Satz: „Mein Werk ist das eines Collektivwesens, das den Namen Goethe trägt." Ergänzend zu dieser Vorstellung tritt jedoch die Überzeugung von der Unteilbarkeit der Entelechie. Siehe Anm. 14; dazu Urworte. Orphisch, Dämon und Goethes Kommentar, HA, 1, S. 403 f. Vorträge über die drei ersten Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie (AGA, 17, S. 278). Ebenda, S. 272.

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Subordination das eines lockeren Nebeneinanders der Teile ablöst, 19 bleibt zweitens — und dies ist aus der eben zitierten Stelle ersichtlich — die Wechselseitigkeit auch zwischen Haupt und Gliedern in Kraft. Drittens aber — und diese Spezifizierung ist bereits in dem anfangs zitierten Satz mitenthalten — ist ein natürlicher Organismus „eine Versammlung von lebendigen (Hervorhebung I. G.) selbständigen Wesen" oder, wie Goethe in einem anderen Zusammenhang formuliert, bis „ins Kleinste lebendig". 20 Fassen wir diesen Organismus-Begriff noch einmal in der schönen und bündigen Formulierung zusammen, die er in dem Gedicht Metamorphose der Tiere gefunden hat. ...alle lebendigen Glieder Widersprechen sich nie und wirken alle zum Leben. Was entspricht nun dieser Konzeption in der Darstellung des gesellschaftlichen Gefüges im vierten Akt? Ein Ganzes, ein Leben, zu dem alle lebendigen Glieder zusammenwirken könnten, gibt es da nicht. Das Gefüge des Staates ist morsch, es rieselt in den Fundamenten, es ist in sich gespalten. Zwei Häupter hat dieses Reich — nein, eigentlich drei: den Kaiser, den Gegenkaiser und das Oberhaupt der Kirche. Keiner von diesen ist dem Ganzen verpflichtet: der selbstherrliche und schwache Kaiser verwechselt, wie schon im ersten Akt, „Regieren und... genießen" (Z. 10251) und kümmert sich wenig um das Wohlergehen seiner Untertanen. Dem Gegenkaiser ist das „Ganze" nichts als eine gelegene Beute. Der Erzbischof schröpft dieses geschwächte Leben erbarmungslos, wie ein Blutegel. Nicht nur die Hölle hat „Rachen viele! viele!" (Z. 11640), auch der Staat; und den vielen Rachen entsprechen viele Häupter, die an dem Leben zehren, welches ihrer Hut anvertraut ist. Was ist dies für ein Organismus? Eine Hydra? Eine analoge Frage wird sich uns später, im Bezug auf den fünften Akt aufdrängen. Mit den obersten „Gliedern", den weltlichen Fürsten, ist es nicht besser bestellt. Ein jeder schmeichelt dem Kaiser und geht dabei skrupellos seinem Privatinteresse nach, zentrifugal hinwegstrebend von dem Ganzen. Und wie steht es um die gemeinen Glieder dieser „Körperschaft", die Mephisto da hervorzuzaubern so betriebsam ist? „Zusammengerafft"

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Zur Morphologie. Die Absicht eingeleitet, HA, 13, S. 56. Siehe auch Fragmente çur Botanik, AGA, 17, S. 199 und Vorträge über die drei ersten Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie. AGA, 17, bes. S. 287. Maximen und Reflexionen, HA, 12, S. 468, N° 732.

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(Z. 10318) hat er „die drei Gewaltigen", und Raffer sind sie, und Eilebeute, par excellence. Ihr Wesen entspricht ihren Namen und — den verschiedenen biologischen Lebensstufen angemessenen Funktionen „niedrer" Monaden, die einer Hauptmonas untergeordnet sind — ein Thema, über welches sich Goethe in einem faszinierenden Gespräch ausläßt, auf welches wir zurückkommen werden. 21 Der jüngste von ihnen, Raufebold, greift brutal um sich. Er ist die personifizierte Gewalttätigkeit. Habebald, mittleren Alters, ist, zusammen mit seiner „Buhle", Eilebeute, der eigentliche Raffer. Er rafft und raubt, wo er kann. Haltefest ist die vielleicht interessanteste der drei Gestalten. Er ist „bejahrt, stark bewaffnet, ohne Gewand" (vor Z. 10339); d. h., seine Daseinsstufe entspricht der des überalterten Staates und der des greisen Faust im fünften Akt: exponiert, den Elementen ausgesetzt, und bestrebt, das, was er hat, „festzuhalten", wenn nötig, mit Gewalt zu befestigen — Bild einer alternden Monade. Sie alle sind auf Raub und Beute erpicht: und zwar jedes für sein Teil. Das „Ganze" ist für sie ein leeres Wort. Wie Habebald in „Des Gegenkaisers Zelt" es formuliert: Wir trugen unsre Glieder feil Und holen unser Beuteta'/.* (Z. 10819 f.) Diese noblen „Glieder" „gesellen" sich nun also zu den Kaiserlichen; sie werden des Kaisers „Reihen innigst einverleibt", wie Faust es euphemistisch ausdrückt (Z. 10509 f.). Soviel zu dem Thema der Wechselseitigkeit, jener unabdingbaren Eigenschaft eines organischen Wesens; des wechselseitigen Bezugs der Glieder zueinander, zu ihrem „Haupt", und von diesem zu jenen. Auch mit der Subordination, dem Kennzeichen vollkommnerer Organisationen, ist es nicht weit her. Ein jeder nimmt, nicht was ihm zukommt, sondern was er „erraffen" kann — ein Wort, das in diesem Akt sowie in dem folgenden, bis zu Fausts Abschiedsvision, leitmotivartig wiederkehrt. Habebald schärft dem Trabanten des Kaisers die monotone Gleichberechtigung aller in dieser „Körperschaft" mit gewohnter Roheit ein: Ihr alle seid auf gleichem Fuß: Gib her! das ist der Handwerksgruß. (Z. 10829 f.) Wie steht es nun aber um das dritte Merkmal des lebendigen Organismus, die Lebendigkeit „bis ins Kleinste"? Hier müssen wir jener „ausgegeisteten

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Zu J. D. Falk, 25. Januar 1813. (AGA,

22, S. 672ff.)

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Körperlichkeiten" 22 gedenken, der gespenstischen Soldaten, welche Mephisto in den Waffensälen zusammengeklaubt hat, um dem Kaiser zu Hilfe zu kommen. Mephisto nennt sie „leere Schneckenhäuser" (Z. 10560). Was will das besagen? Diese Gewappneten, die mit ihrem blechklappernden Gerassel und ihren irrlichternden Flämmchen Freund und Feind „entgeistern", sind die leblosen „Glieder" eines gesellschaftlichen Gefüges, welches somit per definitionem selber leblos, d. h. kein Organismus ist. Der Staatsverband, der uns hier vorgeführt wird, ist kein organischer Verband. Er ist eine Scheinkonfiguration, aus Scheinkonfigurationen zusammengeflickt: aus dem Kaiser, welcher den Schein dem Sein vorzieht — Es war nur Schein, allein der Schein war groß... (Z. 10420) — aus den selbstsüchtigen und speichelleckerischen Fürsten, dem scheinheiligen Kirchenoberhaupt, den „Spuren verschollner geistiger Naturen" und aus den drei Gewaltigen; ja, selbst aus ihnen. Denn, bei all ihrer handfesten Brutalität ist die Wirkung, die von ihnen ausgeht, nicht weniger gespenstisch und sinnverwirrend als die der „hohlen Waffen aus der Säle Grüften" (Z. 10764). Warum? Weil in diesem Drama Gestalten, die aus Gewalt aufgebaut sind, im eigentlichen Sinne gar keine „Gestalten" sind. Wie eine wahre Gestalt aufgebaut wird, hat der Helena-Akt in aller Eindringlichkeit dargetan: in der Wahrnehmung, und Bewahrung, eminent „schwankender Gestalten" im liebenden und treuen „Augen=Blick". Die drei rohen Handlanger, die im nächsten Akt als Fausts „Gesellen" auftauchen werden, sind „Gewalt-Gestalten", und das heißt bei Goethe Scheingestalten, und in diesem doppelten Sinne sind sie „Allegorische Lumpe". Alles an diesem Akt ist Schein, nicht zum mindesten das Spuk- und Blendwerk, dem Goethe einen so breiten Platz eingeräumt hat: nicht aus der müßigen Verspieltheit einer nachlassenden Gestaltungskraft heraus, wie gemeint worden ist, 23 sondern mit vollstem Willen und dichterischer Absicht. Denn in diesem Akt, dem dritten folgend, auf das letzte Ende hinzielend, ging es ihm darum, eine Scheirrwelt zu entfalten und in ihrer Mitte einen ^¿«»Organismus darzutun: Ein wunderbarer falscher Ton. (Z. 10767) Wunderbar, weil kontrolliert.

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Paralipomenon 123, WA, I, 15 2 , S.206. Z. B. von Staiger (a. a. O., S. 414).

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3. Die meisten Wamungssignale, die der Dichter gleich zu Anfang dieses so abschätzig behandelten Aktes hat aufleuchten lassen, haben sich als verläßliche Winke herausgestellt. Die „kleine Welt", die wir an seiner Hand umschritten haben, hat sich als symbolkräftig erwiesen. In ihr ist durchweg „das Unterste ins Oberste" verkehrt worden, und zwar nicht nur in dem generellen Sinne, daß sich das Veruneinende, Böse — die Gewalt — zum „oberen Leitenden" aufgeworfen hat, sondern in dem spezifischeren, daß in Wahrheit Ungestaltetes, aus leblosen Elementen Zusammengestückeltes sich fälschlich für etwas unvergleichlich Höheres ausgibt, als es ist: für ein Organisches, Lebendiges, das „immer... ein Vieles" ist, aber dabei doch nicht „uneins" und „wüst", sondern Eins. Wie steht es nun aber um jenen andern „leisen Wink", den wir in Mephistos Worten von dem „offenbar Geheimnis" wahrzunehmen glaubten, den Wink, daß in diesem Akt — und vielleicht auch in dem letzten — alles Äußere ein Inneres meint, und möglicherweise auch umgekehrt alles Innere ein Äußeres? Dieser Frage gilt es jetzt nachzuspüren. Der Sprecher, der das — irreführende — Bild von dem brüchigen Staatsverband als einem organischen Körper eingeführt hat, ist der, um den es in diesem Drama geht — Faust. Er tut es nicht, wie später der scheinheilige Kirchenfürst, der ein Wolf im Schafspelz ist, aus bösartiger Heuchelei. Wenn er auch dem eitlen Kaiser mit der bildlichen Veranschaulichung seiner Wichtigkeit im Staatsganzen zu schmeicheln weiß: bewußt unehrlich ist er nicht. Er sollte es aber besser wissen. Denn in seinem Zusammensein mit Helena, in seiner Vision von Arkadien, ja schon in seinem „strudelnden" Herumirren durch die Gefilde der Klassischen Walpurgisnacht mit ihrer Phantasmagorie von Sich-Bildendem hat er tief in das Geheimnis organischer Gestaltung hineingeschaut, so tief, wie es nur einem gegeben ist, der bei den „Müttern" war. Hat er vergessen, was er da gesehen und erlebt hat? Oder hat er sich gewandelt, als er von dem Besten seines Innern Abschied nahm und die „Umwendung zum Besitz" vollzog? Hat sich in ihm selbst „das Unterste ins Oberste" verkehrt, so daß er nun Gewalt für Gestalt verkennt? Ist das Äußere, das Goethe da vor uns entfaltet hat, an dessen „Gewalt-Gestalt" Faust selber mitgearbeitet hat, eine Widerspiegelung seines auf Herrschaft und Eigentum gerichteten Innern? Könnte es sein, daß der vierte und der fünfte Akt „einander gegenüber gestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde" darstellen, dergestalt, daß der fünfte das soeben sich symbolisch abzeich-

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nende Innere von Faust wiederum in einem Äußeren — in dem Bild von Fausts Kolonialreich — einfangt, es also erneut unserm direkten Blick entzieht? Geben wir uns noch einmal Rechenschaft von der Linienführung dieses problematischen vierten Aktes und versuchen wir festzustellen, ob eine Enträtselung seiner komplizierten dichterischen Strategie über Goethes wahre Intention Aufschluß gibt. Das Gleichnis, das ihm zugrundeliegt, in welchem Jesus seine Macht erklärt, einen vom Teufel Besessenen zu heilen, ist — wir sahen es — auf den Einzelnen ausgerichtet. Der Vergleich des Einzelnen mit Kollektivverbänden wie dem Staat war Mittel zum Zweck. Der Zweck war, die unverwüstliche Einigkeit des in sich geschlossenen Einzelnen sowie die Möglichkeit der Verwüstbarkeit des in sich Geteilten herauszustellen. Diese Linie jedoch scheint im Sande zu verlaufen. 24 Das Gewicht des Aktes liegt auf dem bloß zum Zwecke des Vergleichs Herangezogenen, dem Staat. Umgekehrt zielt Fausts Vergleich des Staatsganzen mit einem Einzelorganismus, einem Körper, auf einen Kollektivverband, eben das anarchische Reich, dem Faust und Mephisto zu Hilfe kommen. Zweck dieser Metapher ist, die unverbrüchliche Einheit eines solchen Kollektivverbandes über dessen Vielgliedrigkeit hinaus zu betonen. Aber auch diese Linie entschwindet dem Blick. Der Vergleich zerschlägt sich. Er stimmt nicht. Dieser Staat ist kein Organismus. Er ist eine Scheingestalt, eine Fiktion. So fallt denn alles Licht auf den Einzelnen, der nur vergleichshalber herangezogen worden war, und was im Gedächtnis haften bleibt, ist ein politischer Bückling vor dem selbstherrlichen Kaiser.

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Sie tut es natürlich nicht, sondern kommt im fünften Akt zum Tragen, einmal in der Ohnmacht des bei aller Selbstbehauptung in sich gespaltenen Faust, sodann in der Ohnmacht des zwischen Haß und Liebesanwandlungen geteilten Mephisto den Engeln gegenüber, die in sich einig und somit siegreich sind. Damit wird diese Linie zum Abschluß gebracht, nicht aber die innere Problematik, die sich gerade durch die schließliche Einbeziehung des Teufels ergibt. Indem Goethe das Göttliche als ungeteilt, das Satanische aber als geteilt, d. h. nicht als ein dem Göttlichen ebenbürtiges und von diesem unabhängigen Prinzip begreift, fußt er nicht nur auf Matthäus, sondern generell auf christlichem Boden und setzt sich aufs Schärfste von der manichäistischen Position ab. Und zwar stellt er Mephisto konsequent als geteilt dar, nicht erst in Grablegung, sondern bereits im Prolog im Himmel, wo der Teufel durchaus eine schwache Seite für die Konzilianz des Herrn zutage legt. Wenn aber Geteiltheit dessen, der sich selbst als „Teil des Teils" erkennt, das eigentliche Kennzeichen des Bösen ist, müssen wir folgern, daß Mephisto „böser" ist, insofern er nicht ungeteilt dem Haß nachhängt, und daß er „besser" wäre, wenn er dies täte? Dies ist das unbequeme Paradox, mit dem uns Goethe entläßt.

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Wir haben es hier also mit einer merkwürdigen Verzahnung von zwei Bildern zu tun, die offensichtlich aufeinander ausgerichtet sind. Beide setzen ein Einzelwesen und ein Kollektivwesen miteinander in Bezug, und beide — dies ist festzuhalten — weisen darauf hin, daß auch der Einzelne ein Kollektivwesen ist, verwüstlich oder unverwüstlich, uneins oder eins; aber die Bilder verschwimmen durch die Verlagerung ihres jeweiligen Schwergewichts, sie setzen sich nicht voneinander ab, ihre Grundintention, ihr Bezug aufeinander sowie auf das dramatische Gefüge bleiben verschleiert. „Das Schmerzenskind der Forschung" entläßt uns in einem peinlichen Zustand der Schwebe. Wir überspringen vor der Hand die Eingangsszenen des letzten Aktes und wenden uns dem Monolog Fausts zu, der unmittelbar auf seine Erblindung folgt. Denn in ihm hat Goethe eben diesen Schwebezustand eingefangen und — erhellt. Fraglos ist es der große Einzelne, der hier spricht: wovon er aber spricht, geht aus seinem letzten Satz hervor, und, im besonderen, aus dessen letztem Wort — „Hände": Daß sich das größte Werk vollende, Genügt ein Geist für tausend Hände. (Z. 11509 f.) Dies ist die Metapher, die Fausts Ermahnung an den Kaiser zugrundelag, von einem Zweikampf mit dem Gegenkaiser abzusehen: die Metapher eines gesellschaftlichen Verbandes, der in der Unlösbarkeit des Bezugs seiner Glieder aufeinander einem Einzelorganismus gleichkommt. 25 Vor seinem inneren Auge sieht der Erblindete ein Gemeinschaftswesen, welches er wiederum als Organismus begreift, und sich selbst als Glied dieses Organismus. Wir fragen: stimmt es diesmal mit dieser so mißbrauchten Metapher? Was ist das für ein Organismus, der vor Fausts innerem Auge schwebt? Und wie ist es mit seiner „Mitgliedschaft" bestellt? Als was für ein „Glied" erachtet sich der Königliche? Hier muß wiederum die Bibel weiterhelfen. Und wir dürfen sie zu Rate ziehen; denn, obgleich Goethe hier keine Bibelstelle vermerkt hat und sich hinter einem „offenbar Geheimnis" versteckt hat, liegt Fausts Worten — und nicht nur den letzten — eine Bibelstelle zugrunde; und zwar eine, die sich für den Verlauf des Dramas als absolut entscheidend erweisen wird. Zwei Stellen hatte Goethe im Sinn: beide sind Paulus' Episteln entnommen. Die eine ist Römer, 12, 4—5; die andere, viel weiter ausholende, ist 1 25

Diese Metapher ist bereits in Piatons Republik (Para. 556 e ud 567 c) zu finden. Von dort hat Goethe sie wahrscheinlich, während Paulus sie auf dem Umweg über die Stoa adoptiert haben dürfte. Siehe Kittel, Theologisches Wörterbuch, Band VII, S. 1024 ff.

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Korinther, 12,4—31. Auf diese werden wir uns im folgenden konzentrieren. Paulus spricht von der Gemeinschaft der Gläubigen in Christus und vergleicht diesen Kollektivverband mit der Gemeinschaft der verschiedenen Gliedmaßen in einem Körper. Dreierlei sagt er in diesem grundlegenden Abschnitt aus: einmal die Unverbrüchlichkeit der christlichen Glaubensgemeinschaft, deren „Glieder" so untrennbar mit und durch Christus verbunden sind, wie die eines Leibes. Nicht von Teilen und Ganzen spricht er, sondern von Gliedern, die einem Körper einverleibt sind, also, in Goethes eigenen Worten, von „einer Versammlung von lebendigen selbständigen Wesen".* Zum zweiten aber betont er die Wechselseitigkeit aller dieser, einem Leibe innewohnenden, Glieder, der „schwächsten" sowie der „ehrbarsten", der Hand oder des Fußes sowie des Auges oder Hauptes: alle sind gleich „nötig", ja — und hier vollzieht Paulus eine merkwürdige „Umwertung aller Werte" — „die uns dünken die schwächsten zu sein, sind die nötigsten; und die uns dünken am wenigsten ehrbar zu sein, denen legen wir am meisten Ehre an; und die uns übel anstehen, die schmückt man am meisten. Denn die uns wohl anstehen, die bedürfen's nicht." (22 — 24) Alle Glieder sind also gleich nötig und gleichberechtigt — bis auf eins — und das ist die dritte Aussage —: dieses ist der Geist, der Herr. Es sind mancherlei Gaben; aber es ist ein Geist. (4) Und es sind mancherlei Ämter; aber es ist ein Herr. (5) Und es sind mancherlei Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirket alles in allen. (6) Fraglos haben wir hier die gemeinsame Quelle, aus der sich die an den Kaiser gerichteten Worte Fausts und des Erzbischofs im vierten Akt, und Fausts Worte hier, im fünften, speisen. Daß Goethe Paulus zitiert, untersteht keinem Zweifel. Wenn ein Beweis vonnöten wäre, so ist er in dem Sperrdruck des Wortes ein zu finden: Daß sich das größte Werk vollende, Genügt e i n Geist für tausend Hände. Nehmen wir die vorhergehenden Worte dazu — Des Herren Wort, es gibt allein Gewicht... —: wie können wir in Abrede stellen, daß es sich in den lapidaren Sätzen des herrscherlichen Einzelnen um Goethes bewußte und buchstäbliche Verwendung — und Travestie — von Paulus' Worten handelt? Die Frage erhebt sich, worauf Goethe mit dieser Persiflage abgezielt hat, von der er

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erwarten durfte, daß der gebildete zeitgenössische Leser sie registrieren würde. Bevor wir eine Antwort zu ermitteln suchen, streifen wir mit einem Blick den Paulinischen Organismus-Begriff, um zu sehen, wie er sich mit dem Goethes vergleicht. Die Signatur ist — mirabile dictu —im wesentlichen die gleiche. Da ist die Lebendigkeit „bis ins Kleinste", die sich darin ausdrückt, daß Paulus von „Gliedern" und nicht von „Teilen" spricht; da ist die Wechselseitigkeit der konstituierenden Glieder, von Fuß und Hand und Auge und Haupt; da ist selbst das Prinzip der Subordination, nur daß es gleichsam auf den Kopf gestellt ist: Paulus ist sich der natürlichen Rangordnung der Glieder und ihrer „Ämter" wohl bewußt; aber diese wird von einer durch andere Kriterien bestimmten Hierarchie abgelöst, in der nun wiederum „das Unterste ins Oberste" verkehrt wird. Ob es da eine Vermittlung zwischen ihm und Goethe gibt, wird sich in Bergschluchten und Himmel erweisen. Nur in einem Punkt unterscheidet sich Paulus radikal von Goethe — oder ist es von Goethes Faust? — : und das ist in dem Rang, den er dem „Herrn", dem „Geist" zuspricht. Bei ihm meint „Herr", „Geist", den einen Gott, „der da wirket alles in allem", das Lebenszentrum des überpersönlichen Organismus oder „Leibes" also, dem alle individuellen Glieder gleichermaßen eingegliedert und Untertan sind. Für den Faust, der hier spricht, meinen „Herr" und „Geist" — Faust. Damit erledigt sich, wenigstens zu einem Teil, die Frage, worauf der Dichter mit seinem unzitierten Zitat und dessen hybrider Verdrehung hinauswollte. Macht hier der große Einzelne eine Aussage über sich selbst, über seine eigene seelische Struktur, oder über den umfassenden Organismus einer Gemeinschaft und seinen Platz darin? Die Antwort, die wir geben müssen ist diese: er macht sie über beides; denn er selbst ist dieser umfassende Organismus. Er ist kein „Mit=Glied" eines umfassenden Verbandes. Er selbst ist „Herr" und „Geist", „ist" dieser umfassende Verband. Die Kluft, die Paulus zwischen den „mancherlei" Gliedern und dem einen Geist aufreißt — aber auch wieder schließt, indem diese die Glieder eines, noch dazu von Liebe beseelten, Organismus sind — verläuft bei Faust auf einer anderen Höhenlage, ist radikaler und schließt sich nicht. Er ist Hirn, Geist, Haupt (so hatte er synekdotisch ja bereits den Kaiser tituliert), er ist das Ganze: die „andern", „niederträchtigste Elemente"26 sind die „Knechte" — ein für Paulus bedeutsames Wort! Darum also das Zusammenlaufen der zwei Bildstränge, der Metapher 26

Siehe Anmerkung 34.

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von dem in sich einigen oder „wüsten" Einzelnen, die auf Matthäus fußt und jener anderen, wie wir jetzt wissen, Paulinischen, die den Einzelorganismus nur als Modell für einen umfassenden Kollektivverband gebraucht! Darum das Schillernde ihrer Bedeutung und das Schwebende ihres Bezugs! Zwei Sphären, die sich nicht decken, deren eine größer ist als die andere, sind zusammengefallen in der Verabsolutierung des großen Einzelnen, der sich selbst als tragenden Organismus begreift. Daß Goethe hier Paulus bewußt persifliert, und was er damit beabsichtigt,, erhellt aus einer aufschlußreichen Parallele. Sie findet sich genau da, wo man sie vermuten würde, nämlich bei dem ersten Einsatz der Körper= Staat = Metaphorik im vierten Akt. Auf Fausts Anliegen, der Kaiser, als „Staatshaupt", möge sich dem Gegenkaiser nicht im Zweikampf stellen, sondern seine treuen „Glieder" walten lassen, erwidert der Monarch sichtlich befriedigt — und Faust selbst hat ihm in seiner Schlußwendung diese Antwort zugespielt: Das ist mein Zorn, so möcht' ich ihn behandeln, Das stolze Haupt in Schemeltritt verwandeln! (Z. 10487 — 8) Dies ist nun wiederum ein Bibelzitat, und zwar ein sehr genaues. Goethe zitiert Psalm 110, Vers 1: „Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde zum Schemel deiner Füße lege." Der aber hier spricht, ist „der Herr", der „zu meinem Herrn" — also, in Lutherischer Auslegung, zu Christus — spricht. Bereits beim ersten Aufklang der Paulinischen Metaphorik kennzeichnet also der Dichter deren im eigentlichen Sinne blasphemische Verdrehung im Munde einer Gestalt, die sich selbst vergottet: und diese geheime Verdrehung, und was sie meint, wird nun hier, im vollsten Ausmaß ihrer Bedeutung, dem „aufmerkenden" Leser in Fausts Aussage über sich selbst „offenbart".27 Stellt nun aber der Einzelne, der sich des Ganzen bemächtigt und es also usurpiert, einen Organismus im Sinne Goethes dar? Wir können diese Frage in einem Zug beantworten. Sind wir doch an dem Schnittpunkt angelangt, wo Inneres — Fausts seelische Struktur — und Äußeres — die Struktur der Gemeinschaft, die er stiftet — ineinander überführt worden 27

Den genauen Bezug der sprechenden Paare aufeinander enträtseln zu wollen, wäre nicht nur unnötig, sondern auch falsch. Goethe läßt den Bezug zwischen Faust und dem Kaiser absichtlich in der Schwebe, der dichterischen Strategie entsprechend, die das Verhältnis zwischen dem vierten und fünften Akt in ihrer Gesamtheit bestimmt. Um ein „offenbares Rätsel" war es ihm in der Ausgestaltung der Beziehung zwischen Kaiser und Faust, Staat und Einzelnem, Äußerem und Innerem zu tun. Siehe Anmerkung 31.

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sind und jedes das andere getreu abspiegelt. Was aber ist das für ein Organismus, in dem ein Geist über tausend Hände verfügt? 28 Ist das noch ein Eines, das zwar „ein Vieles" in sich begreift, „eine Versammlung von lebendigen selbständigen Wesen", die dann aber doch eins sind und zu einem Leben wirken? Dies dürfte kaum der Fall sein. Hier scheinen die gesteigerten Enden sich nicht zu suchen und in einem Lebendigen zu vereinen, sondern feindlich auseinanderzustreben. Am einen Ende der isolierte, eine totale Subordination der konstituierenden „Glieder" fordernde „Herr" oder „Geist"; am andern eine Unzahl gleichartiger, und das heißt für den Morphologen Goethe „gleichgültiger", 29 „Glieder", im lockersten Bezug eines bloßen Nebeneinander zu ihren Genossen und zu einem schon äußerlich unvorstellbaren Ganzen. Und „wie in einer suspendierten Gleichgültigkeit" — ein Terminus, in dem Goethe die Treulosigkeit ««organischer Bestandteile eines »»organischen Konglomerats zum Ausdruck bringt 30 — verharren diese Teile dem despotischen Geist gegenüber, der sie regiert, so wie denn auch dieser dem Eigenleben und Eigenwohl dieser Teile mit äußerster Gleichgültigkeit gegenübersteht. Fausts geringschätzige Wendung von den „tausend Händen", die von der „Menge, die mir frönet" — und zu allem reimt das Wort sich noch mit „versöhnet"! — sowie die Brutalität seines „Bezahle, locke, presse bei!" (Z. 11554) bezeugen dies zur Genüge. Und zwischen diesem autokratisch= selbstgenügsamen Geist und den zu „Werkzeugen" degradierten Teilen vermittelt der Teufel — ein einigermaßen fragwürdiges Gangliensystem, das nicht gerade ein wechselseitiges Füreinander im Sinne hegt. Und wer sind nun faktisch diese „Glieder"? Die drei Gewaltigen — mittlerweise sind sie Fausts „Gesellen" geworden — und — die Lemuren. All diese „Werkzeuge", diese „Hände" — die einen „fangen", „greifen" und „hakein", die andern „schaufeln" — wollen ihr Recht: die Piraten verlangen „gleichen Teil", und zwar zum zweiten Mal; die Lemuren kommen für „gar ein weites Land", von dem sie „halb vernommen".

28

29 30

Hier ist zu erinnern, daß sich für Goethe „die Würde der vollkommensten Tiere, und besonders des Menschen,... in der regelmäßigsten Organisation,... bestimmte Form, Stelle, Zahl", d. h. in schöner Proportion und symmetrischem Bau, kundgibt. ( V o r t r ä g e über die ersten drei Kapitel etc., a. a. O., S. 286). Das Unproportionierte, das er hier der von Faust erträumten inneren Gestalt — sowie schon vorher dem gesellschaftlichen Gefüge des Staats — zuschreibt, sollte zu denken geben. Z. B. in Vorträge über die ersten drei Kapitel..., a. a. O., S. 285 und 286. In: Vorträge über die drei ersten Kapitel ..., a. a. O., S. 280.

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Und wie steht es letztlich um die „Lebendigkeit bis ins Kleinste", jenes Hauptmerkmal alles Organischen? „Geflickte Halbnaturen" (Z. 11514) werden die Lemuren genannt; und das heißt, daß sie nicht „eine Versammlung von lebendigen* selbständigen Wesen" sind, die „alle zum Leben wirken", sondern entgliederte, praktisch leblose Teile eines Ganzen, dem es somit per definitionem selbst an Leben gebricht. Diese Lemuren sind die genaue, wenn auch umgekehrte, Entsprechung jener „leeren Schneckenhäuser", die Mephisto im vierten Akt zur Verteidigung des „schlotternden" Staates mobilisiert hat; und mit dieser Parallele haben wir wohl „das Tüpfchen auf dem i" entdeckt und einen entscheidenden Blick in den Strukturzusammenhang der zwei letzten Akte getan. Denn diese Spiegelbilder im Kleinen — die einen sind „entgeistet", die anderen entgliedert — deuten darauf hin, daß die beiden Akte in ihrer Gesamtheit, bis hart an die Grenze von Fausts Erdenleben, als „einander gegenüber gestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde" auf einander hin komponiert worden sind. Dort wie hier führt uns der Dichter einen Scheinorganismus vor Augen, einen gerade noch mit Gewalt verkitteten Verband isolierter, „gleichgültiger", auf Ausgliederung bedachter „Glieder", tot, halbtot oder „allegorisch", wie es gerade kommt. 31 Das Einende, die Liebeskraft, ist jeweils am Anfang der beiden Akte verabschiedet worden: „das Beste meines Innern" im vierten, und im fünften das liebevolle, in organischen Lebensbezügen verwurzelte alte Paar, welches der „Gewalt=Gestalt" Fausts — und dies meint seine seelische Struktur und die seines Kolonialreiches in einem — in genialem Kontrapunkt der

31

Hier fällt die Ähnlichkeit zwischen dem Stoff, den Goethe unter den Händen hat, und der genau gleichzeitigen Charakterisierung seiner künstlerischen Aufgabe (an Zelter, 1. Juni 1831, WA,

IV,

48, S. 206) in die Augen. Diese sowohl wie die wiederum

gleichzeitigen, vehement-ablehnenden Äußerungen über Victor Hugo's Der Glöckner von

Notre-Dames (Tagebuch 20. Juni 1831, WA, III, 13, S. 95 f., an Zelter, 28. Juni 1 8 3 1 , W A IV, 48, S. 260, an Boisseree, 8. September 1 8 3 1 , WA, IV, 49, S. 65 und zu Eckermann, 27. Juni 1831, AGA,

24, S. 760) — er spricht faktisch v o n „den Gliedermännern, die

der Verfasser für Menschen giebt" — weisen in die gleiche Richtung hin: der Dichter war sich der Gefahr einer „lemurenartigen" Entgliederung der dichterischen Gesamtgestalt, die es zu vollenden galt, bang bewußt. Obschon er aber Entgliederung als solche darstellte — und zwar mit brilliant-drastischen Mitteln — gelang ihm m. E. die komposito-

rische Aufgabe, derartig entstaltete Elemente in einen vollgültig realisierten poetischen Zusammenhang einzubetten; eine Überzeugung, die sich auch, mit charakteristischer Verhülltheit der Aussage, in dem Selbsturteil an Zelter spiegelt. Eben das „offenbare Rätsel", von dem er dem Freund schreibt, hat er in der kunstvollen Verschlingung der Linienführung, die in den beiden letzten Akten waltet, ein Mal ums andere erreicht.

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Aussage vorangestellt ist. Das mythologische — nicht „allegorische" — Paar geht zusammen zugrunde, und mit ihnen die kleine Welt, aus der sie sich genährt haben. Das ist bedeutsam. Sie mögen getötet werden, aber nicht geteilt: so gehen sie durch ihre Gleichnamigkeit in die mythologische Sphäre ein und sind in diesem Sinne unverwüstlich. Dieses unausrottbare Leben entspringt daraus, daß sie, wenngleich Einzelgestalten, in Liebe auf ein Anderes, Umfassenderes, ausgerichtet sind und aus ihm sich speisen: Gatte auf Gatten, beide auf den Boden, der sie trägt und, letztlich auf den „alten Gott", dessen Hut sie „vertrauen". Demgegenüber erscheint nun, wieder in umgekehrter Spiegelung, der ganz auf sein eigenes Selbst gestellte große Einzelne, Faust. Und von vorneherein erscheint er in dem Spiegelbild, das die Alten ihm noch im Tode entgegenhalten, als bestandunfähig, in aller seiner Macht hinfällig, „wüst". Und zwar eben deswegen, weil er ausschließlich auf sich selbst fußt, uneins und liebesleer, was ja in seiner verquälten „Liquidierung" der Alten mit ihrem Kapellchen und dessen unerträglichen Gebimmel zum Ausdruck kommt. „Wütend" greift der „Wüste" um sich herum; nicht, um sich — wie die Alten — in einem tragenden Milieu einzubetten, sondern um das Umgebende einzuschlingen und zu zerstören. Ein solcher kann nicht „bestehen". Diese Folgerung ist bereits in dem Gleichnis Jesu von dem hinfalligen „Reich" angelegt, welches — wir sahen es — auf den Einzelnen und die Bedingung seiner Lebensfähigkeit abzielt; sie wird offenbar in dem Gleichnis von dem Weinstock (Johannes, 15,5), welches hinter Mephistos Anspielung auf Naboths Weinberg geistert, so aufschlußreich das tatsächlich angefügte Bibelzitat auch ist (Z. 11287). Die Rebe verdorrt, wenn sie sich nicht als „Glied" eines nährenden Ganzen begreift: „denn ohne mich könnt ihr nichts". Und diese Verlagerung des Gewichts auf einen übergreifenden Kollektivverband kommt endgültig in Paulus' Korintherhnei zum Tragen, wo der Einzelne durchgängig als „Glied" einer mystischen Körperschaft begriffen wird. In der Spiegelung von Fausts liebloser „Verkehrtheit" — wiederum wird hier „das Unterste ins Oberste" umgestülpt — wird nun die biblische Thematik, die sich wie ein unsichtbarer Faden durch das Ganze zieht, in sinnfälliger Wucht entfaltet. Und zwar bleibt in dem Bilde von Fausts gewaltsamer Vereinzelung in diesen schaurigen Eingangsszenen des fünften Aktes die Ausweitung des Organismusbegriffes, die in Matthäus 12, 25 einsetzt und in 1 Korinther 12 zum Abschluß kommt, als unsichtbarer, geistiger Bezugspunkt in voller Kraft — denn um eine Ergänzung, eine Ausweitung der in Matthäus bereits angelegten Ausrichtung des scheinbar autonomen Einzelorganis-

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mus auf eine liebende Körperschaft, in der er erst wahrhaft lebensfähig wird, handelt es sich ja bei Paulus. Goethe führt uns nun ein verkehrtes Spiegelbild vor Augen: den autonomen Einzelnen, der sein Milieu — das Meer, dem der Wanderer und die Alten so verehrungsvoll entgegentraten, sowie das Anwesen des alten Paars — als feindlich empfindet und sich von ihm nach Kräften abzuschließen trachtet. Auf einen letzten Abschluß von der Außenwelt läuft ja jedes Detail dieses Bildes hinaus, selbst wo sich diese Grundintention zeitweilig in Expansionsgelüsten kundtut: die geometrische Abzirklung von Fausts Reich, der Palast in der Mitte, die zentripetale Bewegung von allem einwärts, auf diese Mitte zu — all dies deutet auf eine letzte, und angestrengte, Zusammenziehung vitaler Kräfte. Auf Abkapselung weisen die mannigfachen und gewalttätigen Anstalten hin, die sich wie Notmaßnahmen bei einer drohenden Belagerung ausnehmen, und — auf innere Starre. Alles hat sich da „zum Starren gewaffnet", selbst die „starren Masten" der mit Beute aufgetürmten Kähne, die „im Begriffe" sind, „auf dem Kanale hier zu sein": welch pedantische Fügung des sonst so lyrisch-beschwingten Lynkeus! Und schließlich — und dies ist das Bedeutsamste — Fausts krampfhafte Abkapselung von dem Meer, demselben Meer, das sein Schöpfer soeben noch als Wiege alles Lebendigen besungen hatte. Was bedeutet Fausts Kampf gegen das Meer? Ich habe diese Frage an anderem Orte zu beantworten versucht. 32 Hier fällt ins Auge, daß der bejahrteste der drei Gewaltigen, Haltefest, ursprünglich an Fausts Verteidigungsmanövern aktiven Anteil haben sollte. Und zwar ging es in der vorgesehenen Unterhaltung keineswegs um die Gewinnung von Neuland, sondern um die Ausschließung des Meers, oder, genauer gesagt, um Fausts Festhalten an dem, was Faustens ist. Die einschlägige Stelle lautet: Wir halten fest recht weit in's Meer hinaus. 33 Offenbar erschien Goethe dieser unverhohlene Bezug Haltefests auf seinen Namen und seine Funktion zu „allegorisch". So verwarf er die Verse. Dies ist vielleicht schade. Denn wie in einem Brennglas erscheint in ihnen, gleichsam in einen Leuchtpunkt zusammengezogen, die eigentliche Bedeutung von Fausts heroisch=hinfälligen Anstalten. Erhalten will sich dieser Hundertjährige — Haltefest sollte noch älter als sein Gebieter sein —, festhalten will er an dem, was er hat, er will „die Elemente, die sich 32 33

In: Goethe and Lessing. Tbe Wellsprings of Creation, (a. a. O.), Kapitel 11. Paralipomenon 197, WA, I, 152, S. 244.

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hassen" (Z. 11628) (und in diesem Entzweiten hassen sie sich schon jetzt, bevor sein Körper entseelt daliegt) zum Teil mit seinen Dämmen, seinen Buhnen ausschließen, und zum andern Teil unter sein starres Joch zwingen. Was ist das Bild dieses mit sich und der Welt veruneinten großen Einzelnen, der auf sich „bestehen" will und sich hinter Bollwerken verschanzt, die, wie der Teufel weiß, alle dahinbröckeln werden, was ist es, wenn nicht das Bild einer alternden und dem letzten Verfall ausgesetzten Monade, die sich verzweifelt gegen endgültige Entgliederung zur Wehr setzt und ihr dennoch preisgegeben ist? In dem bereits gestreiften Gespräch mit Falk spricht Goethe von einer „Hauptmonas", welche niedere Monaden ihrem eigenen Lebensverband einverleibt. Diese gehorchen, „weil sie eben gehorchen müssen, nicht aber, daß es ihnen besonders zum Vergnügen gereichte." Diese Diener beschreibt der Dichter bezeichnenderweise als — Hände. „Der Moment des Todes", fahrt Goethe fort, „der darum auch sehr gut eine Auflösung heißt, ist eben der, wo die regierende Hauptmonas alle ihre bisherigen Untergebenen ihres treuen Dienstes entläßt." 332 Nun, „treu" sind die ausübenden „Hände", die Faust seinem Dienst verpflichtet hat, gerade nicht; auch entläßt sie der „mit klammernden Organen" am Leben Hängende nicht aus freien Stücken; und eben diese Abweichung rückt das Ungoethesche von Goethes Faust in das schärfste Licht. Goethes eigene Anschauung von Lebens- und Sterbeprozessen war im letzten organisch, so sehr ihm auch der Gedanke an den eigenen Tod zu schaffen machte — wie sollte es anders sein? 34 Der Faust des vierten und fünften Aktes ist mit der Natur in sich und um sich herum zutiefst uneins. Hadert er, weil er altert, oder altert er, weil er in sich zerfallen ist? Ich wage diese Frage nicht zu beantworten. Sicher ist, daß er so, wie er ist — selbstbezogen, liebeleer, „wüst" — nicht „bestehen kann". Nach einem unverbrüchlichen Naturgesetz wird alles das, was diese mächtige Monade „angerafft" hat, von einer noch mächtigeren, oder jüngeren und kräftigeren Monade, oder aber einer Elementargewalt verschlungen werden. 331 34

Siehe Fußnote 21, S. 674 f. Siehe die Maxime: „Wenn ich an meinen Tod denke, darf ich, kann ich nicht denken, welche Organisation zerstört wird" {HA, 12, S. 514, No 1057); ebenfalls die erschreckendste Stelle in dem Brief an Zelter vom 23. November 1831; WA, IV, 49, S. 147: „Übrigens begreifst du, daß ich ein testamentarisches und codicillarisches Leben führe, damit der Körper des Besitzthums, der mich umgibt, nicht allzuschnell in die niederträchtigsten Elemente, nach Art des Individuums selbst, sich eiligst auflöse." Als Gesamtkommentar zu Fausts kolonisatorischer Tätigkeit im fünften Akt kann diese Aussage nicht übertroffen werden.

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Raub des Geraubten:35 dieses Thema durchzieht Goethes Faust leitmotivartig. Habebald und Eilebeute verlangen — und „raffen" (Z. 10810) — was immer von dem erbeuteten Thronschatz sie unter die Finger kriegen können, als ihr „Beuteteil" (Z. 10820). Der Erzbischof fordert einen stetig wachsenden Anteil von des Kaisers „Beuteschatz" (Z. 11028). Mit seinem Kolonialreich hat Faust dem „Wasserteufel" einen „großen Schmaus" bereitet (Z. 11546 f.). Auf Fausts „Habe" — seinen angerafften Reichtum, ja, seinen Körper — warten bereits die Lemuren und die anderen „Gläubiger" — ein Thema, das Shakespeare in Hamlet, V, 1 in beträchtlicher Breite behandelt (und zwar nicht nur in dem von den Lemuren übernommenen Lied des ersten Clowns, wie es gewöhnlich in ^»^/-Kommentaren dargestellt wird). Teufel und Höllenrachen drohen, Fausts Seele hinwegzuschnappen, und Mephisto sieht sich um Haaresbreite um seine „Beute" betrogen (Z. 11827). „Eilebeute" mit ihrer löcherigen Schürze, die Kirche mit ihrem „guten Magen" (Z. 2836), das Meer, die Dantesken Höllenrachen: so verschiedene Lebensbereiche diese auch auf der Oberfläche darstellen mögen, unterschwellig sind sie alle durch das häßliche Bildgeflecht des allverschlingenden — und verdauenden — Schlundes miteinander verknüpft. Raub des Geraubten überall — oder doch fast; denn auf einer „Beute" anderer Art wird noch zurückzukommen sein. Aus solchen Perspektiven heraus läßt sich die oft gerügte Auslassung der Belehnungsszene anders erklären, als bislang geschehen ist. Hat der Dichter wirklich nicht den Atem gehabt, das auszuführen, worauf das Handlungsgefüge des vierten Aktes mit all seinem kriegerischen Trara abzielte? Sollte es ihm entgangen sein, daß mit dieser Lücke eben die Fuge fehlte, die er für seinen bereits zu Papier gebrachten fünften Akt benötigte?36 Ich denke, nein. Die Motivik vom Raub des Geraubten war bereits in einer Fülle eindringlicher Bildreihen sinnfällig geworden. Aus symbolischer Sicht war das Schicksal des noch „breit" im Meere liegenden Küstenstrichs bereits im voraus besiegelt. Was war da noch zu sagen? Die Nicht-Darstellung von Fausts Besitzzuwachs war die eindrücklichste Kennzeichnung von dessen radikaler Hinfälligkeit. Die Aussagekraft dieses

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Zu dieser Thematik siehe die glanzvollen Ausführungen von M. Kommerell, denen allerdings die ergänzende Einbeziehung von Bergschluchten und Himmel abgeht (in: Geist und Buchstabe der Dichtung, fünfte Auflage, Frankfurt am Main, 1962, S. 91 ff.); dazu E. Staigers abschätzigen Kommentar (in: Goethe III, a. a. O., S. 427). Hierzu siehe Staiger, (in Goethe III, a.a.O., S. 417).

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Schweigens ist enorm. Sie bezeugt eine geniale Ökonomie seitens des greisen Dichters. Goethe war dieses Elementargesetzes der Natur ein ganzes Leben lang gewahr gewesen, und das Wissen darum konnte auf ihm wie ein Alpdruck lasten. Von Werther an, ja, schon vorher, in Die schönen Künste von Sulzer, 37 stand das Bild der Natur als „ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer" (Werther, I, 18. August) vor seinem geistigen Auge. 38 Im Gespräch mit Falk betont er zwar ausdrücklich, an eine Vernichtung sei „gar nicht zu denken; aber von irgend einer mächtigen und dabei gemeinen Monas unterwegs angehalten und ihr untergeordnet zu werden, diese Gefahr hat allerdings etwas Bedenkliches, und die Furcht davor wüßte ich auf dem Wege einer bloßen Naturbetrachtung meinesteils nicht ganz zu beseitigen." 382 Dieses lebenslängliche Trauma von dem Elementarreich als einer dämonisch entstaltenden Macht klingt, ins Versöhnliche abgewandelt, in der Rückkehr der Choretiden zu niederen Naturformen am Ende des Helena-Aktes nach. Seine grandioseste Gestaltung aber sollte es in Fausts erbittertem Kampf gegen das Meer finden. Als kreatürliches Wesen mußte Faust diesen Kampf verlieren, denn als solcher ist er notgedrungen hinfallig und liebesarm; diese Niederlage jedoch war nicht des Dichters letztes Wort über seinen Weggenossen. Wo die „bloße Naturbetrachtung" die Waffen strecken mußte, erschlossen sich dem Forscher andere Ausblicke, und zwar schon verhältnismäßig früh. Er sah in dem Element, in welchem Gestalten sich bilden, eine gütige, dieser Tendenz entgegenkommende Macht. „Das Tier wird durch Umstände zu Umständen gebildet" 39 der Fisch „in dem Wasser und durch das Wasser" 40 , der Adler, „durch die Luft zur Luft", 41 „das Auge am Lichte fürs Licht": 42 eine Denkform, die zeitlebens für ihn verbindlich blieb und, ins Sittliche übersetzt, seinem Spätwerk, den Wanderjahren, einen ganz eigenen Stempel aufdrücken sollte. 43 Ja, er hegte die — das HA, 12, S. 18. Dazu siehe die Ausführungen von Emrich (a. a. O., S. 373 ff). 38a Siehe Fußnote 21, S. 115. 39 Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie, AGA, 17, S. 239. 40 Versuch einer allgemeinen Vergleichungslehre, AGA, 17, S. 229. 41 Erster Entwurf siehe Anm. 39, a. a. O., S. 240. 42 Entwurf einer Farbenlehre, Einleitung, HA, 13, S. 323. 43 Siehe I. Graham, Goethe, Portrait of the Artist {a. a. O.), Kapitel 8, wo ich der Einwirkung der Umwelt auf die Bildung eines „Organs", und der Eingliederung solcher als „Organe" 37

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Schreckbild von der Natur als verschlingendem Schlund eigenartig überblendende — Vorstellung einer Hierarchie der Lebensbereiche, deren jeden er als das nährende Element des nächsthöheren ansah, gleichsam ein milieu extérieur, welches vollkommenere Naturformen sich aneignen und zu ihrem milieu intérieur verarbeiten. 44 4. Solche naturphilosophischen Betrachtungen mochten tröstlich sein; aber sie waren nur Vorboten einer letztlichen Beruhigung in dem Glauben an ein Stufenreich der Liebe, wie er in Eins und Alles, Höheres und Höchstes und, am unmißverständlichsten, in dem Ende von Faust seinen Niederschlag gefunden hat. Hier, in Bergschluchten und Himmel, vollzieht sich etwas von Grund auf anderes als selbst die Bewahrung des Einzelnen im Typ, und die Bewahrung der niederen Gattung als milieu intérieur einer höheren. Hier wird die Bewahrung des Einzelnen als Einzelnem in einem übergreifenden Organismus der Liebe „Ereignis". Denn das milieu divin, in welches Faust hineinwächst, ist ein Organismus im strengen Verstände des Wortes; wie der Weinstock, von welchem Johannes spricht, wie der mystische Leib, dem nach Paulus die Gläubigen eingegliedert sind. Der Organismusbegriff, der dem Korintherbrief zugrundeliegt, ist, wie wir sahen, dem Goetheschen eng verwandt. Dort fanden wir die — Goethesche — Vorstellung von dem Organismus als „einem Vielen", einem Kollektivverband; die von der Wechselseitigkeit der Glieder untereinander und zwischen diesen und dem Geist, sowie die Vorstellung von „Lebendigkeit bis ins Kleinste" — wie hätte Paulus sonst von „Gliedern" sprechen können, anstatt von „Teilen"? All diese Merkmale — Goethes Merkmale sowohl wie Paulus' — treffen auf den „Allverein" von Bergschluchten zu. Dies ist leicht ersichtlich und braucht nicht in jeder Einzelheit dargelegt zu werden. Ein Beispiel möge genügen. In diesem Verband von „Kollektivwesen" nimmt nicht nur ein „Glied" ein anderes, schwächeres, in seine Obhut: ein Organ eines solchen konstituierenden „Gliedes" — d. h. das „Welt- und erdgemäß Organ" der Augen des Pater Seraphicus (Z. 11906 f.) — nimmt die halb erschlossenen Seligen Knaben in sich hinein, nicht verschlingend, wie Faust es tut, als er sich des Anwesens der Alten bemächtigt, um sich selbst

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erfaßten Einzelwesen in einen umfassenden gesellschaftlichen Verband in beiden Teilen von Wilhelm Meister nachgegangen bin. Diese kommt besonders stark in Versuch einer allgemeinen Vergleichmgslehre (AGA, 17, S. 229 f.) zum Ausdruck.

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einen „Luginsland" zu errichten, sondern hegend, um den MitternachtsGebornen eben den „Luginsland" in die Welt zu ersetzen, welchen ihnen das Leben schuldig geblieben ist. Diese Stelle bezeugt gleichermaßen die Lebendigkeit und Selbständigkeit der Teile „bis ins Kleinste" und die Überschwenglichkeit ihres Füreinander, also eben dessen, was der Morphologe die Wechselseitigkeit der Glieder zu nennen pflegt. Nur in einem Stück hatte sich Paulus von Goethe unterschieden: und das war in seiner Umkehrung des Prinzips der Subordination. Das Erstaunliche ist nun, daß Goethe, in diesem milieu divin, sein eigenes, morphologisch fundiertes Prinzip der Subordination, genau wie Paulus vor ihm, auf den Kopf gestellt hat. Wie dieser hat er „dem dürftigen Glied am meisten Ehre gegeben" (24); „denn die uns wohl anstehen, die bedürfen's nicht" (24). Die Seligen Knaben, die Büßerinnen und, im besonderen, Una Poenitentium, sonst Gretchen genannt, „die Glieder des Leibes, die uns dünken die schwächsten zu sein, sind die nötigsten": denn sie, die MitternachtsGebornen, die Strauchelnden, die Gefallene, leisten Fürbitte für die „starke Geisteskraft" die, noch verhaftet an die Elemente, die sie „an sich herangerafft", in diesem Milieu nicht recht reinlich erscheint und in bescheidenem Schweigen von den Neugeborenen in die Lehre genommen wird. Ist es aber, genau besehen, so erstaunlich, daß sich Goethe in diesem entscheidenden Stücke Paulus angeschlossen hat? Ist denn der Organismus, dem „das edle Glied" einverleibt wird, nicht eben der, von welchem Paulus in einem Gleichnis spricht, dessen zentrale Bedeutung für Gehalt sowie Gestalt der drei letzten Akte von Faust II nach dem hier Gesagten kaum noch ernsthaft angezweifelt werden kann? Ist Christus, den ursprünglichen Plänen Goethes entgegen, nach denen er selbst in Himmel erscheinen sollte, 45 wirklich nicht „da", wie die Forschung fast einstimmig behauptet?46 Dies ist die Frage, auf die Goethes gezielte Verwendung der Organismus-Metapher — und zwar in engstem Anschluß an die einschlägigen Bibelstellen — hinweist. Diese Frage gilt es jetzt so sorgsam wie möglich zu beantworten. Fangen wir von unten an. Daß es sich für Goethe in Bergschluchten in der Tat um die Gemeinschaft der Heiligen handelt, wird

45 46

Paralipomenon 195, WA, I, 15 2 , S. 243. So, am autoritivsten, Emrich (a.a.O.), S.419, von dessen Position ich mich hier und im folgenden scheiden muß, aufgrund weitgehend morphologischer Erwägungen, die meines Wissens zur Erhellung der Endszene von Faust II noch nicht von der Forschung herangezogen worden sind. Siehe aber auch die umsichtigen Erwägungen von E. Trunz (Hrsg.), HA, 3, S. 364 f.

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aus einem gänzlich unabhängigen, kunstgeschichtlichen, Zusammenhang deutlich. In Kunst und Altertum am Rhein und Main betrachtet Goethe das Christentum in bezug auf seine Ergiebigkeit für die bildenden Künste. Er beschreibt die Trinität als „ein wundersames Kleeblatt" „wo umher ein seliges Geisterchor* in unzähligen Abstufungen sich versammelte." 47 Können wir daran zweifeln, daß Goethe in jener Stelle die Gemeinschaft der Heiligen beschreibt? Und daran, daß wir es in diesem „edlen Geister^or", in dieser „seligen Schar", die Bergschluchten und Himmel durchschweben, mit eben dieser Gemeinschaft zu tun haben, in einem Stufenreich, das sich von der tiefen Region des Pater Profundus bis zu Mater Gloriosa „im Sternenkranz" erstreckt?* Wir tasten uns weiter vor. In der ersten Studier^immerszene. — sie wird oft nicht recht ernst genommen — hatte Faust den verkappten Teufel mit folgender Beschwörungsformel vermocht, sich zu erkennen zu geben: Verworfnes Wesen! Kannst du ihn lesen? Den nie Entsproßnen, Unausgesprochnen, Durch alle Himmel Gegoßnen, Freventlich Durchstochnen? (Z. 1304—9) Das Blut und Wasser aber, welches aus der Seite des Durchstochnen „herausging" (Joh. 19, 34), hat seine Vor- und Nachgeschichte, im Evangelium sowie im Faust. Es ist vorbedeutet in dem „Brunnen des Wassers..., das in das ewige Leben quillt", von welchem Jesus dem Weib aus Samaria spricht; und an dieses Geschehen erinnert Mulier Samaritana hier. Es ist symbolisch bewahrt im Sakrament der Taufe; und auch daran gemahnen die Worte der Büßerin. Über solche Ausstrahlungen hinaus aber „ist" es die Gemeinschaft der Gläubigen; es konstituiert ihre „Körperschaft" {1, Kor. 10, 16). Und so auch hier, in Bergschluchten und Himmel. Der „durch alle Himmel Gegoßne" ist „da", er ist unmittelbar gegenwärtig, und wirksam, in der „Sorna" des „Tätig ihn Preisenden, Liebe Beweisenden, Brüderlich Speisenden" „Allvereins". In diesem, zu einem Geiste „getränkten" (/ Kor., 12, 13) Leibe ist er ausgegossen. Dieser allbelebende Kraftquell aber, und sein Ursprung in der „durch alle Himmel Gegoßnen" Seite eines Einzelnen, der nicht einzeln blieb — wie denn auch niemand hier,

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HA, 12, S. 145.

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in Bergschluchten, einzeln bleibt — werden in eins verknüpft in der inständigen, auf jene frühe Beschwörungsformel zurückgreifende Fürbitte der Mulier Samaritana Bei der reinen, reichen Quelle, Die nun dorther sich ergießet, Überflüssig, ewig helle Rings durch alle Welten* fließet - (Z. 12049-52) „Quelle" ist das Wort des Lebens in diesem Drama — in jedem erdenklichen Zusammenhang, intellektuell, geistig, erotisch, sexuell: und für niemanden mehr als Faust. 48 Schon eingangs hatte vor seinen gierigen Augen und Lippen „der heil'ge Bronnen" geschwebt, „Woraus ein Trunk den Durst auf ewig stillt" (Z. 566 f.). Sollte der greise Dichter sich dieses Wortes nicht erinnert haben, als er Mulier Samaritana in der Feierlichkeit des Endes auf eben solchen „Bronn" ausdrücklich hinweisen läßt? Was sagt doch Jesus zu dem Weib aus Samaria? „...wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird ewiglich nicht dürsten" (Joh. 4, 14). Ist hier nicht ein kompositorisches Prinzip am Werke? Ist dieser alltränkende Bronn nicht „Ereignis" geworden in der selig-gestillten Schar, die, in „Gottes Gegenwart verstärkt" (Z. 11921), „Den Äther schlürfend" (Z. 12018), sich von „der Geister Nahrung" (Z. 11922) speist, die ausdrücklich als „Ewigen Liebens Offenbarung" (Z. 11924) gefeiert wird? In einem fraglos auf das letzte Ende bezüglichen Paralipomenon lesen wir: In der allerreinsten Quelle Der bestaubte Wandrer sich. 49 Um diesen Vers hat sich Goethe sehr bemüht. Ich zitiere die syntaktisch fragmentarischste Version, die zeigt, wieviel ihm an dem „¿//¿rreinsten" lag, um dessentwillen er auf das Verb verzichtet. Zeichnet sich hier nicht eine Linie ab, die von dem „staub-fressenden" „Wurm" und Wanderer des Anfangs zu dem Gereinigten, in einer einzigartigen Quelle Neugetauften führen sollte? Ist der „Unausgesprochne" nicht doch ein Teil des Unbeschreiblichen, das hier „getan" ist? 50 Wie ist es möglich, den kühn gewölb48

49 50

Für eine eingehende Erläuterung dieses Bildgeflechts und seiner Funktion siehe I. Graham, Goethe and Lessing. The Wellsprings of Creation (a. a. O.), Kapitel 11. Paralipomenon N° 209. Über die in der Gestalt der Jungfrau Maria verkörperte weibliche Komponente des Göttlichen, welche am Ende des Dramas zweifellos an die erste Stelle rückt, siehe Kapitel 15.

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ten Bogen zu übersehen, der sich von dem Augenblick des Eintritts Mephistos in das Leben eines einsam Durstenden bis zu dessen Eingliederung in den unsichtbar-sichtbaren Leib des „geheimnisvollen Sohnes" 51 spannt? In diesem allumfassenden Organismus der Liebe gesundet nun „das edle", aber auch anmaßliche „Glied der Geisterwelt" (Z. 11934 f.). Faust wird gereinigt von den Elementen, die er „an sich herangerafft" (Z. 11960); aber nur, um, aller irdischen Habe „entrafft" (Z. 12089),52 in erster Jugendkraft hervorzutreten. Hier endlich, in diesem milieu divin, wird jenes Elementargesetz transzendiert, kraft dessen Wachstum Raub an fremdem Leben meint, eine Beute, die ihrerseits wieder einem machtvolleren Leben zum Opfer fallt. Auch die Engel sind auf Beute aus, aber nicht wie „Eile» Beute" und Habebald, Mephisto und jener andere Teufel, der Kirchenfürst. Wenn die Engel jauchzend „diesen Seelenschatz erbeuten" (Z. 11946), so frohlocken sie für und mit Faust, nicht über und gegen ihn. In dem überschwenglichen Füreinander dieses organischen Verbandes ist jedes Nehmen ein Geben, meint jeder Raub einen Zuwachs an Nahrung, Liebe und Leben. Hier, in der totalen Entgrenzung des Endes — und erst aus dieser Sicht wird es augenfällig, eine wie gigantische Kontraktion Fausts brutales Umsichgreifen in der ersten Hälfte des Aktes eigentlich darstellt53 —, hier lernt der große Einzelne nicht nur, was Selbstlosigkeit und Lieben ist: hier wird ihm — und dies ist das beglückende Paradox dieses Endes — das mit Zinsen zurückerstattet, was an seiner Monade „unverwüstlich" ist, ein Kern von tätiger Liebe; und somit wird sein dem milieu divin anverwandeltes Selbst zu immer vollerer Entfaltung freigelegt. Denn dieses Selbst wächst; es „überwächst" die Zarteren — „die Schwächsten" hätte 51 52

HA, 12, S. 145. Die ganze Thematik von „Raub" und „Raffen" einerseits und „Entraffen" und „Entäußerung" andererseits geht fraglos auf Paulus' Brief an die Philipper, 2, 6—8, zurück. Das griechische Wort für „Raub" ist das onomatopoetisch ausdrucksvolle „harpax", welches genau „raffen" oder „reißen" meint.Daß Goethe diese Stelle kannte, ist mit Sicherheit anzunehmen: Luther verweist auf sie nach dem von Goethe zitierten Vers des Psalmes

110. 53

Hier finde ich mich in entschiedenem Widerspruch zu E. Spranger, der Faust „die Dichtung des aufs äußerste fortgesetztgen Expansion" nennt, im Gegensatz zu Wilhelm Meister, der „Geschichte der fruchtbaren Selbstkonzentration" (in: Goethes Weltanschauung, Insel-Verlag (undatiert), Leipzig, S. 38). Faust ist beides, Kontraktion und Expansion, Verselbstung und Entselbstigung, Systole und Diastole, wie ich dies in den beiden dem /"¿»¿/-Drama gewidmeten Kapiteln meiner Bücher (siehe Anm. 32 und 43) konsequent darzulegen versucht habe.

Von Gliedern und vom Ganzen

135

Paulus gesagt — „an mächtigen Gliedern" (Z. 12076 f.), ohne aber an ihrem Leben zu zehren. Wie könnte es auch? Sind sie doch alle die Glieder eines Leibes. Selbst in der streng demokratischen Verfassung der Gemeinschaft der Heiligen also findet Goethes „unverwüstliche", durch und durch aristokratische Uberzeugung von einer Rangordnung der Monaden mit wunderbarer Mühelosigkeit ihren Platz. Über das Gewagte dieser Synthese — oder sagen wir besser: Vermittlung — zwischen zwei geistigen Welten, deren jede für ihn gewichtiger war, als oft gemeint wird, dürfte er sich im klaren gewesen sein. 54 Dies kommt in einem Paralipomenon zum Ausdruck, welches zweifellos auf den verhältnismäßigen Wertrang des hochstrebenden Faust und der am meisten der „Gnade bedürfenden" (Z. 12019), aber auch „nötigsten" Glieder des Allvereins gemünzt war: Zart schwebend aufnehmend Das oberste zu unterst kehrend lesen wir daselbst. 55 Ursprünglich sollte die zweite Zeile folgendermaßen lauten: Das unterste zu oberst kehrend... Diese direkte Bezugnahme auf die mephistophelische Verkehrung aller Werte aber hätte denn doch die „starke Geisteskraft" — und eigentlich auch die Betriebsamkeit der ursprünglich „am wenigsten ehrbaren" Glieder — in ein allzu fragwürdiges Licht gestellt. In der zweiten Fassung bekommt der anmaßliche Geist einen wohlverdienten Nasenstüber von den „bedürftigen" Gliedern, die faktisch den energischsten Anteil an seiner Rettung nehmen; und mit dieser leichten Ironie wäre der Dichter einer zweischneidigen sittlichen Situation, der gegenüber er sich selbst in einer „zarten Schwebe" befinden mochte, zweifellos gerecht geworden. Er strich dann aber die Stelle um des großen Einzelgängers willen, der ihm denn doch am Herzen lag. Und warum sollte er sich den kleinen Luxus solcher Parteilichkeit nicht gönnen? Wußte er seinen großen Einzelnen nicht sicher „aufgehoben" in der vollendeten Gestalt des Organismus, dem er ihn einverleibt hatte? So sicher, wie das Gleichnis Matthäus' in Paulus' allumfassendem Gleichnis 54

55

Das auf das Ende bezügliche, von Eckermann berichtete Gespräch dürfte dieser, wie so oft, in Hinblick auf die Erwartungen zeitgenössischer Leser retouschiert haben (6. Juni 1831). Paralipomenon N° 207.

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aufgehoben ist, in welchem — wie in dem abschließenden Chorus Mysticus — sprachliches Symbol Ereignis wird? Ist nicht die, ihre Grenzen sp rengen* wollende, ...Kraft der edlern Geschöpfe ...im heiligen Kreise lebendiger Bildung beschlossen...,56 hier wie überall in dem Stufenreich des organisch Gestalteten? Gewiß: Faust ist für seinen Schöpfer ein eminent „edles Glied"; aber dann doch „ein edles Glied", „Vom edlen Geisterchor umgeben". Die Durchsicht der in Goethes Bibliothek befindlichen, von ihm benutzten und mit Merkzetteln versehenen Luther-Bibel (Nummer 2604 in Ruppert), hat folgenden überraschenden Tatbestand ergeben. Zwischen Seiten 200 und 201 liegt ein, nicht von Goethes Hand stammender, Zettel mit der Aufschrift „Eph. 2,2". Diese Stelle wird auch von Ruppert zitiert. Auf denselben Seiten jedoch findet sich Paulus' erneute Formulierung (Eph. 1, 23) von der Gemeinde der Heiligen als dem Leib Christi, mit ausdrücklichem Hinweis auf Römer 12, 5, also auf eine der zwei grundlegenden Stellen, auf die ich mein Argument gegründet habe; ferner Eph. 1,22, eine Stelle, die sich nicht nur auf Psalm 8,7 bezieht, sondern auf das engste an Psalm 110, 1 anschließt. Ein weiterer Zettel zwischen Seiten 200 und 201 bezieht sich nach Ruppert auf Eph. 6, 12, eine von Goethe selbst nach Z. 10094 zitierte Stelle. Weitaus wesentlicher jedoch erscheint mir Eph. 4, 4 — 16 auf denselben Seiten. Hier wiederholt Paulus in aller Breite die in Römer 12, 4—6 und I, Korinther 12, 3 — 31 formulierte Lehre von den Gläubigen als den verschiedenen Gliedern eines Leibes, dessen Haupt Christus ist. Die Formulierung in Eph. 4, 16 dürfte die differenzierteste aller einschlägigen Paulinischen Prägungen sein. Ein Netzwerk biblischer Hinweise führt von dieser Schlüsselstelle zu und von Römer 12 und I, Korinther 12. Diese von Ruppert obenhin interpretierten Zettel, welche vermutlich Goethes letzter Arbeitsperiode entstammen, besonders der zweite, bekräftigen die hier verfochtene These auf das Schönste.

56

Metamorphose

der Tiere, V. 25 f.

Wetterleuchten am Gartentisch Goethes Gespräch mit Johannes Daniel Falk vom 14. (?) Juni 1809 „Wer das hört und nicht an Gott glaubt, dem helfen nicht Moses und die Propheten." Goethe zu Eckermann „Betrachten Sie mir ja fleißig diese Übergänge, worauf am Ende alles in der Natur ankommt." Goethe zu Falk

1. „Man denke sich die Natur, wie sie gleichsam vor einem Spieltische steht und unaufhörlich au double! ruft, das heißt mit dem bereits Gewonnenen durch alle Reiche ihres Wirkens glücklich, ja bis ins Unendliche wieder fortspielt. Stein, Tier, Pflanze, alles wird nach einigen solchen Glückswürfen beständig von neuem wieder aufgesetzt, und wer weiß, ob nicht auch der ganze Mensch wieder nur ein Wurf nach einem höhern Ziele ist?" 1 Diese Sätze entstammen einem Gespräch Goethes mit Falk, der offenbar die Gabe hatte, den Dichter zu kosmischen Betrachtungen anzuregen. Man sagt ihm indes nach, seine Berichte seien nicht recht verläßlich. 2 Auf diesen Seiten möchte ich der Frage nachspüren, ob hinter dem krönenden Aperçu dieses Gesprächs, das ich soeben zitiert habe, konkretere Bezüge stecken, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Dabei wird es rätlich sein, die Qualität von Falks Berichterstattung im Auge zu behalten. Stehen oder fallen doch alle Interpretationsversuche dieses Berichts aus zweiter Hand mit der Authentizität des Textes, in dem sie gründen. Dieser lautet wie folgt: 1 Ein andermal, es war im Sommer 1809, wo ich Goethe 2 nachmittags besuchte, fand ich ihn bei milder Witterung wie3 der in seinem Garten sitzend. Kaaz, der Landschaftsmaler, 1

2

Gespräche, Biedermann II, S. 37ff., [1185], AGA, 22, S. 554ff., N° 890, [hier nach AGA zitiert.] So A. Schöne in , „Regenbogen auf schwarzgrauem Grunde". Goethes Dornburger Brief an Zelter zum Tod seines Großherzogs' in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins, Band 81/ 82/83 - 1977/1978/1979, S. 33. Siehe auch AGA 23, Register, Eintragung zu Falk, S. 938.

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4 den Goethe ausnehmend schätzte, war soeben da gewesen. 5 Er saß vor einem kleinen Gartentische; vor ihm auf demsel6 ben stand ein langgehalstes Zuckerglas, worin sich eine kleine 7 lebendige Schlange munter bewegte, die er mit einem Feder8 kiele fütterte und täglich Betrachtungen über sie anstellte. Er be9 hauptete, daß sie ihn bereits kenne und mit dem Kopfe nä10 her zum Rande des Glases komme, sobald sie seiner ansichn tig werde. Die herrlich verständigen Augen! fuhr er fort. Mit 12 diesem Kopfe ist freilich manches unterwegs, aber, weil es 13 das unbeholfene Ringeln des Körpers nun einmal nicht zu14 läßt, wenig genug angekommen. Hände und Füße ist die Na15 tur diesem länglich ineinandergeschobenen Organismus schul16 dig geblieben, wiewohl dieser Kopf und diese Augen beides 17 wohl verdient hätten; wie sie denn überhaupt manches schul18 dig bleibt, was sie für den Augenblick fallen läßt, aber später19 hin doch wieder unter günstigen Umständen aufnimmt. Das 20 Skelett von manchem Seetiere zeigt uns deutlich, daß sie schon 21 damals, als sie dasselbe verfaßte, mit dem Gedanken einer 22 höhern Gattung von Landtieren umging. Gar oft muß sie in 23 einem hinderlichen Elemente sich mit einem Fischschwanze 24 abfinden, wo sie gern ein paar Hinterfüße in den Kauf gege25 ben hätte; ja, wo man sogar die Ansätze dazu bereits im Ske26 lett bemerkt hat. 27 Neben dem Glase mit der Schlange lagen einige Kokons 28 von eingesponnenen Raupen, deren Durchbruch Goethe näch29 stens erwartete. Es zeigte sich in ihnen eine der Hand fühl30 bare, besondere Regsamkeit. Goethe nahm sie vom Tische, 31 betrachtete sie noch einmal scharf und aufmerksam und sagte 32 sodann zu seinem Knaben: Trage sie herein; heute kommen 33 sie schwerlich! Die Tageszeit ist zu weit vorgerückt! Es war 34 nachmittag um vier Uhr. In diesen Augenblicken kam auch 35 Frau von Goethe in den Garten hereingetreten. Goethe nahm 36 dem Knaben die Kokons aus der Hand und legte sie wieder 37 auf den Tisch. Wie herrlich der Feigenbaum in Blüten und 38 Laub steht! rief Frau von Goethe uns schon von weitem zu, 39 indem sie durch den Mittelgang des Gartens auf uns zukam. 40 Nachdem sie mich darauf begrüßt und meinen Gegengruß 41 empfangen hatte, fragte sie mich gleich, ob ich auch wohl 42 den schönen Feigenbaum schon in der Nähe gesehen und be-

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43 wundert hätte. Wir wollen ja nicht vergessen, so richtete sie 44 in dem nämlichen Augenblicke an Goethe selber das Wort, 45 ihn diesen Winter einlegen zu lassen! Goethe lächelte und 46 sagte zu mir: Lassen Sie sich ja, und das auf der Stelle, den 47 Feigenbaum zeigen, sonst haben wir den ganzen Abend keine 48 Ruhe. Er ist aber auch wirklich sehenswert, und verdient, daß 49 man ihn prächtig hält und mit aller Vorsicht behandelt. Wie so heißt doch die ausländische Pflanze, fing Frau von Goethe 51 wieder an, die uns neulich ein Mann von Jena herüber52 brachte? Etwa die große Nieswurz? Recht! Sie kommt eben53 falls trefflich fort. Das freut mich! Am Ende können wir noch 54 ein zweites Anticyra hiesiges Ortes anlegen! — Da seh ich, 55 liegen auch die Kokons. Haben Sie noch nichts bemerkt? — 56 Ich hatte sie für dich zurückgelegt. Ich bitt' euch, indem er 57 sie aufs neue in die Hand nahm und an sein Ohr hielt, wie das 58 klopft, wie das hüpft und ins Leben hinaus will! Wundervoll 59 möcht' ich sie nennen, diese Übergänge der Natur, wenn nicht 60 das Wunderbare in der Natur eben das Allgewöhnliche wäre. 61 Übrigens wollen wir auch unserm Freunde hier das Schau62 spiel nicht vorenthalten. Morgen oder übermorgen kann es 63 sein, daß der Vogel da ist, und zwar ein so schöner und an64 mutiger, wie ihr wohl selten gesehen habt. Ich kenne die 65 Raupe und bescheide euch morgen nachmittag um dieselbe 66 Stunde in den Garten hierher, wenn ihr etwas sehen wollt, 67 was noch merkwürdiger ist als das Allermerkwürdigste, was 68 Kotzebue in seinem merkwürdigsten Lebensjahre auf seiner 69 weiten Reise bis Tobolsk irgend gesehen hat. Indes laßt uns 70 die Schachtel hier, worin sich unsere noch unbekannte, schöne 71 Sylphide befindet und sich aufs prächtigste zu morgen an72 legt, in irgend ein sonniges Fenster des Gartenhauses stellen! 73 So! Hier stehst du, gutes, artiges Kind! Niemand wird dich 74 in diesem Winkel daran hindern, deine Toilette fertig zu ma75 chen! Aber wie möchte ich nur, hub Frau von Goethe wie76 der aufs neue an, indem sie einen Seitenblick auf die Schlange 77 richtete, ein so garstiges Ding um mich leiden, wie dieses, oder 78 es gar mit eignen Händen groß füttern? Es ist ein so unange79 nehmes Tier. Mir graut jedesmal, wenn ich es nur ansehe. 80 Schweig du! gab ihr Goethe zur Anwort, wiewohl er von 81 Natur ruhig, diese muntere Lebendigkeit nicht ungern in sei-

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82 ner Umgebung hatte. Ja! indem er das Gespräch zu mir her83 übertrug, wenn die Schlange ihr nur den Gefallen erzeigte, 84 sich einzuspinnen und ein schöner Sommervogel zu werden, 85 da würde von dem greulichen Wesen gleich nicht weiter die 86 Rede sein. Aber, liebes Kind, wir können nicht alle Sommer87 vögel und nicht alle mit Blüten und Früchten geschmückte 88 Feigenbäume sein. Arme Schlange! Sie vernachlässigen dich! 89 Sie sollten sich deiner besser annehmen! Wie sie mich an90 sieht! Wie sie den Kopf emporstreckt! Ist es nicht als ob sie 91 merkte, daß ich Gutes von ihr mit euch spreche! Armes 92 Ding! Wie das drinnen steckt und nicht heraus kann, so gern 93 es auch wollte! Ich meine zwiefach: Einmal im Zuckerglas 94 und sodann in dem Hautfutteral, das ihr die Natur gab. Als 95 er dies gesagt, fing er an, seinen Reißstift und das Zeichen96 papier, worauf er bisher einzelne Striche zu einer phantati97 sehen Landschaft zusammengezogen hatte, ohne sich dadurch 98 beim Sprechen im geringsten irre machen zu lassen, eben99 falls beiseite zu legen. Der Bediente brachte Wasser, und in100 dem er sich die Hände wusch, sagte er: Um noch einmal auf 101 Maler Kaaz zurückzukommen, dem Sie bei Ihrem Eintritte 102 begegnet haben müssen, so ist er mir eine recht angenehme, 103 ja liebliche Erscheinung. Er macht es hier in Weimar gerade 104 so, wie er es in der Villa Borghese machte. So oft ich ihn 105 sehe, ist es mir, als ob er ein Stück von dem seligen far niente 106 des römischen Kunsthimmels in meine Gesellschaft mit107 brächte! Ich will mir doch noch, weil er da ist, ein kleines los Stammbuch aus meinen Zeichnungen anordnen. Wir sprei09chen überhaupt viel zu viel. Wir sollten weniger sprechen 110 und mehr zeichnen. Ich meinerseits möchte mir das Reden in ganz abgewöhnen und wie die bildende Natur in lauter Zeichmnungen fortsprechen. Jener Feigenbaum, diese kleine Schlange, 113 der Kokon, der dort vor dem Fenster liegt und seine Zürn kunft ruhig erwartet, alles das sind inhaltschwere Signatu115 ren; ja, wer nur ihre Bedeutung recht zu entziffern vermöchte, 116 der würde alles Geschriebenen und alles Gesprochenen bald 117 zu entbehren imstande sein! Je mehr ich darüber nachdenke, 118 es ist etwas so Unnützes, so Müßiges, ich möchte fast sagen 119 Geckenhaftes im Reden, daß man vor dem stillen Ernste der 120 Natur und ihrem Schweigen erschrickt, sobald man sich ihr

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121 vor einer einsamen Felsenwand oder in der Einöde eines alten 122 Berges gesammelt entgegenstellt! 123 Ich habe hier eine Menge Blumen und Pflanzengewächse, 124 indem er auf seine phantastische Zeichnung wies, wunder125 lieh genug auf dem Papier zusammengebracht. Diese Ge!26spenster könnten noch toller, noch phantastischer sein, so ist 127 es doch die Frage, ob sie nicht auch irgendwo so vorhanden 128 sind. 129 Die Seele musiziert, indem sie zeichnet, ein Stück von ihrem 130 innersten Wesen heraus, und eigentlich sind es die höchsten 131 Geheimnisse der Schöpfung, die, was ihre Grundanlagen be132 trifft, gänzlich auf Zeichnen und Plastik beruht, welche sie 133 dadurch ausplaudert. Die Kombinationen in diesem Felde 134 sind so unendlich, daß selbst der Humor darin eine Stelle 135 gefunden hat. Ich will nur die Schmarotzerpflanzen nehmen; 136 wie viel Phantastisches, Possenhaftes, Vogelmäßiges ist nicht 137 allein in den flüchtigen Schriftzügen derselben enthalten! Wie 138 Schmetterlinge setzt sich ihr fliegender Same an diesen oder 139 jenen Baum an und zehrt an ihm, bis das Gewächs groß wird. 140 So in die Rinde eingesäet, eingewachsen finden wir den so141 genannten viscus, woraus Vogelleim bereitet wird, zunächst 142 als Gesträuch am Birnbaum. Hier, nicht zufrieden damit, daß 143 er sich als Gast um denselben herumschlingt, muß ihm der 144 Birnbaum sogar sein Holz machen. 145 Das Moos auf den Bäumen, das auch nur parasitisch da146 sitzt, gehört ebendahin. Ich besitze sehr schöne Präparate 147 über die Geschlechter, die nichts für sich in der Natur über148 nehmen, sondern sich in allen Stücken nur auf bereits Vori49handenes einlassen. Ich will sie Ihnen bei Gelegenheit vor150 zeigen. Sie mögen mich daran erinnern. Das Würzhafte ge151 wisser Stauden, die auch zu den Parasiten gehören, läßt sich 152 aus der Steigerung der Säfte recht gut erklären, da dieselben 153 nicht nach dem gewöhlichen Laufe der Natur mit einem 154 roh irdischen, sondern mit einem bereits gebildeten Stoffe 155 ihren ersten Anfang machen. 156 Kein Apfel wächst mitten am Stamme, wo alles rauh und 157 holzig ist. Es gehört schon eine lange Reihe von Jahren und 158 die sorgsamste Vorbereitung dazu, so ein Apfelgewächs in 159 einen tragbaren, weinichten Baum zu verwandeln, der aller-

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160 erst Blüten und sodann auch Früchte hervortreibt. Jeder Ap161 fei ist eine kugelförmige, kompakte Masse und fordert als 162 solche beides, eine große Konzentration und auch zugleich 163 eine außerordentliche Veredelung und Verfeinerung der Säfte, 164 die ihm von allen Seiten zufließen. Man denke sich die Na165 tur, wie sie gleichsam vor einem Spieltische steht und unauf!66hörlich au double! ruft, das heißt mit dem bereits Gewoni67nenen durch alle Reiche ihres Wirkens glücklich, ja bis ins 168 Unendliche wieder fortspielt. Stein, Tier, Pflanze, alles wird 169 nach einigen solchen Glückswürfen beständig von neuem 170 wieder aufgesetzt, und wer weiß, ob nicht auch der ganze 171 Mensch wieder nur ein Wurf nach einem höhern Ziele ist? 172 Während dieser angenehmen Unterhaltung war der Abend 173 herbeigekommen, und weil es im Garten zu kühl wurde, gin174 gen wir herauf in die Wohnzimmer. Späterhin standen wir 175 an einem Fenster. Der Himmel war mit Sternen besät. Die 176 durch die freiere Gartenumgebung angeklungenen Saiten in 177 Goethes Seele zitterten noch immer fort und konnten auch 178 zu Abend nicht aus ihren Schwingungen kommen. Es ist 179 alles so ungeheuer, sagte er zu mir, daß an kein Aufhören 180 von irgend einer Seite zu denken ist. Oder meinen Sie nur, 181 daß selbst die Sonne, die doch alles verschafft, schon mit der 182 Schöpfung ihres eigenen Planetensystems völlig zu Rande 183 wäre, und daß sonach die Erden und Monde bildende Kraft 184 in ihr entweder ausgegangen sei, oder doch untätig und völ185 lig nutzlos daliege? Ich glaube dies keineswegs. Mir ist es 186 sogar höchst wahrscheinlich, daß hinter Merkur, der an sich 187 schon klein genug ausgefallen ist, einst noch ein kleinerer 188 Stern als dieser zum Vorschein kommen wird. Man sieht frei189 lieh schon aus der Stellung der Planeten, daß die Projektions190 kraft der Sonne merklich abnimmt, weil die größten Massen 191 im Systeme auch die größte Entfernung einnehmen. Eben 192 auf diesem Wege aber kann es, fortgeschlossen, dahin kom193 men, daß wegen Schwächung der Projektionskraft irgend 194 ein versuchter Planetenwurf irgend einmal verunglückte. 195 Kann die Sonne sodann den jungen Planeten nicht wie die 196 vorigen gehörig von sich absondern und ausstoßen, so wird 197 sich vielleicht, wie beim Saturn, ein Ring um sie legen, der 198 uns armen Erdenbewohnern, weil er aus irdischen Bestand-

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199 teilen zusammengesetzt ist, ein böses Spiel machen dürfte. 200 Und nicht nur für uns, sondern auch für alle übrigen Plane201 ten unseres Systems würde die Schattennähe eines solchen 202 Ringes wenig Erfreuliches bewirken. Die milden Einflüsse 203 von Licht und Wärme müßten natürlich dadurch verringert 204 werden, und alle Organisationen, deren Entwicklung ihr Werk 205 ist, die einen mehr, die andern weniger sich dadurch gehemmt 206 fühlen. 207 Nach dieser Betrachtung könnten die Sonnenflecke aller208dings einige Unruhe für die Zukunft erwecken. So viel ist 209 gewiß, daß wenigstens in dem ganzen uns bekannt gewor210 denen Bildungshergang und Gesetz unseres Planeten nichts 211 enthalten ist, was der Formation eines Sonnenringes entge212 genstände, wiewohl sich freilich für eine solche Entwicklung 213 keine Zeit angeben läßt. Diese Unterhaltung fand an einem lauen Frühsommernachmittag im Garten von Goethes Haus am Frauenplan statt, wahrscheinlich am 14. Juni des Jahres 1809. Wie wir hören, war gerade bei Falks Eintritt der Landschaftsmaler Karl Ludwig Kaaz fortgegangen, den Goethe bereits von seinem ersten römischen Aufenthalt vor mehr als zwanzig Jahren gut kannte, und wie Falk berichtet, ausnehmend schätzte (Z. 4 und Z. 102 f.). Diese Angabe wird durch einen Blick in Goethes Tagebücher bestätigt, nach denen gerade in diesen Frühsommertagen Kaaz so gut wie täglich bei Goethes aus- und einging. 3 Wir dürfen uns also den Dichter in angeregter Laune vorstellen, voll von Reminiszenzen an jene glücklichsten Tage seines Lebens, während der er der festen Überzeugung war, er sei dazu bestimmt, als Zeichner oder Bildhauer der Natur auf die Spur ihres Schöpfergeheimnisses zu kommen. Erachtete er doch den wahrhaft schöpferischen Künstler und dessen Kunst als eine „zweite" oder „andere Natur"; eine Formulierung, die sich gerade zur Zeit der ersten italienischen Reise auffallend häuft. Unsere Mutmaßung über Goethes Rückbesinnung bestätigt sich, einmal durch seine bewegte Erinnerung an das „selige... far niente des römischen Kunsthimmels" (Z. 105 f.), sodann durch den von eben dieser Erinnerung ausgelösten Entschluß, Kaaz zu Ehren ein kleines Stammbuch aus seinen

3

Dagegen ist Falks Besuch weder in Goethes Briefen noch in seinen Tagebüchern verzeichnet.

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Zeichnungen anzulegen (Z. 107 f.); schließlich aber, und hauptsächlich, durch die darauf folgenden tiefschürfenden Besinnungen über die Würde und Funktion der bildenden Künste, in schroffstem Gegensatz zu seinem eigenen künstlerischen Medium: der Sprache (Z. 108 — 122). Falk findet Goethe „wieder in seinem Garten sitzend" (Z. 2 f.); sodann gibt er uns ein anschaulicheres Bild: „Er saß vor einem kleinen Gartentische" (Z. 5), lesen wir. Auf diesem Tisch stehen oder liegen die Dinge, die alsbald zwei der insgesamt drei Hauptakteure der sich anspinnenden Szene werden: auf ihm steht in einem Zuckerglas eine lebendige kleine Schlange, die Goethe täglich beobachtet und füttert; daneben liegen einige Raupenkokons. Offensichtlich hängt der Meister wieder einem seiner Lieblingsthemen nach, der Metamorphose der Tiere und insbesondere der radikalen Metamorphose der Insekten. Birgt doch die Chrysalide den künftigen Schmetterling. Bei Falks Eintritt wendet sich das Gespräch dem Nächstliegenden zu, eben der kleinen Schlange, die Goethe behutsam mit einem Federkiel zu füttern im Begriff ist. In geradezu zärtlichen Tönen beschreibt der ganz auf sein augenblickliches Geschäft konzentrierte Gastgeber das muntere Tierchen und dessen sonderbares Verhältnis zu ihm. „Er behauptete, daß sie ihn bereits kenne und mit dem Kopfe näher zum Rande des Glases komme, sobald sie seiner ansichtig werde. Die herrlich verständigen Augen! fuhr er fort" (Z. 8 — 11). Auch der Kopf zeige Anzeichen einer höheren Bestimmung, konstatiert er, und erklärt seinem Besucher, nicht ohne lebhaftes Mitgefühl, warum die Schlange bei der Verheißung solcher Augen und eines solchen Kopfes die in ihr angelegten Möglichkeiten auch nicht annähernd zu realisieren imstande sei. Ihr ungeschlachter Körper koste sie die Hände und Füße, die dieser Kopf und diese Augen wohl verdient hätten; ein treffendes Beispiel des Wirkens der Natur, die manches Mißlungene fallen ließe und erst in einem späteren Anlauf wieder gutmache [Z. 1 6 - 1 9 ] , Wieviel ernste naturwissenschaftliche Einsichten hier in ansprechender Form auf kleinstem Raum zusammengedrängt sind, sei mit wenigen Federzügen angedeutet. Beginnen wir mit der von Mutter Natur benachteiligten Schlange. Die arme Kreatur steht in einem groben Mißverhältnis zu sich selbst. Hände und Füße hätten diese verständigen Augen, dieser ausdrucksvolle Kopf verdient, in anderen Worten, artikulierte Organe, die der Intelligenz und dem Adel ihres Hauptes entsprochen und dessen Potential voll realisiert hätten. Bei der Schlange aber steht jener „länglich ineinandergeschobene

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Organismus" (Z. 15), eben ihr unbeholfen geringelter Körper, jedem Ebenmaß der Bildung im Wege. Was da „unterwegs" ist, „kommt" nicht „an". Denn diesem aus gleichförmigen Ringen zusammengesetzten Körper mangelt es an jeder Gliederung der Teile. Vorne wie hinten, oben wie unten, ist er nichts als Darm. „Gleichgültig" nennt der Morphologe Goethe eine derart amorphe Masse; und fraglos schließt dieser deskriptive Terminus ein Werturteil in sich. Ein solcher Organismus ist belanglos. Die Natur ist mit ihm nicht von der Stelle gekommen, sie ist sozusagen nicht zum vollen Sprechen gelangt. Und dies ist alles, meint man, was über diese Kreatur zu sagen ist. Es ist aber keineswegs alles, und zwar in doppelter Hinsicht nicht. Einmal ist dem Gastgeber Falks die Schlange — diese besondere Schlange zumindest, die da auf seinem Tische steht und von ihm gefüttert wird — offenbar alles andere als gleichgültig. Ihre Mißgestalt wird ihn binnen weniger Minuten zu einem regelrechten Zornesausbruch verleiten, erst über den Abscheu seiner Frau gegen das garstige Geschöpf, sodann über die Ungerechtigkeit der Natur, die die Schlange so benachteiligt hat. Und hier liegt der zweite Grund, warum wir die unglückliche Kreatur nicht ohne weiteres als „gleichgültig" verabschieden dürfen. Von einer anderen Warte aus gesehen ist sie nämlich ein hochinteressanter Fall. In ihr verkörpert sich eine unverbrüchliche Gesetzlichkeit der Natur, die diese von jeder Willkür in der Behandlung des Wurmes freispricht. Die Natur kann gar nicht anders, als dem überlangen Geschöpf Hände und Füße zu entziehen. Denn, wie jede gute Haushälterin hat sie für ein jedes Bedürfnis — und in ihrem Falle heißt das, für die Aktualisierung eines jeden Typus' — ein gewisses, streng begrenztes Budget zu ihrer Verfügung, das sie nicht nach einer Seite hin überschreiten darf, ohne auf der anderen eine entsprechende Summe abzuziehen. 4 So können die Unkosten des übermäßig in die Länge gezogenen Schlangenkörpers nur um den Preis differenzierterer Organe, als da sind Hände und Füße, bestritten werden. Vom ökonomischen Standpunkt der Natur selbst ist eine solche Ausbalancierung des Gesamtetats voll gerechtfertigt; aus dem menschlichen Blickwinkel gesehen geht freilich die Gleichung nicht ganz so glatt auf. Offenbar ist da für den Sprecher noch eine andere Instanz, und an dieser

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Für dieses vielfach artikulierte Denkmodell von Goethes naturwissenschaftlichem Forschen, siehe z. B. AGA, 17, S. 237 und besonders S. 429.

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gemessen ist die Natur selbst im Unrecht. 5 Denn hier wird das Höhere dem Niederen aufgeopfert. Dieser Kopf, diese „herrlich verständigen Augen" sind an einen grotesken Körper gekettet, und im Nu erscheint die ganze Kreatur als lachhaft und verächtlich. Noch haben wir den Gehalt dieser wenigen Zeilen nicht voll ausgelotet. Denn von einer derartigen Regel „des Gebens und Entziehens", 6 wie Goethe sie nennt, stößt er abschließend zu einer noch höheren, wenn auch eher spekulativ ins Auge gefaßten Tendenz der Natur vor. Nochmals sinnt er dem Fall seiner unverdient benachteiligten Schlange nach und folgert verallgemeinernd: „...wie sie [d. h. die Natur] denn überhaupt manches schuldig bleibt, was sie für den Augenblick fallen läßt, aber späterhin doch wieder unter günstigen Umständen aufnimmt" (Z. 17 — 19). Für die Entwicklung unseres Gespräches ist dieser Ausblick entscheidend. Denn sind jene Glückswürfe der Natur, die in dem höheren Menschen gipfeln, nicht gerade solche Wiederaufnahmen von nur zum Teil gelungenen Kapiteln ihrer Tätigkeit? 2.

Unmittelbar nach dieser Eröffnung betritt der zweite Protagonist der nachmittäglichen Unterhaltung die Szene, und zwar ganz der Logik von Goethes Gedankengang gemäß. Ist doch die Schmetterlingslarve ein eminentes Beispiel eben jener Selbstkorrektur der großen Mutter, die in ihrem zweiten Wurf dem vollkommeneren Wurm das gutschreibt, was sie in dem ersten der Schlange schuldig blieb. Auf dem Tische lagen, so hören wir nun, „neben dem Glase mit der Schlange ... einige Kokons von eingesponnenen Raupen, deren Durchbruch Goethe nächstens erwartete" (Z. 2 7 - 2 9 ) . Daß diese von Falk gewissenhaft beobachtete Chronologie der Ereignisse Goethes eigenem Gewahrsein einer Steigerung entspricht, liegt nahe. Sind nicht auch die Raupen Würmer, wie die Schlange ein Wurm ist? Gewiß. Aber jene sind von diesen durch das getrennt, was Goethe einmal 5

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Max Kommerell hat das bleibende Verdienst, das wissenschaftliche Denkmodell von der haushälterischen Natur in die Literaturkritik eingeführt und dort, insbesondere für die Diskussion um Fausts Schuld, fruchtbar gemacht zu haben. An seiner durchgängig ökonomischen Auslegung dieses Begriffes kann und soll nicht gerüttelt werden. Aber es ist bedauerlich, daß ihm in der Hitze des Gefechts der im Letzten sittliche Ausblick auf die „Gleichgültigkeit" der Natur bei der Verteilung ihrer Güter entgangen ist. In Fragmente %ur vergleichenden Anatomie, AGA, 17, S. 429.

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in einem glänzenden Aperçu als „eine große bedeutende Stufe der Natur" 7 beschrieb. „Nicht gleichgültig" seien die Raupen, schreibt er kategorisch. 8 Denn in ihnen hat von Anfang an eine sukzessive Absonderung der Hauptsysteme und Funktionen statt, „so daß keins an die Stelle des andern treten kann." 9 Ja, wir dürfen sagen, nur weil die Natur in ihrem zweiten Wurf eine solche Verwandlungsfahigkeit angelegt hat, ist die radikale Umartung der ungestalten Raupe in den vollendeten Schmetterling überhaupt denkbar. Denn dieser zeichnet sich gegenüber der rudimentären Larve eben durch die Entschiedenheit seiner Teile aus, durch „die Sicherheit, daß keiner für den andern gesetzt, noch genommen werden kann, jeder vielmehr zu seiner Funktion bestimmt und bei derselben auf immer festgehalten bleibt", wie der Morphologe es definiert. 10 Wir erwarten nun, über diese epochemachenden Geschöpfe weiteres zu hören. Indes, nur gleichsam im Fluge macht Goethe uns mit seinem zweiten Protagonisten bekannt. „Es zeigte sich in ihnen eine der Hand fühlbare, besondere Regsamkeit" (Z. 29 — 30), schreibt Falk, dem offenbar einer der Kokons zu halten gegeben wurde; und nach dieser spärlichen Andeutung verschwinden sie wieder von der Bildfläche, einmal, weil — wie Goethe nach aufmerksamer Prüfung feststellt — die Zeit des Durchbruchs noch nicht gekommen ist, zum andern, weil Frau von Goethe soeben etwas lärmend die Szene betritt. Bei ihrem Anblick legt Goethe die Kokons, die er bereits wegzuräumen befohlen hatte, stillschweigend auf den Tisch zurück. Offenbar lauert er auf eine Gelegenheit, sich über das, was ihn erregt, näher auszulassen. Vorerst ist das aber nicht möglich. Denn mit seiner stürmischen Gattin betritt der dritte Protagonist die Szene. Es ist der schöne Feigenbaum, von dem sie sehnlich wünscht, Falk möge ihn bewundern. Goethe sieht der Unruhe kein Ende und konzediert, nachsichtig lächelnd, Falk solle ihn nur ja gleich ansehen; denn er sei wirklich sehenswert „und verdient, daß man ihn prächtig hält und mit aller Vorsicht behandelt" (Z. 48 — 49). Hier also ist ein Geschöpf, das, ungleich der Schlange, die Hände und Füße „verdient" hätte, aber nicht bekommen hat, von der Natur mit allem Wünschenswerten ausgestattet worden ist. Was dies ist, wird uns vorerst noch nicht mitgeteilt. 7 8 9

10

In Fragmente ?ur Botanik, AGA, 17, S. 196. In Fragmente %ur vergleichenden Anatomie, AGA, 17, S. 432. In Vorträge über die drei ersten Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie. AGA, 17, S. 283. Ebenda, S. 285 f.

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Da, endlich, kommt die erwünschte Frage nach den Kokons, die er um ihretwillen wieder auf den Tisch zurückgelegt hat; und nun platzt die Schale seiner eigenen Ungeduld. „Ich bitt' euch", ruft er, „indem er sie aufs neue in die Hand nahm und an sein Ohr hielt, wie das klopft, wie das hüpft und ins Leben hinaus will!" (Z. 56 — 58) Das, was sich da dem Gefühl und Ohr erschließt, was dem Blick verborgen bleibt, berührt diesen Tastbegabten mit der Offenbarungsgewalt eines Wunders. Eines Wunders indes, das er, ganz im Gefolge der Aufklärung und Lessings in seinem Nathan,11 als ein solches anzusprechen zögert, eben weil es so natürlich, so „allgewöhnlich" ist (Z. 60). Nicht, daß es darum das kleinere Wunder wäre. Ganz im Gegenteil. Das Wunder aller Wunder ist es ja gerade, daß die Natur so übervoll von Wundern ist. „Wundervoll möcht' ich sie nennen", ruft Goethe begeistert aus, „diese Übergänge der Natur, wenn nicht das Wunderbare in der Natur eben das Allgewöhnliche wäre" (Z. 5 8 - 6 0 ) . „Diese Übergänge der Natur": Dies ist ein gewichtiges Wort und, genau besehen, auch ein merkwürdiges. Einmal, weil Goethe einen von außen betrachtet todesähnlichen Zustand resolut als Übergang bezeichnet, und das heißt doch wohl, als eine zukunftsträchtige Phase. Und merkwürdig zum andern, weil der zu erwartende Schmetterling von diesem Punkte an stets als „Vogel" oder auch „Sommervogel" angesprochen wird. Von einer rein philologischen Warte aus gesehen, ist dieser Ausdruck nicht allzu verwunderlich. Ist doch der Schmetterling der Seelenvogel der griechischen Antike. Überdies ist das Wort „Sommervogel" in der deutschen Sprache bereits seit dem fünfzehnten Jahrhundert eingebürgert. 12 Dennoch fällt die Benennung auf. Sie scheint eher einer Verschmelzung analoger Vorstellungskreise als dem Wunsch nach stilistischer Beweglichkeit zu entspringen. Denn wie der Schmetterling im Verhältnis zur Schlange „eine große bedeutende Stufe der Natur" und also eigentlich einen „Übergang" markiert, sind die Vögel ihrerseits „ganz späte Erzeugnisse der Natur", also wiederum „Übergänge". 13 Offenbar hängt Goethe dem Phänomen der Steigerung nach, von dem ja der Falter sowie der Vogel beredte 11

12 13

Siehe Nathan der Weise, I., 2: Sieh! eine Stirn, so oder so gewölbt;/ Den Rücken einer Nase, so vielmehr/ Als so geführet; Augenbraunen, die/ Auf einem scharfen oder stumpfen Knochen/ So oder so sich schlängeln; eine Linie,/ Ein Bug, ein Winkel, eine Falt', ein Mal,/ Ein Nichts, auf eines wilden Europäers/ Gesicht: — und du entkommst dem Feu'r in Asien!/ Das wär' kein Wunder, wundersücht'ges Volk?/ Warum bemüht ihr denn noch einen Engel? Siehe Fischer, Goethe-WortschatS. 580. Fragmente %ur vergleichenden Anatomie, AGA, 17, S. 434.

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Exempel sind. Warum aber das Schwanken zwischen dem einen Ausdruck und dem anderen? Goethe lädt nunmehr Falk ein, anderntags um dieselbe Stunde dem erwarteten Durchbruch des vollendeten Insektes beizuwohnen. Nicht genug könne sich sein Gast von diesem Schauspiel versprechen. Denn der Augenzeuge eines solchen Überganges der Natur zu sein, ist — so verkündet er — „noch merkwürdiger... [ ] als das Allermerkwürdigste, was Kotzebue in seinem merkwürdigsten Lebensjahre auf seiner weiten Reise bis Tobolsk irgend gesehen hat" (Z. 67 — 69). Die Hyperbolik dieser Verheißung — sie ist offenbar ganz bewußt gehandhabt — bedarf keines Kommentars. Der scharfe Kontrast zu Goethes sonstiger Verhaltenheit spricht für sich selbst. Indes, ist es Falk, der so spricht? Ist es Goethe selbst? Angesichts der unmittelbar vorhergehenden Äußerungen über das Wunderbare sowie Goethes anhaltender Betroffenheit über das Phänomen des Schmetterlings meine ich, Falk habe hier situations- und wortgetreu berichtet. Wir stehen vis a vis Goethes eigner Bewegtheit. Nun folgt eine Wendung ins Persönliche, die nur der Intimität seiner Anrede an die Schlange bislang und im kommenden vergleichbar ist. „Indes laßt uns die Schachtel hier, worin sich unsere noch unbekannte, schöne Sylphide befindet und sich aufs prächtigste zu morgen anlegt, in irgend ein sonniges Fenster des Gartenhauses stellen! So! Hier stehst du, gutes, artiges Kind. Niemand wird dich in diesem Winkel daran hindern, deine Toilette fertig zu machen!" (Z. 69 — 75). Was in aller Welt hat Goethe im Sinn, wenn er eine eingesponnene Raupe als weiblichen Luftgeist anspricht, im Begriff, seine „Toilette" „anzulegen"? Die Metapher des Feststaats eines noch unbekannten, weil im Verborgenen lebenden Wesens ruft unverzüglich Assoziationen aus Goethes Dichtung hervor. „Ubergänge der Natur" wie der, welcher sich hier zu vollziehen im Begriff ist, werden in seinen Dichtungen immer mit einer gewissen Feierlichkeit begangen, die sich hauptsächlich gestisch äußert; dabei gebührt die erste Stelle dem Anlegen festlicher Gewänder. Kurz vor ihrem Tode besteht Mignon darauf, ein langes weißes Frauenkleid und ein Paar mächtige Engelsflügel zu tragen, in denen sie dann auch begraben wird. Der Anfang von Eugenies Ende ist der kriegerische Anzug, den sie sich aus einer verschlossenen Truhe holt, um aus dem Verborgenen hervorzutreten (II, 5). „Aus allem Dunkel" tritt die Hochgestalt Pandoras voll geschmückt vor das geistige Auge der Brüder — Erst verborgen, offenbar zu werden, Offenbar um wieder sich zu bergen (letzte Szene); V. 1051 f.

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Die dahinschwindende Ottilie bereitet sich aus den Kostbarkeiten in Eduards Köfferchen ein — wie Nanny es nennt — „Brautkleid" vor, das bei ihrem Abscheiden über mehrere Stühle völlig ausgebreitet liegt {Die Wahlverwandtschaften II, 18). Die gleichsam neuerstandenen Nachbarskinder bedecken ihre Blöße „von innen heraus" mit den Hochzeitskleidern ihrer Retter (II, 10). Euphorion erscheint bei seiner Wiederkunft aus der Felsenkluft, in der er zeitweilig menschlichen Blicken entrückt war, in seltsame Gewänder gehüllt (Faust II, III, V. 9618 f.), so wie ja auch der frisch erstandene Faust sein hänfnes Totenhemd für neue, „ätherische Gewände" auswechseln wird (Faust II, V, Himmel). In all diesen Gestalten signalisiert das Anlegen festlicher Gewänder jene „Übergänge der Natur", um die sich das Gespräch mit Falk dreht —: den Übergang vom Leben zum scheinbaren Stillstand des Todes, von diesem wiederum zu verwandeltem Leben, vom Offenen ins Verborgene und vom Verborgenen ins Offene; und hinter ihnen allen steht das, was sich hier in der Muschel von Goethes Hand regt —: das Sinnbild des Schmetterlings. In solche inhaltschweren dichterischen Zusammenhänge wollen die so offenkundig anthropomorphisierenden Worte über „unsere noch unbekannte, schöne Sylphide" gerückt werden, die da in einem stillen Winkel auf den kommenden Tag ihre Toilette fertig macht. Hier, im hellen Licht des Tages, begegnet Goethe, wenn auch kaum zum erstenmal in seinem Leben, jenem geheimnisvollen „Stirb und werde", das die Matrize aller seiner früheren und späteren dichterischen Ausformungen ist. Wieder, inmitten seines Preislieds auf die noch unbekannte Schöne, wird Goethe von einem Ausbruch seiner temperamentvollen Gattin gegen das „garstige Ding" unterbrochen, das er da auf seinem Tisch mit eigenen Händen großfüttert. „Schweig du!" donnert Goethe voll Zorn; und wendet sich nach einer doppelten Strafpredigt ob des unfairen Vergleichs zwischen unvollkommenen und höher entwickelten Geschöpfen mit leidenschaftlicher Empathie ganz seiner armen, vernachlässigten Schlange zu; er schlägt sich ganz auf ihre Seite, so groß ist seine Identifizierung mit dieser Kreatur. Ja! wenn sie eine radikale Metamorphose durchmachte und als schöner Schmetterling davonflöge, dann würde seine Frau sie mit anderen Augen betrachten. „Aber, liebes Kind, wir können nicht alle Sommervögel und nicht alle mit Blüten und Früchten geschmückte Feigenbäume sein" (Z. 86 — 88). Goethe hält es mit dem Unvollkommenen, dem ganz Gewöhnlichen. Emphatisch und nicht ohne Bitterkeit schließt das „Wir" ihn selbst in seine Aussage ein; warum, wird sogleich zur Sprache kommen.

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Mittlerweile aber haben wir gelernt, was es mit dem schönen Feigenbaum auf sich hat. Dieser ist nicht nur vollkommen, weil er schön ist. Er ist vollkommen, weil der ficus zu den Pflanzengattungen gehört, die, wie der Orangenbaum, Blüten und Früchte in Einem zeitigen; nur daß in seinem Fall die Blüte in der Fruchtkapsel verborgen liegt. Wir beginnen Goethes Gereiztheit über den Feigenbaum zu verstehen. Denn, genau besehen, ist ja dieses Phänomen der Natur ein Symbol des Symbols; noch genauer gesagt, ein Symbol der Seh- und Schaffensweise, die dem Künstler eignet. Wie im Feigenbaum Blüte und Frucht simultan erscheinen, das heißt, in Eins zusammengezogen sind, so ist das Symbol „ein im geistigen Spiegel zusammengezogenes Bild" 14 Indes, der Einbruch des Zeitlosen in die Zeitlichkeit ist ein verwirrendes Erlebnis, wo immer es statthat, und die Seelenverfassung des Künstlers, der, im Symbol, „den Anfang und das Ende sich in eins zusammenziehn" und „Schneller als die Gegenstände" Selber sich vorüberfliehn 15 läßt, ist im höchsten Grade prekär. Wie verwirrend und prekär, wird leicht aus der Formulierung ersichtlich, das Symbol sei „die Sache, ohne die Sache zu sein, und doch die Sache" 16 . So befindet sich der Dichter, indem er Gegenwärtiges und Vergangnes ineinander verschlingt, gleichsam auf einer Gratwanderung, auf der ihn rauh aufzuschrecken verderblich ist. Und genau das hat Frau Goethe bewerkstelligt, mit ihrem lärmenden Eintritt auf die Szene und ihrem verständnislosen Ausbruch gegen Goethes Schlange. Aufgescheucht hat sie ihn aus seinem nachtwandlerischen Tun; denn, wie wir jetzt erfahren, hat er sich die ganze Zeit des Gespräches über unentwegt als bildender Künstler betätigt. Auf einem Stück Zeichenpapier hat er „einzelne Striche zu einer phantastischen Landschaft zusammengezogen [ ], ohne sich dadurch beim Sprechen im geringsten irre machen zu lassen"(Z. 96 — 98); und was er da zu Papier gebracht hat und ein wenig später mit Worten nachvollziehen wird, ist nichts Geringeres als „diese Ubergänge der Natur", die er seinem Gast so angelegentlich ans Herz gelegt hatte. Nichts könnte den berühmten Passus aus Goethes Autobiographie besser illustrieren als die Schilderung, die Falk uns hier von dem abrupten Stimmungswechsel des Dichters hinterlassen hat. Dies sind die Worte, die ich im Sinn habe: „Ein Gefühl aber, das bei mir gewaltig überhand nahm, und sich nicht wundersam genug äußern konnte, war die Empfindung 14 15 16

Kunstgegenstände, AGA, 13, S. 868. Dauer im Wechsel, HA, I, S. 247 f. Kunstgegenstände (Anmerkung 14).

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der Vergangenheit und Gegenwart in Eins: eine Anschauung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart brachte. Sie ist in vielen meiner größern und kleinern Arbeiten ausgedrückt, und wirkt im Gedicht immer wohltätig, ob sie gleich im Augenblick, wo sie sich unmittelbar am Leben und im Leben selbst ausdrückte, jedermann seltsam, unerklärlich, vielleicht unerfreulich scheinen mußte" 17 . Das leise Gefühl der Verfremdung, das soeben noch in künstlerischem Tun absorbiert wurde und sich in dem „Übergänglichen" seiner Zeichnung wohltätig auswirkte — wobei zu beachten ist, daß Goethe die gezeichneten Gegenstände „Gespenster" nennt —, tritt nunmehr in jenem plötzlichen Einbruch der Zeit nackt zutage und entlädt sich als Zorn über die vollkommenen Dinge, die soeben noch bei seiner Arbeit Pate gestanden hatten — über den Feigenbaum und die Chrysalide. In halsstarrigem Mißmut kehrt sich der aus allen Himmeln selbstvergessenen Schaffens Gefallene von diesen Zeugen seiner einstigen Stimmigkeit ab und wendet sich seiner benachteiligten Schlange zu, die ihn versteht, die er allein versteht: „Armes Ding! Wie das drinnen steckt und nicht herauskann, so gern es auch wollte! Ich meine zwiefach: Einmal im Zuckerglas und sodann in dem Hautfutteral, das ihr die Natur gab" (Z. 91—94). Und mit diesen Worten legt Goethe seinen Reißstift sowie seine Zeichnung „ebenfalls" beiseite. 3. Es folgt eine passionierte Rede gegen das Reden. Nie treffe es ins Herz einer Natur, die schweigend bilde. „Wir sprechen überhaupt viel zu viel", konstatiert Goethe. „Wir sollten weniger sprechen und mehr zeichnen. Ich meinerseits" — statuiert der Dichterfürst — „möchte mir das Reden ganz abgewöhnen und wie die bildende Natur in lauter Zeichnungen fortsprechen" (Z. 108 — 112). Zeichnungen, wie er sie im Sinne hegt, sind offenbar plastische Gebilde der Natur, wie „Jener Feigenbaum, diese kleine Schlange, der Kokon, der dort vor dem Fenster liegt und seine Zukunft ruhig erwartet" (Z. 112 — 114). „Inhaltschwere Signaturen" nennt er sie und meint, daß, „wer nur ihre Bedeutung recht zu entziffern vermöchte, der würde alles Geschriebenen und alles Gesprochenen bald zu entbehren imstande sein!" (Z. 114-117). Der hier spricht, ist der Goethe von gestern, heute und morgen, der sich nicht vergebens danach sehnte, ein bildender Künstler zu sein — dies 17

Dichtung und Wahrheit, III, 14, HA, 10, S. 32 ff.

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ist doch wohl eine Vereinfachung des wahren Tatbestandes! — nein, der es war, indem er den nebelhaften Zeichen der Sprache Wesenhaftigkeit, Dichte und Textur abgewann, als wären sie aus Marmor oder Jaspis. Keine „airy nothings" 18 wollte er hinsäuseln. Um Schwere ging es ihm, die in der Hand wiegt und dem unbefiederten Gedanken Körper und Flügel verleiht. Und um Dichte und Gewicht geht es ja auch hier, wenn er das „Geckenhafte" des Redens „dem stillen Ernste der Natur und ihrem Schweigen" vergleicht, wie sie dem Gesammelten vor „einer einsamen Felsenwand oder in der Einöde eines alten Berges" gegenübertritt (Z. 119-122). Zu seiner phantastischen Zeichnung greifend, spricht Goethe dann auch mit dem Selbstbewußtsein eines Künstlers, der sich, in welchem Medium auch immer, eins fühlt mit der bildenden Natur. Weggeblasen ist der Schatten, der seinen Blick verdunkelte, als er eben diese Zeichnung beiseite gelegt hatte. Vielerlei habe er wunderlich genug auf dem Papiere „zusammengebracht" — eine wohlweisliche Variante Falks im übrigen, denn gerade auf das „zusammen" kommt es Goethe an! Aber, so fügt er hinzu: „Diese Gespenster könnten noch toller, noch phantastischer sein, so ist es doch die Frage, ob sie nicht auch irgendwo so vorhanden sind" (Z. 125 — 128).

Hinter dieser anscheinend so harmlosen Frage steckt eine tüchtige Portion Selbstvertrauen. Hier spricht der Künstler, der von dem wahren schöpferischen Genie — von Shakespeare, von Mozart, von Byron und so auch von sich selbst — bekannte, die Welt sei ihm „durchsichtig", er trage sie samt ihrer Gesetzlichkeit gleichsam in einer Art Antizipation von Anbeginn in seinem Inneren. 19 Vergegenwärtigt man sich die endgültige dichterische Ausformung dieser sonderbaren Vorstellung in der Gestalt der Makarie, so heißt dies doch offenbar weit mehr, als daß ihm die Wirklichkeit so geläufig ist, daß er sie wie eine vertraute Partitur vom Blatt zu spielen vermag. Vielmehr heißt es, daß sein Geist ein konstituierender Teil eben dieser Wirklichkeit ist: ein ideeller Punkt, in dem Äußeres und Inneres zusammenfallen. Diese stille Überzeugung kommt auch sogleich in dem folgenden Dictum zum Tragen. „Die Seele musiziert, indem sie zeichnet, ein Stück von ihrem innersten Wesen heraus", sinnt Goethe; „und eigentlich sind es die höchsten Geheimnisse der Schöpfung, die, was ihre Grundanlagen betrifft, 18 19

Shakespeare, A Midsummer Night's Dream, V, 1. Goethe zu Eckermann, 26. Februar 1824, AGA, 24, S. 96 ff.

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gänzlich auf Zeichnen und Plastik beruht, welche sie dadurch ausplaudert" (Z. 129-133). In diesem Satz stellt Goethe sich uns als das vor, was er nach seiner tiefsten Überzeugung ist: als Schöpfer einer „zweiten" oder „anderen Natur". Der Künstler ist ein Zeuger autonomen Lebens, gleich dem physischen Vater; er ist es, weil in ihm die bildende Kraft des großen Ganzen wohnt und wirksam ist. 4. Eine anspruchsvollere Aussage macht diese Unterhaltung nicht. Halten wir einen Augenblick inne und überschauen den Weg, auf dem wir diesen Gipfel erklommen haben. Einem vielschichtigen Prozeß der Steigerung haben wir beigewohnt. Einmal der Steigerung der benachteiligten Schlange zu dem wundersamen Wesen, das da in seiner Chrysalide pocht und hüpft, aus dem sich das vollendete Insekt befreien wird. Sodann der von der Natura naturata — sie beschließt das einmal und einmalig Gewordene, dieses Reptil und dieses Insekt — zur Natura naturans, kundgetan in der bildenden Kraft, die da eine Wurmart im Verborgenen beflügelt. Ferner erhoben wir uns von den Lehrjahren eines bildenden Künstlers in der città eterna zum ebenbürtigen Mitwisser und Gehilfen eben dieser plastischen Natur. Schließlich war da der schöne Feigenbaum, Sinnbild jenes Verschlungenseins von Gegenwärtigem und Vergangenem, unabtrennbar von der gesteigerten Anschauung des Künstlers, wie auch immer lästig und verfremdend für diesen Gratwanderer selbst. Während des Fortgangs der Unterhaltung ging diese Steigerung ohne Unterlaß vor sich. Denn Goethe hat sich in ein- und demselben Zeitraum auf zwei Ebenen des Gewahrseins bewegt. Indem er plaudert, sinnt, unterbricht und richtig stellt, zeichnet er. Bildend realisiert er jene sachte Steigerung der Natur, die er in Gesten und Worten gepriesen hat. Unversehens hat sich dem voll Aufmerkenden, Bewußten unter der formenden Hand Gewordenes in Werdendes, Vergangenes in Gegenwärtiges verwandelt. In seiner phantastischen Landschaft hat er diese Kondensierung vollzogen, in welcher er Wunderlichstes „zusammengebracht" hat, bei deren tollem Anblick er mutmaßt, die Natur sei nach eben demselben Herstellungsmodus verfahren, den seine strichelnde Hand ihr „vorgeschrieben" hat. „ S o " und nicht anders wird es draußen in der Welt irgendwo vorhanden sein (Z. 127 f.).

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Nun faltet er das, was die blitzhelle Vision da auf seinem Papier „zusammengebracht" hat, in erläuternden Worten sukzessiv auseinander. Da sei auf der untersten Stufe die Schmarotzerpflanze, erklärt er seinem Gast, indem er die eigene Zeichnung auslegt. Und hier bereits sei in das Frühe, Rudimentäre, Späteres und Spätestes verschlungen. „Vogelmäßig" sei sie, flüchtig wie ein hingehauchter Schmetterling setze sich die Klammernde an dem Stamm ihres Gastgebers fest, ihr Leben aus dem seinigen zu speisen. Es folgen die Moose, auch sie Parasiten, die nur bereits Vorhandenes übernehmen. Manche von diesen freilich gehörten schon einer fortgeschritteneren Stufe an, was sich sowohl aus der Steigerung der Säfte als aus der Tatsache erkläre, daß sie nicht „mit einem roh irdischen, sondern mit einem bereits gebildeten Stoffe ihren ersten Anfang machen" (Z. 153 — 155). Schließlich, auf der höchsten Stufe, folgt der Apfel, der — ähnlich wie der schöne Feigenbaum — zu seiner Reife „eine lange Reihe von Jahren und die sorgsamste Vorbereitung" benötigt (Z. 157 f.). Eine solche „kugelförmige, kompakte Masse" setze zu ihrem Gelingen „eine große Konzentration" voraus „und auch zugleich eine außerordentliche Veredelung und Verfeinerung der Säfte, die ihm von allen Seiten zufließen" (Z. 162 — 164). Offenbar fasziniert diese Frucht den Dichter; man möchte meinen, wiederum, weil er in ihrer prallen Dichte und kraftvollen Konturierung jene lebendige Bildung von innen heraus spürt, die ihn, gerade in diesen Augenblicken, an den Kokons auf seinem Gartentisch, in seiner Hand, so nachhaltig bewegt. Diese beharrliche Vergegenwärtigung einer in steter Steigerung begriffenen bildenden Kraft ist es, die nunmehr — anscheinend urplötzlich und doch nach ,,sorgsamste[r] Vorbereitung" — das krönende Aperçu unseres Gespräches entläßt. Es sind dies die Worte, von denen ich ausgegangen bin und die hier nochmals zitiert werden sollen: „Man denke sich die Natur, wie sie gleichsam vor einem Spieltische steht und unaufhörlich au double! ruft, das heißt mit dem bereits Gewonnenen durch alle Reiche ihres Wirkens glücklich, ja bis ins Unendliche wieder fortspielt. Stein, Tier, Pflanze, alles wird nach einigen solchen Glückswürfen beständig von neuem wieder aufgesetzt, und wer weiß, ob nicht auch der ganze Mensch wieder nur ein Wurf nach einem höhern Ziele ist?" (Z. 164-171). 5. Der so fragt, ist beileibe kein blauäuiger Optimist, der sich an einem lauen Juninachmittag von einer Handvoll Schmetterlingskokons in metaphysi-

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sehe Träumereien einwiegen läßt. Dies wird bereits aus der Wendung klar, die das Gespräch unmittelbar nach den soeben zitierten Sätzen nimmt. Es ist durchaus eine Wendung ins Bedrohliche. In der Kühle der sich einschleichenden Nacht richtet der Dichter — er ist an die sechzig — seinen Blick auf den sternenbesäten Himmel und zieht die Linien seiner Betrachtung durch die anorganischen Bereiche der Natur „bis ins Unendliche" fort. Gewiß, auch in seiner Besinnung über die Zukunft unseres Sonnensystems trägt ihn die Schwungkraft einer Seele, in der — so Falk — die einmal angeschlagenen Saiten noch immer fortzitterten; und er beharrt auf seiner Überzeugung, daß auch in diesen ungeheuren Räumen „an kein Aufhören von irgend einer Seite zu denken ist"(Z. 179 f.). Dennoch weiß er, daß nicht jeder Wurf der Natur ein Glückswurf ist. Er ist sich über die abnehmende Projektionskraft der Sonne im klaren, ja er erwägt die Möglichkeit eines Sonnenrings, „der uns armen Erdenbewohnern, weil er aus irdischen Bestandteilen zusammengesetzt ist, ein böses Spiel machen dürfte" (Z. 197 — 199). Auch für die entlegeneren Planeten unseres Systems sagt er für einen derartigen Fall Unerfreuliches voraus. Freilich, die Sonnenflecke könnten „einige Unruhe für die Zukunft erwecken" (Z. 207 f.); und es gäbe nichts uns Bekanntes, das derlei unheilvolle Folgen eines „verunglückten" „Planetenwurfs" (Z. 194) als unrealistisch ausschlösse. Dieser Betrachtende ist ein objektiven Tatbeständen geöffneter Geist, der die moralische Gleichgültigkeit zumindest der anorganischen Natur gegenüber den Glückswürfen der guten Mutter zur Genüge kennt und die Zukunft mit einiger Skepsis ins Auge faßt. In der Tat, es ist eben der, welcher gerade in diesen Wochen — oder auch vielleicht Tagen — die folgenden, tieftraurigen Worte über den Niedergang von „unschätzbar Würdigem" schrieb. Nicht nur der Fall heldenhafter, im menschlichen Gedächtnis fortlebender Gestalten wird da betrauert. Jenen ,,andere[n], stillejn] Tugenden" gilt die „innigste Klage", die, „von der Natur erst kurz aus ihren gehaltreichen Tiefen hervorgerufen, durch ihre gleichgültige Hand schnell wieder ausgetilgt [würden], seltene, schöne, liebenswürdige Tugenden, deren friedliche Einwirkung die bedürftige Welt zu jeder Zeit mit wonnevollem Genügen umfangt und mit sehnsüchtiger Trauer vermißt." Die soeben zitierte Betrachtung entstammt dem Schlußkapitel der Wahlverwandtschaften^. Diese Worte gehen dem jungen Architekten vor Ottiliens gläsernem Sarg durch den Kopf; auch dieser ein Kokon, in dem ein 20

II, 18. HA, 6, S. 487 f.

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scheinbar totes und dennoch mächtig ausstrahlendes Wesen seiner Stunde harrt. Und, in der Tat, der Dichter der Wahlverwandtschaften ist es, dessen Bild der ebenso einfühlsame wie gewissenhafte Falk in seiner Aufzeichnung unseres Gespräches festgehalten hat. Dies Gespräch fand Mitte Juni 1809 statt, und von Mitte April bis zum Anfang Oktober arbeitete Goethe täglich an seinem Roman. Erst gegen diesen biographischen Hintergrund ist es möglich, die Tiefe und Tragweite dieser Unterhaltung zu ermessen. Der hier über die Zukunft des Menschen spekuliert und einen Glückswurf nach einem höhern Ziele prophezeit, stellt letzten Endes keine Frage an die Natur. Vielmehr schreibt er ihr vor, was sie auszurichten hat. Und zwar befiehlt er nicht, weil er ein wirklichkeitsfremder Phantast wäre, eine Art verspäteter Werther, sondern einmal, weil er sich als Mitwisser ihrer höchsten Schöpfergeheimnisse weiß, zum anderen, weil er, über alles Wähnen und Wissen hinaus, leidenschaftlich engagiert ist. Engagiert nicht im landläufigen Sinn, sondern weil es um den Bestand eines in eigenen Tiefen ausgetragenen Wesens geht, welches den Mächten der Vernichtung anheimzugeben er sich mit Händen und Füßen sträubt. Dieses Wesen ist eine seiner „zwar spätem, aber darum nicht minder geliebten Töchter" 21 —: Ottilie. In dem Rätsel ihres endgültigen Geschicks verdichtete sich ihrem Schöpfer wie wohl noch nie zuvor die Frage nach dem Sinn der menschlichen Existenz. Wenn dies „unschätzbar Würdige" vor dem Richterstuhl der Natur unterzugehen bestimmt war, so war das Leben — und namentlich ein Schöpferleben — in Wahrheit nicht mehr als ein sinnentblößtes Spiel der Mächte. Nur wenn er es vor dem Forum seines künstlerischen Gewissens verantworten konnte, diesem Glückswurf seines Genies Fortdauer zu verleihen, war das Schreiben des Schreibens, und das Leben des Lebens wert. „Jedes Bedürfnis, dessen wirkliche Befriedigung versagt ist, nötigt zum Glauben", sinnt der Erzähler im letzten Kapitel der Wahlverwandtschaften,22 und ganz ähnlich denkt der jüngere Goethe, ganz ähnlich sekundiert der ausgereifte Mann der Maximen und Reflexionen. An die Herzogin Anna Amalia schreibt der Dreiundvierzigjährige: „Wenn es mißlich wird dann zeigt sich erst der Glaube der sich an dem erquickt und stärckt was er nicht sieht." 23 In voller Entsprechung dazu lesen wir: „Glaube ist Liebe zum Unsichtbaren, Vertrauen aufs Unmögliche, Unwahrscheinliche." 24 21

Dichtung und Wahrheit, III, 1 1 , HA,

22

II, 18. HA,

9, S. 497.

6, S. 488.

23

A m 25. September 1792. WA, IV, 10, S. 23.

24

Maximen und Reflexionen, HA,

12, N° 92, S. 377.

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Diesen Schritt vom Schauen zum Glauben an das Unsichtbare war Goethe angesichts des undurchsichtigen Loses seiner geliebten Tochter Ottilie zu nehmen gezwungen; und es will mir scheinen, als ob wir in unserem Gespräch unmittelbare Zeugen davon werden, daß er ihn vollzog, vor allem aber, wie er ihn vollzog. In Ottilie hatte Goethe die differenzierteste schöpferische Frauengestalt seiner bisherigen Laufbahn erschaffen, aus der ihm mehr als ein Abglanz der eigenen künstlerischen Seinsart entgegenblickte. 25 Sie war zutiefst naturgebunden und weiblich empfangend; eine nachtwandlerische Gestalt, die das einmal Empfangene still harrend und sich selbst unbewußt austrug, ohne recht zu wissen, woher es kam und wohin es sie führen würde. Dennoch ist sie — auch in diesem Stück ähnelt sie ihrem Schöpfer — bei aller Passivität und Erdgebundenheit ein mit nahezu unbegrenzten geistigen Energien ausgestatteter Mensch, Energien, die sich einmal in dem Vermögen zu menschlichem Verzicht kundtun, darüber hinaus aber in der seltenen Gabe, zur gleichen Zeit auf verschiedenen Ebenen zu leben und erleben. Und zwar meine ich damit keineswegs bloß jene andauernde Umsetzung vitaler Triebe und Impulse in seelische Ressourcen, welche die Springfeder zivilisierter Verhaltensweisen ist, sondern, spezifischer, eine Art der Anschauung, die der ihres Schöpfers auffallig verwandt ist. Ottilie erfährt Gegenwärtiges, Zukünftiges und Vergangenes in Einem, ganz wie Goethe das tut: vor dem farbigen Fenster in der umgestalteten Seitenkapelle sitzend (II, 3); in der weihnachtlichen „Kunstmummerei", wo der neugeschaffenen Himmelskönigin inmitten der zukunftsträchtigen Scharade Vergangenheit und Gegenwart „wie im zackigen Blitz" vor der Seele „vorbeifahren" (II, 6); beim Anschauen des kleinen Ottos, wo sich ihr — „Unter diesem klaren Himmel, bei diesem hellen Sonnenschein" — die Gestalt ihrer Liebe „auf einmal" erklärt (II, 9), und während jenes Hellschlafs, in dem sich zweimal das Grundmuster ihrer gesamten Existenz offenbart (II, 14). Auch das Gefühl des Gespenstischen, das die simultane Überschau des Zerstreuten je und je begleitet, bleibt dieser Tochter Goethes nicht erspart. Geistergleich und verfremdet fühlt sie sich bei mehr als einem dieser und anderer Anlässe, ganz wie sich Lothario erfährt, 26 ganz wie es der Autobiograph leicht erschauernd von sich selbst berichtet. 27 25

26 27

Diese These verficht die Verfasserin Artist' in Goethe. Portrait of the Artist, Kapitel 7 dieser Studie. In Wilhelm Meisters Lehrjahre, VII, 7, In Dichtung und Wahrheit III, 14; siehe

in , „Verwandte Engelsbilder": Apotheosis of an Berlin and New York, 1977 (Kapitel 9); ferner in HA, 7, S. 470 f. Anmerkung 17.

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W i e i n n i g d u r c h d r u n g e n v o n O t t i l i e n s stiller G e g e n w a r t ist das G e spräch des D i c h t e r s m i t Falk! E r k e n n e n w i r n i c h t in d e m „ g u t e n , artigen K i n d " , w i e G o e t h e seine in i h r e r C h r y s a l i d e h a r r e n d e n o c h u n b e k a n n t e S y l p h i d e 2 8 n e n n t , das „liebe", „schöne", „ h e r r l i c h e " u n d schließlich „das h i m m l i s c h e K i n d " des R o m a n s w i e d e r ? D u r c h k r e u z t sich d e r s c h ö n e u n d a n m u t i g e V o g e l , d e r sich in dies G e s p r ä c h v e r i r r t u n d den r e c h t m ä ß i g e n Platz des S c h m e t t e r l i n g s u s u r p i e r t zu h a b e n scheint, nicht m i t

jenem

n a c h d r ü c k l i c h e n S i n n b i l d , das die t a g e b u c h f ü h r e n d e O t t i l i e f ü r die Transz e n d i e r u n g i h r e r eigenen N a t u r p r ä g t , d e m d e r Nachtigall? D i e Nachtigall „steigt" ü b e r ihre eigene K l a s s e „ h i n ü b e r " , die die N a t u r selbst i h r angew i e s e n hat. K a u m ist sie n o c h V o g e l , w i e w o h l dieser selbst ein „ g a n z spätes E r z e u g n i s d e r N a t u r " ist. 2 9 N u r n o c h ein z a r t e r H i n w e i s ist sie „ j e d e m G e f i e d e r t e n " , „ w a s eigentlich singen h e i ß e " (II, 9): u n d dieses k ö r p e r l o s e S i n g e n d e u t e t in R ä u m e jenseits des Irdischen.

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Diese Assoziation ist keine so willkürliche oder gar leichtfertige, als es den Anschein haben mag. Bekanntlich ist in dem späteren Gedichtzyklus Tischbeins Idyllen des öfteren von schwebenden Frauengestalten die Rede. Diese Metaphorik gipfelt in der neunten Idylle (in HA als 6 numeriert), wo sich der Dichter von den nahen und irdischen Phänomenen, die ihn bislang festgehalten haben, zu leichteren, ätherischeren wendet, die dem Zug der Seele nach oben Genüge tun. Von Najaden und Sylphiden spricht er in diesem Zusammenhang. Im Jahre 1821 kamen dem Dichter die ursprünglichen Bilder Tischbeins zu. Etwa fünf von diesen sind Darstellungen freischwebender Mädchengestalten. Eine von ihnen — sie sind, in leicht abgeänderter Form, noch heute im herzoglichen Schloß in Oldenburg zu sehen — sticht besonders hervor: es ist ein Mädchen mit enorm langen Schmetterlingsflügeln an beiden Seiten. Wären diese Bilder nicht so verspätet zu Goethe gelangt, man würde in ihnen, und besonders in dem soeben erwähnten, die dichterische Keimzelle sowohl für die Prägung von „unserer unbekannten schönen Sylphide" in dem Gespräch mit Falk als auch für die metaphorische Struktur der Ottiliengestalt vermuten. Die Chronologie beeinträchtigt indes die hier angedeutete These keineswegs. Denn bereits während der ersten Italienischen Reise bestand zwischen Goethe und Tischbein eine enge Künstlerfreundschaft; und wir dürfen gewiß sein, daß der letztere, der sich, wie Goethe, jahrzehntelang mit seiner Schöpfung trug, die Skizzen zu den später ausgeführten Bildern seinem Freund zeigte und mit ihm diskutierte. Der Samen der Konzeption eines schmetterlingsgleichen Mädchens fiel also in Goethes Seele einige 23 Jahre vor unserem Gespräch. In diesem aber geht diese bereitliegende Metaphorik eine Verbindung mit der Gestalt der Ottilie ein, die dem Dichter gerade unter den Händen wächst. Das Amalgam dieser Verbindung aber ist ein „Wurf" der Natur „nach einem höhern Ziele", in dem er den Menschen unter dem Sinnbild des Schmetterlings begreift, genau so, wie er es ein paar Jahre später in dem Gedicht Selige Sehnsucht tun wird. Fragmente %ur vergleichenden Anatomie, AGA, 17, S. 434.

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Die steile Emporsteigerung eines so erdverhafteten Wesens aber barg ihre eigenen, und schweren, Probleme, insbesondere für einen Autor an der Grenze des Alters, der illusionslos in die Welt zu sehen gelernt hatte. Sagt doch der Verfasser der Selbstanzeige des Romanes eigens, daß „überall nur e i n e Natur ist und auch durch das Reich der heitern Vernunftfreiheit die Spuren trüber, leidenschaftlicher Notwendigkeit sich unaufhaltsam hindurchziehen, die nur durch eine höhere Hand und vielleicht auch nicht in diesem Leben völlig auszulöschen sind." 30 Unendlich hoch, ja über das Menschenmaß hinaus, hatte der Dichter diesen Glückswurf seiner eigenen, genialen Natur gesteigert. Ein Vollkommenes, Unvergleichbares ist Ottilie (II, 9). „Sie hat sich nicht von mir weg, sie hat sich über mich weg gehoben", klagt Eduard (II, 17). Bei alledem aber, wie konnte Goethe hoffen, das einzige Geschöpf dem Los des Irdischen zu entwinden, „um so mehr, als doch überall nur e i n e Natur ist"? Wußte er doch, was das bedeutet: daß selbst der Mensch, der zwar im Seelischen ein „Stirb und werde" erfahren mag, im Physischen rettungslos den Mächten der Vernichtung preisgegeben ist; ein ehernes Gesetz, das selbst über den Heroen des Geistes waltet, zumal aber, und so ganz offenkundig, über diesem nachtwandlerisch-dumpfen, erdverhaftetsten und gebrechlichsten aller Geschöpfe. Und doch war „das himmlische Kind", das er da aus mehr oder minder krankhaften Ingredienzen herausdestilliert hatte, Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein. Nicht seine leibliche Tochter war sie, aber doch fast noch mehr: Das Kind seines eigensten Genius war sie; und das bedeutet, sie war seine große Herausforderung an die Natur, Farbe zu bekennen. War die „gleichgültige Hand", die schnell das wieder austilgt, was sie soeben aus „ihren gehaltreichen Tiefen" hervorgerufen hatte, dieselbe wie jene „höhere Hand", von der die Selbstanzeige spricht? In dieser hatte sich der Verfasser — freilich einen Monat vor Fertigstellung des Romans und in dem vielleicht etwas forcierten Unterfangen, seinen dichterischen Vorstoß in anorganische Bezirke der Natur auslegend zu untermauern — auf einen Dualismus festgelegt, der seiner Seinsart im Tiefsten fremd war. Andererseits spricht er selbst in der vorzeitigen Bekanntmachung von „diesem Leben", was ja wohl auf ein anderes deutet, vermutlich innerhalb der e i n e n Natur angelegt. Wie sollte er sich solche Widersprüchlichkeit zurechtlegen, zumal er sich doch selbst als Vermittler 30

Selbstanzeige im „Morgenblatt für gebildete Stände" vom 4. September 1809, HA, 6, S. 621.

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der großen Mutter sah? War es in dem dichterischen Kosmos seiner Schöpfernatur denkbar, einem so über das Diesseitige hinausgesteigerten Wesen, wie es Ottilie unter seinen Händen wurde, Dauer zu versagen? Und wenn er es nicht tat: war ein solcher Schritt haltbar, oder bedeutete er mangelnde Naturtreue seines Genies geschweige denn einen Bruch mit der vielleicht doch nicht so guten Mutter? Gab diese Mutter, diese e i n e Natur, irgendein erkennbares Zeichen, daß sie gewillt war, mit einem ihrer — seiner — Glückswürfe doch einmal „bis ins Unendliche" fortzuspielen? Oder ergreift selbst das unschätzbar Würdige in ihrer gleichgültigen Hand „unleidliche Fäulnis... und zerreißt den schönen Zusammenhang seiner Gestalt auf ewig", wie es Das Märchen mit unverbesserlicher Kompromißlosigkeit formuliert?31 Fraglos war dies das Dilemma, in das sich der Dichter durch die Überhöhung seiner so naturverhafteten Heldin hineinbegeben hatte. Von seiner eigenen Naturtreue abzuspringen, war ihm als Künstler sowie als Wissenschaftler gleichermaßen unmöglich. Wo aber hatte ihn diese Treue hingeführt, nun da er im Namen seiner geliebten Tochter und um des eigenen Friedens willen Forderungen an die e i n e Natur stellen mußte, die zu erfüllen kaum in ihrem Programm stand? Zu der Zeit, da wir Goethe im Gespräch mit Falk vertieft sehen, war er wie ein Liebender, der nolens volens der Geliebten ein Ultimatum stellen muß, von dem ihm eine trübe Vorahnung prophezeit, daß sie seinen Bedingungen nicht zu genügen vermag. 6. Naturferne und Selbstentfremdung sollten indes doch nicht das letzte Wort behalten. Denn da war ja noch jener Glaube, der Liebe zum Unsichtbaren ist. Das Unsichtbare aber, das Goethe in diesem Gespräch, vor unseren gebannten Sinnen, mit Liebe erfüllte und seinem Glauben Flügel verlieh, war „das gute, artige Kind", „unsere noch unbekannte, schöne Sylphide": der werdende Schmetterling also, der da, im stillen Winkel seinen Feststaat anlegend, seiner Apotheose entgegenharrt. Kein Glaubenssprung ins Absurde war es, den Goethe sich zumutet. Nein, es war das ersehnte Signal der e i n e n Natur, daß sie zuweilen sich selbst zu transzendieren, über sich selbst ins Reich des Wunderbaren zu steigen gewillt ist, welches sich, selbst nicht widernatürlich, über das Irdische wie eine Riesenglocke wölbt,

31

HA, 6, S. 226.

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gerade so, wie der reine Gesang das Gefiederte übersteigt. In diesen Augenblicken verriet sich dem Zweifelhaften die Natur selbst als „Übergang". Was aber heißt Übergang, wenn nicht dies: der Zukunft geöffnet zu sein? „Diese Übergänge der Natur": nicht ablassen kann der Naturforschende, der Verheißung im Innern seiner Hand nachzusinnen. „Betrachten Sie mir ja fleißig diese Übergänge, worauf am Ende alles in der Natur ankommt", ermahnt der Dichter noch am Ende seines Lebens eben denselben Falk. 32 Das wahrhaft Wunderbare aber ist, daß das Wunderbare des Übergangs, ja selbst noch jenseits des Übergangs, das Allgewöhnliche ist; und das heißt nicht nur, oder auch in der Hauptsache, das Alltägliche, sondern das bei aller Jenseitigkeit Natürliche. Ein kluger Kritiker hat von einer verwandten Aussage Goethes, wiederum im Gespräch mit Falk, gesagt, dem Schmetterling komme im Denken Goethes nicht mehr als Symbolwert zu; und „die Gewißheit eines personhaften Fortlebens über den Tod hinaus" könne er gewiß nicht liefern. 33 Indes, man stelle sich vor: ein zwischen schöpferischer Leidenschaft und dem Gefühl der Leere hin und her gerissener Mensch hält eine anscheinend todesstarre Hülse im Innern seiner Hand, an die Muschel seines Ohrs; und in diesem Moment fühlt er und hört er, was er nicht sehen kann, nie sehen können wird — : ein junges Leben, das sich im Verborgenen regt. Sollte für ihn in seinen damaligen Zweifeln dieses geheime Klopfen und Hüpfen wirklich nicht mehr als Symbolwert gehabt haben? Sollte es ihm nicht ein Unterpfand der einen Natur gewesen sein, er sei im Recht mit seiner unabweisbaren Forderung, seiner geliebten Tochter, als einem Glückswurf der zweiten Natur, Dauer zu verleihen? Sollte er die leisen Signale, die er da mit seinen lebendigen Sinnen auffing, nicht als ein „ J a und Amen" der Natur ergriffen haben? Als ihre Zustimmung zu seinem unstillbaren Verlangen, einmal „bis ins Unendliche" fortzuspielen und „den ganzen Menschen" — Ottilie ist ein „ganzer Mensch"! — sichtbar „einem höhern Ziele" entgegenzuführen? Dies ist, so meine ich, der Hintergrund des Aperçus, von dem wir ausgegangen sind und in welchem diese sonderbare Unterhaltung gipfelt. Indes, wir dürfen nicht vergessen, daß sich hinter der einzigen Gestalt, die ihn so leidenschaftlich anging, noch weitere Horizonte auftaten: nicht nur die Bürgschaft ihrer Transzendenz, derer gerade dieses Naturkind so 32 33

Undatiert. AGA, 23, S. 815. A.Schöne, in , „Regenbogen auf schwarzgrauem G r u n d e " . ( s i e h e Anmerkung 2) S. 33.

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dringend bedurfte und so würdig war, sondern die Bürgschaft der Fortdauer für ihn selbst und für alles wahrhaft Lebendige. Und dahinter wieder das unschätzbare Naturwunder des Schmetterlings, das er ebenso diskret wie durchgängig als das offene Geheimnis seines Romans zwischen dessen Zeilen hineinwirkte, im Letzten vermutlich, weil es seiner Sehnsucht nach einer Steigerung „bis ins Unendliche" Fleisch und Bein verlieh. 34 Indes, zu sagen, Goethe habe der Natur ihre Botschaft abgelauscht, wäre eine Vereinfachung eines weit komplexeren Tatbestandes. Auch entspräche es nicht dem, was Falk über ihn berichtet. Diesem zufolge plaudert ja die musizierende Seele des Bildners zusammen mit ihrem eigenen Sein die höchsten Geheimnisse der Schöpfung heraus. So verrät der menschliche Schöpfer, was in ihm selbst, als einer anderen Natur, von vorneherein angelegt war. Natürlich horcht und lauscht der naturfromme Goethe auf die Stimme der großen Mutter wie keiner sonst. Diese empfangende Haltung prägt sein Dichtertum, wie sie auch sein Forschen prägt. Eine solche Einsicht darf uns aber nicht den Blick darauf verstellen, daß er, als Partner der Natur, dieser auch zuweilen vorschreibt. Gerade im Falle der radikalen Umartung des Schmetterlings tut Goethe das. Jahre vor unserem Gespräch berichtet Caroline Schlegel über ihn wie folgt: „Goethe... gibt... sich... viel mit Raupen ab, die er tot macht und wieder auferweckt." 35 Der scharfblickenden Beobachterin werden die eschatologischen Resonanzen ihrer Formulierung nicht entgangen sein. Auch die omnipotente Geste, die sie Goethe zuschreibt, ist nicht von ungefähr. So war er, wenn es um das Naturwunder des Schmetterlings ging, das ihm als das kostbarste Unterpfand der Selbsttranszendierung einer Natur galt, der er sich mit Haut und Haar verschrieben hatte. Im letzten lauscht er ihr da nicht ein Geheimnis ab, das sie ihm kundtut. Eine Gewißheit schreibt er ihr vor, die seinem Innersten in flammenden Lettern eingeschrieben ist —: daß Liebe Streben in die Ewigkeiten steigert. Indessen, was zuvörderst und was danach kommt bei einem Menschen, den die Welt so unablässig prägte, in dem Welt und ein dergestalt geprägtes Selbst so unlöslich verschlungen sind wie bei diesem, wer wüßte es zu sagen? 34

35

Wie sehr Goethe an Ottilie hing, — in seiner Autobiographie nennt er sie „eine meiner zwar spätem, aber darum nicht minder geliebten Töchter" (III, 11, HA 9, S. 497) — wird aus dem auf dem Weg nach Heidelberg mit S. Boisseree geführten Gespräch vom 5. Oktober ersichtlich (Biedermann II, S. 353, N° 1723), in dem die Grenze zwischen Gedichtetem und Erlebtem auf fast einmalige Weise verfließt. — Siehe auch Kapitel 7 dieser Studie. August-Ende 1796. Biedermann I, S. 249, N° 495.

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7. Zur Zeit des Gespräches mit Falk schreibt ein Beobachter über Goethe: „Am interessantesten ist es, ihn über naturhistorische Gegenstände, besonders über Blumen zu hören. Seine fast kindliche und rührende Zartheit... erscheint hier in einer Liebenswürdigkeit, die kein Gedicht erreichen kann." 36 Auch in dem herrlichen Gespräch mit Eckermann über den Kuckuck und die selbstlose Liebe von dessen Pflegeeltern 37 tut sich diese Zartheit kund. Aber wohl mehr noch denn Zartheit. „Ein offenbares Geheimnis" nennt er diesen Eindringling, „das aber nichtsdestoweniger schwer zu lösen, weil es so offenbar ist"; 38 und ruft abschließend voll Begeisterung: „Wer das hört und nicht an Gott glaubt, dem helfen nicht Moses und die Propheten. Das ist es nun", fahrt er fort, „was ich die Allgegenwart Gottes nenne, der einen Teil seiner unendlichen Liebe überall verbreitet und eingepflanzt hat, und schon im Tiere dasjenige als Knospe andeutet, was im edlen Menschen zur schönsten Blüte kommt." 39 Der Kuckuck ist kein sonderlich edles Tier, wie Shakespeare wohl weiß, wenn er dem Narren angesichts der mörderischen Goneril ein böses Liedchen über den Undank dieses Vogels auf die Lippen legt, 40 das Goethe in dem eben zitierten Gespräch sehr wohl im Sinn gelegen haben mag. Auch die Schlange, die da auf seinem Gartentische neben den Kokons steht, mit der er spricht, die er so liebevoll füttert, gilt als keine sonderlich edle Kreatur. Vielleicht am meisten von allen Geschöpfen ist sie seit der Genesis mit Verderben und Verderbnis assoziiert. Was sagt doch Mephisto über den strebend bemühten Faust? Staub soll er fressen, und mit Lust, Wie meine Muhme, die berühmte Schlange (Z. 334 f.). Genau das tut sie auch. Im Staube lebt sie, Staub frißt sie, im Staub verreckt sie, zu Staub wird sie. Ungleich dem Schmetterling ist es ihr nicht gegeben, in einer endgültigen Umartung ihrer Haut ledig zu werden. Und darin ist sie wie ihr überalterter Schwager. Aber auch wie der „edle Mensch". Denn auch dieser ist unwandelbar, auch ihm ist, ungleich dem „beneidenswerten Wurm", 41 keine Wiedergeburt gewährt, jedenfalls nicht 36

M. H. Hudtwalcker an August von Goethe, Mitte Mai 1809. AGA,

37

A m 8. Oktober 1827, AGA,

38

Ebenda, S. 661.

39

Ebenda, S. 669.

40

King Lear, I, 4.

41

Torquato Tasso, V, 2.

24, S. 658 ff.

22, S. 547 N° 878.

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im Physischen. Und gerade deshalb schließt Goethe die „Gleichgültige" in seine mitfühlende Liebe ein, wie jene andere Kreatur, des Fliegengottes Abgesandte. 42 Wollte er doch in seinem Faust-Dtamn selbst dem Teufel „Gnad' und Erbarmen" widerfahren lassen, wie er in einem späten Gespräch mit Falk voll Malice gegen seine Landsleute bekennt. 43 Warum? Weil nur dann, wenn selbst das scheinbar Gottfernste sich als erlösbar herausstellt, für den Menschen etwas zu hoffen ist, der mit allen Fasern seines Seins fest an der Erde klammert — und mit Lust! Und im Letzten, weil der ungeheure Erlösungsdrang dieses Menschen, der aus ungeheurer Liebeskraft herrührt, alles Lebende umfangt. Alles, was Atem hat, will er dem Göttlichen zuführen: Gretchen sowie die kleine Schlange, den Teufel sowie Faust. Und natürlich immer seine Ottilien. Daher seine Erbitterung ob des pietätvollen Grauens seiner Frau vor seiner Schlange, darum sein mißmutiger Ausbruch gegen die Falschheit und die Ungerechtigkeit der Menschen: „Arme Schlange! Sie vernachlässigen dich! Sie sollten sich deiner besser annehmen!" (Z. 88 f.) Im letzten Grunde ist es kein Gerechter, der da eifert. Ein Liebender ist es und ein Reiner. Wußte er doch, daß auch das Edelste erst dann erlöst ist, wenn es in wagemütiger Liebe auch die geringste Kreatur als erlösbar und erlösenswert umfangt. „Wie sie mich ansieht! Wie sie den Kopf emporstreckt!", sagt er staunend: „Ist es nicht als ob sie merkte, daß ich Gutes von ihr mit euch spreche!" (Z. 89 — 91). Nicht nur den unbeholfnen Körper des Tieres füttert er; mit seinem Zuspruch zieht er dessen Seele auf. Und das ist vonnöten in einer dunklen Welt, in der insgeheim ein Kindermärchen schläft, das, dornröschengleich, wachgeküßt werden will. In jedem Wesen haust ein Teufel, nennen wir ihn nun Caliban oder Kannibale oder die Gewaltigen Gesellen oder auch „Schlange! Schlange!", wie das Faust von seinem Schandgesellen tut {Faust, I, Z. 3324). Aber auch ein Göttliches schlummert in jeder Kreatur, glaubt man nur daran. Ist es nicht gerade die Schlange, die in Goethes Märchen in einem nur noch dem lichtbegierigen Schmetterling vergleichbaren Opfermut alles um sich herum erlöst und dabei selbst in Stücke bricht? In einer solchen Welt fruchtet nichts, als mit Shakespeares Prospero zu sagen: „This thing of darkness I acknowledge mine." 44 Dieser Satz könnte Goethes Namenszug tragen.

42 43

44

Siehe Kapitel 8 dieser Studie. Aus J. D. Falks Darstellung, Letzte Lebensjahre. AGA, The Tempest, V, 1.

23, S. 822, N° 2279.

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Schauen und Glauben 8.

Da sitzt er nun an seinem kleinen Gartentisch, zeichnet wie die plastische Natur, zieht in e i n e r Anschauung zusammen, was für die anderen auseinanderliegt, Blüte und Frucht, Schmetterling und Schlange, Erde, Sonne und noch unentdeckte Sterne, vollzieht bildend, redend, vor unseren Augen eine unaufhaltsame Steigerung vom Geringsten bis zu einem höheren Ziele jenseits des Menschen, wie wir diesen kennen, „musiziert" die Geheimnisse der Schöpfung aus seiner Seele heraus, durchschaut die Welt, als wäre sie aus Glas und wird sich selber transparent, fürchtet sich ein wenig, von seinem Dämon so am Gängelband geführt zu werden, wettert indes, wie Jesus im Tempel, ob allem, was nicht lauter ist, aus Liebe zu allem, was da kreucht und fleucht und geduldig seiner Erlösung harrt. Fürwahr, ein wetterleuchtendes Genie, eine andere Natur, und dazu ein unverbesserlicher Hasardeur, ganz wie seine große Partnerin, die er — sich gegenüber — wie im Spiegelbild an einem zweiten Tische sieht.

Wintermärchen Goethes Roman Die

Wahlverwandtschaften

„Du Narr: was du säst wird nicht lebendig, es sterbe denn. Und was du säst, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, etwa Weizen oder der andern eines. Gott aber gibt ihm einen Leib, wie er will, und einem jeglichen von den Samen seinen eigenen Leib." Paulus 1, Korinther 15, 3 6 - 3 8 „...alles was lebendig wirken soll, muß eingehüllt sein." Goethe, Die Absicht eingeleitet „Der Mensch ohne Hülle ist eigentlich der Mensch." Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre 1.

„...man [benamset] nicht immer den Garten... der die Pfropfreiser hergegeben",1 bemerkt Goethe zu Beginn seiner Morphologischen Hefte, des Anteils gedenkend, den Herder und andere Freunde durch Gespräche wie durch ihre Schriften an der Entwicklung seiner eigenen Ideen hatten. Ein typisch Goethesches Wort, in seiner Generosität nicht weniger als in dem eingestandenen Hang, sich zu verhüllen. Auch den Garten, in welchem, wie ich meine, einige der Schößlinge seines Romans gediehen, hat er uns nicht „benamset". Wie oft las ich dessen ersten Worte mit einem dunklen, aber unabweisbaren Gefühl, hier stecke ein greifbarer Bezug zu einem anderen Kunstwerk, zu welchem, konnte ich nicht sagen. „Eduard...", hebt Goethe an, „Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen." (I, 1, S. 242)2 Nicht daß mir die Wiederkehr desselben Motivs im zweiten Teil des Romans entgangen wäre, 3 oder dessen assoziativer Bezug auf die Platanen, die ihrerseits in geheimer Verbindung zu Ottiliens Leben und Wachstum stehen. Auch der Tatsache, daß Platanen, so ziemlich 1 2

3

Der Inhalt bevorwortet, HA, 13, S. 63. Dem Motiv des Pfropfens geht Paul Stöcklein nach, in: Wege %um späten Goethe, neubearbeitete Auflage, Hamburg 1960, S. 10 und 57 f. Siehe I, 17, S. 350 und II, 8, S. 419.

Zweite,

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wie die Schlangen, sich regelmäßig häuten, war ich eingedenk, und so auch jener weiteren, daß Goethe in seinen Eingangsworten leise an das Geheimnis der Metamorphose rührt, und damit an Eigenstes: sah er unter diesem Bilde doch gern seine eigenen Erneuerungen.4 Der eigentliche Bezug jedoch, der in diesem Auftakt mit mir Versteck spielte, ging mir blitzartig auf, als ich eines Tages Shakespeare's Wintermärchen las und auf folgenden Dialog stieß. Die junge Perdita, ein von Schäfern aufgezogenes, ausgesetztes Königskind, reicht bei einem Schurfest zwei Fremden Blumen zum Willkommen. Es sind Winterblumen; denn, so erklärt sie, in ihrem Garten fehlten die Blumen der Jahreszeit, die spätsommerlichen Nelken und die gestreiften Mauerblümchen (im alten englischen Dialekt übrigens ein Name für lose Mädchen). Von diesen „Bastarden der Natur" halte sie nicht viel. „Weshalb verschmähst du sie?" fragt einer der Ankömmlinge — es ist faktisch der König des Landes, der dem Liebesverhältnis seines Sohnes mit der jungen Schäferin nachspürt. Das schöne Mädchen antwortet freimütig: For I have heard it said There is an art in which their piedness shares With great creating nature. In der Übertragung von Schlegel und Tieck heißt dies so: Ich hörte, Daß, nächst der großen schaffenden Natur, Auch Kunst es ist, die diese bunt färbt. 5 Worauf der König das Mädchen wie folgt belehrt: Say there be: Yet nature is no better by no mean But nature made that mean: so, over that art Which you say adds to nature, is an art That nature makes. You see, sweet maid, we marry A gentler scion to the wildest stock, And make conceive a bark of baser kind By bud of nobler race: this is an art

4

5

Siehe 2. B. „Demut", Sprüche N° 119, HA, 1, S. 324 und das Gespräch mit Eckermann vom 12. Januar 1827. AGA, 24, S. 200 f. Zitiert nach: Shakespeare Sämtliche Werke. I Komödien, übersetzt von August Wilhelm von Schlegel und Ludwig Tieck, hrsg. v. Erich Löwenthal, vierte Auflage, Heidelberg 1978.

Wintermärchen

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Which does mend nature, change it rather, but The art itself is nature. (IV, III, Z. 88 ff.) Schlegel und Tieck übersetzen wie folgt: Seis: Doch wird Natur durch keine Art gebessert, Schafft nicht Natur die Art: so, ob der Kunst, Die, wie du sagst, Natur bestreitet, gibt es Noch eine Kunst, von der Natur erschaffen. Du siehst, mein holdes Kind, wie wir vermählen Den edlern Sproß dem allerwildsten Stamm; Befruchten so die Rinde schlechtrer Art Durch Knospen edler Frucht. Dies ist 'ne Kunst, Die die Natur verbessert, — mind'stens ändert: Doch diese Kunst ist selbst Natur. In diesen Worten — ein bedeutender Shakespeare-Kritiker sieht in ihnen den Mikrokosmos des Dramas 6 — erkannte ich schlagartig jene „durchgreifende Idee", nach welcher Goethe seinen Roman gearbeitet zu haben bekennt. 7 Es ist dies die Idee der Selbsttranszendierung der Natur. Bevor wir diesem Gedanken nachhängen, müssen wir fragen, ob der Goethe von 1809 Shakespeares Komödie kannte. Im April des Jahres 1828 notiert er in seinem Tagebuch: „Shakespeares Wintermärchen im Original" und, in der gleichen Eintragung: „Abends das Wintermärchen". 8 Das nützt uns aber nichts. Wichtiger ist eine Rezension der Oden von Ewald in Frankfurter Gelehrte Anzeigen, in der eine Zeile aus dem Wintermärchen — falsch — zitiert wird. 9 Daß diese unbekümmert sprühende Kritik aus Goethes Feder stammt, ist vermutet worden, auch durchaus möglich; es kann aber nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Aufschlußreicher erscheint mir die frühe Rede Zum Shakespeares-Tag, und zwar aus zwei Gründen. Goethe gesteht, erst wenige von Shakespeares Stücken gelesen zu haben; vielleicht nur eins; welche oder welches, verrät er nicht. Der erste Absatz der Ansprache aber beschäftigt sich ausschließlich mit dem Gedanken der Unsterblichkeit und mit der Tatsache, daß „jeder Mensch... alles müd' wird als zu leben". 10 6

7 8 9 10

George Wilson Knight in: The Crown of Life, Essays in Interpretation of Shakespeare's Plays, Oxford University Press, London, New York, Toronto 1947, S. 105. Im Gespräch mit Eckermann vom 6. Mai 1827. AGA, 24, S. 636. WA, III, 10, S. 179. WA, I, 38, S. 390, N° 63. HA, 12, S. 224.

Final

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Unsterblichkeit aber ist das Thema par excellence von The Winter's Tale) und der zitierte Satz ist eine komprimierte Formulierung genau dessen, worum es in dem aus höchstem Überschwang der Gefühle ins Drastische abrutschenden Eingangsdialog der Komödie geht. Jeder Vorwand sei uns recht, so lange wir nur leben. Dazu kommt — und dies ist mein zweiter, handfesterer Grund —, daß Goethe in seiner Rede das Wort „Delphos" — eine Kontamination aus Delos und Delphi — für das Letztere benutzt. Soweit ich ermitteln kann, ist dies das erste Mal, daß er sich dieses Wortes bedient. „Delphos" aber, in derselben Bedeutung des Orakels zu Delphi wie bei Goethe, fallt dreimal in The Winter's Tale und nur in diesem Stücke Shakespeares, in dem der Rat des Orakels eine entscheidende Rolle spielt. Man darf also mit einiger Gewißheit vermuten, daß Goethe das Stück bereits früh kannte; überdies muß man seine Theatertätigkeit in Weimar und die daraus entspringende Notwendigkeit, nach geeigneten Stücken für sein Repertoire zu fahnden, 11 in Anschlang bringen, von seiner Leidenschaft für den Briten ganz zu schweigen. Das Wintermärchen handelt von dem, was der Titel besagt. Es ist — auf die knappste Formel gebracht — die Geschichte des kummervollen Überwinterns einer totgesagten jungen Frau und ihrer märchenhaften Auferstehung, in der ihr alles, was sie verlor, wiedergeschenkt wird. Ob und wie Hermione aus ihrer Todesstarre erwacht — eingefroren, als ein Gebilde von Künstlerhand wird sie unseren Blicken enthüllt —, bleibt im Dunkeln. Nur dies eine lernen die Beteiligten: It is requir'd You do awake your faith (V, III, Z 94 f.): im deutschen: Ihr müßt Den Glauben wecken. Wie am Eingang der Wahlverwandtschaften ist also in dem angeführten Dialog vom Pfropfen die Rede; und zwar ist die Frage, ob die Veredelung eines Gewächses ein unerlaubter künstlicher Eingriff seitens des Menschen sei oder das Werk der „großen schaffenden Natur". Perdita schlägt sich auf die erste Seite: eine solche Emporzüchtung, meint sie, sei eine künstliche Verfälschung der Natur, nicht weniger sträflich, als wenn sie ihren Florizel 11

Nach C. A. H. Burkhardt, Das Repertoire des Weimarischen Theaters unter Goethes Leitung, 1791 — 1817, Hamburg und Leipzig 1891, ist Das Wintermärchen in diesem Zeitraum nicht aufgeführt worden.

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mit Hilfe von Schminke dazu bewegte, aus ihr ein Kind zu zeugen (IV, 3, Z. 101 ff.). Der von dem angeborenen Adel des einfachen Mädchens betroffene Fremde — es ist faktisch der König des Landes und der Vater ihres Geliebten — weiß es besser. Ihrem Vorurteil gegen die Künstelei hält er die hohe Idee einer Kunst entgegen, wie sie ihm aus dem Mädchen entgegenleuchtet; einer Kunst, die selbst eine Erscheinungsform der „großen schaffenden Natur" sei: denn sind nicht sowohl die Gärtner, die diese Kunst üben, als auch die Pflanzen, an denen sie sich bewährt, Glieder eines natürlichen Ganzen? So kommt er zu dem Schluß, die Kunst, welche die Natur verbessere, zumindest ändere, sei selbst Natur. But The art itself is nature. Selbst das unvergleichlich Verfeinerte, das unnachahmlich Veredelte — wie die scheinbare Schäferin, deren Adel ihm diese Worte entlockt — speist sich aus den Kräften der „großen schaffenden Natur". Das Drama bestätigt diese Aussage. Denn ist nicht Perditas Mutter Hermione ein „edler Spross dem allerwildsten Stamm vermählt"? Wird nicht selbst die totenhafte Kunst, zu der in winterlichem Harren ihr Sein sich emporgesteigert hat, am Ende wieder in den Rhythmus der Natur hineingenommen? Unversehens haben uns diese Vorbemerkungen in das Zentrum von Goethes Roman versetzt. Geht es doch darin um die Frage, ob die Verwandtschaften, die hier „gleichsam übers Kreuz" gestiftet werden (I, 4, S. 275), echte Analoge jener künstlich bewirkten — und kontrollierten — chemischen Affinitäten sind, die in der Unterhaltung der drei Freunde vergleichsweise herangezogen werden — das Wort „Kunst" fallt in der „Gleichnisrede" nicht weniger als sechsmal! —; ob also das „Kunstwort" „Wahl" mit Fug und Recht verwendet wird oder eine bloße Bemäntelung leidigen Naturmüssens darstellt; eine Frage, die um so dringlicher ist, als Goethe selbst in seiner Anzeige des Romanes apodiktisch behauptet, daß „doch überall nur e i n e Natur ist". 12 Dreht sich dieses Werk nicht um die Frage, ob die Künsteleien, die „Kunstmummereien", ja auch die echten Kunsterzeugnisse dieser Späten noch irgendwie aus den Kräften der „großen schaffenden Natur" gespeist werden oder dieser hoffnungslos entfremdet sind? Mit Shakespeare zu reden: Ist diese Kunst „selbst Natur"? Um die Frage weiter, ob die Leben, die hier gelebt werden, ob insbesondere 12

„Selbstanzeige" im „Morgenblatt S. 621.

für gebildete

Stände" vom 6. September 1809. HA, 6,

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Ottiliens Hungertod widernatürlich sind oder ob dieser letztere zumindest dann doch ihrem So-sein gemäß ist? Und schließlich um die heiß umstrittene Frage, wie jene letzten ahnungsvollen Andeutungen eines Weiterlebens und -wirkens Ottiliens, ja einer Auferstehung der Liebenden, auszulegen seien? Stehen wir hier einer frommen Illusion gegenüber, die einen geistigen Bankrott des Dichters spiegelt? Einem echtem religiösen Phänomen? Einem solchen, das transzendent ist, oder einem, das seine Wurzeln im Erdreich der Natur hat? Oder endlich einem solchen, welches sowohl aus der Natur erwächst als auch dieser Natur ¿«/wächst und so sie steigernd vollendet? 2.

Werfen wir einen Blick auf die Künstlichkeit der Gesellschaft, die uns in Goethes Roman entgegentritt. Ihrer ist wahrlich kein Mangel. Seit jeher hat mich das „Du" zwischen Eduard und seiner Frau eigenartig berührt. Der Verkehr zwischen den Gatten verläuft so reibungslos glatt und formvollendet, daß ein „Sie" genau so gut am Platz schiene. Erst mit der Ankunft des so gut wie namenlosen Hauptmanns erhält das zwischen alten Freunden gewechselte „Du" den warmen Klangton der Vertraulichkeit, die diese intime Form der Anrede rechtfertigt. Ist das nicht Künstlichkeit in der zweiten Potenz? Immer wieder werden die Lebensverhältnisse und hoffnungen der Gatten mit Worten wie „Vorsätze", „Pläne", „Absichten", „Anstalten" oder „Einrichtungen" bezeichnet (z. B. I, 1, S. 246). Charlotte hat sich in Gedanken aus den gemeinsamen Plänen den ersten wahrhaft fröhlichen Sommer ihres Lebens „zusammengebaut" (II, 1, S. 247). Eduards Treue zu seiner spät erlangten Gattin wird als „hartnäckig, ja romanenhaft" charakterisiert (I, 2, S. 249). In der verhängnisvollen Nacht küßt er ihren Schuh, wie es im Buche steht (1,11, S. 321). Des Hauptmanns Steuermannskünste — sie sind der Ausdruck jener Selbstbeherrschung, welche der typischste Zug dieser aus typischen Zügen bestehenden Figur ist — schildert der Erzähler in geschraubten Redewendungen, die ans Lächerliche grenzen, und zwar fraglos mit voller Absicht. Ich zitiere die gedrechseltste der Formulierungen: „...[Charlotte] sah nunmehr... den Mann, um den sie im stillen schon soviel gelitten hatte, in der Dämmerung vor sich sitzen und durch die Führung zweier Ruder das Fahrzeug in beliebiger Richtung fortbewegen" (I, 12, S. 324). Ist das der Jüngling der wunderlichen Nachbarskinder, der um der Geliebten willen Wasser und Tod nicht scheut?

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Bei aller Leidenschaft der drei Freunde für das Natürliche muten deren landschaftlichen Entwürfe den Leser nicht minder künstlich an. Die mit Moos gedeckte Hütte sowie auch die mit Weizenbüscheln untermischten künstlichen Blumen stimmen nachdenklich: die Grenze zwischen Schein und Wirklichkeit verläuft nicht recht säuberlich. Selbst die Aussicht von dem scheinbar so anspruchslosen Ort zeigt „die Landschaft gleichsam im Rahmen" (I, 1, S. 243). So entzündet sich auch die Freude der zwei Männer über die Verbesserung von Charlottes Stufenweg an den verschiedenen Grundrissen der Anlagen „in ihrem ersten, rohen Naturzustande" und anderen, in denen die Veränderungen eingezeichnet sind, „welche die Kunst daran vorgenommen" (I, 6, S. 288). Mit dem aus den drei ursprünglichen Teichen wiederhergestellten Gebirgssee verhält es sich nicht anders. Es ist eine von Epigonen ahnungslos zitierte Natur, die hier „zusammengebaut" wird: und die wirkliche wird sich rächen. Auch der in „einen schönen, bunten Teppich" (II, 1, S. 361) verwandelte Gottesacker regt in den Beteiligten sowie in dem Leser das Gefühl einer Täuschung, eines ängstlich Vermiedenen, ja eines unwiederbringlich Verlorenen auf. Wie plan nimmt sich diese klinische Übertünchung eines monolithischen Urfaktums neben dem Worte „Auferstehungsfeld" (II, 2, S. 366) aus, welches der Erzähler ganz beiläufig in seine Schilderung einflicht, wie kühl neben Ottiliens herzlichem, von biblischen Assoziationen getränkten „Zu den Seinigen versammelt werden" (II, 2, S. 369)! Wie oft fallen in diesen ernsten Anfangskapiteln des zweiten Teiles, die von „Vergänglichkeit und Hinschwinden" handeln (II, 4, S. 376), verniedlichende Worte wie „Zier" und Zierat, 13 ganz zu schweigen von dem „Putzhaften" des Koffers, in dessen mit Tuch beschlagenen Schubfächern der Architekt die Überreste alter Grabstätten herumträgt, so daß man „mit Vergnügen darauf wie auf die Kästchen eines Modehändlers hinblickte" (II, 2, S. 367). Und ist nicht Eduards Geburtstagsgeschenk für Ottilie, jener „niedlichste Koffer, mit rotem Saffian überzogen, mit Stahlnägeln beschlagen" (I, 14, S. 333) — dieser Koffer wird ihr Sterbegewand enthalten — eine höchst verspielte und künstliche Travestie dessen, was „einer solchen Schale 13

Siehe z. B. II, 2, S. 365, Z. 31; S. 366, Z. 3, 23, 32; S. 367, Z. 16, 17. Was es jedoch wirklich mit der Verwendung dieser Worte in diesem Zusammenhang auf sich hat, erhellt aus folgender Stelle in „Der Sammler und die Seinigen": „Sind die toten Töchter und Söhne der Niobe nicht hier als Zieraten geordneti Es ist die höchste Schwelgerei der Kunst! sie verliert nicht mehr mit Blumen und Früchten, sie verliert mit menschlichen Leichnamen..." (HA, 12, S. 77). Derartige Resonanzen aber verschweigt der Dichter, wie so oft. (Hervorhebung I. G.).

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würdig" ist (ebd.)? 14 Wir werden auf diesen Koffer, diese Schale, noch zu sprechen kommen. Am freiesten ergeht sich der Kunstsinn dieser Gesellschaft in den mannigfachen Gebäuden, die da errichtet und wiederhergestellt werden. Da ist die Mooshütte, da ist „jenes Lusthaus", dessen Grundsteinlegung an Charlottes Geburtstag und dessen Richtfest an dem von Ottilie stattzufinden synchronisiert sind — das Wort fallt ironischerweise zum ersten Mal, nachdem in dem reiferen der Paare die Notwendigkeit eines alles andere als lustvollen Verzichtes aufgedämmert ist (I, 14, S. 333) —; und da ist schließlich die Kirche und insbesondere die Kapelle, an welcher man unbekümmert seinen Kunsttrieb pflegt, mauert, putzt und nach Vorlagen malt, bis Ottilie, in dem „engen Raum" sitzend (II, 2, S. 366), der Tatsache gewahr wird, daß dieser ausgeschmückte Ort, „wenn er nicht bloß eine Künstlergrille bleiben, wenn er zu irgend etwas genutzt werden sollte, nur zu einer gemeinsamen Grabstätte geeignet schien" (II, 2, S. 374). Ironie über Ironie — oder so jedenfalls will es scheinen. All diesem künstlichen Gebaren setzt die unbestrittene Koryphäe des adligen Kreises, dem die Freunde angehören, Charlottes Tochter Luciane die Spitze auf. Luciane spricht fremde Sprachen, Luciane spielt vom Blatt, Luciane tanzt und rezitiert, Luciane ist blendend schön, selbst anmutig, nur daß ihr, flicht der Erzähler ein, „wenn sie sich bewegte,... manchmal etwas störendes Ungraziöses entschlüpfte" (II, 5, S. 392). Angefahren kommt sie mit einem Kometenschwanz von Kammerjungfern und Bedienten, mit Freundinnen und Bräutigam, „Brancards mit Koffern und Kisten" (II, 4, S. 377). „Da lag das Vorhaus voll Vachen, Mantelsäcke und anderer lederner Gehäuse. Mit Mühe sonderte man die vielen Kästchen und Futterale auseinander. Des Gepäckes und Geschleppes war kein Ende" (II, 4, S. 377). Aus diesen „Gehäusen" — der Erzähler unterstreicht sein Motiv mit offenbarer Absicht 15 — kommt ein schier unendlicher Vorrat von Garderobe an den Tag. Luciane verkleidet sich aufs KünstlichstNatürlichste, sie narrt und neckt alle Anwesenden und verwirrt durch ihr koboldhaftes Wesen „das Gegenwärtige und das Eingebildete" (II, 4,

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Die Zusammengehörigkeit der zwei Koffer ist bereits von Walter Benjamin festgestellt worden (in: Illuminationen, Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Siegfried Unseld, Frankfurt/M. 1961, S. 82). Ich ziehe andere Folgerungen aus derartigen Todessymbolen, wie später deutlich werden wird. Der wirkliche Grund für die Betonung derartiger scheinbarer Äußerlichkeiten wird in Abschnitt 4 dieser Arbeit offenbar werden.

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S. 379) dergestalt, daß ihr Treiben einen Anflug von Beklemmung erregt. Ja, ihre allzuheftige und von Gesten begleitete Deklamation zieht den leisen Unwillen des sonst so verhaltenen Erzählers auf sich, indem ihre Vortragsart die Grenzen der literarischen Gattungen „auf eine unangenehme Weise" verwirrt (II, 5, S. 391). Wir horchen auf. Die gesamte klassische Ästhetik stellt sich auf die Hinterbeine bei dieser Vermischung des Getrennten im Dienste einer unreinlichen Verquickung von Kunst und Wirklichkeit, von Sein und Schein, eine Strudelei, die für Goethe sowie für Schiller und Kant die imitative Nichtkunst von der Kunst wie durch undurchdringliche Mauern abtrennt. Und dieser Einbruch der grauen Theorie bei ihrem im übrigen so elementaren Wesen! Diese Ungereimtheit verdichtet sich alsbald in Lucianes Pantomimen und lebenden Bildern, in denen sie, selbstisch wie sie ist, ihre Schönheit in das hellste Licht zu setzen weiß, oder auch nicht weiß. Immer drängt sich ein ungelöster Rest von Wirklichkeit in ihren Darstellungen vor: man denke an die Pantomime der Artimesia, die allmählich der Witwe von Ephesus zu ähneln beginnt und völlig ins Lachhafte absackt, wenn der Begleiter, ihrer Ziererei überdrüssig, ein lustiges Thema anschlägt, oder auch an Terburgs „Väterliche Ermahnung", wo „die Mutter... Nase und Augen nicht aus dem durchsichtigen Glase [brachte], worin sich, ob sie gleich zu trinken schien, der Wein nicht verminderte" (II, 5, S. 394). Aber das Lächerliche ist Lucianes Element; nicht zufällig gelten ihr die Affen als „die eigentlichen Incroyables" (II, 4, S. 383), jene menschenähnlichen und abscheulichen Geschöpfe, mit denen sie Hinz und Kunz denn auch unbarmherzig vergleicht. Auch darauf werden wir noch zurückkommen. Der Erzähler zieht die Summe aus derlei „künstlerisch Bemühn", wenn er Luciane die Fähigkeit nachrühmt, ihre Zuschauer in eine andere Welt zu versetzen und diskret hinzufügt: „nur daß die Gegenwart des Wirklichen statt des Scheins eine Art von ängstlicher Empfindung hervorbrachte" (II, 5, S. 393). Luciane ist sowohl elementarste Natur als auch geschminkte Unnatur, eben jene Unnatur, vor der die des Truges so unfähige Perdita zurückschreckt. Sie ist das Sinn-, aber auch das Zerrbild einer späten Gesellschaft, die sich müßiggängerischer Künstelei hingibt, dabei aber von den dämonischen Gewalten einer wandellos feindseligen Natur untergraben wird. Wo aber finden wir „die große schaffende Natur" Shakespeares, die, in der der junge Goethe sich geborgen wußte, eine gütige Natur, die den Menschen bei der Hand nimmt und aus ihren gehaltreichen Tiefen einer edleren

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Seinsform entgegenführt? Eine Natur, die ihre Formen zur Höhe der Kunst steigert und darüber hinaus zu „ewigem lebendigen Tun" 16 im „Anschaun ewiger Liebe" 17 entläßt? 3. Bislang ist der Name Ottiliens kaum gefallen. In den hier dargelegten Zusammenhängen war dies nicht möglich. Wenden wir uns dem stillen Mädchen zu, deren Leben und Weben „ohne einen Schein von Unruhe, ein ewiger Wechsel, eine ewige angenehme Bewegung [war]" (I, 6, S. 284). Ist es nicht, als träte uns in diesen Worten die gestaltgewordene Metamorphose entgegen? Walter Benjamins vernichtende Attacke auf Gundolf, der in dieser Gestalt ein pflanzenhaftes Dasein erblickt, ist genugsam bekannt. 18 Benjamin führt seinen Krieg mit scharfen Waffen. Dennoch ist Goethes Intention unverkennbar. Gleich zu Anfang, als Charlotte ihren Mann mit Ottilies mißlicher, aus ihrem Wesen entspringender Lage bekannt macht, legt der Erzähler dieser ihrer Pflegemutter auffällig viele Worte auf die Lippen, die auf stilles Wachstum deuten. Ein „so schön heranwachsendes Mädchen" wolle sich nicht „entwickeln", so wie Ottiliens Mutter, der sie vollauf gleiche, sich neben ihr „entwickelt" habe. 19 Sie aber wolle das Kind zu einem herrlichen Geschöpf „heraufbilden" (I, 2, S. 251). Ein wenig später lobt sie Eduard, der einst um ihretwillen „über die aufblühende, versprechende Schönheit" der Jüngeren hinweggesehen hätte (I, 2, S. 253). Am bedeutsamsten jedoch sind die dem Briefe der Pensionsvorsteherin beigelegten Worte des Gehülfen. In diesem, die Hauptpersonen exponierenden, einleitenden Teil des Romans darf der Gehülfe als eine Art chorische Person angesehen werden; ein Pädagoge,

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Eins und Alles (HA, 1, S. 368 f.). Höheres und Höchstes (HA, 2, S. 116 f.). In: Illuminationen (siehe Anmerkung 14), S. 83 ff. Dagegen begreift Stöcklein (siehe Anmerkung 2) Ottilie als „Dieses... ebenso geistige als pflanzenhafte Menschenwesen" (S. 21). Dieser Satz ist ein gutes Beispiel einer Periode, die man im Kreise Herders und des jungen Goethe „die homiletische Schlachtordnung" nannte. Dem Luciane gewidmeten, in sechs Konditionalsätzen gegliederten Vordersatz folgt ein kurzer, auf Ottilie bezüglicher Hauptsatz, in dem so gut wie nichts ausgesagt wird: von dem Gesichtspunkt der Vorsteherin aus gesehen, ist dies Abfallen eine Antiklimax; von dem des Erzählers und Dichters bedeutet es eine Vorbereitung auf Ottiliens Unsagbarkeit, ein Wesenszug, der in ihrem pflanzenhaften Dasein angelegt ist und in ihrem Schweigen zum Tragen kommen wird.

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der seinen Zögling durchschaut und für den Leser umreißt, ohne durch seine persönlichen Gefühle das so entworfene Bild zu verwirren. Der tätigen Prinzipalin sei es nicht zu verargen, schreibt er, daß sie wünsche, man solle „die Früchte ihrer Sorgfalt äußerlich und deutlich sehen"; und fügt in einem jähen Umschlag des Bildes hinzu: „aber es gibt auch verschlossene Früchte, die erst die rechten, kernhaften sind und die sich früher oder später zu einem schönen Leben entwickeln. Dergleichen ist gewiß Ihre Pflegetochter" (I, 3, S. 264). Wir stehen hier vor dem ersten ausgeformten Sinnbild von Ottiliens Wesen und werden gut daran tun, es nicht aus den Augen zu verlieren. In gedrängter Dichte folgt nunmehr Bild auf Bild von pflanzlichem Wachstum. Gegen Eingang des zweiten Teiles, als Ottilie beim Ausmalen der Kapelle Hand anlegt, fallen bedeutungsschwere Worte. Sie malt faltenreiche Engelsgewänder und insbesondere „Blumen und Fruchtgehänge", welche, die leeren Räume der Wände ausschmückend, „Himmel und Erde gleichsam zusammenknüpfen sollten" (II, 3, S. 372). Über Ottiliens überraschende Anstelligkeit bemerkt der Erzähler, daß „sich in ihr das... Empfangene mit einmal zu entwickeln schien" (II, 3, S. 371); sodann, genereller, daß wir mit Ehrfurcht ein Gemüt betrachten, „in welchem die Saat eines großen Schicksals ausgesäet worden, das die Entwicklung dieser Empfängnis abwarten muß und weder das Gute noch das Böse, weder das Glückliche noch das Unglückliche, was daraus entspringen soll, beschleunigen darf und kann" (ebd.). Um wessen Empfängnis handelt es sich hier? Charlotte ist schwanger — auf diese Tatsache weist der Erzähler hier und im folgenden hin; aber sowohl die vorhergehende Erwähnung des von Ottilie durch früheren Unterricht „Empfangenen" wie auch das Bildfeld als Ganzes, welchem die zitierte Stelle zugeordnet ist, und besonders das „dürfen", welches eine sittliche Wahl voraussetzt, entheben uns jeden Zweifels daran, daß hier von einer geistigen Empfängnis seitens der jungfräulichen Ottilie die Rede ist; 20 und zwar in dem streng durchgehaltenen Bilde von „Saat", „säen", „entspringen" und jener Unabwendbarkeit eines natürlichen Ablaufs, welche in dem „soll" beschlossen liegt. Der in diese „verschlossene Frucht" längst eingesenkte Samen wird nunmehr

20

Die entgegengesetzte Ansicht vertritt H. G. Barnes .Wahlverwandtschaften' ", Deutsche Vierteljahrsschrift, ebenso derselbe in: Die Wahlverwandtschaften. A Literary Daß diese Auslegung unhaltbar ist, dürfte aus der erhellen.

in: „Bildhafte J G 30, 1956, Interpretation, vorliegenden

Darstellung in den Band XXX, S. 45; Oxford 1967, S. 55. Arbeit als Ganzem

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befruchtet, durch die Berührung mit der Kunst, und zwar mit einer solchen, die einem „frommen Werk" dient (II, 2, S. 366). Engelsgewänder malt Ottilie. Diese aber sind ein von biblischen Assoziationen sowie von Dante und Shakespeare gespeistes Symbol der Auferstehung. Auf solche Zusammenhänge deutet auch das „Säen". Davon war bereits früher die Rede gewesen. Die „holprigen Grabstätten" hatte Charlotte mit einem „schönen, bunten Teppich" „verschiedener Arten Klee besäet, der auf das schönste grünte und blühte" (II, 1, S. 361). „Säen" also meint Leben in und aus dem Tode, ganz nach den Worten Christi, wie der Apostel Johannes sie berichtet. 21 „Si le grain ne meurt..." Mit den Blumen und Fruchtgehängen jedoch ist Ottilie „ganz in ihrem Felde" (II, 3, S. 372). Sie malt Sonnenblumen und jene sternartigen Astern, welche im zweiten Teil des Romans leitmotivisch wiederkehren. Der Name „Aster" rührt von den lateinischen und griechischen Worten für „Stern" her. Der Vermutung eines bedeutenden Kritikers zuwider 22 haben auch Astern Früchte, kleine Samenkapseln, welche an zarten Fäden wie an Fallschirmen hängend vom Winde verweht ausgestreut werden. In seiner Schilderung des nächsten Frühlings wird der Erzähler, vorgreifend, „die Frucht ihres [d. h. Ottiliens] Vorsehens" schildern (II, 9, S. 423): von den Astern im besonderen wird er da sprechen, die, „in der größten Mannigfaltigkeit gesäet... nun... einen Sternhimmel über die Erde bilden [sollten]" (II, 9, S. 425). Diese mit Ottilie verbundenen, frucht- und samenreichen Blumen werden uns also doppelt als „Himmel und Erde gleichsam zusammenknüpfend" (II, 3, S. 372) und doppelt in ihrer Sternhaftigkeit eingeprägt: einen Kranz von Astern, „die wie traurige Gestirne ahnungsvoll glänzten" (II, 18, S. 485), wird man der toten Ottilie auf das Haupt setzen. Fast möchte es scheinen, als sei die „verschlossene"..., „die rechte, kernhafte" Frucht Ottiliens dann doch nicht zur Vernichtung bestimmt. Denn der Samen, der „gewaltsam" zusammengezogene, 23 aus „innerer Kraft" wirkende 24 und aus dieser sich seine lebensnotwendigen Hüllen schaffende Teil dieser Pflanze lebt fort. So jedenfalls spricht Goethe in seiner Metamorphose der Pßan^en25 von den Sonnenblumen, jenen anderen Blumen, die „noch immer ihr Angesicht gen Himmel [wendeten]" (II, 3, S. 374), welche der malenden Ottilie zum Vorbild dienen. 21 22 23 24 25

Johannes 12, 24. Paul Stöcklein (Anmerkung 2), S. 58 ff. Die Metamorphose der Pflanzen, XI, Von den unmittelbaren Ebenda. Siehe Anmerkung 23.

Hüllen des Samens, HA, 13, S. 89.

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4. In seinen Metamorphosenschriften bezeichnet Goethe die Frucht einer Pflanze wiederholt und nachdrücklich als „Gehäuse" oder auch „Behältnisse". „Wir reden hier eigentlich", schreibt er in dem Von den Früchten betitelten Abschnitt, „von solchen Gehäusen, welche die Natur bildet, um die sogenannten bedeckten Samen einzuschließen, oder vielmehr aus dem Innersten dieser Gehäuse durch die Begattung eine größere oder geringere Anzahl Samen zu entwickeln." 26 Für uns eröffnet dieser Terminus technicus neue und ungeahnte Perspektiven. Unversehens werden die Häuser, deren es in diesem Roman so viele gibt, in den Blickwinkel organisch-vegetabilischen Wachstums gerückt: jenes Lusthaus, dessen Lage Ottilie konzipiert und dessen Richtfest ihr zu Ehren begangen wird, die Kirche und, insbesondere, der „enge Raum" jener Kapelle (II, 2, S. 366), die sie ausmalen hilft, in welcher sie ruhen, vielleicht auch erwachen wird. In dem wiederholten Rhythmus von Ausdehnung und Zusammenziehung, der den Gang der Pflanzenmetarmorphose bewirkt, bezeichnet die Frucht die physisch weitaus größte, der Samen die weitaus zusammengedrängteste Entwicklungsphase. Einen ähnlich diastolisch-systolischen Umschlag vermeinen wir auch in dem Lebensrhythmus der Romangestalten zu spüren, in den Anlagen, in welchen ihr jeweiliges Lebensgefühl sich niederschlägt, am ausdrücklichsten aber in den Bauten, mit deren Errichtung oder Wiederherstellung sie sich die Zeit vertreiben. Eduards Vater hat ins abgemessen-Enge gestrebt, dieser strebt ins Unendliche; Charlotte ihrerseits trachtet danach, wieder in das enge Gleis der Vergangenheit einzulenken und ihre zerrüttete Ehe zu salvieren: ein dialektischer Ablauf, der sich in den Anlagen spiegelt und in Charlottens banger Frage, ob man „aus diesem in einen andern, in den vorigen Zustand zurückkehren könne" (II, 8, S. 418). Der Gehülfe räumt diese Möglichkeit ein. Pendeln doch ganze Generationen zwischen einem sich-Ausbreiten und einem sich wieder in die Enge ziehen, fangen doch die einmal von Mangel gepreßten Verschwender ganz von allein wieder an, das ihrige ab- und einzuzäunen. Auch Charlottens Sohn prophezeit er, daß er „die sämtlichen Parkanlagen vernachlässigt und sich wieder hinter die ernsten Mauern und unter die hohen Linden seines Großvaters zurückzieht" (II, 8, S. 418 f.). Wie überall, spiegelt sich also diese diastolisch-systolische Bewegung in den Behausungen, die man so eifrig erbaut oder restauriert. Auf die 26

Die Metamorphose der Pflanzen, X, Von den Früchten, HA, 13, S. 86.

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enge Mooshütte folgt das, den „Blüten- und Fruchtstand" bezeichnende geräumige „Lusthaus", auf dieses die dem Kloster benachbarte, „kleinere" Kirche, darauf wiederum der „enge Raum" der „wenig bemerkten kleinen Seitenkapelle" (II, 2, S. 366) und darauf — brauche ich es zu sagen? — der Sarg, der in diesem engen Räume ruhen wird. Diese mannigfachen „Gehäuse" sind insgesamt geheime Sinnbilder der Frucht, die sich am Ende ihres Wachstumszyklus' wieder dem Anfang zuneigt und den in sich gedrängten Samen aus sich entläßt. Von diesen Häusern wird in der Zukunft wenig oder auch gar nichts übrig bleiben. Bei der Grundsteinlegung — also am Anbeginn des vermeintlich zur vollsten Lebenslust bestimmten Gebäudes — deutet der wortfreudige Geselle daraufhin: „...indem wir hier gleichsam einen Schatz vergraben, so denken wir zugleich... an die Vergänglichkeit der menschlichen Dinge", sagt er; „wir denken uns eine Möglichkeit, daß dieser festversiegelte Deckel wieder aufgehoben werden könne, welches nicht anders geschehen dürfte, als wenn das alles wieder zerstört wäre, was wir noch nicht einmal aufgeführt haben" (I, 9, S. 302): — eine Betrachtung, die in die Zukunft weist, zu jenem putzhaften Koffer, in welchem der Architekt Überreste alter, von ihm selbst entsiegelter Gräber herumträgt, ja, vielleicht zu dem künftigen Schicksal von Ottilies und Eduards so liebevoll gehegter Ruhestätte. Am nachdrücklichsten aber gemahnen die munter-makabren Worte des Gesellen an eine Tagebucheintragung Ottilies, die ihrerseits von der so ungereimten Grabschändung des pietätvollen Architekten ausgelöst wird. Wir lesen: „Wenn man die vielen versunkenen, die durch Kirchgänger abgetretenen Grabsteine, die über ihren Grabmälern selbst zusammengestürzten Kirchen erblickt, so kann einem das Leben nach dem Tode doch immer wie ein zweites Leben vorkommen, in das man nun im Bilde, in der Überschrift eintritt und länger darin verweilt als in dem eigentlichen lebendigen Leben. Aber auch dieses Bild, dieses zweite Dasein verlischt früher oder später. Wie über die Menschen, so auch über die Denkmäler läßt sich die Zeit ihr Recht nicht nehmen" (II, 2, S. 370). Dies ist vielleicht die melancholischste aller Betrachtungen Ottiliens. Aber sie sagt darin mehr, und anderes, als ihr selbst bewußt ist. Gehäuse meinen in der Geheimschrift dieses Dichters Früchte. Die bald unter jenen schlanken Bäumen verfaulenden roten Beeren erinnern uns nicht nur „an etwas Munteres"; diese samenhaltigen Früchte sind voll von Zukunft. Das kahle Stoppelfeld, auf welchem der Wind nichts mehr zu bewegen findet, birgt in der abgesichelten Ähre „soviel Nährendes und Lebendiges", ja,

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selbst der Taktschlag des Dreschers erweckt uns diesen Gedanken (II, 3, S. 376). Eine immer höher sich türmende Trümmerhalde — sei es nun das von winterlichen Hülsen bedeckte Feld, seien es von Ruinen verschüttete und versunkene menschliche Gräber — entzieht schließlich das schaffende Mark verborgenen Lebens unseren Blicken, und wir meinen, es erlösche. Solcher deckenden Hüllen aber bedarf es, damit es fortwirken kann. In Die Absicht eingeleitet hören wir von einem „wichtigen Grundsatz der Organisation": „daß kein Leben auf einer Oberfläche wirken und daselbst seine hervorbringende Kraft äußern könne; sondern die ganze Lebenstätigkeit verlangt eine Hülle, die gegen das äußere rohe Element, es sei Wasser oder Luft oder Licht, sie schütze, ihr zartes Wesen bewahre, damit sie das, was ihrem Innern spezifisch obliegt, vollbringe. Diese Hülle mag nun als Rinde, Haut oder Schale erscheinen, alles was zum Leben hervortreten, alles was lebendig wirken soll, muß eingehüllt sein. Und so", folgert Goethe, „gehört auch alles, was nach außen gekehrt ist, nach und nach frühzeitig dem Tode, der Verwesung an. Die Rinden der Bäume, die Häute der Insekten, die Haare und Federn der Tiere, selbst die Oberhaut des Menschen sind ewig sich absondernde, abgestoßene, dem Unleben hingegebene Hüllen, hinter denen immer neue Hüllen sich bilden, unter welchen sodann, oberflächlicher oder tiefer, das Leben sein schaffendes Gewebe hervorbringt." 27 Diese im Jahre 1807, also zwei Jahre vor den Wahlverwandtschaften, wie der Roman im stillen Jena geschriebenen Worte klingen alles andere als melancholisch; und doch erwachsen sie aus dem Anschauen derselben Gesetzlichkeit, die Ottilie in dem unaufhaltsamen Dahinschwinden menschlicher Ruhestätten vor Augen schwebt; nur daß der Dichter diese Gesetzlichkeit auf ihren organischen Urgrund zurückgeführt hat. Aus solchem Anschauen aber erwächst ihm eine unerschütterliche Zuversicht. Die eben zitierte Maxime ist schlechthin unschätzbar für das Verständnis unseres Romans und des symbolischen Gewebes, aus dem sich dessen Gehalt speist. Das Schloß, die Mooshütte, das Lusthaus, die Kirche und die Seitenkapelle — all diese sind Hüllen oder, wenn man will, Rinden und Häute, die, sich immer dichter.um einen geheimen Lebenskern herumbildend, diesen zu verschütten scheinen und unseren Blicken entziehen. Die innerste dieser Hüllen — „Gehäuse" oder „Behältnisse" sagt Goethe — ist Ottiliens „köstlicher Koffer", welcher die ihr Wachstum befruchtenden Lebens- und Liebeskräfte in sich birgt, aus dem sie sich jenes Sterbegewand 27

Die Absiebt eingeleitet.

HA, 13, S. 58 f.

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vorbereitet, das gleichzeitig — wie das der wunderlichen Nachbarskinder — ihr Hochzeitsanzug ist: eine neue, ätherische Hülle, die den noch immer schönen Leib bedeckt. Dieser Leib aber, die zarteste aller Hüllen, liegt, ein „offenbar Geheimnis", in dem gläsernen Sarg. Diesem Symbolkreis gliedern sich auch Ottiliens Kunstbetrachtungen mühelos ein. Im biblischen Gebrauch meinen „Tempel", „Palast" oder „Haus" „Körper", „Kleid von Fleisch"; und so auch für Goethe. 28 Was sind die Tempel, die Säle und Paläste, die der Baumeister zusammen mit dem Schlüssel dem Reichen übergibt, ja, was selbst die Monstranz, die der Goldschmied nur von fern anbetet, wenn nicht Hüllen oder Häute, die der Mensch in seinem Wachstum schlangenartig abstreift? und wer mehr als der Künstler? „Alter", definierte Goethe einmal, sei „stufenweises Zurücktreten aus der Erscheinung". 29 Auf niemanden trifft dieses erstaunliche Wort schlagender zu als auf den immerfort alternden und immerwährend sich erneuernden Künstler. Indem er sein Werk nährt, entkörpert er sich und verhüllt sich von neuem hinter der abgestoßenen Haut seines Selbst. Im Schaffensprozeß erfahrt er eine ungeahnte Wandlung und Verjüngung; und die soeben abgestreifte Hülle wirkt, „wie ein ausgestattetes Kind" (II, 3, S. 375), nicht mehr auf ihn zurück. 30 Sein vergangenes Bestes lebt fort in seinem Werk, sein gegenwärtiges und zukünftiges Bestes harrt neuer Formen und Gehalte. Wie organisch knüpfen sich an solche Kunstbetrachtungen Ottiliens abschließende Worte über das abklingende Jahr, über jene natürlichen Hülsen, die roten Beeren und die das Stoppelfeld deckenden abgesichelten Ähren! 5. Künstlerisches Schaffen als ein anhaltender Prozeß von „Stirb und werde": jetzt, im Gefolge von Ottiliens ernsten Betrachungen, stoßen wir unversehens auf das Naturgesetz, das dem wahrhaft künstlerischen Menschen innewohnt. Ottilie kennt es, denn sie lebt es. Ist sie doch selbst eine in hohem Grade schöpferische Natur. 31 In ihren lebenden Bildern, und nur 28 29 30

31

Den Implikationen dieser Tatsache gehe ich in Kapitel 14 dieser Studie nach. In: Maximen und Reflexionen. HA, 12, S. 470, N° 748. Dieses Thema wird eingehend behandelt in: I. Graham, Goethe and Lessing. The Wellsprings of Creation, London 1973, Kapitel 6 und 7; sowie in I. Graham, Goethe. Portrait of the Artist, London und New York 1977, Kapitel 1 und 2. Diese These ist in: Goethe. Portrait of the Artist (Anmerkung 30) in dem den „Wahlverwandtschaften" gewidmeten, neunten Kapitel unterbaut.

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in ihnen, wird das Gesetz offenbar, dem eine solche Natur untersteht. Das Gemüt, „in welchem die Saat eines großen Schicksals ausgesäet" worden ist (II, 3, S. 371), enthüllt auf einen Augenblick das Empfangene, das es auszutragen im Begriff ist. Es ist das Heilige. Hinter dem ganz reinen Schein des „göttlich-menschlichen" Kindes (II, 6, S. 403), der noch die ätherischen Leiber der davorstehenden Engel „verdichtet" und verdunkelt — „lichtsbedürftig" macht, schreibt Goethe und deutet damit sein Johanneisches Erbe an — hinter diesem ganz ungetrübten Schein verschwindet die zur Rolle der Gottesträgerin Auserkorene; und diese aus angestammter Bereitschaft zu dienen geborene Selbstentäußerung unterscheidet Ottiliens Darstellung von denen Lucianes und macht ihre Verkörperung der „neugeschaffenen Himmelskönigin" (II, 6, S. 404) so demutsvoll und so innig wahr. Daß Ottiliens Darstellung „ein Kunstgebild' der echten Art" ist, 32 unterliegt keinem Zweifel. Nur einige Erwägungen seien hier angeführt. Wie für Shakespeare so auch für Goethe ist die Kunst „eine andere" oder „eine zweite Natur". 33 Das Wort „Gebilde", das der Erzähler für Ottiliens Darstellungen — und nur für diese! — verwendet (II, 6, S. 404, Z. 28), deutet auf diese doppelte Patenschaft hin. Bezeichnet es doch sowohl Wachstümliches als auch kunstmäßig Geformtes. So ist es also lebens- und naturnah. Ein Aspekt des Lebens aber und der Natur ist der Tod; und wo mehr als in diesem Roman? So ist die Kunst auch diesem verschwistert. Shakespeare bedeutet uns dies in der Gestalt der Hermione, die, ungewiß zwischen Tod und Leben schwebend, uns als Statue entgegentritt. Damit sagt er uns etwas über das Wesen der Kunst. Diese muß dem Tod benachbart sein. Denn aus der Flut der Erscheinungen erhascht sie diejenige, die das Gemeinte am reinsten beschließt; und diese optimale Erscheinung läßt sie sich verfestigen, gerinnen. „Solideszieren" nennt Goethe diesen Verfestigungsprozeß in Verbindung mit seiner Helena. 34 Einem so eingefrorenem Stück Leben aber haftet etwas Totenhaftes an, wie dem 32 33

34

E. Mörike: Auf eine Lampe. Siehe den Brief an den Herzog Carl August vom 25. Januar 1788, WA, IV, 8, S. 328. Maximen und Reflexionen, HA, 12, S. 467, N° 722, sowie „Diderots Versuch über die Malerei", AGA, 13, S. 210. In dem hiesigen Zusammenhang ist es relevant, hinzuzufügen, daß für Goethe Shakespeares selbst Natur war. Cf. sein: „Und ich rufe: Natur! Natur! nichts so Natur ais Shakespeares Menschen", sowie das Aperçu, daß aus Shakespearen die Natur weissagt (in: Zum Shakespeares-Tag, HA, 12, S. 226 f.). In einem Brief an Nees von Esenbeck vom 24. Mai 1827, WA, IV, 42, S. 198. Siehe dazu meine Ausführungen in Kapitel 11 und 18 dieses Buches.

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vereisten Wassersturz, wie — mit Goethe zu sprechen — einer Welle, „versteinert im Augenblick, da sie gegen das Ufer anströmt". 35 Von Ottiliens lebendem Bild aber erfahren wir: „In diesem Augenblick" — d. h. im Augenblick der Enthüllung des Christkindes auf ihrem Schoß — „schien das Bild festgehalten und erstarrt* zu sein" (II, 6, S. 404). Und wiederum: „Ihr Herz war befangen, ihre Augen füllten sich mit Tränen, indem sie sich zwang, immerfort als ein starres* Bild zu erscheinen" (II, 6, S. 405). Noch in anderer Weise erfährt Ottilie den totenhaften Aspekt der Kunst. Der Augenblick, in dem sie das lebende Bild festhält — der „prägnante" Augenblick, wie Goethe ihn nennt — ist der der jungfräulichen Mutterschaft. Die „scheinbare Mutter" (II, 6, S. 403) spielt die Rolle der jungfräulichen Mutter. Goethe erachtete diese für den erhabensten Gegenstand der Kunst. 36 Warum? Er tat es, weil diese widernatürliche Gestalt par excellence das breite Spektrum eines natürlichen Entwicklungsganges „ins Enge" zieht 37 und so maximale Symbolhaftigkeit erlangt. Als Mensch breitet sich der Schaffende innerhalb der Diastole dieses Lebensspektrums aus: er schwimmt in ihm, gleichsam wie in einem Fluß. Als Künstler aber verfahrt er systolisch: bannt er doch Gegenwart und Zukunft in den einzigen, ausgezeichneten Moment. Hier, in Ottiliens lebendem Bilde, fallt der diastolische und systolische Pendelschlag des Lebens in Eins zusammen, wie nur noch in einem einzigen Geschehen dieses Romans: in dem Taufakt des Kindes, dem der Tod des Geistlichen auf dem Fuße folgt (II, 8, S. 422). „Diese ungeheuern Gegensätze zusammenzufassen" (ebd.) kommt einer Vergewaltigung des lebendigen Gefühls gleich. Gerade diese Vergewaltigung findet jedoch in der Kunst statt, in jedem ihrer „Augenblicke". Charlotte, die unter den Zuschauern sitzt, ist eine werdende Mutter. Nie hätte sie Ottiliens Rolle übernehmen können, weil die Natur, „in ihrer großen Breite, leicht in Häßlichkeit ausartet", 38 die Kunst aber symbolisch „ins Enge" zieht. Ich spaße nicht. Derlei ästhetische Grenzbestimmungen in dem hiesigen Zusammenhang einzusetzen, ist nicht nur legitim; es ist geboten. Charlotte trägt ein Kind unter dem Herzen; eben darum ist Über Laokoon, HA, 12, S. 60. * Hervorhebungen I. G. 36 Siehe: Diderots Versuch über die Malerei. AGA, 13, S. 216. Diese Einschätzung wird, wie hier, so auch in der Gestaltung des /7a»j'/-Endes offenbar. Darüber siehe Kapitel 11, 14 und 18 dieser Studie. 37 Dazu siehe: Kunstgegenstände, AGA, 13, S. 866 ff. 38 Einleitung in die Propyläen, HA, 12, S. 46. 35

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sie nicht geschickt, den „prägnanten Moment" — „praegnans" heißt „schwanger" — der Kunst zu realisieren. Dies 2u tun ist paradoxerweise der „scheinbaren Mutter" vorbehalten, auf welcher, eben dieser Unnatur wegen (und keineswegs nur, weil der Knabe sich nicht regt!) der Blick der Zuschauer rein und ungestört verweilt (II, 6, S. 403). Nie wird diese scheinbare Mutter „mit einem eignen Kind auf dem Arm" die Wonnen der Gewöhnlichkeit auskosten — nicht daß die arme Charlotte das täte! —, wie sich das der Major etwas simpel vorstellt (II, 14, S. 461); denn ihr ist es bestimmt, in Kunst und Leben „die Saat eines großem Schicksals" zu empfangen und auszutragen. Ihre Schwangerschaft ist eine geistige, wenn auch deswegen nicht minder organische. 39 Aber nicht nur entäußerungsvoll ist der Dienst an der Kunst; er ist im höchsten Grad verwirrend, ja, geradezu gespenstisch. In Bezug auf sich selbst spricht sich Goethe darüber ganz klar aus, in seinen Charakteren gestaltet er es. Diese Geisterhaftigkeit entspringt der Fähigkeit des Dichters, das in der Wirklichkeit Zerstreute zusammenraffend in Einem zu sehen, gleichsam sub specie aeternitatis-, und dieser vogelhafte Überblick verwirrt sein Zeitgefühl. In seiner Autobiographie schreibt Goethe: „Ein Gefühl aber, das bei mir gewaltig überhand nahm, ... war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins: eine Anschauung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart brachte. Sie ist in vielen meiner größern und kleinern Arbeiten ausgedrückt, und wirkt im Gedicht immer wohltätig, ob sie gleich im Augenblick, wo sie sich unmittelbar am Leben und im Leben selbst ausdrückte, jedermann seltsam, unerklärlich, vielleicht

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Der Erzähler bringt die prägnanten Momente, d. h. den Augenblick des Gewahrwerdens der Liebe in den beiden Paaren, im 12. Kapitel des ersten Buches, d. h. nach der Schilderung der ehebrecherischen Nacht im elften Kapitel; erst das Gewahrwerden der zwei Jüngeren als unmittelbares Präzipitat der nächtlichen Erregung, sodann das der Älteren im Rückblick. Charlottens prägnanter Moment ist viel „prägnanter", d. h. geraffter, als der Ottiliens. Er mündet ohne Verzug in einen Akt der Entsagung ein. Ottiliens entläßt viel mehr an Freude, Leid und Verwirrung. Sie scheint ins Blaue zu leben. Dennoch verläuft sich Charlottens Gewahrwerden, so sehr auch sittliche Entscheidung im Spiel ist, in einem im letzten anonymen biologischen Ablauf. Daß diese tatsächliche Schwangerschaft als ein unschöpferisches Ereignis gesehen werden will, geht aus dem Tod des Kindes hervor. Dagegen zeitigt die in Wirrnis geborene geistige Schwangerschaft Ottiliens etwas im höchsten Grade Kreatives: das Heilige, das sie von diesem Punkt an auszutragen beginnt. Der Vergleich zwischen diesen beiden Abläufen erhellt die tiefe Paradoxie eines Werkes, in dem weder Kunst noch Leben mit ethischen Kategorien auszuloten sind.

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unerfreulich scheinen mußte." 40 Tasso hat diese Gabe,41 der Lebenskünstler Lothario besitzt sie in hohem Maße,42 der Titel eines Gedichtes wie Im Gegenwärtigen Vergangnes spricht für sich selbst. Auch Ottilie eignet diese schöpferische Verunsicherung. Bereits bei der abendlichen Betrachtung der Kapelle hat sie sich angekündigt: „...es schien ihr", lesen wir, „indem sie auf- und umherblickte, als wenn sie wäre und nicht wäre, als wenn sie sich empfände und nicht empfände, als wenn dies alles vor ihr, sie vor sich selbst verschwinden sollte" (II, 3, S. 374). Hier nun, bei der festlichen Weihnachtsvorstellung, gibt sich diese Aufspaltung eines Bewußtseins schlagartig kund, welches einerseits ganz in dem Dargestellten aufgeht, andererseits auf einer getrennten Wahrnehmungsebene „wie im zackigen Blitz" das Fazit seines Lebens zieht (II, 6, S. 405). Die anderen sind von ihrer Erscheinung wohltätig berührt; sie selbst, von ihrer Starre beklemmt, fühlt sich den Tränen nah. Diese subjektive Gebrochenheit ist der Preis, den der Künstler für die unverbrüchliche Wahrheit seines Werkes zahlt; und so auch Ottilie. Und eben diese Gabe, sich den Gegenständen und sich selbst zu verfremden, befähigt diese spätere, jedoch nicht minder geliebte Tochter Goethes dazu, ihm bei der Ausgestaltung der geisterhaften Atmosphäre seines Romans zur Hand zu gehen. Wir werden dies noch sehen. Das vielfache „Stirb und Werde", das Ottilie in ihrem Kunstschaffen erfahrt, ist nun aber — und wie kann es anders sein in einer Kunst, die selbst Natur ist? — ein Analogon der abgründigeren Kunst ihres eigenen „Stirb und werde"; und diese Kunst hat sie noch nicht ausgelernt. Noch lebt sie, noch liebt sie. So erscheinen diesem grundehrlichen Menschen die Gewänder der heiligen Jungfrau, die sie zu tragen gezwungen war, als eine „fromme Kunstmummerei" (II, 6, S. 405). Sie kleidet sich um und erscheint vor dem neuen Ankömmling, dem Gehülfen, „im gewohnten Kleide" (II, 6, S. 406). Noch ist sie — und sie weiß es — für den „fremden Anzug und Schmuck" nicht reif (11,6, S. 405), den sie da angelegt hat, ungleich den wunderlichen Nachbarskindern, die nach ihrem „Stirb" anstoßlos, „von innen heraus" „geputzt", in den so fremden Hochzeitskleidern erscheinen, „halb lächelnd über die Vermummung", jedoch leidenschaftlich von ihr angetan (II, 10, S. 441). Noch muß Ottiliens „verschlossene Frucht" in immer dichteren und winterlicheren Hüllen sich bergen 40 41 42

Dichtung und Wahrheit, III. Teil, 14. Buch. HA, 10, S. 32. Siehe besonders Leonores Charakterisierung in I, 1, HA, 5, S. 77, Z. 159 — 172. Siehe Wilhelm Meisters Uhrjahre, VII, 7, HA, 7, S. 470 f.

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und offenbaren, und sie „dem Unleben" hingeben. Es sind dies ihr Schweigen, ihr nicht-Essen, ihr Köfferchen und ihr Sarg. Altern muß sie; und das heißt: „stufenweises Zurücktreten aus der Erscheinung". 6.

Am reinsten ist diese stufenweise Entkörperung und Wiederverkörperung in den Sinnbildern der winterlichen Bäume und der Nachtigall ausgestaltet. Beide stammen aus Ottiliens Feder — sie bringt sie in ihrem Tagebuch —; beide gehören ihr zu innerst an. Wie ihr Schöpfer blättert sie „in dem Buche des Lebens" (II, 9, S. 426) und schlägt die verschiedenen Kapitel „des Jahresmärchens" (ebd.) auf. Wie der Dichter sieht auch sie das zeitlich und stimmungsmäßig Auseinanderliegende in Einem, sieht, „wie Vergängliches und Dauerndes ineinandergreift" (ebd.). Im Frühling sieht sie diese winterlichen Bäume, die „so geisterhaft, so durchsichtig vor uns stehen. Sie sind nichts, aber sie decken auch nichts zu" (ebd.). Offenbar sind diese Bäume, und dennoch geheimnisvoll verhüllt: in ihrer Blöße verbirgt sich das Mysterium ihrer Dauer. Unmittelbar vor diesen Betrachtungen schildert der Erzähler den späten aber überreichen Frühling, den letzten in Ottiliens kurzem Leben. Er schildert ihn ganz auf den künftigen Herbst hin, so daß die Zeit ins Fließen gerät und das kaum noch Entstandene — wie bei der Grundsteinlegung — spektral und vergangen erscheint. „Daß der Herbst ebenso herrlich würde wie der Frühling, dafür war gesorgt", lesen wir. „Alle sogenannten Sommergewächse, alles, was im Herbst mit Blühen nicht enden kann und sich der Kälte noch keck entgegenentwickelt, Astern besonders, waren in der größten Mannigfaltigkeit gesäet und sollten nun, überallhin verpflanzt, einen Sternhimmel über die Erde bilden." (II, 9, S. 425). In diesem „nun" wird das Zukünftige beschworen und in die Gegenwart hineingezogen: in eine geisterhafte Gegenwart, einen geisterhaften Herbst. Schon hier gewinnen jene durchsichtigen Bäume von Ottiliens winterlicher Betrachtung — auch sie findet im Frühling statt! — ihr astrales Wesen. Als Kontrapunkt will eine spätere Evokation der Jahreszeit gelesen werden. Diesmal ist es der Herbst, die Zeit jenes letzten Zusammenlebens der Freunde, das wie „ein Scheinbild des vorigen Lebens" (II, 17, S. 479) anmutet. „Die herbstlichen Tage," lesen wir, „an Länge jenen Frühlingstagen gleich, riefen die Gesellschaft um eben die Stunde aus dem Freien ins Haus zurück. Der Schmuck an Früchten und Blumen, der dieser Zeit eigen ist, ließ glauben, als wenn es der Herbst jenes ersten Frühlings

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wäre; die Zwischenzeit war ins Vergessen gefallen. Denn nun blühten die Blumen, dergleichen man in jenen ersten Tagen auch gesäet hatte; nun reiften Früchte an den Bäumen, die man damals blühen gesehen." (II, 17, S. 479). Wie in der früheren Schilderung der vorweggenommene Herbst den gegenwärtigen Frühling geisterhaft entkörpert, so wird hier „jener" erste Frühling geisterhaft in der Erinnerung. Geisterhaft, aber nicht fern; im Gegenteil. So hypnotisch beschwört ihn der Erzähler, daß auch hier die Zäsura ins Schwanken geraten und „dieser Zeit" — also dem gegenwärtigen Herbst, etwas Unbestimmtes, Verwischtes anhaftet. Die wahre Gegenwart eignet „jenem" magisch ins Wort gebannten Frühling. In „jenem" zeitentbundenem Frühling — ist es der vergangene? der gegenwärtige? ein noch zu erhoffender? — wird die Nachtigall schlagen. In „jenem" kommenden Frühjahr, welches Ottilie angesichts der winterlichen Bäume vorausahnt, wird sie singen, wenn „das volle Laub hervortritt, bis die Landschaft sich verkörpert und der Baum sich als eine Gestalt uns entgegendrängt" (II, 9, S. 426 f.). Ja: in „jener" jenseitigen Zeit wird ihr Lied erschallen. Hören wir: „Alles Vollkommene in seiner Art muß über seine Art hinausgehen, es muß etwas anderes, Unvergleichbares werden. In manchen Tönen ist die Nachtigall noch Vogel; dann steigt sie über ihre Klasse hinüber und scheint jedem Gefiederten andeuten zu wollen, was eigentlich singen heiße" (II, 9, S. 427). Hinter diesen Zeilen geistert das Wort „Steigerung". In diesem „über seine Art hinausgehen" und „über seine Klasse hinübersteigen" wird auch jene Selbsttranszendierung der Natur greifbar, in welcher ich die durchgreifende Idee dieses Romanes zu sehen geneigt bin. Ist reiner Nachtigallenschlag noch Vogel? Dieses schwerelose Lied, das kaum noch aus der Kehle dringt, das, wie Goethe in seiner Metamorphosenlehre es ausdrückt, „die Haare und Federn" des Genus „Gefiederten" „abgestoßen" hat, entspricht der tiefsten Natur, ist gerade noch Natur, ist schon reine Schöne, drängt sich in all seiner Fragilität als eine neue Gestalt, als reinstes Dasein dem Ohr entgegen. Schritt für Schritt hat der Dichter diese Ent- und Wiederverkörperung Ottiliens zu einem letzten, unsäglichen „werde" vollzogen. Zu Beginn gestisch. Nach der Nacht, die auf den Tod des Kindes folgt, „richtete Ottilie sich auf, ihre Freundin mit großen Augen anblickend. Erst erhob sie sich von dem Schöße, dann von der Erde und stand vor Charlotten" (II, 14, S. 462). Ihr eigenes Urteil verkündet sie „mit Erhebung" (II, 14, S. 463). „Warum soll ich mich entfernen?" fragt Eduard; „Ist sie nicht schon von mir entfernt? Es fällt mir nicht ein, ihre Hand zu fassen, sie an

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mein Herz zu drücken; sogar darf ich es nicht denken, es schaudert mir. Sie hat sich nicht von mir weg, sie hat sich über mich weg gehoben" (II, 17, S. 477 f.). Noch Eduards letztes Wort spricht die Unmöglichkeit einer Nachfolge aus: „Es ist eine schreckliche Aufgabe, das Unnachahmliche nachzuahmen" (II, 18, S. 490), sagt der Gequälte. Ottilie ist dieses Unvergleichliche, Unnachahmliche, das über seine Art hinübersteigt. It is requir'd You do awake your faith (The Winter's Tale, V, 3), mahnt Shakespeare angesichts solcher Vollendung; und Goethe sekundiert mit seinem: Unmöglich scheint immer die Rose, Unbegreiflich die Nachtigall. 43 7. Es gibt zwei Arten von Schleiern: undurchsichtige und solche, die durchsichtig sind. Davon sind die undurchsichtigen paradoxerweise weitaus einfacher zu durchschauen; denn daß da etwas verdeckt ist, fallt jedermann in die Augen. Die durchsichtigen haben es in sich. Man könnte mit Ottilie sagen: „Sie sind nichts, aber sie decken auch nichts zu." Oder doch fast; denn auch sie wollen wahrgenommen werden. Ich spreche hier in einem Bild, das Goethes Feder entstammt. In einem sein neues Werk ankündigenden Brief an Zelter schreibt er: „Ich bin überzeugt, daß Sie der durchsichtige und undurchsichtige Schleyer nicht verhindern wird bis auf die eigentlich intentionirte Gestalt hineinzusehen." 44 Und in einem früheren Brief an denselben Freund: „Ich habe viel hineingelegt, manches hinein versteckt. Möge auch Ihnen dieß offenbare Geheimniß zur Freude gereichen." 45 „Schleyer" aber und „Offenbar Geheimniß" sind Schlüsselworte dieses so verschlüsselten Dichters, und es muß uns daran liegen, sie an Hand von bestimmten Gegenständen mit spezifischem Gehalt zu füllen. So mögen denn die folgenden Betrachtungen, indem sie an das undurchsichtige Geheimnis der Wahlverwandtschaften rühren, auch einen kleinen Zipfel des durchsichtigen lüften, hinter dem sich ihr Schöpfer geheimnisvoll offenbart. 43 44 45

West-östlicher Divan, Buch Suleika, HA, 2, S. 64. Am 26. August 1809. WA, IV, 21, S. 46. Am 1. Juni 1809. WA, IV, 20, S. 346.

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Die undurchsichtigste Nebenfigur dieses Romanes ist ohne Zweifel Charlottes Tochter Luciane. Ihr folgt in einigem Abstand die kleine Nanny. Luciane sticht schon dadurch hervor, daß der Erzähler, der im großen und ganzen dramatisiert, in ihrem Falle sich in ganz ungewöhnlichem Maße der Form direkter Charakterisierung bedient, um sie uns näher zu bringen. Er tut es natürlich nicht. Er läßt sie nicht sich selbst darstellen; er läßt sich über sie aus. So sehen wir sie von außen; eine Tatsache, die fraglos mit ihrem personahaften Wesen, mit dem, was wir ihre Künstlichkeit genannt haben, in engster Verbindung steht. Diese Künstlichkeit selbst aber steht in dem denkbar schärfsten Kontrast zu dem Bildfeld, in welchem sie sich bewegt. Dieses besteht aus Metaphern, die der elementaren Natur in ihren anorganischen Erscheinungsformen entstammen. Einerseits sehen wir eine blendende junge Gesellschaftsdame im starren weißen Atlaskleid — Atlas ist ein starres Material — in reichen, mit der „künstlichsten Natur" angeordneten Falten (II, 5, S. 394). Dieselbe junge Dame aber bricht mit ihrem Gefolge wie ein „Sturm" (II, 4, S. 377) oder auch wie ein „wildes Heer" (II, 4, S. 376) über die Schloßbewohner herein. Eingehend schildert der Erzähler ihr „ungestümes Treiben" (II, 4, S. 377): bei „Wetter und Wind, Regen und Sturm" (ebd.) „durchrennt" sie die Umgebung, „als wenn man nur lebte, um naß zu werden und sich wieder zu trocknen" (ebd.); bis sie die Gegend „erschöpft" hat (II, 4, S. 378). Danach werden ihr gewöhnliche Unterhaltungen „ganz unschmackhaft" (ebd.), und sie zieht ihre Kreise weiter. „Das Schloß", lesen wir, „ward mit Gegenbesuchen überschwemmt" (ebd.) „Nach kurzen Ebben überflutete die Menge von Zeit zu Zeit das Haus" (II, 5, S. 390). Zusammenfassend hören wir, sie peitsche „den Lebensrausch im geselligen Strudel immer vor sich her" (II, 5, S. 385); und sie scheine „wie ein brennender Kometenkern, der einen langen Schweif nach sich zieht" (II, 4, S. 378). Diese Sprache bedarf keines Kommentars. Die Diva der adligen Gesellschaft scheint eben den anorganischen Naturgewalten zugeordnet, die in diesem Roman ihr mutwilliges Spiel mit den Menschen treiben. Koboldhaft oder dämonisch könnte man sie nennen, was auch getan worden ist; 46 wohl auch, ein double-entendre ihres Namens vermutend, luziferisch. 47 Aber ein solch deskriptives Verfahren bringt uns nicht recht weiter. Überdies ist ungeachtet ihres zerstörerischen Eingriffs in das Leben der jungen 46

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Siehe Paul Hankamer in: Spiel der Mächte, Ein Kapitel aus Goethes Leben und Goethes Stuttgart i960, S. 252. Siehe Walter Benjamin (Anmerkung 4), S. 139.

Welt,

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Kindesmörderin — eine offensichtlich auf Ottilie zukomponierte Gestalt — ihre Funktion im Gefüge der Gesamthandlung zu peripher, als daß derartige Urteile gerechtfertigt wären. Ihr Treiben einer bloßen Grille des Dichters zuzuschreiben, geht aber auch nicht an — welche Schachfigur in dieser „hohen Gedankenpartie" 48 vermöchte man schon als Spielerei abzutun? Dafür ist die Charakterisierung dieser Gestalt viel zu konsequent durchgehalten; dafür steht sie überdies in einem viel zu krassen, und offenbar intendierten Kontrast zu der vorherrschenden Treibhausatmosphäre ihres Milieus. Fraglos stellt sie einen Kontrapunkt zu Ottiliens Seinsart dar. Aber ihre innere Aufgespaltenheit bleibt rätselhaft verschleiert. Auch Nanny scheint elementaren Schichten zugeordnet. Sie ist dumpf, sie ist heftig und sie ist habgierig (und verfressen). Andererseits wird ihr Wesen aufs schärfste von dem Lucianes abgesetzt; nicht nur, weil sie einfach und ungeschliffen ist, sondern — und dies ist viel wesentlicher — weil ihr „die Anhänglichkeit an eine schöne Herrin... Bedürfnis" ist (I, 17, S. 350); wohingegen Lucianes liebloses, alles ins Lächerliche ziehendes Wesen einen verneinenden, wenn auch nicht geradezu luziferischen Geist bezeugt (II, 5, S. 388). Auch macht Nanny in ihrem zerschmetternden Fensterfall nach Ottiliens Tod so etwas wie ein „Stirb" durch, aus welchem sie, verwandelt, als geistige Existenz wieder ersteht. Selige Sehnsucht? In diesen zwei Gestalten also stehen wir einem Rätsel gegenüber, und die eigentlich von dem Dichter intendierte Gestalt bleibt in undurchsichtiges Dunkel gehüllt. Wie kommen wir dieser Intention näher? Wie wir wissen, fesselte Goethe neben der Metamorphose der Pflanzen ein lebenslängliches Interesse an die der Tiere, ja vielleicht ein noch leidenschaftlicheres. Zwar ging ihm die Idee der Metamorphose an den Pflanzen auf; aber: „das eigentliche Studium der Menschheit ist", wie Ottilie schreibt, „der Mensch" (II, 7, S. 417): und die tierische Organisation ermöglicht grundlegendere Aufschlüsse über die des Menschen, seinem nächsten Nachbarn auf der Stufenleiter der Evolution, als die der Pflanzen. Insbesondere faszinierte ihn die Metamorphose der Insekten, vornehmlich die des Schmetterlings. Von Kindesbeinen an drängte sich dieses Phänomen ihm auf. Sein Vater hielt Seidenwürmer, und dem Knaben oblag es, deren Käfige reinzuhalten, ein Geschäft übrigens, welches ihm den tiefsten Ekel einprägte, da die Würmer oft krank wurden und dutzendweise elendiglich 48

So formuliert Thomas Mann in: ,Zu Goethes „Wahlverwandtschaften"' (in: Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften", hrsg. v. Ewald Rösch, Darmstadt 1975, S. 154).

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unter pestartigem Gestank verreckten. Um so tiefer mußte ihn „die große und wundersame Veränderung" der Glücklichen berühren, die sich als schöne Schmetterlinge entpuppten und davonflogen. 49 Als Mann, zur Zeit der Freundschaft mit Schiller, hielt er Seidenwürmer, experimentierte mit ihnen und brachte seine noch immer vorbildlichen Resultate zu Papier. Er schreibt dem Freund, der Schmetterling sei „das schönste Phänomen, das ich in der organischen Natur kenne (welches viel gesagt ist)". 50 Auf diese Periode zurückblickend, staunt er wieder über „den wunderbaren Lebensgang solcher Geschöpfe".51 Als herzoglicher Beamter dürfte er mit der Bekämpfung mehrerer verheerender Raupenpesten, die nachweislich große Strecken Westeuropas heimsuchten, einiges zu tun gehabt haben. Und noch als Greis erfreute ihn eine Zusendung von Kokons; in einem Brief an den Herzog nennt er sie eine ihm „so höchst bedeutend gewordene Naturerscheinung".52 „Wundersam", dann wieder „wunderbar", „das herrlichste Phänomen der organischen Natur", „eine so höchst bedeutende Naturerscheinung": das ist eine affektgeladene Sprache. Was sah Goethe in dem Schmetterling? Ich habe des öfteren beiläufig die Häutungen der Schlange erwähnt. Goethe sah seine eigenen Wandlungen gern unter diesem Bilde. Noch lieber aber sah er sich unter dem, von welchem das Gedicht Selige Sehnsucht spricht; und zwar sich und den Menschen überhaupt. Das ist — wir wissen es bereits — der Schmetterling. Warum tat er das? Ich habe eine vierfache Antwort auf diese Frage in dem ersten Abschnitt dieses Buches gegeben, vielleicht die tiefschürfendste in dessen letztem Kapitel, in dem ich zeige, daß hinter der Gestalt des Übermenschen Faust das Sinnbild des Schmetterlings geistert; und zwar nicht nur am Ende, sondern durch das ganze Drama hindurch.53 Wie Faust für Goethe der exemplarische — was nicht sagen will, der gute — Mensch ist, so ist ihm der Schmetterling das exemplarische Tier, eben, ja eben weil der eine wie das andere von seliger Sehnsucht beflügelt ist, weil — ich zitiere den blutjungen Goethe — „das... die edelste von unsern Empfindungen [sei], die Hoffnung, auch dann zu bleiben, wenn das Schicksal uns zur allgemeinen Nonexistenz zurückgeführt zu haben scheint."54 Der Schmetterling — „wundersam" 49 50 51 52 53 54

Dichtung und Wahrheit, I, 4, HA, 9, S. 120 f. Am 6. August 1796. WA, IV, 11, S. 153. In: Der Inhalt bevormrtet, HA, 13, S. 60. Vom 7. Februar 1826. WA, IV, 40, S. 292. In Kapitel 4 dieser Studie. In: Rede £um Shakespeares-Tag, HA, 12, S. 224.

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nennt Goethe ihn — vollbringt dieses Mirakel. Er stirbt und bleibt. Er entwindet sich dem Tode, und die Raupe, die am Zweige kriecht, fliegt, ätherisch gewandet, der Rose in den Schoß. Diese Umartung ist ihm nur deshalb möglich, weil er, ungleich den Schlangen oder den Platanen, die eine unvollkommene Metamorphose durchmachen, eine radikale Umwandlung erfahrt, eine Zäsura seiner zwitterhaften Existenz, die durch den Tod, oder, sagen wir: durch den totenähnlichsten Zustand führt, den wir in der gesamten organischen Natur finden. Sich, poetisch gesprochen, „nach Flammentod zu sehnen", dazu gehört Mut. Und darum zollt Goethe nächst dem Menschen den höchsten Preis dem Schmetterling. Motte Mensch. Ich möchte mit offenen Karten spielen. Eine beträchtliche Anzahl von Tieren werden in diesem Roman erwähnt: Vögel, insbesondere der Phönix und die Nachtigall, wühlende Erdbewohner (I, 13, S. 327), Windspiele, Affen und Papageien, Tiger und Elefanten; Schmetterlinge aber nicht. Ja, Ottilie, die eine ausgesprochene Abneigung gegen Naturgeschichte und Naturalienkabinette an den Tag legt und den Lehrer verwünscht, „der uns ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der Gestalt und dem Namen nach überliefert" (I, 7, S. 416), Ottilie sagt klipp und klar, „mit den Würmern und Käfern" hätte sie sich niemals befreunden können. Das kommt ja nun den Schmetterlingen ziemlich nah, aber doch nur ziemlich: denn die Wanzen und Läuse etwa, die Mephistos Hofstaat bilden, fangen zwar, wie ihre Vettern, die Schmetterlinge, damit an, Würmer zu sein, unterscheiden sich aber von diesen dadurch, daß sie nur eine inkomplette Metamorphose durchmachen. Dem Schmetterling allein ist es beschieden, in der kurzen Spanne seiner Existenz, die eine doppelte ist, als Seidenwurm oder Raupe in den Tod zu tauchen und daraus radikal verwandelt, und umgewandet, zu erstehen. Wir denken an die wunderlichen Nachbarskinder, und nicht zu Unrecht: denn auch diese tauchen in den Tod und erscheinen, „von innen heraus" umgewandet, wieder (II, 10, S. 441); und dies so bedeutsame „von innen heraus" scheint leise auf einen organischen Wachstumsprozeß zu deuten. Warum aber läßt der Dichter seine Ottilie so nahe an jene wundersamen Geschöpfe, wie Goethe sie nennt, die Schmetterlinge, rühren, und dann doch so haargenau an ihnen vorbeisehen? Hängt er hier jenem offenbaren Geheimnis nach, von dem er Zelter schreibt? Ich meine ja. Goethe schwieg sich oft über die Dinge aus, die ihn am nächsten angingen. So wäre dies also der undurchsichtige Schleier, den wir lüften müssen. Mit dem durchsichtigen hat es noch eine andere Bewandtnis. Hier kommt das

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schlechthin Unsagbare letzter Dinge, um die es ihm ging, ins Spiel. Wir werden darauf noch zurückkommen. Wenden wir uns vorerst zu dem undurchsichtigen Schleier zurück, den der Dichter über sein Gebilde gelegt hat. In diesem Falle heißt das: wenden wir uns noch einmal Luciane und in zweiter Linie Nanny zu, in deren Gestalten wir etwas Rätselhaftes, einen dunklen, ungelösten Rest zu sehen vermeinten. Passen wir auf, ob der Dichter uns hier einen, seine wahre Intention betreffenden Wink gegeben hat, in der Richtung, die wir nun einmal eingeschlagen haben. Denn ohne solchen Wink würde aus produktiver Kritik die barste Phantasterei. Nachdem also Luciane die unmittelbare Gegend mit ihrem wüsten Treiben „erschöpft" hat und das nunmehr Gewohnte ihr „ganz unschmackhaft" geworden ist; nachdem sie weiter, verwundert, daß mitten im Winter „weder Blumen noch Früchte" zu finden seien, die Treibhäuser plündert und daraus „so viel Grünes, so viel Zweige und was nur irgend keimte", herbeischleppen läßt, so daß des Gärtners und Ottiliens „Hoffnungen für das nächste Jahr und vielleicht auf längere Zeit zerstört" waren (II, 5, S. 388), trifft sie mit einem Edelmann aus der entfernteren Nachbarschaft ein Abkommen. Daß Charlottens „Wintervorräte nun bald aufgezehrt seien" (II, 5, S. 395), hatte man scherzhaft verlauten hören; worauf der Gast ausruft: „Kommen Sie nun und zehren mich auch auf! und so geht es dann weiter in der Runde herum." „Gesagt, getan", fahrt der Erzähler fort: „den andern Tag war gepackt, und der Schwärm warf sich auf ein anderes Besitztum" (II, 5, S. 395). Wie Lucianes Handeln, so auch ihr Denken, ihre Worte: „Von dem ältesten Hautelisseteppich bis zu der neusten Papiertapete, vom ehrwürdigsten Familienbilde bis zum frivolsten neuen Kupferstich, eins wie das andre mußte leiden, eins wie das andre wurde durch ihre spöttischen Bemerkungen gleichsam aufgezehrt, so daß man sich hätte verwundern sollen, wie fünf Meilen umher irgend etwas nur noch existierte" (II, 5, S. 388). Was Nanny anbelangt, so haben wir bereits auf den entscheidenden Unterschied zu Luciane hingewiesen. Das einfache Kind ist verehrungsbedürftig, Charlottes Tochter ist das genaue Gegenteil. Aber gefräßig ist sie, wie diese. Ottiliens kärgliche Nahrung gesteht sie, aufgegessen zu haben, auf das Drängen ihrer Herrin, „und auch, setzte sie unschuldig hinzu, weil es ihr gar so gut geschmeckt" (II, 18, S. 484). Wie Ottiliens nicht-Essen, ist auch dieser Zug Nannys von Anbeginn ihrer Erscheinung sorgfaltig vorbereitet (I, 15, S. 350). Und wenn Nanny als habgierig dargestellt wird, so führt der Erzähler diesen Wesenszug wiederum auf einen tierisch

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ungebändigten Heißhunger zurück. Das junge Mädchen konnte sich „nicht satt sehen", lesen wir, als Ottilie endlich ihr Köfferchen auspackt (II, 18, S. 480). Ottilie verweigert ihr Eduards Geschenke, öffnet aber sogleich zur Entschädigung eine Schublade, woraus „das Kind... hastig und ungeschickt Zugriff und mit der Beute gleich davonlief (ebd.). 55 Jeder Zug in diesen zwei Portraits „sitzt". Ein jedes ist wie aus einem Guß; dazu sind sich, des entscheidenden Unterschiedes ungeachtet, die junge Dame und das Bauernkind in ihrem elementaren, ja tierischen Gebaren einander erstaunlich ähnlich. Offenbar ist hier Goethes „exakte sinnliche Phantasie" 56 am Werke. An was für einem Vorbild aber hat sich diese exakte sinnliche Phantasie orientiert? Auf wen oder was sind diese ähnlich-unähnlichen Figuren zukomponiert? Jeder Landmensch, der seinen Kohlgarten pflegt — wie etwa Hermanns Mutter, wenn sie ihren Sohn in den Anlagen suchen geht — würde hier ausrufen: „Aber diese Luciane ist ja eine wahre Pest! Das ist ja eine Raupe in Menschengestalt!" Und genau dies meint Goethe, der — wir haben es gesehen — theoretisch sowohl als auch praktisch über diese Tiere so ziemlich alles wußte, was es zu wissen gibt. Raupen aber, besonders die jungen, sind, wie die wurmartigen Larven niederer Insekten, laut Goethe schöngefärbte, 57 in Scharen gehende, höchst aggressive, weil heißhungrige Tiere, die mit ihren gewaltigen Kauwerkzeugen — man nennt sie Mandibeln — die Vegetation wirklich ratzekahl zerstören, „so daß man sich hätte verwundern sollen," — ich zitiere den Erzähler über Lucianes Treiben — „wie fünf Meilen umher irgend etwas nur noch existierte" (II, 5, S. 388). Zagend konstatiere ich also, daß die so bestechende Luciane in all den Zügen, die der Erzähler so peinlich exakt schildert, mit dem Verhaltensmuster dieser ihm genugsam bekannten Pesten aufs Genaueste zusammentrifft. Ich wage demnach die These auszusprechen, daß dem geistigen Auge des Dichters bei der Zeichnung von Charlottes Tochter die Larve eines solchen unlieblichen Insektes vorschwebte, und zwar als Kontrastfigur zu zwei wahren Schmetterlingslarven, einer jungen und einer alternden, über welche letztere noch zu 55

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Das Raupen-Schmetterlingssymbol bleibt zwar unausgesprochen, ist aber geradezu zum Greifen in Stöckleins Schilderung von Nanny; in: Wege %um späten Goethe (siehe Anmerkung 2), S. 54. Für diese Selbstcharakteristik siehe Ernst Stiedenrotb, Psychologie %ur Erklärung der Seelenerscheinungen, HA, 13, S. 42. Dazu siehe: Zur Farbenlehre, §.650. HA, 13, S. 468 und: Über Metamorphose der Schmetterlinge am Beispiel der Wolfsmilchraupe, AGA, 17, S. 224.

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sprechen sein wird. Sollte es also doch einen schönen Schmetterling in diesem Roman geben? Und wenn, wer ist es? Auf diese Frage kann es nur eine Antwort geben. Sie heißt „Ottilie". Der einzige Zug in Ottiliens Physiognomie, dessen der Erzähler erwähnt, sind ihre großen schwarzen Augen. Sie sei ein wahrer Augentrost, hören wir, und von ihrer Schönheit gehe eine wohltuende Gewalt aus wie die des Smaragden (I, 6, S. 283). Kohlweißlinge aber — eben die Schmetterlinge, deren Larven während Goethes Lebzeiten Westeuropa verheerten — haben smaragdgrüne Augen. Dies auch nur anzuführen, werden meine Leser denken, ist lächerlich. Goethe hat mit viel größerer Wahrscheinlichkeit an Sankt Odilie als an Kohlweißlinge gedacht, als er in diesen Worten die Heilkraft von Ottiliens Schönheit pries. Das ist schwer zu widerlegen. Was aber hegte er im Sinn, als er folgende Stelle aus Ottiliens Tagebuch niederschrieb? „Man mag sich stellen, wie man will, und man denkt sich immer sehend. Ich glaube, der Mensch träumt nur, damit er nicht aufhöre zu sehen. Es könnte wohl sein, daß das innere Licht einmal aus uns herausträte, sodaß wir keines andern mehr bedürften" (II, 3, S. 375). Kein Aspekt der Schmetterlingsmetamorphose, antworte ich, ist staunenswerter als die Entwicklung des Sehorgans dieses Insektes. Die Raupe hat ein sogenanntes „einfaches" Auge, eine höchst rudimentäre Struktur. Der Schmetterling hat ein zusammengesetztes, äußerst sehkräftiges Organ, mit dem er Farben, Formen und das andere Geschlecht wahrzunehmen vermag. Auf eine Zelle, die das Auge einer Katze ausmacht, kommen tausend Einheiten oder „omnatidia" im Falle des Schmetterlings. Dies scheint fast eher auf einen Unterschied der Art als des Grades innerhalb dieses Zwitterorganismus hinzudeuten. In der Metamorphose dieses Insektes ist es nun aber das Auge, welches sich zuerst, gleich zu Anbeginn der Verpuppung, dergestalt umartet. Der künftige Schmetterling sitzt also mit seinem frisch entfalteten Sehorgan im Dunkel seiner Chrysalide und kann nichts wahrnehmen. Später wird er nach dem Licht steuern, nach der stillen Ker^e, von der das Gedicht „Selige Sehnsucht" spricht, oder vielmehr nach dem Mond, den er mit der Kerze verwechselt. Könnte es vielleicht doch sein, daß Ottiliens Schöpfer bei ihren Worten „diese wahrhafte Ausgeburt des Lichtes und der Luft" im Sinne hegte, den Schmetterling also, der von seiner großen und wundersamen Veränderung träumt, ganz wie der erblindete Faust es tut, als er sich ein inneres Licht zuspricht, heller als das, welches seine irdischen Augen je wahrnahmen? Genau gesprochen ist auch die schöne Ottilie zeit ihres Lebens kein Schmetterling, ebenso wenig wie Nanny einer ist, jene junge Larve, derer

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ich gerade erwähnte. Sie ist — wage ich es zu sagen? — eine alternde Raupe, in der sich bereits der künftige Falter ankündigt, wie sie Anstalten macht, sich vor unseren Augen zu verpuppen, ganz wie der greise Faust es tut. Die alternde Raupe ist nach Goethe an fünf ausgeprägten Merkmalen zu erkennen, von denen ich hier nur vier in Betracht ziehen möchte. 58 Sie hört auf einmal zu fressen auf; sie verspürt Unruhe und flieht, Verborgenheit und engen Anschluß suchend, vor der Weite; sie sammelt eifrigst; und sie macht Spinnversuche, die schließlich zum Bau eines Nestes oder Kokons führen, in welchem sie sich erstarrend verpuppt. 59 Ottiliens freiwilliger Hungertod ist als widernatürliche Monstrosität verschrieen worden; 60 andererseits rühmt selbst ein Thomas Mann, wie klüglich der Erzähler dieses Motiv bereits am Anfang des Romans vorbereitet habe (I, 3, S. 263 und I, 6, S. 283). 61 Sehen wir aber diesen seltsamen Tod in dem hier vermuteten morphologischen Zusammenhang, so ist er weder unnatürlich noch auch erscheint Goethes vorbereitendes Strategem als sonderlich klug. Beides entspringt gleichermaßen selbstverständlich seiner zutiefst organischen Konzeption. — Ottilie flieht vor der Weite. Bis auf die Zeit von Eduards Abwesenheit, in der wachsende Leidenschaft sie ins Offene zieht — auch sie hat ihre Diastole! — ist sie ein häusliches Mädchen, das mehr um der anderen willen als aus innerem Antrieb das Freie sucht (I, 8, S. 296). Dieser Zug wird uns im Kontrast zu Lucianes wildem Treiben, unter welchem das „zarte Kind" leidet (II, 5, S. 388), schärfstens eingeprägt. 62 Er bekräftigt sich nachdrücklich am Ende. — Ottilie sammelt: kein Stück des Inhalts von Eduards köstlichem kleinen Koffer rührt sie bis kurz vor ihrem Tode an. Auch nimmt sie diesen auf ihre fehlgeschlagene Reise in die Pension nicht mit. Erst am allerletzten 58

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Das hier übergangene fünfte — das Auffressen der Raupe ihres eigenen Spinnsystems — ist, besonders in bezug auf Die Wahlverwandtschaften, so wichtig, daß ich ihm eine spezielle Studie zu widmen gedenke. Siehe: Über Metamorphose der Schmetterlinge am Beispiel der Wolfsmilchraupe, AGA, 17, S. 224. So bereits Bettina von Arnim, 28. —30. November 1809. Neuerdings wieder Leo Kreutzer, Mein Gott Goethe. Essays, Hamburg 1980, S. 62. Auch Thomas Mann nennt das Karterieren Ottiliens „schauerlich-sublim". In: ,Zu Goethes „Wahlverwandtschaften" ' (Anmerkung 48), S. 159. Ebenda. Man vergleiche diese Worte mit den oben zitierten aus Die Absicht eingeleitet; „... sondern die gan\e Lebenstätigkeit verlangt eine Hülle, die gegen das äußere rohe Element, es sei Wasser oder Luft oder Licht, sie schütte, ihr partes Wesen bewahre", und man sieht, wie exakt die sinnliche Phantasie ist, die in der Gestalt Ottiliens am Werke ist. (Hervorhebung I. G.).

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Ende bereitet sie sich daraus ihr Sterbegewand vor — Nanny nennt es mit untrüglichem Instinkt „ein Brautschmuck, ganz Ihrer wert!" (II, 18, S. 483) — und dieses wächst ihr aus dem Köfferchen gleichsam zu. Gedenken wir nun des putzhaften Modekoffers, in welchem der Architekt seine Grabfunde herumträgt, gedenken wir ferner der Urne in der Pantomime Lucianes, die die sterblichen Überreste des Mausolus birgt (II, 4, S. 380), und wir werden keinen Anstand nehmen, in Ottiliens „köstlichem kleinen Koffer" (I, 15, S. 340) einen Kokon zu erblicken, in welchem sich eine wundersame Verwandlung insgeheim vollzieht. Für diese Vermutung sprechen außer den soeben gestreiften Parallelen zwei Fakten, von welchen das zweite bis zur Rätselhaftigkeit unerklärlich ist. Das erste: sowohl in seinen Pflanzen- wie in seinen Insektenstudien operiert Goethe mit der Hypothese, die Metamorphose werde durch einen stetig verfeinerten Saft hervorgebracht, der die graduelle Entwicklung höherer aus den vorangegangenen niedrigeren Strukturen bewirke. Diese Flüssigkeit nennt er mit offenbarem Affekt einen „köstlichen Saft". 63 Das Köfferchen aber, aus welchem Ottilie ihre Lebens- und Liebeskräfte zufließen, ist ein „köstlicher kleiner Koffer." Das zweite, schwer zu erklärende Faktum: der seiner Kostbarkeiten entleerte Koffer scheint auf einmal zu klein, um das Herausgenommene darin wieder unterzubringen. „Der Raum war übervoll, obgleich schon ein Teil herausgenommen war" (II, 18, 5. 480). Wie soll man das verstehen? Als ein Zusammenschrumpfen des „Behältnisses" oder als ein Wachstum des darin Enthaltenen? Beides ist gleichermaßen verwunderlich. Es handelt sich hier um scheinbar tote Gegenstände und doch scheint organischer Prozeß am Werk zu sein. Auch hier finden wir die Antwort in Goethes Schmetterlingsstudien. Zu Anbeginn der Verpuppung, lesen wir, „wachsen die innern Teile sehr mächtig. Das Tier hat keinen Raum mehr in der Haut, es schwillt in die Breite...". „Es krümmt sich und macht durchs Spinnen einen engern Raum, als es selbst ist." 64 Demnach ist ein doppelter organischer Prozeß im Spiel. Die 63

Siehe z. B. die folgende Stelle: „Der aus der letzten Raupenhaut sich loslösende, zwar vollkommene, aber nicht vollendete Schmetterling verwahrt, von einer neuen, seine Gestalt weissagenden Haut eingeschlossen, bei sich einen köstlichen Saft* Diesen in sich organisch cohobirend, eignet er sich davon das Köstlichste*, zu, indem das Unbedeutendere nach Beschaffenheit äußerlicher Temperatur verdunstet. In: Verstaubung, Verdunstung, Vertropfung. WA, II, 6, S. 203 f. Dazu sieh auch: Über Metamorphose der Schmetterlinge am Beispiel der Wolfsmilchraupe, AGA, 17, S. 225. ""Hervorhebungen I. G.

64

Über Metamorphose der Schmetterlinge am Beispiel der Wolfsmilchraupe, AGA,

17, S. 222 f.

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Anwendung ergibt sich wie von selbst. Das Behältnis — also Ottiliens „köstlicher Koffer", in dem wir nunmehr endgültig eine Chrysalide erkennen — verkleinert sich, indem das, was es enthält — also ihr Wachstum und ihre „ätherischen Gewände" — „von innen heraus" anschwellen. Enthält es doch die wachsenden Flügel des künftigen Falters, eben die Flügel, welche die sterbende Mignon sich erbittet, in denen sie begraben wird, sowie auch das eingesargte Kind in Der Zauberflöte Zweiter Teil, den Deckel seines transparenten Kasten sprengend, als geflügelter Genius entschwebt! Das, was wir in diesem rätselhaften Absatz anschauen und gleichsam mitvollziehen, ist faktisch das Abstreifen einer letzten, zu eng gewordenen geistigen Haut; und von ferne kündigt sich darin bereits das Platzen der Chrysalide im Akt des Ausschlüpfens des „fertigen Schmetterlings" (Faust II, III, Z. 9657) an; ein Doppelprozeß, welchen Goethe in dem Divan-Gcdxcht „An vollen Büschelzweigen" unter dem Bild der reifenden Kastanie ins Wort gebannt hat. Erst das Reifen: Doch immer reift von innen Und schwillt der braune Kern. Er möchte Luft gewinnen Und säh' die Sonne gern; dann das hoch dramatische Sich-losmachen: Die Schale platzt... Goethe hat einmal den Schmetterling „diese wahrhafte Ausgeburt des Lichtes und der Luft" 6 5 genannt. In dem Gedicht spricht er von Luft und Sonne. Die Symbolik der Samenkapsel in dem Gedicht und die Chrysalidensymbolik, wie sie in dem Bilde des endlich aufgetanen Koffers sich niederschlägt, sind schlechthin auswechselbar. Letztlich spinnt sich die Raupe in dem „engern Raum, als sie selbst ist", ein. Ottilie wird in dem „engen Raum" der Kapelle in ihrem gläsernen Sarg liegen, ihr zu Füßen das Köfferchen, wie das treue Hündchen des letzten £>M>a»-Gedichtes, welches ein Auferstehungsgedicht ist. Was soll ein Mensch, dem dieses „große Schicksal" (II, 3, S. 371) widerfahrt, darüber sagen? „...nun habe ich nichts mehr zu sagen", schreibt sie den Freunden in ihrer letzten Äußerung, und: „Duldet mich in eurer Gegenwart, erfreut mich durch eure Liebe, belehrt mich durch eure Unterhaltung;

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In: Fragmente xur S. 468.

Botanik, AGA,

17, S. 198; und: Zur Farbenlehre, §650, HA,

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aber mein Innres überlaßt mir selbst!" (II, 12, S. 477). Man hat dies flehentliche Wort, das sowohl um Verborgenheit wie um engen Anschluß bittet, mit den so ähnlichen Formulierungen der Brahmanin in der Paria — Trilogie sowie auch mit Helenas Worten, als sie sich zu Fausts Burg zu gehen entschließt (Faust II, III, Z. 9075 ff.), verglichen; wohl auch mit Mignons Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen, Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht. In allen diesen Fällen handelt es sich um eine Wandlung; wie durchgreifend aber und welchen Tiefen organischen Seins entstammend, erhellt aus Ottiliens Worten, so wie wir sie verstehen: als Ankündigung, daß sie sich „schon dem Tode näher spinnt".66 Nicht nur für die Brahmanin, „die der Schmerz zur Göttin wandelt", ist diese Umwälzung der gesamten Organisation eine qualvolle Erfahrung, die dem Tod gleichkommt. Auch für den künftigen Schmetterling ist sie kein Leichtes. „Das Gefühl der sonderbaren bevorstehenden Entwicklung", schreibt Goethe, „mag dem Gefühl nach der Empfängnis ähnlich sein; doch droht hier die ganze Existenz umgeboren zu werden". 67 Auch diese Bangigkeit schwingt in Ottiliens „aber mein Innres überlaßt mir selbst!" Solch ein angstvolles Erahnen einer schicksalhaften Naturnotwendigkeit ist nicht weiter mitteilbar; und nur ein verspäteter Aufklärer, nicht ein an der Natur geschulter Geist wird gegen dies, Ottiliens Verstummen Sturm laufen.68 8.

Ist also das Geheimnis von Ottiliens Schmetterlingsschicksal das „offenbare Geheimnis", das Goethe in seinem Roman versteckt hat? Ja und nein. Dies mag der „undurchsichtige Schleier" sein, in welchem der Dichter seine wahre Intention verhüllt hat; mit dem „durchsichtigen", von welchem er in demselben Brief spricht, hat es noch eine andere, wenn auch wiederum eine morphologische Bewandtnis, an die ich bereits gerührt habe. Für Goethe ist die Frucht — wir sahen dies bereits — ein geräumiges „Gehäuse" des Samens, eine äußere Hülle, die „sein zartes Wesen" bewahrt und schützt. Der Samen selbst ist wiederum von einer Haut, oder, zum 66 67 68

Torquato Tasso, V. 2. Über Metamorphose der Schmetterlinge am Beispiel der Wolfsmilchraupe, Walter Benjamin, Illuminationen (Anmerkung 14), S. 122 ff.

AGA, 17, S. 224.

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Beispiel im Falle der Eichel, von drei Häuten umlagert, wie Goethe in dem kleinen Samenhäute betitelten Aufsatz 69 dartut. Sind ja auch die Rinden der Bäume, die Haare und Federn der Tiere — zum Exempel die der Nachtigall, die kaum mehr ein Gefiedertes ist! —, selbst die Oberhaut des Menschen ein Konglomerat von Hüllen, „hinter denen" — ich zitiere — „immer neue Hüllen sich bilden", laut der bereits herangezogenen, zentralen morphologischen Aussage. Und so auch die Hüllen der Insekten, jene Häute, welche deren Larven abstreifen, und endlich der Kokon. Ich habe es schon gesagt: mit diesen Anhäufungen abgestoßener Hüllen, hinter denen sich neue und immer dichtere, den Lebenskern umlagernde, bilden, scheint es sich nicht anders zu verhalten, als mit jenen Stoppelfeldern oder auch jenen Trümmerhalden eingestürzter Kirchen über versunkenen Grabsteinen, welche ihrerseits den geheimnisvollen Kern des totgesagten menschlichen Körpers bergen: in den ersteren zumindest ist ein Doppelprozeß am Werk. Einerseits wird die Entelechie durch ihre eigenen Absonderungen immer mehr dem Blick entrückt, der auf der Oberfläche weilt; andererseits dringt sie, indem sie sich stetig mehr entkapselt und ihrer Hüllen entblößt, dieser Oberfläche immer mehr entgegen. Der Schnittpunkt, an welchem diese einander entgegenarbeitenden Prozesse sich begegnen, ist — im poetischen Gleichnis gesprochen — der menschliche Körper, sei er nun lebendig (wie etwa der des nackten Mädchens in der eingeschalteten Novelle dieses Romans oder Felix' am Ende der Wanderjahre) oder erscheine er uns tot, wie Wilhelms Freund, der ertrunkene Fischersohn, oder auch Ottilie in ihrem gläsernen Sarg. Ottilie? Unverdeckt in ihrer „ideellen Gestalt"? Ja: denn was anderes will die Durchsichtigkeit dieses „Behältnisses", dieser letzten Hülle, eigentlich besagen, als daß sie dem geistigen Auge, der Intention nach, hüllenlos daliegt? Hinter Eduards Grille geistert eine letzte, prometheische Leidenschaft des Dichters. Ganz aller seiner Hüllen entblößt will er das Geheimnis der Organisation schauen; und in dem Symbol des gläsernen Sarges kommt er so nahe an dieses wahnsinnige Verlangen heran, wie es sein poetischer Takt und seine Liebe zu diesem Menschenkinde ihm erlaubte. Zwischen den Zeilen der Italienischen Reise bebt die Erregung über die nackte menschliche Gestalt, die Erregung darüber, daß er durch ihr Anschauen den Schlüssel zu dem großen Mysterium der Natur in der Hand hält. „Ferner muß ich Dir vertrauen," schreibt er an Herder, „daß ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und -Organisation ganz nahe bin... Dasselbe Gesetz 69

Siehe LA, 1, 10, S. 70.

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wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen." 70 Und wiederum, einige Monate später: „Ich glaube dem Wie der Organisation sehr nahe zu rücken." 71 Fausts Wunsch, Proserpina entschleiert zu sehen, entspringt dem noch gesteigerten Verlangen, dem Geheimnis des unverhüllten Lebens selbst im Reiche des Todes nachzuspüren. 72 Am unverhohlensten hat Goethe diese brennende Sehnsucht in den Wanderjahren ausgesprochen. Noch unterhalb der letzten Hülle, unterhalb der menschlichen Oberhaut will er das Mysterium der Lebensorganisation schauen. Nur so enthülle sich „die ideelle Gestalt". So jedenfalls meint der plastische Anatom, der das Bildwerk eines antiken Jünglings von der Epiderm zu entblößen im Begriff ist; denn, so sagt er: „...der Mensch ohne Hülle ist eigentlich der Mensch". Und er fährt folgendermaßen fort: „der Bildhauer steht unmittelbar* an der Seite der Elohim, als sie den unförmlichen, widerwärtigen Ton zu dem herrlichsten Gebilde umzuschaffen wußten; solche göttliche Gedanken muß er hegen, dem Reinen ist alles rein, warum nicht die unmittelbare* Absicht Gottes in der Natur?" 73 Daß Goethe in diesen Worten seine ureigenste Sehnsucht aussprach, erhellt aus einem merkwürdigen, späten Schreiben. Es ist eine an die Universität Berlin gerichtete Eingabe, in welcher er für die Verwendung plastischer anatomischer Präparate an Stelle von menschlichen Leichnamen zu Zwecken des Unterrichts plädiert; 74 ein Anliegen, das er bereits jahrelang gehegt hatte. Aus diesem Wunsche, das Grauen der Anatomie in Staunen zu verwandeln, spricht die verzehrende Sehnsucht jedes schöpferischen Menschen, eines jeden, der sich „unmittelbar an der Seite der Elohim" weiß, eines jeden, der einer Ewigkeit bedarf und dabei die Vergänglichkeit in seinen Adern pochen hört; die Sehnsucht Dantes und des Schöpfers der Hermione, um nur zwei der Großen zu nennen. Es ist der Wunschtraum des Mannes, der besessen und geduldig Schmetterlingskokons sezierte: im Tode noch sich des Lebens zu vergewissern, im staunenden Anschauen 70 71

72

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Neapel, 17. Mai 1787. In Italienische Reise, HA, 11, S. 323 f. 28. August 1787. Ebenda, S. 389. Diesem Wunschtraum Goethes gehe ich in Kapitel 5 meines Buches Goethe, Portrait of the Artist (Anmerkung 30) nach. WA, I, 15 2 , S. 224. Wenn Goethe von der noch nicht ausgeführten Szene sagt, das Was sei zwar erfunden, aber nicht das Wie*, so rührt er mit diesem Wort an eben das Geheimnis der Organisation*, um welches ihm in Italien ging, jetzt aber auf der ästhetischen Ebene (zu Eckermann, 15. Januar 1827). * Hervorhebungen I. G. Wilhelm Meisters Wanderjahre, III, 3, HA, 8, S. 329. Plastische Anatomie, WA, I, 49 2 , S. 64 ff.

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von dessen, aller Hüllen entblößten, „schaffendem Gewebe" sich zum Glauben vorzutasten. Aber nur die Augen des Geistes vermögen, diese letzte Hülle durchdringend, „die unmittelbare Absicht Gottes in der Natur" „unmittelbar" zu schauen; denn — weiß Goethe es nicht selbst? — : „alles, was lebendig wirken soll, muß eingehüllt sein." 75 Sphinxhaft blickt uns aus Ottiliens durchsichtigem und dennoch so undurchsichtigem Sarg das „offenbare Geheimnis" dieses Romans an. Heißt es „Stirb"? Heißt es „werde"? Heißt es „Stirb und werde"? Wie können wir bei einem so tief in organischem Schauen und Glauben 76 verwurzelten Gebilde, wie dieser Roman es ist, daran zweifeln, daß Goethe bei aller Unerforschlichkeit von Ottilies geheimnisvollem Ende ihr „werde" im Sinne hegte? Sagen konnte er diese von Grausen geschüttelte selige Sehnsucht nicht; nur singen konnte er sie. Aber es ist nicht die vielbemühte metaphysische oder Naturskepsis, die ihm die Lippen verschloß; es ist, ganz simpel, ehrfürchtiges Erschauern, das er ja bekanntlich als „der Menschheit bestes Teil" (Faust II, I, Z. 6272) erachtete. 9. Überschauen wir die Strecke Wegs, die wir gewandert sind und wenden wir uns nochmals jener Tagebucheintragung Ottiliens zu, in der sie ihren Abscheu vor Würmern und Käfern, Papageien und Affen kundtut, von dem Schmetterling aber schweigt, dem sie doch selber gleicht. Sie rechtfertigt ihre Mißbilligung mit einem durchschlagenden Argument. Um die Gottheit ist es ihr zu tun, und nur mit dem Wesen will sie sich abgeben, welches „am vorzüglichsten und einzigsten das Gleichnis der Gottheit an sich trägt" (II, 7, S. 417): dies aber ist „das Menschengebild" (ebd.). „...das eigentliche Studium der Menschheit" — so schließt sie — „ist der Mensch" (ebd.). Die leidenschaftlich-dämonischen Resonanzen dieses Wortes haben wir gestreift.

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Das Mysterium des Lebens bleibt in Dunkel gehüllt, für den Dichter möglicherweise mehr als für den bildenden Künstler. Wir rühren hier an den vielleicht mächtigsten Impuls, der Goethe zu den bildenden Künsten hinzog; den Impuls, Natura naturans am Werk zu sehen, ja sich selbst zu dieser emporsteigern. Siehe Anmerkung 71. Daß für Goethe das Glauben bereits innerhalb der Natur und des auf sie gerichteten Schauens beginnt, mag folgende Stelle bezeugen: „... eine Region nach der andern des grenzenlosen Naturreiches, in welchem ich zeit meines Lebens mehr im Glauben und Ahnen, als im Schauen und Wissen mich bewege, klärt sich auf..." (in: Die Lepaden, LA, I, 9, S. 339 und HA, 13, S. 203).

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Dies ist eine imitatio, und durch sie wird Ottilie gleichermaßen in eine lange christliche Tradition hineingestellt und der Gesellschaft eingegliedert, in der sie lebt, die sie formt. Denn das Verhaltensmuster, das diese Späten bestimmt, ist das der Nachahmung. In seinen letzten Tagen, in seinen letzten Worten geht Eduard die Misere des Epigonentums auf. Sein ganzes Bestreben bleibe immer nur eine Nachahmung, ein falsches Bemühen, klagt er dem Major: „Es ist eine schreckliche Aufgabe, das Unnachahmliche nachzuahmen. Ich fühle wohl, Bester, es gehört Genie zu allem, auch zum Märtyrertum" (II, 18, S. 490). Mit diesen Worten spricht er nicht nur sich selbst, sondern seinem gesamten Kreis das Urteil. Außer Ottilie hat niemand „Genie", jene innige, wechselseitige Durchdringung von Kopf und Herz, von Auge und Hand, von Geist und Geschlecht, die der junge Goethe zu feiern nie abließ. So bleiben sie denn auch in Sachen der Kunst, ja selbst der Liebe, Nachahmer. Sie kleben an der Wirklichkeit, wie das Gurren der Taube tief in ihrer Gurgel steckt. Nie erheben sie sich zum reinen Schein des Schönen, wie Ottilie es tut, als sie — ein naturgebundenes Wesen wie nur eines — ihre eigenste Aufgabe und Artung in der Gottesträgerin versinnbildlicht. Es ist kein Zufall, daß Ottilie in ihren abfälligen Naturbetrachtungen der Affen und Papageien gedenkt; einmal, weil der Eindruck von Lucianes wildem „Affenwesen" (II, 4, S. 383) in ihr noch nachklingt, sodann aber, weil Affen und Papageien die großen Nachahmer der Natur sind. Eben deshalb schildert der Erzähler Lucianes närrische Verliebtheit in diese „menschenähnlichen und durch den Künstler noch mehr vermenschlichten abscheulichen Geschöpfe" (II, 4, S. 382) in solcher Breite. Luciane ist die Nachahmerin par excellence in diesem Kreise. Ottilie ist es auch, aber in umgekehrtem Sinne. Sie ahmt die Gottheit nach, die sie über sich fühlt, und anerkennt in kindlichem Purismus selbst nicht das Exemplar der GottNatur, den Schmetterling. Luciane äfft die von dem Künstler nachgeäfften Nachäffer des Menschen nach: die Affen. Ihr zerstörerischer Hang zum Lächerlichen und ihre Unart, Menschen mit Tieren zu vergleichen, sind Ausdruck dafür, daß sie den Blick auf jene „untergeordneten Naturbildungen" gerichtet hält, denen nachzuforschen Ottilie als ein müßiges und letzten Endes sündiges Unterfangen verwirft. Aus Lucianes Zug nach unten erhellt, daß es ihr an eben der seligen Sehnsucht gebricht, die der Stempel von Ottiliens Wesen ist. Wir dürfen mit Gewißheit sagen, daß diese hübsche Larve, die da von abgelegten, umgeschneiderten und wieder angetanen Hüllen starrt — von Kleidern, Kisten, Koffern und Futteralen

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—, sich zwar beruhigen, immer aber ein „trüber Gast auf der dunklen Erde" bleiben wird. Der Affe ist also das Sinnbild dieser Gestalt, wie er das Zerrbild der nachahmenden Gesellschaft ist, deren unbestrittene „Königin", ja, „kleine Gottheit" Luciane in den Augen der Pensionsvorsteherin darstellt (I, 2, S. 251). Laut Goethe aber entspricht die Vollkommenheit eines Wesens dem Grade, in welchem es „nach der Mitte, Base des Lebens ausgebildet ist". 77 „Der Affe", notiert er, „ist ein unentschieden, nach den Extremitäten zu ausgebildeter oder vielmehr ausgedehnter Mensch". 78 Beschreibt das nicht diese Gesellschaft? Hie Vernunft und Verstand, da entbundener Instinkt: Vernunft und Verstand in der edlen, aber instinktlosen Charlotte und dem Hauptmann, Instinkt in dem in seiner Spontaneität liebenswerten, aber an seine Triebe versklavten Eduard; „heitere" (wenn auch trügerische) „Vernunftfreiheit" in den Reiferen, „trübe" (wenn auch durch Charme aufgehellte) „leidenschaftliche Notwendigkeit" 79 auf Seiten Eduards; Geist und Geschlecht, im Letzten getrennt, aber nie „liebevolle Schöpferkraft", nie „Genie"! Bei all ihrer Naturgebundenheit ist Ottilie dagegen wie das Schickliche so auch der Blick nach oben eingeboren. So ist sie ungeteilt und ganz. Das Medaillon ihres Vaters, das Eduard irre macht, überreicht sie ihm „mit einem Blick mehr gen Himmel als auf Eduard gewendet", nachdem sie es an die Stirn gedrückt hat (I, 7, S. 292). Es ist ein religiöser Akt, dem wir beiwohnen. Und so auch läßt ihr „schönes Gemüt" sie nicht im Stich, als sie mit Charlottens totem Kind auf dem reglosen Teich schwimmt. „Sie wendet sich nach oben... Mit feuchtem Blick sieht sie empor und ruft Hülfe von daher, wo ein zartes Herz die größte Fülle zu finden hofft, wenn es überall mangelt" (II, 13, S. 457 f.). Dieser Zug nach oben, aus tiefster Natur entspringend, dieser „unüberwindliche Ernst" (II, 14, S. 462) verleiht dem „himmlischen Kinde" das „sanfte Anziehen" (II, 5, S. 388), das sich jedermann mitteilt, das sie bei all ihrer Unbewußtheit (die uns jetzt keine Schwierigkeiten mehr bereiten sollte), in allen Phasen ihres kurzen Lebens, noch bevor sie sich zu ihrer wahren Bestimmung entpuppt hat, so unwiderstehlich schön macht; wie eben derselbe Zug auch die dumpfe Nanny veredelt. Immer bilden sich 77 78 79

In: Fragmente %ur Vergleichenden Anatomie, AGA, 17, S. 430. Ebenda, S. 431. Siehe Goethes „Selbstanzeige" im „Morgenblatt für gebildete Stände" vom 4. September 1809, HA, 6, S. 621.

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in diesem stillen Mädchen höhere, differenziertere Organe aus, Organe des Gefühls, der Wahrnehmung, der Seele und des Geistes; gerade so, wie der zukünftige Schmetterling in seiner Verpuppung aus den anfangs „gleichgültigen" 80 Strukturen, die die Raupe kennzeichnen, zartere und edlere schafft, die ihn zu seiner wahren Bestimmung, der Begattung und der Fortpflanzung, 81 geschickt machen. Von solcher Warte aus läßt sich auch der chemischen Gleichnisrede anderes abgewinnen, als gemeinhin vermutet wird. Steht nicht auch dahinter ein geheimer morphologischer Bezug? Wenn die Freunde die chemischen Elemente, „diese totscheinenden und doch zur Tätigkeit innerlich immer bereiten Wesen" schildern, die sich anziehen und abstoßen, fliehen und erfassen, und „in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt hervortreten", so daß man ihnen „ein ewiges Leben" zutrauen mag —: deutet diese Beschreibung nicht auch auf die biochemische Sphäre hin, auf jene metabolischen Wandlungen der Puppe in dem Milieu der Chrysalide etwa oder auch des Fötus in dem der Gebärmutter (zwei durchaus analoge Situationen), Wandlungen, die durch den wechselseitigen Austausch molekularer Strukturen oder Teilstrukturen bewirkt werden? Der Dreiklang „tot scheinend", „erneut" und „neu", „ewiges Leben" jedenfalls legt einen geheimen Bezug auf die Metamorphosensymbolik, der wir nachgegangen sind, nah, so wie auch auf die geheimnisvolle Umartung der Gestalt, welcher diese samt und sonders zugeordnet ist. 10. Es ist an der Zeit, zu unserem Ausgangspunkt zurückzukehren: ich meine Shakespeares Wintermärchen. In dem Dialog, den wir genauer betrachteten, verwirft die junge Perdita — sie selbst ist ungewisser Herkunft — die Mauerblümchen als Bastarde der Natur, weil die Kunst an ihnen Teil hat. Ihr Gesprächspartner belehrt sie eines Besseren: die Kunst, die hier am Werke ist, sei selbst gesteigerte Natur. Diese Lehre bewahrheitet sich am Ende der Komödie. Perditas Wohlerzogenheit der Seele enthüllt sich als Zeichen ihres königlichen Geblüts, und selbst ihre Mutter Hermione, deren Schönheit die Grenze zwischen Kunst und Tod überspielt — sie ist von Künstlerhand erhalten worden — entpuppt sich als lebendiges Glied der „großen schaffenden Natur". 80

81

Siehe: AGA, 17, S. 431 und 434. Für die Bedeutung dieses Wortes siehe Kapitel 4 dieser Studie. Siehe: Diderots Versuch über die Maleret, AGA, 13, S. 216.

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In Goethes Roman erscheint auf den ersten Blick die Kluft zwischen Kunst, ja, Künstelei, und Natur schier unüberbrückbar; und diese Widersprüchlichkeit ist es, welche die Kritik immer wieder herausgearbeitet hat. Der Skepsis und Naturferne des damaligen Goethe hat man die Dialektik dieses Romanes und dessen schneidende Ironie zugeschrieben. Der Goethe jedoch, der Die Wahlverwandtschaften erdachte, war, wie Paul Hankamer schön dargelegt hat, 82 eine Gestalt des Überganges: alternd, aber bereits sich selbst unbewußt an der Schwelle jener Erneuerung stehend, welche den West-östlichen Divan zeitigen sollte. Indes, auch Hankamer operiert weitgehend mit den in der Kritik gebräuchlichen Kategorien. Ich habe mit diesen aufgeräumt und die durchgängige Naturverbundenheit dieses Romans, oder vielmehr des Dichters, der hinter seinem Gebilde steht, aufzuzeigen gesucht. Alles, auch das Künstlichste, hat genau besehen seine Wurzeln in der großen schaffenden Natur. Die Bauten, die da in solchem Unwissen der Beteiligten aufgeführt werden, sind Natur. Die Kleider sowie die Koffer oder anderen Behältnisse, aus denen sie herausgezogen werden, sind Natur. Die Verbindungen der liebenden Paare übers Kreuz sind Natur, und zwar Natur nicht nur in ihrer anorganischen, chemischen Erscheinungsform, sondern „die große schaffende Natur" des Morphologen. Selbst die höchst verkünstelte Nachahmung, die hier in Kunst und Leben gängig ist, ist Naturäußerung, wenngleich in der „untergeordneten Gestalt" von Affen und Papageien. Ottilie allein bleibt es vorbehalten, diese Natur hinaufzuläutern und emporzusteigern, durch Frömmigkeit und Liebe. Sie ist der junge Stamm, welchem Eduards Liebe die frisch erhaltenen Pfropfreiser seiner unverwüstlichen Liebesfahigkeit eingeimpft hat. Pfropfen aber meint das Einsenken eines Keims in einen Organismus, der diesen Keim empfängt. Hat Eduard seine Platanen nicht am Tage von Ottiliens Geburt gepflanzt? (I, 14, S. 334). Der erste Satz dieses Romans birgt dessen bündigstes sexuelles Symbol, und der verhängnisvolle Ehebruch ist nur dessen Schattenbild und unabwendbare Konsequenz. In ihrer Kunst überhöht Ottilie die Natur. Sie hat empfangen, in liebevoller Schöpferkraft; und die „scheinbare Mutter" trägt das Heilige aus, welches in den „gehaltreichen Tiefen" (II, 18, S. 487) der Natur verborgen ruht. Diese geistige Empfängnis, diese Schwangerschaft erweist sich am Ende als fruchtbarer als die physische Charlottens; und „das schöne Gebilde", welches sie in der Kunst aus sich herausstellt, entpuppt sich als Markstein eines natürlichen Bildungsganges. Immer mehr Hüllen streift sie ab, immer 82

In: Spiel der Mächte (Anmerkung 46).

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reiner „ent-wickelt" sich ihre „ideelle Gestalt" und das, was diese meint: Natur, die sich selbst transzendiert, „von innen heraus". Auch ihr geheimnisvolles Ende gehorcht dem Gesetz der Natur. Aus dem „tot scheinenden" Körper entspringt ein „zur Tätigkeit innerlich immer bereites Wesen", entspringen jene wundersamen, geistig-metabolischen Wirkungen, die sich anderen wohltätig mitteilen. In „erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt" ruht ihr Leibliches in verklärten Schmetterlingskleidern, und wohl mag man diesem unverweslichen Gebilde „ein ewiges Leben" zutrauen. Wie sie da liegt, unbeweglich, doch noch immer „lebevoll und liebevoll" (II, 18, S. 484), mag der Betrachter mit Shakespeares Leontes ausrufen: methinks, There is an air comes from her; what fine chisel Could ever yet cut breath? (V, 3, 77 ff.) Zu deutsch: Mich dünkt noch immer, Es atmet von ihr her; welch zarter Meißel Grub jemals Hauch? Es war eine noch schüchterne Hand, die, an der Schwelle einer Wiedergeburt, wohl wissend, daß „die Menge gleich verhöhnet", das letzte Wort dieses Romanes schrieb. Es heißt: „erwachen".

„Fremde Fühlung" Goethe und ,Das Leben aus dem Tode' Alles wahre Apercu kommt aus einer Folge und bringt Folge. Es ist Mittelglied einer großen, produktiv aufsteigenden Kette. Maximen und Reflexionen

1. Gegen Ende des hymnisch beschwingten Fragmentes Die Natur heißt es: „Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr." 1 Der um 1780 verfaßte Essay ist nicht von Goethes Hand. Der greise Dichter aber bekannte sich zu dem Geist, der aus ihm spricht und erkannte darin die Stimme der eigenen Jugend. 2 Und so weit ihn auch die Wanderschaft eines langen und strengen Lebens über derlei rhapsodische Eingebungen hinausführen sollte, nie ging er der Wärme und Kindlichkeit seines Vertrauens in die Natur verlustig, die in Toblers Worten so schlicht zum Ausdruck kommt. Geborgensein in der Natur prägt Goethes Dichten von Anfang bis zu Ende. Man denke an den Jubel von Mailied, an den ungeteilten Strom von Schöpferlust, der aus Kreatur- und Menschenkehle dringt. Oder an Fausts rein gefühlten Dank an „die herrliche Natur" für „die Reihe der Lebendigen", die sie an ihm vorbeigeführt hat, für seine ...Brüder Im stillen Busch, in Luft und Wasser... (V. 3225 ff.). Oder auch an Lynkeus' des Türmers letztes Lied und dessen träumerisches Einvernehmen mit Mond und Sternen, Wald und Reh. Diese Naturkindschaft Goethes kommt in der ursprünglichen Fassung des Gedichtes Auf dem See mit verblüffender Offenherzigkeit zum Aus-

1 2

HA, 13, S. 47. In: Erläuterung dem aphoristischen Aufsat£ ,Die Natur'. Goethe an den Kanzler von Müller, 24. Mai 1828. HA, 13, S. 48 f.

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druck. Wie schreibt doch der fraglos bezopfte und gepuderte Fünfundzwanzigjährige? Ich saug' an meiner Nabelschnur Nun Nahrung aus der Welt. Und herrlich rings ist die Natur, Die mich am Busen hält. Das lyrische Ich als Säugling, ja als Fötus; die Natur als Mutter, ja als Gebärmutter: das ist ein verwegener Auftakt, nicht nur für einen jungen Menschen am Ausgang des Rokoko — genau durch solche Worte sollte er es überwinden helfen! — sondern als existentielle Aussage über den homo sapiens überhaupt. Denn „die große" 3 oder „die gute Mutter" 4 — so der reife Goethe —, sei es nun die Menschenmutter oder Mutter Natur, ist nicht minder unerforschlich als die Thebanische Sphinx, wie Äschylus und Sophokles, Shakespeare und auch bereits der blutjunge Goethe nur allzugut wußten. In diesem Bewußtsein spricht der Dichter des Faust von dem ...Entsetzen, das [,] dem Schoß der alten Nacht Von Urbeginn... entsteigt {Faust, IL. 8649 f.), oder, früh in demselben Werk, noch unmißverständlicher, von dem Natur-Ganzen als ... der Verwesung Schoß (Z. 798); eine Sicht, die bereits in einer ganz frühen Rezension präfiguriert ist, wo der Dreiundzwanzigjährige, von Grauen geschüttelt, die Natur als „... Kraft, die Kraft verschlingt" 5 anspricht, so wie ja auch sein Werther später, im August-Brief, in der Natur „nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer" sieht. 6 Dieser Urschoß verschlingt die Geburten, die er gebrütet und ausgespieen hat, in einem ebenso endlosen wie unbarmherzigen Leerlauf des im voraus Todverfallenen; und einer so rätselhaften Macht sich auf Gedeih und Verderb anzuvertrauen, geht kaum ab ohne „Kindliche Schauer", jedenfalls für einen Menschen, der sich bei aller Naturfrömmigkeit als geistige Existenz erfahrt. 3 4

5

6

In: Glückliches Ereignis, AGA, 16, S. 866. In: Einwirkung der neueren Philosophie, HA, 13, S. 29. Siehe auch Verstaubung, Verdunstung, Vertropfung, WA, II, 6, S. 195 (Z. 4). In Goethes Rezension von J. G. Sulzers Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung, in: Frankfurter Gelehrte Anzeigen, 1772. HA, 12, S. 18. Hierzu siehe Kapitel 17 dieser Studie. I. Buch, Am 18. August, HA, 6, S. 53.

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Über Goethes grenzenloses Vertrauen in die Natur, über das Grauen, das sie ihm dennoch einflößte, über die pure Genialität, mit der dieser sonderbare Heilige an seiner Nabelschnur noch aus Schauern der Vernichtung einen stets gesteigerten Lebensglauben einsog und schließlich über den Quell, aus dem sich solche Naturnähe speiste, möchte ich sprechen. Zunächst aber gilt es mittels weniger Zitate anzudeuten, wie treu dieser Mensch sein Lebtag an seiner Jugendliebe festgehalten hat. „Wer die Natur als göttliches Organ leugnen will, der leugne nur gleich alle Offenbarung", 7 schreibt der wissenschaftlich hochgebildete und diese seine Weltsicht auch in letzten Dingen verfechtende Verfasser der Maximen und Reflexionen. Hat er doch seine charakteristische Anschauungsweise, „die mich Gott in der Natur, die Natur in Gott zu sehen unverbrüchlich gelehrt hatte", als den Grund seiner ganzen Existenz erkannt. 8 Und der Siebenundsiebzigjährige fragt in einer noch komprimierteren Prägung, in Versen, und zu einem Zeitpunkt, die uns noch ausgiebig beschäftigen werden: Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare? 9 — eine späte Huldigung an Spinoza, den Geisteshelden seiner Jugend und dessen Devise „deus sive natura". Halten wir an der zweifachen Gleichsetzung von Gott und Natur und von beiden mit Offenbarung fest. So ist für den mittleren Goethe der exakteste Gradmesser künstlerischen Genies dessen Naturnähe: Welches Genie das größte wohl sei? fragt er; und seine Antwort lautet: Das Größte ist dieses, Welches, umstrickt von der Kunst, bleibt auf der Spur der Natur. 10 In diesem Distichon steckt der ganze Goethe, oder doch zumindest das, was diesem besonderen Genie, zusammen mit Shakespeare, sein unverkennbar-einzigartiges Gepräge verleiht. Hier wird eine schöpferische Struktur artikuliert, die in allen ihren Spielarten — im Dichten, im Forschen, in der Ausformung ihrer Geistigkeit, ja, selbst ihrer spezifischen 7 8 9 10

Maximen und Reflexionen N° 2, HA, 12, S. 365. Tag- und Jahreshefte für 1811, HA, 10, S. 511. ,Im ernsten Beinhaus war's', HA, 1, S. 366 f. Xenien. HA, 1, S. 232.

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Religiosität — der Natur und ihren Kunstgriffen dicht auf der Spur bleibt, wie der Jäger dem Reh oder der Liebhaber seiner Liebsten. Einer dieser Kunstgriffe aber ist der Tod, dessen sie sich bedient, „viel Leben zu haben". 11 Das Wort „Spur" bei Goethe läßt aufhorchen; es lockt auf zwei weitere Fährten. Einmal auf die lakonische Beobachtung in Wilhelm Meisters Wanderjahre: „Spur ist nicht Ziel"; 12 sodann auf die denkwürdige Replik, die Wagner auf Fausts Frage gibt, was wohl das feuerstrudelnde Geschöpf sein möge, das um die österlichen Spaziergänger magisch leise Schlingen zieht. Wir natürlich wissen, daß es der Teufel ist. Wagner aber, mit seiner unverbesserlichen Nüchternheit, die indes manchmal fast geniale Früchte zeitigt, erwidert, es sei doch wohl ein Pudel, ...der auf seine Weise Sich auf der Spur des Herren plagt (V. 1150 f.). Stellt sich hier der Aufklärer in seiner totalen Ermangelung jener metaphysischen Schauer, die Faust über den Rücken laufen, ein Armutszeugnis aus? Oder äußert er in seinem unreflektierten Realismus eine ihm selbst zwar unbewußte jedoch profunde und zutiefst Goethesche Wahrheit? Könnte es sein, daß selbst der Teufel „auf seine Weise sich auf der Spur des Herren plagt", wenn auch „Spur... nicht Ziel ist" ist? Das hebräische Wort für „Teufel" ist „Beelzebub". „Beelzebub" aber meint wörtlich „Fliegengott". Faust fällt diese Bedeutung beim ersten Anblick des fahrenden Scholastikus ein, der sich als des Pudels Kern entpuppt hat. „Fliegengott, Verderber, Lügner" (V. 1334) nennt er ihn. Und Mephisto bekräftigt die Akribie des einstmaligen Theologen, wenn er sich selbst als den Herrn ... der Ratten und der Mäuse, Der Fliegen, Frösche, Wanzen, Läuse (V. 1516 f.) tituliert. Mag sein also, es ist eine mephistophelische Einflüsterung, Goethes Vorliebe für Fliegen, insbesondere für tote Fliegen, zum Gegenstand dieser Betrachtungen zu machen. Vielleicht auch ist es eminent Goethisch, eingedenk der Tatsache, daß der Teufel, wenn auch auf seine Weise, sich auf der Spur des Herren plagt, was ja wohl auch für des Teufels Kreaturen gilt. Der Ausgang mag darüber entscheiden. 11 12

In: Die Natur. HA, 13, S. 46. Wilhelm Meisters Wanderjahre, II, 1. HA, 8, S. 157.

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Dies eine ist indes gewiß. Von Hause aus gehören Fliegen für Goethe nicht auf die Tagseite der Natur, sondern auf die des nächtlichen Grauens vor den manchmal doch unheimlich anmutenden Kunstgriffen der großen Mutter. Sie kommen nicht oft in seinen literarischen Schriften vor, etwa zwanzig Mal im ganzen. Als dreist, leidig, unbequem, unverschämt, unbarmherzig und vor allem als schier unverscheuchbar werden sie charakterisiert. Aber nicht nur ein „Plaggeist" ist die Fliege. 13 Sie ist noch mehr; nämlich des hämischen Fliegengottes Abgesandter..., 14 dessen eigentliches Element, wie Beelzebub selbst sagt, die Zerstörung ist {Faust, V. 1342 ff.). Im ersten Rückblick auf seine Kinder jähre läßt sich der Autobiograph über das „Entsetzen" aus, mit dem er schon als kleiner Knabe auf dem „beschränkten, vollgepfropften und unreinlichen Marktplatz" seiner Vaterstadt „vor den... engen und häßlichen Fleischbänken" geflohen sei. 15 Den Kern des kindlichen Grauens verschweigt er. Erst der Greis deckt ihn auf, sechzig Jahre später, aus der Distanz dramatischer Objektivierung. In dem zuletzt geschriebenen Akt des zweiten Faust, dem vierten also, fühlt der hämische Fliegengott seinem vom Leben böse angeschlagenen Klienten auf den Zahn — zum zweiten Mal hat Faust Geliebte und Kind verloren —, um auszukunden, wie er ihn zu Fall bringen könne. Er schlägt ihm vor, absoluter Monarch eines Kleinstaates zu werden; und das Idyll, das er ihm ausmalt, ist haargenau das, vor dem einstmals der Knabe Goethe mit Entsetzen entflohen war. Den „beschränkten", stinkenden, lärmigen Marktplatz der Hauptstadt beschreibt der Teufel, im Kerne „BürgerNahrungs-Graus" (V. 10137), im Kern des Kerns aber Fleischbänke, wo die Schmeißen hausen, Die fetten Braten anzuschmausen (V. 10140 f.). Ist es nicht, als sähen wir in diesem Bilde „der Verwesung Schoß" auf den Grund? Schlachthofkadaver, an denen sich ein Leben mästet, das, wo es

13 14 15

In: Lila, WA, I, 12, S. 46, Z. 16 ff. Siebenschläfer. West-östlicher Divan, Buch des Paradieses, Dichtung und Wahrheit, I, 1, HA, 9, S. 18.

HA, 2, S. 117 ff.

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sich auch niederläßt, Tod und Verderbnis sät. 16 Dies also ist die Fliege für Goethe: eine Emanation des Bösen, und das heißt doch wohl, dem sinnentblößten Leerlauf des Kreatürlichen verfallen, ihn aufpeitschend, ihn versinnbildlichend, und zwar in seiner ganzen Auswegslosigkeit: denn die immer geschäftige Fliege, die mit ihrem aufdringlichen Gesumm weit Größeren als sie selbst ist die Gegenwart zu verleiden fähig ist, hat dennoch keine Zukunft. Ihr ist es nicht gegeben — so wenigstens scheint es —, in einer radikalen Metamorphose den auf ihr phosphoreszierenden Tod abzulegen, wenn auch nur als ahnungsvolle Verheißung eines Höheren, Unzerstörbaren. Und darin ist sie wie der verneinende Geist, der die ganze Ephemere durch seinen Namen verewigt hat. Ist doch der wendige Teufel wie sein Geschöpf, das alle Welt zu irren und verwirren liebt, — sogar den Kaiser in den Siebenschläfern „verhindert" die Fliege, ihn, der doch vorgibt, ein Gott zu sein 17 —, der im Grunde Wandellose, Alte. Darin ist er nun wiederum ganz wie seine Muhme, die berühmte Schlange. Häuten mag sich die Schleicherin, wie er in immer anderen Hüllen sich einzuschmeicheln weiß. Aber sich zu erneuern oder gar umzuarten —: das ist ihm versagt. Dazu bedarf es des Todes; und dazu wiederum „Seliger Sehnsucht". Besäße er die, er wäre nicht der Teufel. Man sieht: was sich dem Knaben Goethe unter der Gestalt der schmarotzenden Fliege eingeprägt hat, ist der Abscheu vor Tod und Verwesung. Ja, sie ist zu einem bündigen, vielleicht sogar zu dem bündigsten Sinnbild eines tief eingewurzelten Lebensekels dieses Lebensfreudigen und Naturfrommen geworden. Sie ist die schwirrende Verderbnis in ihrer penetrantesten Form. Ich habe das Widerwärtige dieser Kreatur herausgestellt, teils um die Reaktion des Knaben zu erklären, die so heftig war, daß er sie auf lange Jahre in sein Unterbewußtsein verdrängen mußte, hauptsächlich aber, um die Frage zu provozieren, was Goethe, bei aller Naturzugewandtheit, einer solchen Verirrung der großen Mutter wohl abgewinnen konnte. Nehmen 16

17

Ähnliches besagt auch die Metapher der Ratte in Branders Lied (Faust V. 2126 ff.) — auch sie eine von Mephistos Kreaturen. Der Kaiser in Siebenschläfer hat der bei aller Beweglichkeit starren Wandellosigkeit seiner Peinigerin nichts entgegenzusetzen. Darum macht sie ihn irre. Darum „bewähret" er sich nicht als Gott. Die Knaben wissen es besser. „Sollt' ein Flieglein Gott verhindern?" fragen sie und sagen ihm die Gefolgschaft auf. Ihre eigene Gottnähe bewähren sie durch die tiefe und verjüngende Verwandlung, in die sie eingehen, aus der Jamblica jünger als seine Urenkel hervorgeht; ein „Stirb und werde", das sie Tod und Teufel enthebt und dem Paradiese eignet.

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wir den ersten Punkt auf, den von Goethes Abwehr. Genau besehen, ist eine so scharfe Reaktion auf Seiten eines für die Schönheit empfanglichen, hochgradig sensiblen Kindes kaum verwunderlich. Denn: „Das Außerordentliche, was solche Menschen leisten" — bei diesem Gespräch mit Eckermann hat Goethe ausgezeichnete Talente, besonders aber den Dichter im Sinn —, „setzt eine sehr zarte Organisation voraus, damit sie seltener Empfindungen fähig sein und die Stimme der Himmlischen vernehmen mögen". Eine solche Organisation werde „im Konflikt mit der Welt und den Elementen leicht gestört und verletzt", fügt der zähe alte Herr hinzu, wobei er vermutlich nicht minder an sich selbst als an den immer kränkelnden Schiller denkt. 18 Wie zart dieser besondere außerordentliche Mensch organisiert war, geht aus der frühen Fassung einer uns vertrauten Maxime hervor. In ihrer endgültigen Fassung lautet sie eindrucksvoll genug: „Wenn ich an meinen Tod denke, darf ich, kann ich nicht denken, welche Organisation zerstört wird." 19 Ursprünglich jedoch waren diesen bedeutungsschweren Zeilen andere vorausgeschickt worden, und das Ganze lautete wie folgt: „Wenn ich eine Fliege todt schlage dencke ich nicht und darf nicht dencken welche Organisation zerstört wird. Wenn ich am meinen todt dencke darf ich kann ich nicht dencken welche Organisation zerstört wird." 20 Diese frühe, doppelte Formulierung erscheint mir fast noch ergreifender als die endgültige. Die Feinnervigkeit — eben das also, was Goethe unter „zarte Organisation" begreift — sticht gleichermaßen aus beiden Fassungen hervor. Die ursprüngliche ist indes der späteren in zwei Punkten voraus. Einmal spricht aus ihr ein nahezu unheimliches Einfühlungsvermögen in andere Lebensreihen; und dieses Organ besaß Goethe nicht nur selbst in höchstem Grade, sondern stipulierte es auch in anderen, und zwar in Wissenschaftlern nicht minder als in Künstlern. Von den Tierbildern des niederländischen Malers Johann Heinrich Roos — es sind ausschließlich Radierungen von Schafen — sagt er, bei größter Hochachtung werde ihm immer bang zumute, wenn er diese Tiere ansähe. „Das Beschränkte, Dumpfe, Träumende, Gähnende ihres Zustandes zieht mich in das Mitgefühl desselben hinein; man fürchtet, zum Tier zu werden und möchte fast glauben, der Künstler sei selber eins gewesen." Diese Tiere, fügt er hinzu, 18 19 20

Zu Eckermann, 20. Dezember 1829. Goethes Gespräche, Biedermann, IV, S. 182. Maximen und Reflexionen, N° 1057. HA, 12, S. 514. Zitiert nach LA, II, 9A, S. 140.

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seien jenem Maler „durchsichtig" gewesen, so wie Lord Byron die Welt durchsichtig war und so wie er selbst, Goethe, die Welt, das Licht, die Farben, durch Antizipation in sich trage. 21 Man sieht: die — man sollte doch denken — ans Lächerliche grenzende Empathie, welche ein Goethe auf Fliegen und sein malender Kollege auf gähnende Schafe verschwenden, ist — so wenigstens will es scheinen — der Grundstock jener geheimnisvollen Affinität zwischen Welt und Geist, die der Echtheitsstempel künstlerischen Genies ist. Darüber wird noch viel zu sagen sein. Uber den Wissenschaftler aber — und dies ist das eigentlich Erstaunliche — äußert sich Goethe frappant ähnlich. „Es gibt eine zarte Empirie," lesen wir, „die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird." Diese Steigerung des geistigen Vermögens aber gehöre einer hochgebildeten Zeit an, fügt der Verfasser hinzu, eine seltene Gabe vor dem Zugriff intellektueller Alleswisser schützend. 22 Diese Gleichgeartetheit künstlerischer und wissenschaftlicher Erlebnisstrukturen ist von höchstem Belang und wird uns noch eingehend beschäftigen. Am offenkundigsten tritt sie in folgender Maxime zutage: „Alles", schreibt Goethe, „was wir Erfinden, Entdecken im höheren Sinne nennen, ist die bedeutende Ausübung, Betätigung eines originalen Wahrheitsgefühles, das, im stillen längst ausgebildet, unversehens, mit Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntnis führt. Es ist eine aus dem Innern am Äußern sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen seine Gottähnlichkeit vorahnen läßt. Es ist eine Synthese von Welt und Geist, welche von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste Versicherung gibt." 23 Die folgenden Betrachtungen wollen kaum mehr tun, als diesen bemerkenswerten Ausspruch Schritt um Schritt zu erhellen, und zwar einerseits anhand einer wissenschaftlichen „Entdeckung" Goethes, die eine tote Fliege zum Gegenstand hat, andererseits anhand einer dichterischen „Erfindung" von einigem Gewicht: Tod und Verklärung Euphorions. Diese zwei scheinbar so disparaten Präokkupationen laufen in ihrer Endphase fast einspurig nebeneinander her; und indem wir der intimen Nachbarlichkeit von Erfinden und Entdecken, von dichterischen und wissenschaftlichen Impulsen nachspüren, mag uns ein wenig klarer werden, was eigentlich hinter der gängigen Prägung von dem dichtenden Morphologen steckt; etwas über das Wesen von Goethes Welt- und Naturbezogenheit; ein klein 21 22 23

Zu Eckermann, 26. Februar 1824. Gespräche III, S. 78 ff. Maximen und Reflexionen N" 509, HA, 12, S. 435. Maximen und Reflexionen N° 364, HA, 12, S. 414.

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wenig von dem, was in dem Wort von der Gottähnlichkeit des Menschen zum Schwingen kommt, ja schließlich auch ein Gran davon, was sich hinter dem Wort von der „ewigen Harmonie des Daseins" verbirgt, derer sich dieser allen erdenklichen Störungen Ausgesetzte trotz allem versichert wußte — eine prästabilierte Harmonie, wie sie Leibniz und Kant vertraut war. Hier mag uns die vorläufige Einsicht in die Wesensverwandtschaft künstlerischer und wissenschaftlicher Erfahrungsstrukturen eine Frage klären helfen, die sich meinen Lesern angesichts der vorbehaltlosen Identifikation des einen Künstlers mit seiner Fliege, des anderen mit dem gähnenden Zustand seiner Schafe aufgedrängt haben mag. Gebricht es einem solchen Sich-Verlieren in einem Anderen, noch dazu einem so Beschränkten, Dumpfen, nicht an Abstand der Sicht, an Objektivität? Keineswegs. In Goethe erschließt diese Empathie — dies ist das Goethesehe Paradox par excellence — eine zusätzliche Dimension der Unbestechlichkeit: eine gemäßigte Voreingenommenheit sich selbst gegenüber als dem wahrnehmenden Apparat, der sich ja entweder in den Gegenstand einstimmt oder ihn dem Blick verstellt. Das Wort von der „zarten Empirie" will eben darauf hinaus, und die Doppelbetrachtung von Fliege und Mensch besagt dasselbe, wie bereits aus der grundsätzlichen Gleichsetzung der beiden Katastrophen hervorgeht. Bei aller Differenziertheit der Aussage — sie paßt sich jeweils den Anforderungen des Gegenstandes an — erfahrt sich dieser ebenso Verletzliche wie Weltoffene als Teil der großen schaffenden Natur, nicht als ein dieser gegenübergestelltes Ausnahmephänomen. Einer dergestalt unparteiischen Sicht offenbart sich die Organisation einer Fliege in ihrer schwindelerregenden Komplexität als ein kaum geringeres Wunder als die des künstlerischen Genies, eines Goethe, eines Byron oder auch eines Mozart. Wunder sind per definitionem nicht quantifizierbar; und die Natur ist voll von Wundern, wie ja auch der Künstler eine zweite Natur ist. Damit bin ich in mediis rebus angelangt: bei dem spezifisch Goetheschen Genie, das sich an seiner Nabelschnur noch aus dem Bodensatz der Natur das Gefühl — das Bewußtsein — eines unverbrüchlichen Geborgenseins einsaugte, ja an einem solchen blinkenden Stäubchen im Weltall die „Flamme übermächtiger Geisteskraft" (Faust II, V. 9624) entzündete; ein gravierender Unterschied zwischen Insekt und Genie, der indes manchmal ganz aus Goethes Blickfeld entschwindet. Fraglos macht ihn diese Selbstvergessenheit noch geheimnisvoller.

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3. Halten wir uns die Häßlichkeit der Materie, mit der dieser Schönheitsliebende sich zu befassen willens war, noch einmal scharf vor Augen, und veranschaulichen wir uns Schritt für Schritt den Weg, an dessen Ende der sein „eigenst Gut" an das gänzlich Unschöne Verausgabende schließlich doch von dorther, de profundis gleichsam, „die Stimme der Himmlischen" vernahm. „Im Sommer 1796", schreibt der Morphologe, „wurden große Stachelbeerhecken von einer Raupe aufgefressen eine große Menge Puppen fanden sich nachher... an einem Latten werk... am Schwanzende aufgehängt... Einige Puppen die mir dürr schienen öffnete ich und fand große Würmer darinne, sie waren ganz weiß und unförmlich und ich konnte gar bald daran die Würmer der Schlupfwespen erkennen, wovon die Raupe mochte gestochen worden seyn. Einige verwandelten sich bald... in eine Art unvollkommener Schlupfwespen, welche ganz weiß wie die Würmer waren und an denen man in [den] Augen nur einen schwarzen Punct sah;... Andere Würmer, die theils aus diesen und aus andern Puppen auskrochen, theils die ich aus ihnen herausnahm und in Gläser legte, hatten bald einen harten Überzug gewonnen... Die äußere Haut des Wurms, die so lange weiß und weich war, als der Wurm in der feuchten Puppe die er aufzehrte sich befand, ward nun... braun und hart. Daraus kamen nach einiger Zeit Schmeißfliegen hervor." 24 Erquicklich wird Goethe Anblick und Handhabung dieser aus einer Mésalliance zwischen einer Raupe und einer Schlupfwespe hervorgegangenen, großen, weißen, flabberigen Embryos nicht gefunden haben; und wir dürfen gewiß sein, daß ihn bei dem unvermuteten Auskriechen von Schmeißfliegen in und aus diesem windenden Chaos ein leichter Schwindel befiel. Ist der Mann im Laborkittel doch derselbe, der die Zeilen schrieb: Doch uns Sterbliche nötigt, ach, Leider trauriges Mißgeschick Zu dem unsäglichen Augenschmerz, Den das Verwerfliche, Ewig-Unselige Schönheitsliebenden rege macht {Faust, V. 8744 ff.). Was versprach sich dieser Schönheitsliebende von diesem unsäglichen Augenschmerz?

24

WA, II, 6. S.415f.

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Im Juli 1820 verfaßte der Siebzigjährige einen Aufsatz namens Verstäubung, Verdunstung, Vertropfung. In diesem legte Goethe eine Theorie des Wachstums und der Fortpflanzung dar, welche, anknüpfend an Fr. J. Schelvers und A. W. Henschels Pionierarbeiten, die gängige Sexualtheorie der Pflanzen verwirft und sich zu einer Art Parthenogenese bekennt. Die Reproduktion im botanischen Reich gehe mittels einer Ausstreuung von Samenstaub — der terminus technicus ist „Verstäubung" — vor sich. Diese partielle Ausstreuung, die ja eine Form der Auflösung darstellt, ist also das eigentliche Triebrad des Lebens. Die gleiche Ausstreuung aber entartet leicht in eine „ins Nichtige auslaufende Verstäubung"; 25 und eine solche zerstörende Verstäubung — so nennt Goethe diese Perversion lebenserhaltender Mechanismen — sei auch im Falle toter Fliegen zu beobachten. Halten wir hier ein und vermerken wir am Rande, daß derlei nachbarliche Verhältnisse zwischen Tod und gesteigertstem Leben bei Goethe nichts Ungewöhnliches sind. Man denke an das Ende des jugendlichen .Pmw^».r-Fragmentes, oder auch an die Ekstase von Werthers Scheiden. Und so auch hier, in diesem späten Erzeugnis eines langen, sachten und allumfassenden Reifeprozesses, das morphologische, menschliche, ja, selbst dichterische Saiten anrührt. In einer Sicht heitersten Gleichmuts halten sich Bilder einer stetig verfeinerten Zeugungskraft und solche der zerstörenden Auflösung die Waage. 26 Der Eingangssatz des Essays spricht dies Schwanken programmatisch aus, gibt ihm aber auch Ziel und Richtung. Die Organisation eile „...von Leben zu Leben, ja durch Vernichtung zum Leben", heißt es da. 27 Behalten wir die zarte Ambivalenz im Auge, die Goethe im Haushalt der Natur walten sieht, dazu aber auch deren „Kunstgriff, „durch Vernichtung zum Leben" zu „eilen", den der Dicher nach einem langen Leben vorurteilsfreien Forschens wahrzunehmen glaubt. In solche naturphilosophischen Zusammenhänge müssen wir die spezifischen Beobachtungen über die Verstäubung toter Fliegen einpassen, die ich in aller Kürze darlegen möchte. Goethe beschreibt das Phänomen toter Stubenfliegen im Herbst, die, noch immer an das Fenster angeklammert, aus der Fuge zwischen ihrem mittleren und hinteren Teil mit beträchtlicher Elastizität einen Sprühregen hellfarbigen Staubes von sich schleudern. Dieser „Limbus" — so nennt 25

LA,

26

Siehe insbesondere S. 212, Paragraphen 2 und 3 und S. 220 f., Paragraph 5. Über letztere

27

Ebd., S. 210.

I, 9, S. 213.

Stelle handle ich in Kapitel 19 dieser Studie.

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Goethe den von der Auflösung selbst bewirkten Hof — verbreitet sich seitlich. Gelegentlich aber, bemerkt er, gehe die Verstäubung des toten Tieres von dem vorderen Teil der Leiche aus. Dies ist ein seltener und weitaus aufregenderer Fall. Ist doch der Anblick eines bekränzten oder gar gekrönten Geschöpfes weitaus verlockender für die künstlerische Phantasie, die immer zum gänzlich Andern Zugang suchend und wohl auch vermenschlichend am Werke ist. Um so beachtlicher ist die Disziplin des Forschers — Goethe nennt sie sehr schön „gebändigte Selbstigkeit" 28 —, der in einer offenbar später geschriebenen Anmerkung die zweite, ansprechendere Form der Verstäubung mit der Begründung zurückzieht, seine These hielte neuerer Aufmerksamkeit nicht stand. Was nun aber keineswegs heißt, daß sich das verführerische Bild nicht, mehr oder weniger abgesondert von seinen rein wissenschaftlichen Beobachtungen, in seiner Phantasie eingenistet und dort, dichterischer Befruchtung harrend, erhalten hätte. Das tote Geschöpf webt also innerhalb des sein Hinterteil oder sein Haupt umsäumenden Hofes seiner eigenen Verwesung weiter. Das Wort „weiterweben" ist mit Bedacht gewählt, denn Goethe sowie seine naturwissenschaftlichen Kollegen sahen in Verwesungserscheinungen wie der, von welcher hier die Rede ist, eine Form andauernden Lebens, ja faktisch — so drückt der Dichter selbst es aus — „die natürliche Folge der mir so werten Metamorphose", 29 während wir wissen, daß Schimmelbildungen keineswegs Manifestierungen fortdauernden Lebens in einem toten Organismus sind, sondern vielmehr durch einen Pilzwuchs bewirkt werden. Diesen entscheidenden Unterschied zwischen zeitgenössischen und modernen Auffassungen im Auge zu behalten ist für die folgenden Darlegungen von Wichtigkeit. 30 Hier also, inmitten der Auflösung, wirkt nach Goethe das Leben noch fort, wenn auch vielleicht „in geringerer Eigenschaft und Erscheinung", wie der Dichter bereits im Jahre 1816 in einem analogen Zusammenhang konstatiert. 31 Der „Limbus" aber ist der zweigeteilte Ort in der Unterwelt, wo „die Menschen des heiligen Bundes" und „die ungetauften Kinder der

28 29 30

31

In: Tag- und Jahreshefte für 1805, HA, 10, S. 491. Verstäubung, Verdunstung, Vertropfung, LA, I, 9, S. 210. Für diesen Aufschluß sowie andere wertvolle Klärungen möchte ich Frau Dr. Irmtraut Schmid vom Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar herzlich danken. An Nees von Esenbeck, 18. Juni 1816 (WA, IV, 27, S. 61).

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Erlösung durch den Gottessohn harren."32. Fast scheint es, als sei hier die Phantasie mehr als die sachgebundene Wahrnehmung des Wissenschaftlers am Werk. Sehen wir weiter. 4. Am 5. Oktober 1825 sendet der mit Goethe befreundete Botaniker Nees von Esenbeck diesem einen Aufsatz über die regelmäßige Verstäubung toter Fliegen im Trockenen.33 In ihm beschreibt Nees die Resultate einer mikroskopischen Untersuchung eben desselben Phänomens, das Goethe in seinem fünf Jahre vorher verfaßten Essay über Verstäubungserscheinungen beschäftigt hatte, jenes Hofes „von graulichem Staube" also, der das tote Insekt umgibt. Dieser von Goethes eigenen Beobachtungen angeregte Aufsatz bleibt fast ein Jahr lang unter dessen Papieren liegen, wahrscheinlich ungelesen. 32

33

Meyers Konversations-Lexikon, Dritte Auflage, Band 10. Ganz ähnlich definiert H. Gmelin in: Dante Alighieri. Die Göttliche Komödie, übersetzt von Hermann Gmelin. Zweite, unveränderte Auflage, Stuttgart 1968. Kommentar II. Teil. Der Läuterungsberg, S. 131 f. So auch neuerdings A. Schöne, in: Götter^eichen Liehes^auber Satanskult, München 1982, S. 110. Goethe bediente sich natürlich des Wortes frei und in vollem Wissen um seine katholisch-dogmatischen Hintergründe. Siehe seinen Brief an Schiller vom 15. Oktober 1796 (WA, IV, 11, S. 232, Z. 2 2 - 2 5 ) . Inhalt und Datum dieser Sendung sind nicht eindeutig zu ermitteln. Nach Nees von Esenbecks eigener Angabe erfolgte sie am oder nach dem 27. September 1827 und enthielt einen Aufsatz über „Die Vegetation aus dem Fliegen-Leibe in der Atmosphäre" (LA, I, 10, S. 2351 —2376). Dieses Datum ist aber nicht haltbar. Denn in der Einführung zu diesem zweiteiligen Aufsatz erwähnt Nees ausdrücklich Goethes Erwiderung; und sein rückblickender Bericht deckt sich restlos mit Goethes eigener Übersendung des Präparats der ertrunkenen Fliege und der Beschreibung dieses „gesteigerten Phänomens" in seinem Brief vom 27. September 1826 — dem Brief also, dem unsere Aufmerksamkeit gilt. Überdies übersandte Nees den zweiten Teil seines Aufsatzes „Achlya (aquatica)", die Vegetation aus dem Fliegen-Leibe im Wasser betreffend, bereits am 30. April 1826, wie aus der Korrespondenz der beiden Männer ersichtlich ist. Es ergeben sich drei Möglichkeiten: Entweder sandte Nees am 5. Oktober 1825 eine Vorstudie zu dem von ihm genannten Aufsatz ungefähr gleichen Titels, die aber in Goethes Nachlaß nicht erhalten ist. Oder aber er irrte sich in seiner — zweifachen — Datierung (LA, I, 10, S. 23414 und S. 235 1 ) um rund zwei Jahre. Letztendlich ist es denkbar, daß er seine Studie auf ein späteres Datum verlegte, um seine Untersuchungen zu aktualisieren. Über diese Frage habe ich mehrfach den Rat von Frau Professor Dorothea Kuhn (Marbach) eingeholt, und wir sind gemeinsam zu dem hier skizzierten Schluß gekommen. Für ihre generöse Anteilnahme und praktische Hilfe möchte ich Frau Kuhn hiermit meine große Dankbarkeit sagen.

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In einem Brief vom 13. November des Jahres jedoch kommt Goethe seinerseits auf die gemeinsame Materie zurück. Dies ist ein wichtiges Dokument. Zwar spricht Goethe die Verstäubung unumwunden als das an, was sie ist — als Verwesung also —; aber er fügt hinzu, er zöge es vor, nicht von Tod, sondern von einem „Ableben" zu sprechen, „da man ja aus der Verwesung, auf seltsame Weise, ein Fort- und Fortleben abzuleiten getrachtet hat". 34 An derlei Gedankengänge anknüpfend, konstatiert er, es sei „höchstmerkwürdig", daß „...eben dieses Ableben, diese eintretende Herrschaft der Elemente, die auf Zerstörung des Individuums hinausgeht, sich energisch durch Elasticität offenbart, und daß die sich entwickelnde aura sich wieder entschieden gestaltet." 35 Am 21. September 1826 endlich stößt Goethe auf den Aufsatz Esenbecks vom Vorjahr, wahrscheinlich, weil er soeben eine unabhängige Entdeckung gemacht hat, nämlich die regelmäßige Verstäubung einer diesmal nicht an der Luft gestorbenen, sondern in einem Glase klaren Brunnenwassers ertrunkenen Fliege. Unverzüglich schickt er sich an, dieses Phänomen dem Freund zu berichten, kündigt auch die sofortige Absendung des in Branntwein gesetzten Präparates an. Der Bericht bleibt im Konzept stekken, das Präparat harrt einer günstigen Stunde. Sechs ereignisreiche Tage vergehen. Am 27. September entwirft Goethe einen neuen Brief an Nees, und diesmal wird er, zusammen mit dem Präparat, abgesandt. In offenbarer Verlegenheit bezieht er sich auf des Freundes verjährten Aufsatz, jenen „schönen Aufsatz", der ihm nachgegangen sei und die Dringlichkeit einer Sendung rechtfertige, der er „einige Wichtigkeit beylege". Diese beschreibt er nun im Detail: „Es mußte mir des Nachdenkens werth scheinen, daß, wenn dort" — also im Falle der von Nees beschriebenen an der Luft erstorbenen Fliege —36 „der aufgelöste Organismus sich als Verstäubung manifestirt und schon mitunter als zellige Faser erscheint, derselbe hier" — also im Wasser — „um den entseelten Körper einen zusammenhängenden Nimbus bildet und alle Verstäubung sich zu einem Continuum ordnet, und zwar in derselben Maaße, wie sie vorher elastisch abstoßend in einem leichtern Element wirkte, hier in einem dichtem vollkommen zusammenhängend erscheint." 37

34 35 36 37

An Nees von Esenbeck, 13. November 1825, WA, IV, 40, S. 124. Ebenda. Siehe meine diesbezüglichen Darlegungen in Anmerkung 33. WA, IV, 41, S. 173.

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Wie wichtig Goethe seine neue Entdeckung ist, läßt sich unschwer aus dem dieser Beschreibung hinzugefügten Nachsatz ersehen. „Man mag so gern das Leben aus dem Tode betrachten," sinnt er, „und zwar nicht von der Nachtseite, sondern von der ewigen Tagseite her, wo der Tod immer vom Leben verschlungen wird." 38 Fraglos ist der Verfasser dieser Zeilen über die vis formativa, die er in der Auflösung im Element des Wassers am Werke sieht, erstaunt, verblüfft, erregt. „Zusammenhängend", „Continuum", „ordnet", nochmals „zusammenhängend", und schließlich „Nimbus" —: dies sind Prägungen, in welchen er ein, genau besehen, unglaubhaftes Paradox umkreist, in denen sich eine elektrische Spannung entlädt. „Nimbus?" Wir sind erstaunt. Die Fliege hat promoviert. Anstatt wie früher ihres Erlösers in der Vorhölle zu harren, hat sie nunmehr einen Heiligenschein angelegt; und angesichts der Genauigkeit von Goethes Beobachtungen sowie seiner Formulierungen dürfen wir darauf schließen, daß sich in diesem Exemplar dann doch etwas verwirklichte, das er erwünscht und sodann als unrealistisch verworfen hatte: ein „Limbus", der, von den vorderen Teilen des kleinen Leichnams ausgehend, dessen Haupt umkränzt. Was indes dem Leser ein ungläubiges Lächeln entlockt — wie ja auch Goethe Nees bei Empfang seiner Sendung „lächlen" zu sehen vermeint —39, ist die Vorstellung von dem „entseelten Körper", den der „Nimbus" umsäumt. Bei aller Brüderlichkeit dieses naturforschenden Dichters anderen Lebensreihen gegenüber scheinen derlei anthropomorphe Wendungen angesichts einer ertrunkenen Fliege wunderlich, und nicht nur für einen Katholiken. Daß hier Phantasie am Werke ist, unterliegt wohl keinem Zweifel. Ist der Wissenschaftler sich selber untreu geworden? Goethes Antwort wäre ein emphatisches Nein, und zwar aus zweierlei Gründen. Einmal — und hieran haben wir bereits gerührt — erachtete er das Einfühlungsvermögen, nicht nur des Künstlers überhaupt, sondern vornehmlich des Dramatikers, der „zarten" Empirie des Wissenschaftlers, „die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht", als wesensverwandt, und dieser förderlich. 40 Ferner — und dies ist bereits in der soeben zitierten Maxime angelegt — spielt die Phantasie im Erkenntnisprozeß, ja möglicherweise bereits im Wahrnehmungsakt eine nicht zu unterschätzende Rolle. In einem kleinen Aufsatz — er entstammt dem Jahre 1828 und trägt den vielsagenden 38 39 40

Ebenda. Ebenda. Siehe Anmerkung 22.

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Titel Poetische Metamorphosen — läßt sich Goethe über dieses Thema folgendermaßen aus: „Phantasie ist der Natur weit näher als die Sinnlichkeit, diese ist in der Natur, jene schwebt* über ihr. Phantasie ist der Natur gewachsen, Sinnlichkeit wird von ihr beherrscht.*" Und wiederum: „Frühste lebhafte tüchtige Sinnlichkeit finden wir immer sich %ur Phantasie erhebend.* Sogleich wird sie productiv, antropomorphisch." 41 Aus zwei Gründen sind diese Aperçus aufschlußreich. Zum Ersten erachtet Goethe offenbar die Phantasie als ein präziseres Organ für die Erkenntnis der Natur als die an der Materie klebende und dabei „unverwandte" Sinneswahrnehmung; und diese Staffelung müssen wir im Auge behalten, um der spezifischen Erfahrungsstruktur dieses dichtenden Naturforschers — Goethe selbst bezeichnet sie als seine „exakte sinnliche Phantasie" —42 gerecht zu werden. Zum Zweiten aber ist die doppelte Kennzeichnung der Phantasie als „schwebend" und die Sinnlichkeit zu sich „erhebend" vielsagend. Durch dieses Vermögen nämlich offenbart sie sich als das Organ par excellence der Kunst, deren eigenste Funktion es ist, einen gegebenen Affekt — sagen wir, den Schmerz — zu erhöhen und — gleichsam in demselben Arbeitsgang — zu mildern. 43 Kehren wir zu der toten Fliege zurück. Fraglos löste der Anblick des winzigen Leichnams in Goethe eben die Doppelwirkung aus, die er für das Erleben im künstlerischen Raum stipuliert; und die Phantasie erweist sich als Mittlerin zwischen den scheinbar disparaten Sphären kreativer und wissenschaftlicher Provenienz. Die Entdeckung von Gestalt, die in der Entstaltung webt, ist — ganz wie die Kunst — in hohem Grade tröstlich, und zwar erhöhend sowie auch mildernd. Indem der Schauende das verschimmelnde Wesen mit einer Seele und gar einem Nimbus begabt, erhöht er das in dem Brief vom Vorjahr noch als „Kadaver" beschriebene Geschöpf zu „diesem gesteigerten Phänomen". 44 Dadurch aber mildert er den Stachel, den ein noch so kleines Totes gerade in einen so fein besaiteten Menschen unweigerlich hineinsenkt: das Gefühl radikaler Verderbnis im innersten Kerne der Vergänglichkeit — genau das also, was für Goethe von jeher die Fliege war. Dagegen ist dieser Betrachtende gefeit; ja, mehr: * Hervorhebungen I. G. WA, II, 6, S. 361. 42 In: Ernst Stiedenrotb, Psychologie der Seelenerscheinungen, HA, 13, S. 42. Ähnliche Gedankengänge verfolgt Werner Keller, in Goethes dichterische Bildlichkeit. Eine Grundlegung. München 1972, S. 237 ff. 43 Hierzu siehe Kapitel 15 dieses Buches. 44 WA, IV, 41, S. 174. 41

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aus seinem „tiefen, ruhigen Anschauen" 45 erwächst eine Stimmigkeit mit dem geheimnisvollen Weben der Natur, deren Formulierung von ferne an ein Glaubensbekenntnis gemahnt: „Man mag so gern das Leben aus dem Tode betrachten" — ich wiederhole Goethes zusammenfassende Worte — „und zwar nicht von der Nachtseite, sondern von der ewigen Tagseite her, wo der Tod immer vom Leben verschlungen wird". So gestärkt, fühlt sich der Betrachtende in dem Bewußtsein seiner eigenen Dauer bekräftigt. Goethe zeichnet den Brief — diesen Brief! — mit einem getrosten „unwandelbar". Dies sind bedeutungsschwere Worte. Eine tagtägliche Naturerscheinung, deren Anblick bis zu den Zähnen gewappnete Hilfstruppen des Geistes auf den Plan ruft, setzt gleichsam als Komplementärphänomen eine bis ins Biologische gefühlte seelische Bedrohung voraus. Daß selbst bei einem so verletzlichen Menschen wie Goethe die Notwendigkeit für ein so massives Abwehrmanöver, wie dies eines ist, sich im Grunde von etwas anderem herschreibt als von einer toten Fliege, liegt auf der Hand. Welches Andere, Machtvollere, entlädt sich bei so geringfügigem Anlaß und löst eine derart gesteigerte geistige Erregung aus, wie sie in diesem Brief zutage tritt? Was für Fäden laufen in dem Bezugsfeld von Bildern und Ideen dieses Dokumentes zusammen, das ebenso prägnant wie großräumig ist? Sehen wir uns daraufhin die Geschehnisse und Erlebnisse an, wie sie von den Briefen und Tagebüchern dieser Epoche zurückgespiegelt werden. 5. Zunächst eine knappe Skizze des Hintergrundes, vor dem das Drama jener Tage und Wochen vor dem 27. September abrollt. Es ist eine bewegte Seelenlandschaft. Da ist einmal die Helena, ein Erdbeben, das noch nicht abgeklungen ist und dauernde Ausschläge des inneren Seismographen bewirkt. Zwischen Juli 1826 und dem Jahresende wird sie zweimal abgeschrieben, sechsmal von Goethe Nahestehenden gelesen — zum Teil ihm vorgelesen — und durchgesprochen. In den sogenannten „Antecedenzien" wird der zukunftsträchtige Versuch gemacht, diese „Axe" des zweiten Faust46 in einen umfassenden Rahmen „einzupassen": 47 ein dringliches

45 46 47

An Friedrich Jacobi, 23. November 1801. WA, IV, 15, S. 280. An S. Boisseree, 19. Januar 1827. WA, IV, 42, S. 19. Paralipomenon N° 123. WA, I, 152, S. 199.

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Anliegen, da die Helena-Aktion in ihrer bisherigen Isoliertheit von der schroffsten, durch nichts gelinderten Tragik war. Noch war die Klassische Walpurgisnacht, die dieses begütigende Wunder zustande bringen sollte, nicht geschrieben. 48 Noch zitterte die Erschütterung angesichts der Todverfallenheit auch des exemplarisch Gestalteten in dem Siebenundsiebzigjährigen gewaltsam nach; die Erschütterung über das Künstlerlos Euphorions womöglich noch gewaltsamer als die über das Schicksal der königlichen Griechin. Man kann dies leicht aus Goethes Tagebüchern ersehen: denn wochen-, ja monatelang nach dem offiziellen Abschluß des Aktes verzeichnen sie eine stetig anhaltende Beschäftigung mit Lord Byron, die auch von den Gesprächen und scheinbar ganz abliegenden Präokkupationen dieser Zeit zurückgespiegelt wird. Lord Byron aber war, wie wir wissen, Goethes Vorbild für Euphorion. Fast will es scheinen, als sei da noch ein ungelöster Rest, ein innerlich Auszugleichendes, zu Beschwichtigendes, vielleicht auch in dem Drama selbst zu Berichtigendes. Ferner fallt in die Wochen und Monate vor unserem Brief der Plan für die Überführung von Schillers Reliquien aus dem Kassengewölbe des Jacobi-Friedhofs in die Weimarer Bibliothek, sodann die Überführung selbst. Von Anfang an hatte Goethe diese „bedenkliche Angelegenheit" 49 — wie er am 27. September, an dem Tage unseres Briefes also, schreibt — im Stillen geleitet und gefördert; 50 und vom Frühsommer bis tief in den Winter hinein wird er sich so manches Mal wie der Mann im Märchen vorgekommen sein, der das Gruseln lernen wollte. Bereits im Mai des Jahres berichtet Caroline von Wolzogen, man wolle nun darangehen, die Gebeine Schillers zusammenzufinden; „die Ärzte suchen den Schädel auf, und Goethe selbst hat gesagt, er wolle es überwinden und den Schädel seines Freundes untersuchen". 51 Am zweiten September trifft Schillers Sohn Ernst in Weimar ein, sowohl um an den Feierlichkeiten teilzunehmen, als auch um den Nachlaß seiner verstorbenen Mutter zu regeln. Dies erfordert Durchsicht, Numerierung und Abschrift des Briefwechsels zwischen Goethe und dem verstorbenen Freund; ein Geschäft, 48

Näheres über die Genese dieses Aktes lege ich in Kapitel 21 dieses Buches dar.

49

A n den Großherzog Carl August [Concept], 27. September 1826. WA, IV, 4 1 . S. 177.

50

Siehe den Brief an Sulpiz Boisseree v o m 10. November 1826, WA, IV, 41 S. 223. Auch hier gesteht er, das Ganze hätte „immer etwas Apprehensives" gehabt, selbst für ihn, der es, die Notwendigkeit einsehend, geleitet und gefördert hätte. Trotz der Gedämpftheit des Tons und der Vorsicht in der Wortwahl zittern Ambivalenz und verhaltene Erregung spürbar durch.

51

In: Gespräche (Biedermann), III, S. 269, N° 2413.

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das denn auch täglich in Goethes Haus, durch Goethes Schreiber John unter Goethes Aufsicht besorgt wird. Fragen laufen ein, die Schillerschen „Überreste" betreffend, 52 Danneckers Schillerbüste, in deren Sockel des Freundes Schädel eingelassen werden sollte, wird abgeholt, 53 Schillers Profil wird in Stein geschnitten, 54 die jungen Schillers sind so gut wie täglich Gäste in Goethes Haus, der Tote regiert das Leben am Frauenplan. „Von einer merkwürdigen beynah geheimen Feyer zu Schillers Andenken" wird öffentlich gemunkelt, wie Goethe am 15. September an den Freund Boisseree schreibt. 55 Noch hat sie nicht stattgefunden; wie geladen aber die Atmosphäre gewesen sein muß, tritt aus einigen zerstreuten Kleinigkeiten zutage. Am 6. September kommt Goethes Sohn August aus dem Theater nach Hause. Man hat den Hamlet gespielt. An diesem und dem folgenden Abend wird die Aufführung diskutiert. 56 Am ersten Abend sind die jungen Schillers dabei. Wer von den Anwesenden wird nicht an Yoricks Schädel gedacht haben, selbst wenn das Wort nicht fiel? Am 9. September vermerkt Goethe: „Vielfaches pathologisches Gespräch"; 57 eine ebenso lakonische wie suggestive Formulierung. Man fragt sich, was da wohl zur Rede kam: Auflösungen anatomischer, biologischer und ästhetischer Art? 58 Am 10. September endlich dankt Goethe Nees von Esenbeck für dessen ausführlichen Bericht über eine von Bonner Verehrern des Dichters zum 28. August veranstaltete Feier. Der letzte Satz lautet: „...jede Zeile desselben [d. h. von Nees' Brief] phosphorescirt von allerliebster Neigung und herzlichem Wohlwollen". 59 Dies ist in der Tat ein leicht 52 53 54 55 56 57 58

59

So z. B. am 8. und 10. September {WA, III, 10, S. 240 und 241). Tagebucheintragung vom 14. September. {Ebd., S. 243). Tagebucheintragung vom 15. September. {Ebd., S. 244). WA, IV, 41, S. 154. WA, III, Tagebücher 10, S. 239 und 240. Ebd., S. 240. Zwischen dem 12. —14. August hatte Goethe die Poetik des Aristoteles gelesen. Die Niederschrift seiner eigenen Stellungnahme in dem Nachlese Aristoteles' Poetik betitelten Aufsatz läßt sich bis zum Dezember des Jahres zurückverfolgen. (Siehe Jost Schillemeit: produktive Interpretation. Goethes „Nachlese zu Aristoteles Poetik" im entstehungsgeschichtlichen Kontext', in: DVjs., Jg. 55 (1981) Heft 4.) Die kleine Eintragung hier, zusammengesehen mit etwas späteren Äußerungen wie etwa Goethes Briefkonzept an den Großherzog vom 27. September d. J. (Anm. 49) — also dem Tag des Briefes an Nees von Esenbeck — und ganz gewiß dem Brief an S. Boisseree vom 10. November d. J. (Anm. 50) machen es klar, daß die Grundbegriffe dieses Aufsatzes bereits in Goethe rumorten, und zwar in nächster Nachbarschaft zu morphologischen und dichterischen Vorstellungen. WA, IV, 41, S. 147.

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makabrer Scherz. Goethe verwendet dasselbe Wort um dieselbe Zeit in mindestens zwei Zusammenhängen, in denen von Tod und Verwesung die Rede ist; 60 beiläufig gesagt: Fliegen phosphoreszieren, lebendige sowie tote. Am 17. September endlich findet die feierliche Niederlegung von Schillers Schädel auf der Bibliothek statt. Goethe verbringt den Tag auswärts, in Berka, und sein Tagebuch vermerkt, einsilbig wie meistens: „Verabredung mit meinem Sohn wegen des heutigen Actes". 61 Dagegen halte man den Bericht von diesem selbst: „Mein Vater ist seit gestern über das Bevorstehende so ergriffen, daß ich für seine Gesundheit fürchtete. Heute früh 6 Uhr ließ er mich kommen, um mir mit Tränen zu eröffnen, daß es ihm unmöglich sei, dem heutigen feierlichen Akte selbst beizuwohnen. Ich vertrete ihn daher." 62 Die nächsten Tage bringen dann die Nachwehen. Von einem Besuch Goethes auf der Bibliothek lesen wir, sowie von Gesprächen über „die letzte feyerliche Handlung". 63 Eine Woche nach der Beisetzung, am 24. September, bricht es wieder los. „Meldeten sich Schröter und Färber mit dem Schillerischen Schädel", 64 verzeichnet das Tagebuch. Dieser wurde zu Zwecken einer fachgemäßen Reinigung im Untergeschoß des Hauses am Frauenplan installiert, wo er auf einige Monate blieb. Er wird aufgestellt, gereinigt, besprochen, betrachtet. Wilhelm von Humboldt berichtet über eine lange und bewegende Sitzung vor Schillers Schädel, mit einem Gipsabguß von dem Raffaels daneben. Riemer und Goethe saßen dabei. „Man kann sich wirklich an der Form dieses Kopfes nicht satt sehen", kommentiert Humboldt. 65 Der Osteologe in Goethe mochte sich für seinen knöchernen Gast erwärmen; an dem Siebenundsiebzigjährigen, der noch dazu einen lebenslänglichen Horror vor dem Tod hatte und sich ihm in Kürze stellen mußte, werden diese Tage, Wochen, nicht spurlos vorbeigegangen sein. Letztendlich fällt in eben diese Wochen Goethes Plan eines gemeinsamen Grabmals für seine eigenen „Exuvien" und die irdischen Überreste des 60

Siehe Goethe zu Eckermann über einen Steindruck von Delacroix, am 29. November 1826, in: Gespräche, Biedermann, III, S. 299, und Helena. Zwischenspiel \u Faust. Ankündigung (Paralipomenon N° 123). WA, I, 15 2 , S. 205. Z. 157.

61

WA, III, 10, S. 244.

62

A . V. Goethe an E. v. Schiller. In: Biedermann, III, S. 291, N° 2443.

63

Der Besuch auf der Bibliothek fand am 18. September statt {WA, Besprechung mit Kanzler Müller am folgenden Tage (ebd.).

64

WA, III, 10, S. 248.

65

W. v. Humboldt an seine Frau Caroline, 29. Dezember 1826.

III, 10, S. 245), die

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Freundes; und so humorvoll seine Andeutungen darüber auch sind, die Endgültigkeit einer solchen Anordnung wird ihm, mit des Freundes Totenkopf im Souterrain, schwerlich entgangen sein. 6.

Wir haben einen Blick hinter die Kulissen getan und wissen, was an diesem Menschen zehrte. Versuchen wir an Hand solcher äußerer Indizien, wie sie uns Goethes täglicher Kalender bietet, zu rekonstruieren, wie er sich über Wasser hielt. Er tat es auf seine gewöhnliche Weise: durch Umsetzung von Todesschauern in schöpferische Energien. Der bekannteste Niederschlag dieser Artung sind die herrlichen Terzinen bei Betrachtung von Schillers Schädel. Sie kamen ihm am Tage nach dem makabren „Meldeten sich Schröter und Färber mit dem Schillerischen Schädel" — man stelle sich die Szene an der Haustür vor! — in der Nacht vom 25. zum 26. September. Am folgenden Tage, dem 26. also, führte er sie weiter und vollendete sie. Diese Terzinen sind die edelste Bewährung von Goethes Genie, sich „durch Vernichtung zum Leben" 6 6 aufzuwinden. „Die dürre Schale" in der Hand haltend, sieht er — sieht er? — in diesen Höhlen, aus denen ihm einstmals ein Paar grau-blauer Augen entgegengelächelt hat, die Offenbarung von „Gott-Natur". Das ist kein kleines Kunststück. Ein wie großes es unter den gegebenen Umständen war, in denen Tod und Leben mit Tauen gleicher Zähigkeit an seinen Nerven zerrten, wird aus einer tragikomischen Tagebucheintragung für den 26. September ersichtlich. „Früh die Terzinen weitergeführt", heißt es da, und: „die Terzinen abgeschrieben". Sodann eine kleine Zäsur der Normalität: „Mittag zu dreyen". Und danach, in ironischer Spiegelung zweier Aufräumaktionen: „Schröter und Färber fuhren fort den Schädel zu reinigen und aufzustellen." 6 7 In diesen Terzinen besitzen wir eine hohe Probe von Goethes schöpferischer Kraft und von einem Natur- und Lebensglauben, der zumindest teilweise aus dieser Kraft entspringt. Die Frage stellt sich, warum ich über dieses Zeugnis hinaus auf den am Tage nach den Terzinen verfaßten, in weitesten Kreisen unbekannten Brief an Nees von Esenbeck über eine tote Fliege hinsteuere? Meine Antwort ist eine doppelte. Z u m Ersten bekundet

66 67

Verstäubung, Verdunstung, Vertropfung (Anmerkung 29). WA, III, 10, S. 249.

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Schauen und Glauben

sich in diesen scheinbar gänzlich disparaten Erzeugnissen eben die Einspurigkeit von „Erfinden" und „Entdecken", die ich aufzuweisen bemüht bin. Zum zweiten zog die minuziöse Entdeckung des 27. Septembers eine Erfindung nach sich, die uns zwar wohlbekannt ist, deren Aussagegehalt jedoch sich erst in den hier dargelegten Zusammenhängen voll erschließt. Dies ist der Trauergesang des Chores nach Euphorions Ikarus-Flug, von welchem noch zu sprechen sein wird. Darüber hinaus aber ist dieser Brief gleichsam ein Knotenpunkt von vielem, das sich in diesen Tagen gerade gebildet hatte oder noch zu bilden im Begriff war. Er fangt manches auf, das in den Terzinen des Vortages noch nicht zum Ruhen gekommen, dazu mancherlei anderes, das in sie überhaupt nicht eingegangen war. Bleiben wir also unserer toten Fliege treu und sehen wir vorerst, was alles in dem Sammelbecken dieses still bewegten Briefes zusammenfloß. An diesem Septembertage hatte Goethe einen Fund gemacht, der seinen Lebensgeistern einen höchst nötigen Auftrieb gab. Dem „dichtem" Element, dem Wasser also, schrieb er die Bildung eines Continuums, ja eines Nimbus', in und aus dem Chaos der Zerstörung zu. Hier war nun wirklich ein „gesteigertes Phänomen"; und das steigernde Moment ist — zum Teil zumindest — das gestaltenträchtige Wasser. Wie wichtig für Goethe gerade in diesem Moment eine solche Besinnung auf die gestalt- und lebenspendende Macht des Wassers war, erhellt daraus, daß er sie sich dreimal innerhalb von zwei Tagen intensiv vergegenwärtigte. Am 26. September stellte er nach langem Zaudern eine am 18. des Monats begonnene, auf den 21. datierte und sodann um immer zusätzliche Nachträge verlängerte Sendung an den Grafen Kaspar von Sternberg fertig. Der letzte, offenbar am Tage der Abfertigung diktierte Nachtrag lautete wie folgt: „Ein von dem Ausfluß der Elbe herkommender Freund gibt folgende Nachricht: das mit vielen erdigen Theilen geschwängerte Wasser dieses großen Flusses setzt, von der Fluth zurückgehalten*, auf jedem angeschwemmten Kies die fruchtbaren Theile nieder. Da erscheint denn im ersten Jahre Salicornia

herbacea,

welche tiefe Wurzeln schlägt und das Land befestigt. Dann kommt Salsola kalt. Zuletzt, bey völlig gebildetem Boden, kommt Triglochin

maritimum.

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Man glaubt hier ein Analogon urzeitlicher Pflan^ensteigerung* zu erblikken." 68 Man sieht: die Steigerung der Pflanzengestalten ist innnigst mit der Einwirkung der Flut, d. h. des Wassers, verbunden. An dem von der Flut „geschwängerten", jedoch vor der Gewalt der Strömung geschützten Gestade des Flusses geht dieser lebenserhöhende Prozeß vor sich, in eben dem Milieu also, das die Klassische Walpurgisnacht als „diese holde Feuchte" (V. 8458) oder auch „diese Lebensfeuchte" (V. 8461) feiern wird. In der Nacht davor oder auch am selben Tag kamen ihm sodann die Prachtverse von jenem Meer, Das flutend strömt gesteigerte Gestalten..., ein Bild, das ja, genau besehen, einen Einbruch in die aride Landschaft dieses Gedichtes darstellt. Und am Tage danach wiederum, also in dem Brief vom 27. September, sah Goethe vor seinen leiblichen Augen eben eine solche, durch die Einwirkung des lebensnährenden Elementes „gesteigerte Gestalt". Warum war des Dichters Phantasie gerade in diesen Tagen, Wochen, von der gestaltenden Macht des Wassers so übervoll? Ich meine, als Komplementärvorstellung zu dem soeben vollendeten Helena-Akt, der sich insgeheim aus anderen Quellen speist. Denn diesem Akt liegt ebenso unterschwellig wie zäh die Vorstellung von der gestaltauflösenden Macht des Wassers zugrunde — eine Tatsache, die von Kritikern nicht hinlänglich betont worden ist. Die an „Eurotas' Schilfgeflüster" (Z. 9518) beheimatete Gestalt aller Gestalten, Helena also, ist schwanerzeugt, und das heißt doch wohl: wassererzeugt; und das Motiv des Schwans gewinnt eine geradezu leitmotivische Funktion in Hinblick auf sie selbst sowie auch auf ihre Choretiden. Der Schwan seinerseits wird nun aber verschiedentlich mit dem Tod in Verbindung gesetzt: einmal durch sein heiseres Tönen (Z. 9101), das an die Todesagonie der edlen Reiher gemahnt, die ihre „Sterbeklagen" „stöhnen" (Z. 7660 ff.), zum anderen aber unmittelbar dadurch, daß sein Krächzen von den Choretiden definitiv als „Tod verkündend" erfahren wird, in eindringlichen Versen, die von Goethe vielfach überarbeitet worden sind (Z. 9099 ff.). Deutet der Dichter durch derlei untergründige Verknüpfungen nicht an, die 68

An den Grafen Kaspar v. Sternberg. [26. September 1826.] WA, IV, 41, S. 172. Siehe auch das zu diesem Briefe gehörige Konzept, wo Goethe wiederum das Wort „Steigerung" in einem weitem Bedeutungsspektrum gleichsam durchprobiert {ebd., S. 349, Z. 1 ff.). Auch in einem Brief an S. Boisseree vom 15. September 1826 taucht das Wort sozusagen versuchsweise auf (ebd., S. 154).

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Schauen und Glauben

Hochgestalt seiner Tragödie sei letzten Endes auf festem Boden fremd? Und wenngleich er auch das schöne Bild „im Zeitmoment solidescirt endlich verharren" ließ 69 , die Auflösung von Helenas Gestalt nach dem Gesetz ihres heimatlichen Elementes konnte er nicht verhindern, ebensowenig wie er Euphorion vor der Entstaltung bewahren konnte, ihn, den selber Gestaltenden, aber auch den Sohn des Peloponnes, „Erde- wie seeverwandt" (Z. 9826). Und die schwanengleichen Choretiden endlich kehren zu dem feuchen Element zurück, das sie geboren hat. Die Todverfallenheit auch des strukturiertesten, fast schon zu der Dauerhaftigkeit der Kunst emporgesteigerten Lebens zitterte in Goethe nach. Und nun erhaschte dieser dichtende Neptunist blitzartig in einem mit Brunnenwasser gefüllten Glase den Tod, wie er, in dem bildsamen Element in eine neue und bedeutende Gestalt „aussprossend", „immer vom Leben verschlungen wird". Dies war seine Antwort, die Antwort der Zukunft; ein paar Jahre später sollte die Klassische Walpurgisnacht, kraft der puren Lebenslust dessen, was in ihr zu Dasein und Bildung drängt, die Tragik des einmalig Gestalteten in die mythische Feier ewiger Gestaltung, Umgestaltung hineinnehmen und in ihr überwinden. Das lebenbringende Element aber, das in diesem Akt gefeiert wird, ist das „geschwängerte" Wasser: Alles ist aus dem Wasser entsprungen!! Alles wird durch das Wasser erhalten! Ozean, gönn uns dein ewiges Walten (V. 8435 ff.). In einem etwa acht Jahre zurückliegenden Brief hat Goethe sein Glück gepriesen, „da die vollkommensten Symbole vor meinen eigenen Augen sich eräugnen". 70 Was sich hier vor seinen Augen „eräugnete", war mehr als ein Symbol: es war ein Urphänomen. 7. Mit solchen Gedanken, mit solchen Bildern auf seiner Retina wandte sich in der Nacht vom 25. zum 26. September Goethe dem eigenen Dichten zu; und es entstanden die Terzinen. Vermutlich werden ihm diese seinen ersten Tribut an den toten Freund ins Gedächtnis zurückgerufen haben,

69 70

An Nees von Esenbeck, 24. Mai 1827, WA, IV, 42, S. 198. An Zelter, 19. März 1818. WA, IV, 29, S. 89.

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bestimmt aber dessen erst in der dritten Fassung des Gedichtes vom Jahre 1815 hinzugefügte Endzeilen: Er glänzt uns vor, wie ein Komet entschwindend, Unendlich Licht mit seinem Licht verbindend. Für Goethe war Schiller, wie er wenige Monate nach unserem SeptemberBrief zu Eckermann bemerkte, die Lord Byron wesensverwandteste Gestalt; 71 und dieses vielbewunderten Dichters — Vorbild für seine Euphorion-Gestalt — gedachte er, wiederum in der Zeitspanne, um die es hier geht, als „dieses glänzenden Meteors". 72 Worauf diese Verbindungslinien hinauslaufen, ist unschwer zu erraten. Sollte der entseelte Körper der Fliege mit einem dergestalt von literarischen Assoziationen widerglänzenden Nimbus um das Haupt nicht ein Nachklang — oder vielmehr eine letzte Präfiguration — des wohlbekannten Jünglings sein, dessen Haupt strahlt, der einen Lichtschweif nach sich zieht, der nach seinem IkarusFlug entseelt zu seiner Eltern Füßen stürzt, dessen „Aureole... wie ein Komet zum Himmel aussteigt]" [Bühnenanweisungen nach V. 9900 und 9902]? Indessen, diese Verknüpfung bereits jetzt als erwiesen zu betrachten, wäre voreilig. Noch müssen wir einiger weiterer Zwischenglieder gedenken, um Goethes geistiges Panorama während der Tage und Wochen, von denen wir sprechen, lückenlos vor uns auszubreiten. Zwischen dem 5. und dem 9. August des Jahres 1826 erneuerte Goethe seine Bekanntschaft mit dem euripideischen Dramenfragment Phaeton. Schon einige Jahre vorher hatte er sich an eine Rekonstruktion dieser „köstlichen Reliquie[n]" 73 herangewagt. Jetzt, am 5. August, 74 stößt er auf eine Stelle des Diogenes Laertius. In seinem Leben des Anaxagoras schreibt Laertius diesem die Behauptung zu, die Sonne sei eine durchglühte Metallmasse, weswegen auch sein Schüler Euripides in Phaeton die Sonne einen Goldklumpen nenne. 75 Diese Stelle wurmt Goethe; und das Tagebuch verzeichnet für die Nacht desselben Datums: „Überlegung wie

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Am 18. Januar 1827. In: Biedermann, III, S. 327, [N° 2469], In einem Brief an C. F. v. Reinhard vom 30. März 1827. WA, IV, 42, S. 113. Phaeton, Tragödie des Euripides. Versuch einer Wiederherstellung aus Bruchstücken. Geschrieben nach dem 25. Oktober 1821, im Jahre 1823 in Kunst und Altertum veröffentlicht. WA, I, 41, 2, S. 32 ff. Siehe die Tagebucheintragung vom 5. August 1826. WA, III, 10, S. 226. Euripides Phaeton, WA, I, 41, 2, S. 244.

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die darin befindliche Stelle zu nutzen".76 Am 9. August erfolgt die Niederschrift eines kleinen Aufsatzes namens Euripides' Phaeton, der eigens zu dem Beweise dient, Euripides habe mit seinem Donnergepolter außerhalb der Szene nicht den auf die Erde fallenden Sonnenklumpen sondern vielmehr den „aus ihr herabstürzenden brennenden Jüngling" 77 gemeint; oder, in einer späteren Formulierung, daß „der wagehalsige Führer als entzündetes Meteor herunterstürze".78 Die Relevanz dieser hochdichterischen Formulierungen für die Konzeption von Euphorions Tod liegt auf der Hand. Am Tage nach Abschluß des Phaeton Aufsatzes, am 10. August also, begann Goethe, angeregt von Karl Streckfuß' neuer Übersetzung, die Lektüre von Dantes Göttlicher Komödie. Das Resultat war der Dante betitelte Aufsatz, den er einem vom 6. bis zum 9. September datierten Brief an Zelter zur Weiterbeförderung an Streckfuß beilegte. Am 2. September las er den 12. Gesang des Inferno,79 zwischen diesem Datum und der Fertigstellung des Aufsatzes — wahrscheinlich am 4. September80 — Stellen des Purgatorio, und am 25. September — dem Tag also, an welchem

76

Siehe Anm. 74. Diese Bemerkung kann man auf zweierlei Weise ausdeuten: entweder bezieht sie sich auf den Aufsatz über Phaeton, den Goethe sodann am 9. August verfertigte (ebd., S. 277 f.); oder aber sie bezieht sich auf eine Verwendung des Motivs des vom Blitze getroffenen und zur Erde niederstürzenden Wagenlenkers in Goethes eigener Dichtung: und dies könnte sich nur auf das Ikarus-Los Euphorions beziehen, mit dessen Schicksal, sowie mit dem gesamten Helena-Akt, Goethe soeben abgeschlossen hatte. (Johns Abschrift des Aktes wurde am 10. Juni vollendet, Schuchardts zweite Reinschrift begann kurz nach der Niederschrift des Phaeton-Aufsatzes am 13. August, und diese wurden dem Buchbinder am 2. September übergeben.) Die zweite Deutung ist nicht auszuschließen, wenn auch eine so unverhüllt auf eine spezifische dichterische Arbeit deutende Tagebucheintragung wie die obenerwähnte für Goethe untypisch wäre. In jedem Falle aber deutet das Interesse an Phaeton diesem Zeitpunkt auf Euphorion hin.

77

Siehe Anm. 75. Ebd., S. 245. Hier fällt nicht nur die offenbare Verbindung mit Euphorion auf, sondern auch die mit dessen Vorbild, Lord Byron. Phaetons Verderben entspringt aus seiner Unfähigkeit, die Zügel seiner geflügelten Rosse zu lenken (siehe Goethes Phaeton. Tragödie des Euripides (Anm. 73), S. 43, Z. 145 ff.). In Goethes summarischster Aussage über die Ursache von Lord Byrons Ruin wird diese als dessen „Zügellosigkeit" bezeichnet: „Es läßt sich sehr wohl sagen, daß er an seiner Zügellosigkeit zugrunde gegangen sei", sagte Goethe zu Eckermann am 24. Februar 1825. In: Biedermann, III, S. 163, N.° 2310. Es ist amüsant, zu beobachten, daß in diesem Gespräch die Unterhaltung von Byron auf Euripides' Phaeton und von da wieder zu Byron schweift {ebd., s. 162). Tagebücher, WA, III, 10, S. 237. Ebd., S. 238.

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79 80

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ihm des Nachts seine eigenen Terzinen kamen, und lange nach Abschluß des Dante-Essays — las er „Streckfußens Fegefeuer und Paradies Dantes'". 81 Was er gelesen hat, ist im Falle des Purgatorio leicht auszumachen. Der Aufsatz schließt mit dem Hinweis auf das Erschrecken der Bewohner des Läuterungsbergs, als sie wahrnehmen, daß Dante einen Schatten wirft. 82 Goethe wird also Teile des Purgatorio gelesen haben, die Dantes Vorstellung von den Schattenleibern der Seelen am Läuterungsberge evozieren: höchstwahrscheinlich Canto III, V, XXV - XXVII, bestimmt aber Canto XXV. In diesem Gesang erklärt Statius den Schattenleib als eine Art Gürtel oder Lufthülle, die, sich um die Seelen der Abgeschiedenen herumlegend, deren einstmalige Gestaltungskraft in sich aufspeichert und in gesteigerter Form wieder ausstrahlt: eine neue, ätherische, wenn auch noch nicht die endgültige Phase des Leibes auf dem Wege zur Unsterblichkeit. 83 Man kann kaum umhin, an das Goethesche Bild der Fliege in ihrem ,Limbus' oder ihrer aura zu denken; und es ist unschwer zu erraten, wohin sich der Dichter im Anschluß an das Schattenreich des Purgatorio gewandt und was er am 25. September — dem Tag der Terzinen also — in Dantes Paradiso nachgelesen haben wird. Diese waren durch die Assoziation mit Goethes früherem Erinnerungsgedicht an Schiller von vornherein mit einer ausdrücklichen Lichtmetaphorik verbunden, die ja auch in dem Gedicht selbst, in der allmählichen Wendung des Sprechers von „Moderkält' " zum Sonnenlicht, bewahrt ist. Dieses Bildgeflecht war mittlerweile von allen Seiten gespeist worden: durch die Beschäftigung mit Phaeton, mit Lord Byron, mit Dante und, schließlich, mit Euphorions „Flammentod". Dazu kam am 21. September die — durch die Assoziation mit Dantes Schattenleibern eine spektrale Aura ausstrahlende — Erinnerung an die Fliege in ihrem Nebelgürtel oder Limbus. Man kann also mit hinlänglicher Gewißheit sagen, daß ein dergestalt „programmierter" Goethe zumindest einige der vielen Stellen in Dantes Paradiso nachgelesen haben wird, die das für diesen letzten Teil der divina commedia so charakteristische Bild der Seligen in ihren Lichthüllen beschwören. Ich zitiere lediglich eine der vielen Metaphern, die Sprache und Ton des Paradiso entscheidend prägen. Ich bin vor dir in Fröhlichkeit verschleiert, Die mich umgibt und hüllt in ihre Strahlen, Wie eine Raupe in dem Seidenbündel..., 81 82 83

Ebd., S. 248. HA, 12, S. 342. Canto XXV, Z. 7 9 - 1 0 8 .

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so führt sich Karl Martell, der frühverstorbene Jugendfreund Dantes, bei diesem ein. 84 Die doppelte Leuchtkraft zweier Auferstehungssymbole — das der Lichthüllen durchschichtet von dem der Schmetterlingschrysalide — wird in des Dichters Phantasie ein reges Nachbild hinterlassen haben. Verschiedenstes lag also in diesem Geiste latent: Euripides' Phaeton, jenes „entzündete Meteor"; die schimmernden Lichthüllen des Paradiso-, das „glänzende Meteor", Lord Byron also, hinter dem ja Euphorion steht, wie die Apotheose dieser Figur überhaupt das Bindeglied zwischen all diesen Lichtgestalten ist. Ein Strahl dieser gebündelten und machtvollen Lichtmetaphorik war bereits, wie gesagt, in den Terzinen absorbiert worden; mehr aber auch nicht. Zu entschiedener Gestaltung ergriffen sich die poetisch=morphologischen Elemente, die sich bislang in Goethes Imagination labil herumgetrieben hatten, am 27. September, dem Tage nach der Niederschrift der Verse auf Schiller, als er in einem Glas frischen Brunnenwassers den von einer klaren Lichtgestalt umsäumten Leichnam einer Fliege entdeckte. Können wir daran zweifeln, daß das flügellahme Insekt mit seinem dergestalt von dichterischen Assoziationen aufglänzenden Nimbus die letzte Präfiguration einer schöpferischen Erregung war, die den Dichter seit Monaten in ihrem Bann hielt und noch keineswegs abgeklungen war? Das Präzipitat dieser morphologischen „Entdeckung", ihrerseits der Niederschlag einer unmittelbar vorhergehenden „Erfindung", nämlich der Terzinen an den Freund, war — diese Hypothese stelle ich nunmehr auf — die weitere Erfindung von nachträglich in den Helena-Akt eingerückten Schlüsselversen sowie auch möglicherweise der Bühnenanweisung, 85 die auf Tod und Verklärung Euphorions Bezug hat. Von „physischen Auferstehungen" 86 sollte Nees von Esenbeck binnen kurzem sprechen; und bereits

84

85 86

Canto VIII, Z. 52—55. Ich zitiere nach Die Göttliche Komödie, Italienisch und Deutsch, übersetzt von Hermann Gmelin, Stuttgart 1974—1975. III. Teil Das Paradies, S. 95. Siehe auch Canto V, Z. 124 ff. und 172 ff. (Gmelin S. 63 und 65); XIV, Z. 37 ff. (S. 165); XXI, Z. 55 ff. (S. 251) und Z. 82 ff. (S. 253); XXVI, Z. 97 ff. (S. 317 f.) u. a. Der handschriftliche Befund gibt darüber keinen eindeutigen Aufschluß. In dem wahrscheinlich von Esenbeck selber für den Druck gestrichenen Schlußparagraphen von Achlya (aquatica), einem Aufsatz, den er am 30. April 1827 Goethe übersandte und welcher diesen höchlich erregte. Esenbeck datiert die diesem Aufsatz und seinem Pendant zugrundeliegenden Beobachtungen als vom „23. September (1827)" {LA, I, 10, S. 235 ff.); es ist aber offenkundig, daß er sich in dieser Datierung irrte und daß der Aufsatz, dessen Goethe in seinem Antwortschreiben vom 24. Mai 1827 {WA, IV, 42,

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jetzt — faktisch seit dem Erscheinen von Herders Ideen — war die Luft von derlei Vorstellungen geschwängert. Über die dichterische Erfindung, die diese Entdeckung zeitigte — es handelt sich um den Trauergesang des Chores — wird noch zu sprechen sein. Vorerst gilt es anzudeuten, wie aus einem derart spärlichen Quell diesem Künstler eine derart grandiose „Offenbarung" zuzufließen vermochte. Wie alles in dieser Periode, ist dies eine Frage des genauen Zeitpunktes. 8.

Ginge es in dem Brief vom 27. September 1826 nur um ein Nichtiges bemäntelndes, anthropomorphes Sinnbild für eine tote Fliege, so wäre er einigermaßen irrelevant. Aber in diesem Dokument handelt es sich um viel, viel mehr. Ein schwer überforderter Mensch, mit seinen toten dramatis personae, seinen eigenen Bestattungsplänen, von Schillers Schädel im Souterrain ganz zu schweigen, sah — sah! — urplötzlich das, worauf sich sein Blick wie eine Pistole gespannt hatte. Freilich, in des Freundes Hirnschale hatte dieser „Adept" eine lebendige Offenbarung von Gott=Natur noch jenseits des Todes erblickt. Aber das war visionäre Fernsicht. ...jenes Meer..., Das flutend strömt gesteigerte Gestalten..., war kein Gegebenes; ein Gefordertes war es, das die „Flamme übermächtiger Geisteskraft" und Phantasie und Sprachgewalt an einen zum Zerreißen gespannten Geist heranholten, gleichsam als Seelenschutz gegen „die dürre Schale" in des Schauenden noch lebenswarmer Hand. Und ein ähnlich Gefordertes waren Euphorions strahlendes Haupt und Aureole, gesetzt den Fall, daß der Dichter diese Bilder bereits zu Papier gebracht hatte, was nicht eindeutig auszumachen ist. Wir haben es hier mit Anschauungen zu tun, die aus einer kolossalen Angestrengtheit des Glaubens hervorgingen. „Credo quia absurdum", sagt Tertullian; und Goethe sekundiert:

S. 198) ausdrücklich gedenkt, vor dem 30. April 1827 niedergeschrieben worden sein muß. Frau Prof. Dr. Dorothea Kuhn bestärkt mich in dieser Annahme wie auch in der Überzeugung, daß die Datierung des Aufsatzes in der Weimarer Ausgabe (WA, IV, 42. S. 367, Anm. zu 172, ebenso wie dessen in HA angegebener Titel ( Briefe 4, S. 597, Anm. zu S. 235, 1) irrig sind. Auch Frau Dr. Irmtraut Schmid vom Goethe- und SchillerArchiv in Weimar ist der Ansicht, der Aufsatz stamme keinesfalls aus dem Jahre 1825 und sei später anzusetzen. Siehe auch Anmerkung 33.

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„Glaube ist Liebe zum Unsichtbaren, Vertrauen aufs Unmögliche, Unwahrscheinliche." 87 Hier aber, in dem Wasserglase, spielte sich etwas ungleich Einfacheres ab. Goethe sah das Unsichtbare. Er sah es mit seinem leiblichen Auge. Wie eine Frucht fiel ihm, nach angestrengtestem Hinauflangen, das Unmögliche in den Schoß. Was war es, das er da sah? Er sah „das Leben aus dem Tode", oder, in den Worten seines Briefes vom Vorjahr, „aus der Verwesung, auf seltsame Weise, ein Fort= und Fortleben". 88 Er sah — so sollte Nees von Esenbeck das, was Goethe hier erblickte, binnen kurzem zusammenfassen — „Spuren des Lebens, die den Todt und Untergang aller Organismen zu neuen physischen Auferstehungen überwinden...". 89 In und aus der Zerstörung des aufgelösten Leichnams sah er, „höchstmerkwürdig", eine neue, sich entschieden abzeichnende Lichtgestalt. Er sah genau das, wovon achtzehn Jahrhunderte früher der Apostel Paulus Zeugnis abgelegt hatte: „...aber die Verweslichkeit wird anziehen die Unverweslichkeit, und das Sterbliche wird anziehen die Unsterblichkeit..."; 90 und wiederum: „sintemalen wir wollten lieber nicht entkleidet sondern überkleidet werden, auf daß" — so die apostolische Verheißung — „das Sterbliche verschlungen würde von dem Leben" . 91 * Das Kleid der Unsterblichkeit sieht Goethe, wie es sich selbst aus der Verwesung webt; und die abschließende Betrachtung dieses Bibelfesten gleicht dem Credo des Apostels bis in den Wortlaut hinein. Der ewigen Tagseite gibt er den Preis, „wo der Tod immer vom Leben verschlungen wird". * Paulus ist sich über das visionäre Wesen seiner Schau im klaren. Wir wüßten nur Stückwerk, Stückwerk weissagten wir; 92 und: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht." 93 Goethe aber, nach angespanntester Fernsicht, sieht „das Leben aus dem Tode". Nicht, daß er dieses Mysterium aus den ihm so teuren Hieroglyphen der Natur entziffert hätte, aus der radikalen Metamorphose etwa, die der Schmetterling durchsteht. Dies wäre nur allzu naheliegend gewesen: denn — wir haben es gesehen — hinter dem rapiden Wachstum und dem unaufhaltsamen Selbstopfer Euphorions — 87 88 89 90 91 92 93

Maximen und Reflexionen N° 92. HA, 12, S. 377. An Nees von Esenbeck, 13. November 1825, WA, IV, 40, S. 124. Siehe Anmerkung 86. Paulus, I. Korintber, 15, 54. Paulus, II. Korinther, 5, 4. I. Korinther, 13, 9. I. Korinther, 13, 12.

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„Selbstopfer" ist einer der ursprünglichen Titel von „Selige Sehnsucht", dem Gedicht, welches von dem Symbol des Schmetterlings für den Menschen schlechthin Besitz ergreift — steht das Modell eben dieses räselhaft selbstverschwenderischen Wunders der Natur. Indes, in diesem Augenblick, da es um das unerbittliche Schicksal seines todessüchtigen Lieblings ging, in diesem Moment in Goethes innerer Biographie wäre die Verheißung des Schmetterlings zu „euphorisch" gewesen. Noch immer wäre das, was er mittels dieses Modells ausgerichtet hätte, Naturgeheimnis nachstammelnde Fernsicht gebieben. Denn der Mensch — dies ist unser luziferisches Erbe — ist der radikalen Umartung im Biologischen so unfähig wie die — Fliege. Er entsteht und er vergeht. Nur im Seelischen hat er an dem erlösenden Rhythmus eines „Stirb und werde" teil. Schauer der Vernichtung, wie sie dem Goethe jener Tage und Wochen über den Rücken rieselten, hätte dieses sonnenhafte Symbol nicht zu beschwichtigen vermocht. Nein: in diesen beklommenen Herbsttagen bedurfte es eines schaubaren Unterpfandes, Goethes Glauben zu entfachen. Der ganzen Grandezza der schaffenden Natur bedurfte es, eines von ihr sichtbarlich signierten Freibriefes für die Unvergänglichkeit, gültig selbst für die todverfallenste, wandelloseste Kreatur in ihrem Reiche. Diese Gnade wurde ihm bei dem Anblick des ertrunkenen Insekts mit dem lichten Nimbus zuteil. In einem Glase klaren Brunnenwassers offenbarte sich diesem still Schauenden die ganze Huld der Natur, „wo der Tod immer vom Leben verschlungen wird". Das ist das Herzbewegende an diesem Tage, an diesem Brief. Und solch geheimer Stärkung bedurfte der Dichter, um Tod und Verklärung Euphorions zum rechten Leuchten zu bringen. 9. Dies sollte alsbald geschehen, im Trauergesang des Chores nach Euphorions tödlichem Sturz; eine Fuge, die vonnöten war, um den Klageschrei des Jünglings „aus der Tiefe" mit dem maßvollen Abscheiden Helenas sowie mit den weiteren Schicksalen der Choretiden in Einklang zu bringen und dergestalt dem Akt eine reine Rundung zu verleihen. Daß diese Strophen — sowie möglicherweise auch die vorangehende Bühnenanweisung (sie betrifft Euphorions Todessturz, sein Entschwinden und die kometenartig aufsteigende Aureole) — nachträglich in die bereits am 2. September abgeschlossene Reinschrift des Aktes eingefügt wurden, unterliegt meines Erachtens keinem Zweifel. Diese Partien müssen entweder unmittelbar nach dem 27. September, in den letzten Tagen des Monats, in

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jedem Falle aber vor Absendung des Manuskripts an Cotta am 29. Januar 1827 niedergeschrieben worden sein. Nicht nur die inneren Indizien, wie ich sie dargelegt habe, weisen darauf hin, daß Goethe zu dem Zeitpunkt, dem wir nachspüren, mit Euphorions Los innerlich noch keineswegs fertig war. Auch die Handschriften, die uns vorliegen, lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, daß dieser gewichtige Übergang nachträglich in ein zu eng bemessenes Spatium hineingequetscht wurde. 94 Was in aller Welt aber hatte die mikrokosmische Entdeckung vom 27. September hergegeben, das einem tief Beklommenen die Lippen zu lösen vermochte und seiner tragischen Hochleistung, der Helena, zu einem ausgleichenden Abschluß verhalf? Daß Euphorions Ableben eine grundsätzliche Entscheidung seitens des Dichters erforderte, liegt auf der Hand. Das Körperliche des Jünglings entschwindet, seine letzten Laute dringen, „aus der Tiefe", gerade noch an unser Ohr (vor Z. 9905), seine Aureole aber „steigt wie ein Komet zum Himmel a u f (vor Z. 9903). Präziser hätte der Dichter die Gegenstrebigkeit des Ablaufes, der sich hier vollzieht, nicht markieren können. Mit dieser in höheren Bereichen verschwebenden Gestalt, mit diesem Klagelaut des Jünglings aus dem „düstern Reich" (Z. 9905) hatte er eine Kluft aufgerissen, die zu verhüllen geschweige denn zu überbrücken schwerlich anging. In der atemberaubenden „Pause" — Goethe fügte das Wort eigenhändig in die Handschrift ein (nach Z. 9906) 95 — erhob sich, lautlos wie ein Gespenst, die Frage nach Leben oder Tod; und hätte der Dichter eine gewissenhafte Antwort auf diese Frage gescheut, der Helena-Akt, ja, das Drama in seiner Gesamtheit! — hätten an jener Unschlüssigkeit in letzten Dingen gekrankt, die man ihm nur allzugern vorwirft.

94

Auch H79 weist eine der letzten Handschrift (H2) entsprechende Nahtstelle auf. Der auf Blatt 10 von H79 niedergeschriebene Trauergesang des Chors ist nicht, wie der Rest auf Blatt 10, von Johns Hand, sondern von der Schuchardts, zuerst im Unreinen, sodann sauber abgeschrieben in H2 eingeheftet. Dies bezeugt m. E. die Entstehung der Verse nach Schuchardts Eintritt in die Szene am 13. August. — Am 27. September — also am Tage des Briefes an Nees von Esenbeck, um den es mir hier geht, vermerkt Goethes Tagebuch: „Einiges concipirt und vorbereitet" (I VA, III, 10, S. 249); am 3. Oktober: „Buchbinder Bauer einiges heftend, anderes vorzeigend" {ebd., S. 252). Diese zwei Eintragungen könnten durchaus Indizien für die genaue Datierung der eindeutig nachträglich hinzugefügten Verse darstellen.

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WA, I, 152, S. 126. Auch die „Völlige Pause" am Ende des Chorgesanges (nach Z. 9938) ist ein eigenhändiger Einschub Goethes, den er nachträglich noch um das „Völlige" verstärkte, ebd., S. 127.

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Hier nun erwies das winzige Ereignis vom 27. September seine Durchschlagskraft. Denn hatte dem Dichter aus jenem Wasserglase nicht beides entgegengeschaut, der Tod und das Leben, und nicht nur in ihrem unlöslichen Verschlungensein, sondern auch in ihrer Rangordnung? „...das Leben aus dem Tode" hatte er erblickt, aus Schimmel hatte sich ein Nimbus hervorgetan; oder, in den Worten jenes früheren Briefes, „...aus der Verwesung, auf seltsame Weise, ein Fort* und Fortleben". 96 Was ihn an diesem Phänomen am unauslöschlichsten beeindruckt hatte, war die kolossale Elastizität, mit welcher jene aura — so nennt er hier den Nimbus — noch aus dem aufgelösten Organismus sich energisch — und entschieden — gestaltete. Das unglaubhafte Paradox, das sich da dem Verblüfften offenbart hatte, war ihm als Faktum der physischen Natur entgegengetreten. Dennoch wird er sich bei aller Selbstvergessenheit der Schau rückblickend darüber im klaren gewesen sein, daß es die Augen des Geistes waren, mit denen er da geschaut hatte. Es wird ihm kaum entgangen sein, wie groß der Anteil war, den sein von Dante, Phaeton und den Terzinen, vor allem jedoch von seinem Euphorion noch immer übervoller Geist an dem „gesteigerten Phänomen" hatten, das ihm hier ganz unversehens von außen entgegentrat. Seiner scharfen Sinne und seiner unermüdlichen Aufmerksamkeit bedurfte es, in dem verschimmelnden Insekt Gestalt wahrzunehmen, seines ahnungsvollen Gespürs für Zusammenhänge aller Art und seiner beweglichen, sehnsuchtsvollen Phantasie, diese Gestalt als Nimbus zu begreifen, wo ein Nees, selbst durchaus kein phantasieunbegabter Mensch, von „einer greisen fluktuierenden Schimmel* oder Algenbildung" geschrieben hatte. 97 Dieser Phantasie, exakt, sinnlich, aber eben denn doch Phantasie, vertraute sich Goethe rückhaltslos an. Erachtete er sie doch als das mächtigste und präziseste Instrument sowohl fruchtbarer Erkenntnis als auch künstlerischen Schaffens. Sein eigenes Konterfei war es, das ihn aus der Lichtgestalt unter dem Wasserspiegel anblickte, der eigene Elan, der den Tod wohl sah und ihn auch zutiefst scheute, ihn jedoch in elastischer Schnellkraft des Geistes hinter sich zurückzulassen und zu überflügeln vermochte. Und diese „Flamme übermächtiger Geisteskraft" (Z. 9624) ist es, die der Lebens- und Gestaltverschworene nunmehr seinem jungen Ebenbild ver-

96 97

Siehe Anmerkung 88. LA, I, 10, S. 234.

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lieh, 98 ihm, dem Schnellkräftigen, dessen Haupt gleich zu Anbeginn von goldenen Flammen umkränzt ist, der bei seinem himmelstürmenden Ende einen Lichtschweif nach sich zieht und, umstrahlt von einer Aureole, kometenartig in höheren und höchsten Regionen entschwindet. Das Körperliche seines todverfallenen Helden konnte er ebensowenig aus der Tiefe retten, wie er den flügellahmen Leichnam im Wasserglase ins Leben zurückrufen vermochte. Eine höhere, geistige Existenz aber konnte er dem „Genius ohne Flügel" (Z. 9603) wohl anweisen, jetzt — aber auch erst jetzt! —, da er mit eigenen Augen sah, daß das Leben selbst die geringste aller Kreaturen aus der Verwesung in eine Unausdenkbares verheißende Lichtgestalt auszusprossen ermächtigte. Dieser Bestätigung seines „originalen Wahrheitsgefühles" hatte er bedurft; jetzt endlich war die Bahn frei, in die „Todesfuge" der Helena eine Lebensfuge einzupassen und Vergehen sowie Fortleben seines Helden mit sich selbst im Einklang zu zelebrieren. 10. Eine wechselreiche Strecke haben wir zurückgelegt: von einer Erfindung über eine Entdeckung zurück zu einer lang überfalligen Erfindung, dem wichtigsten dieser Ereignisse. Die von dem Zufluß Dantes, Euripides' und anderer literarischer Anregungen gespeisten Terzinen überbordeten in der blitzartigen Offenbarung des Tierleichnams mit dem lebenskündenden Nimbus; und diese Entdeckung wiederum entließ aus stillen Tiefen die ausgesparten Strophen um Euphorions Tod und Verklärung, die sich dem Dichter versagt hatten. Ja, wir dürfen wohl behaupten, diese lang vorbereitete und dennoch urplötzliche Entdeckung war es, die den kunstgerechten Abschluß der gewaltigsten Leistung Goethes im Felde der Tragödie in die Wege leitete — eine Leistung, die bis zu jenem schicksalhaften 27. September an einem schweren Defizit gekrankt hatte: an dem noch ungelösten Ineinander*Verschlungensein von Leben und Tod. Fast ist es irreführend, von „Erfindung" und „Entdeckung" zusprechen, als handle es sich im Falle Goethes um zwei separate, reinlich von einander trennbare Tätigkeitssphären. Wir haben gesehen, wie Erfindung und Entdeckung täglich, ja stündlich nebeneinander herliefen, wie das eine das

98

Ähnliche Gedankengänge verfolgt W. Emrich (in: Die Symbolik von Faust II. Sinn und Vorformen, Frankfurt am Main, Bonn 1964, S. 353 f.) in einer Zusammenstellung aus verschiedensten Kontexten entnommener Zitate.

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andere bald auslöste, bald sich mit ihm verflocht, und wie sich so manches Mal die zwei Spuren zu einem einzigen Geleise zusammenschlössen. In jenem „gesteigerten Phänomen" der ertrunkenen Fliege mit ihrem unverweslichen Nimbus — selbst eine „ ,poetische' Metamorphose" par excellence — lag jene folgenreichere „poetische Metamorphose" des schönen Jünglings in ein schwereloses, leuchtendes Medium gleichsam wie in einem Urei beschlossen; und dies war eine „poetische Metamorphose", die Jahrhunderten zu zehren geben sollte. Wie Zunder in einen Dynamithaufen schlug es ein, als die Natur der Phantasie des Schauenden ein Analogon dessen von außen entgegentrug, was seine Antizipation aus dem eigenen Inneren heraus schon längst entwickelt hatte — die Terzinen bezeugen es! — und diese innere Gewißheit legitimierte. Krankt aber eine solche Argumentation nicht vielleicht doch an einem logischen Kurzschluß? Hat Goethe nicht eben die Bestätigung seines „originalen Wahrheitsgefühles" in die äußere Natur hineinprojiziert, derer der Mensch und der Dichter in ihm bedurften? Meine Antwort darauf ist ein uneingeschränktes „Nein". Wir müssen die Tatsache im Auge behalten, daß die Schau des mit einem Nimbus bekränzten Insekts sowie die Folgerungen, die Goethe aus diesem Anblick zog, durchaus keine Verfälschung des objektiven Sachverhaltes darstellten, wie er der zeitgenössischen Biologie zugänglich war. Lyngbye, Carus, Meyer, Esenbeck und andere federführende Naturwissenschaftler der Zeit waren einmütig der Meinung, gewisse Verwesungserscheinungen niederer Lebensformen — als da etwa sind: Schwämme, Algen oder auch Fliegen — seien als Manifestierungen einer weiterwirkenden Metamorphose des abgelebten Organismus zu interpretieren; und nicht nur Goethe, sondern die Neptunisten in ihrer Gesamtheit schrieben dem Wasser alle lebenserhaltende und ^steigernde Funktion zu. Man lese einen Schlüsselparagraphen von Esenbecks Aufsatz Achlya (aquatica), und man wird sich von der einzigartigen Rolle, die das feuchte Element in der zeitgenössischen Vorstellung spielt, unschwer überzeugen und den daraus resultierenden erregten Spekulationen seriöser Forscher mit größerem Verständnis begegnen. Die unterschiedlichen Folgen des Fliegentodes an der Luft und im Wasser miteinander vergleichend, faßt Esenbeck seine Beobachtungen — sie lagen Goethe vor — folgendermaßen zusammen: „...sehen wir..., wie das Wasser das Leben nährt, die Luft es aber austrocknet und tötet, wenn nicht Flüssiges zu rechter Zeit nachgeführt wird, so dürfen wir kein Bedenken tragen, jenen bestäubten Hof, der

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die an Fensterscheiben haftenden Fliegenkörper umgibt, mit der sich im Wasser aus ihnen erzeugenden Acblya in Verbindung zu bringen, ja beide für dasselbe zu halten, für das organische Atom, wie es an der Luft erstirbt und im Wasser neu erwacht." 99 Ohne indes den soliden Wahrheitsanspruch einer Goetheschen Entdekkung, wie der, von welcher die Rede ist, prinzipiell zu schmälern, müssen wir über jenes „originale Wahrheitsgefühl", das er zu besitzen bekennt, genauere Rechenschaft ablegen. Und dies bedeutet die Frage nach dem Verhältnis von Welt und Geist, wie es in Goethes Erfinden und Entdecken zutage tritt. Wenn er selbst von einer obwaltenden „Synthese von Welt und Geist" spricht, so sind wir keineswegs erstaunt. Denn aus dem bislang Gesagten ist es ja offenbar, daß sich in seinem Falle Welt und Geist alles andere als unverwandt gegenüberstehen. Was — so fragen wir nunmehr — mag wohl das Bindeglied zwischen Innerem und Äußerem sein? Daß bei dem Betrachten und Forschen Goethes immer auch die Phantasie im Spiele ist, und zwar eine exakte, sinnliche Phantasie, habe ich hier und anderswo100 hinlänglich dargetan. Dieses Organ, in gleichem Maße präzis und ahnungsvoll, befähigte den Schauenden, im Geringsten das Größte zu begreifen, im konkreten Einzelfall — sagen wir etwa in den Pflanzenablagerungen an der Elbe, in der radikalen Metamorphose des Schmetterlings oder auch in dem Aussprossen des Fliegenleichnams — die großen Gesetzlichkeiten der Natur zu erkennen: ihre Polarität, ihre Steigerung, ihre Selbsttranszendierung, ja, letztlich den Sieg des Lebensprinzips über die Mächte der Zerstörung. „Die Metaphysik der Erscheinungen" 101 tat sich diesem Hellsichtigen und geduldig Schauenden auch im Kleinsten kund. Daß eben dieselbe exakte dichterische Phantasie künstlerische Gebilde, die ihm unter den Händen wuchsen, nach morphologischen Gesetzen präzisierte, ist ebenso offenbar; sie konturierte nicht nur die einzelnen Gestalten, sondern auch die Gesamtstruktur des jeweiligen Kunstwerks. Dies habe ich mehrfach aufgezeigt, und zwar anhand der Schmetterlings99 100

101

LA, I, 10, S. 237 f. Siehe Kapitel 15 dieses Buches sowie auch I. Graham, Goethe. Portrait of the Artist, Berlin, New York 1977, besonders Kapitel 8 und 13. Ebd., S. 212, Z. 1 - 3 und S. 214, Z. 26 - 29; ebenfalls in einem Brief an Nees von Esenbeck vom 23. Juli 1820 {WA, IV, 33, S. 127), wo er überdies die Verstäubungslehre als „eine natürliche Tochter der Metamorphose" bezeichnet, eine Prägung, die durch den Anklang an Goethes Drama ein Schlaglicht auf derlei Zusammenhänge wirft.

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Symbolik, die hinter F i g u r e n wie M i g n o n , F a u s t o d e r Ottilie geistert u n d diesen ihre z w a r „ g e w u ß t e " , aber weitaus nicht hinlänglich „ b e d a c h t e " Authentizität verleiht. 1 0 2 A u c h die G e s t a l t des E u p h o r i o n läßt sich, wie ich d a r g e l e g t habe, o h n e d a s stete G e w a h r s e i n eben dieser m o r p h o l o g i s c h e n H i n t e r g r ü n d e nicht in der schlafwandlerischen Sicherheit u n d Ö k o n o m i e ihrer i m m e r h i n s o n d e r b a r e n L i n i e n f ü h r u n g w ü r d i g e n . D i e s e exakte sinnliche Phantasie aber, in der der D i c h t e r u n d F o r s c h e r ü b e r e i n k o m m e n , speist sich in beiden S p h ä r e n gleichermaßen aus der fast einmaligen E m p a t h i e dieses Dichtend=Schauenden. W o m i t ich jenes innige E i n v e r n e h m e n zwischen G e g e n s t a n d u n d Selbst, Welt u n d G e i s t meine, das G o e t h e als „ z a r t e E m p i r i e " beschreibt. O b er n u n erfindet o d e r entdeckt, i m m e r überfallt ihn „ f r e m d e F ü h l u n g " — so d r ü c k t er es in

Selige Sehnsucht aus — überfällt ihn das „ M i t g e f ü h l " des „ G e g e n s t a n d e s " mit einer solchen „ I n - S t ä n d i g k e i t " , daß er in v ö l l i g e r Selbstvergessenheit aus diesem u n d dessen eigensten L e b e n s r h y t h m e n heraus zu reden scheint. In dieser Unbestechlichkeit seines V o n - I n n e n - S p r e c h e n s — d a s m a n ihm so h ä u f i g abspricht — ist er wie sonst nur n o c h Shakespeare. D i e s aber ist die G a b e , die er im Sinn hat, w e n n er v o n seiner „ A n t i z i p a t i o n " spricht, d e m O r g a n also, welches das B i n d e g l i e d zwischen Welt u n d Selbst herstellt. I h m ist nicht nur, wie d e m G r a p h i k e r R o o s , der d u m p f - g ä h n e n d e Z u s t a n d v o n S c h a f e n „ d u r c h s i c h t i g " — s o beschreibt er dies V e r m ö g e n —, n o c h auch nur, wie er v o n sich selbst b e k e n n t , die Welt des Lichtes u n d der F a r b e n ; in seinem Inneren trägt er ein v o r w e g n e h m e n d e s Wissen u m die Struktur» u n d W a c h s t u m s g e s e t z e der äußeren Welt. D i e s e s A u ß e n hilft er konstituieren, g a n z in d e m Sinne, in d e m K a n t das O b j e k t der Wahrnehm u n g konstituiert. D a z u b e f ä h i g t ihn seine e x a k t e sinnliche Phantasie; u n d deren L e b e n s n e r v ist, w i e wir jetzt d u r c h s c h a u e n , jene innige F ü h l u n g mit d e m A n d e r e n , ja, jene v o r g e f ü h l t e Identität mit d e m i h m e n t g e g e n k o m m e n d e n Ä u ß e r e n , zu welcher er sich in der e i n g a n g s zitierten M a x i m e selbst bekennt. Z u s a g e n , w i e G o e t h e es bei G e l e g e n h e i t selbst getan hat, er habe die N a t u r a u s w e n d i g g e l e r n t 1 0 3 u n d k ö n n e sie n u n g l e i c h s a m v o m

Blatt

spielen, w i r d d e m wirklichen T a t b e s t a n d auch nicht annähernd gerecht. D e r g l e i c h e n k ö n n t e g e g e b e n e n f a l l s a u c h ein p h o t o g r a p h i s c h e s G e d ä c h t n i s leisten. N e i n : in der K e n n t n i s der natura naturata

e r s c h ö p f t sich dieser

erstaunliche G e i s t k e i n e s w e g s , selbst nicht in der kollektiven B e d e u t u n g 102 103

Siehe Kapitel 1, 2, 3, 4 und 7 dieses Buches. Zu Eckermann am 18. Januar 1827. AGA, 24, S. 215.

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dieses Begriffes. Die schaffende Natur, natura naturans, und deren Lebensund Zeugungsgesetze sind es, auf welche Goethe in einer geradezu unheimlichen Weise eingespielt ist; eine Erkenntnis, die er Herder von Italien anvertraut. In diesem Sinne müssen wir sein wiederholtes Dictum auslegen, ein jeglicher wahrer Schöpfer sei eine zweite, oder andere, Natur.104 Indes, auch dies zu sagen, ist noch nicht genug. Denn Goethe denkt nicht nur die Natur, indem er sie erforscht, und „tut" sie dichtend. Wenn er einmal über Raffael bemerkt, Denken und Tun seien bei ihm „gleich vollkommen",105 so bedeutet dieses „gleich" keineswegs nur „in gleichem Grade", sondern, darüber hinaus, „zur gleichen Zeit". Ähnliches trifft auf ihn selbst zu. Sein Denken ist eine Art Tun, sein Tun ein Denken. Er könne nur denken, „in so fern ich produciré", gesteht er.106 Von der Ausführung einer Inspiration hat er einmal gesagt, die „Endpunkte" seiner Gedankenkette stünden bereits „leuchtend da..." 107 . Will sagen: schon in seinem kreativen Denken steht Konkretestes des noch im Detail Auszuführenden im Voraus vollständig „da" — Goethe verwendet das Wort „dastehen" des öfteren in Zusammenhängen, wo es ihm um das unerklärliche „Fertigsein" eines noch kaum Begonnenen geht —, gerade so, wie ihm das intellektuelle Gerüst eines sich ihm unter den Händen Bildenden bereits vollkommen präsent ist. Dieses Ineinander von Denken und Tun vollzieht sich mit einer derartig nahtlosen Geschwindigkeit, daß man manchmal meint, ein solcher Geist stehe der Simultaneität des intellectus archetjpus näher als dem eines menschlichen Schöpfers in seinem umschichtigen Nacheinander. In diesem Sinne darf man wohl sagen, was ein so verhüllter Mensch, wie Goethe es war, nie und nimmer von sich selbst gesagt hätte: eine geistige Schöpfung Goethes hilft gleichsam Welt in der Welt mitkonstituieren — sei dies nun Die Metamorphose der Pflanzen oder das /wr/-Drama oder ein kleines Gebilde wie Um Mitternacht — in eben dem Sinne, in welchem die überragende Figur seines Alters — ich meine Makarie — an den gesetzlichen Abläufen des Kosmos teilhat. Derartiges meint der Dichter mit seinen Worten von der „Gottähnlichkeit" des Menschen, dergleichen mit seinem Bekenntnis, er besäße „die seligste Versicherung" „von der ewigen Harmonie des Daseins". Wie leise sind solche Worte gesprochen, und dennoch, wie atemberaubend sind sie! 104

105 106 107

Siehe z. B. Italienische Reise I, 27. Oktober 1786, HA, 11, S. 122, oder Goethes Brief an den Herzog Carl August vom 25. Januar 1788 aus Rom {WA, IV, 8, S. 328). Diese Überzeugung ist bereits in der Rede Zum Shakespeares-Tag voll ausgeprägt {HA, 12, S. 227). Zu Eckermann, am 6. Dezember 1829. AGA, 24, S. 373. An C. von Knebel, 15. März 1799. WA, IV, 14, S. 43. Zu Eckermann, am 11. März 1828. AGA, 24, S. 679.

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11. Wie die von ihm verehrten Großen — wie Raffael, Shakespeare und Mozart — wußte also auch Goethe von einem im tiefsten Grunde zeitentbundenen Schaffen. Von „geistiger Schöpfung" spricht er; 108 und wenn er das sagt, so meint er „Schöpfung" in allem Ernste! Aber auch dieser Große wußte, er sei ein Sohn der Zeit. Tragischstes aller Menschenlose, für menschliche Schöpfer aufgespart, eigenst zu dem Zweck — so etwa interpretiert Genesis und auch Piatons Symposium — damit die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Bitterstes Schicksal, an dem Schöpfergeheimnis teilzuhaben und dennoch sterben zu müssen! Der frühe Goethe — der Dichter des Prometheus'Fragments zum Beispiel — hatte unter dieser Bürde geächzt und dagegen aufbegehrt. Auf eine zweifache, gleichsam punktuelle Ewigkeit der Qualität hatte er gepocht: auf die Ewigkeit der eigenen Schöpferkraft und auf die seiner allumfassenden Liebe für die mitleidende Kreatur. Wer das All liebend in sich hegt und schaffend austrägt, der braucht die Götter nicht. Ist er nicht selber göttlich? Doch auch dieser Mächtige bedarf einer wohlgesonnenen Gottheit, seinem Ton Atem einzublasen. Lange kaute Goethe an diesem Sauerteig, auch dann noch, als er schon längst ein Entsagender geworden war. Der Dichter der Wahlverwandtschaften, jenes Hohenliedes der Entsagung, der seine Ottilie, vorgeblich aus einer Marotte Eduards, in einem gläsernen Sarg zur Ruhe bettet —: ist er nicht still verzehrt von dem Drang, das Geheimnis des Lebens, ja „das Leben aus dem Tode" unverhüllt zu sehen? Und genau besehen, sagt uns dies seltsame Symbol nicht, daß ihm dieses Geheimnis durchsichtig sei, ein — wie er schreibt — offenbares Geheimnis? 109 Ähnlichem begegnen wir auch bei dem plastischen Anatom in den Wanderjahren, deren Untertitel bekanntlich Die Entsagenden ist; jene wunderliche Gestalt, die „an der Seite der Elohim" das Mysterium der Lebensorganisation, nicht bloß, wie der Italienreisende vierzig Jahre früher in den öffentlichen Gärten von Palermo, sondern noch unterhalb der menschlichen Epiderm erblicken will. 110 Diesen Urtrieb, dem Leben auf seine geheimsten Schliche zu kommen, sich seiner noch in den zartesten Operationen von Fortzeugen und Verge-

108 109 1,0

Zu Eckermann, am 20. Juni 1831. AGA, 24, S. 759. An Zelter, am 1. Juni 1809. WA, IV, 20, S. 346. III, 3. HA, 8, S. 329.

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hen gleichsam zu bemächtigen, teilt Goethe mit den ihm ebenbürtigen ganz Großen. Verbürgt er doch den nur allzu menschlichen Wunsch, im großen, physischen Kosmos „gleich vollkommen" tun und denken zu können, so wie es ihnen eine Zeitlang in dem geistigen beschieden ist, und sich der Unvergänglichkeit jener sinnlich=spirituellen Organe zu versichern, die in dem engen Raum ihrer irdischen Existenzform eine geistige Schöpfung von Ewigkeitswert gezeitigt hatten. Mit dem Sophokles des thebanischen Rätsellösers teilt Goethe diese kindlich-sublime Neugier, mit Dante, dessen alter ego wissen will, wie ein Körper in einen anderen, soliden, „hineinkriecht" 111 und den in seinem irdischen Leibe auferstandenen Evangelisten Johannes zu sehen verlangt. 112 Er teilt sie mit dem Shakespeare der sogenannten Auferstehungsdramen — des Pericles, des Prospero und des Leontes also — und er teilt sie mit seinem eigenen Geschöpf, dem Faust, der den Gang zu den Müttern besteht. Noch den reifen Goethe der Maximen bewiegt das Bewußtsein der Gottähnlichkeit des menschlichen Schöpfers, den alten Mann noch zieht übermächtiger Liebesdrang zu jeder Mitkreatur, nach unmittelbarer Teilhabe an dem Schöpfergeheimnis zu trachten. Je und je bleibt das frühe prometheische Erbe in ihm wach. Wie still aber ist es mittlerweile um den alten Herren geworden, wie gelinde dringt jenes „man mag so gern das Leben aus dem Tode betrachten..." aus dem Brief vom 27. September 1826 an unser Ohr! Und wir rücken jene allzumenschlichen Ausschläge ins rechte Lot, indem wir uns noch einmal das Bild des Greises vergegenwärtigen, das uns durch diese Seiten begleitet hat. Über ein Wasserglas gebeugt steht er, mit seinem grünen Augenschirm, und schaut aufmerksam eine tote Fliege an. All seine angestrengten Fernsichten — Helena, Euphorion-Byron, Schiller — hat er abgelegt wie ein Kleid, das ihm zu schwer geworden ist; und mit unsäglicher Einfachheit sieht er nun das Unverwesliche in der Verwesung, die Gestalt in der Entstaltung. Wahrscheinlich ist er sich gar nicht recht bewußt, daß das mit dem Nimbus bekleidete, „gesteigerte Phänomen" im Letzten doch wohl Abglanz der Flamme eigener übermächtiger Geisteskraft ist. In dieser zarten Empirie, die sich innigst dem Fremden anheimgibt, von dem sein eigenst Gut zu sondern er sich gar nicht erst bemüht, liegt das Geheimnis dieses Menschen: seine bescheidene Übermacht, sein Zauber, seine Geborgenheit. Aus solchem „Mitgefühl", das sich wehrlos 111 1,2

Paradiso, Canto II, Z. 37 ff. (Siehe Anm. 84). Ebd., Canto XXV, Z. 38 ff.

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hineinziehen läßt in das Dasein der Mitkreatur, sei es nun in den gähnenden Zustand eines Schafes oder in die Trauer einer toten Fliege, spricht die sehr seltene Gabe von Einem, der noch in der unscheinbarsten Äußerung der großen Mutter „die Stimme der Himmlischen" vernahm. Zum Schluß sei ein kurzes Gedicht zitiert. Goethe selbst nannte es „Fliegengift", später wurde es von fremder Hand „Fliegentod" betitelt, es entstand am 4. September 1810 in Töplitz, wurde erstmalig im Jahre 1827 gedruckt und unter Parabolisches eingereiht. Es ist weithin unbekannt und lautet wie folgt: Sie saugt mit Gier verräthrisches Getränke Unabgesetzt, vom ersten Zug verführt; Sie fühlt sich wohl und längst sind die Gelenke Der zarten Beinchen schon paralysirt, Nicht mehr gewandt die Flügelchen zu putzen, Nicht mehr geschickt das Köpfchen aufzustutzen, Das Leben so sich im Genuß verliert. Zum Stehen kaum wird noch das Füßchen taugen; So schlürft sie fort und, mitten unter'm Saugen, Umnebelt ihr der Tod die tausend Augen. An dieser zärtlichen Miniatur ist nicht viel zu kommentieren. Dies sacht gleitende „und" in der dritten Zeile, wo man ein besorgtes, durch ein Komma umsichtig abgesetztes „doch" erwartet hätte, also: Sie fühlt sich wohl, doch längst sind die Gelenke Der zarten Beinchen schon paralysirt... —; dieses zweifache „so" — Das Leben so sich im Genuß verliert... und: So schlürft sie fort...: sagen sie nicht alles? Hier spricht nicht der forschend Betrachtende, auch nicht der Verfasser der Maximen; ja man möchte sagen, hier spricht kaum noch Johann Wolfgang von Goethe, das Individuum, das diese Verse niedergeschrieben hat. „...man fürchtet, zum Tier zu werden und möchte fast glauben, der Künstler sei selber eins gewesen", bemerkte Goethe beim Anblick der Schafe des Graphikers Roos; 1 1 3 und haargenau dasselbe könnte

113

Siehe Anmerkung 21.

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man über dieses seltsame Gedicht sagen. Aus diesen vor=rationalen, vorlogischen, rein vegetativen Wendungen, so ganz aus dem unbewußten Weben dieser Kreatur heraus erahnt, die sich den Tod am Leben trinkt, spricht sie — die Fliege — selbst, sprechen Leben und Natur, gerade so, wie aus der zierlichen Symmetrie der Mittelzeilen die nahende Starre des Todes spricht. Das ist „Mitgefühl", das ist „fremde Fühlung". Wer so redet, so aus dem Urgrund der Dinge heraus, der ist überall zu Hause. Und das ist Gewinn. Aber wer so selbstvergessen zu sprechen begabt ist, bezahlt auch einen hohen Preis. Es ist eben der, welcher bei dem Gedanken an den Tod einer Fliege gerade so erschauerte wie bei dem an den eigenen Tod. Und so einer ist überall zu Hause und nirgends. Darüber aber schwieg sich dieses Weltkind aus.

III. Eins und Doppelt" „Du siehst, die Liebe eines Dichters birgt immer ein wenig Verrücktheit. Nur wir Künstler verstehen ganz den Wert von Euch Frauen, weil wir selbst ein wenig weiblich sind. Balzac Mein Hirn soll meines Geistes Weibchen sein, Mein Geist der Vater... Shakespeare

Die Theologie tanzt Goethes Balladen Die Braut von Korinth und Der Gott und die Bajadere „...es ist besser freien denn Brunst leiden." St. Paul

1. Das Jahr, welches in rapider Folge die Geburt von Goethes zwei Balladen sah — Die Braut von Korinth entstand am 4. und 5., Der Gott und die Bajadere zwischen dem 6. und 9. Juni 1797 — ist ein merkwürdiges. In den Annalen der Germanistik ist es als „das Balladenjahr" verzeichnet; und man ist geneigt, hinter dieser Bezeichnung einen Strom sorglosen Fabulierens zu vermuten. Dem ist aber nicht so, wie jeder weiß, der sich in dem Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe auch nur einigermaßen auskennt. Das Jahr 1797 ist vor allem der Wendepunkt, an dem, nach gewissenhaften theoretischen Vorüberlegungen, die zwei dichterischen Kolosse Wallenstein und Faust sich unüberhörbar zum Worte meldeten. 1 Beide Dichter waren nicht mehr ganz jung. Goethe war an die Fünfzig, Schiller zehn Jahre jünger, aber leidend; und beide waren fest entschlossen, die bevorstehende Gratwanderung mit einem Mindestmaß von vermeidbarem Risiko zu unternehmen. Vor allem wollten sie sich vor einer mésalliance zwischen Form und Stoff hüten wie der, welche Wilhelm Meister, wohl auch Iphigenie und Don Carlos dem kritischen Blick nicht standhalten ließ. Die einzige Art und Weise aber, wie man derartigen, zeit- und energieraubenden Mißgriffen vorbeugen konnte — faux frais nannten die Dioskuren sie — war die schärfste Überprüfung von etwaigen Stoffen in Bezug auf ihre Eignung zu der Form, in die man sie zu gießen trachtete. Wochenlang mühte Goethe sich damit ab, die Qualifizierung der Jagd — des Stoffes also, aus dem zweieinhalb Jahrzehnte später die generisch betitelte Novelle werden sollte — für eine epische Form zu überprüfen. Keinen Vers würde er schreiben, verkündet er dem Freund, bevor er sich vergewissert habe, daß diese 1

Für eine eingehende Entstehungsgeschichte, die das theoretische Vorspiel berücksichtigt, siehe I. Graham, , „Zweiheit im Einklang". Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe'. In: Goethe-Jahrbuch, 95. Band, 1978.

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Form diesen Gehalt zu tragen imstande sei. 2 Vielleicht würde sich sein ganzer schöner Plan „in Reim- und Strophendunst" verpuffen, schreibt er, etwas kläglich scherzend, 3 am Tage nach Erhalt von Schillers Ballade Der Handschuh; und fünf Tage danach, er wäre durch seinen Faust „bei dem Reim wesen gehalten" und fürchte fast, auch seine Tiger- und Löwengeschichte möchte sich zuletzt in eine Ballade auflösen. 4 Man sieht: „Reim- und Strophendunst" sind engstens mit der Balladenform verquickt, und beide mit der Angst, die Kontrolle des wachen Verstandes könne bei dem großen Unternehmen versagen, bei welchem sie doch, nach schlimmen Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit, so sehr vonnöten sei. Denn um eben diese Kontrolle des wachen Bewußtseins handelt es sich ja bei der Ballade, wie uns dies noch Goethes kleiner Aufsatz aus dem Jahre 1821 bestätigt. 5 Eine primitive Form sei sie, schreibt er dort, in welcher „die Elemente noch nicht getrennt, sondern wie in einem lebendigen Ur-Ei zusammen" lägen, geeignet für jemanden, der seinen Gegenstand „so tief im Sinne [hat], daß er nicht weiß, wie er ihn ans Tageslicht fördern will". 6 Hier spielte man also mit einer aufgrund des Schmelzes und Reizes ihrer formalen Elemente, so wie Rhythmus, Reim und Refrain, bestechenden Form, von welcher man weder wußte, was sie an das Licht des Tages fördern, noch ob sie den Sänger loreleihaft in den Sog seines Unterbewußtseins hinablocken würde; eine Form also, vor der man sich angesichts hoher, von einem hohen Verantwortungsbewußtsein getragener Aufgaben geflissentlich zu hüten habe. So entstehen denn auch diese Erzeugnisse in einer leicht süffisanten Atmosphäre. Man klopft sich gegenseitig auf die Schulter, erfreut, daß man einen „artigen" Gegenstand gefunden habe, man ermuntert den Partner, vielleicht auch ein passendes Gegenstück zu Eigenem zu ersinnen, kurz, man läßt technisch-handwerkliche Impulse gewähren und betreibt das Reimwesen wie eine Art Heimindustrie, mit der Herablassung und wohl auch zu Zeiten dem schlechten Gewissen, mit dem große Knaben hin und wieder auf einem Teiche Schiffchen schwimmen lassen. Die Haltung der Freunde dieser nicht ganz respektablen aber dennoch eifrig gepflegten Kunstform gegenüber war also im höchsten Grad ambiva-

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Am 19. April 1797. WA, IV, 12, S. 91. Am 22. Juni 1797. Ebenda, S. 168. Am 27. Juni 1797. Ebenda, S. 170. Ballade, Betrachtung und Auslegung. HA, 1, S. 400ff. Ebenda.

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lent. Beide wußten, daß sie gerade im Hinblick auf ihre Hauptanliegen einer Auflockerung bedurften. Beide mußten abreagieren. 7 Schiller war dabei, die Riesenmasse seines Wallenstein in jambische Verse umzugießen, und Goethe wußte, daß es für seine „barbarische Composition" 8 aus mehr als einem Grund zuträglich sei, eine Weile lang auf dem „Dunst- und Nebelweg" herumzuirren, auf welchen das Balladenwesen ihn gebracht hätte; 9 konnten doch solche großen Würfe nicht ganz dem Kalkül der ratio anheimgegeben werden. Verführen lassen wollte man sich, sozusagen hinter dem Rücken des eigenen Künstlergewissens: aber nur ein bißchen. Ein verführter Verführer jedoch wollte man nimmermehr werden. Zucken sollte die Rute, nicht aber den freien Geist dem Sog einer entfesselten Phantasie überantworten. So plante man also und spielte nebenbei. Aber es war ein Spiel, welches aufs Listigste von vorneherein in den Plan einkalkuliert war. Mit solchem Trachten verbanden sich besonders bei Goethe alte, ja älteste Einsichten. Zeit seines Lebens war sich dieser Dichter über die zündende Gewalt des künstlerischen Mediums, in seinem Fall der Sprache also, im klaren, über deren Macht, sowohl die Technik wie auch die Phantasie zurückzubefruchten. In früheren Perioden, vor seiner Verbindung mit dem idealistisch vorantreibenden Schiller, hatte er sich solchen Antrieben auch vertrauensvoll überlassen. Schon der knapp Dreiundzwanzig jährige hatte erkannt, wie lebenswichtig dem Künstler Technik und Kontakt mit seinem Material seien; eine Einsicht, die klar aus seinem epochemachenden Brief an Herder vom Juli 177210 hervorgeht. Schreiben könne er aber keine Federn schneiden, klagt er da, das Violoncell spielen aber nicht stimmen. Und veranschaulicht sein Werther^Komzn nicht aufs Denkwürdigste den Bankerott einer vorstellenden Kraft, die nicht von der darstellenden gespeist wird? Der junge Mann, der die Zeilen geschrieben hatte: Wo mein Pinsel dich berührt, bist du mein, Du bist ich, bist mehr als ich, ich bin dein..., 11 wußte, was dem greisen Dichter eine unumstößliche Wahrheit war. „Das Gezeugte ist nicht geringer als das Zeugende, ja es ist der Vorteil lebendiger 7

Siehe z. B. Goethes Brief an Schiller v o m 15. April 1797. WA, IV, 12, S. 88.

8

A n Schiller, 27. Juni 1797. WA, IV, 12, S. 169.

9 10

11

A n Schiller, 22. Juni 1797. Ebenda, S. 167. Etwa 10. Juli 1772. WA, IV, 2, S. 15 ff. Des Künstlers Erdewallen, HA, 1, S. 63.

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Zeugung, daß das Gezeugte vortrefflicher sein kann als das Zeugende." 12 Dieser helle Künstlerverstand wußte, daß, aller Biologie zum Trotz, die eigentliche Empfängnis einer Inspiration neben oder selbst nach ihrer Einfleischung in einem materiellen Medium statthaben könne. Auch der Dichter des Wallenstein war dessen gewahr, dem unter der Berührung mit seinem neuen Versmedium manche bislang kaum beachtete Motive seiner Trilogie ungeahnt in der Hand aufquollen, indem andere sich wie von selbst abtrieben, ja dem der eigentliche Gehalt seines Dramas sich fast bis zur Unkenntlichkeit verschob. Und wären die schönen Distichen der Beiden über Hexameter und Pentameter denkbar, wären sie sich nicht darüber im klaren gewesen, daß der Form eine befruchtende Macht innewohnt? Wir müssen also das Jahr 1797 als ein spannungsvolles begreifen. Einerseits war da älteres oder neueres Wissen um die befreiende Macht der Form, der Technik, ein Wissen, das die Freunde an der Schwelle ihrer ehrgeizigsten Würfe halb unbewußt, halb bewußt zu der Ballade greifen ließen, gleichsam als Fünffingerübungen für das Kommende. Andererseits war da der resolute Wille, die Zügel fest in der Hand zu behalten und sich von artistischer Betörung nicht etwa einen Strich durch die Rechnung machen zu lassen. Gewichtige Entscheidungen wie die, die vor ihnen lagen, durften nur sehenden Auges und scharfen Verstandes gemacht, nicht aber der Gerichtsbarkeit des bestechlichen Ohres unterstellt werden. 2.

In diese spannungsreichen Wochen und Tage fallt die Entstehung unserer zwei Balladen. Man darf füglich von einer vulkanischen Eruption sprechen. Denn daß es sich hier um eine Verletzung der Grenzverkehrsbestimmungen handelte, unter denen das Balladenwesen statthaft war, war von Anfang an jedermann klar. Hier entstanden keine noch so „artigen" oder glücklich gewählten Massenartikel, die man sich großzügig konziliant durchgehen lassen konnte. Hier schrieb sich ein sonst so umsichtiger und wacher Künstler ungeahnten Seelentiefen entstammende, alptraumartig bedrohliche oder liebliche Visionen von der Brust, deren Ankunft ihn wohl selbst erstaunen machten, ja deren Existenzberechtigung er, gerade zu diesem Zeitpunkt, hätte abstreiten sollen. Was mag wohl das auslösende Moment dieser seltsamen Erzeugnisse gewesen sein? 12

Aus Makarkns Archiv, Wilhelm Meisters

Wanderjahre, HA, 8, S. 464, N° 27.

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Was dieses war, ist schon mehrfach gesagt worden. 13 Vor allem war es die strophische Form dieser Gebilde, genauer gesagt, der immer wiederkehrende Umschlag innerhalb des Strophengefüges: der Wechsel von fünffüßigen zu dreifüßigen Trochäen im ersten Falle, der von vierfüßigen Trochäen zu vierfüßigen Daktylen mit Auftakt im zweiten Falle, in beiden mit einem die zwei Halbstrophen verbindenden Endreim. Diese Strophenform mit ihrem unvermuteten Umbruch ist erregend. Betrachten wir sie genauer und fragen wir, erstens, wie sie dazu geschickt ist, den Gehalt dieser zwei Liebesgedichte zu artikulieren, sodann, wie sich diese zwei Erzeugnisse dem theoretischen Stand der Dinge eingliedern, wie ich ihm im Vorigen zu umreißen versucht habe. Man hat die Strophe der Braut von Korinth als eine an und für sich neutrale Form erachtet, die allen Möglichkeiten geöffnet ist.14 Dies ist sie aber kaum. Zum ersten erzeugt der Umbruch von den Lang- zu den Kurzzeilen eine stete Spannung. Der fünftaktige Trochäus ist ein schwerfüßiges, etwas zähflüssiges Versmaß, von welchem sich die Kurzzeilen entschieden abheben. Nicht nur um ihrer Kürze willen scheinen diese zügiger als ihre Vorgänger. Die Dreitakter — und dies ist die zweite Charakteristik dieser Strophenform — enden beide maskulin und reimen miteinander, während die abwechselnd feminin und maskulin schließenden Langzeilen durch Kreuzreim miteinander verbunden sind. Diese Bündigkeit verleiht den Kurzzeilen ihre Geschlossenheit und ihr besonderes Gepräge innerhalb des schweren Gesamtgefüges der Strophe. Es wäre aber zu einfach, zu sagen, daß sie ein accellerando bewirken; einmal, weil sie dann doch wieder in den schleppenden Fünftakter einmünden, sodann aber — und dies ist das Entscheidende —, weil in ihnen die betonte Endsilbe der ersten Zeilen unmittelbar auf die betonte Anfangssilbe der folgenden stößt. Durch diesen harten Aufprall zweier betonter — und das heißt: sinntragender — Endund Anfangssilben der einschlägigen Zeilen wird nun aber die gesteigerte Lebhaftigkeit ihres Ablaufs abrupt gedämpft. Ich gebe ein Beispiel, aus dem diese hemmende Wirkung trotz oder vielleicht aufgrund des verschleiernden enjambements klar erhellt: „Salz und Wasser kühlt Nicht, wo Jugend fühlt; Ach, die Erde kühlt die Liebe nicht!" (XXIV)

13 14

Siehe z. B. Erich Trunz in HA, 1, S. 628. Vgl. Max Kommerell in Gedanken über Gedichte, Frankfurt am Main, 1943, S. 361.

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heißt es in der 24. Strophe: Zeilen, in denen das „Nicht" durch seine Wiederholung am Ende sowie durch das „Gewicht", auf das diese reimt, noch nachdrücklicher wirkt. Man kann die dadurch bewirkte gestaute Hebung einer Flüssigkeit vergleichen, die, in Bewegung gesetzt, vom Zentrum einer Schale zurückprallt, gegen den Rand zu, der sie noch immer abstößt. Diese machtvolle und in sich selbst zurückgewiesene Hebung ist in zwei zentralen Strophen geradezu thematisiert worden. In der fünften Strophe lesen wir: Wie sie ihn erblickt, Hebt* sie, die erschrickt, Mit Erstaunen eine weiße Hand. In der zweiundzwanzigsten wiederum: Wie mit Geists Gewalt Hebet* die Gestalt Lang und langsam sich im Bett empor. Ein anderer vollendeter Gehalt für eine solche Form wären etwa die Mittelstrophen des Sonettes Mächtiges Überraschen. Wie dort so auch hier handelt es sich um Impetus und Abwehr, um ein Erregen und ein Widerstreben, um ein Entbundenes und ein Unterbinden. Die so entfesselte Erregung vermag sich nicht zu entladen. Ihr Fluß wird gehemmt und verläuft sich zögernd in der anschließenden Langzeile. Erst in dem übergreifenden Endreim kommt sie einigermaßen zur Ruhe. Sehen wir, wann und wo der Dichter diese in seinem metrischen Schema angelegte Dialektik mildert und wo er sie voll ausnutzt. Fraglos überspielt er in manchen Fällen den feindseligen Aufeinanderprall. Er tut dies, wenn die Kurzzeilen wie zu Beginn des Gedichtes neutral schildern; und er erzielt seine Wirkung, indem er unbetonte Wörter an das Ende der einen oder den Anfang der andern Zeile stellt, wie das Adverb „schon" in dem „hatten frühe schon" der ersten, oder Temporalkonjunktionen wie „Eh" und „Als" in der dritten und vierten Strophe. Zum Beispiel ist Und er schlummert fast, Als ein seltner Gast Sich zur offnen Tür herein bewegt...

* Hervorhebungen I. G.

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eine durchaus unverfängliche Bindung. Sodann überspielt er die Dialektik, solange die Bedrohlichkeit des Mädchens noch nicht an den Tag gekommen ist. Er tut dies durch die Glätte der einer jeden Zeichensetzung ermangelnden Fügung. Als Beispiel diene die sechste Strophe — „Ruhe nur so fort Auf dem Lager dort, Und ich gehe schnell, so wie ich kam" —: begütigende Worte einer bislang noch harmlosen, ja willkommenen nächtlichen Erscheinung. Schließlich verschleiert der Dichter die Härte des Zusammenstoßes, wo immer der lebens- und liebevolle Jüngling im Spiel ist: durch Ausrufe, die seinen Erguß ihrer Natur nach schnell beenden, oder durch die emphatisch-rhetorische Wiederholung aufeinanderstoßender Worte; ein Strategem, das die Erregung in sich selbst gliedert und rhythmisiert. Beide Mittel sind in der folgenden Strophe eingesetzt und erzielen den Eindruck von ungebrochener Spontaneität: „Bist vor Schrecken blaß! Liebe, komm und laß, Laß uns sehn, wie froh die Götter sind." Wiederum fügt sich die stoßweise Klimax der Liebenden aufs Natürlichste in die Abruptheit des metrischen Schemas, und wir empfinden nichts Trennendes in einer Beschreibung wie der folgenden, zumal das reiche „Liebesüberfluß" gleichsam eine ganze Zeile überschwemmt. Wechselhauch und Kuß! Liebesüberfluß! „Brennst du nicht und fühlest mich entbrannt?" (XVII) Ein wenig später bedient sich der Dichter eines entgegengesetzten Mittels: Klag- und Wonnelaut Bräutigams und Braut Und des Liebestammelns Raserei (XIX): Hier artikuliert das Gleiten eines interpunktionslosen, gedrängten, an Vokalen und Labiallauten reichen Klanggefüges das Verschmelzen von Freud und Leid, von Mann und Frau — Goethe hat keine Artikel gesetzt! — im Liebesakt. Die Situation verändert sich schlagartig, sobald sich die wahre Natur des Mädchens und somit die Problematik des Geschehens abzuzeichnen beginnt. Jetzt setzt Goethe jedes Mittel ein, die Härte seines metrischen

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Schemas, die er bislang vertuscht hat, voll auszuwerten. Durch disjunktive Zeichensetzung lotet er das Trennende des metrischen Gefüges aus, wie in den Zeilen: „Die genesend schwur: Jugend und Natur Sei dem Himmel künftig Untertan" (VIII); oder in diesen: „Die ist nicht für mich; Doch, ich bitte dich, Eine Locke gib von deinem Haar" (XIII). Realisiert er derart das Absetzende, Feindselige in Mutter und Mädchen, so auch durch den Einbruch von „Doch"- oder „Aber"-Sätzen in eine bis dahin flüssige Erzählung, also durch ein Ineinander von Fluß und Stocken, wie in dem fehlerhaften Getriebe eines Zahnräderwerks. Diese Gegensätzlickeit macht sich zur Zeit des gestörten Liebesmahles bemerkbar, das nicht recht in eine Liebesumarmung einmünden will (XIV, X V und XVIII). Die letzten dieser Verse mögen als Beispiel dienen: Seine Liebeswut Wärmt ihr starres Blut, Doch es schlägt kein Herz in ihrer Brust. Durch ihre alliterative Gedrängtheit stoßen sich ,,-wut" und „Wärmt" gleichsam aneinander. Das „Wärmt" richtet sich auf und stemmt sich gegen seinen Vorgänger; und in der Tat bereitet dieser Aufeinanderprall eine gehaltschwere Stockung vor: denn hier lernen wir, daß das Mädchen eine Leiche ist. Am eindrücklichsten jedoch erfüllt sich die in das Metrum eingebaute Hemmung durch eine von der gespensterhaften Automatik des Mädchens erzeugte — oder diese erzeugende — unheimlich gleitende Fügung, in welcher indes immer eine leise Reibung fühlbar bleibt. Diese Robotmäßigkeit wird des öfteren durch Relativsätze bewirkt, in denen sie, gleichsam von sich selbst abgespalten, zum Objekt ihrer eigenen Aussage wird; eine Technik, die durch den Gebrauch des Reflexivpronomens noch an Durchschlagskraft gewinnt. In diesen Fällen — es handelt sich um Strophen V und X I — bewirkt trotz aller Interpunktion der rapide Übergang von der ersten zur dritten Person das geisterhaft Gleitende der Verse. Höhepunkte solcher verfremdenden Technik, in denen ein Mädchen hörbar zum Gespenst wird, bilden die beiden Strophen, in denen die

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metrische Hebung in der Unbeugsamkeit einer automatischen Aktion thematisiert wird. Einmal: Wie sie ihn erblickt, Hebt sie, die erschrickt, Mit Erstaunen eine weiße Hand; sodann: Wie mit Geists Gewalt Hebet die Gestalt Lang und langsam sich im Bett empor. Vor Auge und Ohr spielt sich eine abgemessene Somnambulantenaktion von fürchterlicher Endgültigkeit ab. Die leise gleitenden Worte sträuben sich, wie sich uns — und dem Jüngling — die Haare sträuben. In Strophe XXVI „Ist's um den geschehn, Muß nach andern gehn, Und das junge Volk erliegt der Wut" — evoziert die Rapidität des Umschlags von „den" zu „andern" und von da weiter zu „das junge Volk" in einem im übrigen subjektlosen Satz das Anonyme und Rasante des angekündigten Geschehens. Unaufhaltsam und lautlos wie der Ablauf eines Naturgesetzes — oder, in der Tat, wie das Schreiten eines Gespenstes — gehen diese alles persönlichen Bezuges baren Worte ihres Wegs. Über den Inhalt dieser Strophen habe ich bislang nur wenig gesagt, und fast erübrigt sich der Vorsatz, das Versäumte nachzuholen. Denn aus der bloßen Betrachtung dessen, was Goethe mit seiner strophischen Form ausrichtet, können wir deren Gehalt, ja den des Gedichts als Ganzem, unschwer ablesen. Unterbundener Fluß, der an der Berührung eines bleiernen Anderen erstarrt, gefriert: es ist das schaurige Widerspiel von Leidenschaft und Lähmung, von Hebung und Verhinderung, das sich in dem sprachlichen Duktus dieser Ballade abzeichnet. Sind wir damit nicht am Herzen dieses Vampyrgedichtes angelangt, in dem ein um ihre Liebe betrogenes Mädchen sich noch im Tod an Liebe und Leben rächt und die Vereinigung der Geschlechter Mord meint? Belebte Leiche, kalte Brunst: diese Beschreibung gilt ebenso für die Gespensterbraut wie für die sich hebenden und lähmenden Kurzzeilen, die die innerste Mitte dieser Dichtung sind.

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Kommen wir auf meine zweite Frage zurück: die Frage, wie sich dieses Gedicht, dieses metrische Schema, in den Rahmen der Stimmung fügt, die den Goethe des Frühsommers 1797 beseelte. Als eine im höchsten Grade ambivalente Verfassung haben wir sie bezeichnet. Daß er trotz seines Faust, ja um dessentwillen, die ihm so erstrebenswerte Kontrolle des kritischen Verstandes abbauen müsse, war ihm vollauf klar. Dem „Dunstund Nebelweg", auf den ihn sein „Balladenstudium" — man beachte das verharmlosende Wort „Studium"! — gebracht hatte, mußte er sich nolens volens anvertrauen. „Reim- und Strophendunst!" mußte er gewähren lassen, um verschüttete Tiefen der Seele wieder zum Klingen zu bringen. Aber doch mehr nolens als volens: denn nichts fürchtete er mehr, als von lockenden Geistern in eben diese Tiefen hinabgezogen zu werden. Wir stehen also vor einem ebenso lautlosen wie beklemmenden Kampf zwischen einer ihm selbst nicht recht vital scheinenden Besonnenheit des Bewußtseins und bei all ihrer Dringlichkeit beargwöhnten, dem Unterbewußtsein entstammenden Trieben. Ist dies nicht eben der Konflikt, der aus Gehalt wie Gestalt dieser so bleiern-beklommenen Ballade spricht? 3. Es ist unglaubhaft, daß noch niemand ernsthaft gefragt hat, warum Goethe die im syrischen Trallus spielende Gespenstergeschichte, die ihm vorlag, eigenwillig und ausgerechnet nach Korinth verlegt hat. Sollten hiermit nicht die Korintherbtizfe des Apostels Paulus etwas zu tun haben? Um die Ledigkeit, insbesondere der Jungfrauen, geht es in einem der zentralen Kapitel des ersten dieser Briefe — es ist das siebente: die Ledigkeit der durch ein Gelübde ihrer Mutter zum geistlichen Stande bestimmten Braut aber ist die thematische Mitte von Goethes Ballade. Denn die aufgeopferten Lebenstriebe dieses ledigen Mädchens rächen sich noch jenseits des Grabes. — Das Willkommen des Athener Jünglings im christlichen Korinth ist ein ungewisses: diese Gunst will, so sagt der Erzähler „teuer erkauft" sein, das heißt, durch seine Bekehrung zu dem einzigen Heiland. Die Korinther selbst sind aber laut Paulus „teuer erkauft" (1, Kor. 6, 20 und 7, 23); nämlich durch den Opfertod eben dessen, der sich um ihres Heiles willen hat ans Kreuz schlagen lassen. — Das Kommen des unsichtbaren Einen in dem Korinth der Ballade hat „der alten Götter bunt Gewimmel" den Garaus gemacht, ein Thema übrigens, das den sinnenfreudigen Goethe sowie auch Schiller viel beschäftigte, von Hölderlin ganz zu schweigen. So auch in Paulus' Periode des Übergangs. Denn obschon der Apostel

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und seine Korinther Brüder viele Götter kennen, so gibt es in Wahrheit doch nur einen Gott und einen Herrn, Jesus Christus (1, Kor. 8, 5 f.). — „Menschenopfer" werden laut der Braut von Korinth in ihrer christlichen Heimatstadt dargebracht: „Opfer fallen hier, Weder Lamm noch Stier, Aber Menschenopfer unerhört." (IX) Ein solches Opfer ist aber der von Menschen geschlachtete Menschensohn, das Lamm Gottes, das seinen Leib und sein Blut zur entsühnenden Speise des Opfermahls einsetzt. Verglichen mit dieser Gemeinschaft des Blutes Christi ist alles fleischliche Trinken und Essen eitel und nicht des Federlesens wert (1, Kor. 8, 8). Hier aber, in dem Gedicht, geht es um ein Mahl von Brot und Wein, ein einfaches Liebesmahl, das in der Perspektive der Mutter und wohl auch des Mädchens einem Götzenopfer gleichkommt, sich aber als das Opfermahl des naiven Jünglings entpuppt: also ein „Menschenopfer unerhört". Das unschuldige Weizenbrot verschmäht das Mädchen — Weizenbrot ist in der griechischen Mythologie die Speise der Lebenden — eben weil es noch leibliche Speise ist. Nur den „dunkel blutgefärbten Wein" — bei Homer die Speise der Toten — trinkt sie und überantwortet damit den unschuldig Liebenden dem Tode. Ebenso verschmäht Paulus nicht nur Götzenopfer (1, Kor. 10, 14 ff.), sondern auch seinen gerechten Anteil an dem priesterlichen Gottesdienst (1, Kor. 9, 13 ff.), im Namen seiner Freiheit zu Christus und der unbeirrten Treue zu der einzigen Gemeinschaft in dem mystischen Mahle, das allein den Geist stärkt und nährt (1, Kor. 10, 16 f. und 11, 23 ff.). Im Hinblick auf solche Parallelen ist es ersichtlich, daß wir nicht verstehen können, worum es in Die Braut von Korinth geht, außer wenn wir das Gedicht in den Rahmen von Paulus' ersten Brief an seine Korinther Brüder einfügen. Fragen wir also, was es mit diesem Schreiben auf sich hat. 4. Fraglos ist Paulus' erster Korintherbn&i das geschlechtsfeindlichste Zeugnis des Apostels. Nicht nur empfiehlt er in dieser Epistel — und nur in ihr — aus eigenstem Antrieb die Ledigkeit, und zwar merkwürdigerweise gerade die Ledigkeit der Jungfrauen und Witwen, in einem Schreiben, in welchem er dem Manne die führende geistige Stellung einräumt: „Denn der Mann ist nicht vom Weibe, sondern das Weib ist vom Manne. Und der Mann

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ist nicht geschaffen um des Weibes willen, sondern das Weib um des Mannes willen" (1 Kor. 11, 8 f.). Wir müssen aber den Hebel tiefer ansetzen, um an die Wurzel dieser widersprüchlichen Haltung zu gelangen. Wir finden sie in seiner letztlich schroffen Gegenüberstellung der Gemeinschaft der Gläubigen in dem mystischen Leibe Christi mit der sexuellen Partnerschaft zwischen Mann und Frau. Freilich ist Paulus' Einschätzung der ehelichen Gemeinschaft erstaunlich gerecht, sogar modern, indem er beiden Partnern gleiche Rechte und Pflichten zubilligt (1, Kor. 7, 8 ff. und 11, 11 f.). Indes kann nicht geleugnet werden, daß er die Institution der Ehe nur faute de mieux konzediert, de facto gleichsam, nicht de jure. Sie ist ihm die einzig realistische Alternative des absolut Unannehmbaren, Sträflichen: der Prostitution und des Inzests mit der eigenen Mutter (1, Kor. 5, 1). „Aber um der Hurerei willen habe ein jeglicher sein eigen Weib" (1, Kor. 7, 2), schreibt er, und: „so sie aber sich nicht mögen enthalten, so laß sie freien; es ist besser freien denn Brunst leiden" (1, Kor. 7, 9). (Die Mutter der Braut von Korinth hätte sich dieses Wort zu Herzen nehmen sollen!) In dem Pathos seines Feldzuges gegen die Prostitution verdichtet sich eine aufgespeicherte Feindseligkeit gegen die sexuelle Gemeinschaft von Mann und Frau per se, welche Paulus aus ganz persönlichen Gründen hegt: weil „die Zeit kurz" ist und „das Wesen dieser Welt vergeht" (1, Kor. 7, 29 — 31); weil sich das Zusammensein mit einer Frau nicht mit der Ausübung seines apostolischen Amtes vertrage (1, Kor. 9, 5 ff.); und, letztlich, weil er selber wider den Stachel lockt, wie aus einer erschütternden Stelle des Römerbriefes klar hervorgeht. Dort lesen wir: „ich sehe aber ein ander Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüte und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz, welches ist in meinen Gliedern" (Rom., 7, 23). Diese obsessiv um sich selbst kreisende Beichte ist von grundlegender Wichtigkeit für das Verständnis von Paulus' Gesamtposition und muß somit in unsere Betrachtung des Korintherbriefes mit einbezogen werden. Denn das Bild der aufsässigen Glieder hier — und wer könnte daran zweifeln, daß es sich um das Geschlechtsglied handelt? — bildet den Grundstock der immer wiederkehrenden ausladenden Metapher, in welcher der Apostel, und am eindrücklichsten im ersten Korintherbrieie, das Wesen der Gemeinschaft der Gläubigen beschwört: als einer Körperschaft von Gliedern im mystischen Leibe Christi (Römer, 12, 4 f., 1, Kor. 12, 4—30 und Epheser 4, 4—16). Jegliches „Glied" kann in diesen geistigen Körper

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eingegliedert werden: nicht aber, jedenfalls für den Paulus des ersten Korintherbrieks, dieses. Das vielumstrittene Problem von Paulus' dualistischen oder gar manichäistischen Tendenzen läßt sich, im Hinblick auf diese Metapher, zumindest teilweise auf die Frage reduzieren, ob und wie das Fleischliche im Menschen — also seine unbotmäßigen Glieder — mit seiner geistlichen Berufung, also mit der Eingliederung des noch im Fleische Wandelnden in den mystischen Leib der Gemeinde Christi vereinbar sei. Bei aller Bemühung, in seiner Sexuallehre realistisch und auch gerecht zu sein, bleibt für ihn der Stein des Anstoßes die Frau, sei es nun das Eheweib oder die Hure. Der Unterschied ist einer des Grades, nicht der Art. Mit dieser Vorbesinnung wenden wir uns Paulus' Kampagne gegen die Prostitution zu. Ich zitiere die entscheidende Stelle: „Wisset ihr nicht, daß eure Leiber Christi Glieder sind? Sollte ich nun die Glieder Christi nehmen und Hurenglieder daraus machen? Das sei ferne!/ Oder wisset ihr nicht, daß, wer an der Hure hangt, der ist ein Leib mit ihr? Denn „es werden", spricht er, „die zwei ein Fleisch sein." (1 Mose 2, 24)./ Wer aber dem Herrn anhangt, der ist ein Geist mit ihm." (1, Kor. 6, 15 — 17). Man kann Paulus' Verwendung des Genesis-Wortes — es ist Adams Kommentar auf die Schöpfung der „Männin", also Eves, eines von Gott gewollten und „sehr gut" geheißenen Aktes — verschieden auslegen: als Lobpreis des Apostels auf die wahre Heiligkeit des von Gott eingesetzten Geschlechtsaktes, der in der Versklavung des Mannes an den Leib der Hure geschändet wird, wie der Mann durch eine solche Hörigkeit den eigenen Leib schändet; 15 oder aber als Zeichen einer unsensiblen Abwertung der geschlechtlichen Verbindung mit der Frau als solcher, hinter welcher für Paulus immer das Bild der Hure geistert. Ich neige zu der letzteren Interpretation, und zwar aufgrund der Wurzelbedeutung der Metapher des Gliedes, an die ich bereits gerührt habe. Nicht jede Frau ist eine Hure; aber alle Huren sind Frauen; und in der Frau verliert der Mann sein „Glied", und mit seiner Mannheit seine geistige Potenz. Wie geschlechtsfeindlich diese Stelle ist, mag aus der Verwendung desselben Genesis-Zitates in dem Brief an die Epheser erhellen. 16 Dort 15

16

So z. B. J. C. A. Hickling, in ,Marriage and Sexuality in the Thought of Paul (in: Law & Justice 52/53, 1977, S. 2 4 - 3 3 ) . Der Epheserbnei wird heutzutage weitgehend von Theologen für ein nach-Paulinisches Erzeugnis eines unbekannten Verfassers gehalten. Ich nehme darauf keine Rücksicht, da es mir auf Goethes Rezeption von Paulus ankommt, zu dessen Zeit die paulinische Verfasserschaft des Briefes noch nicht angezweifelt wurde.

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lesen wir: „Ihr Männer, liebet eure Weiber, gleichwie Christus auch geliebt hat die Gemeinde und hat sich selbst für sie gegeben,/ auf daß er sie heiligte, und hat sie gereinigt durch das Wasserbad im Wort/... Also sollen auch die Männer ihre Weiber lieben wie ihre eigenen Leiber. Wer sein Weib liebt, der liebt sich selbst./... Um deswillen wird ein Mensch verlassen Vater und Mutter und seinem Weibe anhangen, und werden die zwei ein Fleisch sein." (5, 25 ff.). In dem Epheserbtiei wird die Gemeinschaft zwischen Mann und Weib als adäquates Gleichnis der mystischen Gemeinschaft der Gläubigen im Leibe Christi erachtet, welche dieser durch „das Wasserbad" — also die Taufe — „im Wort" gereinigt hat (hierauf werden wir noch zurückkommen); in dem ersten Korintherbnefe als ein abschreckendes Gegenstück. Letztlich kann bei aller realistischen Konzilianz für Paulus der Mann nicht ein Fleisch mit dem Weibe und ein Geist mit dem Herrn sein. Er kann nicht beiden Gliedern anhangen, denen des Fleisches und denen des Geistes. Er muß wählen. Denn „die Zeit ist kurz" und „das Wesen dieser Welt vergeht" (1, Kor. 7, 29 und 31): das Pleroma naht. Aber wir müssen noch weiter gehen. In seinem Schreiben an die Epheser erachtet der Apostel das Weib als den Leib des Mannes (5, 28), dessen Heiland er ist (5, 23). Sie ist also ein Teil seiner selbst, so wie er ein Teil — ein Glied — des Leibes Christi ist. Demnach wird dem Mann ein weibliches Potential zugesprochen. Und dies ist ein gutes: denn es ist ein Gleichnis seiner eigenen Gott-trächtigkeit. In diesem, seinem Leibe, und das heißt: in seinem Weibe, verwirklicht er sein Göttliches, gerade so wie sich Christus in der Gemeinde verkörpert, „welche da ist sein Leib, nämlich die Fülle des, der alles in allen erfüllt" (Epb. 1, 22 f.). Der Verfasser dieses Briefes anerkennt und bejaht also ein bisexuelles Potential im Menschen. In dem Korintherbntic wird diese Doppelgeschlechtlichkeit im Letzten geleugnet. Der Mann schändet sich nicht nur in der Hure, er verliert sich auch in und an der Frau, die hinter der Hure steht; und damit das Beste seines Innern. Dem „Also sollen auch die Männer ihre Weiber lieben als ihre eigenen Leiber" des Epbeserbtieks entspricht in dem Schreiben an die Korinther der letztlich unüberbrückbare Gegensatz zwischen „ein Fleisch sein" und „ein Geist sein". Die Frau ist also dort die potentiell gott-tragende Veräußerung von des Mannes eigenem Leiblichen und Weiblichen, gerade so, wie Maria die gottgebärende Veräußerung des logos ist; hier, in Korinther, die gottferne Veräußerung eines fleischlich-geistigen Wesens, das sich im Letzten vor ein Entweder=Oder gestellt sieht.

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Nicht, daß in beiden Briefen eine definitive Staffelung der Werte übersehbar wäre. Hier wie dort ist der Mann das Haupt des Leibes — und das heißt: des Weibes —, ebenso wie Christus das Haupt des Mannes in der mystischen Gliederschaft der Gläubigen im Leibe Christi ist; und Gott ist wiederum Christi Haupt (1, Kor. 11, 3 und Epheser 5, 23). Je nachdem aber das Weib als gotthaltiger oder gottferner Teil des Mannes erscheint, hat es einen unterschiedlichen Stellenwert in der Stufenleiter des Heils. Wie ich es sehe, steht in dem Korintherbnei die Eingliederung des Mannes in die geschlechtliche Gemeinschaft mit der Frau seiner Eingliederung in den Leib Christi im Letzten entgegen. Ein anderes Gesetz herrscht in den Gliedern, ein anderes im Gemüte {Rom. 7, 23). Wenn aber der Apostel dieselbe, großartige, Metapher von den vielen Gliedern in dem einen Leib in seinem Schreiben an die Epheser verwendet, so doch mit einer radikal anderen Wertsetzung für die sexuelle Partnerschaft. Hier gleiten die gleichermaßen für die eheliche und die mystische Symbiose eingesetzten Bilder nahtlos ineinander über. Wie die Frau ein potentiell gottesträchtiger Teil des Mannes ist, so ist dieser — und mit ihm sein Weib, sein Leib — ein gottnahes- und tragendes Glied in der Körperschaft Christi: „Lasset uns aber rechtschaffen sein in der Liebe und wachsen an allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Christus,/ von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am andern hanget durch alle Gelenke, dadurch eins dem andern Handreichung tut nach dem Werk eines jeglichen Gliedes in seinem Maße und macht, daß der Leib wächst zu seiner selbst Besserung, und das alles in der Liebe" (Eph. 4, 15 f. Vgl. 1, Kor.. 12, 4 - 3 0 ) . In dem Brief an die Korinther ist diese Stufenleiter morsch. In Paulus' persönlichster Überzeugung jedenfalls bedeutet die Sexualgemeinschaft einen Schritt nach unten. Sie ist ein Teil des Anhangens am Fleischlichen, welches der Apostel unter vielen Bildern geißelt, sei es unter dem der Speise, der Freude, der Unzucht oder der sexuellen Gemeinschaft mit dem Weibe. Denn: „Die Zeit ist kurz. Weiter ist das die Meinung: Die da Weiber haben, daß sie seien, als hätten sie keine;... und die sich freuen, als freuten sie sich nicht;... Denn das Wesen dieser Welt vergeht" (1. Kor. 7, 29 ff.). Für Paulus sind derlei irdische Werte Verrat an der Treue zum Geist, mit dem wir eins sein sollen. So schließt auch das scheinbar ganz abwegige Wort, welches den Auftakt bildet zu seiner Verdammung der Hurerei, im voraus die Abwertung der Frau in sich: „Die Speise dem Bauche und der Bauch der Speise; aber Gott wird diese und jenen zunichte machen. Der Leib aber nicht der Hurerei, sondern dem Herrn, und der

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Herr dem Leibe" (1, Kor. 6, 13). Die Frau, in der der Mann sich verliert — sei es nun das Weib oder die in der Phantasie oder Wirklichkeit begehrte und gefürchtete Mutter — psychologisch ist da keine reinliche Trennung möglich —, gehört der kreatürlichen Sphäre an, und damit der Verwesung. Sie ist wie der Bauch, der Speise in sich aufnimmt und wieder ausscheidet, der selbst vergehen wird. Der Leib dagegen ist „der Tempel des heiligen Geistes" (1, Kor. 6,19); er allein ist ein unverwesliches Glied des mystischen Körpers Christi. Noch einen weiteren Schritt müssen wir tun, bevor die Theologie tanzen kann. Wir haben gesehen, daß das weibliche Prinzip, sei es nun die von Gott erschaffene Gefahrtin des Mannes oder das Weibliche im Innenraum seiner Seele, potentiell gottesträchtig ist. Diese Bewertung rührt natürlich von dem Modell der Frau par excellence her, der heiligen Jungfrau, in deren „flecken- oder runzellosen" ( E p h . 5, 27) Leibe das Wort Fleisch wurde. Die figura der Gottesmutter ist also einmal die an Geist und Leib heilige gott-offene Jungfrau (1, Kor. 7, 34), nicht minder aber der jungfräuliche Mann, der den Samen des göttlichen Wortes in sich empfängt und austrägt. Das weibliche Prinzip also, sei es innerhalb des Mannes oder außer ihm, ist, wie in dem exemplarischen Falle der Gottesmutter, der Nährboden oder mütterliche Schoß des Wortes. Nicht umsonst spricht der Epheserhnef von der Heiligung der Gemeinde, das heißt, der Fülle des Leibes Christi, „durch das Wasserbad im Worte" (5, 26); und gerade so von der Heiligung des Weibes im Mann. Wo dies innerweibliche Element des Mannes abgelehnt oder für schlecht befunden wird, ist der Zugang zu diesem, seinem wortträchtigen Teil verschüttet, oder dessen Erzeugnisse werden in Frage gestellt. Dies aber ist der Fall in Paulus' Korinther]brief. 5. Es ist unschwer zu sehen, daß Paulus' religiöse Position ein reiches erotisches und, in der Tat, ästhetisches Spannungsfeld in sich beschließt. Und nunmehr erkennen wir, wie eng dieser Brief mit Goethes Ballade sowie mit dem seelischen Klima, welchem sie entstammt, verknüpft ist. Der Verfasser der ersten Epistel an die Korinther gab diesem theologisch beschlagenen Dichter genau den metaphysischen Rahmen an die Hand, dessen er am 4. und 5. Juni 1797 bedurfte, um seiner innersten Not Stimme zu verleihen. Hier fand er eine — nein, die klassische Formulierung eines Mißtrauens gegen das Weibliche, das er am eigenen Leibe verspürte: ich

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meine jenen tiefen Argwohn gegen den schöpferischen Urgrund seines Wesens, in dem „Reim- und Strophendunst" brodelten, elementare Gewalten, die gleichermaßen seine werdende Schöpfung zu tragen oder in ihren Sog hinunterzuziehen vermochten. Diese zutiefst ambivalente Haltung dem eigenen künstlerischen Muttergrund gegenüber gab ihm seinen Gehalt an die Hand, einen Gehalt, den er, wie er selbst sagt, Jahrzehnte lang mit sich herumgetragen hatte 17 und der eine, aber auch nur eine Möglichkeit seines Selbst verkörperte —: das Weibliche als todesträchtiges, vampyrhaftes Phänomen, welches das Geistige zu entmannen droht. Und diese Bedrohung wiederum gab ihm seine strophische Form ein: jene Kurzzeilen, in welchen, wo immer Mädchen und Mann aufeinanderstoßen, die aufquellende Erregung gelähmt wird und erstirbt. Und letztlich vermochte der Konflikt, den er in seinem Innern austrug, den Bibelfesten dazu, seine Gespenstergeschichte aus dem neutralen Syrien in das von dem eifernden Apostel aufgerührte Korinth zu verlegen. Am 6. Juni, also am Tage nach der Vollendung seiner Ballade, schreibt Goethe an den Freund Heinrich Meyer: „Wir haben auch in diesen Tagen Gelegenheit gehabt manches abzuhandeln über das was in irgend einer prosodischen Form geht und nicht geht. Es ist wirklich beinahe magisch daß etwas, was in dem einen Silbenmaße noch ganz gut und charakteristisch ist, in einem andern leer und unerträglich scheint. Doch ebenso magisch sind ja die abwechselnden Tänze auf einer Redoute, wo Stimmung, Bewegung und alles durch das Nachfolgende gleich aufgehoben wird...". 1 8 Das doppelt eingesetzte Wort „magisch" springt ins Auge. Magisch ist Paulus' Hangen an dem alles Fleischliche verzehrenden und aus solchem Tode ein geisterhaftes Leben erweckenden mystischen Leibe Christi und dem in dessen Namen begangenen Opfermahl; magisch das verzehrende Menschenopfer, das in Goethes Ballade dargebracht wird; magisch der verhaltene und zutiefst verhaltende Ton dieses Stücks Erzählens, namentlich die Kurzzeilen, in denen ein kurz beschworenes Leben tödlich unterbunden wird. In diesen schleppenden Trochäen, in diesen klippen Dreitaktern, in denen Flügel geregt und hurtig beschnitten werden, tanzt die Theologie. In ihnen vermochte der Dichter die Angst vor dem Vampyrhaften einer Kunst zu gestalten, deren betörende Gewalt das Mark des Lebens auszulaugen und zu verzehren drohte; in ihnen konnte die widerstrebende

17 18

In: Bedeutende Fordernis durch ein einziges geistreiches Wort. HA, 13, S. 37 f. Am 6. Juni 1797. (Nicht in WA), HA, Briefe II, S. 274f.

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Hingabe des Geistes an ein beargwöhntes Unterbewußtes Wort werden, eine Hingabe, in der Glieder und Geist „Wie der Schnee so weiß, Aber kalt wie Eis" (XVI) blieben. Dies ist die parasitische Ehe, die Goethe in dem fast gleichzeitigen Gedicht Amyntas im Sinne haben mochte; dies die innere Bedrohung, die er in wenn auch noch so scherzhafte Worte faßte, als er schrieb, seine „barbarische Composition", also Faust, könne „zu männiglicher Verwunderung und Entsetzen, wie eine große Schwammfamilie, aus der Erde wachsen". 19 Männigliches Entsetzen: das ist es, was Die Braut von Korinth in eisig vollendete Gestalt bannt; Entsetzen vor dem ganz Anderen, Feindseligen: — der Frau, und Entsetzen vor dem trügerisch-lockenden Weiblichen im Urgrund eines schöpferischen Selbst, das seiner schlafwandlerischen Sicherheit zeitweilig verlustig gegangen war. Gegen Ende der Ballade sagt das Mädchen zu dem unschuldigen Jüngling: „Schöner Jüngling! kannst nicht länger leben; Du versiechest nun an diesem Ort. Meine Kette hab' ich dir gegeben; Deine Locke nehm' ich mit mir fort. Sieh sie an genau! Morgen bist du grau, Und nur braun erscheinst du wieder dort." (XXVII) Die Reimworte der Kurzzeilen sowie deren Gehalt besagen dasselbe wie ein verstörendes Paralipomenon aus dem Umkreis der Klassischen Walpurgisnacht, die wahrlich grauenhafter Frauengestalten voll ist: es heißt: Kennte der Jüngling die Welt genau Er würde im ersten Jahre grau. 20 Noch aber müssen wir fragen, was Goethe in den Janus-gesichtigen Endworten seines Briefes an Heinrich Meyer im Sinne hegte. Von dem Magischen, das einem Versmaß innewohnt, sprach er da, und von den magisch abwechselnden Tänzen auf einer Redoute, „wo Stimmung, Bewegung und alles durch das Nachfolgende gleich aufgehoben wird". Diese " An Schiller, am 1. Juli 1797. WA, IV, 12, S. 179. WA I, 15 2 , S. 222, N° 155.

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Worte schrieb er am Tage nach der Vollendung der Braut von Korinth, am Tage, an dem er — man stelle es sich vor! — zu Der Gott und die Bajadere Fortschritt. Bereiten wir uns also auf einen anderen Tanz vor, auch einen abwechselnden, der den Mißton des Vorangegangenen hinwegfegt und freudenvollere Töne erklingen läßt. 6.

In manchen Stücken ähnelt die „indische Legende" ihrer Vorgängerin. Denn auch hier finden wir die wechselvolle strophische Form. Diesmal eröffnen den Reigen je acht Zeilen eines trochäischen Viertakters, die immer wieder überraschend von drei Zeilen eines daktylischen Viertakters mit Auftakt abgelöst werden. Wie in der korinthischen Ballade, so auch hier werden diese Einschübsel durch einen übergreifenden Endreim mit der Hauptmasse der Strophe verknüpft. Auch hier reimen die daktylischen Verse miteinander, wo ansonsten der Kreuzreim herrscht. Bei solchen formalen Analogien aber endet die Ähnlichkeit. Wie anders ist das Klangbild der Strophe hier! Schon der vierfüßige Trochäus schreitet straffer, rüstiger, als der bleierne Fünffüßler in dem früheren Gedicht, und die tanzenden Daktylen vollends geben den Eindruck eines Erlöstseins. Ich meine „Erlöstsein" in vollem Ernst. Denn diese Ballade ist ihrer östlichen Einkleidung zum Trotz ein ausgewachsenes Inkarnationsgedicht, was aber keineswegs heißen will, daß in sie nicht echt Östliches eingegangen ist. Wir werden dies noch sehen. Erich Trunz schreibt, „es wäre wohl zu einfach gefragt, wenn man betrachtete, was jedesmal im Trochäus, was im Daktylus steht." 21 Dies ist zweifellos richtig. Dennoch ist es legitim, zu fragen, welche Art Gehalt d a s jeweilige Versmaß an sich zieht, so wie der Angelhaken einen Fisch dieser oder jener Art und Größe ködert. Besonders im Falle der erregten — und erregenden — daktylischen Einbrüche lohnt sich dies zu untersuchen. Antworten wir gut, und ist das Gedicht ein gelungenes, so sollte sich durch ein solches Befragen dessen Gehalt wie von selbst ablösen lassen; und somit auch die geistig-seelische Verfassung des Dichters, der es seinen Ursprung verdankt. Schauen wir vorerst den daktylischen Teil der zweiten Strophe an. In seinem späten Aufsatz über die Ballade schreibt Goethe, es wäre der Refrain, das Wiederkehren eben desselben Schlußklanges, das dieser Gat21

In HA, 1, S. 627.

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tung ihren entschiedenen lyrischen Charakter verleihe.22 Kein Refrain dieser besonderen Ballade ist besser dazu qualifiziert, als Musterbeispiel dessen, was er meint, unter die Lupe genommen zu werden, als dieser: Sie rührt sich, die Cymbeln zum Tanze zu schlagen; Sie weiß sich so lieblich im Kreise zu tragen, Sie neigt sich und biegt sich und reicht ihm den Strauß. Diese Zeilen speisen sich gänzlich aus der hypnotischen Wiederkehr eines insinuierenden Taktes, aus Reim und Assonanz. Ihr betörender Schmelz wird einmal durch die dreifache Wiederholung des Pronomens „Sie" erreicht, sodann durch das viermal wiederkehrende „sich", und schließlich durch die internen Assonanzen von „weiß" und „Kreise" in der mittleren, und von „neigt" und „reicht" in der Schlußzeile, heitere Assonanzen, die sich über die Zeilengrenzen hin die Hände reichen, so wie auch das „biegt sich" das „lieblich" des vorangehenden Verses wieder zum Klingen bringt. Die Folge solcher reigenhafter Verschränkungen ist einmal, daß das Kreisen der Vokale die kreisende Bewegung des Mädchens in Klanggestalt umsetzt. Das Mädchen, eine Bajadere, kreist unermüdlich um sich selbst. Gravierender noch ist die Tatsache, daß hier faktisch alles mit allem reimt, und zwar die unbetonten Silben nicht minder als die betonten: in dem Versmaß, welches Goethe hier gewählt hat, also dem Daktylus mit anfanglichem Auftakt, kommen ja zu Beginn des Verses drei unbetonte Silben auf nur eine betonte. Am hervorstechendsten ist dieser Reimüberfluß in dem „Sie weiß sich so lieblich" und dem diesem antwortenden „Sie neigt sich und biegt sich" der letzten Zeile. Wie in Die Braut von Korinth, so hat des Dichters vollendeter Kunstverstand auch hier die Betonung stets auf die sinntragenden Silben fallen lassen. Was nun sein überreiches Reimen bewirkt, ist der Eindruck, daß sich hier alles mit allem berührt, das nicht Sinnhaltige so gut wie die Sinnträger. In den Zeilen, die uns vorliegen, ist aber diese übermäßige Kontaktfreudigkeit ausschließlich auf das Mädchen selbst bezogen. Dafür sorgt das dreifache Pronomen sowie das vierfache Reflexiv. Somit erzeugen diese Verse einen Eindruck von einem ganz in sich selber webenden und versunkenen Körpergefühl, das an der dauernden Berührung seines Selbst Genüge hat. Und zwar überspielt diese autoerotische Kontaktfreude jede Bindung an eine sinngebende Gemeinsamkeit. Dadurch wird sie unkeusch. Das reine Sinnenspiel, ohne verpflichtenden Bezug auf ein Nicht-Ich, ist hier das alleinig herrschende Prinzip — oder doch fast: denn sie „reicht ihm den Strauß"; und dies ist eine erste Geste der Kommunikation. 22

Siehe Anmerkung 5.

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Durch die bloße Analyse der Lautgestalt dieser Zeilen sind wir wie von selbst auf deren Gehalt gestoßen. Handelt es sich doch in ihnen um eine Selbstdarstellung — man darf füglich sagen: um eine Zurschaustellung — einer ihre Reize unverbindlich spielen lassenden Prostituierten. So, wie ein jedes Satzglied ein jedes andere in schmeichelndem Wohlklang berührt, so tangiert ein jedes der „gelenken Glieder" dieser Tänzerin das andere. Im Vorhergehenden haben wir genug über die untergründige Verquikkung religiöser, erotischer und ästhetischer Momente gesagt, um hier die Aussage zu rechtfertigen, daß diese Selbstdarstellung des tanzenden Mädchens zugleich auch eine Selbstdarstellung einer Möglichkeit des Dichtens meint. „Reim- und Strophendunst" sind autonom geworden. Diese tanzende Bajadere ist die gestaltgewordene Insinuation artistischer Impulse, die, unbezogen auf einen höheren Sinn, dem sie verpflichtet wären, sich selbst zum Gesetz geworden sind. Die „frühen Künste" des Freudenmädchens sind Symbol einer Virtuosität, die sich ganz dem magischen Reiz ihres singenden und tanzenden Mediums anheimzugeben und in ihm sich zu verlieren droht. Fast wäre man versucht, die Klage des Apostels über das Gesetz seiner unbotmäßigen Glieder, die dem Gesetz seines Gemütes widerstreben, wieder zu bemühen. Aber eine solche Assoziation wäre hier ebenso unstatthaft, wie sie bei der Braut von Korinth am Platze war. Dort ist das geistige Prinzip in den rachsüchtigen Händen einer um ihr Leben betrogenen Frau. Hier steigt „der Herr der Erde" eigens von seiner Höhe herab, um sich mit eben dieser geistentblößten Sinnlichkeit eines verlorenen Kindes mit bunten Wangen zu vermählen. Freilich mag der wandernde Gott anfangs willens gewesen sein, dergleichen menschliche Abirrungen zwar menschlich zu verstehen, nicht aber sich tiefer auf sie einzulassen, nicht sich durch sie umwandeln zu lassen „Sehn" will er, dann aber bei all seiner Menschenzugewandtheit „weitergehen" — : ein bedeutsamer Endreim, denn „gehen", „wandern", heißt bei diesem Dichter stets „Umwandlung". Einer solchen Umartung weicht der Gott noch aus, so sehr auch bereits in den ersten Daktylen die Erregung eines nunmehr partikulär werdenden Kontaktes bebt. Sein Interesse an der Welt der Menschen ist noch ein begrenztes, gleichsam theoretisches; eine Selbstgenügsamkeit, die in dem Reflexiv des „sich... betrachten" anklingt und im übrigen die Selbstbezogenheit des Mädchens spiegelt. Hier aber stimmt ein Satz in den ersten Trochäen nachdenklich, und in diesem Satz ein Wort. Es ist das Wort „bequemen" in dem Vers Er bequemt sich, hier zu wohnen....

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Nachdenklich aus zwei Gründen. Einmal, weil es in Goethes Gebrauch, in dem des späteren zumindest, alles andere als „sich herablassen" bedeutet. In den Versen Helenas, die den Auftakt zu ihrer „Wechselrede" mit Faust bilden, bemerkt sie über Lynkeus' Rede: Ein Ton scheint sich dem andern zu bequemen {Faust II, III, Z. 9369); und hier heißt „bequemen" soviel als „es dem anderen bequem machen". Die Grundzüge der Helena-Handlung aber hat Goethe um die Jahrhundertwende, also rund zwei Jahre nach dem Entstehen unserer Ballade konzipiert. Dieselbe Bedeutung springt in dem schönen kleinen Divan-Gedicht „Deinem Blick mich zu bequemen" ins Auge. „Bequemen" meint im höchsten Grade anschmiegsam sein, meint eine fast weibliche Einstellung auf den anderen, eine fast weibliche Bereitschaft, den anderen zu empfangen. Und so auch hier. Es deutet auf ein hochsensibles Einfühlungsvermögen des Gottes in das, worin er wohnen will. Behalten wir diesen Zug im Auge. Der zweite Grund zum Aufmerken ist, daß sowohl in der „Wechselrede" als auch in dem auf Behramgur folgenden kleinen Liebesgedicht innerhalb der erotischen Bezüge ästhetische Resonanzen aufklingen. Das „sich Bequemen" des einen Lautes zu dem, der sich zu ihm gesellt, ist ein poetisches Geschehen, das einen Liebesakt aus sich entläßt. Als „die Geburt der Liebe aus dem Reim" könnte man in Anlehnung an Nietzsche das Ereignis dieser zentralen Faust-Vase beschreiben; und dies ist ein Ereignis, welches Goethe in dem Divan-Gedicht Behramgur, sagt man, bat den Reim erfunden gleichsam in reinster Isolierung thematisiert hat. „Des Reimes holder Lustgebrauch" ist gleichzeitig Preis des Dichtens und Chiffre des lustvollen Gebens und Nehmens der Liebenden. Es ist das Gleiche in Faust und in an die ich gerührt habe: in dem Anderen, in den zwei Divan-Gedichten, der Frau, tritt dem Dichter das entgegen, was sein Geistiges in den Reim einbettet, es eigentlich erst zum Lied macht: also ein Teil seiner selbst. So auch ist es, genau besehen, in An vollen Büschekyveigen, so auch in dem Gedicht An Hafis, wo der Dichter „ein Lied, so froh und wahr" vernimmt, „den Geist darin zu betten". Auch in unserer Ballade durchkreuzen sich in dem „Er bequemt sich, hier zu wohnen" religiöse und erotische mit ästhetischen Resonanzen. Hier ist nicht nur ein offenbarer Anklang an das Johanneische „und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns" (Johannes 1, 14); nicht nur eine anfangliche Kontaktbereitschaft seitens des Mannes, auf welche die des

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Mädchens antworten wird: hier ist ein erster Auftakt zu der Bereitschaft des Geistes, Fleisch zu werden; und das heißt hier und für Goethe überhaupt, sich in einem Wortleib zu verkörpern. Auf diese anfangliche „Bequemung" seitens des geistigen Prinzips folgt der erste Dialog zwischen Gott und Bajadere, in dem die ungeheure Differenz zwischen dem Herrn der Erde und der prostituierten Sinnlichkeit anscheinend ironisch, in Wirklichkeit aber tief gütig überspielt wird durch die Anrede „Jungfrau" — das Letzte, was das Freudenmächen ist! — und ihr dankendes „Ehre", ein Wort, das verräterisch auf „Bajadere" reimt, im Rückblick aber vollauf gerechtfertigt wird. Wo der Geist sich derart liebevoll auf das Sinnliche einläßt, kann von einer ernsthaften Bedrohung durch dieses Andere nicht die Rede sein. In der wenn auch noch so ungebundenen Kontaktfreudigkeit des losen Mädchens erkennt der Geist sich selbst wieder: der Gott erkennt in ihr eben das Annäherungsbedürfnis, das ihn auf die Erde getrieben hat, auf der er sich zu wohnen „bequemt". Noch aber — und er weiß es — bedarf das Sinnliche einer Schulung: Und er fordert Sklavendienste. In dieser Maßregelung kommt das Mädchen gleichsam zu sich selbst. „Immer heitrer" wird sie: denn der Sinnlichkeit ist der Gehorsam zum Geistigen eingeboren. Des Mädchens „frühe Künste werden nach und nach Natur". Die Emanzipation ihrer Technik ist, wie die erotische Selbstbezogenheit der ausschließlich auf das Lustprinzip ausgerichteten Bajadere, eine Aufspaltung eines unteilbaren Ganzen und somit Unnatur. Die so glatten wie einschneidenden „Und"-Fügungen in der vierten und insbesondere der fünften Strophe sowie das morphologische Bild von Blüte und Frucht bezeugen genugsam, daß hier ein organischer wenn auch schmerzhafter Wachstumsprozeß am Werke ist. „Und er küßt die bunten Wangen"; „Und sie fühlt der Liebe Qual"; „Und das Mädchen steht gefangen"; „Und sie weint zum ersten Mal." Stoß um Stoß — man muß sich vergegenwärtigen, daß dies vierfache „Und" betont ist — durchdringt der Geist die ungebundene Sinnlichkeit und impft ihr den Gehorsam zu seinem höheren Wollen ein. 7. An diesem Punkte erfolgt eine scharfe, und doppelte, Krisis. Erst die ihre. Das Mädchen verlernt ihre frühen Künste. Die Virtuosität versagt in der völlig neuartigen Situation, vor die der Gott sie stellt. Die professionelle

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Technik, die bislang in ihrer geist- und liebeentblößten Isolierung bestens funktioniert hat, wird zuschanden an der Liebe, die den ganzen Menschen verlangt. Ach, und die gelenken Glieder, Sie versagen allen Dienst. Diese Verabsolutierung der Glieder haben wir bereits anfangs gesehen. Ihrer sind gleichsam zu viele, sie sind allzu „gelenk", zu autonom: noch sind sie nicht eingekörpert unter einen herrschenden Liebeswillen. Diesen zu vollstrecken steht paradoxerweise gerade ihr „Können"im Wege. Und hier wiederum registrieren wir die geheimen ästhetischen Schwingungen innerhalb der erotischen Dimension. Versagt nicht auch dem Dichter die bare Virtuosität, wenn er engagiert dichten will? Einem Takt und einem Wollen müssen der Wagenlenker und die sechzehn Füße seiner vier jungen Pferde gehorchen, sinnt der junge Goethe, dem Herder sein zerfahrenes Wesen vorgeworfen hat: „Und doch muß das Alles eins sein", nicht „zahlloser Vorzüge unvollendeten Sinnes kosten":23 das ist Meisterschaft, das ist wahre Virtuosität. So stocken dem Goethe des Divan die nachgeahmten Reime und die zugemeßnen Rhythmen, in denen sich das Talent ergangen hat. Sie bleiben „tote Formen", „Hohle Masken ohne Blut und Sinn". 24 So auch werden Hugo von Hofmannsthal die eigenen „frühen Künste" ein widriger Hemmschuh, wenn er zur Zeit des ChandosBriefes eine verpflichtende existentielle Aussage anstrebt. Sowohl im Liebes- wie im schöpferischen Akt muß eine Durchdringung und Erneuerung der jeweiligen Partner stattfinden. Aus der neuartigen Bindung an ein Oberes Leitendes und an dessen Bewußtseinsgehalte muß der Sinnlichkeit durch das Stadium einer zeitweiligen Selbstentfremdung hindurch eine neue Unschuld erwachsen, gleichsam eine zweite Natur; so wie andererseits der Geist im Eintauchen in die Tiefen der Sinnlichkeit sich fortzeugend verjüngt. Um dieser Erneuerung teilhaftig zu werden, muß nun aber auch der Gott durch eine scharfe Krisis hindurchgehen. Vorerst stirbt er in der Umarmung des Mädchens; er macht — um einen morphologischen Terminus zu gebrauchen, mit dem Goethe operierte — eine radikale Metamorphose durch. Diese einschneidende Zäsura will ernster genommen werden

23

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An Herder, etwa den 10. Juli 1772. Anstatt des griechischen Nachsatzes bediene ich mich der von dem Herausgeber der Briefe gegebenen Übersetzung (in HA, Briefe 1, S. 588). Nachbildung, Buch Hafis, HA, 2, S. 23 f.

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als gemeinhin geschieht, wohl, weil der Dichter selbst darüber schweigt. Wird doch der Gott wirklich „unsersgleichen", fühlt er doch am eigenen Leibe „Freud' und Qual", ohne sich vor der letzten Qual des Sterbens aus der Affaire zu ziehen. Und man trägt die starren Glieder Bald zur Flammengrube hin. „Starr" ist bei Goethe immer ein Wort zum Aufhorchen. „Doch im Erstarren such' ich nicht mein Heil", sagt Faust angesichts des Ganges zu den Müttern, von welchem er als ein Verwandelter zurückkehren wird (Faust II, I, Z. 6271). „Das Allerstarrste freudig aufzuschmelzen" 25 ist das ewige Geschäft des Dichtens wie der Liebe, so wie „umzuschaffen das Geschaffne/ Damit sich's nicht zum Starren waffne" das Gesetz des Lebens ist. „Nur scheinbar steht's Momente still." 26 Der fremde Mahadöh wird aus dieser Krisis in vertrauterer und lieblicherer Gestalt wieder erstehen: als schwerelos schwebender „Götterjüngling". Diese Umwandlung beider, des Mädchens und des Gottes, drückt sich vorerst in den Daktylen aus, die ihre Reaktion auf den Tod des Geliebten schildern. Sie höret die Priester, die Totengesänge, Sie raset und rennet und teilet die Menge..., lesen wir. Diese Verse fordern den Vergleich mit der zweiten Strophe heraus. Auch hier die Wiederkehr des „Sie", auch hier die Alliteration, die den internen Assonanzen der früheren Partie entspricht. Aber wie ganz anders ist der Gesamteindruck! Die Kola in der ersten Zeile spitzt das Unaufhaltsame in der folgenden zu. Aber hier ist ein zielstrebiges Handeln am Werke, von primitivem Rasen zu Rennen und von dort zu dem sich Platz Schaffen an der Gruft. Ist früher ihre Sinnlichkeit mit ihr durchgegangen, so treibt sie jetzt die unbeirrbare Energie eines Liebens, das sich im Rechte weiß. „Mein! er war es, mein vor allen! Ach! nur Eine süße Nacht!" Dieses Recht wird vorerst in Frage gestellt. In dürren Worten sprechen die Priester dem käuflichen Mädchen „Pflicht und Ruhm" der Gattin ab. Die kahlste Syntax waltet hier; kein Bild, kaum ein Kompositum. In 25 26

Sonette, XIV, HA, 1, S. 302. Eins und Alles, HA, 1, S. 369.

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diesem liebesarmen, autoritären Ausspruch wird der abgestorbene Geist des Gottes Sprachgestalt. Und wieder müssen wir uns dem Apostel Paulus zuzuwenden, um der Priester „Lehre" zu verstehen; diesmal seinem Briefe an die Römer. Um den Gegensatz von Gesetz und Gnade, von Werkgerechtigkeit und der Rechtfertigung durch den Glauben geht es in diesem Brief; und genau dieser Gegensatz ist das Zentrum der Konfrontation zwischen den Priestern und der Prostituierten. Der „Ruhm" und die „Pflicht" der Selbstgerechten, die nach dem Gesetze leben, ist geradezu ein Leitmotiv dieses Briefes; er wird schroff dem Ruhm des Glaubens und des Gehorsams des Glaubens gegenübergestellt (1, 5; 3, 23 und 27; 4, 2, und 4; 5, 2, 3, 11 und 19; 11, 18; 15, 17; 16, 26). Den Ruhm der Werke hat die Prostituierte nicht, wohl aber den Ruhm des Glaubens an den, den sie da liebt, in dessen „starren Gliedern" sie „dieser Glieder Götterpracht" erkennt; und damit auch „Pflicht und Ruhm" der Gattin. Das lose Mädchen sei frei und ledig, sagen die Priester. In dem siebenten Kapitel von Paulus' Römerbtief aber lesen wir: „...ein Weib, das unter dem Manne ist, ist an ihn gebunden durch das Gesetz, solange der Mann lebt; so aber der Mann stirbt, so ist sie los vom Gesetz, das den Mann betrifft" (7, 2). Diese Worte schließen sich eng an 1, Korintber 7, 39 an; nur mit dem gravierenden Unterschied, daß sie dort als sachgebundene Aussage über das Ehegesetz fungieren, hier aber, im Römerbtief, ein schwungvolles Gleichnis für die Freiheit des Christenmenschen vom Gesetz der Mitgliedschaft im Leibe Christi anbahnen. Die durch den Tod des Gatten ihrer Pflicht ledige Witwe ist frei vom Gesetz; aber sie ist frei — und darauf zielt der Apostel hin — der höheren Gemeinschaft in der mystischen Körperschaft der Gläubigen in Christus. Die Priester hier bleiben in den Realien des Korintherbrieies befangen: nur die Freiheit der Bajadere vom Gesetz sehen sie, nicht aber ihre Freiheit dem, in dem sie einen Gott ahnt, der wirklich ein Gott ist: und so ist dies ihr Richtspruch: Lebst du doch als Bajadere, Und so hast du keine Pflicht... Das von dem Gott durchdrungene Mädchen aber hat eine Pflicht. Herrenlose Sinnlichkeit hat sich in einer Nacht des Liebens zur Dienerschaft am Geist gewandelt, ihre Freiheit ist die des absoluten Gehorsams, welcher „Flammentod" meinen wird und, darüber hinaus, die mystische Gemeinschaft mit dem neuerstandenen Gott. In ihrer unbarmherzigen Werkgerechtigkeit ahnen die Priester nichts von dieser Zugehörigkeit eines „verlorenen Kindes" — Goethe gebraucht das Wort zwei Mal — zu dem Gott, in

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einer Wahl der Gnade. Der Dichter aber hat der Vordergründigkeit ihres Richtspruches ironisch Ausdruck verliehen, und zwar in den ihnen zugeordneten Daktylen, die hier wie jedesmal von geheimem Eros beben. 8.

Nun, da wir einigermaßen unvermutet wieder auf den Apostel gestoßen sind, eröffnen sich wiederum ungeahnte Perspektiven. Speist sich Goethes indische Legende nicht unbewußt-bewußt auf weite Strecken hin aus dem Geiste des Römerbrieks? Erst das Gesetz schärft die Klinge der Sünde: dies ist Paulus' unverbrüchliche Position, „...wo kein Gesetz ist, da achtet man der Sünde nicht" (5, 13. Vgl. 5, 20, 7, 7 - 1 3 ) . Erst durch die Herausbildung der städtischen Gesellschaft und ihres Ethos' ist das Mädchen zur Prostituierten geworden, hinausgedrängt an den Rand der Stadt, „wo die letzten Häuser sind". Nur dadurch, daß auch über sie das Gesetz herrscht, ist „der Liebe Haus", in dem sich immerhin der Gott zu wohnen bequemt, zu einem Haus der Sünde geworden; nur dadurch werden des Mädchens „gelenke Glieder" zu „Hurengliedern". Kraft der Eingliederung dieser unbotmäßigen Glieder aber in einer höheren Körperschaft wird das Gesetz durch die Freiheit zu einem neuen Gehorsam zunichte. Aus Sündern unter dem kommunalen Gesetz werden „reuige Sünder", ja „Kinder". Ganz so spricht der Apostel. Aus „Knechten" werden „Kinder". „Denn", schreibt er, „welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder"; und: „ihr habt einen kindlichen Geist empfangen"... „Sind wir denn Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi,... auf daß wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden." (8, 14—17). Atmen die Schlußworte von Goethes Ballade nicht etwas von diesem Geist? Auch das anfangliche Kompliment des Gottes an das Freudenmädchen nimmt in der Perspektive des visionären Apostels eine andere Färbung an. Der Gott meint, was er sagt — : „Jungfrau"; denn noch hat sie sich nicht in Liebe hingegeben. Und so dankt auch sie ihm ernsthaft für die „Ehre", die er ihr durch diesen Titel erweist. Eben diese Ehrerbietung herrscht in der Gemeinschaft des Glaubens, wie Paulus sie im Sinne hegt: „Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor" schreibt der Apostel (12, 10), in einer Stelle, die sich an die viel extravagantere im ersten Korintherhtiei anlehnt; eine Stelle, in welcher er mit charakteristisch Paulinischer Paradoxie die „wenigst ehrbaren" „Glieder" in Schutz nimmt und ihnen, gerade weil sie es nötig haben, die größte Ehre zollt (1, Kor. 12, 22 — 26). Die Huldigung des Gottes ist ein solches „Zuvorkommen" aus tiefster Höflichkeit des Herzens.

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Unversehens, und unvermeidlich, sind wir wieder bei der Metaphorik des Körpers und der Glieder angelangt. Drei Mal fallt das Wort in der Ballade, und es ist ein gehaltschweres. Die nie genug zu bewundernde Evokation des Mädchens Tanzens ist — wir sahen es bereits — ein Klangbild jener übergeschmeidigen Glieder, die sich allerorten schmeichelnd fühlen und berühren. Die Bajadere — eine indische Maria von Magdala — wäscht des Gottes müde Füße. Ihre „gelenken Glieder" versagen im Liebesakt den Dienst. Nach der Liebesnacht findet sie den Geliebten mit „starren Gliedern" und weigert sich, „dieser Glieder Götterpracht" totzuglauben. Ihre ausgestreckten Arme und die feurigen des sie emportragenden Gottes prägen in dreifacher Wiederholung die metaphorische Gestalt der letzten Strophe. Allmählich, im Laufe dieses Gedichtes, werden die anfangs emanzipierten „Hurenglieder" des Mädchens in ein übergreifendes Ganzes integriert. Sie wird eins mit „dieser Glieder Götterpracht". Und was schreibt Paulus? „Denn gleicherweise als wir in einem Leibe vielerlei Glieder haben, aber alle Glieder nicht einerlei Geschäft haben, also sind wir viele ein Leib in Christo, aber untereinander ist einer des andern Glied" (Römer 12, 4 f.): dies ist eine komprimierte Fassung desselben, aber viel ausladenderen Gleichnisses in 1, Korinther 1, 4 ff. und wiederum im Epbeserbncfc, eine Stelle, die ich bereits zitiert habe, aber meinen Lesern nochmals ins Gedächtnis zurückrufen möchte. Dort lassen wir: „Lasset uns aber rechtschaffen sein in der Liebe und wachsen an allen Stücken in dem, der das Haupt ist, Christus, von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am andern hanget durch alle Gelenke, dadurch eins dem andern Handreichung tut nach dem Werk eines jeglichen Gliedes in seinem Maße und macht, daß der Leib wächst zu seiner selbst Besserung, und das alles in der Liebe" (4, 15 f.). Schwingt dieses Gleichnis nun aber wirklich in Goethes Metapher mit? Wir dürfen getrost sagen: ja. In des Dichters Lutherbibel — sie steht bis zu diesem Tag auf dem Pult seines Arbeitszimmers im Weimarer Haus am Frauenplan — stecken einige Merkstreifen, fünf im ganzen. Einer davon liegt zwischen den Seiten, auf welchen dieses Zitat erscheint,27 und zwar 27

Vgl. Hans Ruppert, Goethes Bibliothek, Weimer 1958, N° 2604. Der Herausgeber bezieht diesen Streifen auf Epheser 6, 12, eine Stelle, die auch wirklich dem von dem Teufel vorgetragenen „kosmogonischen Mythos" zu Anfang von Faust II, Akt IV zugrunde liegt, da Goethe am Ende auf Epheser 6 , 1 2 verweist (Z. 10075 — 10094). Viel gravierender aber erscheint mir der Bezug auf das Gleichnis von dem Körper und den Gliedern und auf Epheser 5, 25—31, aus Gründen, die ich hier und anderswo dargelegt habe.

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mit Luthers Hinweis auf die entsprechenden Stellen in dem Brief an die Römer und in der ersten Epistel an die Korinther. Goethe dürfte sich also dieses großartige Gleichnis zu eigen gemacht haben. In seiner Ballade hat er es mit neuen und ganz Goetheschen Resonanzen durchwirkt. Denn wieder finden wir, daß in dem einen Bildfeld religiöse, erotische sowie ästhetische Saiten zum Schwingen kommen. Der Gott gliedert sich dem sündigen aber liebend hoffenden Menschen ein, der in ihm ein „Miterbe" des Göttlichen wird. — Der Mann gliedert sich die Frau ein und befähigt sie zur Teilhabe am Geistigen, dessen Prinzip er vertritt, welches sie ihm aber „in der Fülle des Leibes" verkörpert. (Auch an dieser Stelle — meine Formulierung lehnt sich an Epheser 1, 23 an — steckt einer der fünf Merkstreifen.) — Der Sinn macht sich „Reim- und Strophendunst" gehorsam, die einer widernatürlichen Autonomie genossen und sich anarchisch zu verabsolutieren drohten. Was als geistentblößtes Virtuosentum, als bestrickende lyrische Insinuation begann, wird zum Vehikel, nein, mehr: zum würdigen Träger der Inspiration. Von diesem Prozeß spricht das Gedicht, wie es auch über Religion und Liebe spricht — (die meisten von Goethes Gedichten sprechen leise über sich selbst). Von der Vollendung dieses Prozesses künden die wunderbaren letzten Daktylen in ihrem herrscherlichen Anstand und „ihrer Glieder Götterpracht", voll von geistdurchglänzter, griechisch-östlicher Leiblichkeit. 9. Das Weibliche als Träger des Geistes und seiner Eingebung? Ja. Dieser Einsicht dürfen wir uns nicht verschließen. Bei der charakteristisch Goetheschen Schlußgeste — so sagt man jedenfalls —, in der „das EwigMännliche" das Weibliche mit sich hinanzieht, bleibt es hier nicht, ebenso wenig wie es in Egmont und Faust dabei bleibt. Klärchen ist es, die am Ende Egmont hinanzieht, sowie Faust Una Poenitentium, sonst Gretchen genannt, folgt. Und so auch hier. In jenem Und in seinen Armen schwebet Die Geliebte mit hervor... zeichnet sich eine Wandlung ab, die beide in sich begreift, den Gott und die Geliebte. Sind doch beide durch das läuternde Feuer gegangen, das sie durch und durch umgeschmolzen und so entselbstigt zu einem Wesen verschmolzen hat. Dieses Bild besagt mehr als die Umartung der reuig Zarten, der Bajadere. Es spricht von einer radikalen Umartung beider, des Gottes wie des Menschen, des Mannes wie der Frau. Wenn Goethe seine

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Paare „in das Feuer und aus dem Feuer" gebracht hat, wie er scherzend bemerkt, 28 so, um „umzuschaffen des Geschaffne,/ Damit sich's nicht zum Starren waffne". Denn im Erstarren ist kein Heil. Keine umwandelnde Gewalt eignet dem Feuer in der korinthischen Ballade. Zuviel ist da erstarrt, zerstört. „Die alten Götter" weisen in keine Zukunft: sie sind das verzweiflungsvolle Nachbild eines unwiderbringlich Vergangenen. In seiner „Indischen Legende" jedoch hat der Dichter den gesamten Komplex göttlich=menschlicher und männlich=weiblicher Bezüge umgeschaffen, sowohl die, welche zwischen den Personen, wie auch die, welche im Innenraum der Einzelseele walten. Wie das Mädchen durch den Gott zu einer höheren Gemeinschaft mit dem Geiste erlöst ist, so wird er durch sie zeugungsträchtig und schöpferisch verjüngt. Der Mann — trächtig? 29 Ja. Denn gemahnt das Bild dieses mütterlichen Gottes mit dem „verlorenen Kinde" auf dem Arm nicht an eine Madonnengestalt, etwa die Sixtinische Raffaels? Hier hält ein doppelgesichtiges Gebilde — Mensch und Gott und Mann und Frau — in liebenden Armen ein gemeinsam Gezeugtes, das beide überhöht. Denn, wie der alte Goethe sagt und der ganz junge bereits wußte: „Das Gezeugte ist nicht geringer als das Zeugende, ja es ist der Vorteil lebendiger Zeugung, daß das Gezeugte vortrefflicher sein kann als das Zeugende." 30 Dies Gezeugte aber ist das fleischgewordene Wort, ist — das Gedicht, ist, genauer gesprochen, dessen Schlußakkord, zu dem das Ganze stetig hingestrebt hat: — das, was da gezeugt worden ist, sind — die vollauf beschwichtigten, die erlösten Daktylen. Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder; Unsterbliche heben verlorene Kinder Mit feurigen Armen zum Himmel empor. Schließt sich dieses Bild der emporschwebenden Zwei-Einheit nicht engstens an jene Formulierung an, die Goethe in seiner späten Betrachtung über die Ballade prägen sollte? Eine primitive Kunstform sei sie, sagt er da, in welcher „die Elemente noch nicht getrennt, sondern wie in einem lebendigen Ur-Ei zusammen sind, das nur gebrütet werden darf, um als herrlichstes Phänomen auf Goldflügeln in die Lüfte zu steigen." 31 Dieses „herrlichste Phänomen" ist der Phönix eines aus Feuergluten emporschwe28

In einem Brief an Schiller v o m 10. Juni 1797.

29

Für eingehende Betrachtungen über die Weiblichkeit des Mannes im schöpferischen A k t

30

Siehe Anmerkung 12.

31

Siehe Anmerkung 5.

siehe Kapitel 12 und 14 dieser Studie.

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benden, göttlich-menschlichen, weiblich-männlichen, ungeteilten Wesens. Für den Späten, von der Zensur des Bewußtseins Geplagten aber war diese Einheit kein Geschenk von Uranbeginn. Ein Ende war sie, zu dem er sich mühselig durcharbeiten mußte: und die Frucht dieser Krisis ist das Erlöstsein von der Beklemmung eines bedrohten Dichtens, wie es in der korinthischen Ballade Gestalt angenommen hatte. Dort waren „die Elemente" noch feindselig getrennt gewesen. Geist und Sinn mußten in einer zweiten Spontaneität zuerst den Weg zu einander finden, bevor der aus seiner Instinktsicherheit aufgescheuchte Dichter sich vertrauensvoll wieder dem anheimgeben konnte, was er, viel später, als „das Beste meines Innern" 32 feiern sollte: dem Weiblichen in seiner Seele — nennen wir es nun Gretchen oder Helena oder „die Mütter" —; dem schöpferischen Urgrund seines Selbst, dem mütterlichen Sprachschoß, der ihm sein Lied gebiert. Nicht umsonst evoziert die rührende Doppelgestalt des Gottes mit der kindlichen Geliebten im Arm immer wieder gleichsam das optische Nachbild der Madonna mit dem Kinde. Denn nicht nur das Johanneische „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns": auch Marias „Mir geschehe nach deinem Wort" 33 ist in das Fiat dieses männlich-weiblichen Gottes eingegangen, in dessen schöpferische Bereitschaft, zu zeugen und zu empfangen und das in unverbrüchlicher Zwei-Einheit Gezeugte und Empfangene auszutragen. Was anderes besagen denn jene Eingangszeilen: Er bequemt sich, hier zu wohnen, Läßt sich alles selbst geschehn...? In dieser „indischen Legende" ist in der Tat Östliches und Westlichstes nahtlos miteinander verschmolzen. Der Fluch des Bewußtseins, den Die Braut von Korinth ins Wort bannt, ist gelöst. Die Eumeniden ziehn — wir hören es, so wie Orest es hört— Zum Tartarus und schlagen hinter sich Die ehrnen Tore fernabdonnernd zu. 34 32 33

34

Faust II, IV, Z. 10066. Ich zitiere Lukas 1, 38 nach der katholischen Bibel, die Goethe geläufig war, weil diese Übertragung dem lateinischen Text und Johannis 1, 14 näher ist als die Luthers, und somit die Gedankenfolge von Goethes unten zitierten Zeilen besser erhellt. Iphigenie auf Tauris, IV, 3, Z. 1359 ff.

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„Eins und Doppelt"

Gewichen ist das Bangen vor der entfesselten Macht der Phantasie. „Reimund Strophendunst" haben aus ihrem Schoß ein göttlich-heiteres, androgynes Wesen entlassen, „eins und doppelt", ganz wie jener „Baum von Osten", den das Divan-Gedicht Gingo Biloba besingt; und die Bahn zu den „schwankenden Gestalten", die „aus Dunst und Nebel" sich dem Dichter zudrängen, ist frei. In vierzehn Tagen wird Goethe die Zueignung seiner „barbarischen Composition" niederschreiben; eine Rückkehr zu „den Müttern", die er dem überwachen Freunde, dem er doch fast alles sagt, geflissentlich verschweigt.

Schmetterling und Kerze Gedanken über Goethes West-östlichen Divan Der Künstler will zur Welt durch ein Ganzes sprechen; dieses Ganze aber findet er nicht in der Natur, sondern es ist die Frucht seines eigenen Geistes oder, wenn Sie wollen, des Anwehens eines befruchtenden Odems. Goethe zu Eckermann Fühlst du nicht an meinen Liedern, Daß ich eins und doppelt bin?

Gingo Biloba

1. Zwar habe er seinen West-östlichen Divan nicht nach einem vorgefaßten Plan gedichtet; aber „jedes einzelne Glied... ist so durchdrungen von dem Sinn des Ganzen... und muß von einem vorhergehenden Gedicht erst exponirt seyn, wenn es auf Einbildungskraft oder Gefühl wirken soll." 1 So Goethe an Zelter am 17. Mai 1815. Mit gleicher Berechtigung hätte er hinzufügen können, ein jegliches Glied erkläre sich erst aus dem nachfolgenden. Wer verstünde Offenbar Geheimnis ohne Wink? Wie fragmentarisch bliebe Suleikas Preis der Selbstbehauptung ohne Hatems Dank an die wandelnde Macht der Liebe? Wir werden also gut daran tun, den unbestrittenen Höhepunkt des Buches des Sängers — ich meine Selige Sehnsucht, von dem ich sprechen möchte — als Mittelglied zwischen dessen unmittelbaren Vorgänger, Allheben, und jenem scheinbar so leicht hingeworfenen Vierzeiler zu betrachten, mit dem das Buch abklingt. Beginnen wir mit diesem: Tut ein Schilf sich doch hervor, Welten zu versüßen! Möge meinem Schreibe-Rohr Liebliches entfließen!

1

WA, IV, 25, S. 333.

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.Eins und Doppelt"

Meines Wissens ist dieser Abgesang nie eines gehaltlichen Kommentars, geschweige denn eines Brückenschlags zu seinem zelebrierten Vorgänger gewürdigt worden. Und dennoch: wie innig ist dies kleine „Glied" von dem Sinn des Ganzen durchdrungen! Da ist, in scheinbar spielender Schwebe, die Polarität von anonymstem organischen Prozeß und schöpferischem Begebnis im Seeleninneren des Ausnahmemenschen, wie selbstverständlich verbunden durch die verhaltene Erotik von Sprachgebärde und Bild. Süßes, Liebliches entfließt dem einen Rohr wie dem anderen; ein Parallelismus, wie er den Dichter dieses reifen Zyklus sowie schon den ganz jungen Goethe etwa der „Künstlergedichte" kennzeichnet. 2 Dabei aber ahnt man auch die ungeheure Spannung, die, hinter der Hyperbole der zwei ersten Zeilen gleichsam versteckt, gerade nur durchscheint in der bescheidentlichen Bitte um liebendes Sagen. Dieses eine Schilfrohr, das sich da „hervortut", ganze Welten zu versüßen, versinnbildlicht im voraus die kolossal verdichtende, destillierende, aus Unscheinbarstem Liebliches zeugende Macht des schöpferischen Aktes. Eben diese wandelnde Gewalt künstlerischen Schaffens kommt in einem anderen Vierzeiler zum Ausdruck, der sich desselben Bildes bedient. Im Buch der Sprüche lesen wir: „Was brachte Lokman nicht hervor Den man den gars'tgen hieß!" Die Süßigkeit liegt nicht im Rohr, Der Zucker, der ist süß. Es ist dieselbe Leier in leicht abgewandelter Form: das Erzeugte überhöht seinen Erzeuger, ganz so, wie es in dem früheren Vers die Materialien überhöht, denen es sein Dasein verdankt. Am eindrucksvollsten tritt diese Thematik in dem zweiten, und letzten, Gedicht von Buch Timur zutage, in dem Gleichnis des Parfüms, dessen Süße eine ganze Welt — also wieder eine Welt! — von Lebenstrieben zum Opfer fallen muß, mit derselben Rücksichtslosigkeit, mit der Timurs Herrschaft Myriaden von Seelen aufzehrt. Nur daß dort, in dem Übergangsgedicht von Buch Timur zu Buch Suleika, jener Akt schöpferischer Sublimierung unter dem Bilde einer nahezu qualvollen Tyrannei dargetan wird, während der auf den Höhenflug von Selige Sehnsucht folgende Vierzeiler ihn mit einem fast kindlich anmutenden Vertrauen überspielt.

2

Hierzu siehe I. Graham, Goethe and Lessing. Kapitel 5.

The Wellsprings

of Creation,

London 1973,

Schmetterling und Kerze

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Noch manches ließe sich zu diesem so harmlos scheinenden Vers sagen. Halten wir indes an dem Einen fest: eine Aussage über ein ostensibel „Außeres" — über die Süße des Zuckerrohrs also oder auch über die des Parfüms — hat sich als eine Aussage über ein innerseelisches Geschehen entpuppt: über die mit ganzen Welten erkaufte Inständigkeit liebenden Sagens und — Entsagens. Denn ist das Umsetzen vitaler Energien und wachstümlicher Prozesse in ein wenngleich erfülltes Sagen nicht immer ein Akt der Sublimierung, des „Ent-sagens"? All-Leben, der unmittelbare Vorgänger von Selige Sehnsucht, lebt seinerseits aus einem Paradox. Den Staub feiert dieses Gedicht. In der judeo= christlichen Tradition aber, von der Genesis an, meint Staub das Symbol sündhafter Todverfallenheit par excellence. Staub soll er fressen, und mit Lust, Wie meine Muhme, die berühmte Schlange (Faust I, Z. 334 f.), knirscht Mephisto; und mit dieser Prognose überantwortet er Faust dem Verderben an Leib und Seele. Daß Goethe auch anderswo Staub mit Vernichtung gleichsetzt, ist fast trivial zu konstatieren. Man denke an die herzzerreißende Klage des Herzogs angesichts des vermeintlichen Todes seines Kindes, in Die natürliche Tochter. Weiter ist da jene faszinierende morphologische Studie namens Verstäubung, Verdunstung, Vertropfung, die Goethe im Jahre 1820 verfaßte. Hier meint die Herausschleuderung einer Staubaura etwa in einer toten Fliege „eine letzte, ins Nichtige auslaufende Verstäubung", 3 faktisch eine partielle Verwesungserscheinung. Darüber wird noch zu sprechen sein. Und redet der alternde Dichter nicht von Tod und Staub, obschon in heitersten Tönen, wenn das lyrische Ich in Bezug auf Suleika von sich selber sagt: Findet sie ein Häufchen Asche, Sagt sie: „Der verbrannte mir"...? Ja — aber ich eile mir selbst voraus! — ist der Schmetterling, der sich, seliger Sehnsucht voll, in das Licht der Kerze wirft, mehr denn „ein Häufchen Asche", trauriger Überrest höchster Werde- und Zeugungslust? Wo, in dieser „letzten, ins Nichtige auslaufenden Verstäubung", steckt das Werde? Hier aber nun, in All-Leben, preist der Dichter den von Donner und Blitzen aufgewühlten, nach dem Boden hingefeuchteten Staub als das 3

LA, I, 9, S. 213.

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.Eins und Doppelt"

eigentlich befruchtende Element. Aus der gewaltsamen Entladung kosmischer Energien — sie versinnbildlichen jene vitalen Triebe, die ungelebt in dem Einsamen angestaut sind, dem sich allzulange keine „lieben Pforten" geöffnet haben — ...entspringt ein Leben, Schwillt ein heilig heimlich Wirken, Und es grunelt und es grünet In den irdischen Bezirken. Also doch ein Werde, eine zeugende Kraft im innersten Kern der Vergänglichkeit — im Staub. Denn — wie sagt doch der Dichter? — Denn Sehnsucht hält, von Staub zu Thron, Uns all' in strengen Banden. 2.

Unversehens sind wir in den Bereich von Selige Sehnsucht eingetreten. Dies wird offenbar, erinnert man sich jenes seltsamen Verses, den Goethe sich anfanglich für sein Gedicht notiert hat: Lange hab ich mich gesträubt Endlich gab ich nach! Wenn der alte Mensch zerstäubt, Wird der neue wach! 4 Nicht, daß wir wüßten, durch welche Strophe von Selige Sehnsucht diese Zeilen schließlich ersetzt wurden, oder ob sie ursprünglich als zusätzliche geplant waren. Sei dem, wie es wolle: welch eine seltsame Verquickung von dem christlichen Motiv des alten und des neuen Adams mit dem okzidentalisch=orientalischen des Staubes, und welch eine embryonale Ankündigung dieses Gebildes in seiner endgültigen herrlichen Gestalt! Hier also, in der Mitte zwischen zwei Aussagen über den Eros des Zucker- und Schreiberohrs und den des befruchtenden Staubes, mit deren doppelten Resonanzen von Irdischstem und Ätherischstem, ist das Gedicht angesiedelt, von dem ich sprechen will: das Gedicht von der Unvergänglichkeit jenes Wunders aus farbigem Staub, dem todessüchtigen und lebenslüsternen Schmetterling, Sinnbild der Seele des Menschen. Wie die Gedichte, die es flankieren, scheint sich Selige Sehnsucht gleichzeitig auf zwei Ebenen zu bewegen: auf einer äußeren, naturhaften, wie 4

Gedruckt in WA, I, 6, S. 373.

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Zuckerrohr und Staubwirbel, darüber hinaus aber auf einer innerseelischen. Von dem Eros schöpferischen Zeugens sprechen diese Verse. Die zwei Pole organischen Seins — der physische und der geistige — werden in diesem Gedicht durch Schmetterling und Seele bezeichnet, zwei Worte, für welche die Griechen bekanntlich nur einen Ausdruck haben: —„Psyche". Erst spät in dem Gedicht zwar, rückblickend aber mit der Logik eines streng durchgehaltenen Symbols, wird das Los des wahrhaft Lebendigen in dem Schicksal des Nachtfalters gefeiert, der im Akt der Liebe stirbt und wird. Liebe zu wem oder was, fragen wir. Die Antwort darauf scheint denkbar einfach zu sein. Liebe, sicher doch, zu einem Anderem, einem Du, versinnbildlicht in der leuchtenden Kerze, in der sich einzuäschern der Schmetterling unaufhaltsam gezogen wird. In der Liebesnächte Kühlung, Die dich zeugte, wo du zeugtest, Überfallt dich fremde Fühlung Wenn die stille Kerze leuchtet. „Fremde Fühlung": das meint ein menschliches Gegenüber, eine Frau, denken wir, so liebend wie geliebt. Suleika wird ein solches Gegenüber sein, wie Marianne von Willemer es war. Der hier spricht, ist indes noch nicht das lyrische Ich des Buches der Liebe oder von Buch Suleika oder auch des Schenkenhuches. Es ist das Ich vom Buch des Sängers, in dem zum ersten Mal die vielleicht zentrale Thematik des gesamten Zyklus aufklingt —: eben die der gedichteten Liebe, des geistigen Zeugens. Vom schöpferischen Akt hat Rainer Maria Rilke gesagt: „...auch im Mann ist Mutterschaft,... leibliche und geistige; sein Zeugen ist auch eine Art Gebären, und Gebären ist es, wenn er schafft aus innerster Fülle." 5 Der hier spricht, ist ein Mann. Erinnert er doch das Du, das er anredet, in dem er selbst beschlossen ist, an die Stunden, „wo du zeugtest". Indes, in diesem Manne, der ein Sänger ist, ein Dichter, ist auch das Kind wach, mit dem staunenden Erahnen seines geheimnisvollen Ursprungs, und auch die Frau, das „würdig befundene Gefäß" — so Goethe — , 6 in dem sich das Mysterium der Zeugung vollzieht. Diese schwankende Identität des lyrischen Ich beginnt sich in dem „überfällt dich fremde Fühlung" abzuzeichnen. Was meint der Dichter mit diesen Worten? Doch wohl die Gabe, mit einem Anderen, Fremden, 5 6

In: Briefe an einen jungen Dichter, Insel-Bücherei N° 406, S. 26. Goethe an Eckermann, 11. März 1828. (AGA, 24, S. 679).

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sich innigst identisch zu machen, gleichsam aus dessen Tiefen heraus zu sprechen, in seinem Lebensrhythmus zu existieren; und diese Gabe teilt der Dichter mit der Mutter und wohl auch mit dem Kind. Erst dann aber werden wir der vollen Bedeutsamkeit dieser Prägung gewahr, wenn wir auf ihre Syntax achthaben. Denn in dem sprachlichen Duktus dieser Zeile spiegelt sich das Denkmodell, ja, die Grundform Goetheschen Erlebens per se. Was hier zum Ausdruck gelangt, ist eine überwiegend weibliche Art des Gewahrseins. Das generische Du, in dem der Sprechende sich selber mitbegreift, ist, grammatisch gesehen, nicht das Subjekt der Aussage, sondern deren Objekt. Nicht aktiv ist es, es ist leidend; nicht prägend, sondern geprägt; nicht durchdringend, sondern durchdrungen, so wie das Mädchen, das noch keinen Mann kennt, den Fremden plötzlich in ihrem Innersten fühlt. Dergleichen Erwägungen sind kein spekulativer Luxus. Denn in der Fähigkeit, sich dem Anderen grenzenlos auszusetzen, so daß Fremdes als Eigenstes erfahren wird, liegt — so dürfen wir wohl sagen — das Geheimnis jener gegenständlichen Anschauung, in der Goethe selbst den Schlüssel zu seiner Seinsweise als Mensch und Dichter sah.7 Dutzende von Malen hat er dies ihm eigentümliche Erlebnismodell formuliert, Aberhunderte von Malen zeichnet es sich, unbewußt-bewußt, in seinem Sprachgestus ab. Läßt der Dichter sein lyrisches Ich, läßt der Erzähler oder Dramatiker seinen Charakter eine Aussage der grammatischen Form machen: „Dieses Begebnis drückte sich ihm tief ein", will sagen, wird das Objekt der Erfahrung als das Vorherrschende erlebt, so steht der Verfasser hinter seiner Aussage. Waltet aber das grammatische Subjekt vor, wie etwa in Egmont, wenn Alba, in seinem Monarchen sich selbst kennzeichnend, moniert: „der König befiehlt", 8 oder gar, in unbewußter Selbstpersiflage: „Der König will seinen Willen", 9 so werden wir angewiesen, auf unserer Hut zu sein. Wenn Werther in seinem zweiten Brief, dem vielberühmten vom 10. Mai, seine empfindsame Naturbeschreibung mit dem Ausruf beschließt: „...ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen", so scheint diese Formulierung in ihrer extremen Exponiertheit jenem „überfallt dich fremde Fühlung" durchaus verwandt zu sein. Aber welch ein himmelhoher Unterschied! Das Ich, das hier spricht, ist über7

8 9

Hierzu siehe Goethes Essay Bedeutende Fordernis durch ein einziges geistreiches 13, S. 37 ff.). Egmont, I, Palast der Regentin {HA, 4, S. 379). Egmont, IV, Wohnung des Herzogs von Alba {HA, 4, S. 432).

Wort {HA,

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lebensgroß. Die Dinge geben sich nicht ihm, es drängt sich ihnen auf, es steckt sie in die Zwangsjacke seiner eigenen Emotionen und erschlägt sie mit seinem Schatten. So entgehen sie ihm, er darbt und bleibt inkapsuliert; und jene schwinden ins Wesenlose, Phantomhafte, jvie das Wort „Erscheinungen" nur allzu deutlich zeigt. Im Grunde unterzeichnet der Dichter mit diesem ersten Auftakt das Todesurteil seines Helden. Zusammenfassend dürfen wir so formulieren: einer Aussage, in der das Subjekt dominiert oder gar allein waltet, und das Objekt der Erfahrung seiner prägenden Macht enthoben ist, kommt im Munde dieses Dichters keine vollgültige Authentizität zu. 3. Daß jene erinnerten Liebesnächte, von denen Selige Sehnsucht spricht, keine Liebeserlebnisse im landläufigen Sinne meinen, sondern vielmehr das Sinnbild eines innerseelischen Geschehens sind, hat sich bereits abzuzeichnen begonnen. In diesem Gedicht geht es um die Begegnung zweier Geschlechter in einer Seele. Dies klarer herauszuarbeiten, bedarf es eines kurzen Blickes auf die Welt Goethescher Gestalten. Im dramatischen und epischen Bereich nicht minder als im lyrischen sind die männlichen Figuren dieses Dichters von einer ganz außergewöhnlichen Empfänglichkeit. Man denke an Werther, Wilhelm Meister oder Eduard in den Romanen, an Weislingen, Clavigo, Fernando und Brackenburg, an Tasso und Epimetheus, sowie an den Herzog in Die natürliche Tochter, man vergegenwärtige sich das lyrische Subjekt in den beiden Zueignungen oder der Marienbader Trilogie. Sie alle sind im höchsten Grade ausgesetzte Gestalten, mehr weiblich als männlich in ihrer Prägsamkeit, einfühlsam bis zum Selbstverlust, den Launen des Schicksals ausgeliefert und versklavt an das Gehen und Kommen der geliebten Frau. Solche Einseitigkeit gleichsam wettzumachen, hat der Dichter derlei Figuren andere robustere und nüchterneren Schlages beigesellt: Albert in Werther, Werner, Jarno und den Abbé in Wilhelm Meister, den Hauptmann in den Wahlverwandtschaften, sowie, in den Dramen, Götz, Carlos, Oranien, Pylades, Antonio, Prometheus und den Sekretär in der Natürlichen Tochter. Von allen diesen gegensätzlichen Paaren gilt das Wort der Leonore Sanvitale über Tasso und Antonio: Zwei Männer sind's, ich hab' es lang' gefühlt, Die darum Feinde sind, weil die Natur Nicht einen Mann aus ihnen beiden formte ( Torquato Tasso, III, 2).

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Indes, dies bleibt ein Wunschtraum, bis auf, möglicherweise, die Figur Fausts, in dem sich männlich=herrscherliche und weiblich=einfühlsame Züge in einer von Mal zu Mal wechselnden Gewichtsverteilung die Waage halten, die freilich auch nur an einem einzigen Punkt zum vollen Stillstand kommt: in den Szenen um Helena.10 Solchen vorwiegend empfänglichen Gestalten sind, gleichsam übers Kreuz, ätherisch=herbe weibliche Figuren zugeordnet. Man vergegenwärtige sich Mignon und Natalie mit deren vielsagenden Signum „die schöne Amazone", sowie Charlotte in den Wahlverwandtschaften; im dramatischen Raum denke man an Götzens Frau Elisabeth, an Iphigenie, Leonore von Este, ferner an Pandora und Eugenie; im lyrischen Bereich an die Muse von Zueignung und die Besungene der Marienbader Elegie. Ihrer vielgerühmten griechischen Sinnlichkeit zu Trotz könnte man auch Helena dieser Reihe beifügen. Im Letzten unberührbar sind sie alle, oft von ungewissem ontologischem Status und von einer nicht ganz vollblütigen Weiblichkeit. Sie entziehen sich auch dem zartesten männlichen Zugriff, und manches Mal tragen sie Züge des Zwitterhaften oder Dämonischen. Bei Mignon, Iphigenie, Eugenie sowie Pandora tritt dies besonders klar zutage. Ihnen allen könnte man jene „Mannweiblichkeit" nachsagen, die der von Wilhelm Meister so geliebten Chlorinde Torquato Tassos eignet. 11 In kaum einer dieser Frauengestalten vermögen die Männer, die ihnen zugeordnet sind, das Weibliche wiederzufinden, mit dem sie selbst in so hohem Maße begabt sind. Der Musterfall dürften Eduard und Charlotte sein, mit ihrem vom Schicksal gezeichneten Kind. Einer solchen antwortenden Weiblichkeit aber bedarf es, damit das Feminine im Mann sich angesprochen und empfangen fühlt und eine wahre Verschmelzung der Geschlechter möglich wird. Die leuchtenden Ausnahmen von einem solchen unfruchtbaren Nebeneinander sind Faust und — so er selbst — „das Beste meines Innern" — Gretchen also, im Halblicht eines mythologischen Innenraums Faust und Helena, Eduard und Ottilie, die ein Wesen sind, und — man braucht es kaum zu sagen — das lyrische Ich und Suleika im West-östlichen Divan. Die innige Verschmelzung dieser beiden ist es, die, alle Andersartigkeit der Geschlechter freudig überspielend, das Marianne* Erlebnis so einmalig und die dichterische Frucht dieser Begegnung, eben den Divan, so beglückend macht. 10

11

Hierzu siehe I. Graham, Goethe and Lessing. The Wellsprings of Creation (Anm. 2), Kap. 11 und I. Graham, Goethe. Portrait of the Artist, Berlin und New York 1977, Kap. 12. Siehe Wilhelm Meisters Lehrjahre, I, 7. HA, 7, S. 26.

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Über diesen Aspekt Goethescher Dichtung, und seines Alterszyklus' im Besonderen, ist von Forschern bislang noch nicht viel, wenn überhaupt etwas, gesagt worden. Gehört doch das intellektuelle Gewahrsein der Geschlechter, nicht als zweier verkuppelter Feinde, vielmehr als eins dem anderen innewohnend, erst der Freudianischen und nach=Freudianischen Epoche an, deren beste Denker der Einseitigkeit unserer streng patriarchalischen Kultur entgegenzusteuern suchen. 12 Dabei entstammt das Erlebnis unserer Bisexualität, ja, sogar die Vorstellung göttlicher Beidergeschlechtlichkeit, uralten Zeiten. Im westlichen Raum in Griechenland, Ägypten, Klein»Asien sowie im frühsten Christentum beheimatet, ist es im Mittelalter durch Seher wie Dante, Hildegard von Bingen, Heinrich von Morungen und Frauenlob zu dichterischer Gestaltung gelangt. 13 Gedanklich aber hat es sich in unserer westlichen Kultur nie recht durchsetzen können, und Goethe mußte sich gleichsam mit eigenen Händen bis zu den Wurzeln eines total verschütteten Erbes durcharbeiten. Die Hilfe kam ihm vom Osten, der mit solchen Denkformen vertrauter ist als wir; und dieses, seine innere Ahnung bekräftigende Erleben der Beidergeschlechtlichkeit des Einzelmenschen, die allein die restlose Vermählung von Mann und Frau ermöglicht, ist das schlechthin Beglückende und überwältigend Befreiende am West-östlichen Divan. In jedem Gedicht dieses Zyklus', möchte man sagen, schwingt und klingt die Seligkeit dieses „Wiederfindens", sie ist es, die dem Werk sein west=östliches Gepräge verleiht. Und es ist kein Zufall, daß sich dieses von Grund aus erneuernde Gewahrsein am offenkundigsten in dem Gedicht ausspricht, dessen Weisheit ausdrücklich als vom Osten stammend erklärt wird. Das Gedicht, das ich meine, ist Gingo biloba. Was ist der „geheime Sinn", der, unter dem Gleichnis des tief gekerbten Blattes von östlichem Gewächs, den Wissenden erbaut? In zwei Fragen gibt die mittlere Strophe zwei vorläufige Antworten. Ist es ein lebendig Wesen, Das sich in sich selbst getrennt?..., fragt das lyrische Subjekt; und in diesen kurzen Zeilen schweift der Blick des Dichters von Piatons Bild des ungeteilten Menschen, wie es tragisch» humoristisch im Symposion ausgestaltet erscheint, über die Genesis bis zu

12

13

Hierbei habe ich hauptsächlich Denker wie Berdyayev und Psychologen wie Freud sowie C. G. Jung und Erich Neumann im Sinn, abgesehen von Rilke, der dieses Thema ständig umkreist. Siehe Kapitel 14 dieses Buches.

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seinem eigenen Wiederfinden, das, die volle Tragweite dieser Frage auskostend, mit den Worten schließt: Und ein zweites Wort: Es werde! Trennt uns nicht zum zweitenmal. Auf diese, an tragischste Tiefen der Individuation rührende Frage folgt die zweite, im Gewahrsein der beglückenden Wirklichkeit wohlgemutere: Sind es zwei, die sich erlesen, Daß man sie als eines kennt? In beiden Zeilenpaaren sind die Worte „ein" und „eines" gesperrt. Auf ein letztes Einssein in der Doppeltheit kommt es an, darum geht es. Noch aber ist die Frage nach der in zwei Wesen aufgespaltenen, ersehnten Ganzheit ungelöst. Diese Frage zu beantworten vermag nur der schöpferische Mensch, dieser schöpferische Mensch, der vor rund hundertsiebzig Jahren den Mut und die innere Freiheit besaß, zu seinem innersten Wissen zu stehen. An seinen Liedern soll es die Geliebte fühlen, daß er, der Dichter, „eins und doppelt" ist. In ihr tritt ihm seine eigene Weiblichkeit gleichsam von außen entgegen; erst in der seelischen Vermählung mit der zutiefst verwandten Frau kommt er ganz zu sich selbst. Dies „doppelt" meint nicht mehr Geteiltheit. Vom Wunder seiner vervielfachten Schöpferkraft im Wissen um sein unverbrüchliches Einssein mit der verinnerlichten Geliebten singen diese hingerissenen Worte. Ohne die geliebte Frau ist der Poet — die wörtliche Ubersetzung dieses griechischen Wortes ist „Wortmacher" — nicht mehr als ein unbehauster Geist. Erst ihr antwortendes Selbst ist es, das diesen körperlosen Logos 14 gleichsam inkarniert und zu wesenhaftem Singen ermächtigt; wie es denn auch im Buch Hafis heißt: Vernimmst ein Lied so froh und wahr, Den Geist darin zu betten. Die Geliebte ist gleichsam der Schoß, der den Samen des dichterischen Wortes in sich empfangt und zum Liede ausreift. Aber wohlgemerkt: auch dies ist ein verinnerlichtes Geschehen. Was in diesem Zyklus liebenden Sagens — und Entsagens! — wäre denn nicht hochsublimiert?

14

In Motto Hafis wiederum erscheint das Wort als „die Braut", d. h. als weiblicher Pol in der Dialektik von Wort und Geist: ein weiteres Zeichen der durchgängigen geschlechtlichen Ambivalenz, die in Goethes Zyklus waltet. Hierzu siehe Kapitel 15 dieses Buches, Abschnitt 3.

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4. Die Dinge, die hier zur Sprache gekommen sind, mögen manche meiner Leser befremden. Und bevor wir uns wieder zu Selige Sehnsucht zurückwenden — wir waren nie weit davon entfernt! —, möchte ich zumindest andeutungsweise zeigen, wie wenig das bislang zum Thema von Goethes seelischer Bisexualität Gesagte aus der leeren Luft gegriffen ist. Der Dichter, der am Ende seines Lebens die Gestalt des Doktor Marianus schuf, hat sein christliches Erbe, und insbesondere seine Wesensverwandtschaft mit dem Katholizismus, nie verleugnet. 15 Was aber — so werden meine Leser fragen — hat dies mit der Beidergeschlechtlichkeit des schöpferischen Menschen, insbesondere mit der des Wortmachers zu tun? Meine Antwort ist: mehr als man denken möchte. Hören wir zunächst einige Aussprüche des greisen Goethe. Die Verbindung mit unserer Thematik wird uns sodann wie eine reife Frucht in den Schoß fallen. Dem etwas angekränkelten Eckermann den Kopf zurechtzusetzen, spricht Goethe ihm von schöpferischer Produktivität, von ihren Bedingungen, ihrem Wesen, ihren gleichbleibenden Zügen. Von Napoleon spricht er, von Shakespeare, von Lord Byron sowie von Raffael und Mozart; und gelegentlich auch von sich selbst, der glücklichen Zeiten gedenkend, „als mich*... die Gedichte des Divan in ihrer Gewalt hatten". In solchem bewußtlosen Schaffen, sagt er, „ist der Mensch oftmals als ein Werkzeug einer höheren Weltregierung zu betrachten, als ein würdig befundenes Gefäß* zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses",*16 Die frische Luft, sinnt er, sei der rechte Ort, solche „produktivmachenden Kräfte" in dem Schaffenden zu erwecken; und er fügt hinzu: „es ist, als ob der Geist Gottes* dort den Menschen unmittelbar anwehte* und eine göttliche Kraft ihren Einfluß* ausübte". 17 In Makariens Archiv lesen wir: „Poesie ist... Eingebung-, sie war in der Seele empfangen,* als sie sich zuerst regte." 18 Sodann dieser Ausspruch: „Ich empfing in meinem Innern Eindrücke*... sinnlicher, lebensvoller... Art...; und ich hatte als Poet weiter nichts zu tun, als solche... Eindrücke* in mir künstlerisch zu runden und auszubilden*...19 Zu Für diesen Aspekt von Goethes Weltschau siehe insbesondere J. Urzidil, Goethe in Böhmen, Zürich und Stuttgart 1962, dessen feinsinnigen Darlegungen ich mich vollauf anschließe. * Hervorhebungen I. G. 16 Goethe zu Eckermann, 11. März 1828 (AGA, 24, S. 679). " Ebenda, S. 681. 18 Wilhelm Meisters Wanderjahre, III (HA, 8, S. 482, N° 143). 19 Goethe zu Eckermann, 6. Mai 1827 (AGA, 24, S. 636). 15

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Eckermann letztendlich sagt der Siebenundsiebzig jährige: „Der Künstler will zur Welt durch ein Garthes* sprechen; dieses Ganze aber findet er nicht in der Natur, sondern es ist die Frucht* seines eigenen Geistes, oder, wenn Sie wollen, des Anwehens eines befruchtenden gottlichen Odems,"*20 Dergleichen Formulierungen bedürfen keines Kommentars, so offenkundig sind sie von der Verkündigung Mariae gemünzt, wie sie uns der Evangelist Lukas überliefert hat. Worte wie „Ein-Fluß", „Ein-Drücke", „Ein-Gebung", „ründen" oder „ausbilden" wollen buchstäblich, mit all dem Gewicht ihrer Stammvokabeln, verstanden werden. Goethe hat sie mit Bedacht gewählt, physischstem Geschehen Ausdruck zu verleihen. Hier spricht ein Mann, der von Mutterschaft weiß, dessen Zeugen — in den Worten Rilkes — „auch eine Art Gebären [ist], und Gebären ist es, wenn er schafft aus innerster Fülle". Ein Dichter spricht hier, der zu Anbeginn des schöpferischen Aktes ein rein Empfangender ist, der wie die Jungfrau im Lukasevangelium sagt: „Es geschehe mir nach deinem Worte"; ein Wortmacher, dessen Signum das johanneische „verbum caro factum est" ist. 5.

Wir sind wieder bei Selige Sehnsucht angelangt. Denn siehe, in dem folgenden Vers, dem dritten, tritt eben jene Affinität zwischen marianischer und dichterischer Empfängnis zutage, die sich bereits in dem vorhergehenden Überfallt dich fremde Fühlung angekündigt hat. Nicht mehr bleibest du umfangen In der Finsternis Beschattung... heißt es hier, ein nunmehr vergangenes Stadium des Liebesaktes in der Erinnerung wachrufend. Wie lauten doch Gabriels Worte zu der heiligen Jungfrau? „Der heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft Gottes wird dich überschatten." Diese Begabung, weit geöffnet zu sein, wie eine Frau leidend und harrend zu empfangen, hat Goethe in den im Vorhergehenden zitierten Äußerungen im Sinn. Es wäre indessen irrig, daraus auf eine einseitige Verlagerung des psychischen Gleichgewichts dieses Dichters schließen zu wollen. Daß dem nicht so ist, wird spiegelklar aus dem Ausspruch, er, als 20

Goethe zu Eckermann, 18. April 1827 {AGA, 24, S. 623).

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Mann und Künstler, wolle zu der Welt „durch ein Ganzes sprechen". Die Ganzheitlichkeit, auf die Goethe hier Anspruch erhebt, ist eben jene ausgeglichene „Mannweiblichkeit", die es Wilhelm Meister in Torquato Tassos Chlorinde so angetan hat: sie umfaßt beide Geschlechter in Einem. Dieses „eins-und doppelt-Sein" kommt denn auch sogleich in dem nächsten Zeilenpaar zum Zuge. Die soeben noch „ein würdig befundenes Gefäß" des befruchtenden göttlichen Odems war, verwandelt sich unverzüglich in ihren männlichen Widerpart. Nun heißt es: Und dich reißet neu Verlangen Auf zu höherer Begattung. Nicht, daß hiermit die feminine Komponente des lyrischen Ich abgetan, überwunden wäre. Ganz wie in dem vorhergehenden Vers erscheint das logische Subjekt der Aussage — das „dich" — in untergeordneter Stellung, als grammatisches Objekt. Das Andere, Unerwartete, die „fremde Fühlung" dort sowie das „neu Verlangen" hier, überfallt dieses Du, prägt es, hat es in seiner Gewalt. Indes, diese Femininität wird jetzt in jenes übergreifende „Ganze" integriert, von dem Goethe so nachdrücklich spricht; und in dieser Phase des schöpferischen Aktes tritt nunmehr das eigentlich Maskuline, Zeugende, in den Vordergrund. Nicht nur Worte wie „Verlangen" oder „Begattung", auch nicht nur das Ungestüme, das sich in diesem „reißt" kundtut, bezeugen diese Ausweitung des inneren Geschehens. Vor allem ist es das der letzten Zeile gebieterisch vorangestellte „ A u f , das den Umschlag von weiblichem Empfangen zu spezifisch männlichem Zeugungsdrang rein als Sprachgebärde einfangt. In der folgenden Strophe begibt sich etwas Seltsames. Jene fremde Fühlung, die sich vorerst bei dem stillen. Leuchten der Kerze angekündigt hatte und ein menschliches Gegenüber, eine geliebte Frau, zu meinen schien, vollendet sich nunmehr an und in der Kerze. In ihr Licht stürzt sich der Schmetterling, als welchen sich jetzt, in dem gipfelnden Sinnbild dieses Gedichtes, die Seele des Menschen zu erkennen gibt. Der Nachtfalter aber, der immer engere Kreise um die Kerze zieht, steuert in Wirklichkeit nach dem Mond; und dieser wiederum fungiert in dem Divan stets als ein weibliches Symbol, wie dies ja auch in dem marianischen Kult und in anderen Mythologien — sagen wir, in der altgriechischen und »ägyptischen — der Fall ist, während die Sonne durchweg als Sinnbild des Männlichen verstanden wird. Auch bei Goethe ist es nicht anders, des irreführenden grammatischen Genus' der Vokabeln im Deutschen zum Trotz. Ein Blick auf sein „gräzisie-

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rendes" Drama, wie Schiller es nennt, mag dies bezeugen. Iphigenie ist die Priesterin Dianas, der Göttin des Mondes; Orestes steht unter der Führung Apolls, der ihn nach Tauris gesandt hat, die Schwester heimzuholen. Wenn Iphigenie nach ihres Bruders Zusammenbruch die göttlichen Geschwister im Namen der Geschwister um „sel'ge Hilfe" bittet, so tut sie dies in einer weit ausgreifenden Metapher unter deren stellarischer Gestalt, als Mond und Sonne, durchaus im Sinne marianischer Tradition. Die heilige Jungfrau, mit ihrem geborgten Licht, sehnt sich nach dem ewigen Licht des Bruders. So bestätigt sich aus der Textur der Sprache selbst, gleichsam von innen her, die Geschlechtszugehörigkeit der beiden Himmelsleuchten. Auch der Divan folgt diesem Muster. Du nennst mich, Liebchen, deine Sonne, Komm, süßer Mond, umklammre mich!..., ruft Hatem aus; und die geschlechtliche Zuordnung beider, des männlichen Ichs des Gedichtes zu der männlichen Sonne und der „allumklammernden" Geliebten zu dem geborgten Licht des Mondes, liegt offenkundig zutage. Wenn der vergrämte Dichter sein „Allerliebstes" als „Mondgesicht", „Phosphor" und „Kerze" anruft, so wird durch die Assoziation mit anderen, geborgten Lichtern auch der Kerze ihr weibliches Wesen gesichert. Zu sagen, daß das lyrische Ich desselben Gedichtes die Geliebte gleich darauf als „meine Sonne" anspricht, wie dies ja auch in Motto Suleika geschieht, ist kein triftiger Einwand. Es wäre oberflächlich, diesen plötzlichen Umschlag mit dem Stereotyp „Steigerung" abzutun. Dem stark weiblichen Gepräge des Dichters entsprechen zart angedeutete maskuline Züge in Suleika — es ist kein Zufall, daß sie es ist, der die selbstbehauptende Persönlichkeit als höchstes Los der Erdenkinder gilt! Wäre dem nicht so, nie könnte jene innige Verschmelzung zweier Wesensverwandter statthaben, die das eigentliche „Ereignis" des Divan ist. Der lichtbegierige — männliche — Schmetterling also, der sich selbstverschwenderisch in das Licht der — weiblichen — Kerze hineinstürzt und darin den ersehnten Flammentod findet, ist das Sinnbild jener inneren, geistigen, höheren Begattung, die sich gleich zu Anfang in der Symbolik der Liebesnächte angekündigt hat. Was meint dieses seltsame Geschehen? Dieses esoterische Gedicht spricht, so glaube ich, auch von der Selbstbegattung des schöpferischen und — sagen wir es endlich frei heraus: für Goethe heißt das — androgynen — Menschen, der aus innersten Tiefen

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seinen befruchtenden Samen entläßt und ihn in eben jenen Tiefen empfangt. Dies ist ein Tod, ein dreifacher. Erinnern wir uns daran, daß einer der ursprünglichen Titel von Selige Sehnsucht „Selbstopfer" war. Einmal ist es jener Tod im Akt der Liebe, von dem bereits der junge Dichter des Prometheus'¥rzgme.ntes zu sagen weiß. Sodann ist es der kurze Tod, den die Frau im Akte der Empfängnis durchmacht, von deren Bangigkeit dieser empathische Dichter, und gerade im Zusammenhang mit dem Schmetterling, unvergeßliche Worte gesagt hat. „Das Gefühl der sonderbaren bevorstehenden Entwicklung" — so lesen wir über den Akt der Verpuppung — „mag dem Gefühl nach der Empfängnis ähnlich sein; doch droht hier die ganze Existenz umgeboren zu werden." 21 Drittens und letztendlich spricht „Selbstopfer" von dem kurzen Tod des Mannes im Akt der Zeugung, in dem er sich restlos verausgabt. Und über diesen dritten Tod, den Tod des Mannes im schöpferischen Zeugen, verlohnt es, in unserem gegenwärtigen Zusammenhang etwas mehr zu sagen. In dem bereits erwähnten Aufsatz namens Verstäubung, Verdunstung, Vertropfung, in dem Goethe von dem Staub als einer Verwesungserscheinung spricht, lesen wir den folgenden Passus zu dem Thema der zur damaligen Zeit lebhaften Debatte, ob die Fortpflanzung im botanischen Reich aufgrund eines Sexualsystems oder aus einer stetigen Metamorphose zu erklären sei. Goethe bekennt sich zu letzterer Theorie und schreibt: „Schelver verfolgt den ruhigen Gang der Metamorphose, welche dergestalt sich veredlend vorschreitet, daß alles Stoffartige, Geringere, Gemeinere nach und nach zurückbleibt und in größerer Freiheit das Höhere, Geistige, Bessere zur Erscheinung kommen läßt." Und er fragt: „Warum soll denn nicht also diese letztere Verstäubung auch nur eine Befreiung sein vom lästigen Stoff, damit die Fülle des eigentlichst Innern endlich, aus lebendiger Grundkraft, zu einer unendlichen Fortpflanzung sich hervortue." 22 Goethe war fast einundsiebzig Jahre alt, als er diese Worte schrieb. Meines Erachtens gehören sie zu dem Reifsten, das je aus seiner Feder geflossen ist. In seiner turbulenten Jugend sowie in seinen Mannesjahren hatte er den Anteil der Sexualität an aller Fortpflanzung leidenschaftlich verfochten, sei dies nun in der Domäne der Natur oder im Innenraum geistiger Schöpfung. Gerade im ästhetischen Bereich hatte er bahnbrechende Einsichten über die erotisch aufrührende Macht des künstlerischen Mediums zu Papier gebracht. Als ein Anderes, Äußeres, hatte er es 21 22

In: Über Metamorphose LA, I, 9, S. 212.

der Schmetterlinge

am Beispiel der Wolfsmilchraupe

(AGA, 17, S. 224).

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erfahren, welches in der seelischen Ökonomie des geistig Schaffenden nahezu die Rolle der erregenden, umworbenen und vollendenden Frau übernimmt. 23 Niemand hat mehr als Goethe der modernen Theorie vorgearbeitet, die wahre Analogie für den kreativen Akt sei nicht die Parthenogenese, sondern bisexuelle Fortpflanzung. 24 Und hier nun, wenige Jahre nach dem hohen Glück des Divan und drei Jahre vor dem liebenden Martyrium von Marienbad, bekennt sich eben dieser Mensch, jetzt aber ein einsamer, aus stillen Tiefen schaffender Mann an der Schwelle zum Greisentum, zu genau jener Parthenogenese, gegen die er sich zeit seines Lebens gewehrt hatte. Daß die soeben zitierte Stelle weder ausschließlich noch auch nur in der Hauptsache von botanischer Bedeutsamkeit ist, liegt wohl auf der Hand. Was diese Worte aussprechen, ist Eigenstes sowie Allgemeinstes. In ihnen sagt uns Goethe, was er unter geistigem Zeugen des schöpferischen Mannes versteht. Ein Abwerfen von allem Stofflichen bedeutet es, fast möchte man sagen, wie er das dann auch in demselben Aufsatz tut, ein Abstreifen aller Häute 25 und ein letztes sich=Hervortun „des eigentlichst Innern", das in einer letzten Ablösung die geläuterte Fülle des in ihm Angespeicherten selbstverschwenderisch verausgabt. Tod und Leben, Stirb und werde bedeutet ein solches „Selbstopfer", das — Goethe selbst sagt es uns — eine unendliche Fortpflanzung in sich beschließt. Von einer „ins Nichtige hinauslaufenden Verstäubung" — will sagen, von der Verstäubung als einer Verwesungserscheinung — haben wir in demselben Aufsatz gehört; auch haben wir den Vers für Selige Sehnsucht zur Kenntnis genommen, wo der Dichter von dem Zerstäuben des alten Menschen als Bedingung für das Erwachen des neuen spricht. Hier nun, in diesem Essay, das der „von Leben zu Leben, ja durch Vernichtung zum Leben hineilenden Organisation" 26 nachspürt, begegnen wir in der Vorstellung des sich „aus eigner Macht und Gewalt" umherstreuenden, innersten Samenkerns dem machtvollen Kontrapunkt zu dem Gedanken an den Tod. Daß derlei Vorstellungen bereits jahrelang in Goethe rumorten, wird aus dem für Selige Sehnsucht skizzierten Vers von dem „Zerstäuben" des alten Menschen unschwer ersichtlich.

23

24 25 26

Hierzu siehe I. Graham, Goethe and Lessing. The Wellsprings of Creation (Anm. 2), Kapitel 5. Siehe S. Alexander, Beauty and Other Forms of Value, London 1933, S. 125. LA, I, 9, S. 220. Diesen Passus interpretiere ich in Kapitel 20 dieser Studie. LA, I, 9, 210.

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Ist nun aber — so mögen wir fragen — diese letzte Zerstäubung, die die schmetterlingsgleiche Seele in selbstverschwenderischem Flammentod erfährt, ein endgültiger Verfall? Ist sie ein umwandelndes „Stirb", das zu einem erneuten „werde" desselben Individuums führt? Oder ist sie ein „Selbstopfer", das in Anderen fortzeugend wirkt und schafft? Diese Fragen sind im Hinblick auf Selige Sehnsucht des öfteren aufgeworfen, aber nie recht befriedigend beantwortet worden. 2 7 In jedem Fall dürfen wir sagen, daß der Morphologe Goethe, wenngleich er im Pflanzen» und Insektenreiche den Mechanismus der befruchtenden Verstäubung verficht, in seinen Schmetterlingsstudien sich durchaus konservativ verhält. Der sich verpuppenden Larve ist nach ihrem Durchgang durch einen totenähnlichen Zustand ein neues „Werde" verliehen: ein Wunder der Natur, das Goethe zutiefst anrührte. Denn noch in dem irdischen Bereich in strengsten Gesetzen physischer Notwendigkeit gebundener Naturabläufe erschloß ihm dieses unglaubwürdige Phänomen gleichsam einen transzendenten Raum; eine Verheißung der Fortdauer, die sich dann auch am Ende des Faust-T)tz.mzs sowie in Gestalten wie Mignon, Tasso, Ottilie und anderen nachdrücklich niederschlug, wo immer das Symbol der Verpuppung hinter der äußeren Handlung geistert. 28 Aber Selige Sehnsucht? Euphorion? Wo es um den Flammentod des „fertigen Schmetterlings" ging, hat sich der Dichter nur ein einziges Mal vermessen, eine Prognose individueller Fortdauer zu stellen: am Ende der Helena. Daran müssen wir festhalten. Trotzdem verlohnt es, der Frage ein wenig weiter nachzuspüren. Rührt sie doch an letzte Dinge, insofern der Schmetterling von alters her das Symbol der Seele ist, als welchen auch Goethe ihn begreift.

27

Siehe z. B. die sonst ausgezeichneten Arbeiten von E. Rösch und D. Hölscher-Lohmeyer. K. Burdachs alte These aufnehmend, der Nachtfalter, der im Licht verbrenne, sei „ein für allemal tot" (In: ,Schmetterling als Sinnbild der Psyche' JA, 5, S. 334) legt Rösch dar, „daß seine Sehnsucht nach dem Flammentod das .Stirb' versinnlicht", fragt aber, „... wo wäre... irgendein .Werden' vorgestellt?" (in: .Goethes „Selige Sehnsucht" — eine tragische Bewegung'. In: Interpretationen %um West-östlichen Divan Goethes, Darmstadt 1973, S. 244). Hölscher-Lohmeyer bietet eine der hier vorgelegten nicht ganz unähnliche Interpretation des Gedichtes; aber sie kommt dazu auf rein morphologischen Wegen. Dies geht nicht an, da der verbrannte Nachtfalter — im Gegensatz zu dem sich verpuppenden, tatsächlich „ein für allemal tot" ist (in: ,Die Entwicklung des Goetheschen Naturdenkens im Spiegel seiner Lyrik — am Beispiel der Gedichte „Mailied" — „Selige Sehnsucht" — „Eins und Alles". In: Goethe Jahrbuch, Band 99, 1982, S. 23 f.). Nur wenn man das „Stirb und werde" als ein im letzten innerseelisches Ereignis innerhalb eines beidergeschlechtlichen Menschen begreift, geht die Gleichung Schmetterling — Menschenseele auf.

28

Hierzu siehe Kapitel 1, 2, 3, 6 und 7 dieses Buches.

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Die Figur Euphorions ist — ich habe es bereits dargetan — überhaupt nur einigermaßen faßbar, wenn man sie unter dem Sinnbild des Schmetterlings versteht. Erst diese untergründige Dimension erklärt, und zwar mit der größtmöglichen Präzision, sein rapides Wachstum und das so sonderbar steile Gefälle des Handlungsablaufes. Kurz vor einem opfermütigen Tode jagt er sich mit einer derben Kleinen und ergreift sie rücksichtslos. Sie aber bricht in Flämmchen aus und droht ihn zu versengen. Nicht erst in seinem fatalen Ikarusflug in die Sonne, mit gespreizten Armen, sondern bereits hier, in dieser vorbereitenden Episode — und sie ist das Einzige, das wir von seinem Liebesleben erfahren — gibt uns der Dichter einen Wink, daß Euphorions Ende, ganz im Sinne von Selige Sehnsucht, „Flammentod" bedeutet. Was will dies indes besagen? Stirbt er? Überdauert er? Nach dem Ableben des Jünglings spricht der Chor düstere Worte von dem Mißlingen menschlichen Unterfangens und von der Undurchdringlichkeit des Schicksals. Aber auch Trost spendet er. Doch erfrischet neue Lieder, Steht nicht länger tief gebeugt: singen die Mädchen, und erklären diese Wendung zur Sonnenseite des Lebens wie folgt: Denn der Boden zeugt sie wieder, Wie von je er sie gezeugt (Faust II, Z. 9937 ff.). Welch ein seltsames Echo jenes Die dich zeugte, wo du zeugtest... unseres Gedichts! Aber auch ein anderes Wort Goethes rufen diese Zeilen ins Gedächtnis: „...was ist Genie anders", sinnt der Achtundsiebzigjährige, „als jene produktive Kraft, wodurch Taten entstehen, die vor Gott und der Natur sich zeigen können und die eben deswegen Folge haben und von Dauer sind. Alle Werke Mozarts sind dieser Art", fahrt er fort; „es liegt in ihnen eine zeugende Kraft, die von Geschlecht zu Geschlecht fortwirket und so bald nicht erschöpft und verzehrt sein dürfte." 29 Von Geschlecht zu Geschlecht, von einer Generation zu künftigen: ist dies die Fortdauer, von der Selige Sehnsucht spricht? Hier müssen wir nicht nur der Tatsache gewahr sein, daß jenes Die dich zeugte, wo du zeugtest... 29

Goethe zu Eckermann, 11. März 1828, AGA, 24, S. 673.

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in eine erinnerte Vergangenheit verlegt ist, sondern auch der weiteren, und gravierenderen, daß dieses Gedicht in seiner Gesamtheit eine Aussage über ein Begebnis macht, das sich im Innenraum der Seele vollzieht. Das, worüber das lyrische Subjekt spricht, ist das Ereignis höherer Begattung. Von der Selbstbegattung und Selbstfortzeugung eines Daseins, das sich „eins und doppelt" fühlt, singen diese selbstvergessenen Verse. Was Goethe im Sinn hegt, ist nicht so sehr das endgültige Ableben dieses oder jenes unauswechselbaren Individuums — das Du ist ja ein generisches — oder auch dessen Fortleben in der Kette der Geschlechter. An diesem Gipfelpunkt vom Buch des Sängers vielmehr spricht der Dichter über den kurzen Tod, den der zuhöchst Lebendige, will sagen, der kreative Mensch, je und je im Schaffensakt durchleidet. Dies zu klären, mag uns das Sinnbild der Kerze helfen, mit dem wir uns bereits eingehend beschäftigt haben. Nicht bei dem stillen Licht der Kerze liebt und vergeht die schmetterlingsgleiche Seele — dies war, wir sahen es, nur eine vorläufige Aussage. Sie vergeht an und in dem Leuchten, dem sie, seliger Sehnsucht voll, begierig zustrebt. Die leuchtende Kerze ist das Liebesobjekt, und diese ist, wie der Mond, der hinter ihr steht, ein weibliches Symbol. In dieses Weibliche in seinen eigenen Tiefen stürzt sich der Schmetterling hinein, in ihm vergeht er im Akte höherer, sprich, innerer Begattung. Wie lauten doch jene anderen Verse über die Kerze, in welchen sie zum tragenden Symbol wird, die einzigen anderen im West--östlicben Divanl Ergebung heißen sie, und sie entstammen dem Buch der Liebe. Die Liebende fragt: „Du vergehst und bist so freundlich, Verzehrst dich und singst so schön?" Der Dichter antwortet: Die Liebe behandelt mich feindlich! Da will ich gern gestehn, Ich singe mit schwerem Herzen. Sieh doch einmal die Kerzen, Sie leuchten, indem sie vergehn. Nicht von irgendeinem Menschen ist in diesen Zeilen die Rede. Vom Dichter handeln sie und von eines Dichters Singen. Gewiß, unter anderem machen sie auch eine Aussage über alles Lebendige. Denn verzehrt sich nicht jedes Lebewesen zusammen mit den Stoffen, die seinem Metabolis-

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mus zugeführt werden, es zu nähren und zu erhalten? „Das Leben ist mir feindlich", könnte der Dichter sagen, ginge es in diesen Versen um die brutale Realität biologischen Daseins als solchem. Aber der hier singt, ist ein Künstler. Die innere Glut des Empfangens und Zeugens ist es, in der er schmilzt und stirbt, die „liebevolle Schöpferkraft", an der er sich hell leuchtend verzehrt. Das Wunder ist, daß er sich nach solchem Tode sehnt, ihn, einig mit sich selbst und seinem Schicksal, je und je besiegt und von Mal zu Mal ihm festlicher entgegenzieht. 6.

„Wissen Sie aber", sagt Goethe zum Abschluß des denkwürdigen Gespräches, aus dem ich bereits zitiert habe, „Wissen Sie..., wie ich es mir denke? — Der Mensch muß wieder ruiniert werden! — Jeder außerordentliche Mensch hat eine gewisse Sendung, die er zu vollführen berufen ist. Hat er sie vollbracht, so ist er auf Erden in dieser Gestalt nicht weiter vonnöten, und die Vorsehung verwendet ihn wieder zu etwas anderem. Da aber hinieden alles auf natürlichem Wege geschieht, so stellen ihm die Dämonen ein Bein nach dem andern, bis er zuletzt unterliegt. So ging es Napoleon und vielen anderen. Mozart starb in seinem sechsunddreißigsten Jahre. Raffael in fast gleichem Alter. — Byron nur um weniges älter. Alle aber hatten ihre Mission auf das vollkommenste erfüllt, und es war wohl Zeit, daß sie gingen, damit auch anderen Leuten in dieser auf eine lange Dauer berechneten Welt noch etwas zu tun übrig bliebe." 30 „... so ist er auf Erden in dieser Gestalt nicht weiter vonnöten..." Ein dunkles Orakel, fürwahr. Aber auch dies sagte er einmal: „Man denke sich die Natur, wie sie gleichsam vor einem Spieltische steht und unaufhörlich au double! ruft, das heißt mit dem bereits Gewonnenen durch alle Reiche ihres Wirkens glücklich, ja bis ins Unendliche wieder fortspielt. Stein, Tier, Pflanze, alles wird nach einigen solchen Glückswürfen beständig von neuem wieder aufgesetzt, und wer weiß, ob nicht auch der ganze Mensch wieder nur ein Wurf nach einem höhern Ziele ist?" 31 Klärt sich nicht alles, aber auch alles, in diesen zwei großen Worten? Schmetterling und Kerze, selige Sehnsucht, Stirb und werde, „der ganze Mensch".

30 31

Goethe zu Eckermann, 11. März 1828, AGA, 24, S. 682. Zu J. D. Falk, (14. Juni) 1809. AGA, 22, S. 559.

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Gegen Ende der Wahlverwandtschaften berichtet der Erzähler von Eduards und Ottiliens reinem Zusammensein: „unter Einem* Dache" wohnten sie, unwiderstehlich zueinander gezogen, heißt es da; und wiederum; „in einem Saale" saßen sie, stumm und ohne Berührung. „Dann" — so fahrt der Erzähler fort — „Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur Ein* Mensch im bewußtlosen, vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit der Welt."32 In Goethes West-östlichem Divan erblühte dieser Traum eines vorzeitig Gealterten zu seligster Erfüllung.

32

Die Wahlverwandtschaften,

II, 17, HA, VI, S. 478.

Der Augenblick des Liebens Gedanken zur

Helena-Tragödie Die Gegenwart ist die einzige Göttin, die ich anbete... Goethe Das Auge ist der gewaltigste Sinn. Goethe Das Schöne ist ein enger Kreis, in dem man sich nur bescheiden regen darf. Goethe

1. Über Goethes ungewöhnlich starke visuelle Veranlagung ist so viel geschrieben worden, daß es kaum möglich scheint, darüber noch etwas Neues, geschweige denn etwas Lohnendes, zu sagen. Und in dem Falle eines Dichters, der bis nahe an sein vierzigstes Lebensjahr vermeinte, zum bildenden Künstler geboren zu sein, erstaunt dieser Wesenszug sowie dessen Betonung durch die Kritiker nicht sonderlich. In der Tat, man darf behaupten, daß er, zusammen mit Dante, in diesem Betracht ein einzigartiges Phänomen darstellt. Goethe hat diese seine Gabe vielen seiner Gestalten mitgeteilt. Werther, Egmont und Klärchen, Tasso, Hermann, Alexis, Epimetheus, Faust und Lynkeus, das lyrische Ich der Römischen Elegien, des Westöstlichen Divans und der Trilogie der Leidenschaft sind eminent visuelle Typen, um nur einige zu nennen. Dieser Zug spricht sich aufs Vielfaltigste aus: in dem Trieb, zu malen oder zu zeichnen, in den Bildern, derer sie sich bedienen, in der Prägnanz ihrer visuellen Eindrücke, in der Genauigkeit ihres visuellen Gedächtnisses sowie in der Gewalt der visuellen Komponente, mit der sie den gegenwärtigen Augenblick erfahren. Die letztgenannte Disposition ist es, die ich ein Weilchen lang unter die Lupe nehmen möchte. „Augenblick" ist ein viel benutztes, und abgenutztes, Wort. Es fallt uns selten oder nie ein, das visuelle Element, das darin steckt, zu bedenken. Der Augenblick ist auch „der Augen Blick"; oder „der Blick der Augen";

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und bei Goethe hat der Zeitmoment häufig diese Doppelbedeutung. Dies Phänomen ist in nuce bereits in dem jungen Goethe ersichtlich; mit fortschreitendem Alter wird es schärfer ausgeprägt; der Greis bedient sich dieses double entendres mit souveränster Eigenwilligkeit. Immer aber ist diese Doppeldeutigkeit im Spiel, wenn Goethe die Macht des ganz Gegenwärtigen evozieren will, und das heißt im Allgemeinen die Liebe, die „augenblicks", wie ein Blitzstrahl, einschlägt. Man lasse mich ein paar Beispiele geben, die in ungefährer chronologischer Reihenfolge angeordnet sind. Egmont und Klärchen sind ganz auf die Gegenwart ausgerichtete Gestalten. „Soll ich des gegenwärtigen Augenblicks nicht genießen, damit ich des folgenden gewiß sei?" fragt er (II, Egmonts Wohnung); und dieser gegenwärtige Augenblick kommt in seiner Beziehung zu Klärchen zu dichterischer Gestaltung. Die beiden verlieben sich ineinander augenblicks, und zwar, als Klärchen aus dem Fenster hinausschaut und der Vorbeireitende „heraufsah, lächelte, nickte, mich grüßte" (I, Bürgerhaus). In Egmonts letzter Liebesbegegnung wird die Verzahnung der zeitlichen und der visuellen Momente ganz offenbar. Auf seine Frage, wieso Ferdinand, dem vermeintlichen Feinde, sein Schicksal so zu Herzen gehe, gesteht der Jüngling, der ältere Mann sei von Kindesbeinen auf sein leuchtendes Vorbild gewesen. „Nun hofft ich endlich dich zu sehen* und sah* dich, und mein Herz flog dir entgegen. Dich hatt ich mir bestimmt, und wählte dich aufs neue, da ich dich sah."* Egmont, der die rasche Neigung zu dem Jüngling erwidert, antwortet: „Mein Freund... nimm die Versicherung, daß im ersten Augenblick mein Gemüt dir entgegenkam" (V, Gefängnis). Meint hier nicht im ersten „Augenblick" auch mit dem ersten „Blick der Augen"? Hermanns schnelle Wahl — nur einmal hat er Dorothea gesehen, aber in jedem'Detail ihrer Erscheinung wahrgenommen, wie sich zeigt, als er sie dem Pfarrer und dem Apotheker beschreibt — evoziert von der Mutter den Kommentar: Wenn die Stunde nicht kommt, die rechte, wenn nicht das rechte Mädchen zur Stunde sich zeigt, so bleibt das Wählen im Weiten,... (4. Gesang)

* Hervorhebungen I. G.

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Der Pfarrer drückt sich noch unmißverständlicher aus: ...Der Augenblick* nur entscheidet Uber das Leben des Menschen und über sein ganzes Geschicke; Denn nach langer Beratung ist doch ein jeder Entschluß nur Werk des Moments, es ergreift doch nur der Verständ'ge das Rechte. (5. Gesang) Nach der Prüfung Dorotheas ruft der Pfarrer aus: Heil dir, junger Mann! dein treues Auge,* dein treues Herz hat richtig gewählt!... (6. Gesang.) Ich muß es meinen Lesern überlassen, die enorm ausgeprägte visuelle Komponente von Hermanns Wahl — man denke nur an den Anfang des 7. Gesanges — für sich selbst zu überprüfen. Auch Alexis' Wahl fallt mit dem Zeitpunkt zusammen, an dem er Dora zum erstenmal mit Bewußtsein sieht. Wir sahen* einander In die Augen*, und mir ward vor dem Auge so trüb. Deinen Busen fühlt' ich an meinem...(Z. 89ff.), reminisziert er; und faßt die grausam kurze Begegnung folgendermaßen zusammen: Nur Ein Augenblick* war's, in dem ich lebte, der wieget Alle Tage, die sonst kalt mir verschwindenden, auf. Nur Ein Augenblick* war's, der letzte, da stieg mir ein Leben Unvermutet in dir, wie von den Göttern, herab (Z. 15 ff.). In der Paktszene wettet ein verzweifelter Faust, er werde sich nie an den Augenblick verlieren. Werd' ich zum Augenblicke* sagen: Verweile doch, du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn! (Z. 1699 ff.). Hier ist der Krux der gesamten äußeren Handlung. Was aber bedeutet der schöne Augenblick? Ist es der Augen Blick des Schönen? Fausts visuelle Evokation von Gretchens reizvoller Erscheinung, mit der diese Liebschaft anhebt, nicht weniger als seine Reaktion auf Helenas Spiegelbild in der Hexenküche, läßt diese Vermutung aufkommen. Eine definitive Antwort auf diese Frage verschieben wir indes bis zu unserer Diskussion des Helena-

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Aktes, und wenden uns mittlereile dem West-östlichen Divan und einigen noch späteren Erzeugnissen zu. Im Divan, einem Zyklus, der unablässig die Macht der unmittelbaren Gegenwart feiert, ist das Auge das Organ der Kommunikation, ja, fast möchte man sagen, der Konsumation zwischen Liebenden. Man denkt an den schlichten Anfang des Gedichtes Lieblich ist des Mädchens Blick, der winket, oder auch an des Liebchens „Äugeln" in Geheimnis. In beiden ist des Mädchens Blick der Auftakt zum schönen Augenblick. Auch des — freilich ungleich komplexeren — Gedichtes Wink müssen wir in unserem Zusammenhang gedenken. Hier ist der augenblicks zündende Wink des Mädchens ganz im Sinn der soeben gestreiften Gedichte zu nehmen. Er ist reizvoll, lieblich, wie er ihre Absicht verhüllt und offenbart, und sein Blitz entflammt den Schauenden. Aber er bedeutet noch ein Anderes. „Das Auge [, das] mir ins Auge blitzt", ist das Symbol semantischer Kommunikation, ja, wir dürfen wohl sagen, dieser „Wink" sei das Symbol des dichterischen Symbols, ganz in der Bedeutung, in der der Dichter späterhin äußern wird, sein Faust werde denjenigen erfreuen, „der sich auf Miene, Wink* und leise Hindeutung versteht."1 Des Liebchens Auge, das durch die ihr Antlitz verbergenden Stäbe des Fächers hindurchblitzt, ist nicht nur der schnell reisende Bote ihrer Gefühle und Intentionen: auf einer anderen, poetologischen Ebene ist es das Sprechende, Mitteilende des Symbols, das offenbart, indem es verhüllt und nur so, verhüllend, offenbaren kann. 2 Wir werden auf dieses Gedicht zurückkommen. Am prägnantesten kommt die Doppelbedeutung, um die es uns geht, in dem kleinen Gedicht Suleika spricht zum Ausdruck. Der Spiegel sagt mir, ich bin schön*\ Ihr sagt: zu altern sei auch mein Geschick. Vor Gott muß alles ewig stehn, In mir liebt Ihn, für diesen Augenblick.* (Buch der

Betrachtungen).

Ein Kommentar dieser Zeilen erübrigt sich. Am wagemutigsten hat sich Goethe dieser double entendres in seinem Alter bedient, wohl weil das Ereiltwerden von unerwarteter Leidenschaft 1

2

An Heinrich Meyer, 20. Juli 1831. WA, IV, 49, S. 292 und an Sulpiz Boisseree, 8. September 1831. WA, IV, 49, S. 64. Für Näheres siehe Kapitel 15. Eine nähere Erläuterung des Gedichtes Wink findet sich bei W. Keller, Goethes dichterische Bildlichkeit. Eine Grundlegung, München, 1972, S. 17 ff.

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in einem alten Menschen das mächtigste Überraschen und die größte Erschütterung auslöst. Bei dem abgeklärten und an Entsagung gewöhnten Dichter der Trilogie der Leidenschaft nahm die unmittelbar erlebte Gegenwart eine vernichtende Gewalt an. Man bedenke diese kurzen Verse aus dem Umkreis der Trilogie: Du gingst vorüber? Wie! ich sah* dich nicht; Du kamst zurück, dich hab' ich nicht gesehen* — Verlorner, unglücksel'ger Augenblick:!* Bin ich denn blind?* Wie soll mir das geschehen? Hier sind die Worte „Augenblick" und „Augen Blick" vollends austauschbar. Der verzweifelte Sprecher hat den „Augen-Blick" verpaßt, und damit den Zeitmoment, der ihm ein unwiederbringliches Glück geschenkt hätte. Selbst das erste Gedicht der Trilogie, das den versäumten Lebensmoment zum Thema hat, bietet ein Beispiel: Das Wieden^«* ist froh, das Scheiden schwer, Das Wieder-Wieden^»* beglückt noch mehr, Und Jahre sind im Augenblick* ersetzt... In der Elegie selber sind die visuellen und die zeitlichen Komponenten des Augen-Blicks so eng verknüpft wie das „Geflecht verschlungner Minnen" zwischen den Liebenden. Worte wie „hier", „nun", „rasch", „schnell", „gleich", das Fliegen der „Minuten" und der „Stunden" — sie alle bezeichnen das Momentane der Situation, während „Anschaun", „Auge", „Blick", „Bild" und immer wieder „Bild", „Gebild" oder „Luftgebild" die visuelle Wahrnehmung der „lieblichsten der lieblichsten Gestalten" zum Ausdruck bringen. An einem Punkte verschmelzen diese Elemente vollends. Dem Sprecher ist's, als sagte die Geliebte: Drum tu wie ich und schaue,* froh-verständig, Dem Augenblick ins Auge!* Kein Verschieben! Begegn' ihm schnell, wohlwollend wie lebendig, Im Handeln sei's, zur Freude, sei's dem Lieben... Dem Augenblick ins Auge schauen: dies bedeutet nicht nur ihn in seinem Fluge zu verstehen und zu haschen; es ist überdies die geballteste Formulierung seines visuellen Wesens. Und Goethe fahrt fort: Du hast gut reden, dacht' ich, zum Geleite Gab dir ein Gott die Gunst des Augenblickes,* Und jeder fühlt an deiner holden Seite Sich augenblicks* den Günstling des Geschickes...

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Beidemale könnte man die einschlägigen Worte durch Trennungsstriche herausheben: sie bedeuten beides, den Akt der Wahrnehmung sowohl als auch den vorbeieilenden Zeitmoment. Diese Wortspiele — denn hier spielt der Dichter — fassen unmißverständlich zusammen, was Goethe in seinen Gestalten bereits ein Leben lang praktiziert hat, was er in der Helena noch einmal, und zwar am ein- und nachdrücklichsten in seiner gesamten dichterischen Laufbahn, in dramatische Tat umsetzen wird. Bei den nachfolgenden Betrachtungen über den Helena-Akt ist es von größter Wichtigkeit, daß sich meine Leser dieser Doppelfunktion des Augen-Blicks erinnern. Das Verständnis der Tragödie hängt an diesem zarten Faden. 2.

In seinem -Fi/«j/-Kommentar umreißt Erich Trunz die Wesensart der Griechin: „In diesem allen ist Helena stets die gleiche, ist immer ganz sie selbst; sie schwankt nie; im Bewußtsein eigenen Wertes und eigener Gefährlichkeit lebt sie immer aus ihrem Mittelpunkt, und immer gart^ für den Augenblick.* ...Was sie aus der Fassung bringt, ist nicht Not oder Sorge, sondern einzig ein Eingriff in ihre — antike — Welt im Innersten: Phorkyas' Hinweis, daß ihr Ruhen in der Gegenwart* falsch sei; die Verwirrung ihres Zeitgefühls." 3 Klarer läßt sich Helenas Lebensgefühl nicht artikulieren. Helena lebt gänzlich in der Gegenwart, sie geht auf in ihr: nur daß es ihr kaum je gegeben ist, darin zu ruhen. Zweimal erscheint sie uns aus Dunst und Nebel auftauchend: zum ersten, als Faust ihr Schemen beschwört (Z. 6469 f.), und dann wieder bei ihrer magischen Versetzung in Fausts Burg, im dritten Akt (Z. 9110 ff.). In Dunst und Nebel aber sind Gestalten, wie wir von Zueignung her wissen, unsicher geformt, schwankend, schattenhaft. Dies deutet auf eine Flüchtigkeit ihrer so plastischen Erscheinung, die wir im Auge behalten müssen. Wenn wir ihr zu Beginn des dritten Aktes begegnen, ist sie, gerade von ihrer Irrfahrt landend, Noch immer trunken von des Gewoges regsamem Geschaukel (Z. 8490f.)...; und dieses Ausgesetztsein ist für einen stark oder gar exklusiv in der Gegenwart lebenden Menschen charakteristisch, trotz des Gefühls der

3

HA, 3, Kommentar, S. 587.

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Selbstentfremdung, das bereits in der ersten und letzten Zeile ihrer Rede anklingt — des Gefühls ihrer Sagenhaftigkeit. Ich sagte „trotz". Dies ist aber eigentlich nicht das richtige Wort. Denn gerade ein so vorbehaltloses Weben im Gegenwärtigen bringt tiefe Verunsicherungen mit sich. Das restlose Aufgehen im Hier und Jetzt bedeutet einen unumgänglichen Wirklichkeitsverlust auf Seiten des einmal Vergangenen, Gewesenen, und somit einen Mangel an Kontinuität, ja selbst an Identitätsbewußtsein. Die Elegie von Marienbad, die wir gerade gestreift haben, rückt eine solche tiefe Desorientierung des ganz dem Augenblick verfallenen Menschen in ein helles Licht. Das alte Ich mit all seinen Sicherungen ist so verschollen wie der nunmehr „unempfundene" Augenblick, in dem es erfahren wurde. Ist es nicht denkbar, daß die Beklemmung, die Helena bei Phorkyas' Aufzählung ihrer vielen Liebschaften befallt, aus dieser Quelle rührt? Daß in des Dichters Hand das Motiv von Helenas Ableben und Wiederkehr aus dem „hohlen Orkus" (Z. 8762) sowie das ihres Schattendaseins an der Seite von Paris nicht nur Mythos, sondern auch Metapher ist? Wie bewegt ist dieses Leben, und wie schal müssen sich bei solch hochempfänglicher Hingabe an den gegenwärtigen Lebensmoment die abgelebten Momente ausnehmen! Von Theseus, der sie als Zehnjährige raubt, zu Patrokles, zu Menelaos, sodann „in halber Witwenschaft" zu Paris und Deiphobus, zurück zu Menelaos, weiter zu Achill, der sie „aus hohlem Schattenreich" heraufholt und sich inbrünstig liebend zu der zutiefst Verunsicherten gesellt, und schließlich zu Faust, der, sie beschwörend, in neuen „Wirklichkeiten" Fuß fassen und sich mit ihr das Doppelreich von dort und hier, von ehemals und jetzt bereiten will (Z. 6555 ff.). Ist es so ganz verwunderlich, daß die dergestalt zwischen erfülltem Augenblick und Augenblick Hin- und hergerissene sich in den leeren Zeiträumen als Idol, und das besagt, als Gespenst, erfährt? Daß der dünne Faden ihres Bewußtseins abreißt? Goethe nannte den Helena- Akt beim ersten Druck „Eine klassischromantische Phantasmagorie". Das Wort „Phantasmagorie" aber entstammt dem französischen „fantasmagorie" und meint die mit künstlichen Mitteln bewerkstelligte Darstellung von Gespenstern auf der Bühne; 4 und in der Tat schickte Goethe im April des Jahres 1825 ein Stück der Helena an Riemer, mit den begleitenden Worten: „Mögen Sie, mein Werthester, beykommendem Helden- und Gespensterspuk fernere Aufmerksamkeit gönnen." 5 Dem gegenwärtigen Moment ganz ausgeliefert sein bedeutet auf längere Sicht verwirrt, „ein doppelhaft Gebild", gespenstisch sein. 4 5

Siehe Faust, Sonderausgabe, hrsg. E. Trunz, München, 1986, Kommentar, S. 661. An Riemer, 2. April 1825. WA, IV, 39, S. 164.

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So also begegnen wir der schönen Griechin, zwar wie immer königlich gefaßt sich in das über sie Verhängte schickend, jedoch im Tiefsten aufgerührt von Phorkyas' furchtgebietender Erscheinung, sowie von der Ahnung, daß die gruseligen Vorbereitungen für ein Opfer, die Menelaos ihr im „hohlen Schiff aufgetragen hat und die Phorkyas unverzüglich in die Wege leitet, niemand anderem gelten als ihren Frauen und ihr selbst. Diesem Auftrag müssen wir uns jetzt eine Weile lang zuwenden. Der Dichter hat das zu vollbringende Opfer fünfmal geschildert; viermal in der Szene Vor dem Palast des Menelas, einmal in Innerer Burghof. Es muß ihm also viel daran gelegen haben. Helena selbst berichtet von der Anordnung, die sie, noch auf dem hohlem Schiff, von ihrem in sich verschlossenen und offensichtlich Unheil sinnenden Gatten entgegengenommen hat. „Wenn du nun alles nach der Ordnung durchgesehn, Dann nimm so manchen Dreifuß, als du nötig glaubst, Und mancherlei Gefäße, die der Opfrer sich Zur Hand verlangt, vollziehend heiligen Festgebrauch. Die Kessel, auch die Schalen, wie das flache Rund; Das reinste Wasser aus der heiligen Quelle sei In hohen Krügen; ferner auch das trockne Holz, Der Flammen schnell empfanglich, halte da bereit; Ein wohlgeschliffnes Messer fehle nicht zuletzt; Doch alles andre geb' ich deiner Sorge hin" (Z. 8569 ff.). Diese ganz sachliche Anordnung, die indes von Menelaos selber stammt und keineswegs auf Phorkyas' Erfindung beruht, wird nun zur Basis der sogenannten Ängstigungsszene: verschiedentlich von Phorkyas ausgeschmückt, kehrt sie in immer groteskeren Versionen wieder. Zuerst, als „die Gestalt aller Gestalten" sich von ihrer Ohnmacht erholt hat und Helena Phorkyas befiehlt, das Opfer zu bestellen. Diese zählt die bereitliegenden Utensilien auf — die Worte „ein scharfes Beil" sind ein späterer Zusatz des Dichters — und bestätigt Helenas Ahnung, daß sie selbst das Opfer ist. Fallen wirst du durch das Beil. Doch am hohen Balken drinnen, der des Daches Giebel trägt, Wie im Vogelfang die Drosseln, zappelt ihr der Reihe nach (Z. 8925 ff.),

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prophezeit sie dem erschreckten Chor. Sodann, nach einer hämischen Rede über das Los der Sterblichkeit, das den „Gespenster"-gleichen Menschen nicht gefallt, entbietet sie vermummte Zwerggestalten und instruiert sie über ihre Aufgabe: Herbei, du düstres, kugelrundes Ungetüm! Wälzt Euch hieher, zu schaden gibt es hier nach Lust. Dem Tragaltar, dem goldgehörnten, gebet Platz, Das Beil, es liege blinkend über dem Silberrand, Die Wasserkrüge füllet, abzuwaschen gibt's Des schwarten* Blutes greuelvolle Besudelung. Den Teppich breitet köstlich hier am Staube* hin, Damit das Opfer niederkniee königlich Und eingewickelt*, zwar getrennten Haupts sogleich, Anständig würdig aber doch bestattet sei (Z. 8937 ff.). Für diesen Passus gibt es vier Entwürfe; er ist schwer überarbeitet, und noch spät wurde aus „des roten Blutes" „des schwarzen Blutes", aus „Erde" „Staub". „Eingewickelt" wurde als Zusatz eingefügt. Man sieht, der Dichter war darauf aus, den Opferakt so gruselig wie immer möglich zu gestalten. Phorkyas schildert Fausts Burg und Helena fühlt sich geneigt, dort Zuflucht zu suchen, zweifelt aber noch an Menelaos' Absicht, das Opfer wirklich zu vollziehen. Phorkyas erwidert, wiederum in einem stark überarbeiteten Passus: Hast du vergessen, wie er deinen Deiphobus, unerhört Verstümmelte... Nas' und Ohren schnitt er ab Und stümmelte mehr so: Greuel war es (Z. 9054 ff.).

anzuschaun

Was hat der Dichter mit diesen abscheulichen Schilderungen — und ich habe nicht alle angeführt! — im Sinn? Helena zu Fausts Burg zu bringen, bedurfte es nur der festen Versicherung, es sei Menelaos mit seinen Anordnungen Ernst. Und diese Drohungen erfolgen, nachdem der Chor Phorkyas bestürmt hat, die Königin in Ruhe zu lassen und Helena in Ohnmacht gefallen ist. Schweige, schweige! ruft der Chor,

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Daß der Königin Seele, Schon zu entfliehen bereit, Sich noch halte, festhalte Die Gestalt aller Gestalten, Welche die Sonne jemals beschien (Z. 8903 ff.). Welche Ironie! Gerade nachdem dies Leitwort von der „Gestalt aller Gestalten" gefallen ist, hebt halsstarrig das Motiv der £«/staltung an, einmal um das andere und Glied um Glied, so daß es den Betroffenen — und dem Leser — schwindelt. In den soeben zitierten Worten des Chors präludiert Goethe, so meine ich, das eigentliche Thema des Aktes. Es ist dies Aufbau und Bewahrung einer von innen sowie von außen radikal ungesicherten Gestalt im liebenden „Augen-Blick"; einer Gestalt, deren Bewußtseinsfaden soeben wieder abgerissen ist, die lebendigen Leibes seziert wird. Diesem Thema das gehörige Gewicht zu verleihen, bedurfte es einer dichterischen Strategie, die die drohende Gefahr der £«/staltung, der buchstäblichen £«/gliederung Helenas sinnfällig macht, wie sonst nur noch in der Natürlichen Tochter. Man muß bedenken, wie fremdartig dergleichen Brutalitäten diesem Dichter sind, die ihn an einem Kleist so abstießen, um zu ermessen, wie wichtig ihm das Entstaltungsmotiv als Kontrapunkt zu seinem zentralen thematischen Anliegen war — eben dem dauerhaften Aufbau dieser grausam bedrohten Gestalt. Die radikal Schwankende zu „halten", sie in der Wirklichkeit „festzuhalten", darum fleht der Chor, und darum geht es. Auf das Feinsinnigste hat der Dichter dieses sadistische Motiv durch zwei weitere Bildkomplexe unterbaut, und poetisch erträglich gemacht. Es sind diese das Schwänemotiv und das des Wassers. Auch sie, die in der Klassischen Walpurgisnacht eine lebensvolle und gedeihliche Bedeutung hatten, werden hier in Todesboten abgewandelt. 6 Phorkyas spricht von Helenas „Schönheit Schwan", und schwanhalsig, schwangleich sind sie und ihre Gefahrtinnen. Helena selbst ist gar von Zeus in Schwanengestalt erzeugt, Welle selbst, auf Wogen wellend (Z. 7305), in einem Begebnis, das uns in der Klassischen Walpurgisnacht zweimal vor Augen gestellt wird. Der Schwan aber mit seinem heiseren Ton — wie die krächzenden Kraniche im vorangehenden Akt, an die er gemahnt — ist ein todverfallenes Geschöpf. Seinen eigenen Tod singt er (Z. 9102). 6

Siehe auch Kapitel 21, Abschnitt 5.

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Auch das Wasser ist ein unstetes, ein entstaltendes Element. Schon die Knaben der Doriden sind ihm zum Opfer gefallen; und im letzten Akt der Tragödie wird es offenbar werden, daß es nicht nur die Wiege, sondern auch das Grab alles Lebenden ist. Man denkt an den Wanderer und an das Schicksal von Fausts Wasserreich. Diese beiden Bildstränge sind eng mit dem Entgliederungsmotiv verwoben; und zusammen tönen sie „heiseren Ton" der Entstaltung, einer plötzlichen oder sachten. Sie orchestrieren gleichsam das fürchterliche Hauptthema; und nichts, aber auch nichts in dieser Ängstigungsszene weist in eine andere Richtung. 3. Die Todgeweihten werden nunmehr in Fausts Burg versetzt, und das zentrale Thema des Aktes, für das alles Vorhergehende nichts als Exposition gewesen ist, hebt an. Dies ist — ich habe es schon gesagt — Aufbau und Bewahrung einer ontologisch radikal ungesicherten Gestalt im liebenden „Augen-Blick". Vor Phorkyas' grauenvoller Erscheinung hatte Helena fassungslos ausgerufen: Das Wort bemüht Sich nur umsonst, Gestalten schöpferisch aufzubaun (Z. 8691 f.). Eben dieses, ihre eigene schwer bedrohte Gestalt schöpferisch aufzubauen, ist die Aufgabe, die jetzt Faust zufallt. Interessanterweise ist das Wort „Augenblick" das so gut wie erste, das in dieser Szene — und zwar zum erstenmal in dem gesamten Akte — fallt. Vorschnell und töricht, echt wahrhaftes Weibsgebild! Vom Augenblick abhängig,* Spiel der Witterung, Des Glücks und Unglücks...(Z. 9127ff.), schilt Phorkyas die von ihrer plötzlichen Versetzung leicht beschwipsten Griechinnen. Und mit deren großäugig-sinnlichem Begucken der schönen Knaben und des ritterlich die Treppe heruntersteigenden Faust hebt die Handlung an. Statt jeder anderen Begrüßung überantwortet Faust der hoch auf herrlichem Pfühl 7 gelagerten Königin den schwer gefesselten Wächter, der „Pfühl" ersetzt das ursprüngliche „Polster". Für die Bedeutung dieser Änderung siehe Kapitel 20, Abschnitt 4.

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seiner Pflicht fehlte, indem er ihre Ankunft nicht sah. Lynkeus konnte Helenas Herannahen nicht sehen, dieweil es sich durch nebelverhängte, zauberische Mittel vollzog. Davon aber weiß Faust nichts; und die Gestalt aller Gestalten nicht rechtzeitig wahrgenommen zu haben, dünkt ihm der Todesstrafe wert. Bestraft er in dem Jüngling seine eigene Ungeduld? Es ist bemerkt worden, daß Lynkeus ein Teil von Faust ist; und in der Tat, er steht neben ihm wie seine Jugend. Wenden wir uns also ihm zu, so sprechen wir gleichzeitig von Faust. Dieser sagt, sein Wächter sei „mit seltnem Augenblitz" (Z. 9199) begabt; und ein wenig später wird Lynkeus diese Aussage bestätigen: Augenstrahl* ist mir verliehen Wie dem Luchs auf höchstem Baum (Z. 9230 f.), singt er, seinen eigenen Namen umschreibend: denn Lynkeus meint „scharfäugig wie ein Luchs". „Blitz" oder „Strahl der Augen" aber sind hyperbolische Übertreibungen von „Blick der Augen" und somit „AugenBlick". Und in der Tat, mit Lynkeus' Gesängen treten wir ganz in die Welt des Augenblickes ein, in jener doppelten Bedeutung, die wir zu Beginn dieser Seiten herauszuarbeiten gesucht haben. Im Augenblick und am Augen-Blick entzündet sich der von der Gestalt aller Gestalten geblendete Jüngling gänzlich fassungslos. Sein Gesang ist heftig bewegt, gleichsam atemlos eilt er von Punkt zu Punkt; ist aber trotz dieses nahezu impressionistischen Abgerissenseins von hinreißendstem Fluß und Schwung. „Schon", „auf einmal", „nun" — dergleichen Partikel charakterisieren die Augenblicklichkeit seiner Erregung, in dem ersten, gewohnten Sinn des Wortes; und das anfängliche vierfache „Laß mich" deutet auf die vorbehaltlose Geschwindigkeit, mit der er sich der gänzlich Fremden anheimgibt. Dagegen bezeugen Ausdrücke wie „Schauen", „spähen", „Blick", „Aug'", „blenden" und „geblendet werden" die Übermacht des Gesichtssinnes, der Lynkeus „augen-blicks" in der Königin Bann geschlagen hat. Faust verliert nicht die Fassung — oder so wenigstens will es scheinen. Die fünffüßigen Jamben zumindest, deren er sich bedient, sprechen eine andere, bedächtigere Sprache als Lynkeus' lyrischer Erguß. Dennoch ist er nicht ganz so reif und abgeklärt, wie er sich darzustellen bemüht ist. Denn alsbald beginnt er, später von Lynkeus angeschlagene Motive vorwegzunehmen, und seine eigene Hingerissenheit übernimmt die Führung. Singt der junge Wächter: Das alles hielt ich fest und mein, Nun aber, lose, wird es dein...(Z. 9325f.).

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und, etwas später: Verschwunden ist, was ich besaß, Ein abgemähtes, welkes Gras...(Z. 9329f.), so antwortet er damit nur auf Fausts extravagante Frage: Was bleibt mir übrig, als mich selbst und alles, Im Wahn das Meine,* dir anheimzugeben (Z. 9268 f.)? Lynkeus gibt nur Fausts gerade noch gehaltenem „Wahn-sinn" freien Lauf. Die alle Bande der Vernunft lösende Übermacht des „Augen-Blicks", die in dem Jüngling veräußert erscheint, ist ein Zustand, den Faust, der Ältere, schmerzhaft am eigenen Leibe erfährt, und zwar mit der verdoppelten Leidenschaft, wie sie nur der reife Mann kennt. Ist der Faust, der hier spricht, doch derselbe, der, in Rittersaal, beim ersten Anblick von Helenas betörender Schönheit ausgerufen hatte: D u bist's, der ich die Regung aller Kraft, Den Inbegriff der Leidenschaft, Dir Neigung, Lieb', Anbetung, Wahnsinn zolle (Z. 6498 ff.)! Und doch ist er ein Anderer als Lynkeus. Das gleiche „Laß mich...", das des Jünglings bedingungslose und aus dem Augenblick geborenen Verfallenheit an Helena präludiert hatte, kehrt zwar wieder, nun aber in männlicherer Tönung: Zu deinen Füßen laß mich, frei und treu, Dich Herrin anerkennen, die sogleich Auftretend sich Besitz und T h r o n erwarb (Z. 9270 ff.). Was Faust mit Lynkeus verbindet, ist die Unverzüglichkeit der Hingabe, die sich in dem „sogleich auftretend" ausspricht. Was den Mann von dem Jüngling trennt, ist das „treu und frei", mit dem der Knieende sich ihr angelobt. Frei: wiewohl auch er von Pfeil um Pfeil ihres Glanzes getroffen und verwundet ist, behält er Übersicht und Umsicht, wie sich alsbald zeigen wird. Frei wird der Königliche mit seinen Kriegern schalten, wenn es gilt, die Gestalt zu schützen und zu bewahren, die seine Liebe gerade erst aufzubauen im Begriff ist. Treu: die Liebe ist nicht nur eine Reihe entflammter „Augen-Blicke", wie das bei Lynkeus der Fall ist. Mißhelligkeiten, Trennung, Krankheit, Alter, Tod — sie alle wollen in Kauf genom-

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men und durch Treue überbrückt werden. Was Treue bedeutet, erklärt Leonore D'Este Tasso in vielbewegenden Worten: Wenn das Gedächtnis einzig schöner Stunden In euren Seelen lebhaft bleiben wollte; Wenn euer Blick, der sonst durchdringend ist, Auch durch den Schleier dringen könnte, den Uns Alter oder Krankheit überwirft; Wenn der Besitz, der ruhig machen soll, Nach fremden Gütern euch nicht lüstern machte; Dann wär' uns wohl ein schöner Tag erschienen, Wir feierten dann unsre goldne Zeit (II, 1). Auch der Herr erklärt im Prolog im Himmel das, was zwischen Faust und Helena sich anzuspinnen im Begriff ist: Das Werdende, das ewig wirkt und lebt, Umfass' euch mit der Liebe holden Schranken, Und was in schwankender Erscheinung schwebt, Befestiget mit dauernden Gedanken (Z. 346 ff.). „Schwankende Erscheinung"... Des Herrn Worte sind die Vorwegnahme von denen, mit welchen Helenas Chorfrauen während ihrer Ohnmacht Phorkyas bestürmen, zu schweigen, Daß der Königin Seele Sich noch halte, festhalte Die Gestalt aller Gestalten... (Z. 8904ff.) Fausts Liebe wird im und am schönen „Augen-Blick" Helenas erloschenes Leben frisch entzünden. Seine Treue wird ihre bedrohte Gestalt „mit dauernden Gedanken" „befestigen", so daß sie nicht gespenstischen „Nichtigkeits Gefühlen" 8 ausgeliefert und zwischen der besonnten Erde und dem „hohlen Orkus" hin und her zu schwanken gezwungen ist. Das ist seine „treue Widmung" (Z. 9359), die er im Kommenden verwirklichen wird. Zuerst aber die „Wechselrede", dieses Hohelied der Liebe aus dem Reim. In der ersten Hälfte gleicht sich Faust der Geliebten sichtbar an. Zu Beginn spricht er freilich noch als der nordische Introvert, „unbefriedigt jeden Augenblick", dessen Drang innerer Visionen die Wirklichkeit nie Genüge zu tun vermag. „Herzen", „Brust", „sehnsuchtsvoll" und „überfließt" — 8

Paralipomenon 163, WA, I, Ii2, S. 227.

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dies sind die Schlüsselworte seiner Rede. Helena antwortet aus dem Geist der Antike, selbstgenügsam im Momente webend; eine Haltung, die sich dann auch ganz konsequent in ihren Reimen spiegelt: „Mitgenießt", „Glück" und „meine Hand". Sodann aber, im dritten Reimpaar, findet bei ihm ein Umschwung statt. Er ist es, der nunmehr der Gegenwart vor der Vergangenheit und Zukunft den Preis verleiht, dem reinen Hier und Jetzt: Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück, Die Gegenwart allein — ist unser Glück...(Z. 9381 f.), sekundiert Helena. Und dann erfolgt die Huldigung an eine Gegenwart, so rein erfüllt, daß wir schon fast den späteren Lobpreis an den Augenblick zu vernehmen meinen: Schatz ist sie, Hochgewinn, Besitz und Pfand (Z. 9383); und mit Helenas dargereichter Hand tritt eben diese Gegenwart — und mit ihr, Göttin Gelegenheit — in ihre vollen Rechte. Bis jetzt war diese Hochzeit eine symbolische gewesen. Durch singende und klingende Worte hat sich das Paar einander genähert, ist Helena „gehalten", „festgehalten" worden. Jetzt tritt körperliche Berührung an die Stelle des „gestaltaufbauenden" Wortes. Jetzt übernimmt der Lynkeus in Faust die Führung. Schulter an Schulter, Knie an Knie, Hand in Hand wiegt sich das liebende Paar auf des Thrones aufgepolsterter Herrlichkeit. Dieses „übermütige Offenbarsein" „heimlicher Freuden" „vor den Augen des Volkes" bringt uns in Reichweite der überschwenglichen Erfüllung, des sinnlich voll gelebten „Augen-Blicks"; aber auch der Katastrophe. Doch darüber später mehr. Mittlerweile vollzieht sich die Annäherung des liebenden Paares Schritt um raschen Schritt. Helena findet ihre eigenen Reime; das heißt, sie gestaltet sich ihm zu, der sie mit seinem Lieben trägt. Ihre Unsicherheit — das, was Phorkyas als „doppelhaft Gebild" angesprochen hatte — reift zu ruhigem Selbstverständnis in jenem Gefühl des gleichermaßen Fern- und Nahseins, das sie zum Ausdruck bringt; wir fügen in Parenthese hinzu, daß fern und nah auch das Signum des späten Goethe ist. Nicht „Hier bin ich! Hier!" ruft sie dem Geliebten zu, sondern „Da bin ich! Da!" —: eine Formulierung, die jene zarte Distanz bewahrt, die auch im innigsten Zusammensein unumgänglich ist und die wir in Goethes reifer Dichtung immer wieder finden. Man denke an Im Gegenwärtigen Vergangnes mit seinem „Und da duftet's wie vor alters", oder auch an das „Du weinst! Schon bin

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ich wieder da" von Aolsharfen. Wie seltsam gehalten nimmt sich dies „da" aus, verglichen mit Fausts etwas späterem „Dasein", dem Zustand des Existierens selbst in seiner rudimentärsten Form, welches Egmont, der sinnliche „Augen-Blicksmensch" par excellertce, als „Süßes Leben! Schöne, freundliche Gewohnheit des Daseins" apostrophiert (V, Gefängnis). Dennoch, Helena ist nunmehr fest im Gegenwärtigen verankert. Die vielmals Abgelebte weiß um ihr altes Schicksal des Verlöschens im „hohlen Orkus", aber in Fausts gestaltaufbauender Liebe ist sie wieder „neu"; und diese Sicherheit befähigt sie, vielleicht zum erstenmal in ihrem buntscheckigen Leben, dem Unbekannten, der ihre Seele „festhält", „treu" zu begegnen, so wie er sich ihr mit „treuer Widmung" angelobt hat. Diese zwei Verspaare Helenas bezeugen, daß Faust die schon zum Entfliehen Bereite und der Entstaltung Verfallene im Sinne des Herrn „festgehalten" und ihre schwankende Erscheinung mit „dauernden Gedanken" befestigt hat. Er aber gestaltet sich ihr ebenfalls zu; ja, nur indem er sich der Geliebten angleicht, kann er dies Wunder vollbringen. Er gehört ihr im absoluten Nu an, das kein hier noch heute kennt. Und nun gar sein letztes Wort: Dasein ist Pflicht, und wär's ein Augenblick (Z. 9418). Hier endlich kommt der Goethesche „Augen-Blick" zu seinem vollem Recht. Es ist die Herrlichkeit puren „Da-Seins", die der unaufgeschobene, ganz unmittelbar gelebte, ekstatische „Augen-Blick" erschlossen hat. Und solches in der befriedeten Gegenwart Ruhen erkennt Faust, der nordische Mensch, nunmehr — nicht als beruhigt auf einem Faulbett liegen, wie er in der Paktszene gemeint hatte, sondern — als Pflicht. Wie könnte der Teufel einem solchen etwas anhaben? 4. Ein häßlichstes Echo der Ängstigungsszene folgt. Herein stürmt Phorkyas, nahende Gefahr zu künden. Mit Verstümmlung droht sie Faust, der Gestalt aller Gestalten, die der Liebende soeben erst „befestigt" hat, mit Entgliederung. Das alte Trauma Helenas, dieser schwankenden Gestalt par excellence, erhebt noch einmal sein scheußliches Haupt. Von der Siegerschar umwimmelt, Wie Deiphobus verstümmelt, Büßest du das Fraungeleit. Bammelt erst die leichte Ware, Dieser gleich ist am Altare Neugeschliffnes Beil bereit (Z. 9429 ff.).

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Jetzt wird es sich zeigen, ob der frei und treu Liebende in der Tat iahig ist, die bedrohte Gestalt der Geliebten zu „halten", „festhalten", will sagen, vor einem erneuten Verlöschen im ...unerfreulichen, grautagenden, Ungreifbarer Gebilde vollen, Überfüllten, ewig leeren Hades (Z. 9119 ff.) zu erretten. Ist doch das ganze Entstaltungsmotiv — ich sagte es bereits — ein Symbol jener ontologischen Verunsicherung, der die radikal Schwankende subjektiv und objektiv so schonungslos ausgesetzt ist. Und nun hebt die zweite Phase von Fausts gestaltaufbauendem Bemühen um die Geliebte an: Nein, gleich sollst du versammelt schauen Der Helden ungetrennten Kreis...* sagt er und fahrt fort: Nur der verdient die Gunst der Frauen, Der kräftigst sie zu schützen weiß (Z. 9442 ff.). Schützen will er die „gegen das Geschick" (Z. 7437) Errungene; in der Wirklichkeit will er sie „befestigen"; bergen will er sie durch den „ungetrennten Kreis" seiner Krieger. Und wie man einen verwundeten Baum verbindet, so legt er nunmehr Rinde um Rinde, Schutzhülle um Schutzhülle um die bedrohte Form. Denn, wie der Morphologe Goethe wohl weiß: „... alles was lebendig wirken soll, muß eingehüllt sein". 9 Und in dieser Phase wird, wie schon im Tasso, dem Bild des Kreises mit seiner geschlossenen und schützenden Form eine nicht zu überschätzende Bedeutsamkeit zuteil. Im „ungetrennten Kreis", „versammelt", will Faust seine Krieger aufstellen; und die Bühnenanweisung schreibt vor — diese Worte sind noch zu allerletzt an das fertige Manuskript angeklebt worden — „Zu den Heerführern, die sich von den Kolonnen absondern und herantreten" (vor Z. 9446). Offenbar liegt Goethe an einer übersichtlichen Struktur der äußeren Szene. Die folgende Anweisung detailliert diese weiter: „... die Fürsten schließen einen Kreis* um ihn, Befehl und Anordnung näher zu vernehmen" (vor Z. 9482). Durch solcherlei Mittel gestaltet der Dichter das, worum es ihm hier geht — also die Geborgenheit der einzigsten Gestalt — sinnlich sichtbar aus.

9

In: Zur Morphologie.

Die Absicht eingeleitet,

HA, 13, S. 59.

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Und nun verteilt er Aufgabe und Lohn an die um ihn gescharten Fürsten. Das Land, das sie beschützten, soll das ihre sein. Aus Selbstinteresse vollziehen sie, doppelt „treu", ihres Herrn Befehl, und sie gönnen ihm die Länder, die er doppelt — und wieder folgt ein Kreisbild —, samt ihr, der Herrin, ...zugleich innen mit sicherster Mauer, Außen mit mächtigstem Heer umgab* (Z. 9504 f.). Faust aber will in der „Mitte" standhalten und zusammen mit seinen Heerscharen der Königin ihr eigenstes Erbe, den „ringsum" von Wellen angehüpften Peloponnes, schützend bewahren. Auf seine Sicherheitsmaßnahmen vertrauend, ruft er aus: Dies Land, allein zu dir gekehret, Entbietet seinen höchsten Flor; Dem Erdkreis,* der dir angehöret, Dein Vaterland, o zieh es vor (Z. 9522 ff.)! Bei alledem soll sich indes die Geliebte frei fühlen: Nicht feste Burg soll dich umschreiben!* Noch ^irkt* in ewiger Jugendkraft -Für uns, zu wonnevollem Bleiben, Arkadien in Spartas Nachbarschaft (Z. 9566 ff.). Es ist interessant zu vermerken, daß dies „zirkt" eine späte Änderung des ursprünglichen „steht" darstellt. In Fausts Vision von Arkadien aber sind Götter vermenschlicht und Menschen vergöttlicht: Denn wo Natur in reinem Kreise* waltet, Ergreifen alle Welten sich (Z. 9560 f.). Man sieht: die kreisförmige Struktur beherrscht Fausts Phantasie sowie auch die gesamte „gestaltaufbauende" Formation, die er heraufbeschwört, die Geliebte zu schützen. Um die in äußerstem Grade schwankende Gestalt zu „befestigen", sucht er sie in einer Vielfalt organischer Lebensbezüge zu verankern, durch Liebe, Treue und durch ihre Verwurzelung in Urformen der Natur; bewahrende Kräfte, die sich Schicht um Schicht um die gefährdete Gestalt herumlegen und sie vor drohender Entstaltung und Entgliederung abzuschirmen trachten. Die Gesamtkonfiguration, die seinem Wahrnehmen des liebenden „Augen-Blicks" entspringt, ist die eines hierarchischen, durch und durch organischen Verbandes. Die Natur selbst ist das tragende Element der Gemeinschaft, diese des liebenden Paares, und

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Faust wiederum trägt Helena in bewahrender Liebe und Treue. In diesem dreifachen Verband erscheint die schwankende Gestalt der geliebten Frau „gehalten", „festgehalten" und vor dem drohenden Verhängnis, das über ihrem Leben schwebt, bewahrt. 5.

Indes, was sich alsbald in dem ringsum von Felsen umgebenen, also wieder kreisförmigen Schattigen Hain begibt, ist der Anfang vom Ende. Hier muß ich meine Leser bitten, ihre Gedanken zu dem, was wir zu Beginn dieses Kapitels über das Divan-Gcdicht Wink sagten, zurückzuschicken. Der durch die Stäbe ihres Fächers hervorblitzende Wink zweier Mädchenaugen ist, so sagten wir, nicht bloß eine Einladung zu näherem Zusammensein, eine Liebeskommunikation, wie sie im Zwiegespräch der Geschlechter ein jedes Mädchen dem geliebten Mann zukommen läßt. Er ist überdies ein Symbol des semantischen Symbols, das offenbart, indem es verhüllt und nur dergestalt, verhüllend, seine symbolische Kraft bewähren kann. Diese Doppelfunktion — sie ist im Titel des vorangehenden Gedichtes, Offenbar Geheimnis, festgelegt — gilt es im Auge zu behalten, nun da wir uns nochmals zu dem Näherrücken des liebenden Paares auf herrlichem Pfühl zurückwenden. Von dem „Offenbarsein" „heimlicher Freuden" „vor den Augen des Volkes" hatte der Chor berichtet. In dieser Beeinträchtigung des symbolhaften Charakters der Wechselrede bin ich geneigt, den Keim der Katastrophe zu sehen, die mit dem Vollzug der Ehe und dem Erscheinen Euphorions über das liebende Paar hereinbricht. Der Eros, der die Wechselrede durchwaltet hatte, war in streng gleichnishafter Weise der Eros singender und klingender Worte gewesen, die sich suchen und im Reime finden. Darüber hinaus ist der optimale „Augen-Blick" selber, den die Liebenden zusammen entdecken, ein optisch-physisches Phänomen, das — wie bereits der bunte Bogen in Anmutige Gegend10 — des Abstands bedarf. Die edelsten unserer Sinne, unsere Augen, sind keine Organe unmittelbarer Berührung. Um einen Gegenstand überhaupt, geschweige denn klar sehen zu können, bedarf es einer gewissen Entfernung. So auch erfordert selbst der hingerissenste „Augen-Blick" der Liebe eine zarte physische und psychische Distanz, die nicht verletzt werden darf, ohne diese Höchstkonstellation zunichte zu machen. Dieser Vorbehalt war dem Dichter ebenso bedeutsam wie dem Menschen Goethe. Der schöne „Augen-Blick" bezeichnet, poetologisch gesprochen, 10

Siehe Kapitel 19, Abschnitt 4.

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den „prägnanten Moment", will sagen, den Moment, von dem aus der Rezipient den souveränsten Ausblick über Vergangenheit und Zukunft hat. Schon um die Jahrhundertwende erkannte Schiller mit seiner gewohnten Scharfsichtigkeit den Helena-Akt als den prägnanten Moment des zweiten Teils der Tragödie: „Dieser Gipfel, wie Sie ihn selbst nennen", schreibt er, „muß von allen Punkten des Ganzen gesehen werden und nach allen hinsehen." 11 Um den prägnanten Moment, wie Goethe ihn faßte, ist es indes ein heikles Ding. Aufs Schönste wird er von einer bräutlichen Gestalt realisiert. Gewohnheitsgemäß ist die Braut von einem Schleier verdeckt, durch den ihr Angesicht hindurchschimmert — also dieselbe Konfiguration wie in dem Gedicht Wink. Der Schleier aber ist, wie der Fächer im DivanGedicht, ein Symbol des Symbols, ja, geradezu das Ursymbol. 12 Die bräutliche Gestalt ist, was ihren symbolisch-prägnanten Gehalt anbelangt, ein non plus ultra: denn dieser zuhöchst schöne „Augen-Blick" lädt den Beschauer ein, darauf zu verweilen als an einem Sammelpunkt, in dem die Flüchtigkeit der Erscheinung momentan gebannt ist, an dem sich Vergangenheit und Zukunft treffen, wohl auch das Kommende in seiner Phantasie vorauszunehmen. Mehr aber nicht. Wie sagt doch Goethe in den Essays über Winckelmann und Diderot? „Denn genau genommen kann man sagen, es sei nur ein Augenblick, in welchem der schöne Mensch schön sei... Die Begattung und Fortpflanzung kostet dem Schmetterlinge das Leben, dem Menschen die Schönheit." 13 Hier waltet eine potentielle tragische Ironie. „Praegnans" heißt „schwanger"; Goethe arbeitet mit einem Moment, der „die Natur auf dem würdigsten Punkte ihrer Erscheinung begreift", 14 der mit Vergangenheit und Zukunft schwanger ist. Eine schwangere Frau aber oder gar eine Mutter kann er nicht zur Trägerin dieses „schwangeren" Momentes ausersehen. Der Höhepunkt ist überschritten, denn „die Natur... in ihrer großen Breite [artet] leicht in Häßlichkeit aus[...]". 15 Die schwangere Philine ist in der Tat häßlich, die Mutter Hermanns geht in die Breite, Venus bedeutet der Geliebten in den Venetianischen Epigrammen, Daß sie das Körperchen bald, ach! unaufhaltsam verstellt. (Nr 41). " An Goethe, 23. September 1800. In: Der Briefwechsel %wischen Schiller und Goethe, hrsg. Emil Staiger, Frankfurt 1966, S. 876. 12 Siehe Wilhelm Emrich, Die Symbolik von Faust II. Frankfurt/Bonn 1964, S. 51. 13 Winckelmann, HA, 12, S. 103; Diderots Versuch über die Malerei, AGA, 13, S. 216. 14 Ebenda, S. 210. 15 Einleitung den Propyläen, HA, 12, S. 46.

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Nur die bräutliche Gestalt ist es, die den höchsten Moment bezeichnet und zu fixieren ausgezeichnet ist. So also mußte die schwangere Helena hinter die Kulissen verbannt werden, Euphorions Mutter aber vollends von der Bühne abtreten, und zwar, wie ich soeben dargetan habe, bereits aus ästhetischen Rücksichten, eben weil „die Begattung und Fortpflanzung... dem Menschen die Schönheit [kostet]." Indes — brauche ich es zu sagen? — dies ist nicht der einzige Grund, aus dem Helena in den „hohlen Orkus" zurück muß. Aus einer Vielfalt von Gründen muß sie abieben; einmal, weil sie, wie jedes Lebende, nur kurzfristig aus Dunst und Nebel aufgetaucht ist und in den „grautagenden" Hades zurück muß — ein Geschick, das Goethe exemplarisch in der Elegie Euphrosjne dargestellt hat. — Sodann drängt das Leben vorwärts. Der schöne „Augen-Blick" kann nicht ewig dauern. So konnte der Dichter seine Gestalt zwar in diesem höchsten Moment fixieren oder, wie er es ausdrückt, „solidesciren";16 aber anhalten, „festhalten" in diesem Moment konnte er sie nicht. Hätte er es getan, Helena und Faust wären zu Kunstfiguren geworden, keine im Zeitelement lebenden und atmenden Menschen. Wie sagt doch der Erzähler in den Wahlverwandtschaften? „Und doch läßt sich die Gegenwart ihr ungeheures Recht nicht rauben" (I, 11). Auch hier, in der Helena, macht sie dies ihr ungeheures Recht geltend, und die innere Dynamik von Goethes Figuren trägt sie jenseits des „engen" Kreises des Schönen, wie Goethe in seinem Diderot-Essay schreibt, in den schamlos-schnellen Kreislauf kreatürlicher Befriedigung. Jener, „in dem man sich nur bescheiden regen darf', 17 ist aufgebrochen, der kreatürliche Kreis von Begattung und Fortpflanzung hat sich mit Helenas Mutterschaft geschlossen. Den letzten Ausschlag für das unvermeidliche Ableben der Helena gibt indes der Standpunkt des Morphologen Goethe. „Die Morphologie" — so definiert er — „soll die Lehre von der Gestalt, der Bildung und Umbildung der organischen Körper enthalten..." 18 Wir sehen: „Gestalt" und „Bildung und Umbildung" werden als Synonyme eingesetzt. An anderer Stelle amplifiziert Goethe diese Gleichsetzung. „Der Deutsche", schreibt er, „hat für den Komplex des Daseins eines wirklichen Wesens das Wort Gestalt. Er abstrahiert bei diesem Ausdruck 16 17 18

In einem Brief an Nees von Esenbeck, 24. Mai 1827. WA, IV, 42, S. 198. Diderots Versuch über die Malerei, AGA, 13, S. 216. Betrachtung über Morphologie, HA, 13, S. 124.

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von dem Beweglichen, er nimmt an, daß ein Zusammengehöriges festgestellt, abgeschlossen und in seinem Charakter fixiert sei." 19 Bei diesen Worten denken wir an das „Befestigen" des Herrn, an die geschlossenen Kreise, mit denen Faust die Geliebte schützend zu umgeben trachtet, sowie an die „Fixierung" oder „Solidescirung" der Gestalt aller Gestalten auf dem Höhepunkt ihrer Erscheinung. Nun aber lesen wir weiter: „Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke. ...Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet." 20 Ist es verwunderlich, daß Helena, dieses Exemplar einer schwankenden Gestalt, hin- und herwebend zwischen dem „ungreifbarer Gebilde vollen, ewig leeren Hades", dem Reich der Mütter und dem besonnten Erdentag, diesem selbst in der Hochgestalt des befriedeten „Augen-Blicks" nicht dauerhaft anzugehören vermag? Daß sie zu erneuter Bildung und Umbildung, Gestaltung=Umgestaltung, wieder in den Hades eintauchen muß? Hier war eine Grenze erreicht, die kein Achill und kein Faust „gegen das Geschick" wettzumachen vermochte. Auf dem Höhepunkt ihrer Erscheinung, nach vollzogener Begattung und Fortpflanzung, muß die so liebevoll Beschützte, von Faust gegen die drohende Entgliederung Abgeschirmte, ihrer irdischen Gestalt entsagen und sich den entstaltenden Mächten des Todes anheimgeben. Die Gesetze des Lebens und der Kunst fallen hier zusammen, und beide schreiben dem Dichter den Ablauf der Tragödie gleichermaßen vor. Dieses doppelte Gesetz formuliert Helena selbst, wenn sie in den letzten, zehnfach überarbeiteten Worten ihres Daseins sinnt, Daß Glück und Schönheit dauerhaft sich nicht vereint (Z. 9940). 6. Die tragische Lösung wird logischerweise von Euphorion, der Frucht des ehelichen Beisammenseins, bewirkt. Dieser unbändig springende Knabe, der von Anfang an „nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein 19 20

Die Absiebt eingeleitet, Ebenda, S. 55 f.

HA, 13, S. 55.

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Abgeschlossenes" kennt und von dem Hier und Jetzt ins Ungemessene strebt, zerreißt Schicht um Schicht den heilenden Verband, den Faust um die gefährdete Geliebte gelegt hat. Zu Beginn zwar will es noch scheinen, als befestige das Kind den elterlichen Bund. Im Wechselsang feiern Helena und Faust die Krönung ihres Liebens: Helena Liebe, menschlich zu beglücken, Nähert sie ein edles Zwei,* Doch zu göttlichem Entzücken Bildet sie ein köstlich Drei.* Faust Alles ist sodann gefunden: Ich bin dein, und du bist mein; Und so stehen wir verbunden,* Dürft' es doch nicht anders sein (Z. 9699 ff.). Es sekundiert der Chor: Wohlgefallen vieler Jahre In des Knaben mildem Schein Sammelt sich auf diesem Paare. O, wie rührt mich der Verein!* (Z. 9707 ff.). Alsbald aber stimmt des Knaben maßlose Springbegierde die Beteiligten um. Faust fürchtet, daß „Zugrund uns richte Der teure Sohn" (Z. 9721), Helena mahnt ihn, Wie du zerstörest Das schön errungene Mein, Dein und Sein* (Z. 9732 ff.) und nun echot der Chor: Bald löst, ich fürchte, Sich der Verein* (Z. 9735 f.)! Wiederum, als Euphorion mit Windesschnelle zum Mädchenjäger und kriegerischen Jüngling heranwächst, rufen die verzweifelten Eltern: Sind denn wir Gar nichts dir? Ist der holde Bund* ein Traum (Z. 9881 ff.)?'

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Nach Euphorions Sturz und Tod schließlich sagt sich Helena von Faust mit den tief traurigen Worten los: Zerrissen ist des Lebens wie der Liebe Band* (Z. 9941). Fausts „gestaltaufbauendes" Bemühen, sein Trachten, die Gestalt aller Gestalten, die einzig schöne, von Entstaltung bedrohte Helena, in den Urverbänden der Natur zu „halten", „festhalten", zu „befestigen", ist gescheitert; und ironischerweise scheitert-es an dem innigsten Bande der Natur selbst: an der Liebe, die auf Erfüllung dringt und den engen Kreis des Glücks sowie den bescheidenen Kreis des Schönen erbarmungslos zerstört. Helenas Wort, Daß Glück und Schönheit dauerhaft sich nicht vereint, ist wahr. Nicht minder wahr aber ist Phorkyas', offenbar auf diesen Abschluß zukomponiertes Wort, Daß Scham und Schönheit nie zusammen, Hand in Hand, Den Weg verfolgen über der Erde grünen Pfad. Tief eingewurzelt wohnt in beiden alter Haß, Daß, wo sie immer irgend auch des Weges sich Begegnen, jede der Gegnerin den Rücken kehrt. Dann eilet jede wieder heftiger, weiter fort, Die Scham betrübt, die Schönheit aber frech gesinnt, Bis sie zuletzt des Orkus hohle Nacht umfangt, Wenn nicht das Alter sie vorher gebändigt hat (Z. 8755 ff.). Wir dürfen uns von der Boshaftigkeit dieser Worte nicht beirren lassen. In ihnen zieht Phorkyas wenn auch keineswegs die sittliche, so doch aber die ästhetische Bilanz der Tragödie. Sie sagt nichts anderes und nicht weniger als der Chor inmitten der Wechselrede, wenn er von dem „Offenbarsein" „heimlicher Freuden" des hoch auf herrlichem Pfühl sich „Vor den Augen des Volkes" wiegenden Paares singt. Dies ist der Punkt in der Tragödie, wo Scham und Schönheit sich trennen, wo der enge, der bescheidene Kreis der Kunst „frech" aufgesprengt wird. An diesem Punkt mußte nach Goethes ästhetischem Dafürhalten die Tragödie einsetzen und der Spross dieses Bundes, Euphorion, das traurige Werk vollenden. Was läßt sich über diese von selig-unseliger Sehnsucht getriebene, nur kurz aus nächtigem Dunkel auftauchende Gestalt aussagen, das nicht bereits zur Sprache gekommen ist? 21 Der unbändig Springende, Fliegende 21

Siehe Kapitel 3.

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muß stürzen und sterben. Aber sein Gesang wird bleiben, er wird die produktive Kraft anderer beleben, vielleicht auch in der ungreifbarer Formen vollen Nacht des Hades sich umbilden und neu erstehen. Er ist der eintretende Genius, dessen „Sprünge" ein neues Zeitalter einleiten, ein „gestaltabbauendes", musikalisches. Das endgültige Wort aber über diese in höchstem Grade schwankende Gestalt mit ihrem radikalen Schicksal gehöre dem Dichter: „Die Begattung und Fortpflanzung kostet dem Schmetterlinge sein Leben*... .2Z Und der schöne „Augen-Blick", den ein vereinsamter Faust, wäre es ihm vergönnt, ihn zu sehen, bitten würde zu verweilen? Wohlbedacht ändert Goethe diese seine Formulierung. Faust preist den höchsten Augenblick, der ihm bereits jetzt zuteil wird. Was aber meint der höchste „AugenBlick" eines Blinden? Eine gegenstandslose, liebesleere Illusion? Jenen hohlen Fleck im Gehirn, wovon eine in diesem Zusammenhang von Forschern herangezogene Maxime spricht? 23 Oder einen liebevollen „Augen-Blick", dessen „Gegen-Stand" ganz in ein visionäres Inneres verlegt ist? Darüber wird ein anderes Kapitel dieser Studie Auskunft geben. 23

22 23

24

Siehe Anmerkung 13. Maximen und Reflexionen, 20, Anmerkung 73. Siehe Kapitel 20.

Nr 58, HA, 12, S. 373. In diesem Zusammenhang siehe Kapitel

Jenseits der Sphinx Goethe im Zwiegespräch der Geschlechter Denn irgendwo ist eine alte Feindschaft Zwischen dem Leben und der großen Arbeit. Rilke

1. Vor solchen hat einst Ödipus gestanden... (Faust II, Z. 7185), ruft Faust auf seiner Irrfahrt durch die Gefilde der Klassischen Walpurgisnacht beim Anblick der Sphinxe erschauernd aus. Soeben erst hat er festen Boden berührt und ist mit der Frage „wo ist sie?" zu Bewußtsein gekommen. Den Sphinxen begegnend, spricht er zum erstenmal; und wieder stellt er die Frage nach Helena, die ihn allein bewegt, die ihn wie ein Motor vorwärtstreibt. In der folgenden Szene am unteren Peneios wird er offenen Auges die Empfängnis der Geliebten aus Zeus in Ledas Schoß erblicken. Von eben demselben Ereignis hat es indes dem Schlafenden bereits unmittelbar vor seiner Versetzung in die tumultarische Nacht geträumt. Aus dieser symmetrischen Gruppierung der Begebenheiten geht Goethes Absicht hervor, Fausts Doppelvision von Leda mit den Gestalten von Ödipus und der thebanischen Sphinx in einen gedanklichen Zusammenhang zu bringen. Was aber mag die innere Verbindung zwischen so disparaten Momenten sein? Diese Frage zu beantworten, werfen wir einen Blick auf Sophokles' Tragödie und vergegenwärtigen uns deren Gang und Thematik, sofern sie im Kontext der nachfolgenden Betrachtungen relevant sind. Seinem festen Willen zum Trotz gelingt es Ödipus nicht, dem ihm vorausgesagten Schicksal zu entfliehen, er werde den eigenen Vater töten und die eigene Mutter ehelichen. Schon hat er seinen Vater Laios unwissentlich erschlagen, als er vor den Toren Thebens der Sphinx begegnet, die ihm, wie jedem Neuankömmling, der sich ihr stellt, ein Rätsel aufgibt. Diejenigen, die es nicht erraten, verschlingt das Ungeheuer; demjenigen, der ihm auf den Grund kommt, wird zum Lohn die Hand der thebanischen

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Königin Jokasta zuteil. Ödipus errät den Sinn der Frage und wird zum Gatten seiner eigenen Mutter, mit der er vier Kinder zeugt. Als er den wahren Tatbestand entlarvt, sticht er sich die Augen aus, begibt sich ins Exil und lebt, von seinen Töchtern betreut, die faktisch seine Stiefschwestern sind, hoch geehrt als blinder Seher in Kolonus, einem Dorf bei Athen. Das Schicksal dieser Stadt aber ist und bleibt mit der Gegenwart des Verbannten, ja mit dessen sterblichen Überresten, unlöslich verknüpft. Sofern der Gang der Tragödie. Was ihre Thematik anbelangt, so erheben sich in dem hiesigen Kontext zwei Fragen. Was für eine Bedeutung schreibt Sophokles der Ehe von Sohn und Mutter zu? Und was sind die Alternativen, die die Sphinx dem Rätselrater stellt? Diese Probleme sind enger zusammengehörig, als es auf den ersten Blick den Anschein hat; ich werde sie dementsprechend mit- und durcheinander beantworten. Als Ödipus das blutschänderische Verhältnis, das ihn an Jokasta knüpft, zu durchschauen beginnt, legt der Dichter dieser, der Gattin-Mutter, tröstliche Worte auf die Lippen: Wir müssen nehmen, was der Tag beschert. So trag auch vor der Mutter keine Angst! Im Traum vielleicht — da sah sich mancher schon Im Bett der Mutter! Niemand mache sich Mit solchem Hirngespinst das Leben schwerer! 1 Sophokles weiß also, was wir von heute wissen: daß der Mann, ja bereits der junge Sohn, sexuelle Wünsche in Bezug auf die Mutter hegt. Und zwar nicht nur „mancher", sondern jeder Mann: das eben ist ja die Bedeutung der schicksalhaften Vorbestimmung, die über Ödipus als paradigmatischen Menschen verhängt ist. Insofern nun aber diese Wünsche im Unbewußten haften, mischen sie sich in jede wirkliche Liebeserfüllung hinein, ganz so, wie der Sohn in jedem Fremden den Vater erschlägt, der ihm im Wege steht. Sophokles' Fabel unterrichtet uns von dem, was in der modernen Psychologie zu theoretischer Formulierung gelangt ist. In jeder Frau umarmt der Mann auch die Mutter. Der Liebesakt als solcher meint immer auch eine Rückkehr in den mütterlichen Schoß. 2

1

2

König Oidipus, dritte Hauptszene. Sophokles, Gesamtausgabe der griechischen Tragödien übersetzt von Ernst Buschor, Zürich und München, 1979. Band 3, S. 134. Freud schreibt: Im Geschlechtsakt „the vagina comes into the inheritance of the mother's womb" (in: Collected Papers, ed. J. Riviere and J. Strachey, New York, London, 1924—50, II, S. 249). Ähnlich S. Ferenczi: Der Sexualverkehr bezweckt „the genital establishment

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Diese Unausweichlichkeit des über den Mann verhängten Geschicks wird durch die Alternative gekennzeichnet, vor welche die Sphinx den Neuankömmling stellt. Das Rätsel, das sie ihm aufgibt — was ist es, das anfangs auf vier, sodann auf zwei und schließlich auf drei Beinen geht? —, umreißt nichts anderes als den menschlichen Lebenslauf per se. Derjenige, der mit dieser seiner condition humaine im Einklang steht und das Rätsel löst, erfüllt auch das ihm vorbestimmte Los und wird in den mütterlichen Schoß zurückgeschlungen. Was aber geschieht mit dem, der dem Rätsel nicht auf den Grund kommt? Auch er wird in einen Schoß hineingeschlungen: in den ungeheuerlichen Urschoß der Sphinx. Beiden, dem Initiaten und dem Blinden, widerfährt also das gleiche Los; nur daß der Blinde in der untermenschlichen Existenz, die ihn in sich hineinschlingt, erstickt, während dem Sehenden die Freiheit bleibt, sich selbst zu blenden und in der Verbannung aus der menschlichen Gesellschaft für sein vermessenes Unterfangen Buße zu tun. In jedem Falle ist die Strafe schwer. Denn in dieser oder jener Form ist der mütterliche Schoß ein Binnenraum, den zu erblicken oder gar betreten ein uraltes Tabu dem Sohn verwehrt. Er kann aber nicht umhin, in dieser oder jener Form das Verbotene zu tun. Die scheinbare Alternative, vor welche die Sphinx den Unternehmenden stellt, ist somit keine wahre Alternative. Ein Dilemma ist es, das der unverbrüchlichen Schicksalhaftigkeit des über den Mann verhängten Loses Ausdruck verleiht. Kehren wir zu Fausts Begegnung mit den Sphinxen zurück. Diese, und die Assoziation mit Ödipus ist — wir sahen es — unmittelbar in den Bericht eines Traumes und wiederum in einen Wachtraum eingebettet, in dem Faust Helenas Empfängnis in Leda aus Zeus erblickt. Was besagt diese doppelte Vision? Mit Hilfe des Phantasievaters Zeus, der fraglos für Faust selber einsteht, holt sich dieser die Geliebte von Leda, von der „Mutter" also, und wird in Helenas Umarmung, die er wiederum bei den „Müttern" findet, zum Sohn seiner Gattin und zum Stiefbruder seines eigenen künftigen Sohnes Euphorion. Diese zwei Ereignisse getrennt zu betrachten, wäre logisch wünschenswert. Indes, rationale Kriterien sind bei der Interpretation von Mythen sowie von Träumen mit deren gleitenden Identitäten von streng begrenzter Gültigkeit. Zeus verschmilzt mit Faust, Leda und Helena gehen ineinander über. Scharf konturiert dagegen ist das den beiden Geschehnissen gemeinsame Charakteristikum: die sexuelle of the intra-uterine situation" und wird dementsprechend als regressiv beurteilt (in: Tbalassa: A Theory of Genitality, New York, 1938, S. 18 und 26.).

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Verbindung eines reifen Mannes mit einer Mutterfigur. Durch diesen gleichbleibenden Zug artikulieren zwei (oder mehr) anscheinend separate Begebenheiten ein und dieselbe Grundkonstellation. Dies gilt es später in der Textur von Goethes Drama zu verankern. Mittlerweile stellen wir mit einiger Überraschung die genaue Entsprechung dieser Konfiguration zu der fest, die uns in Sophokles' Trauerspiel begegnet ist, wo auch Ödipus durch die Liebesbeziehung mit der eigenen Mutter zum Sohn seiner selbst und zum Stiefbruder seiner Geschwister wird. Eine solche Durchschichtung der Generationen steht im Faust-Drama keineswegs vereinzelt da. Bereits in der Frühzeit seiner Arbeit daran hat sich Goethe zu einer analogen Konstellation vorgewagt, diesmal in Verbindung mit der anderen Frau in dem Leben des Protagonisten. Spricht doch Gretchen in dem Lied von Machandelboom, das sie im Kerker singt, sich und den Geliebten als ihre eigenen Eltern, und ihrer beider Kind als ihr Schwesterlein an. Und ist es nicht Gretchens frühe Mütterlichkeit, die in der Garten-Szene den philosophischen Hungerleider in Bann schlägt? In solchen Zusammenhängen gesehen, erscheint Goethes Einfall, daß Faust Helena bei den „Müttern" findet, nicht mehr als die geniale Mythologisierung eines urbildlichen Modells, das ihm offenbar vor Augen schwebte, und das ihm überdies in König Ödipus voll ausgestaltet entgegentrat. „Der zeugend Gezeugte", wie es bei Sophokles heißt: will sagen, der Erzeuger, der im Liebesakt mit der Mutter seine eigene Geburt gleichsam rückwärts nachvollzieht und dergestalt zum Erzeugten wird: dies ist eine Konfiguration, die, gegen die tiefsten Tabus verstoßend, nie und nimmermehr glücklich enden kann. Die Früchte einer solchen Verbindung, drei von den vier Kindern des Ödipus, sterben. Euphorion stirbt. Jokasta und Helena gehen freiwillig in den Tod. Faust wird, wie Ödipus, geblendet. Auch er hat mehr gesehen, als einem Sterblichen zu sehen vergönnt ist; und dies ist ein Zug, den Goethe ursprünglich vorzubereiten erwogen hat. Denn schon früher hat Faust das Unmögliche zu erblicken begehrt. Wünschte er sich nicht, in der nie zur Ausführung gelangten „Losbittungsszene" Persephone, die Königin des Hades, entschleiert zu sehen? Daß dieses Motiv ein symbolisches ist, liegt doch wohl auf der Hand. Und dürfen wir nicht aus dieser Konzeption folgern, daß Faust auch im Liebesakt mit Helena einen Blick in nächtliche Abgründe tut? Eben weil dieser Drang in der Helena zu voller dichterischer Ausgestaltung kam, und nur darum, bedurfte es schließlich der geplanten Szene nicht mehr. Vergegenwärtigen wir uns einen Augenblick lang das so sonderbare Motiv der Selbstzeugung, das in Goethes sowie in Sophokles' Drama die

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Wahl der Mutter-Geliebten bestimmt, und fragen wir nach dem Beweggrund dieser Phantasie. Indem die Protagonisten im Liebesakt mit der Mutter ihre eigene Zeugung gleichsam nachvollziehen, suchen sie sich der Autonomie ihres kreativen Vermögens zu versichern. Im Falle von Goethes Drama spiegelt dieser merkwürdige Antrieb Fausts das ureigene Anliegen seines Dichters zurück. Immer wieder forschte dieser mittels seiner Gestalten dem eigenen Schöpferquell nach; und die nachfolgenden Betrachtungen wollen kaum mehr ausrichten, als diese Entdeckungsreise nachzuvollziehen und deren diversen Stadien wenigstens skizzenhaft zu bedeuten. Wie sich Faust aus der inzestuösen Schlinge zieht, in die er sich verstrickt hat, da er die Gattin in der „Mutter" — oder bei den „Müttern" — sucht, werden wir später verfolgen. Fürs erste verzeichnen wir den erstaunlichen Parallelismus zwischen Goethes Drama und dem des großen Griechen und wenden uns dem anderen Geschlecht in Gestalt von Sophokles' Antigone zu. Dreht sich König Ödipus um die Bindung des Sohnes an die Mutter, so spürt Sophokles in Ödipus auf Kolonus der — parallelen — Bindung der Tochter an den Vater nach; und diese wiederum spiegelt sich in der Thematik von Antigone:3 hier geht es um das seelische Band, das die Schwester an den Bruder knüpft. Antigone hat eine schwere Wahl zu treffen. Entweder sie erweist ihrem im Bruderzwist gefallenen und von Kreon in die Acht geschlagenen Bruder Polyneikes die letzten Ehren, und das heißt Tod für sie; oder sie begibt sich dieser Pflicht und rettet ihr Leben, um Kreons Sohn Haimon zu ehelichen. Antigone wählt ohne Zögern den Tod. Dies ist ihr Grund: Für toten Gatten findet man Ersatz, Ein neuer Gatte zeugt den neuen Sohn, Doch da der Tod mir beide Eltern nahm, Wie sproßte mir ein neuer Bruder auf? 4 3

4

Die enge Zusammengehörigkeit der Tochter-Vater Bindung und der von der Schwester an den Bruder spiegelt sich in einer motivischen Verzahnung der zwei Tragödien. Am Ende von Ödipus auf Kolonus, als der von Antigone betreute Vater-Bruder geheimnisvoll im Tode entrückt wird, beklagt Antigone die Unmöglichkeit, ihres Vaters Grabhügel zu sehen und ihm die letzten Ehren zu erweisen. Das Motiv der Totenehrung — diesmal der des Bruders — wird alsbald zum tragenden Thema von Antigone. Dergestalt verknüpft Sophokles die beiden Dramen nicht nur formal, sondern auf einer tiefen thematischen Ebene; ein Übergang, der die Verwandtschaft zwischen der Vater- und Bruderproblematik sinnfällig macht. Antigone, vierte Hauptszene. In Sophokles (Anmerkung 1), Band 3, S. 55.

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Man sieht: die Beziehung zu dem wie auch geliebten Bräutigam ist weniger verbindlich als die zu dem Blutsverwandten. Der Bruder ist der Schwester schlechthin unersetzlich, wie es bereits der Vater-Bruder war, wie es für Ödipus die Gattin-Mutter ist. Antigone begräbt Polyneikes und stirbt, der verlassene Haimon stirbt bei ihrer Leiche, und Haimons Mutter Eurydike gibt sich, da sie von ihres Sohnes Ende hört, in einer wundervollen dichterischen Rundung der Trilogie selbst den Tod: gewiß doch ein Echo von Jokastas Wahl um Ödipus', ihres Sohnes willen. Antigones' Entscheidung ist bedenkenswert. In der ehrfurchtgebietenden Persönlichkeit Ödipus', ihres Vater-Bruders, haben sich ihr überpersonale Werte erschlossen, die ihre geistige Physiognomie prägen. Gedrängt, zwischen ihrem zukünftigen Glück und ihrer Pflicht die Wahl zu treffen, durchlebt sie keinen eigentlichen sittlichen Konflikt, während Haimon zwischen Rücksichten auf den Vater und dem Anspruch auf persönliche Liebeserfüllung schwankt und schließlich diesem folgt. Antigone erfüllt sich, indem sie an dem toten Bruder das göttliche Gesetz vollzieht; ein Gehorsam, der ihr zum erstenmal in der von Apolls Gebot unerbittlich getriebenen Gestalt ihres Vaters entgegengetreten ist. Haimon dahingegen sagt sich von der Rücksicht auf den Vater los und folgt der Geliebten. In der Wahl des Jünglings lebt die allmächtige Bindung an die Mutter fort. Die Streiflichter, die wir soeben auf zwei frühe, mythennahe Kunstwerke des Abendlandes geworfen haben, sind nicht mehr als ein prolegomenon zu dem Hauptanliegen dieser Seiten. Meine Absicht war, in der kurzen Betrachtung von König Ödipus gewisse urbildliche Züge des Mannes, in der von Antigone paradigmatische Wesenszüge der Frau freizulegen. Derlei Vorüberlegungen sollten uns den Blick für das archetypische Gepräge von Goethes Männer- und Frauenfiguren schärfen. Diesen wende ich mich nunmehr zu, vorerst in den Gestalten von Orest und Iphigenie. 2.

Wie Goethes Faust von König Ödipus, so ist sein gräzisierendes Stück von diesem sowie auch von Antigone nachdrücklich geprägt. Auch hier galt es, eine Schwester-Bruder-Bindung in ihrer Urbildlichkeit durchsichtig zu machen, auch hier, ein Frauenschicksal zu gestalten. In der Geschichte Orests glauben wir die hauptsächlichen Züge des Öi/^x-Dramas wiederzuerkennen. Den Tod seines Vaters zu sühnen, mordet der Sohn die Mutter. Sicherlich schreibt sich diese Tat aus Loyalität des Sohnes zum Vater und zu dem von diesem vermittelten Ethos der

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Blutrache her. Aber das Entsetzen vor solcher Barbarei, in seiner Kultur gang und gäbe, ist nicht das Einzige, das den Hin- und Hergetriebenen quält. Mit dem Mord an seiner „doch verehrten" — das heißt, von einem sittlichen Tabu umhegten — Mutter hat Orest unwissentlich gegen das noch bindendere Gesetz verstoßen, dem zufolge die Mutter dem Sohn unberührbar ist. Klytämnestra hat ihren Gatten verraten und sich dem Werben eines Fremden ergeben. So wird sie für den jungen Sohn erreichbar; und in die Vaterrache fließen unversehens dunkle Impulse hinein, die die Mutter begehren und sie besitzen wollen. Indem Orests Dolch die Mutter durchsticht, durchdringt er sie in seiner Phantasie. Daß Goethe in der Tat eine so moderne Motivierung von Orests Muttermord im Sinne hegte, geht deutlich aus der großen Bekenntnisszene hervor. Die reine Liebe Iphigeniens verkennend, legt der Verstörte die Dringlichkeit der ihm unbekannten Priesterin als weibliche Annäherungsversuche aus. Diese erotisch geladene Phantasie ist es, die den in sich Verschlossenen so aufwühlt, daß er an längst Vergangenes rühren und seiner Erinnerung freien Lauf lassen kann. Die gegenwärtige Erregung bringt die ursprüngliche, „ins klanglos-dumpfe Höhlenreich der Nacht" verdrängte, engverwandte zurück. Jetzt erst, von Iphigenies „holdem Mund" bezwungen (III, 1), vermag er es, sich seine orgiastische Tat ins Gedächtnis zurückzurufen: Doch sein geschwungner Arm* traf ihre Brust (111,1), entringt es sich ihm; jetzt erst, da er, von der Halluzination ihrer liebevollen Rache verfolgt, der Schwester in genauer bildlicher Entsprechung zuruft: Ja, schwinge deinen Stahl,* verschone nicht (III, 1), vermag er es, die Raserei von Liebe und Haß, die in seiner Seele gleichsam eingefroren war, aus ihrer Gefangenschaft zu befreien und den Starrkrampf des Erinnerten nachfühlend zu lösen. Orestes also durchdringt die „doch verehrte" Mutter in seiner Phantasie, wie Ödipus Jokasta in der Wirklichkeit durchdringt. Halten wir an dieser Parallele zweier Männerschicksale fest und wenden wir uns der reinen Schwester zu. Wie Iphigenie nach Tauris kam, ist allbekannt. Sie vor unzeitigem Tod von ihres eigenen Vaters Hand zu bewahren, wurde sie von der jungfräulichen Diana zu dem entlegenen Inselreich getragen. Zweimal * Hervorhebungen I. G.

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schildert sie den Anschlag Agamemnons auf ihr junges Leben; einmal in ihrer anfanglichen Unterredung mit Thoas: Sie lockten mit der Mutter mich ins Lager; Sie rissen mich vor den Altar und weihten Der Göttin dieses Haupt. — (I, 3); sodann im letzten Aufzug, wieder im Gespräch mit dem König: Ich habe vorm Altare selbst gezittert, Und feierlich umgab der frühe Tod Die Kniende: das Messer zuckte schon, Den lebenvollen Busen zu durchbohren — (V, 3). Indes, Diana gewährt, die „Jungfrau einer Jungfrau" (I, 2), ihren Schutz: Sie wollte nicht mein Blut...(I, 3), beteuert Iphigenie dem König, ihre Ankunft in Tauris erklärend. An diesen Berichten fällt das Ausweichende von Iphigenies Formulierungen auf. „Sie* lockten mich...", sie* rissen mich...", lesen wir; und in der folgenden Schilderung ist gar das zuckende Messer das grammatische Subjekt. Agamemnon aber, der eigentliche Urheber der Greueltat, wird nicht genannt. Verbunden damit ist Iphigenies grenzenlose Idealisierung ihres Vaters. Ist er doch derselbe, der ihr Leben militärischen Rücksichten aufopfern wollte. Dennoch lebt sein Andenken in ihr als „der göttergleiche Agamemnon" (I, 1) und als „Muster des vollkommnen Manns" (I, 3) fort. Hier drängt sich dem Interpreten, der Orestes' Muttermord so auslegt, wie ich es getan habe, eine bedeutsame Parallele auf. In Orests: Doch sein geschwungner Arm traf ihre Brust... und Iphigenies: das Messer zuckte schon, Den leben vollen Busen zu durchbohren... werden uns die entscheidenden Ereignisse im Leben der Geschwister in der identischen Metaphorik übermittelt. Diese Bilder wollen also zusammengesehen werden. Die spiegelartige Symmetrie dieser zwei epochemachenden Begebenheiten überrascht. Was will sie besagen? In dieser Symmetrie sowie in der emphatischen Betonung der Jungfräulichkeit von Dianas Schützling liegt der Schlüssel zu Iphigenies Inkonsequenz einem Vater gegenüber, den sie vergöttert, obschon er sie ermorden wollte. Wie inzestuöse Motive in den Racheakt des Sohnes an der Mutter hineinspielen, so tauchen sie auch schattenhaft in und hinter der kultischen Handlung

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auf, in welcher der Vater die geliebte älteste Tochter aufzuopfern bereit war. Der Mann durchdringt die Mutter im Gewaltsakt; die Frau wird von dem Vater nahezu durchdrungen — beinahe, aber dann doch gerade nicht. 3. Diese scheinbar geringfügige Abweichung in der Geschichte des Geschwisterpaars hält uns dazu an, auch der tiefgreifenden Differenz zwischen den beiden Konfigurationen, der männlichen und der weiblichen, zu gedenken. Dies Frauenschicksal ist vor allen meins (I, 2), klagt die, wie sie wähnt, durch die Verbannung aus der Heimat zu unfruchtbarer Passivität verdammte Priesterin Dianas; und damit meint sie nicht nur, daß sie nicht frei wählen und tun darf wie ein Mann, daß sie ihr Exil auf sich nehmen und, statt die Entsühnung ihres Stammes zu vollbringen, einer undurchsichtigen Fügung harren muß, die sie nicht abzuändern oder zu beschleunigen vermag. Die Gültigkeit von Iphigenies Aussage reicht bis in die frühe Kindheit, ja bis in biologische Bezirke hinein. Beginnt doch Iphigenies „Frauenschicksal" In erster Jugend, da sich kaum die Seele An Vater, Mutter und Geschwister band (I, 2), zur Zeit, da das Kind die nach Troja Ausfahrenden an den Strand begleitete —: Und Agamemnon war vor allen herrlich (III, 1). Denn zu jener Zeit kristallisiert sich jene Gefühlsbindung der Tochter an den Vater heraus, die ihr ganzes späteres Leben anzudauern und — wir sahen dies im Falle von Antigone — ihre geistige Physiognomie zu prägen bestimmt ist. Ja, wir dürfen wohl sagen, Iphigenies spezifisches „Frauenschicksal" hebe mit ihrem ersten Atemzug an. Hängen wir der Bedeutung von Goethes Wort — es ist ein generisches Wort — einen Augenblick nach. Ihrer physiologischen Anlage nach ist die Frau weitgehend zum Harren und passiven Erleiden bestimmt. Sie harrt ihrer monatlichen Zyklen, wie sie später, in Schwangerschaft und Niederkunft, zum Harren und Ausdauern geschaffen ist. So ist sie auch im Akte der Empfängnis nicht die tätig Durchdringende, sondern die von einem Andersartigen Durchdrungene. Was hat Iphigenie im Sinn, wenn nicht derlei Ohnmächtigkeiten, da sie von dem „enggebundnen Glück" des Weibes und dessen Gehorsam zu einem „rauhen Gatten" spricht (I, 1)?

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Diese biologisch bedingte, durch keine feministische Bewegung der Heutzeit auszumerzende Mitgift des Harrens und Erleidens zeitigt im seelischen Raum der Frau einen Wesenszug, der in der aggressiv-regressiven geschlechtlichen Anlage des Mannes keine organische Entsprechung hat. Es ist die spezifisch weibliche Begabung zum Sublimieren. Die kraft der frühen Vater- oder auch Bruderbindung freigesetzten erotischen Energien werden nicht physisch ausgelebt. Vielmehr werden sie umgeleitet und nähren das kindliche Über-Ich. Die vom Vater repräsentierten Vierte werden verallgemeinert, das Vaterbild erweitert und vertieft sich und reift allmählich zu einem allumgreifenden, im menschlichen Raum bewahrheiteten Bild des Göttlichen heran. Man darf wohl sagen, dieser Wachstumsprozeß umreiße den Gang von Iphigenies geistig-seelischer Entwicklung. Thoas wird ihr zum „zweiten Vater" (V, 5 und V, 6), und so wird auch die Scheidende den ärmsten Ankömmling aus Tauris „wie einen Gott" (V, 6) empfangen. Diese erneute Bindung früh freigesetzter und allmählich sublimierter erotischer Energien in einer geistig ausgerichteten Existenz ist das, was Sophokles in seiner Antigone darstellt, was Goethe uns mit seinem generischen Wort von Iphigenies „Frauenschicksal" bedeuten will. In einer solchen psychischen Konstellation sieht er die spezifische schöpferische Potenz der Frau verwirklicht. Hier findet ihr biologisches Erbe des Empfangens, des Austragens des einmal Empfangenen und des schließlichen Gebärens seine reife spirituelle Entsprechung. Die von der kindlichen Bindung an den Vater geprägte Priesterin der Diana weiß, daß ihr individueller Weg der geistige ist. Sie gebiert Thoas keinen Erben, auch Pylades nicht; und insofern ist sie eine Entsagende. Dafür aber gebiert sie die Wahrheit in einem zwischenmenschlichen Raum, in dem diese gleichsam noch nicht erfunden worden ist. In einer Welt, in der es von Blutopfern raucht, ist sie nicht willens, ein Gran an menschlicher Substanz zu „opfern", und sei es auch „ein falsches Wort" (IV, 4). Die Ausweitung und Vertiefung jener anfangs ganz intim erlebten Werte, die ihr des Vaters Vorbild ins Gemüt eingeimpft hat, kommt in solchen Wortbildungen Iphigenies wie „Vatergötter" (III, 1) oder „Vaterwelt" (IV, 5) zum Ausdruck. Am beredtsten ist indes der seelische Gestus, in dem sich ihre Bereitschaft zum Sublimieren kundtut, der ihre Gesamtphysiognomie prägt: dies ist der dauernde Aufblick aus den konkreten Verstrickungen des Augenblickes zu den Göttern, im Gebet. Wie Zettel und Einschlag verweben sich in ihrer Existenz die Horizontale und die Vertikale; und immer mehr wird die vertikale Ausrichtung in der teilneh-

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menden Sorge um die Mitmenschen verankert, so wie sich diese in immer zunehmendem Maße innerhalb des Koordinatensystems des Göttlichen erfährt. Dieser seelische Aufblick ist nicht nur Iphigenies Wahrzeichen. Es ist die Gebärde par excellence der schöpferischen Frau, die jedesmal in Erscheinung tritt, wenn es Goethe darum ging, die Umsetzung früher affektiver Bindungen in den beherzten Einsatz für überpersönliche Güter zu dichterischer Gestaltung zu bringen; jedesmal also, wenn er dem Kreativen in seiner spezifisch weiblichen Ausformung nachfrug und Ausdruck verlieh. Man denkt an die natürliche Tochter, die ihre Liebe zum Vater nicht auf den Gerichtsrat überträgt, sondern, das Geschick ihres Landes und ihres Königs am Herzen tragend, einer günstigen Stunde harrt und so, harrend, unserem Blick entschwindet. Ferner denkt man an Ottilie, die ihrer Liebe zu dem viel älteren und offenbar für den Vater stellvertretenden Eduard entsagt, um ihre Pflicht zu tun, so wie sie diese versteht. Auch Hilarie, Natalie mit ihrem „Nie oder immer" des Liebens, die Schöne-Gute und insbesondere Makarie, die ja eigentlich nur aus aktiver Anteilnahme am Göttlichen und an ihren Mitmenschen besteht, dürfen wir wohl dieser Reihe anfügen. Keine dieser Frauengestalten vollzieht den Übergang vom Vater zum Geschlechtspartner vor unseren Augen. Sie alle setzen die erste, in ihrem Leben epochemachende Bindung in die Vertikale um, will sagen, in den Dienst an überpersönlichen Werten, in dem sie, jede auf eigene Art, schöpferisch zu wirken vermögen. Manchmal hat Goethe diese Gabe zum Sublimieren in einer sinnfälligen Gebärde verdichtet. Bereits ganz früh, im ersten Buch der Wahlverwandtschaften, hat der Erzähler Ottiliens schließliche Entwicklung gestisch vorweggenommen. Das junge Mädchen leistet Eduards Bitte Folge, sie möge doch das Miniaturbild ihres Vaters, das sie am Herzen trägt, ablegen, dieweil es sie verletzen könne: „Ottilie schwieg und hatte, während er sprach, vor sich hingesehen; dann, ohne Übereilung und ohne Zaudern, mit einem Blick mehr gen Himmel als auf Eduard gewendet*, löste sie die Kette, zog das Bild hervor, drückte es gegen ihre Stirn* und reichte es dem Freunde hin..." 5 Ist es nicht, als würden wir Augenzeugen einer symbolisch vollzogenen Ablösung von der ersten Bezugsperson in Ottiliens kurzen Leben? In der Novelle Ein Mann von fünfzig Jahren begegnen wir der gleichen Gebärde. Als Hilarie an der Seite des Majors, ihres Onkels, den gemeinsamen Stammbaum beschaut und der Major die Abwesenheit eines näheren 5

Die Wahlverwandtschaften,

I. 7, HA, 6, S. 292.

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Bandes zwischen ihr und seinem Sohn beklagt, dessen Name dem ihrigen gerade gegenübersteht, sagt das junge Mädchen, dem Onkel liebevoll in die Augen schauend: „Und doch wird man denjenigen niemals tadeln, der in die Höhe blickt\"*6 Daß Hilarie mit diesem double-entendre nicht nur das Zwielichtige ihrer augenblicklichen Lage ironisiert, geht aus dem Widerstand hervor, den sie später in der Novelle gegen eine Ehe mit dem nunmehr geliebten jüngeren Mann an den Tag legt. In dieser heiklen Situation bezeugt sie ein so zartes sittliches Gefühl, „... daß zuletzt die Mutter selbst vor der Hoheit und Würde des jungen Mädchens erstaunt zurücktrat, als sie mit Energie und Wahrheit das Unschickliche, ja Verbrecherische einer solchen Verbindung hervorhob." 7 Mit dieser Besinnung auf die psychische Konstitution der geistig produktiven Frau wenden wir uns eine Weile lang wieder dem anderen Geschlecht zu. 4.

Wie ich bereits mehrfach dargetan habe, hat Goethe eine Reihe von Männergestalten mit betont femininem Einschlag geschaffen. Man denkt an Werther und Tasso, an Epimetheus und an Eduard, sowie auch an den Faust der Helena-Tragödie. Ihnen allen eignen Züge, die mit Goethes Wesen und dessen schöpferischem Vermögen in engster Verbindung zu stehen scheinen. Einfühlsam bis zum Selbstverlust, lassen sie sich weitgehend von dem Erlebnis ihrer Umwelt prägen, insbesondere von der Gestalt der Geliebten. Auch sie haben, wie Goethes Frauengestalten, frühe Liebesimpulse in die Bindung an einen geliebten Menschen umgesetzt, der ihnen faktisch unerreichbar ist: Werther an Lottchen, die sich Albert versprochen hat, Tasso an die Prinzessin, die anderen Standes ist, Eduard, der selbst verheiratet ist, an Ottilie, die seine Tochter sein könnte, Epimetheus an Pandora, die ihm entschwunden ist, und schließlich Faust an Helena, die eine ontologische Unmöglichkeit darstellt. Indes, sie alle haben das ihnen Versagte in ihr Leben hineingezogen oder begehren, dies zu tun; und man fragt sich, ob diese Unfähigkeit zum Verzicht etwas mit der Tatsache zu tun hat, daß Goethe in ihnen keine vollauf schöpferischen Figuren zu realisieren unternommen hat. Werther und Epimetheus erman-

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Wilhelm Meisters Wanderjahre, II, 3. HA, 8, S. 180. Ebenda, S. 220. Es ist erwähnenswert, daß Hilarie im weiteren Verlauf des Romans schöpferische Züge bekundet: sie wird zu einer begabten Malerin.

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gelt es bei aller Intensität des Gefühls an Gestaltungskraft; Eduard empfindet sich selbst als Epigonen. Nur Faust und Tasso erheben sich zu schöpferischer Statur: Faust zeitweilig, und selbst der Poet Tasso durchlebt in der Phase seiner Existenz, in die der Verlauf des Stückes fallt, eine temporäre Ebbe seiner Schaffenskraft. Die soeben angedeutete Verbindung zwischen dem Anspruch auf Liebeserfüllung und kreativem Unvermögen benötigt und verdient es, etwas eingehender erörtert zu werden. Dies zu tun, wende ich mich einem einigermaßen rätselhaften Vers aus dem Eingangsakt von Faust II zu. Er lautet: Denn das Naturell der Frauen Ist so nah mit Kunst verwandt (Z. 5106 f.). Versuchen wir, diesen anscheinend so leicht hingeworfenen und von Kritikern nicht recht bedachten Zweizeiler in dem gegenwärtigen Kontext auszuloten, und sehen wir, ob er sich, so beleuchtet, unserm Blick erschließt. Über „das Naturell der Frauen" haben wir bereits eingehend gesprochen. Iphigenies individuelles „Frauenschicksal", sagten wir, hebt damit an, daß sie vor dem Zugriff ihres Vaters verschont bleibt. Diese Bewahrung ermöglicht ihr die Umsetzung früher Liebesimpulse in jene energische Geistigkeit, die der Echtheitsstempel ihrer Persönlichkeit ist; sie gibt ihr den seelischen Vorsprung, der sie dazu befähigt, den zerrütteten Bruder zu heilen und aus innersten Ressourcen eine Welt der Wahrheit zu „erfinden". In dieser reinen Spiritualität Iphigenies — oder auch Antigones —, einer Spiritualität, die indes mit aufgespeicherten libidinalen Energien geladen ist, erblickten wir eine der Wurzeln, ja vielleicht sogar die Wurzel ihres schöpferischen Vermögens; und dasselbe Bild ergab sich bei der Betrachtung von Goethes anderen kreativ angelegten Frauenfiguren. Indes, ein solches selbstentäußerndes In-sich-Ruhen ist fraglos der Frau gemäßer als dem Mann, dessen aktive biologische Rolle im Geschäfte der Begattung und Fortpflanzung per definitionem ein Maß an Aggressivität nach sich zieht. So ist es denn für ihn ein wesenfremderes Unterfangen, seinen vitalen Impulsen Einhalt zu gebieten und sie in geistig-schöpferische Kanäle umzuleiten. Faust gelingt dies zweimal, eine kleine Weile lang, beidemale bei seiner ersten Begegnung mit den Frauen seines Lebens. In der schönen Szene Abend, auf Gretchens Großvatersessel, vor ihrem Himmelbett, sieht er gleichsam vor seinem inneren Auge das Weben des Erdgeists, und selbstverlorene Kontemplation hält der soeben entzündeten

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Begierde die Waage. Der Protagonist des zweiten Teils wiederum ist seiner kreatürlichen Triebe mächtig, solange er um Helena wirbt. Während dieser Phase vermag er durch ein nahezu interesseloses Wohlgefallen ihre so radikal ungesicherte Existenz im Hier und Jetzt des ästhetischen Augenblicks zu verankern. Beides sind zeitlose Spannen reinster, und schöpferischer, Befriedung. Indes, solche Genügsamkeit ist kurzlebig. In der Gretchentragödie siegt alsbald das Komplott mit Mephisto, das schlichte Kind mit Gold zu bestechen, über die selbstlose Lust des reinen Schauens. Was Helena anbelangt, hatte Faust sich nicht bereits bei ihrem ersten Anblick an ihrem Schemen vergriffen? So auch zieht er sie nach den wahrhaft gestillten Augenblicken seines Werbens in die Verstrickungen der Liebesbeziehung hinein, in der er — wir haben es gesehen — das schlechthin Unerlaubte tut und in der Geliebten die Mutter umarmt. Tassos Verhältnis zu der Prinzessin ist analogen Schwankungen unterworfen. Bald ruht er in sich selbst und seinem Schöpfertum, und in solchen Momenten vermag er zu sagen: Ihr bin ich, bildend soll sie mich besitzen...(II, 2), vermag ihr den lustvollen Prozeß des Schaffens um ihretwillen auszumalen. Dann wieder brechen die angestauten erotischen Energien ins Offene los, und er widerruft seine Entäußerung, denn eben sie Zerstörte frech Mein eignes Selbst, dem du so ganz gehörst —(V, 4); ein Akt seelischer Besitzergreifung, dem der fatale Kuß auf dem Fuße folgt. Antonio faßt dieses Oszillieren Tassos zwischen schöpferischer Bescheidung und aggressiv-männlicher Selbstbehauptung mit großer Treffsicherheit zusammen. ... Bald Versinkt er in sich selbst, als wäre ganz Die Welt in seinem Busen, er sich ganz In seiner Welt genug, und alles rings Umher verschwindet ihm. Er läßt es gehn, Läßt's fallen, stößt's hinweg und ruht in sich — Auf einmal, wie ein unbemerkter Funke Die Mine zündet, sei es Freude, Leid, Zorn oder Grille, heftig bricht er aus: Dann will er alles fassen, alles halten, Dann soll geschehn, was er sich denken mag...(III, 4).

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Diese Worte transzendieren in ihrer Gültigkeit Tassos Individualität; und Goethe war sich dessen voll bewußt. In dem kreativen Mann ist ein Spannungsverhältnis zwischen sublimierten erotischen und unverblümt libidinalen Impulsen eine nahezu unausweichliche Notwendigkeit. Sobald er schöpferisch wirkt, und das heißt, in seiner Eigenschaft als Künstler, muß er seine vitalen Triebe für seine Arbeit verfügbar machen. Dies bedeutet nun aber, daß er, wie die produktive Frau, seine gestaltungsträchtigsten Energien von jedem erreichbaren Bezugsobjekt zurückzieht und in einem geistig-seelischen Verhältnis investiert, das seinem Schaffen einen stetigen Auftrieb gibt, ohne dessen Intensität zu vermindern. In solchen produktiven Phasen wird der Mann vorzugsweise einer erotisch getönten aber sexuell unerfüllten, will sagen, einer in der Wirklichkeit unrealisierbaren Liebesbeziehung nachhängen. Umgekehrt könnte man sagen, daß eine erotisch machtvolle aber sexuell unbefriedigte Beziehung in einem Künstlerleben häufig eine ausnehmend schaffenskräftige Periode in die Wege leitet. Ich persönlich ziehe die anfangliche Formulierung vor; aus ihr geht klarer hervor, daß der Künstler in seiner Eigenschaft als Künstler unbewußte menschliche Wahlen trifft, die primär aus seinem Schaffensdrang entspringen und diesem voranhelfen. „Die ferne Geliebte" ist beileibe nicht Beethovens Entdeckung. Wir stehen hier vor einer uralten zwischenmenschlichen Konfiguration, die in Plato, im Marienkult oder sogar noch früher beheimatet ist; und die Gestalt einer solchen fernen Geliebten — nennen wir sie nun Charlotte Buff oder Charlotte von Stein, Minna Herzlieb, Marianne von Willemer oder auch Ulrike von Levetzow — gehört primär nicht in das Kapitel von Goethes persönlicher Pathologie, wie Thomas Mann vermutet, 8 sondern in das der Pathologie Goethes in seiner Eigenschaft als Künstler. Mit diesen Vorbesinnungen sind wir im Zentrum der gegenwärtigen Reflexion angelangt: bei Goethes Anschauung von der Pathologie des schöpferischen Mannes. Um produktiv wirken zu können, ist dieser gedrungen, seinem ödipalen Verhaltensmuster zu entsagen und sich der psychischen Konstitution — Goethe sagt: „dem Naturell" — der Frau anzuverwandeln, sei dies nun ein zeitweiliger oder ein permanenter Rollen-

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Mann spricht bedauernd davon, daß Goethes bedeutsame Beziehungen zu Frauen sexuell unerfüllt blieben, und daß er sexuelle Befriedigung ausschließlich in erotisch belanglosen Verhältnissen wie dem zu seiner Frau Christiane erfuhr. Er leitet diese Querköpfigkeit aus Goethes erzieherischem Ethos her. In: ,Goethe und Tolstoi' in: Leiden und Größe der Meister, Frankfurt am Main und Hamburg, 1959, S. 96 f.

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Wechsel. Er muß seinem ungestüm andringenden Wesen die weiblichen Eigenschaften von „Rat, Mäßigung und Weisheit und Geduld" einverleiben. Wie die empfangende und austragende Frau muß er sich von der Vision prägen lassen, die von ihm Besitz ergreift, und, demutsvoll und unbeirrt wie die Frau, dem in ihm Werdenden und Wachsenden seine kostbarsten Energien zuführen. Wenn das Mädchen den unerreichbaren Vater anbetet, so widmet er sich einer fernen Geliebten, und der so ausgelöste Eros findet seine indirekte Erfüllung in dem Verhältnis zu seinem künstlerischen Medium; und hier, in der zentralen, gestaltenden, Schaffensphase seiner Anpassung an weibliche Verhaltensmuster tritt nun auch wieder der männliche Pol seines Wesens in Erscheinung. Nochmals mag uns Tasso zum Beispiel dienen. Was wünscht sich der Poet in dem Augenblick, da er sich, bildend, ganz der Prinzessin widmet? O hätt' ein tausendfaches Werkzeug mir Ein Gott gegönnt, kaum drückt' ich dann genug Die unaussprechliche Verehrung aus. Des Malers Pinsel und des Dichters Lippe, Die süßeste, die je von frühem Honig Genährt war, wünscht' ich mir (II, 2). Jetzt, da es zum Gestalten des einmal Empfangenen kommt, überwiegt urplötzlich eine entschieden männliche Denk- und Sprechform. „Werkzeug", „Pinsel" und Bienenrüssel — das Bild, das hinter der Metapher der honiggenährten Dichterlippe steht —: dies sind phallische Symbole; und die Hyperbolik von „tausendfach" bezeugt den Andrang erotischer Energien, die durch das vorausgehende, kaum verhohlene Liebesgeständnis der Prinzessin freigesetzt worden sind. Indes, solch sinnliche Impulse strömen unverzüglich dem künstlerischen Medium zu, das seine eigene intensive Süße birgt; und die überbordende Leidenschaft für die Prinzessin weicht dem beruhigtem Bewußtsein seiner „unaussprechlichen Verehrung". So, und nur so, durch eine derartige Umschaltung des gesamten vitalen Haushalts auf ein anderes seelisches Geleise, vermag dieser vulkanische Mensch — vermag der produktive Mann überhaupt — seiner Berufung und der geliebten Frau zugleich die Treue zu bewahren. Wie und wann in der Existenz des kreativen Mannes diese Transponierung von einem maskulinen zu einem primär femininen Verhaltensmuster statthat, ist kaum generell auszumachen. Genetische Faktoren sowie früheste Kindheitserlebnisse dürften bei der Bereitschaft dazu im Spiel sein. Fraglos wird diese Anverwandlung durch einen mehr oder minder bewuß-

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ten Stilwillen bestärkt, den der schöpferische Mann in sich kultiviert. Gestalten wie Meister Eckhart und Sankt Johannes vom Kreuz oder andererseits Dante, Heinrich von Meissen, Novalis und Rainer Maria Rilke — man beachte das Pseudonym „Frauenlob" und den Mittelnamen von Rilke! — geben sich gern als Harrende, Empfangende, Austragende, die das gebären, was ein übermächtiger Anhauch in ihnen eingepflanzt hat; und Goethe ist hier beileibe keine Ausnahme. Ebenso fraglos ist, daß eine solche Anverwandlung des produktiven Mannes an weibliche Verhaltensmuster und deren Vollzug im quasi-biologischen Raum seines Schöpfertums eine Art künstliche Neurose darstellt, der er sich um so williger unterzieht, als sie ihre eigenen Gegengifte mit sich führt. Das maskulin getönte Verhältnis des Künstlers zu seinem Medium haben wir bereits erwähnt; und die Lust geistigen Gebärens ist zweifellos eine hohe Kompensation für das weibliche Prärogativ par excellence, das der Mann der Frau neidet. Dennoch: Schöpfertum ist Neurose. Indes, Zivilisation als Gesamtphänomen ist Neurose; ein Tatbestand, der Goethe längst vor Freuds Unbehagen in der Kultur durchscheinend klar war. Man denke nur an sein Wort von der „ganz verteufelt humanen" Iphigenie,9 an die abgrundtiefe Resignation von Leonore D'Estes „Ich bin gesund, das heißt, ich bin nicht krank", 10 oder auch an Goethes Reaktion auf die Ankündigung des dritten Teils von Herders Ideen-. „Auch... halt' ich es für wahr, daß die Humanität endlich siegen wird," schreibt er: „nur fürcht' ich, daß zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des andern humaner Krankenwärter sein werde." 11 Zivilisation ist Krankheit, und wir legen die Krankheit nur zusammen mit unserer Menschheit ab. Das „Wie" unseres Krankseins aber sind wir frei zu wählen; und Nietzsches immer erneute Beteuerung, er wolle nicht sein Glück, er wolle sein Werk, ist nicht die billigste Antwort, die wir geben können. 5.

Wir haben, so meine ich, wenigstens einen Teil der Implikationen von Goethes sonderbarem Vers ausgelotet, das Naturell der Frauen sei „so nah der Kunst verwandt". Der kreative Mann bejaht sein weibliches Erbe und kultiviert es nach Kräften. Goethe selbst lebte seine Weisheit, indem er,

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An Schiller, 19. Januar 1802. WA, IV, 16, S. 11. Torquato Tasso, III, 2. Z. 1819. Italienische Reise, Neapel, 27. Mai 1787. HA, 11, S. 332.

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der überaus weiblich Begabte, diese Potenz als unschätzbares Geschenk annahm und in sich hegte. Vielleicht erschuf er darum so viele Frauengestalten mit einer schöpferischen Ader. In ihnen spürte er dem Gesetz seines eigenen Wesens nach. Schienen sie doch besser in das Modell produktiver Sammlung zu passen, das ihm vor Augen stand, als der ödipale Mann, der ewig nach dem greift, was ihm ewig versagt ist. Aus solchen Perspektiven erklärt sich denn auch Goethes Scheu vor dem Geschlecht, die unverkennbar ist, wenngleich sie uns in diesem lebensund liebebegabten Menschen als seltsam bis zum Paradoxen anmutet. Ich habe diesem Zug in einem anderen Kapitel der hiesigen Studie nachgespürt, die möglichen Gründe dafür aber weitgehend auf sich beruhen lassen.12 Hier nun ist der Ort, das Versäumte kurz nachzuholen. Ich glaube keineswegs, daß der Mensch Johann Wolfgang von Goethe per se vor dem Geschlecht zurückschreckte, wie zum Beispiel Thomas Mann anzunehmen scheint. 13 Vielmehr bin ich der Meinung, daß es der Schöpfer in ihm war, der an jener gleichsam freiwillig aufgepfropften Neurose zu tragen hatte, von der ich bereits sprach. Dieser war es, er, der Künstler, der sich zu bewahren hatte und seine kostbarsten Kräfte für sein Werk aufsparte, der von jung auf an dem Leerlauf der ewig gebärenden, ewig verschlingenden Natur in ihrer verzehrendsten Erscheinungsform tierischen Geschlechtes litt, in dessen Phantasie Bilder des weiblichen Schoßes mit solchen von „der Verwesung Schoß" (Faust I, Z. 798) sowie dem „Schoß der alten Nacht" (Faust II, Z. 8649) unlöslich verquickt lagen, und das besagt, verquickt mit uranfanglichem Chaos und Entstaltung. Nicht nur wurzelt das schlechthin Häßliche, Entsetzenerregende „in der Schönheit Land" (Faust II, Z. 7978): zumindest für das Faust-Drama läßt sich diese Aussage genau so gut umkehren und sagen, das Schöne, gänzlich Vollendete, ja, die Gestalt aller Gestalten, Helena also, entspringe amorphen Tiefen. Dies zu bedeuten ist ja der Sinn der Monstrositäten, die die Klassische Walpurgisnacht bevölkern. Wenn der so liebebedürftige und begabte Goethe vor dem Phänomen des Geschlechts — und das heißt ja wohl: des weiblichen Schoßes — zurückscheute, so deswegen, weil er sich als schöpferischer Mann auch nicht in dem reizendsten Abgrund verlieren durfte. Ihm als Schaffendem mußte eine restlose Selbstverausgabung auf der biologischen Ebene zum kritischen Problem werden.

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Siehe Kapitel 17. Siehe Anmerkung 8.

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Diese Reaktion ist bei weitem nicht so abwegig, wie es scheinen mag. Der weibliche Schoß, wie Ödipus und wohl auch Faust ihn erleben, ist Nacht und Tod und Sphinx. In ihm untertauchen heißt Grauen mit Süße überdecken. „Wonnegraus" ist das Wort, das Gretchens Faust dafür findet (Z. 2709). Daß jeder Mann den salto mortale in das andere Geschlecht unbewußt irgendwie so empfindet, als eine schauerlich-lustvolle, aggressivregressive Rückkehr in den Leib der Mutter, ist die Ansicht heutiger Psychologen. 14 Faust, der sich in dem Schoß der Mutter-Geliebten verliert, muß geblendet werden, sowie Ödipus sich das Licht der Augen rauben muß. Wenn Orest sich schließlich seiner Greueltat zu erinnern wagt, muß er in geistige Umnachtung verfallen. Diese Männer haben in verbotene Tiefen geblickt; sie haben sich in Abgründen der Regression verloren, die der Frau ihrer Anlage und spezifischen Entwicklungsform nach gnädig verhüllt bleiben. Führt kein Weg aus dem Dilemma der thebanischen Sphinx? 6.

Hier endlich nehme ich die Frage auf, die ich zu Anbeginn dieser Betrachtungen zweimal gestellt und beidemale vertagt habe. Wie ziehen sich Faust und Orest aus der inzestuösen Schlinge, in welcher sie verwickelt sind? In gewissem Sinne ist Goethes Antwort die gleiche, die Sophokles uns vor rund zwei und ein halbtausend Jahren gegeben hat. Alle drei Männer, die die tiefsten Abgründe durchschritten haben, erheben sich zu den höchsten Höhen; sie, die sich vermessen haben, zu viel zu sehen, werden Seher — eine Spannweite der Entwicklung, die durch physische Blendung oder die Verblendung des Wahnsinns führt und die zu durchlaufen Goethes Frauengestalten erspart bleibt. An der Weisheit des geblendeten Ödipus, ja an seinem boßen Dasein hängt das Schicksal von Athen. So auch sieht der blinde Faust vor seinem inneren Auge das Geschick der von ihm gegründeten Gesellschaft. Der Visionär erblickt eine Landschaft und darin Menschen, die, abgedichtet von der Wut des Meeres und dennoch in gefahrvollem Umgang mit ihm, ein fruchtbares Gefilde bewohnen und kultivieren. In diesem Äußeren erschaut der Sterbende ein Inwendiges: sein eigenes Schöpferisches, nunmehr tief im Innersten gehegt, noch immer aber in fruchtbar-gefahrlichem Kontakt mit dem Elementaren, dem Urquell aller Schaffenskraft. Es ist ein Bild sublimiertester Kreativität, das der einstmals so Getrübte vor seinem geistigen Auge sieht. 14

Siehe Anmerkung 2.

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Und Orest? Er, der eben noch in der Nacht des Wahnsinns Rasende ist es, der Apolls Orakel auf den Grund kommt, er, dem sich dessen Zwielichtigkeit in einer symbolischen Schau enthüllt: Wir legten's von Apollens Schwester aus, Und er gedachte d i c h ! (V, 6.) In Symbolen denken aber heißt die Einmaligkeit und Unausweichlichkeit von Konfigurationen transzendieren, die ins Unbewußte verbannt worden sind. Auf die eine Mutter und den einen Vater, seine Mutter und seinen Vater, war Orestes' Phantasie fixiert gewesen, wie aus der grausamen Präzision sinnfällig wird, mit der sich der Moment der Bluttat seinem Blick eingeätzt hat, scheinbar für alle Ewigkeit: Du siehst mich mit Erbarmen an? Laß ab! Mit solchen Blicken suchte Klytämnestra Sich einen Weg nach ihres Sohnes Herzen; Doch sein geschwungner Arm traf ihre Brust. (111,1). Dieser Krampf des allzu Starren, gleichsam Eingefrorenen wird durch die Beweglichkeit des Symbols gelöst. Die Schwester, und zumal die reine Schwester, die Priesterin, ist jedermann gleich ferne und gleich nah. Sie meint eine Qualität des Bezogenseins mehr denn eine spezifische Person. In dem heilenden Erlebnis dieser letzten Lauterkeit kommt der Gehetzte endlich zur Ruhe. Indes, in einem noch strengeren Sinne ist Orestes' Geistesblitz eine seherische Tat. Er ist es, dessen Blick sich Iphigenies ferneres Schicksal offenbart. Die Göttin nahm die Schützerin des Hauses weg, Gleich einem heil'gen Bilde, Daran der Stadt unwandelbar Geschick Durch ein geheimes Götterwort gebannt ist...(V, 6). Welch ein seltsam transponiertes Echo von Ödipus auf Kolonusl Der Dichter fügte diese Zeilen erst nach einigem Zögern hinzu — in der Prosafassung des Textes erscheinen sie noch nicht —; und man fragt sich, ob er es ursprünglich erwog, sie Orestes, dem eigentlichen Nachfolger des Ödipus, zuzuspielen. Wenige Jahre später hätte er es wohl getan, als er, auf der Campagne in Frankreich, von Freunden gedrängt, direkt nacheinander seine eigene Iphigenie und den „heilig-erhabenen" Sophokles vorlas und in seinem verhärteten Gemütszustand beide gleich unerträglich fand.15 Da 15

Campagne in Frankreich,

Pempelfort, November 1792, HA, 10, S. 310f.

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muß es ihm über allen Zweifel hinaus aufgegangen sein, wie angemessen für den Muttermörder und den eigentlich ödipalen Mann das Motiv des Sehers war. Wenn er es in der noch stark von Charlotte von Stein geprägten Schaffensphase, in der er sein gräzisierendes Stück zum Abschluß brachte, dennoch der reinen Schwester zuerteilte, so doch wohl, um Maß vorwalten und dem chaotischen Bruder kein übergroßes Gewicht zukommen zu lassen. Dergleichen Erwägungen entziehen sich indes einem strengen philologischen Nachweis. 7. Es ist an der Zeit, den bisherigen Gang meines Argumentes zu überschauen und uns in einem kurzen Rückblick die Prototypen zu vergegenwärtigen, in denen sich Goethe in immer erneuten Anläufen zum Verständnis seiner selbst als schöpferischem Menschen vortastete. Auch die Gestalten, in denen sich seine Suche verdichtet, tun dies, auf jeweils individuelle Weise. Der überwiegend maskuline Mann, dessen Vorbild Ödipus ist, spürt dem Schöpfergeheimnis seiner selbst auf einer primär kreatürlichen Ebene nach. Indem er die Mutter umarmt, löst er das doppelte Mysterium seines Ursprungs und seiner eigenen Produktivität. Die Auswirkungen solch inzestuösen Trachtens und Tuns sind — wir haben es gesehen — katastrophal. Es führt in tiefste Wirrnis und „heilig-erhabenen" Verzicht. Für einen Goethe konnte ein so tragisch-chaotisches Modell im Letzten nicht befriedigend sein. Deshalb bedurfte er für seinen Faust, dessen Protagonist nach diesem Muster gearbeitet ist, jener ätherischen Schlußszenen in einem von jedem peinlichen Überrest gesäuberten, überirdischen Raum. Darüber wird noch zu sprechen sein. Der produktiv begabten Frau bleiben solche Irrungen erspart. Wo der Mann mit Verzicht aufhört, fangt sie mit Selbstentäußerung an. Das Nachbild des geliebten Vaters wird ihr zum Vorbild, und sie schafft sich eine geistige Welt, in der sie die urtümliche Lust und Qual biologischen Schöpfens mehr oder minder lebensvoll nachvollzieht. Indes, den bedeutenden Frauengestalten dieses Dichters haftet etwas maskulin-Herbes, zuweilen auch etwas Blasses und Gebrechliches an. Man denkt an Iphigenie und Eugenie, dann wieder an Natalie und Ottilie, schließlich an Mignon und Makarie. Ihnen allen ermangelt es im vorneherein an „der eigentlichen Lust des Sinnespieles", wie Goethe in einem anderen Kontext sagt. 16 Was 16

Die Jahre nahmen dir... West-östlicher Divan, Buch der Betrachtungen. HA, 2, S. 39.

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der Dichter in solchen Frauenfiguren an kreativem Vermögen investierte, ist fraglos mit dem Herzblut ihrer naiven Ungebrochenheit erkauft. Noch verbleiben die vielen Männergestalten Goethes mit betont femininem Einschlag. In diesen ist Goethe, zumindest streckenweise, den Spuren seines eigenen Genius' gefolgt. Überaus einfühlend und prägsam, geht ihr Lieben auf etwas, das faktisch unerreichbar ist. Aber ihnen allen gebricht es an Zielsicherheit und Entschlußkraft, an Tüchtigkeit, ja an einem Schuß von Derbheit. Das „Drein greifen, packen" 17 bereits des jungen Goethe ist nicht ihre Sache, weder in Fragen der Liebe noch in solchen der Kunst. Labil und unschlüssig wie sie sind, schwanken sie zwischen Leidenschaft und Gestaltungsdrang und haften an dem, was ihnen versagt ist, ohne reinlichen Verzicht. Auch diese indulgenten Gestalten waren nicht das Gefäß, in das der ebenso Zarte wie Erdnahe sein Selbstverständnis als schöpferischer Mann hineingießen konnte. Was bleibt? 8.

Es bleibt zuvörderst der einzige Egmont. In diesem durch und durch musischen Tatenmenschen ist jeglicher Zwiespalt zwischen kreatürlichen und kreativen Impulsen ausgelöscht, vielleicht weil er als Lebenskünstler sein Triebleben selbst zur Höhenlage der Kunst emporsteigert und gestaltet. Indes, diese strahlende Vision eines jugendstarken Genies zu wiederholen war dem Dichter in seinem langen Leben nicht beschieden, jedenfalls nicht im epischen und dramatischen Raum. Wir fragen also wieder: was bleibt? Zwischen Sophokles' Trilogie und Goethes Leben und Wirken begab sich das folgenreichste Ereignis in der Geschichte der abendländischen Welt. Dies ist die Ankunft des Christentums. In dem christlichen Dogma wird die ödipale Tragödie mit anderer Besetzung wiederholt und entpuppt sich als das Mysterienspiel der Trinität. Auch hier findet eine Selbstzeugung statt, wie wir ihr schon zweimal begegnet sind. In Gestalt des heiligen Geistes zeugt sich Gott der Vater in der Menschentochter Maria fort und wird in ihr zu seinem eigenen Sohn, wie Maria zur Mutter Gottes wird. Durch dieses Inkarnationsparadox — „figlia del tuo figlio" dichtet Dante, 18 und bei Alanus ab Insulanis heißt es „Nata patrem natumque parens

17 18

An Herder, Mitte Juli 1772. WA, IV, 2, S. 17. II Paradiso, Canto XXXIII.

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concepit" 19 — wird Ödipus' gigantische Entgleisung auf eine neue Ebene gehoben und endgültig transzendiert. Dieses Dogma aber stand dem Dichter des Faust zu Gebote. Kritiker haben die Tatsache vermerkt, daß Plutus-Fausts Geleitwort an Knabe Lenker — „Mein lieber Sohn, an dir hab' ich Gefallen" (Z. 5629) — das Echo der Worte Gottes bei Jesu Taufe ist. Somit wird bereits im Eingangsakt des zweiten Teils Faust mit Gottvater in Verbindung gebracht, Euphorion aber, der Goethes eigener Aussage nach mit Knabe Lenker identisch ist, 20 mit Christus. Betrachten wir „das köstliche Drei" des dritten Aktes, also Faust, Helena und Euphorion, abermals im Lichte dieser formalen Verknüpfung. Zeus-Faust, sagten wir, hat Helena aus Leda, der „Mutter", gezeugt, so wie er sich später die Geliebte von den „Müttern" holt, und wird dergestalt in Euphorion zu seinem eigenen Sohn. Die vorausgehende Gleichsetzung von Faust mit Gottvater und von Euphorion mit Christus bestätigt unsere anfangliche Vermutung, daß Goethe hier eine Selbstzeugung Fausts im Sinne hegt. Somit erschließt sich für den aufmerkenden Leser der Parallelismus zwischen dem säkularen und dem heilsgeschichtlichen Paradox als dichterisch voll gezielte Absicht. Indes, in dem Helena-Akt bewegen wir uns in einem heidnischen Raum; und das ödipale Muster des Trios, von dem wir sprachen, bleibt in voller Kraft, mit den katastrophalen Konsequenzen, die uns bekannt sind. In den Endszenen des fünften Aktes jedoch werden wir in eine christliche Landschaft versetzt; und hier rührt der Dichter durch die jungfräulichmütterliche Gestalt Marias an das dahinterstehende Trinitätsparadox des Vaters, der sich in der Tochter die Mutter schafft und zum Sohn der eigenen Tochter wird. Die Worte: Jungfrau, rein im schönsten Sinn, Mutter, Ehren würdig (Z. 12009 f.) enthalten dieses Inkarnationsparadox gleichsam in nuce; ja, in einer früheren Fassung des letzten Auftritts hatte der Dichter mit dem Gedanken gespielt, den eingeborenen Sohn auf dem Arm der jungfräulichen Mutter erscheinen zu lassen. 21 In diese urchristliche Landschaft wird nunmehr Faust hineinversetzt, anfangs in Gestalt des Anachoreten Doctor Marianus, jenes anderen akade19

Anticlaudianus, SP. II, S. 362. Zitiert in E. R. Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, neunte Auflage, Bern und München 1978, S. 52.

20

Zu Eckermann, 20. Dezember 1829. AGA,

21

Zitiert in WA, I, 15 2 , S. 167 f.

24, S. 379 f.

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mischen Würdenträgers, der offenbar als Fausts Nachfahre im überirdischen Raum gemeint ist. Diesem an die Gestalt von Dantes Sankt Bernhard gemahnenden Vermittler der göttlichen Mittlerin wenden wir uns jetzt zu. Der Name, den Goethe Doctor Marianus verliehen hat, ist vielbedeutend, und im Zusammenhang mit dem in diesem Kapitel Gesagten verlohnt es, ihm einen Augenblick lang nachzuhängen. Es ist der Name eines nicht nur gänzlich der Maria gewidmeten, sondern eines durch und durch von ihrer Gestalt Geprägten und dieser Anverwandelten. Somit rückt Doctor Marianus in die engste Nachbarschaft jener Männergestalten, die von dem Wesen der Geliebten bis zum Punkte der Selbstaufgabe durchdrungen sind: in die nächste Nähe also eines Werther, eines Tasso oder Epimetheus, sowie in die des lyrischen Ich der Elegie von Marienbad. Wir dürfen also schließen, dieser von der Gestalt der jungfräulichen Mutter Gestempelte sei, wie jene soeben erwähnten, ein Mann von betont weiblicher Wesensart. Ja, auf Grund seiner kühnen Namensgebung dürfen wir wohl sagen, er stelle die Krönung dieser gesamten Gestaltenreihe dar. Doctor Marianus betet nunmehr: Höchste Herrscherin der Welt! Lasse mich im blauen, Ausgespannten Himmelszelt Dein Geheimnis schauen* (Z. 11997-12000). Was ich soeben gesagt habe, steht fest. Indes, der so spricht, ist auch ein ausgesprochen männlicher Mann. Zittert doch in diesem Gebet noch der Stoßseufzer nach, der sich im Eingangsmonolog vor einem Menschenalter der Brust jenes anderen Doktors entrungen hat: Fausts brünstiges Begehren, Daß ich erkenne, was die Welt Im Innersten zusammenhält, Schau' alle Wirkenskraft und Samen,* Und tu' nicht mehr in Worten kramen (Z. 382 — 385). In diesen Worten Fausts kündigt sich nicht bloß, oder auch nur hauptsächlich, das theoretische Erbe Swedenborgs an. Aus ihnen spricht die ödipale Lebens- und Liebesgier des weltfremden Gelehrten, der alsbald Gretchen „erkennen" wird, der später Persephone zu entschleiern trachtet, der sich, später noch, Helena von den „Müttern" holt und zu seiner Geliebten macht. In ihnen kommt geradezu programmatisch die Suche des durchaus maskulinen Mannes nach dem eigenen Schöpfergeheimnis zum Ausdruck,

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eine Suche, die — wir sahen es — sich primär auf der kreatürlichen Ebene vollzieht. In diesem Sinne „Wirkenskraft und Samen" „schauen" zu wollen, heißt nichts anderes, als dem Geheimnis des weiblichen Schoßes auf den Grund zu kommen, der ihn geboren hat. Auf den ersten Blick mag es unstatthaft, ja unschicklich erscheinen, zwischen dem so erdverhafteten Wunschtraum des Protagonisten am Eingang des Dramas und dem mystisch reinen Begehren seines Nachfahren an dessen letzten Ende irgendwelchen Gemeinsamkeiten nachzuspüren. Hat uns nicht der Dichter in diesen Schlußszenen in einen von peinlichen Überresten gänzlich gesäuberten Raum hineinversetzt, in dem alles irdische Begehren zu schweigen und das Trauma des weiblichen Schoßes endgültig verwunden zu sein scheint? Ließen wir uns durch dergleichen Bedenken davon zurückhalten, auch noch in diesem Gegenwärtigen Vergangenstes zu sehen, so entginge uns die stupende Leistung des greisen Goethe, Anfang und Ende seines weltumspannenden Dramas nun wirklich in Eins zusammenzuziehen. Selbst in den höheren Sphären des /^»//-Schlusses ist das Trauma des weiblichen Schoßes noch nicht völlig abgeklungen. Pater Profundus' Schau der schlundartigen Niederungen, in die sich sausend ein Wassersturz ergießt, ist eine hochsublimierte Schoßvision; und sind nicht auch die Augen, in die Pater Serapbicus die Seligen Knaben hineinnimmt, eine Variation eben desselben Themas? Indes, selbst dieses mütterlich bergende — nicht verschlingende! — Milieu „schüttelt uns mit Schreck und Grauen" (Z. 11916), wie die Mitternachts-Geborenen klagen; denn: „zu düster ist der Ort" (Z. 11915).22 In solche Zusammenhänge will das Gebet des Anachoreten hineingestellt werden. Marias „Geheimnis" will er „am blauen, ausgespannten Himmelszelt" schauen. Das griechische Wort für „Zelt" aber — „skene" — bedeutet „Kleid", „Kleid von Fleisch". Das Geheimnis, das dieser Entrückte zu schauen begehrt, ist somit immer noch das Schöpfergeheimnis von Fruchtbarkeit und Fleischwerdung, von „Wirkenskraft und Samen". In diesem Falle aber ist es das Mysterium der Fleischwerdung des eingeborenen Sohnes in dem fruchtbaren Schoß der jungfräulichen Mutter, das der Mystiker, nun aber „auf dem Angesicht anbetend" (vor Z. 12096), zu schauen begehrt, wo Faust sich vermißt, das Urgeheimnis der schaffenden Natur sehenden Auges zu erblicken. Es ist somit ein ausgeprägt weiblicher und dabei entschieden männlich konzipierter Mann, den Goethe an das Ende seines Lebenswerks gestellt 22

Hierzu siehe Kapitel 17.

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hat. Auch Faust verbindet betont maskuline und feminine Züge; indes, diese treten wechselseitig hervor und halten sich nur in seltenen Fällen die Waage. Hier nun begegnen wir einer voll integrierten Beidergeschlechtlichkeit; und sie ist es, die der Gestalt des Anachoreten im dramatischen sowie im epischen Raum von Goethes Werk eine nahezu einzigartige Stelle sichert. Was will diese Tatsache besagen? Wie ich diese ganze Studie hindurch konsequent aufzuzeigen suche, konstituiert die Bisexualität Goethes eigenstes, und nachdrücklichstes, schöpferisches Signum. Wo immer sie in Erscheinung tritt, befinden wir uns in der Gegenwart gesteigerten Lebens. Dies spricht sich wohl am reinsten im West-östlichen Divan aus. Mehr als alles andere ist es die vor allen Schicksalsschlägen gefeite Beidergeschlechtlichkeit des lyrischen Ich, die diesem Alterszyklus seinen Fond von unverwüstlicher Lebensfülle und jugendlich-schöpferischer Kraft verleiht. Auch die schließliche Symbiose zwischen Eduard und Ottilie, die am Ende der Wahlverwandtschaften zu Einem Menschen in ungeteiltem Behagen verschmelzen, zeitigt das träumerische Gewahrsein einer gesteigerten Fortdauer dergestalt Vereinigter. Sollte Doctor Marianus die Ausnahme von der Regel sein? Oder düren — müssen — wir nicht angesichts der Vollständigkeit seiner seelischen Mitgift folgern, daß der Dichter auch in diesem Fall Beidergeschlechtlichkeit mit schöpferischer Potenz verknüpft? Versuchen wir, dieser Frage behutsam nachzugehen und wenden wir uns, dies zu tun, einen Moment lang den soeben gestreiften Werken zu. In beiden Dichtungen stehen wir nicht einem Einzelnen, sondern zwei in Liebe verbundenen Menschen gegenüber. In beiden aber ist die Geliebte dem Liebenden unerreichbar, oder sie wird es im Laufe seiner Entwicklung. In den Wahlverwandtschaften lernt Eduard diese, seine Lektion allmählich: „Sie hat sich nicht von mir weg, sie hat sich über mich weg gehoben", kommentiert er gegen Ende des Romans, und kommt zu dem Schluß, eine physische Entfernung von der Geliebten sei nicht mehr vonnöten. Es ist unmittelbar nach diesem Akt des Verzichts, daß der Erzähler die zwei als Einen Menschen anspricht (II, 17). Wiederum: Entsagung ist der Atem, der die Seiten des Divan, nun aber vom ersten Federzug an, durchweht. Die Beziehung des lyrischen Ich zu Suleika ist eine rein ideelle; seine Heiterkeit ist je und je die Helle des „Regenbogens auf schwarzgrauem Grunde". 23 Indes, gerade weil hier von Grund auf und prinzipiell entsagt wird, entfaltet sich ein so souveränes Liebesspiel. Wenn 23

Goethe an Zelter, 10. Juli 1828, WA, IV, 44, S. 179ff.

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das lyrische Ich sagt: „es bleibt Idee und Liebe", 24 so meint es damit, es trage alles, was es nach außen hin preisgeben muß, im eigenen Innern. Paradoxerweise ist die Geliebte unveräußerlich die Seine, weil sie die Veräußerung seines ganz verinnerlichten Weiblichen ist, das heißt, eines Teiles seiner selbst. Im Letzten ist es diese Beidergeschlechtlichkeit des lyrischen Ich, die es gegen „gemeinen Tages Schlechtnis" 25 sichert. Kehren wir zu Doctor Marianus zurück. Auch dieser ist kein Einzelner. Auch er ist einer angebeteten Frau gewidmet, die sein Wesen geprägt hat, deren Namen er führt. Indes, radikaler noch als in den soeben erwähnten Werken, ist die geheimnisumwitterte Gestalt, der dieser Mann sich zugeeignet hat — „sola in sexu femini... quae meruisti Dominum Sanctum portare in utero" — 26 vollends unerreichbar geworden. „Die Unberührbare" wird die Himmelskönigin genannt (Z. 12020). Ich bin des Glaubens, daß zwischen der Unzugänglichkeit der jungfräulichen Mutter und der Ganzheitlichkeit ihres Dieners eine verborgene Beziehung waltet; und zwar eine doppelte. Einmal ist die Ewig-Weibliche ein unverbrüchlicher Teil seines beidergeschlechtlichen Selbst, den ihm keine Ferne nehmen kann. Zum zweiten bewirkt eben die grundsätzliche Unerreichbarkeit der Göttin die nahtlose Eingliederung seiner Triebe in die Gesamtpersönlichkeit. Die „Liebeslust", die Doctor Marianus beseelt, ist „heilig"; und zwar heilig nicht durch Askese, wie im Falle von Pater Profundus, sondern durch Natur und Gnade. Von vorneherein sammeln sich alle vitalen Impulse in dem reinen Gefäß einer von allem Irdischen ganz geläuterten Liebe; denn von Besitz kann ja in einem solchen Verhältnis nicht die Rede sein. Wo aber vorbehaltlose Entäußerung am Anfang einer Liebesbeziehung steht, vermag sich „jeder beßre Sinn"(Z. 12100) frei und reibungslos zu entfalten. Da ist keine schlecht vernarbte Wunde, die erzwungener Verzicht geschlagen hätte, kein Erdenrest, der peinlich im Verborgenen schwärt. In schönem Einklang mit sich und seinen „gebilligten" Trieben ist der ganze Mensch zu schöpferischem Schauen oder Tun gelöst. Dies ist Doctor Marianus-, und wie er ist, so wirkt er. Das Thema seiner zwei Reden in jeder ihrer Variationen ist die Erziehung zum Göttlichen harmonisch eingegliederter Triebe. Er, der selber „in der höchsten, reinlich24 25 26

Die Jahre nahmen dir... (Anmerkung 16). Beiname. West-ostlicher Divan, Buch Haßs. HA, 2, S. 20. Officium Beatae Virginis Mariae, o. O. u. J. Eine Kopie davon war in Goethes persönlichem Besitz. Siehe H. Ruppert, Goethes Bibliothek, Weimar 1958, Nr 2693.

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sten Zelle" wohnt (vor Z. 11989), versteht die „leicht Verführbaren" und neigt sich ihnen zu. Dadurch tröstet er sie und hebt die Last der Schuld, die auf ihnen ruht; und so, erleichtert, vermag er die „reuig Zarten" zu der Herrlichen im Strahlenkranze hinanzuziehen. Er selbst thematisiert sein Wirken, wenn er von der göttlichen Mittlerin sowie implicite von sich selbst, als dem Fürsprecher der Büßerinnen, sagt: Unbezwinglich unser Mut, Wenn du hehr gebietest; Plötzlich mildert sich die Glut, Wie du uns befriedest (Z. 12005-12008). Ein solches Herabneigen und Hinanziehen, Beschwichtigen und Begeisten aber ist, wie ich in einem anderen Kapitel dieses Buches zeige, 27 die spezifische Funktion dreier Gestalten: es ist einmal die Funktion des Mittlers Christus, zum zweiten die der Mittlerin des Mittlers, also Marias, und letztlich die jenes weltlichen Mittlers, des Poeten. Auch des Dichters Beruf ist es, in die Niederungen des menschlichen Herzens lindernd hinabzusteigen und das dergestalt erleichterte Gemüt zum Göttlichen zu erheben. Doctor Marianus, weiß um das Geheimnis des Dichters und vollzieht es auf seine Weise, weil er, der ganz Männliche und dabei ganz Weibliche, selbst ein Dichter, nein mehr, selbst die gestaltgewordene Dichtung ist. Alles, was an dem Faust von Abend und der Helena-Tragödie „ernst und zart" war, ist in dieser vergeistigsten und dabei heilsten aller Männergestalten Goethes noch einmal wie in einem milden, weißen Strahl versammelt. In diesem Sinne dürfen wir wohl den spät Erfundenen und nur kurz in unirdischen Räumen Aufschimmernden als die endliche Erfüllung eines von Goethe lang gehegten und nie ganz realisierten Wunschbildes ansprechen: der seiner kreatürlichen Triebe zart entwachsene, jeder Selbstverzärtelung bare, androgyne Mann als Prototyp des Kreativen in ihm selbst. 9. Aber wie lang war der Weg zu dieser krönenden Vision! Von Faust, der, in ödipale Irrungen verstrickt und in verbotene Abgründe blickend, das Licht der Augen einbüßt, zu dem todesreifen Seher; von jenen jungfräulich-spröden Frauengestalten, in denen Goethe je und je dem geheimen

27

Siehe Kapitel 15.

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Gesetz seines Schöpfertums nachspürte, hinüber zu indulgenten Männergestalten wie Werther oder Eduard, und von da wieder herüber zu Makarie, der es indessen bei aller unirdischen Schwerelosigkeit an dem dichterisch Beschwingten, dem eigentlich Musischen mangelt, das doch auch zu Wort kommen wollte und mußte; und von da schließlich zu der Gestalt des Anachoreten. Ganz männlich liebend und ganz weiblich empfangend, ist er ein Seher und ein Sänger: ein Seher wie Odipus und der sterbende Faust, er aber blinden Auges auf dem Angesicht anbetend; ein Sänger wie der Protagonist der Helena, dessen verborgene Lyrik sich in Lynkäus niederschlägt. In dem Liebenden der jungfräulichen Mutter vermochte der greise Goethe seinem innersten Anliegen Gesicht und Stimme zu verleihen. Erst angesichts von Doctor Marianus' zuhöchst sublimiertem Lieben konnte das Zwiegespräch der Geschlechter beendet werden, das dieser Künstler sein Leben lang mit sich führte. In ihm, dem Dichterlichen, von Natur Ganzen, konnte er sein Schöpferisches in seiner Eigenschaft als Mann niederlegen und, gleichsam im selben Atemzug, dem Ewig-Weiblichen außer ihm sowie dem Weiblichen in ihm Verehrung zollen. Erst hier, im katholischen Raum, konnte der Zwiespalt zwischen Eros und Geschlecht, der Goethe, dem angeschlagenen Heiden, wie jedem Menschen der abendländischen Moderne, zu schaffen machte, in der Ausformung einer reinen Dichterliebe beschwichtigt werden. Die Liebe des Doctor Marianus zu seiner Namensschwester aber ist eine reine Dichterliebe, zusammen mit der des lyrischen Ich in der späten Elegie die lauterste, die Goethe je gestaltet hat. Die Unerreichbare aber, der Fausts Nachfahre in hehrer und heiler Liebe gewidmet ist, konnte nur Maria sein, „sola in sexu femini". Die jungfräuliche Mutter ist die Einzige, die dem trieb verhafteten und aggressiv zudringenden Mann „Rat, Mäßigung und Weisheit und Geduld" gleichsam von selber in die Seele spielt; die Einzige, deren liebreiche Hoheit das Muß der Entäußerung mühelos aus ihm hervorlockt. Hier endlich war die ferne Geliebte, die in dem Liebenden die kostbarsten Kräfte freisetzte und begeistete, deren Anschauen nicht die Qual des Verzichts, sondern „das heitre Bild des Glaubens" 28 aus sich entließ. Sie, der sich so viele Diener am Wort verpflichtet wissen, die Goethe sein Lebtag lang kein böses Wort entriß, sie schlug am Ende seiner Erdentage auch diesen Wortmacher in ihren Bann. In dem Doppelgestirn Marias und des ihr ganz anverwandelten Doctor Marianus 28

West-östlicher

Divan, Buch Hafis, Beiname, HA, 2, S. 20 f.

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kam Goethes Drang, dem Geheimnis seines produktiven Genius' nachzuspüren, endlich zur Ruhe. Die Sphinxe haben Faust zu Helena gewiesen. In der jungfräulichen Mutter überwand Fausts Schöpfer die Sphinx. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß es ein Greis ist, der so beruhigt zu uns spricht.

IV. Über Künstlertum und Kunst ...es gibt Menschen, die in der Seele noch stärker als im Körper den Drang fühlen, das zu zeugen, womit schwanger zu sein und was zu gebären einer Seele gemäß ist. Piaton Jeden Eindruck und jeden Keim eines Gefühls ganz in sich, im Dunkel, im Unsagbaren, Unbewußten, dem eigenen Verstände Unerreichbaren sich vollenden lassen und mit tiefer Demut und Geduld die Stunde der Niederkunft einer neuen Klarheit abwarten: das allein heißt künstlerisch leben. Rilke

,Im Gegenwärtigen Vergangnes' Euphorions Ahnherr und der dämonische Geist von Goethes Genie in Künsten und Taten [kommt] nur dasjenige zustande..., was, wie Minerva, erwachsen und gerüstet aus des Erfinders Haupt hervorspringt." Dichtung und Wahrheit Dämonen, weiß ich, wird man schwerlich los... Faust II 1.

Daß Goethe nach Kräften Versteck spielte und seine dichterischen Absichten den Blicken auch der Wohlmeinendsten entzog, ist eine bekannte Tatsache. Die hier vorgelegte Studie tut ihr Teil dazu, diesen Aspekt seiner Natur in ein helles Licht zu rücken. Die berühmten Worte an Iken, das Wesentliche lasse sich nicht rund und direkt mitteilen und er habe bereits seit langem das Mittel gewählt, mit einander gegenübergestellten und sich gleichsam ineinander abspiegelnden Gebilden zu arbeiten, bringen diesen Zug auf einen respektablen ästhetischen Nenner.1 Es ist indes unzweifelhaft, daß seine Freude am Geheimnis tieferen und vorrationalen Schichten seiner Natur entstammt und zu dem Mitteilungsdrang, den er, wie jeder Dichter, empfand, einen seltsamen Abstich macht. In seinem Geständnis an Schiller, er reise am liebsten incognito und stelle sich, durch die „sonderbarste Naturnothwendigkeit gebunden", zwischen sich selbst und seine eigene Erscheinung,2 kommt er dem Kern der Sache schon näher. Am aufrichtigsten erscheint er, wenn er ohne weitere Erklärungen und Entschuldigungen sein unverhohlenes Vergnügen daran bekennt, nicht verstanden oder sogar mißverstanden zu werden. Seit der unverheilten Wunde, die ihm die Rezeption seines Werther schlug, blieb diese Eigenart sein lebenslänglicher Begleiter. „Soviel habe ich überhaupt bei meinem

1 2

An K. J. L. Iken, 27. September 1827, WA, IV, 43, S. 83. An Schiller, 9. Juli 1796, WA, IV, 11, S. 123.

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Lebensgange bemerken können", gesteht der Dichter der Zueignung, „dass das Publicum nicht immer weiss, wie es mit den Gedichten, sehr selten aber, wie es mit dem Dichter dran ist. Ja", fahrt er fort, „ich läugne nicht, dass, weil ich dieses sehr früh gewahr wurde, es mir von jeher Spass gemacht hat, Versteckens zu spielen". 3 Diese Bemerkung entstammt Goethes fünfziger Jahren. Der Achtzigjährige bekennt sich humorvoll-resigniert zu demselben Credo. „Mit den Lippen mag ich nur selten ein wahres, grund=gemeyntes Wort aussprechen", gesteht er Zelter, dem Intimissimus seiner späteren Jahre; „gewöhnlich hören die Menschen etwas Anderes, als was ich sage, und das mag denn auch gut seyn". 4 Und schließlich noch ein für diese Studie besonders sinnfälliger Ausspruch des Siebenundsiebzigjährigen: „Denn eigentlich soll man nicht reden von dem, was man thun will, nicht von dem, was man thut, noch was man gethan hat. Alles Dreyes ist gewissen Inconvenienzen unterworfen..." 5 : so Goethe an Sulpiz Boisseree, dem wohl verständnisvollsten und intimsten Mitwisser seiner alten Tage. Diese Worte, wie dieselben, am gleichen Tage an W. von Humboldt gerichteten, sind während der lang andauernden Nachwehen der Arbeit am Helena-Akt, am 22. Oktober 1826 geschrieben. Obschon der Dichter bedauert, daß die geographische Entferntheit Boisserees keinen näheren und häufigeren Gedankenaustausch zulasse, ist die Mitteilung, die er dem Freund macht, wieder einmal in höchstem Grade verschlüsselt. Von der Helena spricht er, die nun schon seit 3000 Jahren, vom Falle Trojas bis zu Missolunghi, ihr Spiel treibe und nur in der Fülle der Zeiten zum Abschluß gebracht werden konnte, wobei er aber die Einheiten von Handlung und Ort aufs strengste eingehalten habe. Goethe selbst ist sich der Tatsache bewußt, daß der Freund mit dieser Information nicht viel anfangen könne. Er fragt ihn, ob es nicht eigentlich schlimmer sei, so viel, oder vielmehr so wenig zu sagen, als gar nichts. In der Tat, selbst bei zwei so klugen Menschen, wie Boisseree und Humboldt es waren, konnte diese Eröffnung nur auf taube Ohren fallen. Eine Handlung, die volle dreitausend Jahre läuft und dabei in jedem tieferen Sinne den Einheiten gerecht wird? Was sollten die Freunde mit dieser Zeitbombe in der Hand anfangen? Wir unsererseits haben in drei vorangehenden Kapiteln gesehen, daß der Sinn, der diesen Worten inne3 4 5

Zu K. F. von Reinhard, 22. Juni 1808, Graf, Drama II, S. 167. An Zelter, 18. Juni 1831, WA, IV, 48, S. 241. An S. Boisseree, 22. Oktober 1826, WA, IV, 41, S. 209 f.

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wohnt, sich erst dann erschließt, wenn man jene dreißig Jahre zurückliegende, bahnbrechende Entdeckung über die Entwicklung der Flügel bei der Phalaena grossularia zur Diskussion heranzieht. Auf die Figur des schmetterlingsgleichen Euphorion angewandt, erklärt dieser für Goethe epochemachende Fund das erstaunliche Wachstum einer Gestalt, die binnen kürzester Zeit ganze Abschnitte der Weltgeschichte zu umspannen und, ihrer simultanen Entfaltung gemäß, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges in einer schwindelnden Anschauung in sich zu begreifen imstande ist. Dieses Vermögen verleiht Euphorion etwas Unreales, ja Gespenstisches; wie ja Goethe selbst bekennt, er sei „den Gespenstern ähnlich, die überall gegenwärtig sein und zu jeder Stunde hervortreten können". 6 Die Begierde der Freunde, Näheres über das Geheimnis des HelenaAktes zu vernehmen, hatte der alte Herr also wieder einmal abgebremst. Und in der Tat, hinter der verwirrenden Hauptfigur von Schattiger Hain steckt, wenn der Schein nicht trügt, mehr als ein Geheimnis. Den sichtbaren Schleier — um mit dem Dichter der Wahlverwandtschaften zu reden — haben wir aufgedeckt. Es ist das Phänomen von Phalaena grossularia, das ja in dem steilen Gefalle des Handlungsablaufs seine unmißverständlichen und ansonsten ganz unerklärlichen Spuren hinterlassen hat. Da ist aber auch noch ein unsichtbarer Schleier, ein Schleier also, dessen Dasein sich völlig unsern Blicken entzieht. Diesen zu bedeuten und einen Zipfel von ihm zu lüften, ist die Absicht der folgenden Seiten, wobei ich mir darüber im klaren bin, daß es, mancher äußerer und innerer Indizien zum Trotz, dem Wohlwollen meiner Leser anheimgestellt bleibt, ob meine These eine freundliche Aufnahme finden wird. 2.

Wen Euphorion wirklich repräsentiere, hat uns der Dichter mehr oder minder deutlich zu verstehen gegeben. „Ich hatte den Schluß früher ganz anders im Sinne," berichtet Eckermann, „ich hatte ihn mir auf verschiedene Weise ausgebildet, und einmal auch recht gut, aber ich will es euch nicht verraten. Dann brachte mir die Zeit dieses mit Lord Byron und Missolunghi, und ich ließ gern alles übrige fahren."7 Also wieder ein Geheimnis, das die Zeit vor Lord Byrons Eintritt auf die Szene und 6 7

Zu Eckermann, 20. Dezember 1829, AGA, 24, S. 380. Zu Eckermann, 5. Juli 1827, AGA, 24, S. 256.

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möglicherweise ein anderes dichterisches Modell betrifft. Sollte ein solcher Plan vielleicht leise Spuren hinterlassen haben? Ich meine, ja. Denn wenn nicht, warum mochte Goethe ihn nicht verraten? Ich möchte damit beginnen, meinen Lesern ein paar Einzelheiten aus den vorangehenden Kapiteln ins Gedächtnis zurückzurufen. Im Sinne habe ich einmal Phorkyas' abschließende Schilderung des Knaben Euphorion, wie er fix und fertig und seiner künftigen Berufung gemäß wieder aus der Schlucht auftaucht, in der er zeitweilig verschwunden war, In der Hand die goldne Leier, völlig wie ein kleiner Phöbus (Z. 9620). Weiter erinnern wir uns der Worte über die Flügel der kindlichen Phalaena grossularia, die ich in diesem Kontext herangezogen habe. Von diesen konstatiert der Verfasser, man sähe alle Flecken darauf, „in der völligen Ordnung wie nachher, nur alles kleiner und näher beisammen". 8 Was Goethe in diesen zwei Formulierungen betont, ist die völlige „Fertigkeit" gewisser Organismen von vorne herein, nicht etwa als Potential, so, wie die Eichel den telos des künftigen Eichbaums der Anlage nach enthält, sondern realiter, in vollendeter Ausbildung, nur auf kleinsten Raum zusammengedrängt und ihrer physischen Expansion harrend. Er beschreibt also ein erwachsenes Wesen en miniature. Hier möchte ich einhaken. Seit Jahr und Tag hat mich an diesem Punkte eine ebenso entlegene wie unabweisbare Gedankenverbindung geneckt, die von dem kleinen Euphorion und der kleinen Phalaena grossularia zu dem kleinen Mozart hinführt, wie Goethe diesen in Frankfurt hörte und sah. Goethe selbst hat uns mehrere Schilderungen dieses Ereignisses hinterlassen, wovon ich eine zitiere: „Wir sprachen über Mozart", berichtet Eckermann. „Ich habe ihn als siebenjährigen Knaben gesehen", sagte Goethe, „wo er auf einer Durchreise ein Konzert gab. Ich selber war etwa vierzehn Jahre alt, und ich erinnere mich des kleinen Mannes* in seiner Frisur und Degen noch ganz deutlich." 9 Frisur und Degen sind die äußeren Embleme des Erwachsenseins, so wie das vollendete Spiel des Wunderkindes dessen innere Bekräftigung ist. Unter der Maske des Rokoko, einer Epoche, die das Kind als kleinen Erwachsenen ansah, erblickte Goethe, zum ersten-, wenn auch nicht zum 8 LA, I, 10, S. 168. * Hervorhebungen I. G. 9 Zu Eckermann, 3. Februar 1830, AGA, 24, S. 390.

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letzten Mal in seinem Leben, das Wunder eines von Anbeginn an „fertigen" Genies in Kindergestalt. Die Ähnlichkeit der Schilderungen zweier Kinder mit den Attributen der Reife — „...des kleinen Mannes in seiner Frisur und Degen" und In der Hand die goldne Leier, völlig wie ein kleiner Phöbus... — ist frappant; sie ruft noch eine weitere Reminiszenz Goethes an ein Kindererlebnis wach. Es ist das Märchen Der neue Paris, das der Dichter zu Anbeginn seiner Autobiographie placierte. In dieser Altersgeschichte ist das erotische Erwachen des Knaben Goethe aufs Taktvollste gestaltet. Verkörpert der zu Pfingsten wie ein Miniaturmännchen Frisierte und mit Hut und Degen Ausgerüstete nicht die noch immer lebendige Erinnerung an jenen anderen „kleinen Mann"? Ja, ist das Märchen in seiner Gesamtheit nicht ein zarter Akt der Reverenz vor Mozarts Genius, wie fraglos die Fortführung von dessen Zauberflöte einer war? Das erste große Werk Mozarts, das Goethe im Jahre 1785 kennenlernte und das ihn, nach zwei erfolglosen Anläufen, von dessen überragenden Genie überzeugte, war Die Entführung aus dem Serail. Man könnte Goethes Märchen mit seiner türkisch=orientalischen Kostümierung und mit seinem erotischen Kampfspiel zwischen der allerliebsten Kleinen und dem Knaben mit Fug und Recht umtaufen und Die Einführung ins Serail nennen. Die verfrühten Embleme bürgerlicher Männlichkeit, eben Frisur, Hut und Degen, werden dem Pubertären — der junge Held dieser Geschichte mochte etwa eben so alt sein wie der Erzähler zur Zeit, da er Mozart spielen hörte — zeitweilig genommen. Dafür aber wird ihm der Durchbruch zu seinem eigenen Eros gewährt. Hier übt er sein Schöpfertum zum ersten Male aus. Als „Liebling der Götter" hat der neue Paris das Schicksal der drei Schönen in seiner Hand, und ihm wird künftig die schönste aller Erdenfrauen zuteil werden. Darüber aber läßt sich der Autobiograph charakteristischerweise nicht aus. „Ob ich euch erzählen kann, was weiter begegnet..., weiß ich nicht zu sagen"; so läßt er sein jugendliches alter ego die Erzählung beschließen. 10 Die schönste aller Erdenfrauen aber ist Helena, der Goethe seit Jahrzehnten wie ein demütiger Liebhaber nachschleicht, die sein eigner Faust sich von den Müttern holen wird und die eben diesen Euphorion, jenen anderen Früh-Vollendeten, gebären wird. Die seltsame Verquickung von Mythos und Traum, von längst Vergangenem und noch im Schoß der 10

Dichtung und Wahrheit, I, 2, HA, 9, S. 64.

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Zukunft Ruhendem wird dem Verfasser von Dichtung und Wahrheit ein wissendes Lächeln abgelockt haben. Noch eine dritte Reminiszenz des Goethe vom Herbst 1826 möchte ich anführen, die auf Mozart Bezug hat. Es ist die Begegnung mit dem jungen Felix Mendelssohn-Bartholdy im Jahre 1821. Zelter führte den Zwölfjährigen bei Goethe ein und dieser spielte ihm Eigenes sowie Kompositionen anderer vor. Goethe ist hingerissen und nennt ihn einen Wunderknaben, womit er etwas ziemlich Genaues im Sinn hat. „Die musikalischen Wunderkinder," sagte er, „sind zwar hinsichtlich der technischen Fertigkeit heutzutage keine Seltenheit mehr, was aber dieser kleine Mann* im Phantasieren und Primavistaspielen vermag, grenzt ans Wunderbare, und ich habe es bei so jungen Jahren nicht für möglich gehalten." Darauf gemahnt ihn Zelter an die frühe Begegnung mit Mozart; ein Vergleich, den Goethe eifrig aufnimmt, indem er sich an „die außerordentliche Fertigkeit" des Kindes erinnert, die damals alle Welt und so auch ihn, der selbst noch ein Knabe war, in höchliches Erstaunen versetzte. 11 Wir dürfen mutmaßen, daß Goethe mit dem Wort „Fertigkeit" nicht nur technische Fingerfertigkeit bedeutet — gerade diese unterscheidet er ja im Fall des jungen Mendelssohn von dem eigentlich Genialen — sondern darüber hinaus jenes von=vorneherein=Fertigsein, das ihn als Phänomen faszinierte und dessen nie vergessene Anschauung ihm in diesen Minuten der Anblick des jungen Felix auffrischte, von dem er sagt: „Was aber dein Schüler jetzt schon leistet, mag sich zum damaligen Mozart verhalten wie die ausgebildete Sprache eines Erwachsenen zu dem Lallen eines Kindes"; 12 wobei man nicht vergessen darf, daß der geflügelte Genius in Der Zauberflöte Zweiter Teil auch erst lallt, dann aber, innerhalb von Augenblicken, spricht oder vielmehr singt. Mozart war sieben Jahre alt, als Goethe ihn sah, Mendelssohn ein Zwölfjähriger. Auch hier also gewärtigte Goethe jene Geschwindigkeit der Entfaltung, die ihn je und je wie ein Wunder berührte; und seine Gedanken werden zu Phalaena grossularia zurückgewandert sein. 3. Meinen Lesern wird es längst klar geworden sein, worauf ich mit diesen Rückblenden hinaus will. Ich bin des Glaubens, daß als Modell für die Figur des Euphorion hinter Lord Byron noch ein Anderer stand —: " Zu J. Ch. Lobe, 8. November 1821, AGA, 23, N'. 1522, S. 189. Ebenda.

12

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Wolfgang Amadeus Mozart. Nicht, daß ich Lord Byrons unmittelbare Patenschaft in Abrede stelle. Er gab Züge für das Konterfei von Fausts Sohn her, deren der Dichter bedurfte und die er selbst in ein helles Licht rückte: die Zügellosigkeit seines Genies, das ewig Unbefriedigte und das Kriegerische. Die zwei ersten Ingredienzen teilt Byron mit Mozart. Zudem war auch dieser der Schöpfer eines Don Juan, der sich die Welt erobern sollte; und eben den Schöpfer dieses Don Giovanni erwünschte sich Goethe sehnlichst zum Komponisten seines Faust, wäre er nur noch am Leben.13 Was Goethe ganz besonders an der Gestalt Mozarts anziehen mußte, ist die Frühreife seines Genies, das zwar einer Entfaltung in der Zeit, im eigentlichen Sinne aber keiner Entwicklung bedurfte. Prinzipiell stellt Goethe in diesem Betracht Raffael und Shakespeare auf die gleiche Stufe.14 Indessen wissen wir wenig oder nichts über deren Anfange. Zudem erwartete Goethe a priori, das Phänomen, das ihn so faszinierte, bei einem Musiker eher als bei einem Dichter oder bildenden Künstler realisiert zu sehen. Denn das musikalische Genie, meinte er, könne sich wohl am frühesten zeigen, „indem die Musik ganz etwas Angeborenes, Inneres ist, das von außen keiner großen Nahrung und keiner aus dem Leben gezogenen Erfahrung bedarf. Aber freilich," fügt er in diesem Gespräch mit Eckermann hinzu, „eine Erscheinung wie Mozart bleibt immer ein Wunder, das nicht weiter zu erklären ist. Doch wie wollte die Gottheit überall Wunder zu tun Gelegenheit finden, wenn sie es nicht zuweilen in außerordentlichen Individuen versuchte, die wir anstaunen und nicht begreifen, woher sie kommen." 15 Auf diesen letzten Satz werden wir noch zurückkommen. Halten wir mittlerweile daran fest, daß Goethe unter den großen Genies den Musikern, und unter diesen dem „unerreichbaren" Mozart eine vorrangige Stellung einräumt. Und zwar, weil bei diesen — und in hervorragendem Grade im Falle Mozarts — aufgrund der Stofflosigkeit der Musik die Antizipation der Welt, mit der das Genie begabt ist, unabhängig von der Bekräftigung durch die Welt in Erscheinung zu treten vermag. Wie lautet doch jene Maxime Goethes über die Musik? „Die Würde der Kunst erscheint vielleicht bei der Musik am eminentesten, weil sie keinen Stoff hat, der abgerechnet werden müßte. Sie ist ganz Form und Gestalt und erhöht und 13 14

15

Zu Eckermann, 12. Februar 1829, AGA, 24, S. 313. Siehe die Gespräche mit Eckermann vom 11. März 1828, AGA, 11. März 1832, AGA, 24, S. 772f. Zu Eckermann, 14. Februar 1831, AGA, 24, S. 450.

24, S. 682, und vom

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veredelt alles, was sie ausdrückt." 16 Man möchte hinzufügen: Nicht nur die Würde, auch das Wunder der Kunst verkörpert sich am sinnfälligsten in der Musik: eben das Wunder des „Fertigseins", das Goethe so fesselt. Dies hängt wiederum mit ihrer Stofflosigkeit zusammen. Scheint es noch ganz so abwegig, in Mozart den Urahnen jenes anderen musikalischen Wunderkindes zu vermuten, Euphorion, den sich als Knabe schon verkündend Künftigen Meister alles Schönen, dem die ewigen Melodien Durch die Glieder sich bewegen (Faust II, Z. 9625-27)...? „Was ist Genie anders", sinnt Goethe, „als jene produktive Kraft, wodurch Taten entstehen, die vor Gott und der Natur sich zeigen können und die eben deswegen Folge haben und von Dauer sind." Und er fahrt fort: „Alle Werke Mozarts sind dieser Art; es liegt in ihnen eine zeugende Kraft, die von Geschlecht Geschlecht fortwirket* und so bald nicht erschöpft und verzehrt 17 sein dürfte." Gemahnen solche Worte nicht — ich habe es bereits früher angedeutet — an die achtzehn Monate zuvor verfaßten, welche der Dichter nach Euphorions Tod dem Chor auf die Lippen gelegt hat? 4. In der Allgemeinen musikalischen Zeitung (Jg. XVII, Nr. 34) erschien im Jahre 1815 ein von Musikerhand verfaßtes Antwortschreiben an einen unbekannten Baron, der ein Urteil über seine Kompositionen zu hören wünschte und sich offenbar ein Rezept für ein erfolgreiches Kunstschaffen erbeten hatte. Ich zitiere hier die auf die zweite Frage Bezug nehmenden Äußerungen des Verfassers. „...und nun komme ich auf den allerschwersten Punkt in Ihrem Briefe, und den ich lieber gar fallen liess, weil mir die Feder für so was nicht zu Willen ist. Aber ich will es doch versuchen, und sollten Sie nur was zu lachen darin finden. Wie nämlich meine Art ist beim Schreiben und Ausarbeiten, von grossen und derben Sachen nämlich. Ich kann darüber wahrlich nicht mehr sagen, als das; denn ich weiss selbst nicht mehr, und kann auf weiter nichts kommen. Wenn ich recht für mich bin und guter Dinge, etwa auf Reisen im Wagen, oder nach guter Mahlzeit beym Spazieren, und in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann: da kommen 16 17

Maximen und Reflexionen, Nr. 769, HA, 12, S. 473. Zu Eckermann, 11. März 1828, AGA, 24, S. 673.

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mir die Gedanken stromweis und am besten. Woher und wie, das weiss ich nicht, kann auch nichts da%u*... Halt' ich das nun fest, so kommt mir bald Eins nach dem Andern bey, wozu so ein Brocken zu brauchen wäre, um eine Pastete daraus zu machen nach Contrapunct, nach Klang der verschiedenen Instrumente et caetera, et caetera, et caetera. Das erhitzt mir nun die Seele, wenn ich nämlich nicht gestört werde; da wird es immer grösser; und ich breite es immer weiter und heller aus; und das Ding wird im Kopfe wahrlich fast fertig* wenn es auch lang ist, so dass ichs hernach mit Einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen, im Geiste übersehe, und es auch gar nicht nach einander, wie es hernach kommen muss, in der Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen.* Das ist nun ein Schmauss. Alles das Finden und Machen gehet in mir nur, wie in einem schönstarken Traume vor: aber das Ueberhören, so alles zusammen*, ist doch das Beste. Was nun so geworden ist, das vergesse ich nicht leicht wieder; und das ist vielleicht die beste Gabe, die mir unser Herregott geschenkt hat. Wenn ich nun hernach einmal zum Schreiben komme, so nehme ich aus dem Sack meines Gehirns, was vorher, wie gesagt, hineingesammelt ist. Darum kömmt es hernach auch ziemlich schnell aufs Papier; denn es ist, wie gesagt, eigentlich schon fertig,* und wird auch selten viel anders, als es vorher im Kopfe gewesen ist. Darum kann ich mich auch beym Schreiben stören lassen; und mag um mich herum mancherley vorgehen: ich schreibe doch; kann auch dabey plaudern, nämlich von Hühnern und Gänsen, oder von Gretel und Bärbel u. dgl." 18 Der vermeintliche Verfasser dieses Briefes war Mozart; eine Annahme, die mittlerweile strittig geworden ist, indem Musikologen ihn als eine zumindest teilweise Fälschung des Veröffentlichers Friedrich Rochlitz erachten. Das Schreiben erregte Aufsehen und machte die Runde durch eine Reihe von Büchern und Zeitschriften. Auch jetzt noch wird es im Text oder Anhang kritischer Editionen gedruckt, weil sein Inhalt mit charakteristischen Äußerungen Mozarts über seine Schaffensweise durchaus übereinstimmt. In dem hiesigen Kontext brauchen wir uns indes von der Frage der Echtheit des Briefes nicht anfechten zu lassen. Die Authentizität seiner Verfasserschaft unterlag zu Goethes Zeit keinem Zweifel; und der Dichter, 18

Zitiert nach Momart. Briefe und Aufzeichnungen, Gesamtausgabe, hrsg. von der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg, gesammelt und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch. Band IV: 1787 — 1857. Bäreweiter, Kassel, Basel, Paris, London, New York 1963, S. 5 2 7 - 5 3 1 .

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der die Allgemeine musikalische Zeitung las, wird ihn bereits im Jahre 1815 zur Notiz genommen und sich seine Gedanken darüber gemacht haben. Aber hier sind wir nicht auf Spekulation angewiesen. Im Dezember 1824 machte Zelter den Freund auf den mittlerweile in der Wiener Theater^eitung erschienenen Brief aufmerksam und kommentierte ihn enthusiastisch, in der Annahme, Goethe hätte ihn bereits selbst gelesen. Ob dies der Fall war, wissen wir nicht zu sagen. Im Dezember 1826 jedoch — unmittelbar nach der Niederschrift der Euphorion=Szene also oder möglicherweise gar zur Zeit letzter Revisionen daran, 19 kommt Goethe mit Eckermann darauf zu sprechen. Er habe ihn „dieser Tage" gelesen, und wäre er nicht „himmlisch?" „...und gilt dieses große Wort, was Mozart von der Musik sagt, nicht von allen übrigen Künsten?" 20 Interessanterweise bezieht sich dies überschwengliche Lob, wenigstens ausdrücklich, auf Mozarts — hier nicht zitierte — Äußerungen über den Dilettantismus, die Goethe mit großer Treffsicherheit an Eckermann weitergibt. Über den Rest schweigt er sich aus. Offenbar spielt der Dichter wieder einmal Versteck. Denn Mozarts hier wiedergegebene Äußerungen über seine Schaffensweise mußten ihm von unvergleichlich dringlicherem Interesse sein, gerde im Hinblick auf Euphorion, dessen Wesen und Schicksal ihm noch immer auf den Nägeln brannte. Spricht dieser Brief nicht von eben jener Simultanität des Wachstums, die Goethe dreißig Jahre zuvor bei dem Anblick von Phalaena grossularia so erregt hatte, und von eben der Simultanität der Anschauung, die, in menschliche Verhaltensweisen übersetzt, mit jenem Phänomen Hand in Hand geht? Soeben hatte er das doppelte Wunder der „Fertigkeit" gestaltet, einmal in Euphorions uranfänglichem Ausgebildetsein — In der Hand die goldne Leier, völlig wie ein kleiner Phöbus — sodann in der vollendeten Überschau des gerade erst Geborenen über die fernen und nahen Zeitläufte, die sein unaufhaltsamer Wuchs umspannt; und hier spricht ein großer Künstler, vielleicht der größte von allen, von dem uranfanglichen Fertigsein des in seinem Kopfe Empfangenen und von der hohen Lust, das dergestalt Gewordene im Geist zu übersehen, „gar nicht nacheinander,... sondern wie gleich alles zusammen". Ein summierender Widerhall dieses Briefes ist noch, so meine ich, in einem späten Gespräch mit Eckermann zu finden. Auf dessen Feststellung, das Wort „Komposition" sei eigentlich herabwürdigend, läßt sich ein 19 20

Siehe Kapitel 8. Zu Eckermann, 13. Dezember 1826, AGA, 24, S. 186.

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entrüsteter Goethe folgendermaßen aus: „Wie kann man sagen, Mozart habe seinen Don Juan komponiert! — Komposition! — Als ob es ein Stück Kuchen oder Biskuit wäre, das man aus Eiern, Mehl und Zucker 2usammenrührt!" Hier bedient sich Goethe des Gleichnisses des Mozartbriefes — „Pastetchen" hatte der Verfasser geschrieben — das ihn verständlicherweise als unzulänglich anmutet, und fahrt folgendermaßen fort: „Eine geistige Schöpfung ist es, das Einzelne wie das Ganze aus einem Geiste und Guß und von dem Hauche eines Lebens durchdrungen, wobei der Produzierende keineswegs versuchte und stückelte und nach Willkür verfuhr, sondern wobei der dämonische Geist seines Genies ihn in der Gewalt hatte, so daß er ausführen mußte, was jener gebot." 21 Hat Goethe gewußt, daß Mozart die Ouvertüre zu seinem Don Giovanni innerhalb von zwei Stunden unmittelbar vor der Aufführung niederschrieb? Daß er über seine Arbeit am Idomeneo dem Vater mit fliegender Hand meldete: „Nun muß ich schließen, denn ich muß über Hals und Kopf schreiben; komponiert ist schon alles, aber geschrieben noch nicht." 22 Daß er seiner Schwester zwei in umgekehrter Reihenfolge kopierte Partituren auf einem Blatt sandte, mit der Erklärung: „...hier schicke ich dir ein Praeludio und eine dreystimmige fuge... das Praeludio gehört vorher, dann folgt die fuge darauf. — die Ursache aber war, weil ich die fuge schon gemacht hatte, und sie, unterdessen daß ich das Praeludium ausdachte, abgeschrieben..." 23 Hier offenbart sich das Wunder von Mozarts Schaffensart. In ein und demselben Kopf trägt er sich gleichzeitig mit zwei Stücken: mit einem „fertigen", das er „abschreibt", das heißt, aus dem Kopf notiert, und mit einem, das im Werden ist; wobei man hinzufügen muß, daß das „fertige" — es ist die Fuge für Klavier in C Dur (Kochel 3831) — ein grifftechnisch äußerst schwieriges Stück ist. Vielleicht noch erstaunlicher ist die Tatsache, daß er sich durch diese Fixierung bei dem Erfinden des Präludiums offenbar nicht beirren ließ. Versucht man sich eine solche, doppelte Leistung zu veranschaulichen, so ist man gedrungen, die innere Authentizität der im vorigen zitierten langen Briefstelle zu konzedieren. Mozart muß seine Erfindungen „wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen" im Geiste „übersehen" haben. Hätte er mit einander verflochtene zeitliche Folgen von Tönen gehört, die Stränge hätten sich unweigerlich verwirrt. 21 22 23

Zu Eckermann, 20. Juni 1831, AGA, Am 30. Dezember 1780. Am 20. April 1782.

24, S. 759.

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Gerade im Falle verschiedener, nebeneinander herlaufender Erfindungen sind wir auf seinen eigenen Ausspruch angewiesen, daß er sie nicht „nacheinander, wie es hernach kommen mußte,... sondern wie gleich alles zusammen", in der Einbildung „überhörte" oder auch „übersah". Bei solchem Komponieren spielt offenbar das Sukzessive der Töne eine geringe oder gar keine Rolle; sie stellen sich ihm übersehbar wie ruhende Gebilde im Raum dar; und wir formulieren zaghaft, daß Mozarts Medium, im Gegensatz zu dem zeitlichen der Musik im gewöhnlichen Verstände, ein in hohem Grade zeitenbundenes, simultanes, geistig=plastisch=tönend vor A u g e und Ohr tretendes war. Auch bei dem jungen Felix Mendelssohn-Bartholdy war es das „Fertigsein" seiner im G r u n d e zeitentrückten geistigen Schöpfungen, das Goethe faszinierte. D a r u m ließ er ihn neben dem Vortrag eigener Kompositionen improvisieren, darum gab er ihm auf, eine besonders schwer zu entziffernde Partitur Beethovens v o m Blatt zu spielen, „ohne dem Spieler Zeit zur Vorbereitung [zu] lassen." 2 4 Nicht um die technische „Fertigkeit" des Knaben ging es dem Dichter, sondern darum, ob es „dem kleinen M a n n " , wie er ihn nennt, gelingen würde, sich unverzüglich in den Geist des Einzelnen und des Ganzen zu versetzen und dieses auf Mozartsche Weise „aus einem Geiste und G u ß " nachzuschaffen. Felix bestand die Prüfung. 5. D a ß Goethe in seinen Gestalten ein ähnliches simultanes Wachstum dargestellt hat, was sich auch in der Gesamtstruktur der jeweiligen Werke niederschlägt, habe ich in drei früheren Kapiteln dargetan. Mignon, der geflügelte Genius in Der Zauberflöte Zweiter Teil sowie Euphorion weisen eine Rapidität des Wachstums und eine übergreifende Lebensschau auf, in denen sich je und je das Erlebnis von Phalaena grossularia spiegelt. Man könnte weiter an Ottilie denken, die in ihren letzten Lebenstagen und = wochen einen sprungartigen Reifeprozeß bezeugt, ferner an den Faust der letzten Szene, der die seligen K n a b e n „an mächtigen Gliedern" „überwächst". Spiegeln nun aber, so fragen wir weiter, dergleichen Gestalten ein analoges Phänomen in Goethes eigenem Schaffen wider? Ich meine, ja. Begreift der Dichter sich doch ganz als eine zweite, oder andere, Natur; eine Seins» und Schaffensweise, welche ja dann auch jene „ S p r ü n g e der

2

t Zu L. Reilstab, 8. November 1821, AGA,

23, S. 186.

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Natur" sowie die analogen „Sprünge der Kunst" in sich beschließt, von denen die Maxime Conflicte spricht, die wir bereits mehrfach zur Diskussion herangezogen haben. In solchen Momenten bewegt sich eine bislang in stetiger und unmerklicher Entwicklung begriffene Organisation plötzlich ruckartig und mit explosiver Gewalt ihrer Vollendung zu. Auf eine ausgedehnte Phase der Latenz, des Harrens, folgt eine punktuell zusammengedrängte Phase der schließlichen Empfängnis —: so ist es im Werther, am Ende der Lehrjahre, in den großen Balladen, so auch in der Helena und in der Novelle, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Manchmal indessen herrscht ein rascherer Rhythmus vor. „Zu anderen Zeiten",... bemerkt Goethe, „ging es mir mit meinen Gedichten gänzlich anders. Ich hatte davon vorher durchaus keine Eindrücke und keine Ahnung, sondern sie kamen plötzlich über mich und wollten augenblicklich gemacht sein,* so daß ich sie auf der Stelle instinktmäßig und traumartig nieder zu schreiben mich getrieben fühlte." 25 Von „solchem nachtwandlerischen Zustande" erfolgt nunmehr eine Schilderung, die der berühmten Beschreibung in Dichtung und Wahrheit bis in kleinste Details ähnelt. Beide Aussagen ergeben dasselbe Bild: die dichterische Empfängnis fällt mit der Fixierung zusammen. In dem einschlägigen Passus seiner Autobiographie stellt sich der Dichter als Schüler Spinozas vor, nach dessen Lehre die Naturnotwendigkeit das gesamte All regiert. Dieses Weltbild empfahl sich dem jungen Goethe, weil es ihm die Möglichkeit bot, sein angestammtes Lebensgefühl als zweite Natur gleichsam zu legitimieren. In diesem Sinne schreibt er: „Ich war dazu gelangt, das mir inwohnende dichterische Talent ganz als Natur zu betrachten... Die Ausübung dieser Dichtergabe konnte zwar durch Veranlassung erregt und bestimmt werden; aber am freudigsten und reichlichsten trat sie unwillkürlich, ja wider Willen* hervor. Durch Feld und Wald zu schweifen, Mein Liedchen weg zu pfeifen, So ging's den ganzen Tag. Auch beim nächtlichen Erwachen trat derselbe Fall ein, und ich hatte oft Lust, ...mir ein ledernes Wams machen zu lassen, und mich zu gewöhnen, im Finstern, durchs Gefühl, das, was unvermutet hervorbrach*, zu fixieren. Ich war so gewohnt, mir ein Liedchen vorzusagen, ohne es wieder zusammen finden zu können, daß ich einigemal an den Pult 25

Zu Eckermann, 14. März 1830, AGA, 24, S. 726.

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rannte und mir nicht die Zeit nahm, einen quer liegenden Bogen zurecht zu rücken, sondern das Gedicht von Anfang bis Ende, ohne mich von der Stelle rühren, in der Diagonale herunter schrieb.* In eben diesem Sinne griff ich weit lieber zu dem Bleistift, welcher williger die Züge hergab: denn es war mir einigemal begegnet, daß das Schnarren und Spritzen der Feder mich aus meinem nachtwandlerischen Dichten* aufweckte, mich zerstreute und ein kleines Produkt in der Geburt erstickte. Für solche Poesien hatte ich eine besondere Ehrfurcht, weil ich mich doch ohngefähr gegen dieselben verhielt, wie die Henne gegen die Küchlein, die sie ausgebrütet* um sich her piepsen sieht."26 Daß zwischen der Schaffensweise Goethes und der von Mozart, wie sie nicht nur aus dem umstrittenen Brief hervorgeht, sondern sich auch anderswo bezeugt, eine verblüffende Ähnlichkeit waltet, erübrigt sich fast, zu sagen. Beide empfinden sich als reine Natur: Mozart, wenn er, in einer hier nicht zitierten Stelle desselben Briefes, die Physiognomie seiner geistigen Erzeugnisse mit der Bildung seines Gesichtes vergleicht und folgert, „daß ich mir das Eine so wenig als das Andere selbst gegeben habe;"27 Goethe, wenn er von seiner „lieblichen Naturgabe" spricht.28 Beide Produzierenden fühlen sich daher für ihre derart unwillentlichen Produkte nicht voll verantwortlich — eine Empfindung, die ebenso beglückend wie verwirrend gewesen sein muß. Beide sehen ihre Erzeugnisse in der Einbildungskraft „so gleich alles zusammen": das Produkt ist, dem einen nach, im Kopfe „fertig", der andre sieht das, „was unvermutet hervorbrach", urplötzlich „ausgebrütet" wie eine Kückenschar; nur daß Goethe im Hinblick auf die Fixierung des im Geiste Fertigen nervöser als sein Vorgänger war. Einzelzeugnisse des Dichters über seine Arbeitsweise bestätigen das Konterfei, das er in Dichtung und Wahrheit von sich entwirft. In einer Gesellschaft junger Leute liest er die Memoiren Beaumarchais' über Clavigo vor, und eine Freundin stellt ihm das Ansinnen, daraus ein Drama zu verfertigen. Der junge Goethe verspricht, ihr das verlangte Theaterstück in acht Tagen vorzulegen. „Man verwunderte sich über ein so kühnes Versprechen, und ich säumte nicht, es zu erfüllen. Denn was man in solchen Fällen Erfindung nennt, war bei mir augenblicklich;* und gleich, als ich meine Titulargattin nach Hause führte, war ich still; sie fragte, was mir sei? — 26 27 28

Dichtung und Wahrheit, IV, 16, HA, 10, S. 80 f. Momart. Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgahe. Dichtung und Wahrheit IV, 16, HA, 10, S. 82.

Anmerkung 17, S. 530.

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„Ich sinne", versetzte ich, „schon das Stück aus und bin mitten drin*"...29 Goethes Brief an Fritz Jacobi bekräftigt von dem Produkt her die Eigentümlichkeit seiner Erschaffungsweise: „...ich fordre das kritischte Messer a u f , schreibt er, „die blos übersezten Stellen abzutrennen vom Ganzen, ohn es zu zerfleischen, ohne tödliche Wunde... der Strucktur, Lebensorganisation des Stücks zu versezzen." 30 Dieser Brief ist im August 1774, also noch von Frankfurt her, geschrieben. Man sieht, in den 57 Jahren, die zwischen ihm und Goethes Äußerung über die „Komposition" des Don Juan liegen, hat sich in Goethes Selbstverständnis des kreativen Prozesses nichts verändert, aber auch gar nichts. Dort wie hier das Bestehen auf dem Schöpfen „aus einem Geiste und Guß und von dem Hauche eines Lebens durchdrungen". Fast noch erstaunlicher ist die allbekannte Entstehungsgeschichte des Werther, wie der Dichter sie in seiner Autobiographie schildert. „Auf einmal erfahre ich die Nachricht von Jerusalems Tode,... und in diesem Augenblick* war der Plan zu ,Werthern' gefunden, das Ganze schoß von allen Seiten zusammen und ward eine solide Masse, wie das Wasser im Gefäß, das eben auf dem Punkte des Gefrierens steht, durch die geringste Erschütterung sogleich* in ein festes Eis verwandelt wird." 31 Anschließend berichtet Goethe, er hätte den Werther in vier Wochen geschrieben, „ohne daß ein Schema des Ganzen, oder die Behandlung eines Teils irgend vorher wäre zu Papier gebracht gewesen." 32 — „In diesem Augenblick"; „sogleich": in solchen, von Kritikern nicht genügend beachteten Wendungen bekundet sich immer wieder jenes „Fertigsein", das Goethe mit Mozart und beide mit der Gestalt Euphorions verknüpft. Dieses „Fertigsein" tritt besonders zur Zeit des West-östlichen Divan zutage, einer Periode, die der Dichter selbst als eine der „wiederholten Pubertät" bezeichnet. Zu Eckermann läßt er sich folgendermaßen darüber aus: „Als mich vor zehn, zwölf Jahren... die Gedichte des Divan in ihrer Gewalt hatten, war ich produktiv genug, um oft an einem Tage zwei bis drei zu machen; und auf freiem Felde, im Wagen oder im Gasthof, es war mir alles gleich." 33 29 30 31

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Dichtung und Wahrheit III, 15, HA, 10, S. 71. An Fritz Jacobi, Frankfurt, 21. August 1774, WA, IV, 2, S. 187. Dichtung und Wahrheit III, 13, HA, 9, S. 585. Für eine eingehende Analyse des Entstehungsprozesses von Goethes Werther siehe I. Graham ,Goethes eigener Werther. Eines Künstlers Wahrheit über seine Dichtung, in J. D. S. G., XVIII, 1974. Im Englischen in Goethe. Portrait of the Artist, Berlin, New York, 1977. Ebenda, S. 587. Zu Eckermann, 11. März 1828, AGA, 24, S. 678.

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Auch die Novelle, die Goethe einige dreißig Jahre mit sich herumtrug, wurde zum Schluß in wenigen Wochen zu Papier gebracht. Hier sind Eckermanns Äußerungen über das fertige Produkt von Interesse für uns: er wäre glücklich gewesen, lesen wir, „...indem ich in das geheime Gewebe einer vollendeten Komposition deutlich hineinsah. Ich empfand daran eine gewisse Allgegenwart des Gedankens,* welches daher entstanden sein mag, daß der Dichter den Gegenstand so viele Jahre in seinem Innern hegte und dadurch so sehr Herr seines Stoffes ward, daß er das Ganze wie das Einzelne in höchster Klarheit zugleich* übersehen und jede einzelne Partie geschickt dahin stellen konnte, wo sie für sich notwendig war und zugleich* das Kommende vorbereitete und darauf hinwirkte. Nun bezieht sich alles vorwärts und rückwärts und ist zugleich* an seiner Stelle recht, so daß man als Komposition sich nicht leicht etwas Vollkommeneres denken kann." 34 Hier ist weniger von der Simultanität des Schaffenprozesses als von der des Enderzeugnisses die Rede; ein „Zugleichsein" indes, das diesem einsichtigen Urteil nach das Sukzessive der Sprache — wie im Falle Mozarts das Sukzessive der Töne — transzendiert. In solchen Zusammenhängen ist es relevant, der anachronistischen Folge zu gedenken, in der Goethe des öfteren seine Werke verfaßt hat; ein Aspekt seiner Schaffensweise, den ich in einem anderen Kapitel dieses Buches in den Mittelpunkt meiner Betrachtungen gerückt habe. 35 Goethe nahm häufig das Ende einer Dichtung vorweg. Dies ist so in Egmont, wo die Lösung des Schlußaktes der kritischen Schürzung des Knotens im vierten Akt vorauseilte; es ist so im Faust, wo der Dichter „das Ende des Endes" vorwegnahm und überdies den Helena-Akt vor der Klassischen Walpurgisnacht und Teilen des ersten Aktes schrieb; es ist so in Trilogie der Leidenschaft, deren Endgedicht als erstes zu Papier gebracht wurde, unter umgekehrter Chronologie der jetzt vorangehenden; und schließlich ist es so in der Novelle, wo die Niederschrift mit dem Schlußlied des schwarzgelockten Knaben begann. In einer derartigen Tendenz bezeugt sich deutlich das „Fertigsein" von Goethes Dichtungen von Anfang an. Offenbar hatte er das Ganze parat und schrieb die Teile bei günstiger Gelegenheit je nach

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Zu Eckermann, 10. März 1831, AGA, Siehe Kapitel 16.

24, S. 475.

,Im Gegenwärtigen Vergangnes'

379

Anregung nieder. Er selbst bekennt sich zu einer Methode der Ausführung, in der, wie er sagt, die „Endpunkte bereits leuchtend dastehen" und die „Mittelglieder" nachträglich ausgehämmert werden. 36 6.

Hier ist ein kleiner Abstecher vonnöten. Nehmen wir kurz den Faden eines Themas auf, das in vorangehenden Kapiteln zum Zuge gekommen ist. Ich sprach des öfteren von dem Gewahrsein einer Gespensterhaftigkeit, das jene Überschau des Lebens, die mit gleichzeitigem Wachstum in allen Dimensionen Hand in Hand geht, wie ein unsichtbarer Schatten begleitet. Die sterbende Mignon, die Wilhelm „wie ein abgeschiedener Geist" vorkommt, sowie die tote, die über dem Treffen der vier Liebenden am Lago Maggiore präsidiert, strahlt diese Aura in höchstem Maße aus; und die Geisterhaftigkeit des ganz durchleuchteten Genius der Zauberflote sowie Euphorions, den Goethe ja selbst als Gespenst tituliert, unterliegt keinem Zweifel. Von der abscheidenden Ottilie, die ihr eigenes Schicksal und das der ihrigen mit kristallner Klarheit überschaut, könnte man dasselbe sagen. Mit der spektralen Erscheinung winterlicher Bäume beschäftigt sie sich, und mit der Nachtigall, die schon kein Gefiedertes mehr ist. Ganz ausdrücklich bezeichnet der Erzähler das Zusammensein der Liebenden in jenem letzten Herbst als „ein Scheinbild des vorigen Lebens", 37 als ein nicht ganz Geheueres also. Auch Lothario kommt interessanterweise auf Gespenstergeschichten zu sprechen, nachdem er sein seltsames Erlebnis mit der Pächterstochter und der ihr so ähnelnden jungen Nichte zum besten gegeben hat. Der Kern dieser Assoziation, sagten wir, sei die innere Verunsicherung, ja Selbstentfremdung, die das Gewahrsein von Gegenwart und Vergangenheit in Eins je und je begleitet. Indem der so Erlebende überall ist, ist er nirgends ganz; und eine solche Allgegenwart ist im buchstäblichen Sinne des Wortes „unheimlich". Daß auch der Schöpfer dieser Gestalten ähnliche Gefühle hegte, haben wir in früheren Kapiteln gesehen. Ich zitiere die Dichtung und Wahrheit entstammende, zentrale Stelle noch einmal: „Ein Gefühl aber, das bei mir gewaltig überhand nahm, und sich nicht wundersam genug äußern konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins: eine

36 37

Zu Eckermann, 11. März 1828, AGA, 24, S. 679. Die Wahlverwandtschaften, II, 17, HA, 6, S. 479.

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Über Künstlertum und Kunst

Anschauung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart brachte. Sie ist in vielen meiner größern und kleinern Arbeiten ausgedrückt, und wirkt im Gedicht immer wohltätig, ob sie gleich im Augenblick, wo sie sich unmittelbar am Leben und im Leben selbst ausdrückte, jedermann seltsam, unerklärlich, vielleicht unerfreulich scheinen mußte." 38 Dieses Selbstzeugnis Goethes über seine jungen Jahre bestätigt sich im Alter. Ich erinnere nur an das aus seinem letzten Lebensjahr stammende Bekenntnis an Wilhelm von Humboldt, er gestehe gern, „daß in meinen hohen Jahren mir alles mehr und mehr historisch wird: ob etwas in der vergangenen Zeit, in fernen Reichen oder mir ganz nah räumlich im Augenblicke vorgeht, ist ganz eins, ja ich erscheine mir selbst mehr und mehr geschichtlich..." 39 Bereits zwei Jahre früher schreibt Goethe von „einem Alter wo man sich selbst historisch wird". 40 Wovon spricht der Dichter in dergleichen leicht spukigen Äußerungen, wenn nicht von jener zeitentbundenen Überschau des Zeitlichen, jener „Fertigkeit" also, die ihn mit Euphorion verbindet und mit Mozart? In solchen Stunden wird er sich selbst und Anderen gespenstisch vorgekommen sein; ein Zug, der ja auch in dem alles durchdringenden Blick mancher später Portraits zum Ausdruck kommt. Die Welt war ihm so durchsichtig, wie sie es nach ihm auch Byron war. Er übersah fernste und nächste Zeitläufte, „so alles gleich zusammen" — wie Mozart sagt — mit unerschütterlicher Gelassenheit. Diese Fähigkeit liegt in tiuce in der Natur der symbolischen Sicht beschlossen. In jenen unscheinbaren und, unheimlichen Worten über das Wesen des Symbols — „es ist die Sache, ohne die Sache zu sein und doch die Sache"41 legt sich Nächstes auseinander, Fernstes rückt zusammen und will mit Nahem in Eins gesehen werden. Von da bis zu der simultanen Überschau des gesamten Lebens, wie sie Wilhelm Meister im Saal der Vergangenheit zuteil wird, ist nur ein kleiner Schritt. Es ist indes die simultane Sicht einer zeitgebundenen künstlerischen Organisation wie Musik und Dichtung im Akte der schöpferischen Empfängnis, die uns hier im Besonderen beschäftigt. Mozart hatte diese Gabe, Goethe teilte sie. Hier scheint ein Geist vorzuwalten, der dem göttlichen Intellekt ähnlicher ist als dem menschlichen. Denn Goethe sowohl wie Mozart — wie gewiß auch Shakespeare — scheinen in solchen Augenblikken der Eingebung des Sukzessiven ihres Sprach- oder Tonmediums 38 39 40 41

Dichtung und Wahrheit, III, 14, HA, 10, S. 32. An Wilhelm von Humboldt, 1. Dezember 1831, WA, IV, 49, S. 165. An J. F. K. Hecker, 7. Oktober 1829, WA, IV, 46, S. 96. In: Kunstgegenstände, AGA, 13, S. 868.

,Im Gegenwärtigen Vergangnes'

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gänzlich Herr zu werden. Ein derartiges „so gleich alles zusammen" meint der Dichter, wenn er etwa Mozarts Don Giovanni als „eine geistige Schöpfung" anspricht, in der sich „der dämonische Geist seines Genies" offenbart;42 eine von vielen Äußerungen, in welchen Goethe in seiner Bescheidenheit nie sich selbst mit einbegreift, die aber — und er wußte es! — für ihn ebenso gelten wie für die anderen Großen. Das schlechthin Unbegreifliche solcher Simultanität des Erschaffens — „wundersam" sagt Goethe bei dergleichen Anlässen — legt er sich als ein Einwirken göttlicher Kräfte aus, als ein Anwehen eines göttlichen Atems. In einer dergestalt hoch gesteigerten geistigen Produktivität übernimmt der göttliche Intellekt die Führung; und der Mensch wird zeitweilig das „Werkzeug einer höheren Weltregierung", „ein würdig befundenes Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses."43 In solchem Vorwalten eines andersgearteten Intellekts in ihm und durch ihn erkannte der reife Goethe, so meine ich, seinen Daimon; eine Relation der Abhängigkeit, kraft derer er sich dem Dämonischen unterworfen fühlte, wenn er sich auch beileibe nicht als eine dämonische Natur erachtete,44 in dem Sinne, in welchem er dieses Phänomen gegen Ende von Dichtung und Wahrheit erläutert. Dies simultane Schweben über nahen und fernen Zeitläuften und Räumen hat der späte Goethe noch einmal in einem seiner geheimnisvollsten und „übergänglichsten" lyrischen Gebilde eingefangen. Ich meine Um Mitternacht, ein Gedicht, das der Dichter selbst als ein Lebenslied bezeichnete. Titel und Kehrreim des Gedichtes erschließen dessen Bedeutung. „Um Mitternacht" ist die stille Wende, da das Strömen der Zeit momentan innehält; der ideelle Punkt, da das, was soeben noch morgen war, zum Heute wird, und das Heute — dieser Augenblick — sich zum Gestern wandelt. Es ist der Moment, da ein jedes beseeltes Wesen, wie blind es auch immer im Jetzigen verstrickt sei, „im Gegenwärtigen Vergangnes" erspürt: selbst das staunende Kind. Von dieser plötzlichen Uberschau geht eine große Helligkeit aus; und diese wird lichter und klarer, je weniger Fremdartiges das willige Gemüt verdüstert. Unter Stern an Sternen sieht das bange Kind Gespenster. Dem stürmischen Jüngling verdichtet sich das Gehen und Kommen des eigenen Dranges zum Widerstreit von Nordschein und Gestirn. Dem Greis aber, der sich selbst historisch und dem „die Allgegenwart der Gedanken" zum unverbrüchlichen Besitz 42 43 44

Zu Eckermann, 20. Juni 1831, AGA, 24, S. 759. Zu Eckermann, 11. März 1828, AGA, 24, S. 679. Zu Eckermann, 2. März 1831, AGA, 24, S. 469.

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Über Künstlertum und Kunst

geworden ist, ist ehegestern, gestern, heute und morgen „ganz gleich". Er besteht das Durchsichtigwerden der Zeit in der mondhellen Klarheit eines Gemüts, gewohnt, daß ...der Gedanke willig, sinnig, schnelle Sich ums Vergangne wie ums Künftige... schlingt. Wenngleich wir es mit Zeitaussagen zu tun haben, ist kein Vers mit dem vorangehenden oder dem kommenden in einer schlüssigen Zeitfolge verzahnt; aber auch keiner steht allein für sich. Nicht von einem „nach einander, wie es hernach kommen muß", spricht dieses „Wenn", spricht dieses „Bis". Ein Neben-, ja, ein Mit- und Ineinander meinen sie, „wie gleich alles zusammen": das Ineinander eines zeitentrückten Momentes, der, selbst stille stehend, voll von Wachstum ist, in dem, einer aufquellenden japanischen Blume im Wasserglase gleich, ein ganzes Leben zur Entfaltung kommt. Von der „mitternächtigen unvorhergesehenen Entstehung" dieses Gedichtes erzählt Goethe; 45 und: „ein wundersamer Zustand bei hehrem Mondenschein brachte mir das Lied ,Um Mitternacht', welches mir desto lieber und werter ist, da ich nicht sagen könnte, woher es kam und wohin es wollte..." 4 6 „...ein wundersamer Zustand...": gemeint ist jenes Geisterhafte, das die simultane Anschauung von Vergangenheit und Gegenwart in Eins wie ein heller Schatten begleitet; und diese wiederum geht Hand in Hand mit dem augenblicklichen in=die=Blume=Brechen einer physischen oder geistigen Organisation. Ein wundersamer Zustand „brachte" ihm dies Gedicht. Nichts, was er gewollt, nichts, das er dazu getan hätte. Ein reines Kind Gottes ist diese Eingebung und der Dichter weiß sich „ein würdig befundenes Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses". Hier, in höchster Sublimiertheit, begegnen wir noch einmal dem wundersamen Ereignis von Phalaena grossularia, nun aber von innen her erschaut. Das eigene Leben ist es, das sich ihm entfaltet, in dem Augenblick eines ganz gestillten Nu. Woher es kam, sein Gedicht, und wohin es wollte, er weiß es nicht, ebensowenig, wie Mozart es zu sagen wußte, der da schreibt: „Woher und wie, das weiß ich nicht..."; ebensowenig, wie Goethe es von Phänomenen wie Mozart selbst wußte, „die wir anstaunen und nicht begreifen, woher sie kommen"; und, in der Tat, ebenso wenig, wie Egmont von seinem

45 46

In Kunst und Altertum. Zitiert nach HA, 1, S. 746 (Anmerkung zu S. 372). Tag= und Jahreshefte für 1818, HA, 10, S. 521 f.

,1m Gegenwärtigen Vergangnes'

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Kurs Rechenschaft abzulegen vermag: „Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam." Es war ein junger Mensch, fast noch ein Jüngling, der einstmals diese Worte schrieb. Der Dichter, der sich derselben Prägung bedient, ist an die Siebzig. In vielem ist er ein Anderer geworden: welthaltig, besonnen, weise. Was indes den Greis mit dem Jüngling verknüpft, ist das fortgesetzte Walten in ihm jenes wundersamen Zustandes, in dem er mit Blitzesschnelle geistige Schöpfungen erzeugt, Schöpfungen, welche „fertig" sind wie Minerva, die „erwachsen und gerüstet aus des Erfinders Haupt hervorspringt." 47 Daß noch der greise, planvoll Lebende, manchmal wohl auch Starre sich, jugendlich erschüttert, dem Schock solcher Heimsuchungen und geisterhaften Selbstverfremdungen aussetzte, ist wohl die krönende Kunst dieses an Lebenskunst überreichen Daseins. Eine von Goethes überragenden Maximen — ich lege sie anderswo aus — lautet wie folgt: „Alles, was wir Erfinden, Entdecken im höheren Sinne nennen, ist die bedeutende Ausübung, Betätigung eines originalen Wahrheitsgefühles, das, im stillen längst ausgebildet, unversehens, mit Blitzesschnelle* zu einer fruchtbaren Erkenntnis führt. Es ist eine aus dem Innern am Äußern sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen seine Gottähnlichkeit vorahnen läßt. Es ist eine Synthese von Welt und Geist, welche von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste Versicherung gibt." 48 „...unversehens, mit Blitzesschnelle...": in der Dämonie seines Genius' wird Goethe manchmal erschauernd seine Gottähnlichkeit erkannt und verehrt haben, gemäß dem „herrlichen" Dictum: „Nihil contra Deum, nisi Deus ipse", von dem er sagt: „...Gott begegnet immer sich selbst; Gott im Menschen sich selbst wieder im Menschen. Daher keiner Ursache hat, sich gegen den Größten gering zu achten."49 Er gab uns geisterhaft zeitentrückte Gebilde, wie nur noch Shakespeare und Mozart neben ihm; geistige Schöpfungen von einer uranfanglichen „Fertigkeit", die unsere Vorstellung von menschlichem Schaffen übersteigt. Gewiß: dem von seinem Daimon Gelenkten, Dichtenden verlieh diese Synthese von Welt und Geist, in der die „Allgegenwart des Gedankens" alle Spuren der Zeitverfallenheit aufhob, die seligste Versicherung von der ewigen Harmonie des Daseins. Der Mensch aber, „ein doppelhaft Gebild", das sich selbst oftmals als gespensterhaft empfand: dieser entrichtete den vollen Preis dafür. 47 48 49

Dichtung und Wahrheit, III, 14, HA, 10, S. 33. Maximen und Reflexionen, N r . 364, HA, 12, S. 414. Zu Riemer, 3. Juli 1810, AGA, 22, S. 595.

,Fiat

Mihi...'

Der Faust-ScYi\u& in Mittelalterlicher Sicht Die Schönheit der Jungfrau ist Mutterschaft, die sich ahnt und vorbereitet, ängstigt und sehnt. Und der Mutter Schönheit ist dienende Mutterschaft[...]. Und auch im Mann ist Mutterschaft, scheint mir, leibliche und geistige; sein Zeugen ist auch eine Art Gebären, und Gebären ist es, wenn er schafft aus innerster Fülle. Rainer Maria Rilke 1.

Mein Titel entstammt dem Lukasevangelium und ist Marias Antwort auf Gabriels Verkündigung, sie würde den Sohn Gottes gebären (Luk. 1, 28 — 37). „Ecce ancilla Domini", antwortet sie; „fiat mihi secundum verbum tuum." Diese Worte markieren einen gerade jetzt heiß umstrittenen Umbruch in der Geschichte der Frau. Die nachträglich aus Adams Rippe Geschaffene wird zum Gefäß des Göttlichen, freilich — so sagen manche — nur um den Preis ihrer vollen Weiblichkeit; 1 und das, was sie durch ein Wort empfangt, ist das Wort, der Logos. Die annuncia^one ist ein Brennpunkt dreier Sphären: der religiösen, der semantischen und der biologischen. Somit wird sie, meine ich, zu einem Wahrzeichen für jenen anderen „Wortmacher", den Dichter. Auch er empfängt das Wort, inkarniert es und bekennt sich zu dieser seiner Sendung. Die folgenden Betrachtungen stellen einen kleinen Beitrag zu der Genese des dichterischen Selbstverständnisses in der Sammellinse des zentralen christlichen Ereignisses dar. An Hand von Goethe bekannten mittelalterlichen Gestalten markieren sie etappenweise den Weg von der Selbstsicht dieser längst Vergangenen zu dem „Ewig-Weiblichen" am Ende des Faust-Dramas und darüber hinaus. Einführend ein Wort über die Bilder, in denen sich mittelalterlichen Gemütern die Empfängnis eines Geistigen in einem Leib und die unver1

So z. B. Marina Warner, Alone of all Her Sex. The Myth and the Cult of the Virgin Mary, Quartet Books, London, Melbourne, New York 1978, bes. Kapitel 4, 8 und 12.

,Fiat Mihi.

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sehrte Jungfräulichkeit dieses mütterlichen Leibes dargestellt hat; und zwar theologischen Exegeten sowie Predigern, religiösen sowie weltlichen Dichtern. Die doppelte Paradoxie dieses Geschehens mußte sich in paradoxen Bildern niederschlagen. Maria empfangt also, ohne Berührung, durch das Ohr, sie gleicht einem lichtdurchdrungenen, jedoch unversehrten Glas, einem verschlossenen Garten, einer ungeöffneten Pforte usw. Wir werden solchen Empfängnis/tf/w an unerwarteter Stelle wieder begegnen. Ferner sei das biblische Wortfeld abgesteckt, in dem ich mich bewegen werde. Es ist fließender Übergänge voll, die sich in meiner — chronologischen — Anordnung abzeichnen. 1) Sprüche Salomons 9, 1., das heißt, des Künders der Einheit von Seele und Leib im Hohelied: „Die Weisheit baute ihr Haus[...]". Was ist das für ein Haus? 2) Lukas 8, 11. „Der Same ist das Wort Gottes." Logos (oder Sapienta, seit Origenes weitgehend mit Logos identifiziert) baut sein Haus auf organischen Wegen. 3) Johannes 1, 14. „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns [...]". „Haus" meint „Fleisch", „Leib". Diese Doppelaussage ist einheitlicher, als es scheint. Unser „wohnte" übersetzt die verbale Form des griechischen „skene" — „Zelt". „Zelt", „Haus", „Leib" und „Kleid" aber werden von Paulus als Synonyme gebraucht. 2 „Wohnte", „zeltete" also meint „trug ein Kleid von Fleisch" oder „ward verleiblicht". Maria ist das Zelt von Fleisch, welches das Wort beherbergt. Aus diesem Zelt aber baut sich das Wort das Kleid seiner eigenen Leiblichkeit. 4) Der Brief des Paulus an die Epheser 5, 28. „Also sollen auch die Männer ihre Weiber lieben wie ihre eigenen Leiber. Wer sein Weib liebt, der liebt sich selbst". 3 Der bereits in Maria als weiblich begriffene Leib des Wortes 2

3

Z. B. in 2 Korinther 5, 1—6. Hier wie größtenteils vermeidet Luther das Wort „Zelt", „tabernaculum" in der Vulgata. Als Mittelglied zwischen „Haus" und „Kleid", „Leib", jedoch ist „Zelt" wichtig, indem es die Vorstellungen von Gebautem und Gesponnenem miteinander verknüpft. Auch hält es die Bedeutung von „Wohnung Gottes bei den Menschen" bei, in der „tabernaculum" im 2. Buch Moses, Kapitel 25 und 26 verwendet wird, d. h., als Präfiguration des Leibes Christi und der — als theotokos angesehenen — Maria. Goethe war ein ausgezeichneter Lateiner und benutzte seine eigene Vulgata ständig neben seiner Lutherbibel ( R u p p e r t Nr 2605). Wie jedem Lateinkundigen vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert war ihm das Bedeutungsspektrum von „Zelt" selbstverständlicher geistiger Besitz. Siehe Abschnitt 10 dieser Arbeit und Anm. 62. Goethes eigene Lutherbibel ( R u p p e r t Nr 2604) enthält einige Merkzettel, einer davon zwischen Epheser 4.10 und 6.12. Die graphologisch nicht identifizierbare Aufschrift und der Herausgeber beziehen ihn auf Epheser 6.12, eine tatsächlich im Faust zitierte Stelle

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wird nun generisch als weiblich definiert; und zwar als ein dem Manne innigst Angehöriges, vergleichbar der Fülle des Leibes Christi in der Gemeinschaft der Gläubigen (Eph. 1, 23). Die Frau ist zum Körper des gottsuchenden Mannes schlechthin geworden. 4 Diese Symbiose von Männlichem und Weiblichem, im Einzelnen sowie in der Ehe, erhärtet Paulus durch sein Zitat von 1 Mose, 2, 23 — 24: „Sie werden sein ein Fleisch", welches jedoch, durch den neutestamentarischen Bezug von „Fleisch" auf „Wort", eine vertiefte Bedeutung erhält. 5) Offenbarung 22, 17. „Und der Geist und die Braut sprechen: ,komm!'". Das Verhältnis zwischen Mann und Weib, Seele und Leib wird hier dringlicher, inniger erfaßt. In diesem „komm!" drückt sich nicht nur das Zueinanderstreben von Christus und dem himmlischen Jerusalem oder der Kirche oder Maria aus — auch diese Partner sind auswechselbar: es meint auch die Sehnsucht des Männlich-Geistigen nach dem Bräutlich-Weiblichen in ihm, des Logos nach dem Leib, in welchem er „zelten", kraft dessen er wirksam werden will. Dieser ist also ein Wortleib, wie es schon Maria war; nur daß er jetzt zu einer „Wortbraut" geworden ist. Wir werden diesem Worte wieder begegnen. Unsere Zitate haben auf ein Weibliches im Manne hingedeutet: auf seine in immer größerer Verfeinerung begriffene soma; analog auf ein Männliches in der Frau: ihr geistiges Prinzip. Sie alle fächern den Menschen in ein Wesen auf, welches an beiden Geschlechtern Teil hat; und wir fragen, ob das Geschöpf den Schöpfer spiegelt. Die These, daß der Gott, der nach Moses den Menschen ihm %um Bilde als einen Mann und ein Weib schuf, selbst beide Geschlechter in sich begreifen müsse, wurde nicht nur heiß von Gnostikern 5 verfochten, sondern auch von orthodoxen Christen wie Clemens von Alexandria, St. Anselm von Canterbury, Bernard von Clairvaux 6 und Jacob Böhme; überdies hat sie ihre Entsprechung in der Bisexualität Atons in Altägypten, Shivas in Indien, Aphroditus' in Kleinasien sowie des orphischen Zeus und Dionysos in Griechenland.

4

5 6

(Z. 10094). Ich möchte ihn auf Epbeser 5.28 beziehen, einen für Goethe zentralen Vers, wie aus dem Folgenden hervorgehen mag. Paulus' Gesamtargument zielt auf die Analogie zwischen Christus/Leib der Gemeinde und Mann/Frau ab. In beiden Ordnungen nehmen Leib und Weib einen untergeordneten Rang ein. Die in Vers 33 bekräftigte, bildliche Aussage aber begreift die Frau als theotökos. Näheres bei Elaine Pagel, The Gnostic Gospels, London 1979, Kapitel 3. Die Vorstellung von Christus als nährender Mutter findet sich bei Clement und St. Bernhard, welcher schreibt: „[...] et suge non tam vulnera quam ubera Crucifixi." (Epistel 322, Patrologia Latina 182, S. 527 f.).

,Fiat Mihi..

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Die weite Verbreitung dieses Mythos bezeugt den archetypischen Charakter der zugrunde liegenden Vorstellung von dem Menschen als einem bisexuellen oder androgynen Wesen. Wieder bieten die gnostischen Schriften reiches Material. Hier nur ein dem Evangelium nach St. Thomas entnommenes Jesuswort. „Wenn ihr das Männliche und das Weibliche zu Einem macht, so daß das Männliche nicht männlich und das Weibliche nicht weiblich ist, [...] dann werdet ihr das Himmelreich gewinnen". 7 Piatons Mythos von dem kugelförmigen androgynen Urmenschen besagt Ähnliches,8 und die Vorstellung findet sich sowohl in rabbinischer Tradition9 wie auch in dem spät-antiken Asclepius wieder. Aus diesem ein für abendländisches Denken durchaus bezeichnendes Zitat: ,,Gott[...] ist voll von der Fruchtbarkeit beider Geschlechter [...] und nicht nur Gott, sondern jeglich Ding [...]. Denn jedes Geschlecht ist mit fortzeugender Kraft versehen; und in der Verbindung, nein Verschmelzung beider, die wir ebenso richtig Eros oder Aphrodite oder beides nennen können, liegt ein unserem Menschenverstand unfaßbarer Sinn"; worauf ein Lobpreis der geschlechtlichen Vereinigung folgt. 10 Von hier bis zu Goethes Wiederfinden — Und ein zweites Wort: Es werde! Trennt uns nicht zum zweitenmal... — ist kein so weiter Weg. In einem als bisexuell erfahrenen Wesen ist die Vorstellung einer männlichen Schwangerschaft naheliegend. Wir finden sie bei Piaton,11 bei Longinus12 und im christlichen Raum von den Kirchenvätern über Meister Eckhart bis zu Rilke. Der von Goethe mehrfach erwähnte Ambrosius von Milan schreibt: „Eine gläubige Seele ist zur ,Maria' geworden, im Glauben empfangt sie Christus, geistig gebiert sie Christus."13 Ähnlich Augustinus: 7

8 9 10

11 12

13

The Gospel according to St. Thomas, ed. and trs. A. Guillemont, H.-Ch. Puesch, G. Quispel, W. Till and t Yassah ,ABD Maslh, Leiden 1976, S. 16 f. (Übersetzung I. G.) The Symposium, Penguin, Harmondsworth 1965, S. 59 ff. Bei Rabbi Samuel bar Nachman, Paget (a. a. O.), S. 56. Asclepius III, 20b und 21. In: Hermetica. The Ancient Greek and Latin Writings which contain Religious or Philosophic Teachings, ascribed to Hermes Trismegistus, ed. with Engl. Tri. and Notes by Walter Scott, Oxford, Clarendon press, 1924, 3 Bde.; 1, S. 333 f. (Übersetzung I. G.). Diotimas Rede, Symposium (a. a. O.), S. 90 ff. Siehe Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, neunte Auflage, Bern und München 1978, S. 402 f. In: Erklärung zum Lukasevangelium, 2, 61. Für reiche Zitate siehe Michael Schmaus, Mariologie, München 1955, S. 286 ff.

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„Was ihr an Marias Leib bewundert, betreibt im Innern eures Geistes." 14 Für Methodius von Philippi — Goethe kannte auch ihn — werden die „in der Vollkommenheit Fortgeschrittenen [...] zur Gehilfin Christi, als Jungfrau [...] ihm vermählt, damit sie den reinen und zeugungsfähigen Samen der Lehre aufnehmen [...]. Die [...] Anfanger [...] aber werden von den Vollkommenen im Mutterschoß unter Wehen ausgetragen und gestaltet, bis sie [...] wiedergeboren werden [...]". 1 5 Vernehmen wir hier nicht, Jahrhunderte vor Swedenborg, einen Anklang an Pater Seraphicus, der am Schluß des Faust-Dramas die Seligen Knaben in seiner „Augen weltund erdgemäß Organ" (Z. 11906 f.) nimmt? So auch preist Meister Eckhart die Fruchtbarkeit der gläubigen Seele höher als deren Jungfräulichkeit. Denn „[...] da wird der Geist zum Weibe in wiedergebärender Dankbarkeit, wo er Jesum zurückgebiert in Gottes väterliches Herz." 16 2.

Noch müssen wir einer geistigen Revolution gedenken, die schon früher in die Wege geleitet wurde, und zwar von einer Frau: der Mystikerin Hildegard von Bingen. Goethe hatte ihre Lektüre mit einem lakonischen „merkwürdig" zur Kenntnis genommen. 17 Was begegnete ihm da? Bislang war die Frau dem Manne als ein zwar unerläßlicher, jedoch untergeordneter Teil seines Selbst entgegengetreten, als der Leib, in dem er sein Geistiges verwirklichen konnte. Auch der entscheidende Bezug des Mannes zu dem „Ewig-Weiblichen" verlief in seinem Seeleninnern. 18 Mit Hildegard aber übernimmt die Frau eine neue und führende Rolle. „Das Beste seines Innern" begegnet dem Mann in ihr. Sie ist nicht, wie bislang, die Verkörperung seines Leibes, sondern seiner Liebe. Der Mann 14 15 16

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18

Sermo 191, Patrologia Latina 138, 1011. Zit. Schmaus (a. a. O.), S. 288. In: Symposion, 3. Rede, Kapitel 8. Schmaus (a. a. 0.), S. 275 f. In: ,Vom Bürglein in der Seele, in das selbst der dreifaltige Gott nicht hineinlugen kann'. In: Meister Eckharts deutsche Predigten und Traktate, ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Friedrich Schulde-Mai^ier, Leipzig (Insel) 1938, S. 308. In: Kunst und Alterthum am Rhein und Main. In: WA I, 341, S. 102. Die folgenden Bemerkungen schließen sich weitgehend an P. Dronke (Mediaeval Latin and the Rise of the European Love-Lyric, Oxford, 1970, S. 66 ff.) an. Paulus empfahl das Zölibat, und für gnostische wie christlich-orthodoxe Denker realisierte sich das weibliche Potential des Mannes in der Begegnung mit einem anderen Mann, sei dies nun ein Liebhaber oder der mit noch so weiblichen Zügen ausgestattete Christus (siehe Anm. 6); und wenn mit einer Frau, wie Sophia-Maria, so mit einer idealen, in den Innenraum des Mannes verlegten Gestalt.

,Fiat Mihi.

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hat keine von der Geliebten separate Liebe, ein Bewußtsein von ihr, das sich mit der Wirklichkeit der Beziehung nur teilweise oder gar nicht deckte. Sie ist diese seine Liebe und verbürgt deren Wahrheit in ihrer schöpferischsten Form. Im wirklichen Liebesvollzug mit ihr kommt der Mann zu sich und erfüllt sein höchstes Potential, wie auch umgekehrt sie durch ihn. Mann und Frau erschaffen einander wie ein Kunstwerk, und ihre Göttlichkeit erfüllt die Erde wie einen irdischen Garten. In einer Vision Hildegards sieht der Mann diese Frau vor sich. Sie ist schön, und auf ihrer Brust trägt sie ein Bild, sein Bild. Eine Stimme bekräftigt ihm die Wahrheit ihrer an das Bild gerichteten Worte: „Puella haec quam vides, Charitas est, quae in aeternitate tabernaculum habet."19 In dieser Gestalt sind Sapientia und Logos verschmolzen. In ihr ist das Geistig-Göttliche verkörpert und zieht, nun als „Ewig-Weibliches", den ihr zugewandten Mann „hinan". Denn nur der ist zu einer solchen Liebe ausersehen, dem die spezifisch frauliche Gabe weisen Maßhaltens verliehen ist — „tempera prudentia, quam feminea ars habet" — und der solch edle Selbstzügelung dem Weiblichen in sich entnimmt — „quae bonam continentiam ex feminea natura contrahit". Ein solcher begegnet der Geliebten wie Lautenklang. Die Frau aber, die in dem Mann das innere Maß freilegt, das sie ihm vollendet verkörpert: gemahnt dies nicht an die Rolle Lidas in Goethes Leben und Dichtung, an das „Tropftest Mäßigung dem heißen Blute" des Briefgedichts, an die frühklassischen Dramen, in denen die Frau dem Mann „Rat, Mäßigung und Weisheit und Geduld" vorlebt, und, darüber hinaus, an jene fein gestimmte Wechselrede zwischen Faust und Helena, die einander aufbauen, aus deren arkadischem Lieben der Apollgleiche Euphorion erwächst? Mit dieser Gipfelsicht der Frau als dem die latente Geistigkeit des Mannes recht eigentlich konstituierenden Prinzip eilte Hildegard ihrer Zeit um Jahrhunderte voraus. „Wie Lautenklang" antwortet ihr über Raum und Zeit die zarteste aller männlichen Stimmen: Johannes vom Kreuz, Braut des göttlichen Bräutigams und so ganz durchdrungen von dessen Blick, „daß er mich zur Frau umschafft — „Por eso me adamabas".20

19 20

Epistola XXX, Patrologia Latina 197, 192d-193a. Zit. Dronke (a. a. O.), S. 68. ,Canciones entre el alma y el Esposo'. In: St. John of the Cross, Poems. With a transl. by Roy Campbell, Penguin, Harmondsworth, 1968, S. 38.

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3. Streifen wir kurz die ritterliche Gestalt Heinrichs von Morungen. Goethe lernte ihn im Jahre 1810 kennen. 21 Was fand er in diesem Lyriker? Den dichterisch vollendeten Niederschlag von Jahrhunderten von Mariologie und Mariendichtung: einen weltlichen Sänger, der sich in seiner totalen Empfänglichkeit der geliebten Frau gegenüber als figura Marias erfuhr und diese Rezeptivität durch subtilst verwandte topoi der Verkündigung zum Tönen brachte. Was diese Aneignungen besagen, hat Peter Kesting erhellt. Offen bekennt er sich zu der früher nur zaghaft anvisierten These, der Dichter stelle sich „mit Maria auf eine Stufe". 22 Ergänzend hat Peter Dronke in seiner eindringlichen Analyse der Lichtmetaphorik die zwischen einer Mediatrix und einer figura Christi schwankende Zeichnung der Geliebten herausgearbeitet. Dronkes Prämisse jedoch, die höfische Liebeslyrik sei Ausdruck einer spezifisch männlichen Seelenstruktur, verbaut ihm den Weg zu der Frage, was dies Hinüberspielen der Frau ins Männliche für den — männlichen — Liebespartner bedeutet. 23 Kestings phänomenologischer Ansatz wiederum spürt nicht den Konsequenzen der von ihm so klar erkannten Anverwandlung des dichtenden Mannes an das Weibliche nach. Das Totalphänomen eines solchen, doppelten, Vexierbildes männlicher und weiblicher Momente in der dichterischen Aussage sowie die Tragweite dieser Dialektik im Räume einer christlich-abendländischen Ästhetik aber ist mein hiesiges Anliegen. Im Hinblick auf den zentralen Platz der annuncia^one in Morungens Werk würde ich etwa so fragen: wird in diesem Zyklus dringliches erotisches Erleben, in sprachliche Energien umgesetzt, dergestalt sublimiert, daß Persönliches transparent wird und in einer gleichnishaften — und das heißt: religiös erfahrenen — Welt seinen Ort erhält? Hier muß ich es bei der wegweisenden Frage belassen. 21

22

23

Goethe entlieh Bodmers und Breitingers Sammlung von Minnesingern, Rüdiger Manesse, Zürich 1758 (Keudell Nr 644) und L. Tiecks Minnelieder aus dem schwäbischen Zeitalter, Berlin 1803 (Keudell Nr 645) vom 18. Jan. bis 6. Februar 1810. Eine Äußerung über Morungen habe ich nicht ausfindig machen können. Goethes starkes Interesse am Mittelalter in diesem Jahr — es zeitigte ein Schema zu einem Drama über Karl den Großen, die später in Die Italienische Reise aufgenommene Skizze über Philipp Neri und ,Sankt Joseph der Zweite' — legt eine Lektüre nahe. In: „Maria-Frouwe. Uber den Einfluß der Marienverehrung auf den Minnesang bis Walther von der Vogelweide". In: Medium Aevum. Philologische Studien, hrsg. v. Friedrich Ohly, Kurt Ruh, Werner Schröder, Bd. 5, München 1965, Kapitel 9, bes. S. 97. In: Mediaeval Latin and the Rise of the European Love-Lyric, (Anm. 17), S. 125 ff. und S. 9.

,Fiat Mihi.

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4. Wie von selbst jedoch beschwört diese Formulierung den Namen Dantes herauf. Wenden wir uns diesem Großen zu. Goethes widersprüchliche Stellung zu ihm nachzuzeichnen, geht hier nicht an. Nur dies sei gesagt: in seiner späten Würdigung des Florentiners spricht er diesem eben die Gegenständlichkeit zu, in der er, in dem Essay Bedeutende Fordernis durch ein einziges geistreiches Wort, den Stempel seines eigenen Genies erkannt hatte. „Er faßte die Gegenstände so deutlich in's Auge seiner Einbildungskraft", schreibt er dort, „daß er sie scharf umrissen wiedergeben konnte, [...] gleichsam nach der Natur gezeichnet [ . . . ] " . 2 4 Dieses aperçu wird der seismographischen Weltbezogenheit eines Menschen gerecht, der, überwältigt von Beatrices wachsender Schönheit, ausruft: Wie ward erst ich, der doch auf alle Weise Schon von Natur verwandelbar geschaffen {Par. V, Z. 98 f.). Dies ist der Dichter, der sein Dichten als Kopieren dessen, was in sein Gedächtnis eingeschrieben, oder als „ E i n - G e b u n g " der Liebe erachtet — als etwas von ihm Empfangenes also: „Ich bin ein Mensch, der immer Wenn Liebe ihn behaucht, es wohl bemerket, Und wie sie in mir spricht, so muß ich's sagen". ('Purg. X X I V , 52 f.) „Che quando Amor mi spira"; „spira" ist das Wort, das Dante zunehmend von dem Sprechen der Seligen verwendet; durch diese aber spricht der Spiritus Sanctus. Genau besehen, weist diese Selbstcharakteristik die seelische Struktur der annuncia^one auf! Und Amor? In La Vita Nuova beschreibt der junge Dichter das Nahen einer Freundin Beatrices, der diese selbst folgt. Amor erklärt ihm, er habe die Freundin „Primavera" genannt, weil sie dem Sommer Beatrices vorausginge; wie auch „Giovanna" von jenem anderen Vorläufer herstamme, der dem wahren Lichte, also Christus, vorausgegangen sei. „Und wer ganz genau zusehen wollte, der würde jene Beatrice Liebe nennen, wegen der vielen Ähnlichkeiten, die sie mit mir

24

Dante.

WA,

I, 42 2 , S. 70 ff. — Ich zitiere „Die Göttliche Komödie" nach Hermann

Gmelin (Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Italienisch und Deutsch, übersetzt von Hermann Gmelin [Zweite, unveränderte Auflage], Stuttgart 1974 und 1975); Das neue Leben nach Erwin Laaths, (Dante. Das Neue Leben. Die Göttliche Komödie. Die TempelKlassiker, München).

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hat" (§ XXIV). Amor diktiert, Amor identifiziert sich als Christus, und Beatrice wird als figura Amors, das heißt Christi, enthüllt. In der Tat ist die — vielfach vermerkte — Christushaftigkeit Beatrices unleugbar, und zwar in der Commedia nicht weniger als in Dantes Frühwerk. 25 Bedingt aber eine derartige Verlagerung der einen Gestalt ins Männliche nicht eine entsprechende Modifizierung in der anderen, auf sie zukomponierten? Diese Frage ist meines Wissens nie gestellt worden. Bejahen wir sie aber als Arbeitshypothese, so klären sich mancherlei Dunkelheiten, und es erschließen sich erregende neue Perspektiven. Werfen wir einen Blick auf Dantes Jugendwerk. Kritiker haben die Weichlichkeit der jünglingshaften Dantegestalt in La Vita Nuova gerügt; 26 in der Tat ist der moderne Leser von den unentwegten Zitteranfällen, Tränengüssen, Ohnmächten und Krankheitszuständen peinlich berührt. Der Hinweis darauf, daß der Dichter seine Gestalt einer zeitgenössischen literarischen Konvention gemäß stilisiert, hilft dem Übel nicht ab. Nehmen wir aber an, daß Dante sich nach bewährtem theologischen Muster als figura der heiligen Jungfrau erfährt, die das austrägt, was sie durch Gabriels Gruß empfangen hat, so liegt das Werk, wie dessen Hauptgestalt, erschlossen vor uns da. Der Schlüssel zu solchem Verständnis ist das zentrale Geschehen, Beatrices Gruß. Dies salute bedeutet nicht nur „Gruß" und „Heil"; es meint ganz spezifisch den Gruß des Engels, ein Bild, dessen sich der Dichter mit Bezug auf Beatrice denn auch stetig bedient. Dem Neunjährigen ist Beatrices erster Anblick eine Erweckung, ihr erster Gruß, neun Jahre später, zur neunten Stunde, eine von allen Zeichen einer Empfängnis begleitete Verkündigung. 27 Von diesem schick25

26

27

Die hervorstechendsten Stellen sind La Vita Nuova § XXIII, Purgatorio XXX, 19 und XXXIII, 10 ff. Ihre Bedeutung haben u. a. Erich Auerbach (in: Gesammelte Aufsätze %ur Romanischen Philologie, Bern 1967, S. 91 [Anm. 50], S. 98 und S. 100). J. B. Fletcher, „Dante's Image of the Sun" (in: Rom. Review XXIV, 1933, No. 2, S. 102 f.), George Wilson Knight, The Christian Renaissance (London 1962, second ed., S. 100 und 206) und Dorothy Sayers, The Comedy of Dante Alighieri The Florentine (Penguin, Harmondsworth 1977 [twelfth ed., vol. 2, S. 312]) erkannt. Z. B. George Santayana, in: Three Philosophical Poets. Lucretius, Dante and Goethe (Cambridge Harvard U. Press, 1947, S. 129 ff.). Aus solcher Sicht erklärt sich die mit der Gestalt von Beatrice verbundene Zahlensymbolik einfacher, als gewöhnlich gemeint wird. Neun ist die Zahl der Monate einer Schwangerschaft. Sie besteht aus drei Trimestern. Bis in feinste Einzelheiten hinein entspricht die Aussagestruktur von La Vita Nuova diesem wachstümlichen Rhythmus. Dantes eigene Erklärung — er weist auf die geheime Verbindung Beatrices mit der Trinität hin — schließt die hier vorgeschlagene keineswegs aus, sondern stützt sie kräftigst,

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salhaften Gruß sagt er später: „Und wenn das allerliebste Weib grüßte, [...] wuchs sie [die Liebe] so, daß mein Leib [...] sich oft nur wie etwas Schweres [...] bewegte. So daß ganz offenbar wurde, daß in ihrem Gruß meine Seligkeit lag, die gar viele Male über das Maß meiner Kräfte hinausging und mich völlig überwältigte" (§ XI). Hier spricht einer, der sich vor dem Gruß desselben „Engels" mit Marias ' ,Fiat' beugen wird: Amor, signor verace, Ecce l'ancella tua; fa' che ti piace (Can^one XV) Amor, du wahrer Herrscher, Sieh deine Magd, ich bin dir ganz zu Willen! {Can^one XV) Dieser Gruß wird Gegenstand einer Traumvision. Amor, furchtbaren Aussehens, aber freudig, gebietet dem Träumer, einer schlummernden, nackten Frau in seinen Armen ein glühendes „Ding" zu essen zu geben: „und es war mir, als spräche er die Worte: vide cor tuum". Die Schlummernde aber ist „die Herrin des Grußes [...]" (§ III). Offenbar dramatisiert Dante hier ein in seiner Totalität inneres Geschehen. Der Träumer „enthält" sowohl das liebeglühende Herz als auch die Schlummernde, in welche dieser Samen hineingesenkt wird. In ihm findet eine Begattung statt, in welcher er das aktiv zeugende „Ich" sowie das passiv empfangende „sie" ist. Einem dergestalt verinnerlichten Akt der Begattung werden wir noch mehrfach begegnen. Das Bewußtsein dessen, was ihm widerfahren ist, geht dem jungen Dichter an dem Wendepunkt seiner dichterischen Entwicklung, im Moment des Durchbruchs zu den „nuove rime" auf. „Amore e cor gentil sono una cosa" (§ 20) —: als unlösliche Einheit definiert Dante in diesem programmatischen Gedichtanfang die männliche Liebe — er nennt Amor ,sire' — und das weibliche edle Herz, welches deren Wohnstätte ist — ,sua magione'. Von der Schönheit entflammt, senkt sich die Liebe — genau wie sein glühendes Lebensorgan in den Leib der Schlafenden — durch Aug' und Ohr in ein edles Herz; und zwar kann diese seelische Befruchtung in beiden Geschlechtern gleichermaßen stattfinden. In dem folgenden Sonett jedoch (XXI) erfahrt er die zeugende wie aus dem Ende von Abschnitt 5 dieser Arbeit erhellen mag. Dem „Wunder" der Selbstentfaltung der dreieinigen Gottheit „de nove" entspricht das Wunder der Entfaltung von Beatrices geistiger Gestalt in der Seele dessen, der sie in sich austrägt, also des Dichters. Über die Äquivalenz von biologischen und geistigen Wachstumsprozessen bei Dante hoffe ich in Bälde eine Studie vorzulegen.

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Kraft der Liebe ganz spezifisch in sich: er empfangt Beatrice in seinem schlafenden Herzen. Ihr Gruß läßt sein Herz erzittern, und Süße und Demut werden in seinem Herzen geboren — ,nasce' —. Wie können wir daran zweifeln, daß Dante uns in der Untrennbarkeit von Amor und gentil cor einen Akt der Begattung bedeutet, der im Inneren eines Menschen stattfindet, ein Zeugen und Gebären, welches im Optimalfall — so sagt uns Can^one 12 und das Convivio2i — in einer zweiten Inkarnation Christi gipfeln könnte (eine Prophezeiung, die sich auf verschleierte Weise am Ende des Paradiso bewahrheitet)? Wie daran, daß Dante hier zur figura Mariae wird und daß Beatrice an die Stelle von Amor — das heißt des Zeugenden — gerückt ist? Was ist diese „Wohnstätte", in die der Keim der Liebe und des dichterischen Sagens eingesenkt wird, wenn nicht der mütterliche Nährboden im Mann, dasjenige im Geistigen, das dem Leibe Marias entspricht (Dante wird diesen ,albergo' nennen), das „Zelt", in dem der Logos wohnt: was anderes also ist das ,gentil cor' als der Sprachleib im dichterisch erweckten, vom schöpferischen Eros überschatteten Mann? 5.

In der Göttlichen Komödie, wie schon im Convivio, entwickelt sich aus der Keimzeile des von Liebe geprägten und dichterisch prägenden gentil cor ein reiches metaphorisches Geflecht, in ihm ein weitverzweigtes gedankliches Netzwerk: eine Kosmologie, eine Zeugungs- und Seelenlehre, und — meines Dafürhaltens — eine voll integrierte Ästhetik. Mit der Konsequenz des großen Genies leitet sich diese fast unabsehbare Vielfalt von einem Grundmuster her: von dem Bilde des prägenden Geprägtseins, eben dessen, was den Stempel von Dantes — sowie auch Goethes — Dichtertum ausmacht. Nur auf einige wenige Stränge dieses Gewebes sei hier hingedeutet. Ein Wort über die Pflanzenmetaphorik. Hier übernimmt das Erdreich, der humus — ein weitverbreiteter topos für die jungfräuliche Empfängnis 29 — die Rolle des empfangenden gentil cor. Der humus — das Wort hängt mit ,umile', ,demütig', zusammen — gut oder schlecht, ist der Nährboden, in dem ein guter oder schlechter Samen unter günstigen oder ungünstigen Bedingungen gute oder schlimme Frucht zeitigt. Diese

28 29

Vierter Teil, Kapitel XXI. Z. B. bei Johannes Chrysostomus. Siehe Hilde Graeff, Maria. und Verehrung (Freiburg, Basel, Wien 1964, S. 75).

Eine Geschichte

der

Lehre

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Metaphorik durchzieht das ganze Purgatorio, in dem jeweils einer der contrapassi dem Marienleben entnommen ist. Sie gipfelt in Dantes Läuterung im Irdischen Paradies. Die Flora dieser jungfräulichen Erde wird von Samen geschwängert, die unmittelbar — ,senza mezzo' — dem göttlichen Bereich entstammen: eine figura der jungfräulichen Empfängnis, die aber ihrerseits figura der lauteren Empfängnis eines reinen geistigen Samens im dichterischen Akt ist. Diese Entwicklung Dantes zu seiner spezifischen — künstlerischen — Sendung sichtbar zu machen, bedurfte es der vielen Künstler, welche den Läuterungsberg bevölkern; eine Tatsache, die oft bemerkt, aber meines Wissens nie befriedigend erklärt worden ist. Ich möchte behaupten, das ganze Purgatorio stelle die Entfaltung des Lukaswortes „Semen est verbum Dei" dar, in seinem doppelten Bezug auf biologisches und geistiges Schöpfertum, welches letztere wiederum in seine religiösen und künstlerischen Verästelungen aufgefächert wird. Zum zweiten schlägt sich das Urbild des prägenden Geprägtseins — und zwar durchaus in dem modernen, mit dem Namen Konrad Lorenz verbundenen ökologischen Sinn — in der Metaphorik des zum göttlichen Licht strebenden und vom Licht durchdrungenen Auges nieder; und dies ist die beherrschende Metaphorik dieses einmalig visuellen Dichters. Das Augentier par excellence ist der Adler. Mittelalterlicher Legende nach trägt die Adlermutter ihre Jungen auf ihren Klauen der Sonne entgegen, um sie an deren Licht zu gewöhnen. Im ersten Carito des Paradiso wird die unverwandt in die Sonne blickende Beatrice einer Adlermutter verglichen. Dante, durchdrungen von ihrem Blick — er ergießt sich durch die Augen in seine Seele — „per gli occhi infuso/ Neil' immagine mia" —, folgt ihm und schwingt sich, von ihm beflügelt, himmelwärts. Somit wird Beatrice zur Mittlerin, Dante zu einer empfangenden — also weiblichen —, das Empfangene aber in aktives Streben umsetzenden und weitergebenden — also auch männlichen — Gestalt. Dieser Gestus wird das ganze Paradiso hindurch beibehalten, 30 in jenem beflügelnden Aufblick, der an Stelle jeglicher Berührung die Form der erzieherischen Liebe ist, die Dante von Beatrice sowie allen anderen Seligen zuteil wird. Das Auge aber, durch welches das Licht einfallt, ohne die Linse zu versehren, ist genau besehen die Urform des marianischen topos der jungfräulichen Empfängnis durch ein „ganz geworhtes glas'. Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir in dieser unzählige Male abgewandelten 30

Dieses Eingangsbild wird uns durch wiederholte Vergleiche Beatrices mit einer Vogelmutter v o r Augen gehalten.

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Empfänglichkeit des liebedurchdrungenen Auges eine auf die Hauptfigur bezügliche figura der jungfräulichen Empfängnis sehen, zumal das Augenwesen, der mit Beatrice assoziierte Jupiteradler, als ausdrückliche Emanation des Heiligen Geistes in Erscheinung tritt (Par. XIX, bes. 100 f., und XX). Dieses geistig-visuelle Verhaltensmuster wird am Ende des Paradiso noch einmal in einem Bild vergegenwärtigt, das dem des Anfangs vollauf entspricht. Der „fedel' der heiligen Jungfrau, der Heilige Bernhard, geleitet Dante zur Schau der Himmelskönigin. Sein Auge ist auf sie gerichtet, Dantes auf das seines Führers, der ihn anweist: Du mußt mir dann mit deiner Liebe folgen Und nicht dein Herz von meinem Wort entfernen {Par. XXXII, 149 f.). Ist diese Mahnung, sich „im Flug" an seinem „Wort" festzuhalten, nicht der Gestus der Adlermutter, dir ihr festgeklammertes Junges zur Sonne trägt? Warum, fragen wir, löst Bernhard, ein Mann, die geliebte Frau in ihrer Funktion als prägend-geprägte Mittlerin ab? An dem Gipfelpunkt, wo dem Dichter in der das göttliche Wort empfangenden Jungfrau sein eigenes Innerstes entgegentritt, hätte Beatrice Dantes Stellenwert als Mann zu eindeutig festgelegt. St. Bernhards Eintreten an ihrer Stelle gibt uns den Blick für die Einsicht frei, daß wir es hier mit dem reinen Phänomen des Empfangens zu tun haben, jenseits der spezifischen Geschlechtszugehörigkeit des empfangenden Menschen. Wie Beatrice vorher, führt nur dieser Maria Gewidmete Dante zu der Schau der „Vergine Madre'. Beidemal sieht er sie, „in der verkörpert das Gotteswort" (XXIII, 73 f.), so, wie er selbst das Dichterwort empfangt: im Akt der Verkündigung (XXIII, 87 ff. und XXXII, 84 ff.). Die Liebe in ihrem Leib sieht er entbrennen (XXXIII, 77), und zwar das zweite Mal — in ihrem Auge. Den brennenden Engel sieht er „ins Auge unsrer Königin versunken" (XXXII, 103 ff.). Dreifach also hat der Dichter das Geschehen als einen Akt der Empfängnis gekennzeichnet: einmal in dem Kreisen des Engels um Maria in einem visionären Raum, sodann in der Verlegung dieses kühnen Liebesspiels in das Auge der Empfangenden; überdies durch die zusätzliche Verwendung des althergebrachten topos der Empfängnis: das Organ, in dem diese Begattung stattfindet, bleibt unversehrt. Marias Auge steht synekdotisch für ihren Körper ein. Hier müssen wir einen — den — technischen Kunstgriff einer Dichtung vermerken, deren Handlung sich in toto im visionären Raum von Dantes

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Auge vollzieht. Die visuelle Wahrnehmung eines lebensgroßen Geschehens bedingt eine optischen Gesetzen unterworfene Reduzierung seines Maßstabes. Nur so kann es gesehen werden; andersherum betrachtet erfordert eine Wahrnehmung das Korrelat eines Wahrnehmenden, ein optisches Bild ein sehendes Auge, in dem es produziert werden, das heißt, erscheinen kann. In wessen Auge nun erscheint die Wahrnehmung der annuncia^one sowie alle die anderen, die uns in diesem Gedicht dargeboten werden? Wo ist der eigentliche „Ort", „wo ein jedes Wo und Wann sich findet" — „s'appunta" — (Par. XXIX, 12), „der feste Punkt, der sie immer/Am Ort wird halten, wo sie ewig waren" (XXVIII, 93 ff.)? Außer wenn wir einen solchen Bezugspunkt voraussetzen, verfallt die Mannigfaltigkeit der ideellen optischen Phänomene, die das „Geschehen" dieser Dichtung ausmachen, der radikalsten Subjektivität. Wo „ist" das, was Dante sieht, z. B. wenn er schläft? Diese Frage — sie nimmt faktisch die Problemstellung von Berkeleys Idealismus voraus — kann auch nur in dessen Sinn beantwortet werden. Die Wesenhaftigkeit einer als optischer Erscheinung begriffenen Welt wird nur durch Gottes all- und immersehendes Auge gewährleistet. Unser esse ruht in dem percipi von Gott. In der Tat begreift Dante Gott als den All-Sehenden {Par. IX, 73 und XXI, 49 f.), in dessen Auge allein sich alles spiegelt (XXVI, 106 ff.). Hier erläuternd ein Wort über „Spiegel" und „Auge", zwei von Dante gleich ausgiebig verwandte Bilder. Beide sind Empfängnis-/«/»?/. Der Lichtstrahl fallt durch das unversehrte Spiegelglas auf dessen Rückseite ein, sowie durch die unversehrte Augenlinse auf die Retina des Auges. Aber auch ihrer tiefgreifenden Differenzen ist Dante gewahr. Der Spiegel ist ein passiver Reflektor. Er bedarf des wahrnehmenden Auges; denn erst dieses verwandelt das Widergestrahlte in ein Bild. Wenn also Adam erklärt, Gott sei der wahre Spiegel, Der alle andern Dinge widerspiegelt Und selbst gespiegelt wird von keinem andern {Par. XXVI, 106 ff.), so sagt dies zweierlei: Gott allein spiegelt die Gesamtheit der Dinge; er allein aber nimmt auch das, was er passiv reflektiert, gleichzeitig aktiv wahr; denn nur ein Auge ist fähig, die einfallenden Lichtwellen selbsttätig zu einem Bilde — „pareglio' — zu verarbeiten. Das Leuchten Gottes in den Augen der Seligen ist die bruchstückweise, passive Spiegelung, aber auch die aktive Verarbeitung von Gottes allbegreifendem Wahrnehmungsbild; es bedeutet — ganz im Sinne von Aristoteles' De Anima — die

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stetige Anverwandlung ihres potentiellen Intellekts an den nous poietikos Gottes. Wenn also Beatrice mahnt: „Nicht nur in meinen Augen ist der Himmel" (Par. XVIII, 21) und ihren Schützling später, in fast gleichlautenden Worten, auf die verweist, „in der verkörpert das Gotteswort" {Par. X X I I I , 70 ff.); wenn Dante eben diese Fleischwerdung in Marias Auge verlegt und uns bedeutet, ihr Auge und Angesicht glichen dem des Allsehenden am meisten {Par. XXIIII, 85 und 93, und X X X I I I , 45), so bringen diese Hinweise ein energisch durchgehaltenes internes Argument zu seiner endgültigen Rundung. Wir dürfen also folgende These wagen: wie alles Geschehen in diesem Epos, ist die annuncia^one letztlich ein Ereignis im Auge Gottes, und ihre Frucht erscheint in jener ,pupilla viva', welche bereits zu Anfang des Paradiso als das eigentliche Leuchtzentrum des — als Körper verstandenen — Kosmos begriffen worden war {Par. II, 144). Diesen von der Optik sowie von der Gesamtbewegung der Dichtung gleichermaßen geforderten logischen Schluß 31 bekräftigt ein double entendre im abschließenden Canto, das meines Wissens der Forschung entgangen ist. Die ,iri', die der Entrückte einander spiegeln sieht, sind nicht nur, wie allgemein angenommen wird, Regenbogen: sie meinen auch — und dies entspricht der durchgängigen systolischen Bewegung des Endes — die in sich selbst schillernde, die ,pupilla viva' umkränzende Iris des Schöpferauges {Par. X X X I I I , 118). 32 31

Auf die Diastole eines im — visionären — Räume ausgebreiteten Geschehens — „squaderna" nennt Dante es im Rückblick (Par. XXXIII, 87) — folgt die mit canto XXVIII einsetzende und im Schlußcanto gipfelnde Systole — „s'interna" (Par. X X X I I I , 85). Das im physischen Kosmos als ausgedehnteste Sphäre erscheinende Göttliche entpuppt sich als ein in den Kategorien von Raum und Zeit nicht erfaßbares Energiezentrum: ein reiner Funken (Par. XXVIII, 38), oder Punkt (Par. XXVIII, 16, 25, 41, 94, 101; X X I X , 9; X X X I I I , 94), welcher, in einer letzten Paradoxie, das Universum in sich begreift (Par. XXVIII und X X X , 12). — Diese Konzentrierung wird bereits in canto X X V I I vorbereitet. Hier reduziert Dante ein kosmisches — also überlebensgroßes — Geschehen auf einen stets kleineren Maßstab, der sich im folgenden canto als ein optischer enthüllt. Das Lachen des Weltalls (4 f.) wird zu der Freude Gottes (95 f. und 104 f.), diese spiegelt sich in Beatrices Gesicht (ebd.). Zu Begin von canto XXVIII aber — dem canto also, welcher die Lehre von dem in dem „Punkte" Gottes zentrierten transzendenten Kosmos entfaltet — wird dieser Kosmos in seiner Gesamtheit Dante im Spiegel von Beatrices Augen sichtbar „nei belli occhi" (11). Ist dies nicht eine weitere Kette von Hinweisen darauf, daß der alles umfassende „Punkt" als allwahrnehmendes Auge zu deuten ist, vorbereitend auf das Ende, wie es hier dargelegt wird?

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Nach S. Battaglia, Grande dicionario de IIa lingua italiana ist „iri" im Sinne von „Iris" bei Villani (1590/1636) belegt, und es besteht kein Grund, anzunehmen, daß das Wort in dieser Bedeutung nicht bereits zur Zeit Dantes gebräuchlich war.

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Die drei Kreise gleichen Umfangs von Dantes Schau dogmatisch auf Gottvater, Heiligen Geist und Christus festlegen zu wollen, würde der Vielschichtigkeit von Dantes Metaphorik, der Präzision seiner Optik und — der atemberaubenden Kühnheit seiner Gottesschau kaum gerecht. In ihrem Farbenspiel erscheint das — nunmehr verinnerlichte — Mysterium des sich fortzeugenden dreieinigen Gottes (Par. X, 1 ff., XXXIII, 98 ff.) —: der brennende Engel und der in Liebe entbrannte Leib der Vergüte Madre. In der letzten Schau der Trinität, sich selbst verstehend und in heilig-inzestuösem Liebesspiel sich selbst zulächelnd, spiegelt sich der menschliche Schöpfer — Dante: das glühende Herz und die schlafende Geliebte, begattend sowie begattet, causa sui, die Teilung der Geschlechter transzendierend. Eine QuaternitätP Eine Trinität, in welcher „Geist und Braut" ihr „komm!" vollzogen haben und einem Künstler nicht mehr unterscheidbar sind? Ich meine, das Letztere. Das Paradiso gipfelt in dem optisch-mystischen Vollzug, auf den jede Einzelheit und die Dynamik des Ganzen abgezielt hat: in der unio mystica von Dantes Auge mit dem Auge Gottes. Und hier halten sich, wie durchweg, männliches Streben und weibliches Fiat die Waage. Dante wird von Gottes Blick — ,vista' (Par. XXXIII, 52) — durchdrungen, so wie er, in letztem Mut, diesen Strahl bis zu seinem Ursprung herauf durchdringt. Und in diesem wechselseitigen Zeugungsakt springt der Funke über und der menschliche Schöpfer empfangt — sein Werk. Die figura dieses zündenden Geschehens ist der Menschensohn, der als feuriger Leuchtkern des heiligen Auges erscheint: ein Einbruch des in sich ruhenden, punktuell erfahrenen Göttlichen in Zeit und Geschichte, so unbegreiflich wie das Wachstum des soeben blitzartig Empfangenen zu jenem dreiteiligen, aber „in einem Band mit Liebe eingebundenen" Werk (Par. XXXIII, 86), das dieses Dichters nachfolgende missio war. 6.

Jeder Übergang von Dante fallt schwer. Wenden wir uns Heinrich von Meißen zu. Goethe war ihm bereits im Jahre 1810 begegnet, und während seiner letzten Arbeitsperiode am Faust vertiefte er sich in ihn. 33 Was mag den greisen Dichter in dieser Gestalt des Überganges angesprochen haben? 33

Bodmers und Breitingers Sammlung von Minnesingern (a. a. O.), (siehe Anm. 21) enthält eine kleine Auswahl von Frauenlobs Sprüchen. Daß diese Goethe beeindruckten, erhellt aus dem Divan-GeAicht Auserwählte Frauen. Zeile 22 ist entweder tautologisch, oder sie bezieht sich auf Frauenlob. Vom 30. Mai 1827 bis zum 6. November 1828 entlieh Goethe

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Daß Frauenlob 34 einen jener Brennpunkte spezifisch dichterischen Erlebens darstellt, denen wir nachspüren, springt in seinem Unserer Frauen Leich ins Auge. Hier wird die als sinnlichstes Liebeserlebnis erfahrene annuncia^one in einer bis zum Übermaß erotisch saturierten Sprache nachvollzogen. 35 Wir fragen, ob sich in solcher Verschmelzung möglicherweise eine Leistung von Rang abzeichne. Die Identifizierung des Dichters mit dem Heilsgeschehen tritt klar in der Ich-Form zutage, in welcher dieser selbst, gleichsam bauchrednerisch, durch jene andere Wortmacherin, die Jungfrau, spricht; ferner in der Verzahnung der auf ihn selbst und der auf sie bezüglichen Bilder. Hier nur ein Beispiel. In der Eingangsstrophe sieht der Dichter Maria „vor miner ougen anger" (3): ein Bild, das an solch exponierter Stelle selbst dieser Schwärmende als tonangebend empfunden haben dürfte. Im Folgenden aber dient dasselbe Bild in den verschiedensten Abwandlungen dazu, die Fruchtbarkeit derer zu bezeichnen, die „daz lebende minnewort" (8, 1) in sich austrägt. Ein „bernder grünt" (6, 12) ist die „bernde meit" (3, 1), deren „ouwe [...] bluomen birt in werder schouwe" (3, 1 ff.); und — diesmal bereits in der Schwebe der Ich-Aussage — ein „wurzenricher anger, min bluomen die sint alle swanger" (12, 20 f.). Nach der Hochzeit mit ihrem „vriedel" erscheint das Wort neunmal innerhalb von sieben Zeilen! Könnte es sein, daß das „Blümen", dem sich dieser Dichter so ausgiebig hingab, von dem Gegenstand seines Lobpreises bestimmt ist? 36 Denn wovon sind Marias „bluomen" eigentlich „swanger"? Von dem Wort, dem verbum, welches sie „schwängert" und das, in ihre „rede gevlohten", zum nomen wird, das heißt zum eingeborenen Wort: ein erotisch-semantischer Vorgang, der in der sechzehnten Strophe des Leiches Wort wird (16, 14 ff.).

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die Minne- und Meistersänger-Lieder aus dem 14. und 15. Jahrhundert von Frauenlob u. a., in der Jenaer Handschrift (Hs Q. 564), (Keudell Nr 1810), und bezeichnete das Gelesene als „dergleichen Schätze", die man „nur so spät als möglich aus Händen gibt" (an Freihern C. von Stein zum Altenstein, 20. November 1828). Ich zitiere den Marienieich (Ufl.) nach Ludwig Pfannmüllers Text (Frauenlobs Marienieich, Straßburg 1913), alles andere nach Ettmüller (Heinrich von Meissen des Frauenlobes Leiche, Sprüche, Streigedichte und Lieder, erläutert und herausgegeben von Ludwig Ettmüller, RODOPI, Amsterdam 1966). Ahnliches bei Helmut Kissling, Die Ethik Frauenlobs (Heinrichs von Meissen), Halle (Saale) 1926, S. 86. Generelles über Frauenlobs Blümen bei Brunhilde Peter, Die Theologisch-Philosophische Gedankenwelt des Heinrich Frauenlob, Speyer 1957, S. 157.

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Daß Frauenlob in der Fleischwerdung des göttlichen Logos ein Analogon dichterischen Inkarnierens sah, geht klar aus folgender Stelle seines Kreu%leichs hervor: Wie biltsam üz des herzen schrin sich daz wort mit willen dringet, swinget, slinget, swenne ez diu zunge luftic twinget, Sus gebar der vater sin Den sun {KL, 3, 6 ff.). Gewiß steht Frauenlob mit seiner Auslegung der pro^essio Gottes innerhalb der logisch-grammatischen Kategorien Aristoteles' auf althergekommenem Boden. Schließt dies aber aus, daß in den Händen dieses Wortverfallenen Tradition zu einem eminent persönlichen Ausdrucksmittel wurde? Daß dem so ist, zeigt der Minneleich, ein von marianischen Anklängen scheinbar nur locker eingerahmter Preis der irdischen Liebe. Denn, genau besehen, erweist sich die pro^essto des Wortes in die Leiblichkeit, die den Gehalt des Marienleiches ausmacht, als das tektonische Prinzip dieses weltlichen Liedes. Versuchen wir, den „sprunc in die meit" als die streng durchgehaltene Strukturaussage dieses so brünstigen Werkes zu begreifen. Der Leich beginnt mit einem internen Dialog von Dichter und Denker, den er als „Her Sin" anspricht. Nach dessen Anweisung „bildet" er sich eine generelle Konzeption seines Gegenstandes, des „Wibes". Sie sei Alanus' Fee gleich, und somit der Natur, deren Ordnung von göttlichen Gesetzen durchwaltet ist. Denn: „Natüre ist als ein frouwe" (Spruch 232, 13). Dieser intellektuelle Vorstoß zu einem ersten Begriff des zu Sagenden — dieses wird selbst als tätig-ordnendes Wesen begriffen — ist meines Erachtens die erste Etappe der dichterischen generatio: er bezeichnet die missio ins verbum, „daz wo'rt [daz] mir von der hoehe quam (Ufl., 16, 14). Nach dieser konzeptuellen Anvisierung des Themas scheidet „Her Sin" als Gesprächspartner aus, und in der Tiefe der dichterischen Phantasie vollzieht sich der eigentliche Schöpfüngsprozeß. Dieser selbst wird visionär vergegenwärtigt, und zwar in dem uns bekannten archetypischen Bilde einer androgynen Urform, halb Mann, halb Magd, aus deren „Wort" ein — Gott ersteht. Selvon der kneht ein got wart in ir worte (11, 5 f.).

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Die „Er-innerung" löst des Dichters Zunge. In dem sprachlichen Vollzug dieser lustvollen Selbstbegattung erschließt sich ihm Sinn und Ursprung des „Pronomens" — „Sie": Si wart geheizen si durch ganze süeze (14, 1). In den folgenden fünf Zeilen — sie heben jeweils mit dem S von „süeze" an, und das Wort selbst wird fünfmal ausgekostet — gewinnt das Geahnte Klangkörper und Kontur. Sein Wesen beginnt sich abzuzeichnen. Wie aber, und wo, wird Verheißung „Ereignis"? Nicht in der Springflut der einundzwanzig Bilder, die bei aller ihrer dringlichen Sinnlichkeit als dem zu Sagenden nicht adäquat wieder verworfen werden. Nicht in der immer wiederholten, beschwörenden Formel „noch süezer denn", mit der diese brünstigen Unsagbarkeits-Zo/w anheben, noch in der Hinauszögerung einer von dem syntaktisch unfertigen Satzgefüge geforderten Klimax: all diese rhetorischen Mittel dienen einzig dazu, erotischen Hochdruck in Sprache umzusetzen. Das so Angestaute entlädt sich in dem Hauptsatz, der das verbum und, mit diesem, die Entspannung bringt: Noch süezer ist* der formelicher vröuden tac, der dir üz wibes bilde blicket durch din ougen in dins herzen eigen (19, 1 f.) Wovon aber handelt dieser Satz — er ist haargenau in der Mitte des Leiches placiert! — wenn nicht von dem Ereignis der annuncia^one, der Einfleischung des verbums, in einem klassischen, auf den liebenden Mann bezogenen Empfängnis/ö/xw? Mit diesem „Sprung in die meit" — also in das dichterische Sagen — „verkündigt" sich die Identität des Empfangenen. Verbum — genau gesprochen das erlösende „ist" — wird Nomen, Person, „dri genende" hat das, was da wesenhaft werden will, der mittlere Namen — wip — hat drei Buchstaben. Der Anklang an die Trinität ist unverkennbar. Des Weibes Name, der „gebenedite schre", „hat manlich leit zerbrochen" (23, 8), gerade so, wie der „gebenedite nam" {Ufl. 16, 15) des Erlösers den Fluch der Erbsünde zerbrochen hat (Spruch 391, 14 und 392, 4—10). Wir werden nicht fehlgehen, in der Oratio auf den namen wip die formale Entsprechung von Gabriels „Ave" zu sehen. Durch diesen Akt der Nennung werden beide, die Frau sowie der Logos, wesenhaft, verleiblicht, und dergestalt „begrifflich" (Spruch 391). Durch zwölf jeweils mit dem magischen W

* Hervorhebungen I. G.

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anhebende Verse wird „das Wort [...] Fleisch": Gefühl, Geschmack, Geruch, Klang und Gestalt. Die Nennung des Dritten, Höchsten — „vrouwe" — löst die disputatio aus. Wie der Fürst in ritterlichem „strit" sich vom Munde der Geliebten „manecvaldes grüezen gevlohten mit den Worten süezen" holt und damit Bestätigung und Kraft, so holt sich der Dichter Lebensstoff für das in ihm Werdende. Die kostbarsten Materialien schafft er heran, das Empfangene zu bekleiden. Wo findet er sie? „in mines herzenschrines saft", sagt die Geliebte (38, 4), in Worten jedoch, die in den zitierten Versen des Kreusjeichs für das Dichterinnere verwendet worden waren {KL, 3, 6 ff.). In ihr also? Ja, solange wir nicht vergessen, daß sie in ihm ist, von ihm gezeugt und in ihm empfangen, der schöpferischen Selbstbegattung gleich, die ihm in dem „dunstlich bilde" des Eingangs vorgeschwebt hatte. Das, was er da „bekleidet", ist Fleisch von seinem Fleische und Bein von seinem dichterischen Bein. Er selbst weiß es. Seines Herzens Grund, seines „sines kamer" (33, 1) (schon dies eine Miniature der annuncia^oneX) hatte er durchstöbert, um des „lobes kleide" (Spruch 151, 4) für sie zu finden, gerade so, wie Gott die Jungfrau, diese „daz lebende minnewort" (Ufl. 8, 1) „bekleidet" {IJfl. 14). Die „vruht" aber, die hier ein Mensch, ein dichtender Mann, im seelischen Innenraum austrägt, ist „vrouwen-lob". Spielend schaut sein Name aus der letzten Strophe heraus — wie Dante aus Gottes Auge? Welch ein kecker nom de plume! Frauenlob ist die „wirde" und die Weihe dessen, der sich selbst als empfangende Frau erfährt und in der Gottesgebärerin — sich selber lobt. Wie sagt er doch in seiner fromm-lästerlichen Art? ja hastu von uns hohen pris und ere. entaeten wir, du waerest nie: din heil gar an uns stät (Spruch 328). 7. Werther „kehrt in seiner Mutter Leib zurück", verfügt Goethe; 37 und wiederum hören wir, sein Tusso sei „im Walfischbauch" ziemlich gediehen. 38 Zu solcher Weiblichkeit im Schöpferischen bekannte sich der Dichter je und je. Nehmen wir folgenden Ausspruch: „Der herrliche Kirchengesang: Veni creator Spiritus ist ganz eigentlich ein Appell ans Genie; deswegen

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An Knebel, 21. November 1782. Italienische Reise, auf dem Weg nach Sizilien, 2. April 1787. HA, 11, S. 228.

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er auch geist- und kraftreiche Menschen gewaltig anspricht"; 39 dazu diesen, Dantes Idee des gentil cor und der Dichtung als „In-Spiration" so urverwandten: „[...] Poesie... ist Eingebung; sie war in der Seele empfangen, als sie sich zuerst regte. Man sollte sie weder Kunst noch Wissenschaft nennen, sondern Genius"; 40 und schließlich diesen: „Ich empfing in meinem Innern Eindrücke [...] sinnlicher, lebensvoller... Art [...]; und ich hatte als Poet weiter nichts zu tun, als solche... Eindrücke in mir künstlerisch zu ründen und auszubilden." 41 Konturieren diese drei Aussagen zusammen nicht eine annuncia^one? In wie vielen von Goethes männlichen Gestalten hat sich diese ungewöhnliche Prägsamkeit niedergeschlagen! Man denkt an das Ausgeliefertsein Werthers, Tassos, Eduards, des Vaters von Eugenie oder des „zerrinnenden" Epimetheus, des Sprechers der Lili- und Lidagedichte oder der späten Elegie. Ihnen allen ist das Bild der Geliebten ins Auge geätzt; ihr Gehen wie ihr Kommen entscheidet das Schicksal dieser Harrenden. Der Labilität des Mannes entsprechen amazonenhaft-herbe Züge in der Zeichnung solcher Frauengestalten wie Iphigenie, Dorothea, Eugenie, Natalie, der Gestalt der Muse in Zueignung oder der Besungenen in Elegie; auch Mignons, deren Zwischengeschlechtliches durch heramphroditische Züge verschärft wird. Man darf wohl von Christusartigen Zügen dieser glänzenden und dann wieder dem Blick entzogenen Erscheinungen sprechen. Das Jesus wort Beatrices: 'Modicum, et non videbitis me Et iterumf...] Modicum, et vos videbitis me'. (Purg. XXXIII, 10 ff.) und Goethes eigene, auf ein zweites Kommen verweisende Worte: Erst verborgen, offenbar zu werden, Offenbar, um wieder sich zu bergen [...] (Pandora, Z. 1051 f.) gelten für alle die Geliebtesten in seinem Leben und Werk. 8.

So weit fügt sich Goethe lückenlos in unser Panorama. Hat sich aber diese seine Weiblichkeit in einer der Selbststilisierung seiner Vorgänger 39 40 41

Maximen und Reflexionen, Ha, 12, S. 472, N* 762. „Aus Makariens Archiv". Wilhelm Meisters Wanderjahre, 3. Buch, HA, 8, S. 482, Nr 143. Zu Eckermann, 6. Mai 1827. AGA, 24, S. 636.

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entsprechenden, marianischen Männergestalt verdichtet? Werfen wir einen Blick auf drei Gedichte Goethes über Dichtung. In Erklärung eines alten Holzschnittes, vorstellend Hans Sachsens Poetische Sendung wird ein seelisches Geschehen — das Innewerden einer Sendung — in sechs Gestalten aufgefächert: zwei männliche — Dichter und Narren —, vier weibliche — Sachsens Naturell, seine Stoffwelt, die Muse und das ihm verheißene Mädchen. Dies Uberwiegen femininer Komponenten in einer männlichen Psyche verblüfft. Es erklärt sich aus dem inneren Bezug zwischen Mann und Mädchen. Hans Sachs ist wieder einmal beim Dichten. Die Ruh „gebiert" ihm neue Arbeit: Er fühlt, daß er eine kleine Welt In seinem Gehirne brütend hält, Daß die fangt an zu wirken und leben, Daß er sie gerne möcht' von sich geben. Er kann es aber nicht. Stoff hat er: aber der ist alt. Kopf hat er auch: aber der ist kalt. Seine Narren sind „allzuwitzig und allzudumb", kalte Spötter, die ihm in den Kram pfuschen, wie Herder, Mephisto, Merck. So stockt es in ihm. Er weiß nicht, Wie er möcht' Worte zu allem finden? Wie er möcht' so viel Schwall verbinden? Was mag wohl dies Verbindende sein? Da zeigt die Muse dem in sich Brütenden seine zukünftige Braut. In einem „eng umzäunten Garten", gesenkten Kopfes, in sich selbst geneigt, sitzt sie, harrend, hoffend, bangend. Und sie bindet einen Kranz — Vorahnung des Dichterkranzes, den ihm die Nachwelt winden wird. Dieses in volle Körperlichkeit — man möchte sagen: „in die Fülle des Leibes" — drängende Geschöpf ist der gestaltgewordene Sprachschoß, dessen ein zungenfertiger, aber noch nicht zu „liebevoller Schöpferkraft" entbundener Dichter der Frühzeit harrt. „In ihr" ist „seinem inneren Wesen" Erfüllung „bereit". Sie wird ihm die „kleine Welt" austragen, die er empfangen hat, aber nicht „von sich geben" kann. Und wer zeigt Sachs dieses liebliche Gefäß seiner Eingebung? Die Muse, heilig anzuschaun, Wie 'n Bild unsrer lieben Fraun. Diese Braut ist eine „Wortbraut", diese Empfängnis — in einem hortus clususl — widerfahrt einem Mann im Innenraum seines schöpferischen

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Selbst. Und über dieser erotisch-semantischen Verkündigung einer Sendung schwebt — die jungfräuliche Mutter. Jahrzehnte später sollte Goethe diesem „komm!" wieder Stimme verlei-

hen: in dem Motto zu Buch Hafis — einem Dichterbuch also: Sei das Wort die Braut genannt, Bräutigam der Geist; Diese Hochzeit hat gekannt, Wer Hafisen preist. Dies Echo von Offenbarung 22, 17 42 war ursprünglich als Motto des gesamten Divan gedacht. Es sagt also Zentralstes in knappster Form. 42

Aus der Entstehungsgeschichte des Divan geht hervor, daß dieses Echo Goethe in der Inkubationsperiode dieses Werkes nochmals erreichte, und zwar durch eine überraschende Vermittlung. Vom 13. Mai bis zum 28. Juni verweilte er in dem Badeort Berka bei Weimar. Dort las er erstmalig Hafis in der Übersetzung Hammers, welcher die — Goethes Vierzeiler zugrundeliegenden — Zeilen Hafis' als Motto auf das Titelblatt seines ersten Bandes gesetzt hatte. Dieser Vers war also buchstäblich das erste Wort des Persers, welches Goethe ins Auge fiel. Er enthält die für diese Studie entscheidende Schlüsselprägung „Wortbraut''. Hafis' Zeilen lauten folgendermaßen: „Keiner hat noch Gedanken / Wie Hafis entschleiert, / Seit die Locken der Wortbraut / Sind gekräuselt worden." In eben diesen Tagen und Wochen aber ließ sich Goethe allabendlich das Kantatenwerk Bachs von dem Organisten Schütz — einem großen Bach-Verehrer — vorspielen. Eine der schönsten dieser Kantaten, „Wachet auf, es ruft die Stimme" (BWV 140), ist eine Vertonung von Philipp Nicolais Choralweise (1599), von einem unbekannten Dichter — möglicherweise Bach selbst — um ausdrucksstarke, dem Hohen Lied und der Offenbarung Johannis entnommene Strophen bereichert. Die Kantate, ein Höhepunkt Bachscher Musik, handelt von der „Hochzeit" von „Bräutigam" und „Braut". Die innere Verwandtheit von Motto Hafis und dieser Kantate ist frappierend, für den Leser nicht minder als für das Ohr. Goethe zitierte Motto Hafis erstmalig in einem — nicht abgesandten — Brief an Cotta (16. Mai 1815). Sollte er diese Zeilen keinem fremden Auge gegönnt haben? Über die genaue Zeit der Entstehung des Gedichtes wissen wir nichts Näheres. Die Vermutung drängt sich auf, es sei der unmittelbare Niederschlag der ersten Lektüre Hammers gewesen, zu der inneren Begleitmusik Bachscher Klänge. Sie wird durch die Tatsache bekräftigt, daß das erste Gedicht von Buch Hafis — Beiname — bereits am 26. Juni 1814 entstand, also während der Berkaer Tage und vor dem Aufbruch an den Rhein, welcher die Flut der Divan-Gedichte zeitigte. Beiname aber setzt die Koran-Durchdrungenheit des Persers und Goethes eigene Bibelfestigkeit in Parallele und gipfelt in einem freudigen Bekenntnis Goethes zu dem „heiteren Bild" seines angestammten Glaubens. Die biographischen Hintergründe dieses kryptischen Verses sind schon angesichts der Tatsache bedeutsam, daß der Dichter ihn dem gesamten Divan voranzuschicken plante. Noch erregender ist die Feststellung, daß Goethe sich in den Wochen, in denen das Erlebnis des Ostens in ihm Gestalt annahm, aus freien Stücken seinem christlichen Erbe zuwandte, in der Vermittlung von Bachs Genie; und zwar offenbar nicht als einem Fremden oder gar Widerstreitenden, sondern als musikalischem

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Einmal die Äquivalen2 von biologischem und semantischem Geschehen — beide sind Spielarten des einen Eros. Bräutliche Empfangnisbereitschaft ist Latenz des Wortes im dichterischen Magnetfeld, männliches Drängen in die Zeugung ist auslösende Potenz geistiger Energien. Die Braut ist nun allen Ernstes zur „Wortbraut" geworden — eine Prägung Hafis' übrigens, die diesem Gedicht zugrunde liegt. Sodann ist das sehnsüchtige „komm!" von Wort und Geist, von Braut und Bräutigam, in die Sprachgestalt eingegangen. Nur provisorisch, im Konjunktiv, können sie getrennt statuiert werden. Der Dichter, dem ihre Verwobenheit lebendigster Besitz ist, eilt der Hochzeit zu; und diese stellt sich ihm als ein Vollendetes, im Perfektum, dar. Schließlich drückt sich in diesem ,,Sei[...]" die tastende Erkenntnis von etwas Unerhörtem aus. Wird hier nicht die Braut mit dem Wort — das heißt, mit Z^ogoj-Sophia-Maria — identifiziert, ganz im Sinne jener Überhöhung des Weiblichen, die sich zuerst auf biblischem Boden und dann wieder in der mittelalterlichen Mystik abgezeichnet hatte, ja sie noch weiter steigernd? So ist es. Was aber sagt uns der Dichter mit einer Namengebung, welche das Weibliche als das geistig-ordnende Prinzip begreift? Hören wir ihn selbst. „Das Gezeugte ist nicht geringer als das Zeugende, ja es ist der Vorteil lebendiger Zeugung, daß das Gezeugte vortrefflicher sein kann als das Zeugende." 43 Dies späte Wort echot die begeisterte Huldigung eines jungen Malers vor dem Inbegriff weiblicher Schöne, die er „mit Bräutigams Gewalt" umfaßt und im Bilde aus sich herausgestellt hat. In Des Künstlers Erdewallen lesen wir: Wo mein Pinsel dich berührt, bist du mein, Du bist ich, bist mehr als ich, in bin dein.

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Kontrapunkt dessen, was da auf ihn zukam. Andernfalls hätte er sich dieser Musik zu diesem Zeitpunkt kaum ausgesetzt. Spürte er eine geheime Verwandtschaft zwischen östlicher Religiosität, wie er sie rezipierte, insbesondere der von Hafis — „zwischen zwei Welten schwebend, alles Reale geläutert, sich symbolisch auflösend", schreibt er im Rückblick (an Zelter, 11. Mai 1820) —, und jenem Ineinander von sinnlicher Süße und mystischer Gottesliebe, welches unabdingbar ist von dem Glauben an einen menschgewordenen Gott und welches so klar in der pietistisch gefärbten Musik Bachs und in der Himmel und Erde durchtönenden Liebes-Seligkeit dieser Kantate zutage tritt? Ich meine, ja. Diese Bemerkungen eröffnen weitere Perspektiven. Die hier an einem Beispiel angezeigte, erstaunliche Synchronisierung von Östlichem und Westlichstem im Augenblick des Anbruches der Z?/fa»-Epoche — meines Wissens ist sie unbeachtet geblieben — sollte von Forschern, denen es um ein Gesamtbild von Goethes geistiger Existenz geht, nicht aus den Augen gelassen werden. Ich hoffe, etwas dieser Einsicht Gemäßes vorzulegen. „Aus Makariens Archiv". Wilhelm Meisters Wanderjahre, 3. Buch, HA, 8, S. 464, Nr 27.

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Der „Bräutigam" aktiviert die bereitliegenden Energien der „Braut"; sie aber vollendet ihn. Vortrefflicheres geht aus dem gestaltbegabten Schoß hervor, als der körperlose Geist hineinlegen konnte: das gegliederte Gebilde, das sprachliche Symbol. 9. Wir beginnen Goethes Vorliebe für bräutliche Gestalten durchzuschauen: für Götz' Schwester Maria, Lottchen, Gretchen, Dorothea, Natalie, die Schöne-Gute, die Maria von Sankt Joseph der Zweite, Eugenie, die Geliebte der Marienbader Trilogie, und letztlich, für Ottilie, „die neugeschaffene Himmelskönigin", 44 wie Goethe diese ihm Nächste seiner vielen „scheinbaren Mütter" 45 nennt. Sie alle sind immer transparenter werdende Sinnbilder der Braut, die zu dem Geist „komm!" sagt, wie er zu ihr; Sinnbilder des sprachlichen Schoßes, der „sich nach ihm hindrängt" — wie das Gretchen des Urfaust dumpf und unverschleiert singt (Z. 1098 f.) —, gerade so, wie er sich „in der Fülle des Leibes" zu verkörpern sehnt. Warum aber diese Vorliebe für bräutliche Gestalten, ja, für „scheinbare Mütter"? Gehen wir diesem Motiv etwas weiter nach. 46 „Ihre stillen Wünsche" verhüllt die Braut „mit inniger Scheu", wie unter einem Schleier. Nur dieser deutet auf ihre zukünftige Bestimmung, er verknüpft das in der Natur Auseinanderliegende. In der scheinbaren Mutter gar fallen Verheißung und Erfüllung vollends zusammen, und durch diese ästhetisch wünschenswerte Naturwidrigkeit — man denke an die schwangere Philine — wird sie zum Gegenstand der Kunst par excellence. Die Kunst habe die Pflicht, uns jungfräuliche Mütter vorzulügen, statuiert Goethe in seiner provokativsten Art. 47 Diese Zusammenziehung zerstreuter Phänomene aber kennzeichnet das Symbol. Es ist dies Eine und doch wieder nicht dies Eine, und deutet still auf diese seine Pluralität. Das Sinnbild der Braut sowie der Muse jedoch ist — der Schleier; ein schwebendes Ineinander erotischer und semantischer Bezüge, das in dem Divati-Gedicht WinkA% festgehalten wird. Goethe sinnt 44 45 46

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Die Wahlverwandtschaften, II, 6, HA, 6, S. 404. Ebd., S. 403. Für Goethes Konzeption der Braut siehe bes. Die Wahlverwandtschaften, I, 11, HA, 6, S. 321, Z. 4 - 1 0 , und Wilhelm Meisters Uhrjahre, VIII, 5, HA, 7, S. 541, Z. 9 - 1 1 . Siehe Kapitel 11, 12 und 18 dieser Studie in dem hiesigen Zusammenhang. Diderots Versuch über die Malerei, AGA, 13, S. 216. Buch Hafis, HA, 2, S. 25. Siehe Kapitel 11 dieser Studie.

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dem dichterischen Wort nach. Ja, „offenbar" und „mystisch rein" sei es; aber doch auch „Geheimnis". Ein Fächer sei es, ein lieblicher Flor, durch welchen nur das Sprechendste des Mädchens zu dem Manne dringt: Das Auge [, das] mir ins Auge blitzt. „Wink" meint also einmal die Kurzschrift blitzender Blicke, „der Augen Blick", wie in dem schlichten: Lieblich ist des Mädchens Blick, der winket; 49 zum andern aber die blitzartig „augen-blickliche" Kurzschrift dichterischer Mitteilung. Als Totalaussage meint das Gedicht Wink Symbol des sprachlichen Symbols, wie in dem späten Goethewort, sein Faust würde denjenigen erfreuen, „der sich auf Miene, Wink und leise Hindeutung versteht." 50 Nicht anders die verschleierte Winkende, „Geheimes" und „Geheimstes" in Chiffreschrift bedeutende, nicht „rund" 51 heraussagende Braut: auch sie ist „Offenbar Geheimnis", Symbol des Symbols. Auch der Dreiklang, dem wir nachspüren, bleibt nicht aus. Solch „rein lebendigerweise" im „Augen-Blick" liebenden Dichtens offenbartes Sein ist immer auch „lebendig*,augen-blickliche' Offenbarung des Unerforschlichen". 52 Die wirkliche Suleika — gibt es sie überhaupt? — „wird" altern. Die im Geistesblitz geschaute nie. Wie alle Kunst ist sie „ewig jung", im seligen — und entsagungvollen — dichterischen „Augen-Blick" als Gleichnis Gottes begriffen: In mir liebt Ihn, für diesen Augenblick. 53 Suleika ist „Wortbraut", ihr „ewig bräutlich keuscher Kuß" besiegelt ein gedichtetes, ja ein „gespenstermäßig" 54 gelebtes Lieben. Wir sind bei Faust angelangt, by Lynkeus, dem in „seltnem Augenblitz" hingegebenen Liebend-Dichtenden, aber auch Schicksalslosen. Und bei jener „Worthochzeit" Fausts und Helenas, die von Lynkeus' betörender „Rede" ausgelöst wird. Oder doch fast. Denn hier möchte ich eines spätmittelalterlichen Volksliedes gedenken, das Goethe lieb war und das fraglos in seine Konzeption hineinspielte. Es heißt Antwort Mariae auf den 49 50

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Buch der Betrachtungen, HA, 2, S. 35. An Heinrich Meyer, 20. Juli 1831, WA, IV 49, S. 292 (Concept) und an Sulpiz Boisserée, 8. September 1831, WA, IV 49, S. 64. Für das „rund" siehe den Brief an K. J. L. Ilten, 27. September 1827. WA, IV, 43, S. 83. Maximen und Reflexionen, HA, 12, S. 471, Nr 752. Hierzu Kapitel 11. Buch der Betrachtungen, HA, 2, S. 41. Dichtung und Wahrheit, III. Teil, 14. Buch, HA, 10, S. 32.

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Gruß der Enge/55 und besingt die annuncia^one als das reine Zusammenstimmen zweier Nachtigallen, einer englischen und einer menschlichen — Maria —: Nachklang der aristotelisch-theologischen Ausdeutung der „Rede" als des eigentlichen Empfängnisaktes. Voll Wunder hat Helena die erotische Verheißung von Lynkeus' „Rede" herausgefühlt. In der „Wechselrede" mit Faust wird Verkündigung Vollzug. Denn ist nicht das liebeträchtige Wort, das, in der Wechselrede „geübt" und „Ohr und Sinn im tiefsten Grunde" befriedigend, ein Ungenanntes „hervorruft", „hervorlockt", ein verhülltes Inkarnationsgeschehen, eine annuncia^one? Anfangs hat Faust in dieser „Wechsel-Rede" durchaus die Führung. Er „bequemt" sich Helena, indem er ihr die Stichworte zuspielt, denen sie sich reimend zu „bequemen" 56 vermag. Seine Worte sind faustisch-beseelter als die ihren, die simples Dasein bekräftigen. Nach dem fatalen Näherrücken aber geht die Initiative auf sie über. Sie macht unabhängige, in sich geschlossene Aussagen, findet ihre eigenen Reime, ja Binnenreime. Das, was sie da ausspricht, verschlägt Faust — und uns — den Atem in seinem „grübelnden" Erforschen eines Paradoxie aus Paradoxie fortzeugenden, nunmehr abgründigen „Da-Seins". Fern/nah; fern/gern; nah/da; verlebt/ neu; verlebt/verwebt; neu/treu. Immer gebiert ein Binnenrein — also eine semantisch-erotische Entdeckung — die nächstfolgende, kühnere, entschiedenere. In diesen acht Zeilen organisiert sich, sichtbar und hörbar, leiblich Empfangenes zu „gegliedertem Gebilde," begeisteter Gestalt. Ihre letzten Worte — Ich scheine mir verlebt und doch so neu, In dich verwebt, dem Unbekannten treu (Z. 9415 f.) — machen das Doppelwunder biologischer Nidation und der Einfleischung eines Geistigen in einem Wortleib verlautbar: „das Gesetz, mit dem" — wie Rilke so schön sagt —„ein widerstandsfähiger kräftiger Samen sich

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In seiner Rezension von Ludwig von Arnims Des Knaben Wunderhorn in der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung, 21. Januar 1806, beurteilt Goethe dies Gedicht als „Das liebenswürdigste von allen christ-katholischen Gedichten in diesem Bande". Die erotischen Schwingungen dieses „sich Bequemens" eines Tons zum andern treten in Z. 1 des Gedichtes „Deinem Blick mich zu bequemen" {WÖD, Buch Suleika, HA, 2, S. 79) zutage, die religiösen Resonanzen in Z. 5 von Der Gott und die Bajadere, der ersten Inkarnationsmetapher eines Inkarnationsgedichtes. Wir haben es hier mit einem ähnlichen, wenn auch noch weit verhüllteren Geschehen zu tun. Siehe das Folgende und Anm. 62, sowie Kapitel 9.

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durchdrängt zu der Eizelle, die ihm offen entgegenzieht"57, und das verwandte Mysterium, wie der mütterliche Sprachschoß sich Fremdes zueignet und es fortzeugend ausgestaltend lebensfähig entläßt. Diese Verwebung von „Geist" und „Braut" mündet in dem Liebesvollzug, dem das musikalische Genie mit der Aureole entspringt, wie sein „Bruder", Knabe Lenker, mit Christusartigen Zügen ausgestattet.58 In der Tat dürfen wir die religiösen Hintergründe dieses „seltnen Abenteuers" nicht übersehen. Denn hat nicht Faust als Zeus Helena in sich geboren, indem er sie, in einer doppelten Phantasie, in Leda gezeugt hat (Z. 6 9 1 1 - 2 0 und 7 2 9 5 - 7 3 0 6 ) ? Der Vater schafft sich die Tochter und wird in ihr zum Sohn: dieses Inkarnationsparadox — „Nata patrem natumque parens concepit"59 geistert hinter Fausts obstinatem Traum seiner Selbstzeugung. Freud60 und Ferenczi wissen darüber kaum mehr als Goethe vor hundertfünfzig Jahren. Bei Dante wie bei Frauenlob konnte sich der Dichter Bestätigung holen für solch heilig-inzestuöses Spiel mit den Paradoxien der dreieinigen Gottheit, und zwar auch in ihrer umgekehrten Form. Denn Dantes „Ver-

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In: Briefe an einen jungen Dichter, Insel-Bücherei N r 406, S. 25. Besonders durch Knabe Lenker, den Goethe als mit Euphorion identisch erklärt (zu Eckermann, 20. Dezember 1829. AGA, 24, S. 379). Plutus' Wort: „Mein lieber Sohn, an dir hab' ich Gefallen" (Z. 5629) erhellt die Verbindung der „Söhne" mit Christus und die von Faust-Zeus mit Gottvater, der diese Worte an seinen Sohn richtet {Matth. 17, 5 und 2 Petrus, 1, 17). Es ist interessant, daß ein weiterer Merkzettel in Goethes Bibel zwischen 1 Petri 4,5 und 2,4 steckt. Meines Erachtens vermerkt er das Wort Gottvaters, das, auf die Plutus-Lenker Situation und somit implicite auf das „köstliche Drei" FaustHelena-Euphorion bezogen, im Rückblick von Himmel völlig neue Bedeutungshorizonte eröffnet (vgl. Anm. 3). Eine Deutung Fausts aus solchen Perspektiven versuche ich in Kapitel 12 vorzulegen. Alanus ab Insulis, Anticlaudianus, SP II, 362. Zitiert von Curtius (Anm. 12), S. 52. In S. Maria in Trastevere findet sich ein in seiner religiösen Emblematik einzigartiges Wandbild: Christus und Maria, in der traditionellen Geste eines bräutlichen Paares, Hand in Hand nebeneinander sitzend. Daß Goethe diese Darstellung gesehen hat, ist bei seiner intimen Kenntnis Roms anzunehmen. Mir scheint es sehr wahrscheinlich, daß er bei der Gestaltung der „Wechselrede" (deren theologische Hintergründe ihm klar waren) und besonders der Zeilen 9401—9410, dieses eindrucksvolle, zwischen byzantinisch-feierlicher Hoheit und menschlicher Nähe schwebende Bild vor Augen hatte. (Siehe Anm. 62). Freud schreibt: „All the instincts, the loving, the grateful, the self-assertive and independent — all are gratified in the wish to to be the father of himself (in: Collected Papers, ed. J. Riviere and J. Strachey, New York, London 1 9 2 4 - 5 0 , Band IV, S. 201). Ich möchte hier ausdrücklich bemerken, daß ich, von Goethe herkommend, moderne Psychologen als Bestätigung heranziehe, nicht umgekehrt.

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gine Madre", wie Frauenlobs „muoter meit" {UfL, 13, 46), ist ja wiederum „figlia del tuo figlio" (Par. XXXIII, 1), gerade so, wie Gretchen in der Hellsichtigkeit des Wahnsinns Fausts und ihr Kind zu ihrem „Schwesterlein klein" macht (Z. 4416), sich selbst also, die Faust durch ihre Mütterlichkeit bestrickt hatte, zu seiner Tochter! Das Leben leidet solche Traumgeburten nicht. Mignon wie auch die Kinder, die Gretchen und Helena Faust geboren haben, sind todgeweiht. Auch für die Zeuger bedeutet Zeugung Selbstverlust und Tod. Verliert sich nicht der Mann in der Frau, in der er die Mutter umarmt? „Verlebt" die so gebrauchte Frau sich nicht? Dies jedenfalls sagt uns Sophokles' Oedipus Tjrannos und nicht minder Goethe, der seinen Faust sich die Geliebte von den „Müttern" holen läßt. Die „höhere Begattung" im Arme Helenas kostet auch diesem Schmetterling sein Leben, auch diesem Menschen seine Schönheit, wie Goethe an eben der Stelle sagt, die für die Kunst die Lüge jungfräulicher Mütter stipuliert. 61 Selbst in diesen so symbolisch gelebten Leben bleibt „der Tod [...] Gebot" (Z. 9888f.). Warum? Die Liebenden „versagen sich" nicht Heimlicher Freuden Vor den Augen des Volkes Übermütiges Offenbarsein (Z. 9408 ff.). Sie hätten es aber tun sollen. Denn solch „übermütiges Offenbarsein" „heimlicher" Freuden ist Verrat an dem „offenbar Geheimnis" der Braut und des bräutlich-dichterischen Schleiers — an der „Wortbraut". Nur ein bescheidenes „Sich Versagen" — wir nennen es „entsagen" — eröffnet den umsichtigen — aber auch „gespenstermäßigen" — „Augen-Blick" der Kunst, die „mystisch rein" sagt und in solch letzter Reinlichkeit „in jugendlichstem Flor" fortdauert. Dies aber vermögen Lebende nicht zu leisten. Hier nun erschließt sich wie von selbst der Übergang von der noch so reinen Natur Arkadiens zu dem überirdischen Geschehen im Himmel. Die wirkliche Mutter wird von der einen jungfräulichen Mutter abgelöst, der wirkliche Zeuger von dem dieser ganz Gewidmeten, der den — wahrlich vielsagenden! — Namen „Doktor Marianus" trägt. Lasse mich im blauen, Ausgespannten Himmelszelt Dein Geheimnis schauen (Z. 11998 ff.), 61

Siehe Anm. 47, und Kapitel 18 dieser Studie.

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betet er. „Zelt" aber — wir entsinnen uns — meint „Leib", „Kleid von Fleisch". 62 Am Schluß des Dramas, zu dessen Beginn Faust „Wirkenskraft und Samen" schauen wollte, wird diesem seinem Nachfahren und der dichterlichsten aller Männergestalten Goethes die „auf dem Angesicht anbetende" Schau des „im schönsten Sinne reinen" Leibes zuteil, der das göttliche Wort austrug. 63 Von eben diesem Ereignis aber spricht der Chorus Mjsticus — nein, er vollzieht es, und mehr. In einer „Übersprache", ganz wie der, die uns in Höheres und Höchstes zum Anschauen vom „Worte Gottes" geleitet hatte, wird das in unserer Sprache Unsägliche mystisch gesagt. Verkündigung und Fleischwerdung, Tod und Auferstehung werden in einem letzten dichterischen Liebesvollzug „getan". Mit ihrem „komm!" (Z. 12094) hat die scheidende Braut den Geist zu sich hinangezogen. Wie Geisteshauch, ätherischsten Klangleib durchwehend, ersteht nun hier, am letzten Ende des Dramas, in letzter Verklärung — das Wort: noch bei uns wandelnd und schon nicht mehr unter uns wohnend, der Berührung der Sinne liebevollst „zulänglich", jedoch fast schon „melodisch unvernehmlich", 64 im Scheiden noch die Fülle des Leibes segnend, in der es gezeltet hatte. Wiederum ein Doppelbildnis, ein Doppelgleichnis: des jungen Auferstandenen, der um der Nachfolgenden willen in die Erscheinung zurücktrat und seinen Leib — „verlebt und neu" — zum Gleichnis darbot, und des zum Aufbruch reifen Dichters. 10. Wie beschreiben wir das Einmalige von Goethes Selbstsicht? Ich möchte sagen, es sei das hohe Bewußtsein, daß der dichterisch Empfangende ein notwendig Entsagender ist. Dante wußte dies, Morungen und Johannes vom Kreuz auch, so wie jeder große Künstler dies auf seine Art weiß. 62

63 64

Siehe Anm. 2. Zweimal hat Goethe die Absicht vermerkt, in Helena den Hinweis auf „Thron" durch „Zelt" zu ersetzen (Paralipomena 166 und 168, WA, I, 152, S. 229 f.). Meines Erachtens bekunden diese Notizen die Absicht, das quasi-religiöse Geschehen dieses Aktes leise dem von Himmel anzunähern. Er entschied sich schließlich dafür, den Kontrast nicht zu bemänteln. Ergänzendes in Kapitel 12. Diese Worte sind Paralipomenon 125 zu Faust II, Akt 2 entnommen (Iir/A I, 15 2 S. 216. siehe auch Par. 157, S. 224). Ich gebrauche sie hier, um etwas von dem „Unverstand" — d. h. das rationale Verständnis Transzendierende — des Chorus Mysticus anzudeuten, der sich — mit jeweils fünf reimenden Silben in jeder Zeile — im Geiste von Höheres und Höchstes an das „Fünf der Sinne" wendet und „Einen Sinn für all diese" hervorlockt, ratio aber zurückläßt —: ein Punkt, der nicht genügend gewürdigt wird.

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Über Künstlertum und Kunst

Goethe aber legte sich Rechenschaft darüber ab, warum der Dichter „sich versagen" muß, wenn er ganz rein „sagen" will. Er tat dies in dem Erstling seiner entsagungsvollen Liebe zu Charlotte von Stein — in Iphigenie. Hier wird offenbar, warum dieser Künstler, ungleich Dante, weitaus mehr Frauen- als Männergestalten zu Gefäßen seines Fiat schuf. Bei aller Verwandtheit der Geschwister gewahrte er doch die tiefgreifenden Unterschiede zwischen Mann und Frau. Der Mann — also Orestes, und, dahinter, Agamemnon und Ägisthes — ist seiner geschlechtlichen Anlage nach sowohl aggressiv als auch regressiv. 65 Im Gewaltsakt wie im Geschlechtsakt — der eine ist nur die Kehrseite des anderen — ist er es, der die Frau durchdringt. Er aber auch durchdringt in der Frau die Mutter und betritt, „in sich verschlossen", netzumstrickt, „den Weg des Todes". Die Frau ist von Natur passiv. Sie empfangt und harrt dessen, was da kommen soll. 66 Der Frau in diesem Drama — Iphigenie — bleibt dieses Geschick im Biologischen erspart. Agamemnons Messer durchdringt sie nicht, und sie „versagt sich" Thoas. Um so reiner kann sie dieses, ihr „Frauenschicksal", im Geistigen austragen. Aus innerster Bestimmung verwahrt die kindlich-schwesterliche Frau das Idealbild des Vaters in dem Tabernakel ihrer Seele — das ist doch wohl der Sinn von Pylades' unmutigem So hast du dich im Tempel wohl bewahrt (Z. 1653) — und bewahrheitet das so Bewahrte, wenn sie in dem „fremden Mann' den Bruder, in Thoas den zweiten Vater und in jedem Mitmenschen den Gott erkennt. Immer wieder hat dieser Dichter dieses ihm zutiefst verwandte Seelenmuster ausgestaltet — in der Prinzessin, in Eugenie und Ottilie, in der „schönen Seele", Natalie, Hilarie und wohl auch in Makarie, um nur einige der Frauenfiguren zu nennen, in denen er dem eigenen schöpferischen Gesetz nachspürte. Sie alle setzen die erste, zutiefst prägende Vaterbindung in — mit Karl Barth zu sprechen — die Vertikale um, in jenen schöpferisch-frommen „Aufblick", den Goethes unheimlich exakte sinnliche Phantasie denn auch mehrfach bei der entscheidenden Liebesbegegnung verzeichnet hat. Dieser Aufblick ist in Iphigenies Beten zum allbeherrschenden Gestus des Dramas geworden, wie der Beatrices zu Gott und der Dantes zu ihr. 65 66

Für eingehendere Betrachtungen siehe Kapitel 12. Für ausgezeichnete Beobachtungen über die weibliche Psyche und die Weiblichkeit des schöpferischen Mannes siehe Erich Neumannn, Die Psychologie des Weibliche«. In: Geist und Psyche, hrsg. von Nina Kindler, Kindler Taschenbücher, 1975, bes. Kap. 2.

,Fiat Mihi.

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Die Frau, in tiefster Naturgebundenheit zum Harren und Reifenlassen, zum Sublimieren und schöpferischen Gestalten bestimmt: diese uralte Einsicht, unverkennbar in der „tempera prudentia, quam feminea ars habet" Hildegards von Bingen, hat Goethe mit modernster Bewußtheit für sich selbst fruchtbar gemacht. Der Welt hat sie sich in seiner Huldigung des Ewig-Weiblichen am Ende des /^«.tf-Dramas eingeprägt; am prägnantesten formuliert ist sie in jenem weithin unbeachteten Wort: Denn das Naturell der Frauen Ist so nah mit Kunst verwandt {Faust, Z. 5106f.). 67 Mit modernster Bewußtheit? Ja. Denn das Problem der Geschlechterrollen, das dieser so Weise in sich selbst austrug, ist das Anliegen heutiger Dichter und Denker, Psychologen und Theologen, ja auch unserer Feministen, wenngleich sich diese manchmal „allzuwitzig und allzudumb" gebaren. 68 Wir wissen, daß die Zukunft unseres Planeten auf dem Spiel steht. Keine Spaltung des Atoms wird uns helfen, solange wir nicht die Spaltungen von Rasse zu Rasse, von Mensch zu Mensch gutmachen, deren verderblichste die Polarisierung der Geschlechter ist. Das entsagungsvolle Ja des Künstlers zu der Frau in sich, durch das er sein Schöpferischstes freilegt, könnte uns ein Beispiel sein. Freilich ist diese Anverwandlung eine gleichsam künstliche Neurose, die er im Dienst am Menschsein willig trägt. Aber — Zivilisation ist Neurose — Goethe wußte dies längst vor Nietzsche, D. H. Lawrence, Freud 69 und Mann!: und wir legen die Krankheit nur zusammen mit unserer Menschheit ab. Das „Wie" unseres Krankseins aber sind wir frei zu wählen; und Meister Eckharts „wiedergebärende Dankbarkeit", das Fiat des schöpferischen Menschen, ist nicht die schlechteste Antwort, die wir geben können. Von dem Genesis-Wort „Sie werden sein ein Fleisch" (Matthäus 22, 30 und Galater 3, 28) über die Gnostiker, Hildegard von Bingen, Johannes vom Kreuz, Shakespeare und Shelley bis zu Eliot, Hofmannsthal und Rilke; von den Anbetern Isis' und Osiris' über die Tao Mystiker zu Jacob 67 68

69

Für eine eingehende Erörterung dieser Verse siehe Kapitel 12. Z. B. Simone de Beauvoir, wenn sie über die vor dem Christkind knieende Maria schreibt: „For the first time in human history the mother kneels before her son [...]. This ist the supreme masculine victory, consummated in the cult of the Virgin — it is the rehabilitation of woman through the accomplishment of her defeat" (in: The Second Sex, transl. H. M. Parshley, New York 1970, S. 160). Siehe besonders Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Bücher des Wissens, Fischer-Bücherei, 1954.

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Über Künstlertum und Kunst

Böhme, Berdyaev und C. G. Jung 7 0 hat die Menschheit den Traum des Liebens als einer geschwisterlichen Zusammenkunft wesensverwandter Menschen geträumt. Zwei unserer Größten haben den Samen Lukas' 71 wieder empfangen und ihn uns, fortzeugend, reicher zurückgeschenkt. Das Geheimnis ihres Schöpfertums leuchtet als Zwillingsgestirn an unserm Himmel — tious und epinoia, Spiritus und ruah, liebeglühender Engel und Maria, Geist und Braut, die ihr „komm!" „ernst und zart" vollzogen haben: eine Missio, die — empfingen wir (und unsere Theologen!) nur das Wort vom Munde der Dichter — in wirren Zeiten gute Frucht tragen könnte. Scheiden wir mit einem freundlichen Blick auf diese unsere wirre Zeit. Auf unseren Straßen schlendern Hand in Hand gelöste junge Menschen, mit langem Haar, in Jeans. Sind es Jungen? Sind es Mädchen? Die Frage ist älter als die Mode. In den Stücken jenes dritten Großen — ich meine Shakespeare — wimmelt es von Jünglingen in Mädchenrollen, welche Jünglinge spielen, zu allseitiger süßester Verwirrung. Sebastian und Viola sind nicht zwei getrennte Wesen: sie sind geschwisterliche Spielarten einer heilen Natur. Wie sang doch dieser Wissende den Traum der Ganzheit und des Liebens? So they loved, as love in twain Had the essence but in one; Two distincts, division none: Number there in love was slain. 72

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Dieses lebenslängliche Anliegen Jungs gipfelt in dem Spätwerk Antwort auf Hiob (1952). Auf der Suche nach einer religiösen Verankerung menschlicher Beidergeschlechtlichkeit feiert er das Dogma der Assumptio Mariae als „offensichtlich vom Heiligen Geist inspiriert" und als „das wichtigste religiöse Ereignis seit der Reformation" (Answer to Job, trsl. R. F. C. Hull, London and Henley 1979, S. 159 and 169; Übersetzung I. G.). Als Einziger der Evangelisten berichtet Lukas die Verkündigung. Dies leuchtet ein. Der Tradition nach war Lukas Arzt und Künstler. Die Einfleischung eines Geistigen in einem körperlichen Medium war ihm also ein geläufiges Ereignis, und in der Fleischwerdung begrüßte er ein ihm zutiefst vertrautes Wunder, welches es ihn liebevoll auszumalen drängte. „The Phoenix and the Turtle".

Der Dichter als Mittler Betrachtungen über ein Goethesches Denkmodell Tausendfach und schön entfließe Form aus Formen deiner Hand, Und im Menschenlied genieße, Daß ein Gott sich hergewandt. Wilhelm Meisters

Wanderjahre

„Wer hat, wenn du willst, Götter gebildet, uns zu ihnen erhoben, sie zu uns hernieder gebracht, als der Dichter?" Wilhelm Meisters

Theatralische

Sendung

1. In dem Gedicht Zueignung, dem besondere Aufmerksamkeit gebührt, da Goethe es eine Zeit lang seinen gesammelten Werken vorausschickte, bezeichnet er die Dichtung als einen um die Wahrheit gelegten Schleier. Dieser hat zwei Eigenschaften. Einmal verhüllt er das in seiner Nacktheit blendende Licht der Sonne, von dem das lyrische Ich weiß: „Fast jedem Auge wird dein Strahl zur Pein"; und indem er es verbirgt, macht er es erträglich, ja, er offenbart es auf wohltuende Weise: „Gen Himmel blickt' ich, er war hell und hehr." Zum andern mildert er die mittägliche Glut mit „Abendwindes-Kühle" und „Blumen-Würzgeruch und Duft". Er mäßigt die Intensität der Leidenschaften, er lindert Schmerz und Bürde des Irdischen; uncf indem er das tut, erhebt und erhöht er den je und je von der Gewalt des Absoluten niedergeschlagenen, bedingten Menschen: „Zum Wolkenbette wandelt sich die Gruft." Die Dichtung offenbart also, indem sie verhüllt; sie erhöht, indem sie mildert. Diesen zwei paradoxen Wesensmerkmalen nachzuspüren und sie in einen übergreifenden Sinnzusammenhang hineinzustellen ist die Absicht der folgenden Betrachtungen, in denen ich größtenteils dem Dichter selbst das Wort geben werde. Vorerst einige Beispiele, die bezeugen mögen, wie charakteristisch die in Zueignung eingenommene Position für Goethes poetologische Denkart im Ganzen ist. Man lasse mich mit solchen Belegen beginnen, die das paradoxe Ineinander von Mildern und Erhöhen thematisieren.

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Über Künstlertum und Kunst

Dieses wird aus einer den Maximen und Reflexionen entnommenen Definition der Schönheit als solcher ersichtlich. „Die Schönheit", statuiert Goethe: „jede milde hohe* Übereinstimmung alles dessen, was unmittelbar, ohne Uberlegen und Nachdenken zu erfordern, gefallt." 1 Die Schönheit also, und damit die Dichtkunst, ist sowohl beschwichtigend als auch heranziehend, erhebend; und sie erhebt, eben weil sie lindert, indem ihre Stimmigkeit nachzuvollziehen keine niederdrückenden intellektuellen Anforderungen an den Menschen stellt. In Für junge Dichter. Wohlgemeinte Erwiderung lesen wir, dem sei die Muse geneigt, der „seine eignen Leiden beschwichtigt* und um sich her recht emsig forscht, wo er irgend ein Leiden lindern, Freude t(u fördern* Gelegenheit findet."2 Wir nehmen das uns nun bereits bekannte Widerspiel von mildern und — diesmal durch Freude — zu erhöhen sowie die Sorge des Dichters um das Wohlergehen seiner Mitmenschen zur Kenntnis. — In den Annalen für 1807 kommt das Denkmodell, dem wir nachforschen, exemplarisch zum Ausdruck. Goethe schildert die Wirkung von Zacharias Werners Eintritt in den Jenaer Freundeskreis: „Es war das erste Mal seit Schillers Tode", lesen wir, „daß ich ruhig gesellige Freuden in Jena genoß; die Freundlichkeit der Gegenwärtigen erregte die Sehnsucht nach dem Abgeschiedenen und der aufs neue empfundene Verlust forderte Ersatz. Gewohnheit, Neigung, Freundschaft steigerten sich zu Liebe und Leidenschaft, die, wie alles Absolute, was in die bedingte Welt tritt, vielen verderblich zu werden drohte. In solchen Epochen jedoch erscheint die Dichtkunst erhöhend und mildernd, die Forderung des Herfens erhöhend, gewaltsame Befriedigung mildernd.* Und so war diesmal die von Schlegel meisterhaft geübte, von Werner ins Tragische gesteigerte Sonettenform höchst willkommen." 3 Als eine Art Prolegomenon zu dieser Schilderung — und, in der Tat, zu der menschlichen Situation, die dahinter steht — mögen wir folgende Maxime hinzuziehen: „Die Leidenschaft erhöht und mildert* sich durchs Bekennen. In nichts wäre die Mittelstraße vielleicht wünschenswerter als im Vertrauen und Verschweigen gegen die, die wir lieben." 4 Was in dem Passus aus den Annalen die Dichtkunst ausrichtet, vollbringt in dem Gedicht Aussöhnung die Musik. Diese „beschwichtigt"* einerseits 1 Maximen und Reflexionen N' 721, HA, 12, S. 467. * Hervorhebungen I. G. 2 HA, 12, S. 358 f. 3 AGA, 11, S. 986 f. 4 Maximen und Reflexionen Nr 1254, HA, 12, S. 534.

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„beklommnes Herz, das allzuviel verloren" und füllt es andererseits mit „höherm Sehnen"*. Der innere Mechanismus ist in beiden Fällen der gleiche. Dadurch, daß eine „gewaltsame Befriedigung" versagt ist, wird der Strom erregter Triebe in ein anderes Bette umgeleitet und für das Erlebnis der Kunst zugänglich, sei es nun für das eigentliche Hervorbringen, wie in dem Beispiel aus den Annalen, oder, wie im Falle von Aussöhnung, für den rezeptiven Genuß. Ein wie passendes Gefäß gerade das Sonett durch seine strenge Form für die Umsetzung libidinaler Energien ist, liegt auf der Hand. 5 In Goethes Autobiographie lesen wir: „Die wahre Poesie kündet sich dadurch an, daß sie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit*, durch äußeres Behagen,* uns von den irdischen Lasten* zu befreien weiß, die auf uns drücken* Wie ein Luftballon hebt* sie uns mit dem Ballast, der uns anhängt, in höhere Regionen,* und läßt die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspektive vor uns entwickelt daliegen. Die muntersten wie die ernstesten Werke haben den gleichen Zweck, durch eine glückliche geistreiche Darstellung so Lust als Schmer£ mäßigen."*6 Ein Kommentar dieser durchscheinend klaren Worte erübrigt sich. Sie bekräftigen das über Goethes poetologisches Denkmuster bereits Gesagte aufs Schönste. Behalten wir indes die Charakterisierung der Poesie als eines weltlichen Evangeliums im Sinn; wir werden uns ihrer noch erinnern. Abschließend sei aus vielen Beispielen, die das Gesagte wiederholen würden, Goethes Bericht an Schiller über seine Revision der Kerker-Szene des Urfaust angeführt: „Ein sehr sonderbarer Fall erscheint dabey", sinnt der Dichter, betroffen: „Einige tragische Scenen waren in Prosa geschrieben, sie sind durch ihre Natürlichkeit und Stärke, in Verhältniß gegen das andere, gan% unerträglich.* Ich suche sie deswegen gegenwärtig in Reime zu bringen, da denn die Idee wie durch einen Flor durchscheint,* die unmittelbare Wirkung des ungeheuern Stoffes aber gedämpft* wird." 7 Auch hier überkreuzen sich die zwei gegensätzlichen Wirkungen. Denn evoziert das Gleichnis der wie durch einen Flor durchscheinenden Idee — es ist der tragenden Metapher von Zueignung eng verwandt — nicht das Bild einer von Dunst verhüllten Sonne, deren nackte Glut den Menschen niederschlägt, deren gemilderter Glanz aber irdischen Augen erträglich wird und den Schauenden zu sich heranzieht?

5

Hierzu siehe I. Graham, Goethe. Portrait of the Artist. Berlin und New York 1977, Kapitel 2.

6 7

Dichtung und Wahrheit, III, 13, HA, 9, S. 580 f. An Schiller, 5. Mai 1798. WA, IV, 13, S. 137.

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Über Künstlertum und Kunst 2.

Indes, das führende Sinnbild dieser Briefstelle ist fraglos das des Schleiers oder Flors; und mit dieser Überleitung sind wir bei der zweiten Serie von Paradoxen angelangt, der wir im Anschluß an Zueignung nachzuforschen versprachen. Es ist das Wechselspiel von Verhüllen und Offenbaren. Wenden wir uns einigen Stellen zu, in denen sich Goethe über den dichterischen Prozeß als solchen ausläßt, und beginnen wir mit einer zentralen Äußerung über seine reife Schaffensweise überhaupt, dem bekannten Brief an Iken vom 27. September 1827. Der Dichter spricht von seinen hochgespannten Hoffnungen auf „einsichtige Teilnahme" an seiner Helena seitens eines kultivierten Publikums, und gibt in diesem Zusammenhang folgendes zu bedenken: „Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direct mittheilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenüber gestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn* dem Aufmerkenden zu offenbaren.*"* Wieder ist das Paradox am Werk, dem wir nachspüren. Der Dichter offenbart und kann nur dichterisch offenbaren, indem er seinen Sinn durch ein kompliziertes Netzwerk symbolischer Bezüge — eben jener abspiegelnden Gebilde, von denen er spricht — dem direkten Blick entrückt und geheimnisvoller macht. Wir vermerken das Vorherrschen stammoder klangverwandter Wörter wie „Teilnahme", „mitteilen" und „Mittel", das uns später noch beschäftigen wird. „Es ist keine Kleinigkeit", schreibt Goethe gegen Ende seines Lebens über seinen Faust, „das, was man im zwanzigsten Jahre concipirt hat, im 82. außer sich darzustellen und ein solches inneres lebendiges Knochengeripp mit Sehnen, Fleisch und Oberhaut zu bekleiden, auch wohl dem fertig Hingestellten noch einige Mantelfalten umzuschlagen, damit alles zusammen ein offenbares Räthsel bleibe, die Menschen fort und fort ergetze und ihnen zu schaffen mache." 9 Dasselbe Paradox, das in dem Brief an Iken sichtbar wurde, waltet auch hier. In dem Unterfangen, ein bislang im Innern Gehegtes zu Zwecken der Mitteilung einzufleischen, verbirgt es der Dichter dem direkten Blick und verrätselt seinen Sinn. Andererseits ist eben diese Verkörperung die einzige Art und Weise, sich dichterisch zu offenbaren, und das heißt adäquat zu kommunizieren. Dieselbe Gegenläufigkeit der Wirkungen kommt machtvoll in einem früheren Schreiben über die Wahlverwandtschaften zum Ausdruck. An Zelter 8 9

An C. J. L. Iken, 27. September 1827. WA, IV, 43, S. 83. An C. F. Zelter, 1. Juni 1831, WA, IV, 48, S. 205 f.

Der Dichter als Mittler

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schreibt Goethe, er sei überzeugt, „daß Sie der durchsichtige und undurchsichtige Schleyer* nicht verhindern wird bis auf die eigentlich intentionirte Gestalt hineinzusehen,"*10 Der Trieb zu verhüllen und zu offenbaren halten sich in dieser Aussage die Waage — aber nur gerade: denn ein unsichtbarer Schleier, der also überhaupt nicht in die Sinne fallt und als verständniserschwerend wahrgenommen wird, entzieht ja das Werk dem Zugang suchenden Leser mit fast absoluter Sicherheit. Und dennoch der Drang, seine „eigentliche" Intention mitzuteilen! 11 In drei späten, nahezu gleichlautenden Aussagen über seinen fertiggestellten Faust charakterisiert Goethe sein Werk als ein dauerndes Ineinander von „aufgelösten Problemen", die noch „aufzulösende" in sich enthalten, etwa wie ein Satz ineinanderverschachtelter russischer Puppen. Er verheißt demjenigen Leser ein freudiges Verständnis, „der sich auf Miene, Wink und leise Hindeutung versteht." 12 Dies will besagen, daß sich Offenbarung kontinuierlich in eine Geheimschrift verwandelt, die dann ihrerseits wieder offenbart, trotzdem — oder vielmehr weil — sie das Intentionierte nicht „rund" ausspricht, sondern subtileren Wahrnehmungsorganen übermittelt. „Miene, Wink und leise Hindeutung" hier haben den gleichen poetologischen Stellenwert wie jene „abspiegelnden Gebilde" in dem früheren Brief an Iken. Über seine Wahlverwandtschaften schreibt Goethe an Zelter: „Ich habe viel hineingelegt, manches hinein versteckt. Möge auch Ihnen dieß offenbare Geheimniß zur Freude gereichen." 13 Gerade das, was darin verborgen ist, würzt die Speise und verleiht dem Ganzen — nicht etwa nur diesem oder jenem Teil! — jenen durchsichtig=geheimnisvollen Reiz, den Zelter so schön charakterisieren sollte. Die Prägung „Offenbar Geheimnis" bringt das Paradox, dem wir nachforschen, auf den kürzesten Nenner, jedenfalls für einen Dichter, der sich der Natur nahe weiß, der, gewiß doch auch von sich selbst, zu sagen vermag: Welches Genie das größte wohl sei? Das größte ist dieses, Welches, umstrickt von der Kunst, bleibt auf der Spur der Natur. 14 10 11 12

13

14

An Zelter, 26. August 1809, WA, IV, 21, S. 46. In diesem Zusammenhang siehe Kapitel 7, Abschnitt 7. An J. H. Meyer, 20. Juli 1831, HA, 3, S. 457; an C. F. von Reinhard, 7. September 1831, WA, IV, 49, S. 62 und an S. Boisseree, 8. September 1831, ebenda, S. 64. An Zelter, 1. Juni 1809, WA, IV, 20, S. 346. Xenien, HA, 1, S. 232.

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Über Künstlertum und Kunst

Für einen Solchen wird das Wesensmerkmal der Natur zum Wesensmerkmal des eigenen Dichtens. In diesem Sinne wollen die nachfolgenden Worte von „der würdigsten Auslegerin" in zwei fast gleichlautenden Äußerungen Goethes verstanden werden. In Maximen und Reflexionen lesen wir: „Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfangt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst." 15 Diese Reflexion erscheint fast wörtlich in den Wanderjahren wieder, da, wo sich der junge Maler zu Wilhelm gesellt. Wir lesen: „... und indem die Natur das offenbare Geheimnis ihrer Schönheit entfaltete, mußte man nach Kunst als der würdigsten Auslegerin unbezwingliche Sehnsucht empfinden." 16 Ich zitiere beide Textstellen um ihrer Bedeutsamkeit willen. Diese wird sinnfálig, wenn man sich die Tatsache vergegenwärtigt, daß Natur, jedenfalls für den reifen Goethe, immer GottNatur meint. Die Kunst ist demnach ein wahres Äquivalent und die würdigste Auslegerin des Göttlichen in dessen uns zugänglichster Erscheinungsform. Für einen Künstler von Goethes Naturnähe gilt denn auch ein Vers wie Epirrhema, in welchem das Wechselspiel von Offenbaren im Akte des Verbergens besonders markant zum Ausdruck kommt. Müsset im Naturbetrachten Immer eins wie alles achten; Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: Denn was innen, das ist außen* So ergreifet ohne Säumnis Heilig öffentlich Geheimnis .* Auch Allerdings schließt sich dieser Reihe an. Der Perser Hafis schafft sowohl im Offenen als auch im Verborgenen. Dies bezeugt nicht nur der Titel eines der auf ihn bezüglichen Gedichte — es heißt Offenbar Geheimnis —, sondern auch die nahezu paradoxe Doppelaussage, er sei „mystisch rein". Dieses „mystisch" besagt, daß sich die unverschrobene Lauterkeit von Hafis' dichterischer Aussage — eben das Offenbare — schließlich doch aus verborgenen Quellen speist; aus welchen, geht aus dem folgenden Gedicht, Wink, hervor. Denn des Mädchens Wink entpuppt sich als ein Symbol des

15 16

Maximen und Reflexionen N' 720, HA, 12, S. 467. Wilhelm Meisters Wanderjahre, II, 7, HA, 8, S. 229.

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sprachlichen Symbols; um die Mehrschichtigkeit auch der durchscheinendsten Symbole Hafis' aber geht es in diesem Gedicht. Wie der Fächer das Gesicht des Mädchens verdeckt und nur für den Wink ihres blitzenden Auges durchlässig ist, so ist es mit dem sprachlichen Symbol im Allgemeinen und mit Hafis' Verwendung des dichterischen Wortes im Besonderen: es offenbart, indem es alles bis auf den innersten Kern der Sache verhüllt. „Das Auge [, das] mir ins Auge blitzt" ist geradezu eine dichterische Kurzschrift Goethes für solch diskursive Formulierungen wie die von einem symbolischen Verweisungsgefüge als „abspiegelnden Gebilden" oder gar als von „Miene, Wink* und leiser Hindeutung", denen wir bereits nachgegangen sind. Wir streifen die klimaktischen Verse aus Pandora, in denen das Wesen des Schönen — und somit auch der Poesie — zu reinster Sprachgebärde verdichtet erscheint: Nieder senkt sich Würdiges und Schönes, Erst verborgen, offenbar zu werden, Offenbar, um wieder sich zu bergen. 17 Abschließend seien die Schlußverse eines Suleikagedichtes angeführt, in welchem Goethe das Leitbild von Zueignung gleichsam selbst zitiert, um es im Sinne des Divan abzuwandeln: Süßes Dichten, lautre Wahrheit Fesselt mich in Sympathie! Rein verkörpert Liebesklarheit Im Gewand der Poesie. 18 Sind hier einmal, bereits durch den Reim, „Wahrheit" und „...Klarheit" miteinander gepaart, so stehen auch „Süßes Dichten" und „Rein verkörpert" in wechselseitigem Bezug. Wieder wird hier Dichten als eine Einfleischung angesprochen, wie wir es schon anläßlich einer späteren Äußerung über den Faust beobachtet haben; und wieder meint Verkörperung sowohl Verhüllung — das Wort „Gewand" drückt das aus! — als auch Offenbarung. Der Akt der Einfleischung selbst, durch den der Dichter ein klapperndes Gedankengerippe zu dichterisch melodischem Tönen bringt, meint unausbleiblich ein Verbergen, Verhüllen. Und hier werden wir nochmals des ersten Paradoxes ansichtig, dem wir nachgegangen sind: in jener 17 18

HA, 5, S. 364f., V. 1050 ff. Suleika, Buch Suleika. HA, 2, S. 87.

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„Liebesklarheit" spiegelt sich — wie in Zueignung — das Heranziehende der Dichtung in der gemilderten Form, die dem Irdischen gemäß und ertragbar ist. Die Zeilen dieses Gedichtes aber sprechen von künstlerischem Schaffen als von einem Akt der Inkarnation; und dieser Thematik möchte ich eine kleine Weile lang nachhängen. 3.

In vorangehenden Kapiteln habe ich des öfteren von Goethes Frauen als von weitgehend bräutlichen Gestalten gesprochen und bei einer Gelegenheit die Verbindungslinien aufgezeigt, die von dort zu der esoterischen Konzeption der „Wortbraut" führen, will sagen, zu der Vorstellung von der Frau als dem Sprachleib oder -schoß, in dem der Mann sein Schöpferisches inkarniert.19 Die Hauptzüge meines Argumentes seien hier noch einmal auf kürzestem Raum zusammengefaßt. Ob sie nun Gattinnen oder gar Mütter sind, Goethes Frauengestalten bewahren ihr bräutliches Gepräge. Nichts ist ihm fremdartiger als das „Idol", das in den Paralipomena zur Walpurgisnacht erscheint, von dem es heißt: „Bedeckt nicht das Gesicht und nicht die Scham".20 Das Unverhüllte ist nicht nur schamlos; es ist auch der Tod der Kunst. Dagegen denke man an den „ewig bräutlich keuschen Kuß" Suleikas21 oder an die — wahrscheinlich tote — Geliebte in dem späteren Gedicht Der Bräutigam, an Charlottes Keuschheit in den Wahlverwandtschaften oder an Maria in Sankt Joseph der Zweite im epischen Bereich, im dramatischen an Pandora. Indes, Goethes besondere Neigung gilt jungfräulichen Gestalten, die „scheinbare" Mütter sind — ein Wort, das der Dichter von Ottilie verwendet. Man vergegenwärtige sich das von ihrer Geschwisterschar umgebene Lottchen Werthers, ferner Gretchen, deren Erzählung von ihrem Ziehschwesterchen es Faust — und dessen jugendlichen Schöpfer! — antut, sodann Dorothea, Natalie und, insbesondere, die soeben erwähnte Ottilie. Diese Vorliebe ist nicht aus der Tatsache herzuleiten, daß die jungfräuliche Mutter eine bereits dem heidnischen Altertum geläufige Vorstellung war, 22 auch nicht daraus, daß sie eins der ästhetisch ergiebigsten Sujets

19 20 21 22

Siehe Kapitel 14. WA, I, 14, S. 311. Buch des Paradieses, HA, 2, S. 115. Kunst und Altertum am Rhein und Main, HA, 12, S. 145.

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der Kunst ist. 23 Sie erklärt sich vielmehr, wenn man den Divan-Ners Hafts in den Blickwinkel der Betrachtung rückt. Ich zitiere:

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Sei das Wort die Braut genannt, Bräutigam der Geist; Diese Hochzeit hat gekannt, Wer Hafisen preist. 24 Diesem Vierzeiler kommt eine besondere Bedeutung in Goethes Gedankenwelt zu, indem er ursprünglich dem West-östlichen Divan in seiner Gesamtheit vorausgeschickt werden sollte. Hier nun entpuppt sich die Braut als das Wort, der Logos. Dem Vers Hafis' gemäß, der die Vorlage zu diesem Gedicht abgab, ist sie gar „die Wortbraut". 25 Goethes immer wieder bezeugte Hinwendung zu der bräutlichen Frau erklärt sich also, wenigstens zu einem guten Teil, aus seiner tragenden Konzeption von dem Weiblichen als dem reinen Sprachschoß, in dem der Mann sein Geistiges verkörpert. Die bräutliche Gestalt ist gleichsam die figura der jungfräulichen Mutter geworden, die in ihrem Leib den göttlichen Logos empfängt, einfleischt und austrägt. In vorangehenden Kapiteln sind wir des öfteren solchen Schoß-, und, letztlich, Inkarnationsgedichten begegnet. Man denke an frühe Gedichte wie Sprache, Künstlers Erdewallen und Hans Sachsens poetische Sendung, weiter an „Vom Himmel sank...", 2 6 und An Hafis. Ferner zu erwähnen wären Mahomets Gesang, Ganymed und Bulbuls Nachtlied, das ich hier zitieren möchte: Bulbuls Nachtlied durch die Schauer Drang zu Allahs lichtem Throne, Und dem Wohlgesang zum Lohne Sperrt' er sie in goldnen Bauer. Dieser sind des Menschen Glieder. Zwar sie fühlet sich beschränket; Doch wenn sie es recht bedenket, Singt das Seelchen immer wieder. Was dieses Inkarnationsgedicht par excellence mit den zuvor genannten teilt, ist die Vorstellung von dem Einsenken eines Drängenden, Geistigen in 23 24 25 26

Diderots Versuch über die Malerei, AGA, 13, S. 216. Motto Hafis, HA, 2, S. 20. Vom Herausgeber zitiert in HA, 2, Anmerkung z. S. 20, S. 562. Buch der Parabeln, HA, 2, S. 100.

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ein als weiblich erfahrenes, schoßartiges Element: des Schwertes in der Urne Bauch, des Schöpferdranges Hans Sachsens in das harrende Mädchen, des inspirierten Pinsels in die Malerei, des Tropfens in das Meer, des Gedankens in das Lied, des Urquells in das getrübte Element, des Sehnens Ganymeds in die — sich neigenden und heranziehenden — Wolken, und schließlich des empordringenden Gesanges in den Körper. Sie alle sprechen von der Einverleibung eines Unbedingten in ein beschränktes Medium und von der offenbarenden Gewalt, die diesem inewohnt: Doch wenn sie es recht bedenket, Singt das Seelchen immer wieder. Freilich, der dem Vogelbauer verglichene Körper bricht die Direktheit der Aussage, wie die Stäbe des Faches in dem Gedicht Wink das Gesicht des Mädchens verdecken. Indes, dies tut ihrer offenbarenden Macht keinen Abbruch. Irdisch gemäßigt und verschleiert tritt sie nur um so wohltuender hervor. All diese Gedichte sprechen inter alia von der lindernden und erhöhenden, der verhüllenden und dabei offenbarenden Aussagekraft des dichterischen Symbols. 4. Manche der angeführten Beispiele haben leise an die religiöse Sphäre gerührt. Dieser wenden wir uns nunmehr zu, und zwar, um zu sehen, ob sich in ihr etwas den Strukturmerkmalen der Dichtkunst Vergleichbares abzeichnet. Als Auftakt sei das Ende des kosmogonischen Mythos betrachtet, wie Goethe diesen im achten Buch von Dichtung und Wahrheit entfaltet hat. Der Dichter spricht zusammenfassend von der tatsächlichen und logischen Notwendigkeit einer als immer erneut gedachten Erlösung; und er kommentiert sein jugendliches Credo wie folgt: „Nichts ist in diesem Sinne natürlicher, als daß die Gottheit selbst die Gestalt des Menschen annimmt, die sie sich einer Hülle* schon vorbereitet hatte, und daß sie die Schicksale desselben auf eine kurze Zeit teilt*, um durch diese erhöhen und das Schmerzliche mildern."* Verähnlichung das Erfreuliche Diese Wahrheit sei — so will es Goethe scheinen — auf mancherlei Weise überliefert worden: „genug, wenn nur anerkannt wird, daß wir uns in einem Zustande befinden, der, wenn er uns auch niederzuziehen und zu drücken* scheint, dennoch Gelegenheit gibt, ja zur Pflicht macht, uns zu erheben..."21 27

Dichtung und Wahrheit, II, 8. HA, 9, S. 353.

Der Dichter als Mittler

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Wir konstatieren mit Erstaunen, daß in diesem Glaubensbekenntnis des reifen Mannes all die Wesensmerkmale, die die Kunst und insbesondere die Dichtkunst bezeichnen, geschlossen wiederkehren. Die Gestalt des Mittlers erhöht das Erfreuliche und lindert das Schmerzliche der condition humaine; durch ihre Erhabenheit zieht sie uns anscheinend nieder und bedrückt uns; in Wirklichkeit aber erhebt sie uns. Und wiederum: der Mittler offenbart sich uns, indem er sich unter einer Hülle verbirgt und so, verhüllt, des Menschen Schicksale teilt. Diese Übereinstimmung mit Goethes poetologischer Position, wie wir sie von Zueignung ab dargelegt haben, ist konsternierend; und wir fragen, ob sie auf mehr als dieser einen Grundfeste ruht. Inzwischen vermerken wir, daß das Wort „teilt" in Verbindung mit dem Mittler an die Trias „Teilnahme", „mitteilen" und „Mittel" in Goethes Brief an Iken gemahnt. Die Ingredienzen dieser zentralen poetologischen Aussage erscheinen hier in einem verwandten Sinnzusammenhang gebündelt: der Dichter sowie der Mittler will andere an dem, was er zu geben hat, teilnehmen lassen; auch er teilt sich mit durch das Mittel, daß er sich verhüllend offenbart. Eine ähnliche Konfiguration tritt uns in Dichtung und Wahrheit entgegen, in Goethes Schilderung seines Planes zu einem Drama über den ewigen Juden. Ahasverus schilt Christus auf seinem Weg nach Golgatha, und seine früheren wohlgemeinten Warnungen des Herrn, für den er eine uneingestandene Schwäche hat, verkehren sich in bittere Beschuldigungen. „Dieser" — so lesen wir — „antwortet nicht, aber im Augenblicke bedeckt* die liebende Veronika des Heilands Gesicht mit dem Tuche,* und da sie es wegnimmt, und in die Höhe hält, erblickt Ahasverus darauf das Antlitz des Herrn, aber keineswegs des in Gegenwart Leidenden, sondern eines herrlich Verklärten und himmlisches Leben Ausstrahlenden."*2* Wiederum ist die Ähnlichkeit dieser Konzeption mit dem im ästhetischen Bereich Beobachteten verblüffend. Es ist hier wie bei der Dichtung Schleier: Veronikas Schweißtuch lindert das Unerträgliche und erhöht das Erfreuliche des gegenwärtigen Anblicks. Indem das Tuch das Antlitz des Herrn, verbirgt, steigert es dessen offenbarende Gewalt und erhebt den Betrachtenden zu seiner Herrlichkeit. Auf seinem Rundgang durch die Räumlichkeiten der pädagogischen Provinz wird Wilhelm über die Bedeutung der mannigfachen Wandmalereien Aufklärung zuteil. In einer der Galerien sind die Wunder und Gleichnisse des neuen Testamentes abgebildet. „Jene" — so erklärt man 28

Dichtung

und Wahrheit, III, 15, HA, 10, S. 46 f.

428

Über Künstlertum und Kunst

ihm — „machen das Gemeine außerordentlich, diese das Außerordentliche gemein." Wilhelm ist diese Bemerkung unverständlich, und der Älteste erläutert sie wie folgt: „Es ist nichts gemeiner und gewöhnlicher als Essen und Trinken; außerordentlich dagegen, einen Trank zu veredeln, eine Speise zu vervielfältigen, daß sie für eine Unzahl hinreiche. Es ist nichts gewöhnlicher als Krankheit und körperliche Gebrechen;* aber diese durch geistige oder geistigen ähnliche Mittel aufzuheben, lindern* ist außerordentlich, und eben daher entsteht das Wunderbare des Wunders, daß das Gewöhnliche und das Außerordentliche, das Mögliche und das Unmögliche e i n s werden." 29 Weiter erklärt der Älteste: „Bei dem Gleichnisse, bei der Parabel ist das Umgekehrte: hier ist der Sinn, die Einsicht, der Begriff das Hohe, das Außerordentliche, das Unerreichbare.* Wenn dieser sich in einem gemeinen, gewöhnlichen, faßlichen Bilde verkörpert, so daß er uns als lebendig, gegenwärtig, wirklich entgegentritt, daß wir ihn uns zueignen, ergreifen, festhalten, mit ihm wie mit unsersgleichen* umgehen können, das ist denn auch eine zweite Art von Wunder und wird billig zu jenen ersten gesellt, ja vielleicht ihnen noch vorgezogen." 30 Wieder vermerken wir eben die Wirkungsstruktur, die wir bislang in Goethes Äußerungen über die Dichtkunst freigelegt haben. Indem die Wunder menschliches Gebrechen lindern, ziehen sie hinan; die Gleichnisse und Parabeln dagegen mäßigen menschliches Streben zum Hohen, Außerordentlichen, Unerreichbaren, indem in ihnen das Unbedingte, Göttliche sich selbst beschränkt und „unsersgleichen" wird. Aus solchem Blickwinkel vermögen wir auch Goethes Äußerungen in demselben Buch des Romans über die Mittlergestalt Christi in unsere Betrachtungen einzufügen. „Die zweite Religion, die sich auf jene Ehrfurcht gründet, die wir vor dem haben, was uns gleich ist, nennen wir" — so die Drei — „die philosophische: denn der Philosoph, der sich in die Mitte stelltmuß alles Höhere sich herab,* alles Niedere sich herauf stehen,* und nur in diesem Mittel^ustand* verdient er den Namen des Weisen." 31 Wir nehmen Goethes Betonung der faktischen Mittelstellung der Mittlergestalt zur Notiz und vermerken am Rande, daß dies Charakteristikum ebenso auf den sich mildernd herabneigenden und emporziehenden Dichter zutrifft.

29 30 31

Wilhelm Meisters Ebenda. Wilhelm Meisters

Wanderjahre, II, 2, HA, 8, S. 162. Wanderjahre, II, 1, HA,8, S. 156.

Der Dichter als Mittler

429

Etwas später lesen wir: „... indem er [Christus] das Niedere %u sich heraufzieht,* indem er die Unwissenden, die Armen, die Kranken seiner Weisheit, seines Reichtums, seiner Kraft teilhaftig werden läßt und sich deshalb ihnen gleichzustellen scheint,* so verleugnet er nicht von der andern Seite seinen göttlichen Ursprung; er wagt, sich Gott gleichzustellen, ja sich für Gott zu erklären. Auf diese Weise setzt er von Jugend auf seine Umgebung in Erstaunen... und zeigt allen, denen es um eine gewisse Höhe im Lehren und Leben zu tun ist, was sie von der Welt zu erwarten haben."32 Wiederum jenes Neigen — „sich gleichstellen" sagt der Erzähler — und Lindern, verschränkt mit jenem Hochziehen und Erheben, das die Wirkungsstruktur der Dichtkunst bezeichnet. Durch diese Doppelfunktion hält uns die Gestalt des Mittlers — dessen also, „der sich in die Mitte stellt" — in einer reinen menschlichen Schwebe zwischen „Verzweiflung und Vergötterung", 33 und wir fühlen, wie Jarno zu Anfang der Wanderjahre sagt, „zugleich unsere Kleinheit und unsere Größe". 34 Dieselbe erhebende und gleichzeitig beschwichtigende Wirkung geht von Makarie aus, und dies dürfte der Grund sein, aus dem der Erzähler sie als eine Heilige, ja eine Göttliche bezeichnet. Ihre Ausstrahlung macht sich der schönen Witwe sowie insbesondere Lydie gegenüber geltend. Wir lesen: „Lydie lag vor der linken Seite der Heiligen mit dem Gesicht auf dem Schöße, weinte bitterlich und konnte kein Wort sprechen; Makarie, ihre Tränen auffassend, köpfte ihr auf die Schulter als beschwichtigend,* dann küßte sie ihr Haupt zwischen den gescheitelten Haaren, wie es vor ihr lag, brünstig und wiederholt mit frommer Absicht. Lydie richtete sich auf, erst auf ihre Knie, dann auf die Füße, und schaute zu ihrer Wohltäterin mit reiner Heiterkeit. „Wie geschieht mir!" sagte sie, „wie ist mir! Der schwere, lästige Druck,* der mir, wo nicht alle Besinnung, doch alles Uberlegen raubte, er ist auf einmal von meinem Haupte weggehoben,* ich kann nun frei in die Höhe* sehen, meine Gedanken in die Höhe* richten, und", setzte sie nach einem tiefen Atemholen hinzu, „ich glaube, mein Herz will nach."35 All die Elemente, die wir bislang in der religiösen sowie vorher in der dichterischen Sphäre gebündelt sahen, treten hier nochmals in Erscheinung: das lindernde Herabneigen seitens des

32 33 34 35

Wilhelm Wilhelm Ebenda, Wilhelm

Meisters Wanderjahre, II, 2, HA, 8, S. 163. Meisters Wanderjahre, I, 3, HA, 8, S. 33. S. 31. Meisters Wanderjahre, III, 14, HA, 8, S. 441.

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Höheren und die Befreiung von allem Druck seitens des dergestalt Emporgezogenen. Der Kirche kommt nach Goethe eine Funktion zu, die der ihres Stifters entspricht. „Das Licht ungetrübter göttlicher Offenbarung", sinnt der Dichter, „ist viel zu rein und glänzend, als daß es den armen gar schwachen Menschen gemäß und erträglich wäre. Die Kirche aber tritt als wohltätige Vermittlerin ein, um dämpfen und ermäßigen,* damit allen geholfen* und damit vielen wohl* werde. Dadurch daß der christlichen Kirche der Glaube beiwohnt, daß sie, als Nachfolgerin Christi, von der Last menschlicher Sünde befreien* könne, ist sie eine sehr große Macht." 36 Wieder werden wir lebhaft an Zueignung sowie an Goethes Äußerung über die Revision seiner KerkerSzene gemahnt. Die Kirche dämpft und „ermäßigt" das in seiner Nacktheit unerträgliche Licht des Absoluten; und indem sie es vermittelnd lindert, zieht sie den von der Last seines Versagens befreiten Menschen hinan. Verwandte Denkformen ziehen sich durch das gesamte Faust-Drama hindurch. Nur einige, wenige von der großen Menge möglicher Beispiele seien hier angeführt. Als Faust im Augenblick, da er sich den Freitod geben will, das Läuten der Osterglocken vernimmt, ruft er überwältigt aus: Was sucht ihr, mächtig;* und gelind,* Ihr Himmelstöne, mich am Staube? (V. 762 f.) Dieses „mächtig und gelind" entspricht genauestens den Epitheta, denen wir je und je begegnet sind: es ist zur gleichen Zeit erhebend und mildernd; und zwar erhebend, indem es das Drückende mildert. Ähnliche Resonanzen schwingen in Fausts religiös getönter Schilderung der Abendlandschaft auf dem Osterspaziergang: Entzündet* alle Höhn, beruhigt* jedes Tal (V. 1078) lesen wir da. Wieder ist das Niedere beschwichtigt, und so kann das Hohe hinanziehen. Ganz folgerichtig zeitigt dieser Anblick Fausts Wunschtraum, der schwindenden Sonne nachzufliegen, ,ihr ew'ges Licht zu trinken" (V. 1086).

Wir stehen demselben Rhythmus gegenüber, wenn Ariel in Anmutige Gegend das Innere des Unglücksmannes „besänftigt" und „des Vorwurfs glühend bittre Pfeile" entfernt, um ihn dem „heiligen Licht" zurückzugeben. Diese religiöse Doppelbewegung durchzieht die Szene in ihrer Ge-

36

Zu Eckermann, 11. März 1832, AGA,

24, S. 769 f.

Der Dichter als Mittler

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samtheit und spiegelt sich in mehrfachen Schilderungen des erwachenden Tages. Immer wieder senkt sich der Glanz des hohen Lichtes in die Tiefen, sie erquickend und von ihrem Dunkel gleichsam entsühnend, und das frisch entzündete Licht der Tiefe gesellt sich zu seinem himmlischen Ursprung. Und stufenweis herab ist es gelungen; — (V. 4701): Dies ist geradezu der Urrhythmus dieser erlösenden Schau; ja man darf wohl sagen, der Urrhythmus des Goetheschen Erlösungsbegriffes überhaupt. Auch Wassersturz und Regenbogen zeichnen die innere, letztlich religiöse Entwicklung ab, die Faust in dieser Szene durchläuft: der Wassersturz, indem er „von Sturz zu Sturz" auch die tiefsten Abgründe erglänzen läßt und antwortende Schaumschleier himmelwärts schickt: der Regenbogen, indem seine „Zitterperlen" — ganz wie in Zueignung — „duftig kühle Schauer" umher verbreiten, die den Anblick der blendenden Helle mäßigen und dem bedingten Menschen zugänglich machen, indem sie das Absolute im farbigen Abglanz widerspiegeln. Wiederum: die himmlische Heerschar, die in Grablegung heranschwebt, Sündern vergeben, Staub zu beleben (V. 11679 f.), lindert und erhebt. Sie lindert, indem sie den Sünder von der drückenden Last irdischer Verschuldung befreit; sie erhebt, indem sie den Toten zu frischem Leben erweckt. Auch in den Worten des rosenstreuenden Engelschors — Tragt Paradiese* Dem Ruhenden* hin (V. 11708 f.) ist dieselbe Doppelbewegung merklich. Sie tritt klar hervor in dem Gebet des Pater Profundus, wahrlich einem Gebet aus den Tiefen: O Gott! beschwichtige* die Gedanken, Erleuchte* mein bedürftig Herz! (V. 11888 f.)! sie ist unmißverständlich in dem Gebet des Doctor Marianus-. Unbezwinglich unser Mut,* Wenn du hehr* gebietest; Plötzlich mildert* sich die Glut, Wie du uns befriedest*... (V. 12005-8), sowie auch in seinem abschließenden Blicket auf* zum Retterblick, alle reuig Zarten*... (V. 12096f.).

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Ein Kommentar dieser Stellen erübrigt sich fast. Wir dürfen ihn in Goethes eigenen Worten geben. Die Funktion der Mittlerin des Mittlers ist die Gleiche, die der Dichter in Worten, die ich bereits zitiert habe, diesem selbst zuschreibt: „das Erfreuliche zu erhöhen und das Schmerzliche zu mildern." 5. Wir wenden uns wieder dem ästhetischen Paradox des Verhüllens und Offenbarens zu und fragen, ob auch dieses eine Entsprechung in der religiösen Sphäre hat. Dabei können wir uns kurz fassen; denn in dem vorigen Abschnitt haben wir bereits einige Stellen erläutert, in denen das Motiv des Erhöhens und Milderns mit dem des Verhüllens und Offenbarens unlöslich verwoben erscheint. Eine von diesen ist das Credo Goethes am Ende des kosmogonischen Mythos. Indem — und nur indem — sich der göttlicher Mittler in einer menschlichen Hülle verbirgt und durch diese Gleichstellung das Schmerzliche unseres bedingten Zustandes lindert, kann er seine Macht offenbaren und das Erfreuliche eben desselben Zustandes erhöhen. Der in dem Schweißtuch Veronikas Offenbarte wiederum ist ein Anderer, ein Strahlenderer und Verklärterer als der Leidende, den dieses Tuch verbarg. Durch den Akt des Verhüllens erlangt die Offenbarung eine ungleich stärkere Macht. Dies ist gerade so, wie wir es in der dichterischen Sphäre sahen: dem mit Sehnen, Fleisch und Oberhaut ausgestatteten — d. h. dem eingefleischten — Gedanken kommt eine größere Aussagegewalt zu als dem nackten Gedankengerippe. So war Apoll den Hirten zugestaltet, Daß ihm der schönsten einer glich; Denn wo Natur im reinen Kreise waltet, Ergreifen alle Welten sich... (V. 9558-61), lesen wir gegen Ende von Innerer Burghof, in der „Arkadien"-Szene. Eine frühere Version der ersten Zeile lautete: „Wie oberstes dem untern zugestalltet." 37 Hier also, gegen Ausgang des dritten Aktes von Faust, begegnen wir einer Mittlergestalt: und deren verhüllte Annäherung an die Menschen — „Zugestaltung", sagt Goethe — hat offenbarende Gewalt, indem sie die Hirten ermächtigt, sich ihrerseits dem Göttlichen anzuverwandeln.

37

WA, I, 152, S. 118.

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In dem epischen Fragment Die Geheimnisse begegnen wir einem durchaus analogen Tatbestand. Humanus, „der Heilige, der Weise", ist ganz im Sinne der Mittlerfigur konzipiert, wie sie uns in der pädagogischen Provinz als Schlüsselfigur der zweiten Religion entgegentrat. Auch er ein „Vermittler", der seine Wunderkräfte so bescheidentlich verbirgt wie Jesus seine göttliche Gestalt, und der gerade durch diese Erniedrigung die Annäherung der Ordensbrüder an ihn ermöglicht. In seinem im Jahre 1816 verfaßten Aufsatz über das Fragment begreift Goethe die sterbliche Erscheinungsform des Weisen als ein „irdisches Gewand", dessen der Abscheidende nicht mehr bedarf, „weil sein Geist sich in ihnen allen verkörpert", 38 „Angenaht" haben sich die Brüder „jenem obern Führer und Vermittler". 39 Auch hier also jener durchgängige Rhythmus von linderndem Herabneigen und Hinaufziehen, von Verbergen und offenbarender Gewalt in der verhüllten Gestalt, das wir von der dichterischen Sphäre her genugsam kennen; auch hier, wie in der soeben zitierten Stelle aus „Arkadien", die Zentralität der Idee einer Gemeinschaft Strebender. Ja, wir dürfen weiter gehen. Will dieses „weil sein Geist sich in ihnen allen verkörpert" nicht bereits auf jene Vorstellung eines corpus mysticus heraus, wie sie sich Jahrzehnte später am Ende des Faust verwirklichen sollte? Denn wie steht es eigentlich mit diesem /^».fZ-Schluß? Ist da nicht auch ein offenbares Geheimnis, eben das, das dem Anachoreten zu schauen vergönnt ist? Und was ist es? Christus, der in Himmel in Gestalt des Weltenrichters wieder auftauchen sollte, tritt in der endgültigen Fassung dieser Szene nicht in Erscheinung. Und dabei belassen es die Kritiker: Christus, sagen sie, sei abwesend. Indes, wir dürfen nicht vergessen, daß Magna Peccatrix' Gebet in Goethes endgültiger Fassung eine wesentliche Veränderung erfuhr. Ursprünglich hatte die große Sünderin die Jungfrau Maria nicht im Namen „deines gottverklärten", sondern in dem „deines menschverhüllten Sohnes" angerufen. 40 Also doch ein Geheimnis. Wie aber offenbart sich dieser menschverhüllte Sohn? Ist er nicht der gleiche, dessen Unsagbarkeit Faust einstmals dem Teufel entgegengehalten hatte? Meint er nicht den Unausgesprochnen, Durch alle Himmel Gegoßnen, Freventlich Durchstochnen (V. 1 3 0 7 - 9 ) ? 38 39

HA, 2, S. 284. Ebenda, S. 283. WA, I, 152, S. 167.

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Indes, dieser ist anwesend, hier, wo das Unbeschreibliche „getan" wird. Er ist es, dessen Leib und Blut, durch alle Himmel strömend, den seligen Allverein jetzt „verstärkt", der ihm „der Geister Nahrung" zuführt (V. 11921 f.); und dieser vervielfachte Abglanz des Sohnes, nicht dieser selbst auf dem Schöße der jungfräulichen Mutter, wie es eine Zeitlang Goethes Absicht war, 41 ist zumindest ein Teil des offenbaren Geheimnisses, das sich hier, am Ende des Dramas offenbart. Und wie steht es ferner um „die Liebe von oben", die sich zu menschlichem Streben hinzugesellen muß, um das Wunder der Entsühnung zu vollbringen? Meint auch sie nicht etwas Spezifischeres, als gemeinhin angenommen wird? Die letzten Zeilen dieser gravierenden Verse lauteten ursprünglich: Und hat an ihm die Liebe gar Von oben teilgenommen, Er wandelt mit der Seeligen Schaar Und bildet sich vollkommen.*42 (V. 11938-41) Vernehmen wir hier nicht ein Echo jener Stelle aus „Arkadien", die von Apollos „Zugestaltung" zu den Hirten spricht, „bis ihm der schönsten einer glich"? Und verstärkt sich dieses Echo nicht, wenn wir die ursprüngliche Version auch dieser Stelle hinzuziehen? Sie sei nochmals angeführt: Wie oberes dem untern zugestalltet. Auch hier, in Bergschluchten, wird ganz leise jene Saite berührt, die bereits gegen Ende des Helena-Aktes mit mythologischem Dämpfer angeklungen war: die teilnehmende Anverwandlung eines Oberen an ein Unteres, die ihrerseits erst das Untere dazu ermächtigt, sich dem Göttlichen „anzunahen". Erinnern wir uns dazu noch der Worte des kosmogonischen Mythos' von dem Gott, der in menschlicher „Hülle" die Schicksale des Menschen auf eine kurze Zeit „teilt", und wir werden die Aussage von dem Teilnehmen der Liebe von oben mit neuen Augen lesen. Goethe ergeht sich hier nicht in unverbindlichen Gemeinplätzen: er stellt uns vor ein offenbar Geheimnis und nachvollzieht dichterisch die Handlung des Mittlers, der das Wunder der Entsühnung vollbringt, und nur so, in verhüllter Form, zu vollbringen vermag. Denn nur so, in der Gelindheit, die bedingten Menschen angemessen ist, können sie der Bürde des Irdischen entledigt

41 42

Siehe WA, I, 15 2 , S. 165. WA, I, 15 2 , S. 165.

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und von der Macht des Göttlichen emporgezogen werden. Darum ist die Verkündigung der vollzogenen Rettung dem Ausspruch der Engel vorangestellt. Erst diese Milde zeitigt das antwortende Streben auf Seiten des Menschen, dem durch die „Zugestaltung" des Göttlichen der entscheidende Auftrieb zuteil wird, sich selbst „vollkommen zu bilden" und so, auf halbem Wege, dem Göttlichen zu „begegnen" — dies „begegnen" ist der Gewinn der endgültigen Fassung. Wie aus dem Brief Goethes an Iken ersichtlich wurde, verlangt es auch den seine Kraft und Reichtümer ausspendenden Dichter nach „Teilnahme". Wohlgemeinte Auch dieser wirkt, wie aus Zueignung und Für junge Dichter. Antwort sowie aus anderen hier angeführten Beispielen hervorgeht, für das Wohl seiner Brüder. Man denke nur an Mahomets Gesang, das ja auch ein Gedicht über Schöpfertum ist. Was in der ästhetischen Sphäre die Motive des Linderns und Emporhebens, des Verhüllens und des Offenbarens durchweg angekündigt haben, hier nun, am Ende des /^»jZ-Dramas, und insbesondere in der zentralen Stelle, die Goethe als den Schlüssel zum Verständnis des Endes erachtete, wird es „Ereignis". Denn hier wie überall in Bergschluchten und Himmel, findet sich jenes gelinde Herabneigen des Oberen, das ein Hinanziehen des Unteren aus sich entläßt; und überall, auf dieser Jakobsleiter der Erlösung, waltet ein wechselseitiges Füreinander, in dem das noch immer halb-Heilige, halb-Menschverhüllte bald als Unteres, bald als Oberes erscheint — die Seligen Knaben und Faust, dieser und Una Poenitentium, sonst Gretchen genannt, Gretchen und die matres. Wir dürfen all diese Konfigurationen als „einander gegenüber gestellte und sich gegenseitig in einander abspiegelnde Gebilde", ja als wiederholte Spiegelungen 43 ansehen, in denen zusammen sich in immer gesteigerter Form der mystische Leib des „geheimnisvollen Sohnes" 44 offenbart. 6.

Indes, die einzige Erscheinung des Göttlichen, die hier, am Ausgang von Faust, in die Sinne fallt, ist die der Mater Gloriosa, der Mittlerin des Mittlers. Dies ist so, wie es in Goethes geistigem Kosmos sein muß, und zwar unabhängig von grundsätzlichen konfessionellen Entscheidungen. Es ist unausbleiblich aus zwei Gründen, die eng miteinander verwoben

43

44

Siehe den Aufsatz des Namens {HA, 12, S. 322 f.), in dem Goethe auch gerade das immer emporgesteigerte Leben der Kirche erwähnt (S. 323). Kunst und Altertum am Rhein und Main, HA, 12, S. 145.

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sind. Einmal ist da Goethes eingefleischte Neigung zu einer vermittelnden Position, als Künstler, als religiöser Denker und, nicht minder, in seiner Eigenschaft als Morphologe. Erwählte doch der Wissenschaftler ein anatomisches Modell, das — wir haben es in früheren Kapiteln gesehen45 — weit ablag von der Vollkommenheit des Menschen, um durch eine solche Strategie die primitivsten wie die differenziertesten Naturerscheinungen in einer Sicht zu begreifen, um sich des menschlichen Potentials selbst seiner Habebalds und Raufebolds zu versichern, und selbst diesen die Möglichkeit einer Entsühnung zu gewährleisten, wie er denn durch die gleiche Taktik auch das Niedrige in seinem Faust entlarvt und erlöst.46 Die passionierte Milde, kraft derer Goethe an diesem, seinem Credo eines „Mittelzustandes" festhält, ist die gleiche, ob wir uns seinen poetologischen oder seinen religiösen Äußerungen zuwenden, die — wir sahen es — in diesem entscheidenden Punkt identisch sind. Und in diesem Betracht ist die so gelinde Gottesmutter, die Mittlerin des Mittlers, dem Menschlich-Irdischen verwandter als der „übererhabene"47 Gottessohn, wie das mit Rosen umwundene Kreuz der Geheimnisse anheimelnder ist als das nackte Marterholz. Aber dennoch: warum offenbart Goethe das Göttliche in Gestalt einer noch so hohen Frau? Hier gibt die Parität der dichterischen und der religiösen Sphären den Ausschlag, auf die wir in diesen Seiten unser Augenmerk gerichtet haben. Es ist der Künstler Goethe, der Poet, oder — das ist die Bedeutung dieses Wortes im Griechischen — der „Wortmacher", der der jungfräulichen Mutter als gipfelnder Manifestierung des Transzendenten bedarf, und nicht nur, weil die jungfräuliche Mutter eine ästhetisch eminent ergiebige Erscheinung ist. Denn: ist Maria selbst nicht die „Wortmacherin" par excellence? So wie der Logos in ihrem reinen Schoß eingefleischt ist und zu „unsersgleichen" wird, so auch inkarniert der Dichter sein Geistiges in einem Wortleib, der die nackte Glut des Gedankens mildert und erhöht, der, sie bergend, sie erst wahrhaft offenbart; wie ja so oft das Gezeugte das Zeugende übertrifft. Diese doppelte Inkarnierung wird in den letzten Versen des FaustDramas Ereignis. Der Chorus Mysticus feiert die Einfleischung des Logos und des dichterischen Wortes im Ewig-Weiblichen und im Gleichnis. Er feiert diese Einverleibung mit der leidenschaftlich vermittelnden Güte, die 45 46 47

Siehe Kapitel 4. Siehe Kapitel 19 und 20 dieser Studie. Maximen und Reflexionen N' 68, HA, 12, S. 375.

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437

das vielleicht unverbrüchlichste Wesensmerkmal dieses Künstlers, Denkers und Wissenschaftlers ist. Das „nur" der zweiten Zeile ist sowohl einschränkend als auch apodiktisch affirmativ. Es meint „nicht mehr als" sowie auch „nicht weniger als". Es lindert unsere Trauer um das Vergängliche und preist dessen Gottdurchlässigkeit. Des Dichters Sorge ist auch hier, „Leiden zu lindern, Freude zu fördern". 48 Und so auch „dämpft und ermäßigt" das Anschauen des Ewig-Weiblichen die Gemüter, „damit allen geholfen und damit vielen wohl werde." 49 Die hier verwandten Prägungen sind fast beliebig sowohl Goethes poetologischen als auch seinen religiösen Aussagen entnommen. Und mit vollem Bewußtsein. Denn der Himmel, in dem dieses Drama gipfelt, ist in Wahrheit ein Dichterhimmel, in dem Poesie und Religion, die Himmelsbraut und Hafis' Wortbraut sich vermählen und randlos ineinander übergehen; was aber keineswegs heißt, daß man eine so weitgespannte Vision als einen vage katholisierenden Ästhetizismus abwerten darf, wie so oft geschieht. Goethes Kunst war ihm Religion — er selbst gesteht dies Eckermann50 —; und in der wortaustragenden Gestalt der jungfräulichen Mutter sowie in der ganzen sacht vermittelnden Gewalt des katholischen Christentums „begegnete" ihm etwas Antwortendes, seinem „weltlichen Evangelium" Gemäßes, das er sich zwanglos zueignen konnte.51 Goethe ästhetisiert nicht mehr am Ende seines Faust als Dante am Ende der Gottlichen Komödie. Wie der italienische Wortkünstler ist er durchdrungen von dem „Wert des Worts", des dichterischen Worts, des Symbols, das mystisch ist und rein, und von seinem Beruf dazu; dafür sagt er seinen Dank im Anschauen des Göttlichen in Gestalt der Mittlerin des Mittlers, die rein im schönsten Sinne ist. Und wie — auch darin gleicht er Dante — des Deutschen Auge aus dem ungeheuren Kanvas hervorblitzt, den er entworfen hat, so ist auf dieser Stufenleiter vermittelnder Gewalten selbst dem Ausleger der Kunst, jener „würdigsten Auslegerin", ein bescheidenes Plätzchen gesichert. Sagt er es nicht selbst? „Die wahre Vermittlerin ist die Kunst. Über Kunst sprechen, heißt die Vermittlerin vermitteln wollen, und doch ist uns daher viel Köstliches erfolgt." 52 48 49 50 51

52

Für junge Dichter. Wohlgemeinte Erwiderung, HA, 12, S. 358 f. Zu Eckermann, 11. März 1832, AGA, 24, S. 769f. Zu Eckermann, 2. Mai 1824, AGA, 24, S. 115. Die Sekundärliteratur über dieses Thema ist zu groß, als daß sie hier im Einzelnen zitiert werden könnte. Am nächsten kommt meine Position der von J. Urzidil, Goethe in Böhmen, Zürich und Stuttgart, 1962. Maximen und Reflexionen N' 18, HA, 12, S. 367.

Über die Vorläufigkeit endgültiger Lösungen Gedanken zu Goethes Schaffensweise Was einem angehört, wird man nicht los, und wenn man es wegwürfe. Maximen und Reflexionen. „...ich hoffe, durch die Art, wie ich diese köstlichen Reste zu bestatten gedenke, soll die ganze Fabel eine freundliche Auflösung finden... Goethe über seinen Plan eines gemeinsamen Grabmals mit Schiller, 1826. ...Lösest endlich auch einmal Meine Seele ganz... An den Mond

1.

Hat der Dichter „einen Knoten bedeutend geknüpft und würdig gelöst", lesen wir in Goethes Aristoteles Essay von 1827, so habe er seine Pflicht erfüllt. 1 An anderem Orte 2 habe ich dargelegt, daß Goethe zumindest in einem Falle andersherum verfuhr. In seinem Faust hatte er längst das Ende zu Papier gebracht, 3 bevor er sich überwinden konnte, den vorletzten Akt, den vierten, zu schreiben, der viel Häßliches bringt, in dem überdies Faust der Landstrich zugesprochen werden sollte, den er dann am Ende seines Lebens kolonisiert. Das heißt, Goethe hatte seinen Knoten gelöst, bevor

1 2 3

In: Nachlese Aristoteles' Poetik. HA, 12, S. 345, Z. 15. In Kapitel 20 dieser Studie. Forscher sind sich darüber einig, daß Vorarbeiten zum fünften Akt, sowie auch — nachweislich — Portionen der Helena-Handlung bis in die Zeit der Zusammenarbeit mit Schiller um die Jahrhundertwende zurückreichen. Goethe selbst äußert sich wiederholt, wenn auch kryptisch, über das frühe Entstehungsdatum des Schlusses. Siehe S. Boissefees Tagebuch vom 3. August 1815 (zitiert in Graf, II, II: N° 1162, S. 215); an Zelter, 24. Mai 1827 (WA, IV, 42, S. 190, Z. 12f.); an Zelter, 4. Januar 1831 (WA, IV, 48, S. 72, Z. 23 f.); zu Eckermann, 13. Februar 1831, (AGA, 24, S. 445).

Über die Vorläufigkeit endgültiger Lösungen

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er ihn — zumindest für uns — geknüpft hatte. Einmal hatte er Fausts „Erlösung" bewerkstelligt: Wer immer strebend sich bemüht, D e n k ö n n e n w i r e r l ö s e n . . . (V. 11936f.), hatten die Engel verkündet; eine Stelle, die, wie Goethe Eckermann erklärt, den Schlüssel zu Fausts Rettung enthält. 4 Nun, diese Erlösung Fausts hatte sich als vorschnell erwiesen; nicht nur, weil der vierte Akt — ja, faktisch große Portionen des zweiten Teils — noch ausstanden, 5 sondern weil sie dann doch etwas leicht erkauft worden war. Hatte der Greis, in eben diesem Schlußakt, unter der Devise „Lebensraum" — Faust nennt es „Weltbesitz" — sich nicht einer brutalen Liquidierung dreier schuldloser Menschen samt ihres spezifisch religiösen Lebensstils befleißigt, in einer Szenenfolge, auf die der Dichter am letzten Ende seiner Arbeit noch viel Mühe verwenden sollte? 6 Und stellt nicht diese kaltblütig konzipierte, jedoch wohlweislich delegierte Aufräumaktion ihrem Wesen, wenn auch nicht ihren Ausmaßen nach, eine Antizipation jener „Endlösung" dar, die wir in unserem eigenen Jahrhundert kennengelernt haben? Die Alten droben sollten weichen (V. 11239), sagt der unersättliche Machthaber und bedeutet dem Teufel, er möge sie zur Seite schaffen (V. 11275); was dann auch prompt geschieht: Wir aber haben nicht gesäumt, Behende sie dir weggeräumt (V. 11360 f.), verkündet Mephisto in akkurat den flott-fröhlichen und munter= marsch=marsch antreibenden Tönen, wie sie hundert Jahre später bei ähnlichem Anlaß der Walzerkönig Johann Strauss hergeben sollte. Diese 4 5

6

Am 6. Juli 1831 (AGA, 24, S. 504). Zur Genese von Faust II siehe Christian Sarauw, Die Entstehungsgeschichte des Goetheschen Faust, Kopenhagen 1917; Wilhelm Hertz, .Entstehungsgeschichte und Gehalt von Faust II,Akt 2, in: Euphorion, Band 25, 1924. Derselbe, ,Zur Entstehungsgeschichte von Faust II, Akt 5, in: Euphorion, Band 33, 1932; Ulrich Landeck, Der 5. Akt von Goethes Faust II. Kommentierte Kritische Ausgabe. Zürich und München 1981; W. Emrich, Die Symbolik, von Faust II, Sinn und Vorformen, Frankfurt 1964, S. 438f.; Faust, kommentiert von Erich Trunz, Sonderausgabe, München 1981, S. 467—472. Ich selbst bin in dieser Arbeit bemüht, dem Warum-so-und-nicht-anders einiger Aspekte dieser Entstehungsgeschichte auf den Grund zu kommen. Offene Gegend, d. h. die Szene, welche die Grundlage von Fausts Tun im fünften Akt bildet, wurde erst Anfang Mai 1831 geschrieben. Siehe Eckermann, 2. Mai 1831 (AGA, 24, S. 497) und 6. Juni 1831 (AGA, 24, S. 503).

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Ruchlosigkeit mußte notwendigerweise von dem Drama in seiner Gesamtheit als vorläufig gekennzeichnet werden, bevor die Worte von der Erlösbarkeit des Menschen Glaubwürdigkeit und Gewicht erlangen konnten — : ein Rehabilitierungsprozeß, der in Fausts letzten Worten vor sich geht. Solche „endgültigen" Lösungen gibt es etliche in Goethes dichterischem Werk. Man denke an Thoas' Befehl, alle nach Tauris verschlagenen Fremdlinge zu töten; an Albas Unterfangen, Freiheit und Leben eines reifen Volkes durch die Teufelsmaschinerie eines modernen Polizeistaates, komplett mit Denunziation, Spionage und Mord, abzudrosseln; oder auch — humoristischer, aber im Hinblick auf die Entwicklungen unserer Gegenwart dann doch ernst zu nehmen — an Wagners Verabschiedung der herkömmlichen Fortpflanzungsweise zugunsten eines Reagenzglas-Babies; ein Experiment, das diesem Wunderkind — und auch uns — noch viel zu schaffen machen wird. Es ist nicht meine Absicht, mich hier mit derartigen, mehr oder minder gewaltsamen, in jedem Falle aber voreiligen Lösungen auf Seiten von Goethes Figuren zu beschäftigen, obschon auch darüber, gerade im Falle Faust, mancherlei zu sagen wäre. 7 Hier liegt mir vielmehr daran, Goethes eigene Vorwegnahme einer sittlich-ästhetischen Lösung für ein existentielles Problem und die verschiedenen Gründe dafür nachzuzeichnen, sodann die unendliche Langsamkeit des menschlich-dichterischen Reifeprozesses, in welchem er dem voreiligen, oder auch dem schnellempfundenen, zutiefst befreienden Aperçu Fleisch und Bein gab. Nicht nur in seinem Faust hat Goethe zuerst den Knoten gelöst, um ihn dann in einem langen Schaffensprozeß „bedeutend" zu knüpfen und auf diese Weise seiner Lösung rückwirkend die „Würde" — der alte Goethe nennt dies: „das specifische Gewicht" oder auch „die specifische Schwere" — zu geben, die sie für sein Werk und für uns verbindlich macht. Auch in seinem Egmont tat er dies, und wiederum in der Trilogie der Leidenschaft — Werke, die, wie sein Faust, eine verdrehte Chronologie aufweisen. In dem Frühwerk verweigerte sich dem Dichter der fatale, ihm verhaßte8 vierte Akt bis längst nach dem letzten, versöhnlichen; in der Trilogie, nicht ungleich dem Faust, wurde die zuerst geschriebene Aussöhnung ans Ende gestellt, während die später gedichteten Teile, Elegie und, sechs Monate danach, An Werther? sodann, wieder in umgekehrter Reihen7 8 9

Siehe Kapitel 21 dieser Studie. An Charlotte von Stein, 12. Dezember 1781 (IVA, IV, 5, S. 239, Z. 14 ff.). Aussöhnung entstand zwischen dem 14. und 18. August 1823, Elegie zwischen dem 5. und 18. September desselben Jahres, An Werther am 24. und 25. März 1824.

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folge, als „bedeutende" Schürzung des Knotens dessen endlicher und jetzt „würdiger" Lösung vorangestellt wurden. Um Goethes Schaffensweise in seinem Faust zu erhellen, möchte ich diese beiden Dichtungen mit heranziehen. Bevor wir aber fragen, was wohl das verbindende Moment dieser drei Werke sein könnte, die einen immerhin beachtenswerten Zug ihrer Genese miteinander teilen, und was, letztlich, Goethes eigene Erfahrung der Katharsis ist, der in dem dichterischen Werk vollzogenen und im Leben erlittenen — denn darum geht es mir —, seien mir zwei Beispiele gestattet. Sie mögen als Vignetten seiner Schaffensweise gelten. Über Egmont schreibt er am 16. März 1782 an Charlotte von Stein: „Nun will ich über den Egmont und hoff ihn endlich zu zwingen." 10 Ein gänzlich ungoethescher Versuch einer dichterischen Gewaltlösung. Am nächsten Tage bereits kommt er zu sich und schreibt der Freundin: „Ich bin ganz leise fleisig..." 11 ; und wir dürfen sicher sein, daß ihm an diesem Tage die Arbeit unter den Händen aufquoll. Seiner Novelle fühle man an, „daß sie sich vom tiefsten Grunde meines Wesens losgelöst hat", 12 schreibt Goethe zwei Jahre nach ihrer Vollendung. Wir vermerken die sanfte Körperlichkeit dieses sich „Loslösens" und fragen, wann im Laufe der rapiden Entbindung des in einer uralten „Conception" Empfangenen — die Ausarbeitung dauerte vom 4. Oktober 1826 bis etwa zum Jahresende — der Dichter den Knoten seiner Erzählung knüpfte und wann er ihn löste. Auch hier erfolgte das Letzte zuerst. Am ersten Tage nach Beginn der Ausführung, am 10. Oktober 1826, notiert Goethe: „Kleines Gedicht zum Abschluß der projectirten Novelle". 13 Dies ist das Lied des schwarzgelockten Knaben, welches den „Tyrannen der Wälder" durch Liebe und Frömmigkeit dergestalt beschwichtigt, daß „der dem eigenen friedlichen Willen Anheimgegebene" sich ohne Gewalt überwinden läßt. „Dieses schöne Ziel", gesteht Goethe, habe ihn zur Ausführung gereizt; 14 und so eilig hatte er es, auf seine Lösung zu sprechen zu kommen, daß er Eckermann nach der Lesung der ersten Bogen versprach: „Donnerstag abend gebe ich Ihnen das Ende; bis dahin liegt der Löwe in der Sonne".15 Ja, so fasziniert war der Dichter von dieser musikali10 11 12

13 14 15

Am 16. März 1782, WA, IV, 5, S. 280, Z. 23 f. Am 17. März 1782, ebd, S. 282, Z. 4. An Ch. L.F. Schultz, 10. Januar 1829, WA, IV, 45, S. 116, Z. 17 f. WA, III, 10, S. 255, Z. 13 f. Zu Eckermann, 18. Januar 1827, AGA, 24, S. 213. Zu Eckermann, 15. Januar 1827, AGA, 24, S. 203.

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sehen Aussöhnung des Unüberwindlichen — denn darum geht es ja doch wohl —, daß sich dieser ausgepichte Spinozist und Kantianer in dem bekannten Gleichnis von der Blume und dem Blätterwerk, aus dem sie hervorgeht, zweimal dazu hinreißen ließ, in einem teleologischen Urteil der Art, wie er sie im Prinzip verabscheute, eine ausgewachsene Endursache zu stipulieren. „Die Blume war unerwartet, überraschend, aber sie mußte kommen; ja das grüne Blätterwerk war nur für sie da* und wäre ohne sie nicht der Mühe wert gewesen", 16 erklärt er seinem über den Ausgang der Erzählung nicht recht glücklichen Jünger; und wiederum: „Zu zeigen, wie das Unbändige, Unüberwindliche oft besser durch Liebe und Frömmigkeit als durch Gewalt bezwungen werde, war die Aufgabe dieser Novelle, und dieses schöne Ziel, welches sich im Kinde und Löwen darstellt, reizte mich zur Ausführung. Dies ist das Ideelle, dies die Blume. Und das grüne Blätterwerk* der durchaus realen Exposition ist nur dieserwegen da* und nur dieserwegen etwas wert." 17 Und wie steht es mit der Knüpfung des Knotens, den er gleich zu Anfang mit so berückender Musikalität gelöst hatte? Honorio tut dem Tiger Gewalt an, so wie er seinen eigenen Gefühlen Gewalt antut. Hier ist der Kern der Situation, wie Goethe Eckermann klar machte; 18 ist das nicht „Knoten" genug? Ganz kurz vor der Vollendung der Niederschrift fragt Eckermann, wie es mit seiner Novelle stehe. Er lasse sie dieser Tage ruhen, ist Goethes Erwiderung; „aber eins muß doch noch in der Exposition geschehen. Der Löwe nämlich muß brüllen, wenn die Fürstin an der Bude vorbeireitet; wobei ich denn einige gute Reflexionen über die Furchtbarkeit dieses gewaltigen Tieres anstellen lassen kann." 19 Eckermann sekundiert und lobt „eine Exposition, ...wodurch auch alles Folgende eine größere Wirkung gewinnt. Bis jetzt erschien der Löwe fast zu sanft, indem er gar keine Spuren von Wildheit zeigte. Dadurch aber, daß er brüllet, läßt er uns wenigstens seine Furchtbarkeit ahnden, und wenn er sodann später sanft der Flöte des Kindes folgt, so wird dieses eine desto größere Wirkung tun." 20 Eckermann hatte die Sachlage scharf erfaßt. Hätte Goethe diese letzte Schürzung des Knotens, die frühzeitige Reverenzerweisung vor dem Un* Hervorhebungen I. G. Siehe Anm. 14. 17 Ebenda. 18 Zu Eckermann, 15. Januar 1827, AGA, 19 Zu Eckermann, 31. Januar 1827, AGA, 20 Ebd., S. 232. 16

24, S. 203. 24, S. 231 f.

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überwindlichen, Widrigen, gescheut, er hätte sich um die „spezifische Schwere" seiner aussöhnenden Abrundung gebracht. Mag sein, daß diejenigen Recht haben, die in Goethes Hang, dem absolut Unausgleichbaren, Unversöhnlichen auszuweichen,21 seine eigentümliche Signatur sehen. Sie sollten aber einsehen, daß dieser Zug nicht aus Schwäche, sondern aus Charakterstärke entspringt, und daß für einen nicht geradezu mit Blindheit Geschlagenen aussöhnendes Ausgesöhntsein das weitaus schwerste Geschäft im Leben ist. Dies aber ist jenseits allen Zweifels; die unendliche Sachtheit und Geduld, mit der er das ganz Widrige schließlich dann doch in seine dichterische Konzeption sowie in sein Leben hineinnahm und es, „aussöhnend ausgesöhnt",22 in seine Lösung hineinwob, ist sein menschlich-künstlerischer Triumph. Goethes anfängliche Selbstbewahrung, seine allmähliche Hingabe an das Unausweichliche und die Fähigkeit, selbst noch diesem — wie Orestes den Eumeniden — ein wohlwollendes Gesicht abzugewinnen: — diesen Entwicklungsprozeß andeutungsweise an der Genese von Faust II nachzuvollziehen ist der Sinn der folgenden Seiten. 2.

Vorerst aber müssen wir fragen: was ist das Verbindende der drei Werke, die eine umgekehrte Chronologie aufweisen, — also von Egmont, der Trilogie der Leidenschaft — und insbesondere ihres Herzstücks, der Elegie — und schließlich des Mittelstücks von Faust II, des Dramas im Drama,23 des Helena-Aktes also, den Goethe als „die Axe, auf der das ganze Stück dreht",24 bezeichnete? Ich möchte meinen, es sei die außergewöhnliche Unmittelbarkeit und Leidenschaftlichkeit des dichterischen Anteils, der

21

22 23

24

Hierzu siehe den späten Brief an Zelter vom 31. Oktober 1831 (WA, IV, 49, S. 128, Z. 1 ff.); ferner die Gespräche mit F. von Müller vom 6. Juni 1824 (AGA, 23, S. 349) und vom 2. Juli 1830 (ebd., S. 715), wo Goethe ä propos einer menschlichen Klemme wie folgt definiert: „...tragisch nenne ich eine Situation, aus der kein Ausgang war, keine Komposition gedenkbar ist"* (Hervorhebung I. G.). Siehe Nachlese Aristoteles' Poetik, HA, 12, S. 344. In: ,Helena. Zwischenspiel \u Faust. Ankündigung vom 17. Dezember 1826 wird der Mittelakt als ein „in den zweyten Theil des Faustes einzupassendes, in sich abgeschlossenes kleineres Drama" geschildert (Paralipomenon N° 123, 1, WA I, 152, S. 199); eine Selbständigkeit, die der Akt lange beibehielt und die zum Verständnis der hier vorgelegten Betrachtungen im Auge behalten werden muß. An S. Boisseree, 19. Januar 1827 (WA, IV, 42, S. 19, Z. 9).

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durch diese Seiten weht. Diese durch freiwillig-unfreiwilligen Zimmerarrest sowie durch heimliche Verstrickung mit Lili bewirkte Passioniertheit konzediert der Autobiograph bereitwillig im Falle seines Egmont;25 von seiner „dreytausendjährigen Helena..., der ich nun auch schon sechzig Jahre nachschleiche",26 spricht er wie ein demütig-obstinater Liebhaber; und, mit Eckermann über jenes einzigartige „Produkt eines höchst leidenschaftlichen Zustandes"27 — also die Elegie — nachsinnend, verfallt er auf ein einigermaßen verblüffendes Gleichnis: „Ich setzte auf die Gegenwart, so wie man eine bedeutende Summe auf eine Karte setzt, und suchte sie ohne Übertreibung so hoch zu steigern als möglich."28 So spricht ein Spieler; und in der Tat, der Verfasser der drei Dichtungen, um die es hier geht, ist ein Spieler, der drei Künstlerfiguren ein sehr gewagtes, vielleicht auch verzweifeltes Spiel für sich spielen läßt. Denn Egmont, wenngleich ein handelnder Mensch, ist genau besehen ein Künstler,29 und zwar „in der Kunst des Lebens", wie Goethe über eine — für seine Konzeption dieser Gestalt zentrale — menschliche Begegnung

25 26

27 28 29

In: Dichtung und Wahrheit; IV, 20, HA, 10, S. 181. An Nees von Esenbeck, 25. Mai 1827, (IVA, IV, 42, S. 197, Z. 17 ff.). Goethe kuppelt hier die Helena mit der Trilogie der Leidenschaft, die „Sie [d. h. Nees von Esenbeck] nicht ohne Theilnahme vorüber lassen" werden {ebd., Z. 21'ff.). Eine weitere Zusammenschau der beiden Werke findet sich im Gespräch mit F. von Müller vom 30. August 1827 (in: Biedermann, 3, S. 436). Die „schönsten und zartesten Äußerungen" aus dem Norden, deren Goethe hier gedenkt, meinen eine an Müller gesandte Deutung des Helena-Aktes von Henriette von Beaulieu, die Müller Goethe zeigte. Goethe war von dieser Auslegung entzückt, die sich ganz auf die Euphorion-Handlung konzentrierte, und zwar gerade von deren Nichtachtung der Chronologie, einer Schaffensweise also, die genau der seinen entsprach. „Curios, diese Analyse fangt genial genug von hinten an", kommentiert er: „Curios, curios, aber sehr geistreich, sehr liebenswürdig" (zitiert in Graf, Dr. II, S. 403 und 404). Am 16. November 1823, AGA, 24, S. 74. Ebd., S. 75. Später, in Torquato Tasso, wird Goethe zwischen dem Handelnden — also Antonio — und dem Dichtenden — Tasso — eine reinliche Grenze ziehen. Diese „Aus-Einandersetzung" ist bereits in Egmont angelegt; und wenn Alba den handelnden Pol repräsentiert, so — offenkundig — Egmont den musischen. Die Unterscheidung ist jedoch dadurch durchkreuzt, daß beide Protagonisten unter den Leitbegriff des „Wirkens" in seiner Doppelbedeutung fallen. Über „die verdeckte Künstlerthematik" Egmonts siehe Hartmut Reinhardt, ,Egmont' in: Goethes Dramen. Neue Interpretationen, Hrsg. Walter Hinderer, Stuttgart 1980, bes. S. 130. Diese ansprechende Arbeit berührt sich mit der hier angedeuteten Auslegung in manchen Stücken. Eine volle Analyse findet sich in Kapitel 17 dieser Studie.

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bemerkt: 3 0 man bedenke, daß das griechische Wort für „ w i r k e n " — „ p o i e i n " — mit „ p o i e s i s " — also „ D i c h t u n g " — eng verwandt ist. Daß der Faust der Helena-Tragödie ein sentimentalisch gebrochener, von der Sehnsucht nach antik-ruhevoller K u n s t und Schönheit verzehrter Künstler sei, war bereits Sulpiz Boisseree nach der L e s u n g der ersten Szene des Mittelaktes klar. 3 1 Und das lyrische Ich der Elegie? D a s Torquato Tasso entnommene Motto macht es offenkundig, wer hier spricht; nur daß dieser Dichter, ein Vierundsiebzigjähriger, der Tassos „ w i e " in ein „ w a s " zurückzuverwandeln wagt, verwundbarer und der Flut der Leidenschaft schonungsloser ausgesetzt ist als sein jüngerer aber zäherer Kollege. In diesen drei Dichtungen spielen also drei für ihren Schöpfer stellvertretende Künstler mit einer Intensität wie sonst nur noch im Divan um ein bis zur Grenze des Ertragbaren hochgesteigertes Gegenwartserlebnis. D i e Marken, mit denen sie spielen, sind Zeiteinheiten; der höchste Wurf ist der der Zeit enthobene, in seiner puren Qualität unverwüstliche Augenblick; hinter ihnen steht der Tod. Sie spielen darum, den Fluß der Zeit — und dieser Fluß heißt von seiner Q u e l l e an Lethe — in einen leuchtenden Moment zu bannen und in ihm zum Stillstand zu bringen. Dies ist der Augenblick der Liebe; und bei einem so eminent visuellen Menschen, wie Goethe es ist, heißt das, der Zeitmoment, in dem der Blick der Augen, will sagen: der „ A u g e n - B l i c k " zweier Liebenden diese von G r u n d aus neu schafft und, mit ihnen, eine ganze innere Welt. Dieser optimale, gestaltaufbauende „ A u g e n - B l i c k " aber entpuppt sich als der prägnante Punkt der Kunst, ihr „ L e b e n s p u n k t " , wie Goethe ihn oft nennt. Worum diese drei Künstler letztlich spielen, ist der „ H o c h g e w i n n " , die Realität zur Höhenlage der K u n s t hinaufzusteigern, die irrelevante und todverfal30

Dies ist die Gräfin Jeannette-Louise von Werthern-Neunheiligen. Von ihr schreibt Goethe: „Was in ieder K u n s t das Genie* ist, hat sie in der Kunst des Lebens.*"

(An

Charlotte von Stein, 11. März 1781, WA, IV, 5, S. 77). Für den vollen Text und seinen Bezug auf E g m o n t siehe Kapitel 17. Goethe gibt ganz freimütig zu, er wolle in den drei Tagen seines Besuches bei der Gräfin „nichts... thun als sie anzusehn" und wolle „noch manchen Z u g erobern", fraglos für seinen E g m o n t {ebd., S. 77, Z. 18 ff.). Über seine Verwendung von Erlebtem zu Zwecken der K u n s t war Goethe völlig offen, besonders in dieser Periode (siehe die Briefe an Charlotte von Stein v o m 1. Januar 1780 [WA, IV, 4, S. 159, Z. 11 ff.]; 11. März 1781 [WA, IV, 5, S. 78, Z. 5 ff.] 12. und 13. Dezember 1781

[HA,

Briefe 1, S. 380, Z. 15 f. In WA nicht auffindbar]; sowie 3. März 1785 [WA, IV,

7, S. 19, Z . 18 —S. 20, Z. 1]); und zu dieser Philosophie hat er sich zeit seines Lebens bekannt. 31

Boisseree an Goethe, 30. N o v e m b e r 1826. Zitiert in Gräf, Dr. II, S. 354, Anmerkung 3 zu N ° 1428.

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lene Serie von Momenten, die wir „Leben" nennen, in eine Sternstunde, ja in einen „Augen-Blick" reiner Vollendung zu komprimieren, der durch seine Leuchtkraft Zeit und Tod bezwingt. Die Gefahr einer solchen künstlerischen Lebensbewältigung ist ein punktuelles Zeiterlebnis; einem solchen aber gebricht es an Kontinuität. 32 Ihr Gewinn ist die Bannung nicht nur des Spektrums der Zeit, sondern auch ihres Zwillings, der der Zeit verhafteten Sorge. All diese Züge teilen die drei Dichtungen, die eine umgekehrte Chronologie aufweisen: ein bis zum Rausch emporgesteigertes, dämonisches Wirken, sei es nun nach außen gewandter und handelnder oder seelischinnerlicher Art; die Destillierung des gänzlich exponierten und immer visuell erfahrenen „Augen-Blicks"; 33 und schließlich das zumindest scheinbare Gefeitsein gegen Zeit und Sorge. Egmont, der „mit rascher Wirkung" seinem Dämon folgt (V, Gefängnis) ist ein Mensch der unmittelbaren Gegenwart, des „Augen-Blicks" par excellence; und Klärchen, die an seinen Augen hängt, teilt diese schlafwandlerische Gratwanderung mit ihm, so wie in zweiter Linie auch Ferdinand das tut. Und beide, Egmont sowie Klärchen, leugnen gleichermaßen Zeit und Sorge ab. Egmonts seltsam abstraktes: „Es ist keine Sorge" (II, Egmonts Wohnung;) wird zurückgespiegelt von Klärchens geradeso freischwebendem, jedem konkreten Kontext sich entziehendem: „...laßt die Zeit kommen wie den Tod" (III, Klärchens Wohnung), sowie von ihren späteren Worten über die Zeit, die keine Zeit mehr ist (V, Klärchens Haus) oder von ihrem schaurigen Kommentar auf den Tod des Geliebten: „Nun ist es Zeit!" (ebd.) Faust, der, wie Achill vor ihm, die geliebte Gestalt „gegen das Geschick" (V. 7437), „selbst außer aller Zeit" (V. 7436) ins Leben zieht, weiß an diesem Gipfelpunkt seiner Mannheit zum ersten und einzigen Mal nichts von Zeit und Sorge. Der Faust der Osternacht und erst recht wieder der Greis, der die hypnotischen Worte dieses „Widerdämons" geflissentlich überhört, sind anfallig gegen ihre untergrabende Gewalt. Der Faust der Helena aber hat es selbst der Griechin voraus, wenn er sie warnt: Durchgrüble nicht das einzigste Geschick! Dasein ist Pflicht, und wär's ein Augenblick. 32

33

(V.9417f.)

Hier wäre der Ausgangspunkt für eine Analyse der grammatischen tempora der Elegie; ein interessanter Versuch in dieser Richtung, allerdings von anderen Prämissen her, findet sich bei V. Nollendorfs, .Goethe's „Elegie": a non-biographical Approach' (in: G. R. XL, No 2, March 1965). Eine eingehende Analyse des „Augen-Blicks" in seiner gleichermaßen zeitlichen und visuellen Bedeutung findet sich in Kapitel 11.

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Indes, selbst in einem noch so symbolisch gelebten Leben vermag der optimale Augenblick der Kunst nicht festgehalten zu werden. Aus dem „prägnanten" 34 Moment wird eine — wenn auch noch so mythologisch verfremdete — Schwangerschaft: und diesem Einbruch der Zeitlichkeit folgen Sorge und Tod auf dem Fuß. Das ist die Tragik des Helena-Dramas: der mißlungene Wurf, das Leben in die Grenzen der Kunst zu bannen; und solange der Helena-hkt noch für sich stand und nicht durch den zweiten und vierten Akt und mit Anfang und Ende verbunden in ein umfassendes Ganzes „eingepaßt" war 35 — d. h. bis nah an Goethes eigenen Tod —, war diese Tragik eine durch nichts gemilderte, absolute. Denn erst dieser zweite Akt, die Klassische Walpurgisnacht, tut das, was die Geliebte in der früher geschriebenen Elegie von dem Liebenden verlangt hatte —: dieser Akt schaut heiter-gefaßt dem „Augenblick ins Auge". Drum tu wie ich und schaue, froh-verständig, Dem Augenblick ins Auge! (V. 97 f.) Diese gewagteste aller Goetheschen Formulierungen zu dieser Thematik betont einerseits die visuelle Komponente des hingerissenen „AugenBlicks" und damit die gänzliche Abhängigkeit des Angesprochenen von der lebendigen Gegenwart der Geliebten, dem Gehen wie dem Kommen. Andererseits aber meint „dem Augenblick ins Auge schaun" noch ein weiteres: die Aufforderung nämlich, diese Ausnahmekonstellation in ihrer Unhaltbarkeit „frohverständig" zu durchschauen und sich der fließenden Zeit anheimzugeben: was dann in Aussöhnung geschieht sowie in den schließlich in einen übergreifenden Zusammenhang eingebetteten Schlußszenen von Schattiger Hain sowie auch in den letzten Seiten von Egmont. All diese sind eminent musikalische Lösungen, in denen ein zur Vollendung der Kunst geronnenes Bild ins Fließen gerät und Zeit und Tod, vielleicht auch die Ahnung eines verjüngenden „Stirb und werde", das Bild des Daseins zur Rundung bringen. Sind nur mir diese drei Dichtungen so wert? Oder sind sie der Niederschlag einer besonderen seelischen Konstellation, die uns alle anrührt? Ich meine, das letztere. In diesen drei Werken setzte Goethe die bedeutendste Summe auf die höchste Karte: sie sind sein verwegenstes Ja zu dem, was Egmont als „Süßes Leben! schöne, freundliche Gewohnheit des Daseins und Wirkens" anspricht (V, Gefängnis), und sein verzweifeltes Nein zu dem 34

Lat. „praegnans" heißt „schwanger".

35

Siehe Anmerkung 23.

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Unüberwindlichen, Unbezwinglichen, Unausweichlichen — zu Zeitlichkeit und Tod. Das Nein jedes Liebhabers des Lebens, insbesondere aber jedes schöpferischen Menschen, der Welten in sich trägt lind sterben muß. Weil Egmont, der Faust der klassischen Akte des zweiten Teils und das lyrische Ich der Elegie Abbilder ihres Schöpfers sind, der sie nach seinem Bilde schuf, weil sie über die allgemeine condition humaine hinausgesteigert sind und die besondere Tragik seines Künstlerschicksals teilen, mußte er sich, das Letzte und — wir werden es sehen — das Schwerste vorausnehmend, „einer Söhnung, einer Lösung" 36 teilhaft machen, bevor er den „Antecedenzien" ihres Geschickes nachspüren konnte: dem Konflikt, „in welchem... das Liebenswürdige untergeht und das Gehaßte triumphiert", 37 dem zweiten Akt des zweiten Faust, in dem die Lust des Entstehens im voraus die Trauer des Vergehens in sich beschließt (von dem vierten, in welchem Fausts eigenes Schöpfertum in die Brüche geht, gar nicht zu reden!), und den ersten zwei Gedichten der Marienbader Trilogie, deren Herzstück der Zeitverfallenheit auch des leuchtendsten „Augen-Blicks", deren Eingangsgedicht dem radikal verfehlten „Augen-Blick" der Liebe und des Lebens „ins Auge schaut". 3. Daß der Tod für Goethe — wie wohl für uns alle — ein bis zum letzten Moment des Lebens unbewältigtes Phänomen war, und auf welch kreative Weise er ihn dann doch „verarbeitete", hat Albrecht Schöne in einer strengen Studie dargelegt. 38 Schöne erachtet Goethes Tätigkeit — in erster Linie die Tätigkeit seines geübten Auges, die aus Goethes Brief an Zelter nach dem Tode seines Großherzogs so lebendig hervorgeht, sodann seine Tätigkeit im Allgemeinen — als „das Komplementärphänomen zur [Goetheschen] Todeserfahrung". 39 Die allbekannten Äußerungen des Dichters über seinen Unsterblichkeitsglauben hier aufzuführen, ist kaum vonnöten. Nur so viel sei gesagt: immer begründet Goethe diese Zuversicht mit dem Hinweis auf seine nicht nachlassende, rastlose Tätigkeit, genauer

36 37 38

39

Nachlese Aristoteles' Poetik (Anmerkung 1), S. 343. Dichtung und Wahrheit, IV, 20, HA, 10, S. 176. In: , „Regenbogen auf schwarzgrauem Grunde". Goethes Dornburger Brief an Zelter zum Tod seines Großherzogs' (in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins, Band 81/82/83, 1977, 1978, 1979). Ebenda, S. 25.

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gesprochen, auf sein „Wirken" 40 — eben jenes gesteigerte Wirken, das die drei Künstlergestalten auszeichnet, von denen hier die Rede ist. Ich persönlich liebe diese monolithischen Aussprüche nicht sonderlich. Den meisten von ihnen haftet etwas Forciertes, ja Frenetisches an, welches dann in den Tagen und Stunden vor Goethes Tod offen ausbricht; mit Ausnahme von einem Wort im Gedenken an Schillers Tod. Von dem „Enthusiasmus" spricht er da, „den die Verzweiflung bei einem großen Verlust in uns aufregt". 41 Dies ist grundwahr und wunderschön. Im allgemeinen jedoch wird rastlose Tätigkeit, und insbesondere rastlose schöpferische Tätigkeit im Falle Goethe als die heilkräftigste Therapie gegen seelische Bedrängnisse gepriesen. Bereits Eckermann glaubte Goethe diese Arznei nahe legen zu müssen. Am Tage des Todes der Großherzogin Luise weist er mit ausgestrecktem Finger auf Goethes Papiere und orakelt: „Dort sind Ihre Tröster... Die Arbeit ist ein treffliches Mittel, uns in Leiden wieder empor zu richten". 42 Ein Halbjahr später, nach dem Tod von Goethes Sohn, schreibt er an Thomas Carlyle: „Besonders ist Goethes' hohes Wirken keinen Tag unterbrochen worden, wie man denn an Ihm überhaupt die Maxime zu verehren hat, jedes unnütze Leiden durch nützliche Thätigkeit zu überwältigen." 43 Offenbar echot Eckermanns leicht philiströse „Maxime" die gängige Philosophie seines Meisters; und wir unsererseits haben uns dessen in gemeißelten Worten geprägtes Credo zu eigen gemacht. Gerade bei einem aus so unmittelbarem Leiden geborenen Werk wie der Trilogie der Leidenschaft sind sich die Interpreten einig, daß Goethe, indem er sagte, was er litt, sich selbst von der Krankheit heilte. 44 Und so urteilen wir auch gemeinhin angesichts des gänzlich Unausweichlichen, des Todes. „Er [Goethe] hat mit eigener Tätigkeit ein unerhörtes Beispiel gegeben für die Umsetzung der Todeserfahrung in Handlungsenergie", 45 schreibt einer 40

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Hierzu siehe besonders Goethe zu Eckermann, 25. Februar 1824 {AGA, 24, S. 93); 2. Mai 1824 {ebd., S. 115) und 4. Februar 1829 (ebd., S. 308). Tag- und Jahreshefte für 1805, HA, 10, S. 472. AGA, 24, S. 717. Am 6. Dezember 1830. WA, IV, 48, S. 32, Z. 20 ff. Siehe u. a. Schöne (Anm. 38), S. 34f.; Joachim Müller, .Goethes „Trilogie der Leidenschaft" — Lyrische Tragödie und „Aussöhnende Abrundung". Versuch einer genetischen Interpretation' (in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 1978, bes. S. 129); und Peter Wapnewski, ,Das Glück der unglücklichen Liebe oder Schmerz laß nicht nach' (in: Merkur, XXXIV, Jahrgang 1980, Heft 3 8 0 - 3 9 1 , bes. S. 246f.). Schöne (Anmerkung 38), S. 34 f. Andererseits ist Schöne, wie ich, der Tatsache gewahr, daß „hinter seiner Tätigkeit... die Todesangst [steht]" {ebd., S. 32f.).

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unserer sensibelsten Interpreten. Das der Elegie vorangestellte Motto aus Torquato Tasso sowie Goethes Schilderung in Dichtung und Wahrheit, wie pure Feigheit zusammen mit der kathartischen Erfindung seines Werther ihn vom Selbstmord retteten, 46 scheinen die landläufige Theorie zu bestätigen, daß er sich den Tod sozusagen von der Leber schrieb. In der Tat: ein Blick unter dem Stichwort „Tod" im Register der Hamburger Ausgabe erschließt den immerhin bedenkenswerten Tatbestand, daß auf nicht weniger als dreiundsiebzig Hinweise in den vier Briefbänden (ohne Berücksichtigung der Gespräche) ganze vierundzwanzig Hinweise in den vierzehn Bänden seiner Werke kommen. Natürlich sind derlei Instrumente grob, und was sie registrieren, muß cum grano salis genommen werden; aber diese besondere „Disproportion des Talents mit dem Leben" 47 scheint in Richtung „Dichten als Therapie" zu weisen. Indessen melden sich ernsthafte Bedenken an. Tassos eigenem Verse: Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide (V, 5.) steht die Warnung des Herzogs entgegen: Der Mensch gewinnt, was der Poet verliert (V, 2.); ja, man könnte unschwer die Position verfechten, daß Tasso mit seinem obsessiven Dichten letzten Endes nicht nur als Mensch, sondern auch als Künstler „verliert". Auch Goethes autobiographischer Rückblick auf die Wertherzeit, sowie seine brieflichen und mündlichen Äußerungen zu diesem Thema, und nicht zuletzt das Anfangsgedicht der Marienbader Trilogie, werfen komplizierte Fragen auf. Hat der Verfasser des Romans mit dieser „Generalbeichte" 48 wirklich mit dessen Problematik innerlich abgeschlossen? Oder ist es nicht vielmehr wahrer zu sagen, daß er sein eigenes Werther-Húebms nie ganz verwand, und zwar zum Teil jedenfalls gerade deshalb, weil der kathartische dichterische Akt zu einer schweren Krise ganz eigener Art führte, die von dem schöpferischen Prozeß als solchem untrennbar ist und deren Erinnerung er lebenslänglich mit dem Komplex „Werther" herumschleppte? 49 « III, 13, HA, 9, S. 585. 47 Caroline Herder an Herder, Goethes Worte über seinen Tasso zitierend. 20. März 1789. 48 Dichtung und Wahrheit, III, 13, HA, 9, S. 588. 49 Hierzu siehe I. Graham, Goethe. Portrait of the Artist, Berlin und New York, 1977, Kapitel 1. Ins Deutsche übersetzt als .Goethes eigener Werther. Eines Künstlers Wahrheit über seine Dichtung' (in JDSG, XVIII, 1974).

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Am schwerwiegendsten sind indes einige Äußerungen Goethes selber zum Thema Dichten als Therapie. Schon der Dreiundzwanzigjährige mißtraut dem Trieb des Künstlers, sich vor dem Leben, welches ihm furchterweckend genug erscheint, in die Kunst zu flüchten. Alles, was ein solcher täte, sei, „die Zirkulation aller seiner wahr- und gemachten Bedürfnisse in einen Palast einzuschließen,... alle zerstreute Schönheit und Glückseligkeit in seine gläserne Mauer zu bannen, wo er denn immer weicher und weicher wird... 5 0 Der bald sechzig)ährige Verfasser des Sonettenzyklus von 1807 bis 1808 weiß offensichtlich sehr viel Spezifischeres über das Risiko, „seine Wunden" artistisch „auszukühlen", Mit Zauberwort die tiefsten auszuheilen (XV). Dem Mädchen, 51 das dem Dichter solche Gefahren vor die Seele ruft, antwortet dieser mit verblüffender Offenheit: jawohl, er sei wie der „Feuerwerker", und er sähe bereits das Ende vom Lied voraus: „irrgänglichklug" werde er auf seiner künstlerischen Bewältigung des Elementaren beharren; und dann, urplötzlich, Geht er zerschmettert Mit allen seinen Künsten in die Lüfte (XV.). Am bemerkenswertesten jedoch ist eine im Dezember 1822 oder Januar 1823 verfaßte Äußerung Goethes über seine Wahlverwandtschaften, die für die Tag- undJahreshefte für das Jahr 1809 bestimmt war. Sie lautet: „Niemand verkennt an diesem Roman eine tief-leidenschaftliche Wunde, die im Heilen sich zu schließen scheut, ein Herz, das zu genesen fürchtet. Schon vor einigen Jahren" — fahrt der Dichter fort — „war der Hauptgedanke 50

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In Goethes Renzension von J. G. Sulzers ,Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung', in: Frankfurter Gelehrten Anzeigen. HA, 12, S. 18. Das Mädchen dürfte in diesem Fall Bettina Brentano sein, die einen unheimlichen Spürsinn für diese Gefahr ihres Idols hatte. Siehe deren fingierten Brief von Goethe an sie (5. Februar 1810, zitiert bei Gräf, Epos 1, S. 448 — 452). Graf hält es für wahrscheinlich, daß dieser Brief auf gesprächsweise Äußerungen Goethes zu Bettina zurückgeht {ebd., S. 448, Anmerkung 1). Ich stimme ihm bei. Bettinas Wort, Goethe habe es sich in den Wahlverwandtschaften zur Aufgabe gemacht, „in diesem einen erfundnen Geschick, wie in einer Grabesurne, die Thränen für manches Versäumte zu sammeln" (ebd. S. 450 f.), ist ein deutlicher Anklang an Goethes eigene Worte über seinen Werther, wie seine Mutter sie uns überliefert hat: „Der Mensch wird begraben in geweihter Erd, so soll man auch große und seltne Begebenheiten begraben in einen schönen Sarg der Erinnerung..."* (Zitiert in Max Morris, Der junge Goethe, IV, S. 78) (Hervorhebung I. G.) Es ist allerdings nicht auszuschließen, daß Bettina dieses Wort bei einem ihrer Besuche bei Goethes Mutter von dieser selbst hörte.

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gefaßt, nur die Ausführung erweiterte, vermannigfaltigte sich immerfort und drohte die Kunstgren2e zu überschreiten." 52 Soweit ich weiß, ist diese Stelle niemals ernster kritischer Aufmerksamkeit gewürdigt worden; dabei eröffnet sie atemberaubende Einblicke in die innere Ökonomie des Dichters, dieses Dichters. Goethe schrieb sie als Dreiundsiebzig jähriger zur Zeit, als das letzte große Trauma seines Lebens — die Marienbader Leidenschaft — sich ankündigte, auf eiii früheres Trauma zurückblickend, welches wir mit den Namen Minchen Herzlieb, Silvie von Ziegesar und vielleicht auch Bettina Brentano zu benennen pflegen, ein Trauma, das etwa fünfzehn Jahre vorher Pandora, den Zyklus der Sonette und Die Wahlverwandtschaften gezeitigt hatte, in welchen ja, in der Gestalt der Ottilie, ein „Stirb und werde" vollzogen wird. 5 3 Und hier nun deutet der Dichter auf einen uns weithin unvertrauten Aspekt seines Dichtertums: jetzt, da er vor einem erneuten „Stirb und werde" steht, meldet sich ein unabweislicher Instinkt, die Krankheit walten zu lassen, seine Wunden nicht vorzeitig artistisch auszukühlen, seine Genesung nicht kompositorisch zu beschleunigen; ein Instinkt, den er seinerzeit noch nicht zu formulieren gewußt hatte, dessen Niederschlag aber an dem zögernden Duktus des Romans abzulesen sei. In dem vorhin zitierten Sonett ist das irrgänglich-kluge Kunstschaffen der Sprengstoff, der den Menschen in die Luft sprengen wird. Hier, fünfzehn Jahre später, erkennt der alte Goethe das Komplementärphänomen: das Leben, die Leidenschaft selbst, ist das Dynamit, das nunmehr die Kunstgrenze zu sprengen droht. Und so ist es gut. Im Kranksein — so scheint er uns zu sagen — liegt eine eigene, geheime Gesundheit. Es ist die offengehaltene Wunde, die am reinlichsten verheilt. Was hat Goethe im Sinn, wenn er an diesen seinen tiefen Skrupel davor rührt, mit einem menschlichen Problem abzuschließen, indem er es mir nichts dir nichts zu Papier bringt? Einen Skrupel, dessen Ernsthaftigkeit er ja schließlich durch das sechzigjährige Mit-sich-Herumtragen seines Lebenswerks voll bestätigt hat, des Faust, den er noch einmal in einem hochsymbolischen Akt aus seinem Siegel löste, nachdem er nun wirklich abgesponnen und vollendet war, einfach weil er zu ihm gehörte? Ich meine, das, was den Sechzig jährigen in seiner zaudernden Bewältigung der Wahlverwandtschaften, den Dreiundsiebzigjährigen in der rückblickenden Aufdeckung seines vormals unbewußten Strategems leitete, war die Ein52

HA, 10, S. 505.

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Hierzu Näheres in Kapitel 7 dieser Studie.

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sieht, die er in Wilhelm Meisters Wanderjahren „die Summe aller Weisheit" nennt: das stetige Ineinander von „Denken und Tun, Tun und Denken", die „wie Aus- und Einatmen sich im Leben ewig fort hin und wider bewegen"; das Gesetz, welches „einem jeden Neugebornen der Genius des Menschenverstandes heimlich ins Ohr flüstert, das Tun am Denken, das Denken am Tun zu prüfen..." 54 Auf die spezifische Situation des dichtenden Menschen angewandt, heißt dies: der Systole des Dichtens, welches ein gänzlich einsames Tun, ein Wirken ist, und zwar die Umsetzung eines existentiellen Problems in Komposition und Kunst, folgt die Diastole des „Denkens", das heißt, eines erneuten Auflösens des Fertigen in einer erneuten Hinwendung zum Leben, damit das, was im Dichten aus dem Innern herausgestellt wurde, denkend, sinnend, leidend und liebend dem Menschen wieder verfügbar wird. Wie Goethe nur allzugut wußte, bedarf der Künstler dieses Doppelrhythmus. Denn ein gedichtetes, hermetisch in seine Form eingeschlossenes Stück Leben wird seinem Schöpfer mehr als jedem anderen unzugänglich; 55 und er muß es aufbrechen — Goethe sagt „sprengen" oder auch „auftröseln" 56 —, um es wiederum in den Blutstrom eines lebendigen Wachstums- und Reifeprozesses zu überführen. Diesen Doppelrhythmus von Tun und Denken, von Dichten und Durchleben durchzuhalten, fiel Goethe — und besonders dem jüngeren — gewiß nicht leicht. „Los werden" wollte er Probleme, die er nun einmal in dichterische Gestalt gebannt hatte, „abtun" oder „beiseite tun" wollte er sie. Solche Wendungen fallen immer wieder, wenn er glaubt, das letzte Wort für etwas gefunden zu haben oder finden zu müssen, mit dem er innerlich nicht recht fertig werden kann. Er würde an seinen Faust gehen, „um diesen Tragelaphen los werden",* schreibt er an Schiller; 57 und wiederum: indem er seinen Faust endige, wünsche er, sich „von aller nordischen Barbarei loszusagen..."58 und nochmals: Faust und die Farbenlehre seien wie „lästige Gespenster"; „an beyden ist so viel vorgearbeitet daß ich nur Zeit zusammen geizen muß um sie los werden"*s